Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention [1 ed.] 9783428528684, 9783428128686

Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährt jedermann ein Recht auf Achtung des Privat- und Familien

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German Pages 395 Year 2008

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Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention [1 ed.]
 9783428528684, 9783428128686

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Schriften zum Europäischen Recht Band 139

Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention Von Dirk Sander

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

DIRK SANDER

Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 139

Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention

Von Dirk Sander

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2007/2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D5 Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12868-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2007/2008 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen. Für den Zweck der Veröffentlichung konnten Rechtsprechung und Schrifttum bis Juni 2008 berücksichtigt werden. Guter Tradition entsprechend und doch nicht als Pflichtübung möchte ich an dieser Stelle jenen danksagen, die auf unterschiedliche Weise zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Dieser Dank gebührt zuallererst meinem hochverehrten Doktorvater Herrn Professor Dr. Jost Pietzcker. Er hat mich mit Interesse am Thema, vielfältigen wie hilfreichen Anmerkungen sowie dem nötigen Maß Geduld begleitet und dafür Sorge getragen, daß neben den täglichen Belastungen durch die Tätigkeit am Lehrstuhl stets ausreichend Zeit für die Anfertigung dieser Arbeit blieb. In guter Erinnerung werden mir auch die zweiwöchentlichen Zeitschriftenbesprechungen im Lehrstuhlkreis bleiben, aus denen heraus nicht zuletzt das Thema dieser Arbeit entstand. Ebenso danken möchte ich Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Ulrich Everling für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Professor Dr. Matthias Niedobitek sowie den Herren Professoren Dr. Siegfried Magiera, Dr. Dr. Detlef Merten und Dr. Karl-Peter Sommermann danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die von ihnen betreute Schriftenreihe. Meine Kollegen Frau Dr. Esther Reiche und Herr Dr. Michael Sitsen haben mir trotz eigener Belastungen jederzeit für ausführliche Diskussionen zur Verfügung gestanden. So mancher Gedanke gelangte erst hier zur Reife. Meine liebe Freundin Stefanie hat mir mit tatkräftiger Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts beiseitegestanden. Mit ihrem bezaubernden Charme hat sie mich in teils entbehrungsreicher Zeit getragen und dabei so manches Mal wohl auch ertragen müssen. Gewidmet sei diese Arbeit meinen Eltern, die mir stets Rückhalt waren und denen ich so vieles verdanke. Bonn, im Sommer 2008

Dirk Sander

Inhaltsverzeichnis Idee und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Teil 1 Der Schutz des Aufenthalts durch Art. 8 EMRK im Lichte der Straßburger Rechtsprechung A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

I.

Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

II.

Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

III.

Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

IV.

Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

V.

Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

VI.

Die sogenannte Soering-Rechtsprechung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

VII. Der Schutz des Aufenthalts de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

B. Die Genese der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

I.

Die Vorarbeiten der Europäischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

II.

Die Ausarbeitung durch den Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

1. Ein Überblick über den Kodifizierungsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

2. Die Wandlungen des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

3. Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

III.

I.

Der Begriff des Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1. Die Beziehung zwischen Lebenspartnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

a) Die Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

b) Die Scheinehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

c) Die Mehrehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

d) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Inhaltsverzeichnis

8

e) Die Verlobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

f) Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

g) Transsexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

2. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

a) Minderjährige Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

b) Volljährige Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

c) Adoptivkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

d) Stiefkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

e) Pflegekinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

3. Weitere Verwandtschaftsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Der Begriff des Privatlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

1. Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Integrität . . . . . . . . . . . .

83

2. Persönliche Beziehungen jenseits des Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

3. Der Schutz integrierter Ausländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

a) Einwanderer der zweiten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

b) Sonstige fest integrierte Ausländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

II.

I.

Die Anerkennung der aufenthaltsrechtlichen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

II.

Das Recht auf Achtung: Negative und positive Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . .

94

1. Das Recht auf Achtung als Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

b) Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

c) Das Problem mittelbar-faktischer Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2. Das Recht auf Achtung als positive Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Konsequenz für das Prüfungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Die Relevanz des territorialen Anwendungsbereichs der Konvention . . . . 105 III.

Rationalität, Relevanz und Legitimität der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Kritische Rezeption der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Rationalität der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Unterscheidungskriterien der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Unterscheidungskriterien des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 d) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Relevanz der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Inhaltsverzeichnis

9

a) Eine Untersuchung am Einzelfall: Die Rechtssachen Gül und Ahmut . . . 124 b) Eine Untersuchung der relevanten Prüfungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . 125 aa) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Familienstatus zum Zeitpunkt der Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . 126 cc) Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland . . . . . . . . . . . . 128 dd) Intensität der familiären Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 ee) Bindungen an das Herkunftsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 ff) Effektivität der staatlichen Einwanderungskontrolle . . . . . . . . . . . . . 132 gg) Vergleich mit der Rechtfertigungsprüfung in Eingriffskonstellationen

132

c) Eine Untersuchung zur Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Eine Untersuchung zur Anwendbarkeit von Art. 13 und Art. 14 EMRK . 134 e) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Legitimität der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I.

Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

II.

Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

III.

Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Leitlinien der Angemessenheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Natur und Schwere des Delikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Dauer des Aufenthalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Persönliche Entwicklung des Täters nach der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 d) Staatsangehörigkeit der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 e) Die familiäre Situation des Ausländers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 f) Kenntnis des Ehepartners von der Straffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 g) Gemeinsame Kinder und deren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 h) Fortführung des Familienlebens im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 i) Das Wohlergehen der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 j) Soziale, kulturelle und familiäre Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

F. Komplementäre Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 I.

Komplementäre Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Verfahrensrechtliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 a) Vorkehrungen zur Vermeidung einer Konventionsverletzung . . . . . . . . . . 175 b) Anspruch auf Folgenbeseitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Inhaltsverzeichnis

10

2. Neuere Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Die Rechtssache Sisojeva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Die Rechtssachen Shevanova und Kaftailova . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Die Rechtssache Aristimuño Mendizabal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 d) Beurteilung durch die Große Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 e) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II.

Das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Prüfungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Aufenthaltsrechtliche Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

III.

Das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Bedeutung im aufenthaltsrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

G. Der Rechtmäßigkeitszeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 H. Würdigung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Teil 2 Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht A. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I.

Zur Systematik des Aufenthaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

II.

Zur Bedeutung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1. Der Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Dogmatische Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Das Ehe- und Familienbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Die Bedeutung von Art. 6 Abs. 2 bis 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG . . . . 217

III.

Zum Status von Art. 8 EMRK in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . 218 1. Die Perspektive der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Die Perspektive des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Die Konvention als Bundesgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Die Konvention als Auslegungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 c) Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 d) Ein Vorschlag zur Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Perspektive des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Die Konvention als Rechtserkenntnisquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b) Die Wirkung der Gemeinschaftsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten . . . . 233

Inhaltsverzeichnis

11

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I.

Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

II.

Eingrenzung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Gemeinschaftsrechtlicher Ausweisungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 a) Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 b) Staatsangehörige der EWR-Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 c) Freizügigkeitsberechtigte Schweizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 d) Assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige . . . . . . . . 243 e) Europa-Mittelmeer-Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 f) Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige . . . . . . . . . . . . . 249 g) Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Besonderer Ausweisungsschutz gemäß § 56 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

III.

Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Art. 8 EMRK als völkerrechtlich vermittelter Ausweisungsschutz . . . . . . . . 258 a) Inkorporation von Art. 8 EMRK auf verfassungsrechtlicher Ebene . . . . . 258 b) Inkorporation von Art. 8 EMRK auf einfachgesetzlicher Ebene . . . . . . . . 260 c) Legitimität der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 aa) Verfassungskonforme Auslegung von § 53 AufenthG . . . . . . . . . . . . 261 bb) Qualitative Teilnichtigkeit von § 53 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 cc) Einfachgesetzliches Konkurrenzverhältnis zugunsten von Art. 8 EMRK 265 2. Lösung auf der Vollstreckungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 a) Gesetzlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 aa) Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . 268 bb) Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG . . . . . . . 270 cc) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . 273 dd) Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 aa) Zur Befristung der Ausweisungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 bb) Zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (1) Der Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (2) Relevanz des Rechtmäßigkeitszeitpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (3) Komplementäre Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . 288 (4) Antragserfordernis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

C. Folgerungen für den Familiennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 I.

Der Aufenthalt aus familiären Gründen nach dem Aufenthaltsgesetz . . . . . . . . . 292

Inhaltsverzeichnis

12

1. Ehegattennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 2. Kindernachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Elternnachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4. Nachzug sonstiger Familienangehöriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5. Erteilungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 II.

Kollisionspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Aufenthaltsrecht für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft . . . . . 298 a) Kein Aufenthaltsrecht gemäß §§ 28 und 30 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Kein Aufenthaltsrecht gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c) Die Bedeutung der Unionsbürgerrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 aa) Der Begriff des Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 bb) Die eingetragene Lebenspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 cc) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 d) Die Bedeutung der Familienzusammenführungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . 307 3. Familiennachzug im Fall der Mehrehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Die Mehrehe im Lichte von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Rechtslage nach dem Aufenthaltsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Einschränkende Auslegung kraft Gemeinschaftsrechts? . . . . . . . . . . . . . . 311 4. Familiennachzug zu Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 a) Bedeutung von § 29 Abs. 3 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 b) Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 5. Elternnachzug gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 a) Konkretisierung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Das Erfordernis einer außergewöhnlichen Härte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 c) Konventionsrechtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 6. Verschärfung des Ehegattennachzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 a) Die „Zweckehe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 b) Die Zwangsehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 c) Mindestalter von 18 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 d) Nachweis einfacher Sprachkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

III.

Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 b) Negativer Ausschluß der nichtehelichen Lebensgemeinschaft? . . . . . . . . 330 c) Besserstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . 331

Inhaltsverzeichnis

13

d) Qualitativer Unterschied zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft? . . . . . 332 e) Pflicht zur konventionskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 f) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 2. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 a) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 b) Art. 8 EMRK als völkerrechtlicher Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 c) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 3. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4. Konventionskonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . 340 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 I.

Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

II.

Präzisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

III.

Zum Anspruch auf Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 1. Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2. Art. 8 EMRK als Grundlage einer positiven Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . 346 3. Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 a) Ausschluß originärer Mißbrauchsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 b) Kenntnis vom unsicheren Aufenthaltsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 c) Zumutbarkeit einer Ausreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

IV.

Zum Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1. Folgerungen aus dem Fall Sisojeva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Folgerungen aus den Fällen Shevanova und Kaftailova . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Folgerungen aus dem Fall Aristimuño Mendizabal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

V.

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

E. Prozessuale Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 I.

Folgerungen für die Widerspruchs- und Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

II.

Folgerungen für den Rechtmäßigkeitszeitpunkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Abkürzungsverzeichnis a. A.

anderer Ansicht

ABl.

Amtsblatt

Abs.

Absatz

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

a. F.

alte(r) Fassung

AfrMRK

Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker

AH-BMI

Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministers des Inneren

AJIL

American Journal of International Law

ANA-ZAR

Anwaltsnachrichten Ausländer- und Asylrecht

ANBA

Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt/-agentur für Arbeit

Anm.

Anmerkung

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

ARB

Assoziationsratsbeschluß

ArGV

Arbeitsgenehmigungsverordnung

Art.

Artikel

AsylVfG

Asylverfahrensgesetz

AufenthG

Aufenthaltsgesetz

AufenthV

Aufenthaltsverordnung

AuslG

Ausländergesetz

AVR

Archiv des Völkerrechts

Az.

Aktenzeichen

BayVBl.

Bayerische Verwaltungsblätter

BayVerfGHE

Entscheidungssammlung des Bayrischen Verfassungsgerichtshofs

BayVGH

Bayrischer Verwaltungsgerichtshof

Begr.

Begründer

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BR-Drs.

Drucksachen des Deutschen Bundesrates

BT-Drs.

Drucksachen des Deutschen Bundestages

B. U. Int’l L. J.

Boston University International Law Journal

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtliche Sammlung

Abkürzungsverzeichnis

15

BVerfG (K)

Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, amtliche Sammlung

BYIL

British Yearbook of International Law

bzw.

beziehungsweise

CD

Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights / Recueil de Décisions de la Commission européenne des Droits de l’Homme (bis 1975)

CETS

Council of Europe Treaty Series (ab 2004)

CMLRev.

Common Market Law Review

Colum. J. Eur. L.

Columbia Journal of European Law

ders.

derselbe

d. h.

das heißt

dies.

dieselbe

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

DR

European Commission of Human Rights: Decisions and Reports / Commission Européenne des Droits de l’Homme: Décisions et Rapports (seit 1975)

dt.

deutsch(e)

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

EG

Europäische Gemeinschaft(en) / Vertrag über die Europäische Gemeinschaft

EGBGB

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EHRLR

European Human Rights Law Review

EKMR

Europäische Kommission für Menschenrechte

E. L. Rev.

European Law Review

EMA

Europa-Mittelmeer-Abkommen

EMRK

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

ENA

Europäisches Niederlassungsabkommen

endg.

endgültig

Entsch.

Entscheidung

EPL

European Public Law

ETS

European Treaty Series (bis 2003)

EU

Europäische Union / Vertrag über die Europäische Union

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

EuGRZ

Europäische Grundrechtezeitschrift

Abkürzungsverzeichnis

16 EuR

Europarecht

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EZAR

Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht

EZAR-NF

Entscheidungssammlung zum Zuwanderungs-, Asyl- und Freizügigkeitsrecht

f. (ff.)

und der (die) folgende(n)

FamRBint

FamRB (Familien-Rechtsberater) international: Informationsdienst für die familienrechtliche Praxis

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht

FS

Festschrift

GA

Generalanwalt

GA. J. Int’l & Comp. L.

Georgia Journal of International and Comparative Law

GG

Grundgesetz

GK-AufenthG

Fritz u. a. (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz

GLJ

German Law Journal

GRCh

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

GS

Gedächtnisschrift

GYIL

German Yearbook of International Law

HAG

Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet

HbStR

Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

HK-EMRK

Meyer-Ladewig: Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar

HRLJ

Human Rights Law Journal

Hrsg.

Herausgeber

ICLQ

International and Comparative Law Quarterly

i. d. R.

in der Regel

IJRL

International Journal of Refugee Law

I. L. M.

International Legal Materials

ILSA J Int’l & Comp L

ILSA Journal of International & Comparative Law

InfAuslR

Informationsbrief Ausländerrecht

insb.

insbesondere

Abkürzungsverzeichnis

17

IntKommEMRK

Karl, Wolfram (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention

IPbürgR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Isr. L. Rev.

Israel Law Review

i. S. v.

im Sinne von

IYIL

The Italian Yearbook of International Law

JBl.

Juristische Blätter

JR

Juristische Rundschau

JRP

Journal für Rechtspolitik

Jura

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

KOM

Kommission

LERADP

Laboratoire d’Etudes et de Recherches Appliquées au Droit Privé de l’Université de Lille II

lit.

litera

Loy. L. A. Int’l & Comp. L. Rev.

Loyola of Los Angeles International & Comparative Law Review

MDR

Monatsschrift für deutsches Recht

MRM

MenschenRechtsMagazin

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NordÖR

Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland

NQHR

Netherlands Quarterly of Human Rights

Nr.

Nummer

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OVG

Oberverwaltungsgericht

ÖZöRV

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RdJB

Recht der Jugend und des Bildungswesens

Rev. fr. Droit adm.

Revue française de droit administratif Dalloz

RGBl.

Reichsgesetzblatt

RJD

European Court of Human Rights : Reports of Judgments and Decisions / Court Européenne des Droits de l’Homme: Recueil des Ârrets et Décisions (seit 1996)

RL

Richtlinie

Rn.

Randnummer

RR

Rechtsprechungsreport

Abkürzungsverzeichnis

18 Rs.

Rechtssache

RTDH

Revue trimestrielle des droits de l’homme

RUDH

Revue universelle de droit de l’homme

S.

Seite / Satz

Sask. L. Rev.

Saskatchewan Law Review

SDÜ

Schengener Durchführungsübereinkommen

Serie A

Publications de la Cour européenne des droits de l’homme – Série A: Arrêts et décisions / Publications of the European Court of Human Rights – Series A: Judgements and Decisions (bis 1995)

SGB

Sozialgesetzbuch

Slg.

Sammlung

sog.

sogenannt (e / r)

StAG

Staatsangehörigkeitsgesetz

STAZ

Das Standesamt

StGB

Strafgesetzbuch

st. Rspr.

Ständige Rechtsprechung

TP

Robertson, Arthur H. (Hrsg.), Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux Préparatoires“ of the European Convention on Human Rights / Recueil des Travaux Préparatoires de la Convention Européenne des Droits de l’Homme

u. a.

und andere

Urt.

Urteil

VBlBW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

Verf.

Verfasser

VG

Verwaltungsgericht

VGH

Verwaltungsgerichtshof

vgl.

vergleiche

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwVfG

Verwaltungsverfahrensgesetz

WVK

Wiener Vertragsrechtskonvention

Yearbook

Yearbook of the European Convention on Human Rights / Annuaire de la Convention Européenne des Droits de l’Homme

YEL

Yearbook of European Law

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZAR

Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

ZBl.

Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht

ZEuS

Zeitschrift für europarechtliche Studien

Ziff.

Ziffer

Abkürzungsverzeichnis ZLW

Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht

ZÖR

Zeitschrift für öffentliches Recht

ZP

Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZSR

Zeitschrift für schweizerisches Recht

19

Idee und Gang der Untersuchung Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. (Art. 8 EMRK)

Der Anlaß dieser Arbeit liegt – so könnte formuliert werden, ohne dem Thema auch nur im geringsten an Aktualität und Brisanz nehmen zu wollen – rund 50 Jahre zurück und kommt verhältnismäßig unscheinbar daher. Er verbirgt sich in der am 9. Januar 1959 unter dem anonymisierten Titel X. ./. Belgien veröffentlichten Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte, mit der diese in ausgesprochen knappen Zeilen die wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention eingelegte Beschwerde 312/57 als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig verwarf.1 Bei dem so auf ganzer Linie gescheiterten Beschwerdeführer handelte es sich um einen in Belgien geborenen italienischen Staatsangehörigen, der während der deutschen Besatzungszeit an einem sechswöchigen Lehrgang beim Zivilfahndungsdienst der Feldgendarmerie teilgenommen und nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch ein belgisches Kriegsgericht wegen Kollaboration mit dem Feind zunächst zum Tode, später zu Zwangsarbeit verurteilt worden war. Nach seiner Haftentlassung 1957 wurde er durch die belgischen Behörden umgehend ausgewiesen. Bemerkenswert sind freilich weniger die konkreten Umstände des Sachverhalts als die Entscheidungsgründe der Kommission. Diese hielt es nämlich mit Blick auf die nach wie vor in Belgien lebende Familie des Beschwerdeführers für erforderlich, die Ausweisung auf ihre Vereinbarkeit mit dem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Familienlebens zu prüfen. Führte diese Prüfung auch im konkreten Fall nicht zur Feststellung einer Konventionsverletzung, so wurde doch und soweit ersichtlich zum ersten Mal die grundsätzliche Bedeutung von Art. 8 EMRK für den Schutz des Aufenthalts anerkannt. Dies ist um so bemerkenswerter, als damit ein Kernbereich staatlicher Souveränität konventionsrechtlichen Schranken unterworfen 1

Vgl. EKMR, Entsch. vom 09.01.1959, X. ./. Belgien, Yearbook II (1958–59), 352 ff.

22

Idee und Gang der Untersuchung

wurde, nämlich das Recht, frei über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern zu entscheiden. Heute, rund 50 Jahre danach, gehört die aufenthaltsschützende Wirkung von Art. 8 EMRK zu den anerkannten Grundsätzen des Konventionsrechts und wird nicht mehr grundlegend in Frage gestellt. Die Straßburger Rechtsprechungsorgane, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und bis zu ihrer Auflösung durch das 11. Zusatzprotokoll die Europäische Kommission für Menschenrechte, haben in jahrzehntelanger Rechtsprechungstätigkeit eine umfangreiche Kasuistik entwickelt. Vielfach wurden aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Ausländern zum Schutz des Familienlebens, später auch zum Schutz des ebenfalls durch Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens für konventionswidrig erklärt, gelegentlich auch ein Anspruch auf Nachzug weiterer Familienangehöriger zugesprochen. In der Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte ist Art. 8 EMRK inzwischen eine anerkannte Größe, die oftmals den aufenthaltsrechtlichen Schutz durch das Grundgesetz – nicht zuletzt wegen der eher restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – in den Schatten stellt. Als sogenanntes Gemeinschaftsgrundrecht hat Art. 8 EMRK schließlich auch Eingang in das Recht der Europäischen Gemeinschaft gefunden und entfaltet dort, soweit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts Kompetenzen übertragen wurden, aufenthaltsschützende Wirkung. Gleichwohl – das zeigt schon eine flüchtige Lektüre der einschlägigen Kommentarliteratur – sind die im einzelnen aus Art. 8 EMRK abzuleitenden Konsequenzen für das deutsche Aufenthaltsrecht vielfach umstritten. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß aufgrund der stark am Einzelfall orientierten Straßburger Rechtsprechung eine allgemeingültige Definition dessen, was zum Schutz des Privat- und Familienlebens aufenthaltsrechtlich erforderlich ist, vorsichtig formuliert, zumindest schwer fällt. Zudem werden einzelne Urteile und Entscheidungen oft selektiv herausgegriffen, ohne ihren Aussagegehalt im Spiegel der gesamten Rechtsprechung kritisch zu hinterfragen. Grundlegende Untersuchungen zur aufenthaltsschützenden Wirkung von Art. 8 EMRK, auf die zurückgegriffen werden könnte, sind rar.2 Ziel dieser Arbeit ist es daher, die umfangreiche Kasuistik der Straßburger Rechtsprechungsinstanzen aufzuarbeiten, eine für Wissenschaft und Praxis möglichst hilfreiche Systematik zu entwerfen und die Vereinbarkeit des deutschen Aufenthaltsrechts mit den konventionsrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz des Privat- und Familienlebens zu überprüfen. Der erste Teil dieser Arbeit ist dabei ganz der Auslegung und Anwendung von Art. 8 EMRK durch die Straßburger Rechtsprechung gewidmet. Einleitend werden zunächst die aufenthaltsrelevanten Vorschriften der Konvention überblicksartig dargestellt, um die Bedeutung der aus Art. 8 EMRK abgeleiteten aufenthalts2 Der wohl umfassendste Beitrag stammt bislang von Caroni, Privat- und Familienleben zwischen Menschenrecht und Migration, 1999.

Idee und Gang der Untersuchung

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schützenden Wirkung einordnen zu können. Es folgt in der gebotenen Kürze eine Untersuchung zur Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK, soweit sich dieser bereits Anhaltspunkte für dessen heutige Interpretation entnehmen lassen. Der Schwerpunkt des ersten Teils liegt in der Untersuchung der einzelnen tatbestandlichen Voraussetzung von Art. 8 EMRK, wobei sich die Darstellung an der Prüfungsreihenfolge der Straßburger Rechtsprechung orientiert. Zunächst wird daher der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK im Lichte der Rechtsprechung konkretisiert. Dem schließt sich die Frage nach einer Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten an, wobei insbesondere auf die durch den Gerichtshof entwickelte Differenzierung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen eingegangen wird. Schließlich werden die Grundrechtsschranken aus Art. 8 Abs. 2 EMRK untersucht, die den Rahmen für zulässige Grundrechtseinschränkungen abstecken. Abgerundet wird der erste Teil durch eine Untersuchung komplementärer Garantien, die im Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK ebenfalls zu beachten sind. Diese folgen teils aus Art. 8 EMRK selbst, teils aus akzessorischen Vorschriften, namentlich dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK und dem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK. Der zweite Teil behandelt die Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht. Insoweit liegt dieser Arbeit ein problemorientierter Ansatz zugrunde, der gezielt die wesentlichen Fragestellungen herausgreift, dabei aber naturgemäß keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die sich schon aus dem Grundgesetz ergebenden Vorgaben für den Schutz des Privat- und Familienlebens im Aufenthaltsrecht, namentlich ist hier die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1, 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG angesprochen, der Status von Art. 8 EMRK in der deutschen Rechtsordnung und die gemeinschaftsrechtlichen Überlagerungen des deutschen Aufenthaltsrechts. Schwerpunktmäßig werden sodann das Ausweisungsrecht und die Vorschriften über den Familiennachzug einer Überprüfung auf ihre Konventionskonformität unterzogen. Im Ausweisungsrecht steht dabei die sogenannte zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG im Vordergrund, die ihrer Natur nach eine besondere Herausforderung für die Berücksichtigung menschenrechtlicher Aspekte darstellt. Im Rahmen des Familiennachzugs sollen die einzelnen Fallkonstellationen herausgearbeitet werden, die im Einzelfall zu einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK führen können. Unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Wirkung von Art. 8 EMRK wird jeweils nach angemessenen Lösungswegen gesucht, um eine im Einzelfall drohende Verletzung der Konvention zu vermeiden. Zum Schluß der Arbeit werden dann noch einige aktuell in Rechtsprechung und Schrifttum diskutierte Problemkreise aufgegriffen. Diese betreffen die Rechtslage langjährig geduldeter Ausländer und die sich aus Art. 8 EMRK ergebenden prozessualen Folgerungen.

Teil 1

Der Schutz des Aufenthalts durch Art. 8 EMRK im Lichte der Straßburger Rechtsprechung Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

Einleitend soll der Blick zunächst geweitet und die Europäische Menschenrechtskonvention als ganze in Augenschein genommen werden. Neben dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK, das Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist, sind verschiedene Bestimmungen der Konvention dem Schutz des Aufenthalts gewidmet oder können doch aufenthaltsschützende Wirkung entfalten, obgleich sie nicht unmittelbar auf den Schutz des Aufenthalts gerichtet sind.

I. Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK Hinzuweisen ist zunächst auf Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK, der die rechtmäßige Festnahme und Freiheitsentziehung zur Verhinderung einer unerlaubten Einreise bzw. zur Durchführung einer Ausweisung oder Auslieferung erwähnt – dies jedoch nur im Rahmen der Grundrechtsschranken des durch Art. 5 EMRK gewährleisteten Rechts auf Freiheit der Person. Materielle Aussagen zum Bestand eines Aufenthaltsrechts im Einzelfall lassen sich der Vorschrift somit nicht entnehmen. Sie zeigt allerdings, daß Einreiseverweigerung und Ausweisung als aufenthaltsrechtliche Maßnahmen durch die Konvention vorausgesetzt werden und damit nicht per se konventionswidrig sind.

II. Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls garantiert das Recht auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates.1 Im einzelnen lassen sich hier die Bewegungsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit und die Ausreisefreiheit unterschei-

1 Das Protokoll Nr. 4 vom 16.09.1963 (ETS-Nr. 46) ist seit dem 01.06.1968 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft (Bekanntmachung vom 18.11.1968, BGBl. II S. 1109). Gemäß Art. 6 ZP 4 bildet es einen integralen Bestandteil der Konvention. Vgl. zur Funktion der Zusatzprotokolle allgemein Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 4.

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

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den.2 Alle drei Freiheiten sind als Jedermannrecht ausgestaltet und berechtigen somit auch Ausländer. Allerdings läßt sich der Vorschrift kein implizites Recht auf Einreise und Aufenthalt entnehmen. Dies folgt einerseits aus dem Wortlaut des Abs. 1, der den rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates als Voraussetzung der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit benennt, andererseits aus einem Umkehrschluß aus Abs. 2, der zwar die Ausreisefreiheit, nicht aber die Einreisefreiheit regelt.3 Für den Schutz von Einreise und Aufenthalt sind vielmehr die folgenden Vorschriften, nämlich Art. 3 für eigene Staatsangehörige und Art. 4 für Ausländer, maßgebend. Vorbehaltlich dieser und gegebenenfalls weiterer Konventionsbestimmungen steht es den Konventionsstaaten im Rahmen von Art. 2 frei, selbst über die Gestattung von Einreise und Aufenthalt zu entscheiden. Für Ausländer bedeutet dies, daß die Konventionsstaaten nach eigenem Ermessen eine Aufenthaltserlaubnis verweigern, entziehen oder nur unter bestimmten Bedingungen oder Beschränkungen erteilen können. Im letzteren Fall gilt der Aufenthalt nur bei Erfüllung dieser Voraussetzungen als rechtmäßig im Sinne von Art. 2 Abs. 1.4 Nach nicht unumstrittener Auffassung der Kommission sollte die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis nur unter bestimmten Bedingungen oder Beschränkungen gewähren zu können, auch hinsichtlich räumlicher Beschränkungen bestehen, so daß der rechtmäßige Aufenthalt eines Ausländers und damit auch der Schutzbereich der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit von vornherein auf ein Teilgebiet des staatlichen Hoheitsgebiets begrenzt ist.5 Diese restriktive Interpretation entspricht sowohl dem Wortlaut der Norm, als auch den Überlegungen des Sachverständigenausschusses des Ministerkomitees, der im Rahmen seiner Arbeiten an der endgültigen Fassung des 4. Zusatzprotokolls davon ausgegangen war, daß zu den den rechtmäßigen Aufenthalt einschränkenden Bedingungen ins2 Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 2 ZP 4 Rn. 1 und 5; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 40. 3 EKMR, Entsch. vom 01.12.1986, Paramanathan ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 237 (240); Entsch. vom 01.12.1986, Udayanan und Sivakumaran ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 11825/85; Entsch. vom 09.10.1989, Aygün ./. Schweden, DR 63, 195 (199); EGMR, Urt. vom 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Serie A 314 (Ziff. 43); Urt. vom 04.04.2006, Demir ./. Frankreich, Nr. 3041/02 (Ziff. 23). 4 Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 2 ZP 4 Rn. 2; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 40; Ovey / White, European Convention, S. 402; Vermeulen, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 940. 5 EKMR, Entsch. vom 01.12.1986, Paramanathan ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 237 (240); Entsch. vom 01.12.1986, Udayanan und Sivakumaran ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 11825/85; Entsch. vom 09.10.1989, Aygün ./. Schweden, DR 63, 195 (199). Zur Gegenauffassung, nach der räumliche Beschränkungen nach Sinn und Zweck als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in Art. 2 Abs. 1 ZP 4 zu behandeln sind, siehe Ovey / White, European Convention, S. 402; Vermeulen, in: van Dijk / van Hoof u.a, Theory and Practice, S. 941; für einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 ZP 4 durch Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung mit Zuzugssperre für Stadtteile mit hohem Ausländeranteil auch VG Berlin, NJW 1987, 68 (68); Franz, JR 1976, 188 (188); Tomuschat, DÖV 1974, 757 (763 f.); offenlassend OVG Berlin, NJW 1980, 539 (539); für einen Eingriff durch die räumliche Beschränkung einer Duldung auf den Bezirk der Ausländerbehörde Strate, InfAuslR 1980, 129 (129 f.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

besondere solche gehören können, die die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit beschränken.6 Der Gerichtshof hat sich nun in einer jüngeren Entscheidung dieser Auslegung angeschlossen.7

III. Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls betrifft den aufenthaltsrechtlichen Status eigener Staatsangehöriger. Abs. 1 verbietet ihre Ausweisung; Abs. 2 gewährt ihnen ein Recht auf Einreise. Beide Rechte sind vorbehaltlos garantiert, so daß eigenen Staatsangehörigen ein weitgehendes, nicht entziehbares Aufenthaltsrecht zusteht. Vom Schutzbereich ausgenommen sind jedoch die Auslieferung an die Gerichtsbarkeit eines anderen Staates zum Zweck der Aburteilung oder Strafvollstreckung sowie Auslandseinsätze von Soldaten oder vergleichbare im Ausland zu erfüllende Dienstpflichten.8 Diese stellen begrifflich keine Ausweisungen im Sinne von Abs. 1 dar.9 Entsprechend soll auch ausgelieferten, aber aus der Haft entflohenen oder sich in Ausübung einer Dienstpflicht im Ausland befindenden eigenen Staatsangehörigen die Einreise ohne Verletzung von Abs. 2 verweigert werden dürfen.10 Ausländer werden durch Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls grundsätzlich nicht geschützt.11 Allerdings kann die Vorschrift in zwei Zusammenhängen auch für sie von Relevanz sein. Dies gilt zum einen für den Entzug der Staatsangehörigkeit. Da die Konvention kein Recht auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit und auch kein ausdrückliches Verbot ihrer willkürlichen Entziehung enthält, richtet sich die Bestimmung der Staatsangehörigkeit im Rahmen von Art. 3 grundsätzlich nach nationalem 6 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 41 (Ziff. 8): „The Committee agreed that an alien admitted under certain conditions of entry (not necessarily conditions about residence or movement) which he transgresses or fails to comply with, can no longer be regarded as being ‚lawfully‘ in the country.“ 7 EGMR, Entsch. vom 20.11.2007, Omwenyeke ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 44294/ 04. 8 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 47 (Ziff. 22); zur Auslieferung auch EKMR, Entsch. vom 24.05.1974, Brückmann ./. Bundesrepublik Deutschland, CD 46, 202 (210). 9 Zur Auslieferung a. A. Ovey / White, European Convention, S. 406, die jedoch übersehen, daß die Konvention begrifflich zwischen Ausweisung und Auslieferung unterscheidet, vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK. 10 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 49 (Ziff. 28); ebenso Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 55; Schokkenbroek, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 949. Dogmatisch wird sich diese Einschränkung angesichts des schrankenlos formulierten Abs. 2 allein durch eine teleologische Reduktion der Einreisefreiheit als ein das Ausweisungsverbot des Abs. 1 absicherndes Recht begründen lassen. 11 EKMR, Entsch. vom 10.03.1994, L. A. ./. Schweden, Nr. 23253/94; Entsch. vom 14.04.1998, Karassev und Familie ./. Finnland, Nr. 31414/96.

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

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Recht.12 Bereits der Sachverständigenausschuß des Ministerkomitees hatte bei seinen Beratungen zum 4. Zusatzprotokoll die darin verborgene Gefahr erblickt, Unterzeichnerstaaten könnten zur Umgehung des Ausweisungsverbots vor einer Ausweisung zunächst die Staatsangehörigkeit entziehen.13 Die Straßburger Rechtsprechung tendiert entsprechend zu einer weiten Auslegung, nach der Ausländer dann vom personalen Schutzbereich des Art. 3 umfaßt werden, wenn die Aberkennung oder Vorenthaltung der Staatsangehörigkeit des Konventionsstaats allein zum Zweck der Ausweisung oder Einreiseverweigerung erfolgt.14 Bislang nicht abschließend geklärt ist zum anderen die Frage mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen eigener Staatsangehöriger durch die Ausweisung ausländischer Familienmitglieder. Im Fall Maikoe und Baboelal hatten die Beschwerdeführerinnen vorgetragen, daß die Ausweisung einer ausländischen Mutter aus den Niederlanden auch für das die niederländische Staatsangehörigkeit besitzende minderjährige Kind de facto eine Ausweisung bedeute und daher gegen Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls verstoße. Die Kommission, die in einer früheren Entscheidung noch eine Stellungnahme zu dieser Problematik unter Verweis auf die Unzulässigkeit der Beschwerde hatte vermeiden können,15 stellte formal darauf ab, daß die Tochter nicht Adressatin der angegriffenen Ausweisungsverfügung sei und verneinte dementsprechend einen Eingriff.16 Diese formale Herangehensweise wird der Problematik jedoch nicht gerecht. Zum einen scheint sie im Widerspruch zu dem vom Sachverständigenausschuß bei der Fassung von Art. 3 unterstellten weiten Ausweisungsbegriff zu stehen, der maßgeblich auf den tatsächlichen Lebensvorgang einer Ausweisung (das Land verlassen zu müssen) abstellt und keinen Rechtsakt im Sinne einer Ausweisungsverfügung verlangt.17 Zum anderen übersieht die Kommission in ihrer Prüfung eine zwischen Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls und Art. 8 EMRK bestehende Wechselwirkung.18 Während die Kommission im Rahmen von Art. 3 einen Eingriff verneinte, weil die Tochter aufgrund der allein gegen die Mutter gerichteten Ausweisungsverfügung nicht gezwungen war, die Niederlande zu verlassen, lehnte sie im Rahmen von Art. 8 EMRK, der wegen der Trennung von Mutter und Familie ebenfalls betroffen war, gerade deshalb eine Verletzung ab, weil der Tochter aufgrund der Umstände des Einzelfalls eine 12

EGMR, Entsch. vom 23.01.2002, Slivenko u. a. ./. Lettland, RJD 2002-II, 467 (Ziff. 77); Entsch. vom 25.10.2005, Nagula ./. Estland, Nr. 39203/02. 13 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 47 f. (Ziff. 23). 14 Für den Fall der Versagung einer Einbürgerung bereits EKMR, Entsch. vom 15.12.1969, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, CD 31, 107 (110); für den Fall der Aberkennung der Staatsangehörigkeit EGMR, Entsch. vom 04.01.2005, Naumov ./. Albanien, Nr. 10513/03. 15 EKMR, Entsch. vom 13.10.1987, Kilicarslan ./. Frankreich, Nr. 11939/86. 16 EKMR, Entsch. vom 30.11.1994, Maikoe und Baboelal ./. Niederlande, Nr. 22791/93. 17 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 47 (Ziff. 21): „The word ‚expulsion‘ is to be understood here in the generic meaning, in current use (to drive away from a place).“ 18 Vgl. auch Charrier, Code de la Convention, Rn. 740.

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gemeinsame Ausreise mit der Mutter zugemutet werden konnte.19 Es bleibt daher abzuwarten, ob der Gerichtshof der restriktiven Auffassung der Kommission folgen wird.

IV. Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls Den Aufenthalt von Ausländern betrifft Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls, der jedoch allein eine Kollektivausweisung verbietet. Damit bleibt die Garantie weit hinter dem ursprünglichen Protokollentwurf der Parlamentarischen Versammlung zurück. Dieser sah zwar kein Recht auf Einreise, wohl aber einen an Art. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens20 angelehnten, nach der Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts gestuften Ausweisungsschutz für Ausländer vor.21 Im Sachverständigenausschuß des Ministerkomitees erwies sich dieser Vorschlag nicht als mehrheitsfähig.22 Das statt dessen eingefügte Verbot der Kollektivausweisung soll als Reaktion auf die Massenausweisungen in Folge des Zweiten Weltkriegs verstanden werden.23 Da das Verbot schrankenlos gilt, kommt es entscheidend auf den Begriff der Kollektivausweisung selbst an. Nach ständiger Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof wird unter einer Kollektivausweisung jede Maßnahme verstanden, die Ausländer als Gruppe zum Verlassen des Landes zwingt, es sei denn, sie erfolgt auf der Grundlage einer vernünftigen und objektiven Prüfung jedes

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Vgl. zur Problematik mittelbar-faktischer Eingriffe in Art. 8 EMRK unten unter D. II. 1. c). Europäisches Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955, ETS-Nr. 19; BGBl. 1959 II S. 998. 21 Vgl. Europarat, Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 234 (1961): „(1) An alien lawfully residing in the territory of a High Contracting Party may be expelled only if he endangers national security or offends against ordre public or morality. (2) Except where imperative considerations of national security otherwise require, an alien who has been lawfully residing for more than two years in the territory of a Contracting Party shall not be expelled without first being allowed to avail himself of an effective remedy before a national authority, within the meaning of Article 13 of the Convention. (3) An alien who has been lawfully residing for more than ten years in the territory of a Contracting Party may be expelled only for reasons of national security or if the other reasons mentioned in paragraph 1 of this Article are of a particularly serious nature.“ 22 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, S. 50 (Ziff. 34 a, b). 23 Europarat, Explanatory Reports on the Second to Fifth Protocols to the Convention, Doc. H (71) 11, Straßburg 1971, 50 (Ziff. 31); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 56; Pahr, JBl. 1968, 187 (195). Allerdings hätte ein solches Verbot auch aus dem Entwurf der Parlamentarischen Versammlung durch Auslegung gewonnen werden können. Der insoweit als Vorbild dienende, nahezu wortgleiche Art. 3 ENA ist jedenfalls in diesem Sinne zu verstehen. Abschnitt III lit. c des gemäß Art. 32 ENA verbindlichen Auslegungsprotokolls vom 13. Dezember 1955 bestimmt: „The right of expulsion may be exercised only in individual cases.“ 20

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Einzelfalls.24 Selbst ähnlich lautende Ausweisungsverfügungen an eine größere Zahl von Ausländern sollen nicht zur Annahme einer Kollektivausweisung führen, wenn sichergestellt ist, daß jeder betroffene Ausländer im Wege individuellen Rechtsschutzes die Besonderheiten des Einzelfalls zur Geltung bringen kann.25 Die Rechtsprechung begreift das Verbot der Kollektivausweisung daher im wesentlichen als eine Verfahrensgarantie, nach der jedem Ausländer ein Anspruch auf individuelle Prüfung seines Falls zusteht. Im Schrifttum werden demgegenüber stärker den diskriminierenden Charakter betonende Definitionen vorgeschlagen, die aber in der Sache kaum zu unterschiedlichen Ergebnissen führen dürften.26 So soll eine Kollektivausweisung immer dann vorliegen, wenn eine Personengruppe allein aufgrund genereller Kriterien wie Staatsangehörigkeit, Rasse oder Hautfarbe ausgewiesen wird.27 Teils wird gar auf die Diskriminierungskriterien des Art. 14 EMRK rekurriert.28 In der Rechtsprechungspraxis kommt dem Verbot der Kollektivausweisung bislang keine große Bedeutung zu.29 Lediglich im Fall ýonka hat der Gerichtshof einen Verstoß festgestellt und zugleich Fragen nach der Reichweite des Verbots aufgeworfen.30 Die Beschwerdeführer, eine vierköpfige Familie mit slowakischer Staatsangehörigkeit, gehörten zum Volk der Roma und waren wie zahlreiche andere Roma vor den ethnisch begründeten Übergriffen in ihrer Heimat 1998 nach 24 EKMR, Entsch. vom 03.10.1975, Becker ./. Dänemark, DR 4, 215 (235); Entsch. vom 16.12.1988, Alibaks u. a. ./. Niederlande, DR 59, 274 (277); EGMR, Entsch. vom 23.02.1999, Andric ./. Schweden, Nr. 45917/99; Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 59); Entsch. vom 16.06.2005, Berisha und Haljiti ./. Mazedonien, Nr. 18670/03; Entsch. vom 05.01.2006, Dorochenko ./. Estland, Nr. 10507/03; Urt. vom 20.09.2007, Sultani ./. Frankreich, Nr. 45223/05 (Ziff. 81). 25 EKMR, Entsch. vom 11.01.1995, Tahiri ./. Schweden, Nr. 25129/94; EGMR, Entsch. vom 16.06.2005, Berisha und Haljiti ./. Mazedonien, Nr. 18670/03; Urt. vom 20.09.2007, Sultani ./. Frankreich, Nr. 45223/05 (Ziff. 81). 26 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 12 Abs. 5 der Afrikanischen Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (Organization of African Unity, Doc. CAB / LEG/67/3 Rev. 5, in: I. L. M. 21 (1982), 58 ff.): „The mass expulsion of non-nationals shall be prohibited. Mass expulsion shall be that which is aimed at national, racial, ethnic or religious groups.“ 27 Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 4 ZP 4; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 56; van Dijk / van Hoof, Theory and Practice (3. Auflg.), S. 678.; anders nun Schokkenbroek, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 955. 28 Charlier, RTDH 2003, 198 (210 f.). 29 Die wenigen Fälle betrafen i. d. R. Rückführungsmaßnahmen gegen Flüchtlinge; vgl. etwa EKMR, Entsch. vom 16.12.1988, Alibaks u. a. ./. Niederlande, DR 59, 274 (277) zur Rückführung der vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat in die Niederlande geflohenen Surinamer oder EGMR, Entsch. vom 23.02.1999, Andric ./. Schweden, Nr. 45917/99 zur Rückführung bosnisch-kroatischer Bürgerkriegsflüchtlinge. In Notstandslagen wird Art. 4 ZP 4 wegen Art. 15 EMRK ohnehin wenig Schutz vor Massenausweisung bieten können, vgl. dazu Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 21 Rn. 56; Pahr, JBl. 1968, 187 (195); Schokkenbroek, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 954; zu den völkerrechtlichen Grenzen i. S. v. von Art. 15 EMRK vgl. Doehring, ZaöRV 45 (1985), 372 (377 f.). 30 EGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Belgien geflohen. Nach erfolglosem Asylverfahren wurden die Beschwerdeführer ausgewiesen, verblieben jedoch zunächst für die Dauer eines sich anschließenden Rechtsmittelverfahrens in Belgien. Später entschlossen sich die belgischen Behörden unter dem Eindruck stetig steigender Flüchtlingszahlen offenbar dazu, durch eine zentral koordinierte, massenhafte Rückführung bereits abgelehnter slowakischer Asylbewerber ein abschreckendes Signal an die noch fluchtwilligen Roma in der Slowakei zu richten. Zahlreiche Roma, darunter die Beschwerdeführer, wurden auf die Polizeiwache einbestellt, inhaftiert und nach wenigen Tagen in die Slowakei abgeschoben. Während die belgische Regierung das Vorliegen einer Kollektivausweisung bestritt, da gegenüber den Beschwerdeführern individuelle, mit nicht hinreichend schwerer Verfolgung im Herkunftsland begründete Ausweisungsverfügungen erlassen worden waren, sahen die Beschwerdeführer gerade in den besonderen Umständen der Ausweisungsvollstreckung einen Verstoß gegen Art. 4. Das Verbot der Kollektivausweisung müsse erweiternd dahin ausgelegt werden, daß es nicht nur die Ausweisungsentscheidung selbst erfasse, sondern auch deren Vollstreckung. Andernfalls wäre das Verbot der Kollektivausweisung bedeutungslos, da die Gesetze aller Konventionsstaaten inzwischen eine förmliche Entscheidung im Einzelfall als Voraussetzung für eine Ausweisung vorsähen.31 In seinem Urteil bekräftigte der Gerichtshof zunächst seine traditionelle Rechtsprechung, nach der die Ausweisung einer Ausländergruppe dann keine Kollektivausweisung darstellt, wenn sie aufgrund einer vernünftigen und objektiven Prüfung jedes Einzelfalls erfolgt. Sodann stellte er jedoch klar, daß trotz Erlaß einer den Einzelfall berücksichtigenden Ausweisungsverfügung auch die Gesamtumstände ihrer Vollstreckung zu berücksichtigen sind.32 Dem ersten Anschein nach scheint der Gerichtshof damit der Rechtsauffassung der Beschwerdeführer zu folgen. Bei näherem Hinsehen erweist sich das Urteil jedoch eher als Bekräftigung der bisherigen Rechtsprechung, denn als Erweiterung des Schutzbereichs im Sinne der Beschwerdeführer. Besonderes Gewicht maß der Gerichtshof nämlich der Tatsache bei, daß die ursprünglichen Ausweisungsverfügungen gegenüber den Beschwerdeführen im Rahmen der Rückführungsmaßnahme durch neue Verfügungen ersetzt worden waren.33 Die neuen Bescheide, die den Behörden offenbar zusätzEGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 56–58). EGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 59): „The Court reiterates its case-law whereby collective expulsion, within the meaning of Article 4 of Protocol No. 4, is to be understood as any measure compelling aliens, as a group, to leave a country, except where such a measure is taken on the basis of a reasonable and objective examination of the particular case of each individual alien of the group […]. That does not mean, however, that where the latter condition is satisfied the background to the execution of the expulsion orders plays no further role in determining whether there has been compliance with Article 4 of Protocol No. 4.“ 33 EGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 60, 61); kritisch zu diesem formalen Vorgehen Sondervotum Richter Velaers, ebenda S. 132. Diese Differenzierung übersieht Charlier, RTDH 2003, 198 (209 f.). 31 32

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lich die Anordnung von Abschiebehaft ermöglichen sollten, nahmen weder auf die vorangegangen Ausweisungsverfügungen bezug, noch gingen sie auf die persönlichen Umstände der Betroffenen ein. Auch die Einbeziehung der Gesamtumstände kann richtigerweise nicht in dem Sinne verstanden werden, daß Art. 4 auch eine kollektive Vollstreckung untersagt. Welcher Unwert ein Verbot der gemeinsamen Abschiebung mehrer Ausländer, also etwa den gemeinsamen Transport in einem Flugzeug, rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil ist in der Literatur zutreffend darauf hingewiesen worden, daß gerade angesichts des durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens eine gemeinsame Abschiebung von Familienmitgliedern geboten sein kann.34 Eine genaue Untersuchung der Urteilsgründe ergibt vielmehr, daß der Gerichtshof sich allein deshalb auf die Gesamtumstände der Vollstreckung bezieht, weil angesichts der zwar gegenüber allen Betroffenen erlassenen, aber inhaltlich pauschalen Ausweisungsverfügungen nicht alle Zweifel ausgeräumt werden konnten, ob die Ausweisung der Beschwerdeführer eine Kollektivausweisung darstellte.35 Aufgrund der gleichsam hilfsweise herangezogenen Gesamtumstände der Vollstreckung – namentlich den Äußerungen von belgischen Politikern, die ein geschlossenes Vorgehen angekündigt hatten, der generalstabsmäßigen Planung der Abschiebung, dem gleichartigen Vorgehen der Behörden und dem eingeschränkten Zugang zu Anwälten – gelangte der Gerichtshof sodann zu der Annahme, daß das gesamte Ausweisungsverfahren keine hinreichende Gewähr dafür bot, daß die persönlichen Umstände der Betroffenen individuell in die Prüfung einbezogen werden konnten.36 Damit bewegt sich der Gerichtshof auf dem Boden seiner bisherigen Rechtsprechung, nach der der für eine Kollektivausweisung entscheidende Gesichtspunkt darin liegt, daß keine individuelle Prüfung des Einzelfalls erfolgt.

V. Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls Das von der Bundesrepublik bislang nicht ratifizierte 7. Zusatzprotokoll enthält in Art. 1 einige verfahrensrechtliche Garantien, die bei der Ausweisung von Ausländern zu beachten sind.37 Die Vorschrift ist als Ergänzung zu Art. 6 EMRK zu verstehen, der Verfahrensgarantien für zivil- und strafrechtliche Streitigkeiten

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Charlier, RTHD 2003, 198 (210). EGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 61, 62): „In those circumstances […] the Court considers that the procedure followed does not enable it to eliminate all doubt that the expulsion might have been collective. That doubt is reinforced by a series of factors […].“ 36 EGMR, Urt. vom 05.02.2002, ýonka ./. Belgien, RJD 2002-I, 47 (Ziff. 63): „In short, at no stage […] did the procedure afford sufficient guarantees demonstrating that the personal circumstances of each of those concerned had been genuinely and individually taken into account.“ 37 Protokoll Nr. 7 vom 22.11.1984, ETS-Nr. 117. 35

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

enthält und daher auf Ausweisungsverfahren keine Anwendung findet.38 Gemäß Abs. 1 darf ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, nur aufgrund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden. Ihm muß außerdem gestattet werden, gegen seine Ausweisung sprechende Gründe vorzubringen, seinen Fall prüfen zu lassen und sich zu diesem Zweck vor der zuständigen Behörde oder einer oder mehreren von dieser Behörde bestimmten Personen vertreten zu lassen. Nach Abs. 2 kann ein Ausländer vor Ausübung seiner durch Abs. 1 garantierten Rechte ausgewiesen werden, wenn eine solche Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt. In der Rechtsprechungspraxis sind Entscheidungen zu Art. 1 immer noch rar.39 Eine Darstellung muß sich vielfach an der Kommentierung des mit der Erarbeitung des Zusatzprotokolls befaßten Sachverständigenausschusses orientieren. Auch ein rechtsvergleichender Blick auf Art. 13 IPbürgR kann hilfreich sein, da die weitgehend wortgleiche Vorschrift als Vorbild diente.40 Zum sachlichen Schutzbereich ist zunächst festzuhalten, daß der Begriff der Ausweisung autonom, also unabhängig vom nationalen Recht der Konventionsstaaten zu verstehen ist.41 Umfaßt soll grundsätzlich jede Maßnahme sein, die einen Ausländer zum Verlassen des Landes zwingt.42 Damit lehnt sich der Sachverständigenausschuß offenbar an die Rechtsprechung zum Ausweisungsbegriff in Art. 3 und 4 des 4. Zusatzprotokolls an. Im übrigen entspricht sie der Auslegung von Art. 13 IPbürgR, der sich auf jede Form der erzwungenen Ausreise von Ausländern ungeachtet ihrer Bezeichnung im nationalen Recht bezieht.43 Einschränkungen erfährt der sachliche Schutzbereich in zweifacher Hinsicht. Zum einen setzt Art. 1 einen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Er greift also nicht, wenn sich ein Ausländer unter Verstoß gegen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates aufhält.44 Zum anderen verlangt die Vor38 So unter Verweis auf die Rechtsprechung der Kommission in EKMR, Entsch. vom 17.12.1976, Agee ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 164 (175 f.), Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 16. Diese Auffassung wurde bestätigt durch EGMR, Urt. vom 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, RJD 2000-X, 273 (Ziff. 40); vgl. dazu Zander, InfAuslR 2001, 109 ff. 39 Der Gerichtshof hat erstmals in EGMR, Urt. vom 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Nr. 10337/04 eine Verletzung von Art. 1 ZP 7 festgestellt; vgl. seit dem allerdings EGMR, Urt. vom 05.10.2006, Bolat ./. Rußland, Nr. 14139/03; Urt. vom 12.10.2006, Kaya ./. Rumänien, Nr. 33970/05; Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07. 40 Vgl. Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 1 ff., 8, 12. 41 Vgl. zur autonomen Auslegung ausführlich Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 9 ff.; Matscher, in: Schwind, Fragen zum Europarecht, S. 109 ff.; Ost, in: Delmas-Marty, European Convention, S. 305. 42 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 10; in diesem Sinne nun auch EGMR, Urt. vom 05.10.2006, Bolat ./. Rußland, Nr. 14139/03 (Ziff. 79). 43 Vgl. Bair, International Covenant, S. 54; Joseph / Schultz / Castan, International Covenant, Art 13 Rn. 13.03; Nowak, CCPR-Commentary, Art. 13 Rn. 8. 44 EKMR, Entsch. vom 05.07.1994, T. A. ./. Schweden, Nr. 23211/94; EGMR, Urt. vom 05.10.2006, Bolat ./. Rußland, Nr. 14139/03 (Ziff. 75 ff.); Europarat, Explanatory Report on

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

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schrift über die Rechtmäßigkeit hinaus eine Verfestigung des Aufenthalts in Form einer Niederlassung. Die englische („lawfully resident“) und die französische Fassung („résidant régulièrement“) sind in dieser Hinsicht eindeutig und weichen damit bewußt von Art. 13 IPbürgR, der einen einfachen Aufenthalt genügen läßt, ab.45 Der Sachverständigenausschuß weist in seiner Kommentierung darauf hin, daß mit dieser Formulierung insbesondere die Konstellationen aus dem Schutzbereich von Art. 1 ausgeklammert werden sollen, in denen der Aufenthalt eines Ausländers nur zur Durchreise oder zu einem anderen befristeten und nicht in einer Niederlassung liegenden Zweck gestattet wird.46 Die von Abs. 1 verlangte Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung richtet sich, da die Vorschrift keine materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Ausweisung vorgibt, allein nach dem Recht der Konventionsstaaten. Eine Ausweisungsentscheidung ist demnach rechtmäßig, wenn sie nach Maßgabe des nationalen Rechts von der zuständigen Behörde in einem ordnungsgemäßen Verfahren und in Übereinstimmung mit den jeweiligen materiellrechtlichen Vorschriften getroffen wird.47 Der Prüfungsumfang des Gerichtshofs beschränkt sich hier im wesentlichen auf eine formale Kontrolle rechtsstaatlicher Mindeststandards. Erforderlich ist, daß die Ermächtigungsgrundlage der Ausweisungsentscheidung zugänglich und hinreichend bestimmt ist, so daß der betroffene Ausländer deren Auswirkungen vorhersehen kann. Außerdem muß das nationale Recht Rechtsschutzmöglichkeiten eröffnen, die ausreichenden Schutz vor willkürlichen Behördenentscheidungen bieten.48 Im übrigen überläßt der Gerichtshof die richtige Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts weitgehend den innerstaatlichen Organen.49 Der Kommentierung des Sachverständigenausschusses zur Folge soll das Recht auf Überprüfung des Falls kein Recht auf eine zweite Instanz oder eine Entscheidung durch ein Gericht beinhalten. Ihm sei genüge getan, wenn die Ausgangsbehörde unter Berücksichtigung der vom Betroffenen vorgebrachten Argumente erneut entscheidet.50 Desweiteren soll es nicht erforderlich sein, daß die für die Überprüfung zuständige Institution die letztverbindliche Entscheidung trifft. Auch Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 9; kritisch zur Regelung Schwarze, EuGRZ 1993, 377 (383); Trechsel, in: FS-Ermacora, S. 195 (199). 45 Diese Voraussetzung wird in der unverbindlichen deutschen Fassung nicht hinreichend deutlich. 46 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 9. 47 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 11. 48 EGMR, Urt. vom 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Nr. 10337/04 (Ziff. 55); Urt. vom 12.10.2006, Kaya ./. Rumänien, Nr. 33970/05 (Ziff. 55); Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 73, 39); vgl. ausführlich zum insoweit identischen Prüfungsumfang im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK unten unter E. I. 49 EGMR, Urt. vom 05.10.2006, Bolat ./. Rußland, Nr. 14139/03 (Ziff. 81 f.). Vgl. zu der sich ebenfalls auf eine Willkürkontrolle beschränkenden Rechtsprechung des Menschenrechtsausschusses zu Art. 13 IPbürgR Nowak, CCPR-Commentary, Art. 13 Rn. 11–13. 50 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 13.2.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

ein Verfahren, nach dem ein Gericht die Ausweisungsentscheidung einer Behörde überprüft und dieser im Anschluß lediglich eine Empfehlung für das weitere Vorgehen übermittelt, soll den Anforderungen genügen.51 Da Abs. 1 über das Recht auf Vertretung hinaus keine weiteren Vorgaben für die Ausgestaltung des Verfahrens mache, könne im übrigen auch kein Anspruch auf mündliche Anhörung oder überhaupt auf persönlich Anwesenheit bei der Überprüfung abgeleitet werden.52 Allerdings gebietet nach Auffassung des Gerichtshofs der Grundsatz der effektivitätssichernden Auslegung53 über die Gründe der Ausweisung so rechtzeitig informiert zu werden, daß eine wirksame Ausübung der Verfahrensrechte möglich ist, obwohl ein solcher Anspruch dem Wortlaut nach – anders als etwa in Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK – nicht vorgesehen ist.54 Auch ist in jedem Fall eine umfassende Überprüfung des Falls erforderlich, zu der auch eine eigenständige Beweiserhebung über die die Ausweisung tragenden Umstände gehört.55 Den durch Art. 1 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls gewährten Verfahrensrechten kommt schließlich eine aufschiebende Wirkung in dem Sinne zu, daß der Betroffene grundsätzlich erst nach Ausübung der Verfahrensrechte abgeschoben werden darf. Eine solche Interpretation, die auch der Auslegung von Art. 13 IPbürgR durch den Menschenrechtsausschuß entspricht,56 läßt sich klar aus der Regelung des Abs. 2 entnehmen, wonach eine Ausweisung vor Ausübung der Verfahrensrechte nur ausnahmsweise zulässig ist, nämlich dann, wenn dies im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.57 Einen entsprechenden Hinweis liefert zudem im Umkehrschluß die Kommentierung des Sachverständigenausschusses. Dieser führt im Zusammenhang mit dem sachlichen Anwendungsbereich der durch Art. 1 gewährleisteten Verfahrens51

Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 13.3. Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 14. 53 Vgl. zu diesem Auslegungsgrundsatz ausführlich Ost, in: Delmas-Marty, European Convention, S. 294; Ovey / White, European Convention, S. 47 f.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 19. 54 EGMR, Urt. vom 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Nr. 10337/04 (Ziff. 59, 60). 55 EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 74). 56 Vgl. Joseph / Schultz / Castan, International Covenant, Art. 13 Rn. 13.12; Nowak, CCPRCommentary, Art. 13 Rn. 18. 57 EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 75 f.). Der Begriff „Ausweisung“ ist hier nicht im Sinne des deutschen Aufenthaltsrechts zu verstehen. Gemeint ist die tatsächliche Verbringung ins Ausland. Diesem Fehler unterliegt offenbar Trechsel, in: FS-Ermacora, S. 195 (200), der die Rechte im Sinne von Abs. 1 dann konsequenterweise als Anhörungsrechte vor Erlaß einer Ausweisungsverfügung begreift. In der Rechtsprechung findet diese Interpretation jedoch keine Stütze: Eine nachträgliche Überprüfung lag zugrunde in EKMR, Entsch. vom 05.04.1995, Charfa ./. Schweden, Nr. 20002/92; Entsch. vom 05.12.1996; M. C. C. u. a. ./. Schweiz, Nr. 33721/96; Entsch. vom 30.05.1997, Chammas ./. Schweiz, Nr. 35438/97; EGMR, Entsch. vom 04.01.2005, Naumov ./. Albanien, Nr. 10513/03; Entsch. vom 05.01.2006, Dorochenko ./. Estland, Nr. 10507/03; das gesamte Verfahren vor und nach der Entscheidung über die Ausweisung wurde berücksichtigt in EKMR, Entsch. vom 14.10.1996, Sadaghi ./. Schweden, Nr. 27794/95; Entsch. vom 05.12.1996, Bankar ./. Schweiz, Nr. 33829/96. 52

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

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rechte aus, daß etwaige Rechtsmittelverfahren gegen die die ursprüngliche Ausweisung überprüfende Entscheidung, soweit solche überhaupt durch das nationale Recht vorgesehen seien, nicht in den Schutzbereich von Art. 1 fielen. Als Konsequenz daraus müßten die Konventionsstaaten auch nicht den Aufenthalt des Ausgewiesenen bis zum Abschluß eines derartigen Rechtsmittelverfahrens im eigenen Hoheitsgebiet sicherstellen.58 Soweit die Voraussetzungen für eine vorgreifende Abschiebung gemäß Art. 1 Abs. 2 erfüllt sind, soll der Betroffene aber zumindest aus dem Ausland heraus die Verfahrensrechte in Anspruch nehmen können.59

VI. Die sogenannte Soering-Rechtsprechung des Gerichtshofs Schließlich leitet die Rechtsprechung aus einigen Konventionsbestimmungen, deren unmittelbares Thema nicht der Schutz des Aufenthalts ist, im Einzelfall ein Abschiebungs- bzw. Auslieferungsverbot ab. Das gilt zunächst für Art. 3 EMRK, der ein absolutes Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung enthält. Diese Vorschrift erstreckt sich nach inzwischen ständiger Rechtsprechung nicht allein auf Mißhandlungen durch die Konventionsstaaten selbst, sondern kann auch dann verletzt sein, wenn die Konventionsstaaten eine Person in einen Staat abschieben oder ausliefern, in dem eine Mißhandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.60 Die insoweit maßgebliche Leitentscheidung in der Rechtssache Soering betraf die Auslieferung eines jugendlichen Straftäters durch das Vereinigte Königreich in die Vereinigten Staaten, wo ihm die Verurteilung zu einer Todesstrafe bevorstand. Der Gerichtshof erblickte unter den konkreten Umständen des Falls im sogenannten „Todeszellensyndrom“, d. h. dem mehrjährigen Warten auf eine Vollstreckung der Todesstrafe, eine die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichende Mißhandlung.61 Die Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs sah er, gleichsam vorgelagert, durch die Übergabe des Betroffenen in die Gewalt der Vereinigten Staaten als unmittelbar zurechenbare Handlung begründet.62 Voraussetzung für ein aus Art. 3 EMRK abgeleitetes Abschiebungs- oder Auslieferungsverbot ist, daß stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, daß die betroffene Person im Fall ihrer Abschiebung bzw. Auslieferung einem realen Risiko ausgesetzt ist, im Zielstaat Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender 58 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 13.2: „The present article does not relate to that stage of proceedings and does not therefore require that the persons concerned should be permitted to remain in the territory of the State pending the outcome of the appeal introduced against the decision taken following the review of his case.“ 59 EGMR, Urt. vom 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Nr. 10337/04 (Ziff. 53). 60 Vgl. dazu umfassend Alleweldt, Schutz vor Abschiebungen, passim; zusammenfassend Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 26 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 3 Rn. 18 ff. 61 EGMR, Urt. vom 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 161 (Ziff. 111). 62 EGMR, Urt. vom 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 161 (Ziff. 91).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Behandlung oder Strafe unterworfen zu sein.63 Diese Wahrscheinlichkeitsprüfung trägt dem Umstand Rechnung, daß ein sicherer Nachweis einer drohenden Verfolgung im Zielstaat von den Betroffenen in der Regel nicht geführt werden kann.64 Nicht erforderlich ist, daß die Mißhandlung vom Zielstaat selbst oder ihm zurechenbaren, formal nichtstaatlichen Organisationen ausgeht. Auch bei Verfolgung durch Bürgerkriegsparteien,65 durch Drogenbanden66 oder bei Fehlen einer lebenswichtigen medizinischen Behandlungsmöglichkeit67 kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen. Inwieweit sich die zu Art. 3 EMRK entwickelten Grundsätze auch auf andere Konventionsbestimmungen übertragen lassen, ist bislang nicht abschließend geklärt. In der Rechtssache Soering begründete der Gerichtshof die Vorwirkung von Art. 3 EMRK auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen mit seiner herausragenden Bedeutung als Fundamentalwert demokratischer Gesellschaften. Dies komme insbesondere in der vorbehaltslosen und auch bei Krieg oder anderen Notstandslagen im Sinne von Art. 15 EMRK nicht disponiblen Geltung zum Ausdruck.68 Davon ausgehend kommt jedenfalls eine automatische Übertragung auf andere Konventionsbestimmungen nicht in Betracht. In letzter Konsequenz würde dies zudem eine Abschiebung oder Auslieferung schon immer dann ausschließen, wenn die Rechte und Freiheiten der Konvention im Zielstaat nicht in vergleichbarer Weise garantiert sind. Die Funktionsgrenzen der Konvention wären mit einer solchen Auslegung überschritten.69 Es wird daher zu verlangen sein, daß eine Konventionsbestimmung nach Art und Gewicht des geschützten Rechtsguts zumindest annähernd an die Bedeutung von Art. 3 EMRK heranreicht. Anerkannt ist bislang, daß auch bei einer im Zielstaat drohenden Verletzung des durch Art. 2 EMRK geschützten Rechts auf Leben ein Auslieferungs- bzw. Abschiebungsverbot bestehen kann.70 Entsprechendes dürfte für das Verbot der Todesstrafe gemäß Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls gelten.71 Weiterhin hat der Gerichtshof nicht ausschließen wollen, daß eine drohende Verletzung fundamentaler Verfahrensgarantien im Sinne von Art. 6 EMRK oder eine willkürliche Inhaftierung entgegen Art. 5 EMRK 63 EGMR, Urt. vom 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 161 (Ziff. 91); Urt. vom 20.03.1991, Cruz Varas u.a, ./. Schweden, Serie A 201 (Ziff. 69); Urt. vom 30.10.1991, Vilvarajah u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 215 (Ziff. 103); Urt. vom 15.11.1996, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1996-V, 1871 (Ziff. 74); Urt. vom 28.02.2008, Saadi ./. Italien, Nr. 37201/06 (Ziff. 125, 128 ff.). 64 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 30. 65 EGMR, Urt. vom 17.12.1996, Ahmed ./. Österreich, RJD 1996-VI, 2195 (Ziff. 44 ff.). 66 EGMR, Urt. vom 29.04.1997, H. L. R. ./. Frankreich, RJD 1997-III, 745 (Ziff. 38 ff.). 67 EGMR, Urt. vom 02.05.1997, D. ./. Vereinigtes Königreich, 1997-III, 777 (Ziff. 51 ff.); Urt. vom 27.05.2008, N. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26565/05 (Ziff. 32 ff.). 68 EGMR, Urt. vom 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 161 (Ziff. 88); vgl. auch Urt. vom 28.02.2008, Saadi ./. Italien, Nr. 37201/06 (Ziff. 127). 69 EGMR, Entsch. vom 28.02.2006, Z. und T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27034/05. 70 EGMR, Urt. vom 08.11.2005, Bader u. a. ./. Schweden, Nr. 13284/04 (Ziff. 41 ff.). 71 Vgl. EGMR, Entsch. vom 15.03.2001, Ismaili ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 58128/ 00; Entsch. vom 23.04.2002, S. R. ./. Schweden, Nr. 62806/00.

A. Der Schutz des Aufenthalts als Thema der Konvention

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Einschränkungen für Auslieferungs- und Abschiebungsverfahren zur Folge haben können.72 Eine Grenze scheint er jedoch bei einer drohenden Verletzung der durch Art. 9 EMRK geschützten Religionsfreiheit ziehen zu wollen.73

VII. Der Schutz des Aufenthalts de lege ferenda Weitergehende Regelungen zum Schutz des Aufenthalts haben bislang keinen Eingang in die Konvention gefunden. Allerdings hat sich der Europarat bereits Ende der 1970er Jahre mit der besonderen Lage von sogenannten Einwanderern der zweiten Generation befaßt, die in einem Mitgliedstaat geboren oder im frühen Kindesalter eingewandert sind und über keine nennenswerten Bindungen an ihr Herkunftsland verfügen.74 Mit der Empfehlung des Ministerkomitees zum Aufenthaltsschutz für Ausländer mit Daueraufenthalt vom 13. September 2000 liegt nun ein weitgehendes, für die Mitgliedstaaten allerdings nicht bindendes Regelwerk vor.75 Die Empfehlung sieht im Kern einen nach der Dauer des Aufenthalts gestuften Schutz vor Ausweisungen vor, der nach zwanzigjährigem Aufenthalt in ein absolutes Ausweisungsverbot mündet.76 Weitgehend von einer Ausweisung ausgenommen sollen dabei Einwanderer der zweiten Generation sein, die einem Mitgliedstaat geboren wurden oder vor Vollendung des zehnten Lebensjahres eingewandert sind.77 Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat die Empfehlung aufgegriffen und fordert den Abschluß eines entsprechenden Zusatzprotokolls zur Konvention.78 Hinzuweisen ist auch auf die Empfehlung des Mini72 EGMR, Urt. vom 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 161 (Ziff. 113); Entsch. vom 14.10.2003, Tomic ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17387/03; Urt. vom 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov ./. Türkei, RJD 2005-I (Ziff. 91); Urt. vom 28.02.2008, Saadi ./. Italien, Nr. 37201/06 (Ziff. 160). 73 Vgl. EGMR, Entsch. vom 28.02.2006, Z. und T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27034/05. 74 Vgl. Europarat, Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 841 (1978) und Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung R (84) 9. 75 Zu Rechtsnatur und Bindungswirkung von Empfehlungen des Europarates vgl. Bartsch, in: GS-Rieg, S. 91 (94); Jung, in: FS-Ress, S. 519 (522 ff.); Seidl-Hohenveldern / Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, S. 237. 76 Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung Rec (2000) 15 (Ziff. 4b): „More particularly, member states may provide that a long-term immigrant should not be expelled: – after five years of residence, except in the case of a conviction for a criminal offence where sentenced to in excess of two years’ imprisonment without suspension; – after ten years of residence, except in the case of a conviction for a criminal offence where sentenced to in excess of five years of imprisonment without suspension. After twenty years of residence, a long-term immigrant should no longer be expellable.“ 77 Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung Rec (2000) 15 (Ziff. 4c): „Long term immigrants born on the territory of the member state or admitted to the member state before the age of ten, who have been lawfully and habitually resident, should not be expelled once the have reached the age of eighteen. Long-term immigrants who are minors may on principle not be expelled.“ 78 Europarat, Parlamentarische Versammlung, Empfehlung 1504 (2001) (Ziff. 11); vgl. dazu Groenendijk, in: Guild / Minderhoud, Security of Residence, S. 7 ff.; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (418 ff.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

sterkomitees vom 26. März 2002, die den Status von im Wege des Familiennachzugs aufgenommenen Ausländern betrifft und unter anderem auch Vorgaben für eine Aufenthaltsbeendigung enthält.79 Unabhängig von der Frage der Rechtsverbindlichkeit von Empfehlungen des Europarates ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Tendenz nachweisbar, die Empfehlungen zunehmend als Auslegungshilfe fruchtbar zu machen. Dies gilt namentlich für die Reichweite des aus Art. 8 EMRK abgeleiteten aufenthaltsrechtlichen Schutzes von Einwanderern der zweiten Generation und sonstigen Ausländern mit Daueraufenthalt.80

VIII. Folgerungen Der Aufenthalt von Ausländern wird durch die Europäische Menschenrechtskonvention nach ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand nur begrenzt geschützt. Schon Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK zeigt, daß die Konvention die Verweigerung der Einreise bzw. die Ausweisung als aufenthaltsbeendende Maßnahme voraussetzt, also nicht aus Prinzip als konventionswidrig erachtet. Jedenfalls auf der Grundlage des ursprünglichen Gewährleistungsumgangs der Konvention ist daher davon auszugehen, daß die Entscheidung über den Aufenthalt von Ausländern eine souveräne, durch die Konvention grundsätzlich nicht beschränkte Entscheidung der Konventionsstaaten bleiben sollte. Die mit dem 4. und 7. Zusatzprotokoll nachträglich geschaffenen Regelungen haben daran hinsichtlich des Aufenthalts von Ausländern im wesentlichen nichts geändert. Der ursprüngliche Entwurf der Parlamentarischen Versammlung zum 4. Zusatzprotokoll, der nach der Dauer des Aufenthalts gestufte Ausweisungsverbote vorsah, hat sich nicht durchsetzen können. Dem Recht auf Freizügigkeit gemäß Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls kann kein implizites Aufenthaltsrecht entnommen werden, da die Vorschrift den rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates tatbestandlich voraussetzt. Das in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls enthaltene Verbot der Kollektivausweisung stellt im wesentlichen eine Verfahrensgarantie dar, die eine individuelle Prüfung jedes Einzelfalls verlangt, darüber hinaus aber keine materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Auswei79 Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung Rec (2002) 4 (Ziff. IV): „1. When considering the withdrawal, refusal to renew a residence permit or the expulsion of a family member, member states should have proper regard to criteria such as the person’s place of birth, his age of entry on the territory, the length of residence, his family relationships, the existence of family ties in the country of origin and the solidity of social and cultural ties with the country of origin. Special consideration should be paid to the best interest and wellbeing of children. 2. When the residence permit of a family member is either not renewed or withdrawn or expulsion ordered, member states should grant a right of appeal to competent independent administrative authorities or courts.“ 80 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 55 f.); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 73); ausführlich dazu unter E. III. 2. j).

B. Die Genese der Norm

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sung benennt. Auch Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls ist rein verfahrensrechtlicher Natur. Zwar verlangt die Vorschrift die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung, diese richtet sich jedoch allein nach nationalem Recht. Der Prüfungsumfang des Gerichtshofs ist hier im wesentlichen auf eine Kontrolle rechtsstaatlicher Mindeststandards begrenzt. Die durch den Gerichtshof entwickelten Kriterien – Zugänglichkeit und Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage sowie hinreichender Rechtsschutz vor willkürlichem Behördenhandeln – stellen letztlich nur formale Kriterien dar, die keine inhaltliche Bewertung der Ausweisungsgründe erlauben. Ein materielles Verbot aufenthaltsbeendender Maßnahmen kann sich allein aus der durch Auslegung begründeten Vorwirkung einiger Konventionsgarantien, insbesondere Art. 3 EMRK, ergeben, wenn im Zielstaat einer Abschiebung eine Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter droht. Allerdings folgt auch aus dieser Vorwirkung strenggenommen kein Recht auf Aufenthalt. Da allein die Abschiebung in einen bestimmten Staat wegen einer dort drohenden Grundrechtsverletzung konventionsrechtlich unzulässig ist, bleibt die Möglichkeit zur Abschiebung in einen Drittstaat unberührt. Selbst wenn diese Alternative in der Praxis häufig ausscheiden mag, weil sich kein zur Aufnahme des Betroffenen williger Drittstaat finden läßt, kann der dann faktisch allein verbleibende weitere Aufenthalt im Konventionsstaat richtigerweise nicht als Ausfluß eines Rechts auf Aufenthalt gerade in diesem Konventionsstaat, sondern lediglich als Reflex eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses verstanden werden.

B. Die Genese der Norm B. Die Genese der Norm

Im folgenden soll nun die Entstehungsgeschichte des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK in ihren wesentlichen Grundzügen nachgezeichnet und auf die der Aufnahme der Garantie in den Grundrechtskatalog der Konvention zugrundeliegenden Motive hin untersucht werden.

I. Die Vorarbeiten der Europäischen Bewegung Die Entstehung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eng mit der europäischen Einigungsbewegung verbunden.1 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren in verschiedenen europäischen Staaten private Vereinigungen unter maßgeblicher Beteiligung führender Politiker wie Winston Churchill, Alcide De Gasperi oder Konrad Adenauer entstanden, die die Schaffung eines vereinten Europas zum Ziel hatten. Diese später zur sogenannten Europäischen Bewegung 1

Vgl. ausführlich Brinkmeier, MRM, Themenheft „50 Jahre EMRK“ 2000, 21 (25 f.); Klein, AVR 2000, 121 (121 f.); Partsch, ZaöRV 15 (1954), 631 (633 ff.); Weiß, Europäische Konvention, S. 3 f.

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

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zusammengeschlossenen Vereinigungen befaßten sich auf ihrem im Mai 1948 im Haag veranstalteten Europakongreß mit der Frage eines wirksamen Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Von der Idee geleitet, nach der Überwindung der totalitären Systeme von Nationalsozialismus und Faschismus eine dauerhaft demokratische Ordnung in Europa zu errichten, legten die Delegierten in der auf dem Haager Kongreß verabschiedeten Resolution bereits die wesentlichen Forderungen nieder, die die späteren Beratungen des Europarates bestimmen sollten und die die Grundprinzipien des heutigen Konventionssystems bilden: die Ausarbeitung einer Charta der Menschenrechte, die Einrichtung eines Gerichtshofs und die Möglichkeit einer Individualbeschwerde für jedermann, der sich in seinen durch die Charta verbrieften Rechte verletzt sieht. Ausgehend von dem Ziel, eine demokratische Ordnung sicherzustellen, standen dabei diejenigen Rechte im Vordergrund, die für das Funktionieren einer Demokratie als notwendig erachtet wurden: Gedankenfreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und das Recht auf politische Opposition.2 Fortgesetzt wurden die Bemühungen um eine europäische Menschenrechtscharta auf der Konferenz von Brüssel im Februar 1949. Der Internationale Rat der Europäischen Bewegung empfahl hier die Einrichtung eines Gerichtshofs, der alle jene „persönlichen, Familien- und sozialen Rechte wirtschaftlicher, politischer, religiöser oder anderer Art“ garantieren solle, die in der am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte3 enthalten waren und deren gerichtlicher Schutz notwendig und möglich sei.4 Obwohl dieses Programm gegenüber den in der Haager Resolution in Bezug genommen politischen Rechten eine erhebliche Erweiterung darstellte, beschränkte sich der Internationale Rat bei der Formulierung des konkreten Arbeitsauftrags an den zur Ausarbeitung einer Menschenrechtscharta auf der Konferenz eingesetzten Rechtsausschuß im wesentlichen wieder auf die klassischen Freiheitsrechte liberaler Prägung: Sicherheit von Leib und Leben, Freiheit vor willkürlicher Verhaftung, Gefangenschaft und Verbannung, Freiheit vor Sklaverei und Knechtschaft und vor Zwangsarbeit jeder diskriminierenden Art, Freiheit des religiösen Glaubens, seiner Ausübung und Lehre, Redefreiheit und allgemeine Freiheit der Meinungsäußerung, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Unantastbarkeit der Wohnung, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz gegen jede Diskriminierung auf Grund der Religion, der Rasse, der nationalen Herkunft oder der politischen oder jeder anderen Meinung sowie der Schutz 2

Resolution des Haager Europa-Kongresses, dt. Übersetzung in: Die Friedenswarte 1948, 178 (179). 3 Resolution 217 (III) A, in: United Nations, General Assembly, Official Records 3rd Session 1948–49 (part I), Resolutions 21st September – 12th December 1948, S. 71 ff. 4 Schlußfolgerungen und Empfehlungen des Brüsseler Kongresses der Europäischen Bewegung – Angenommen anläßlich der ersten Sitzung des Internationalen Rates der Europäischen Bewegung in Brüssel vom 25. bis 28. Februar 1949, dt. Übersetzung in: Europa-Archiv 1949, 2025 (2025).

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gegen willkürliche Eigentumsberaubung. Die ebenfalls in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten sozialen Rechte fanden dagegen keinen Eingang in den dem Rechtsausschuß vorgelegten Katalog. Wohl aber findet sich dort unter der Ordnungsnummer 7 der „Schutz vor willkürlicher Einmischung in die Familie“5, der sich auf den freilich weitergehenden Art. 12 AEMR zurückführen läßt. Dieser bestimmt: „No one shall be subjected to arbitrary interference with his privacy, family, home or correspondence, nor to attacks upon his honour and reputation. Everyone has the right to the protection of the law against such interference or attacks.“

Der Rechtsausschuß, dem der ehemalige französische Justizminister PierreHenri Teitgen vorstand und der frühere Anklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen, der Engländer Sir David Maxwell-Fyfe sowie der belgische Jurist Fernand Dehousse als Berichterstatter angehörten, konnte bereits im Juli 1949 dem Ministerkomitee des Europarates einen ersten Entwurf für eine europäische Menschenrechtscharta vorlegen.6 Der Katalog orientierte sich weitgehend an der vom Internationalen Rat ausgearbeiteten Liste und enthielt unter anderem gemäß Art. 1 lit. g des Entwurfs „die natürlichen Rechte, die sich aus Ehe und Vaterschaft ergeben und die, die der Familie gehören“: „Tout Etat adhérant à la présent Convention garantira à ses citoyens les droits ci-dessous: […] g) les droits naturels qui découlent du mariage et de la paternité et ceux qui appartiennent à la famille.“

Bemerkenswert an dem Entwurf des Rechtsausschusses sind zwei Besonderheiten, auf die bereits Partsch und Wolfrum aufmerksam gemacht haben.7 Zum einen erscheinen die natürlichen Rechte der Familie zumindest bei flüchtiger Betrachtung als Fremdkörper innerhalb eines durchweg von liberalen Freiheitsrechten geprägten und ursprünglich vom Gedanken der Demokratie her entwickelten Menschenrechtskatalogs, der die Garantien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nur selektiv berücksichtigt. Zum anderen erstaunt die vom Rechtsausschuß gewählte Formulierung, nach der die Familie als selbständiges Rechtssubjekt erscheint. Während noch der erste Halbsatz („Les droits naturels qui découlent du mariage et de la paternité“) einen stärker individualrechtlichen Charakter aufweist, scheint die zweite Hälfte („ceux qui appartiennent à la famille“) dem Wortlaut nach zu unterstellen, daß der Familie als solche originäre Rechte zustehen. Insoweit ist ein deutlicher Wandel gegenüber Art. 12 AEMR feststellbar, der als Individualrecht ausgestaltet ist und darüber hinaus auch die Privatsphäre des Einzelnen schützt – eine Garantie, die keinen Eingang in den Entwurf des Rechtsausschusses fand. Partsch und Wolfrum gelangen aufgrund ihrer Beobachtungen zu dem Schluß, daß die Verfasser des Entwurfs die Familie offenbar als eine not5

Europa-Archiv 1949, 2025 (2027 f.). Text und deutsche Übersetzung in: Weiß, Europäische Konvention, S. 37 ff. 7 Vgl. Partsch, Rechte und Freiheiten, S. 180; Wolfrum, Die Friedenswarte 1975, 264 (265 f.). 6

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wendige Voraussetzung für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens erachtet haben müssen, die vor staatlicher Auflösung, mit der sich totalitäre Regime des Einzelnen zu ermächtigen suchten, zu schützen sei. Nicht als individuelles Freiheitsrecht, sondern nur von der Idee der Familie als Gemeinschaft aus gedacht füge sich die Garantie widerspruchslos in die übrigen Rechte des Konventionsentwurfs ein.8

II. Die Ausarbeitung durch den Europarat 1. Ein Überblick über den Kodifizierungsprozeß Der am 5. Mai 1949 gegründete Europarat griff die Anregungen der Europäischen Bewegung noch im Sommer 1949 auf. Das Ministerkomitee des Europarates beauftragte die Beratende Versammlung, heute Parlamentarische Versammlung genannt, sich mit dem Schutz und der Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu befassen, wie es Art. 1 der Europaratssatzung als Aufgabe des Europarates definiert.9 Die weiteren Arbeiten lassen sich in drei wesentliche Verfahrensabschnitte unterteilen.10 Die Beratende Versammlung setzte zunächst einen Rechts- und Verwaltungsausschuß ein und betraute ihn mit der Ausarbeitung eines Konventionsentwurfs.11 Die Leitung des Ausschusses übernahmen erneut, nur in vertauschten Rollen Sir David Maxwell-Fyfe als Vorsitzender und Pierre-Henri Teitgen als Berichterstatter. Nach Übermittlung der Ergebnisse an das Ministerkomitee beauftragte dieses im November 1949 einen von den Regierungen der Mitgliedstaaten besetzten Sachverständigenausschuß mit der Überarbeitung des vorliegenden Konventionsentwurfs.12 Ihre in den wesentlichen Punkten endgültige Fassung erhielt die Konvention schließlich auf einer Konferenz leitender Regierungsbeamter im Juni 1950.13 Am 4. November desselben Jahres wurde sie vom Ministerkomitee angenommen und trat nach Hinterlegung der zehnten 8

Partsch, Rechte und Freiheiten, S. 180; Wolfrum, Die Friedenswarte 1975, 264 (267). Das Ministerkomitee hatte zunächst eine Befassung der Beratenden Versammlung mit dem Thema Menschenrechte abgelehnt (Comité des Ministres, 1er Session, 2e Séance tenue le 9 Août 1949, in: TP I, S. 10 ff.), erweiterte jedoch deren Arbeitsauftrag (5e Séance tenue le 13 Août 1949, in: TP I, S. 22 ff.), nachdem die Beratende Versammlung auf Initiative von Winston Churchill hin ein entsprechendes förmliches Begehren an das Ministerkomitee gerichtet hatte (Assemblée Consultative, 1er Session, 4e Séance tenue le 13 Août 1949, in: TP I, S. 20). 10 Zum Kodifizierungsprozeß vgl. Brinkmeier, MRM, Themenheft „50 Jahre EMRK“ 2000, 21 (26 ff.); Partsch, ZaöRV 15 (1954), 631 (640 ff.); Weiß, Europäische Konvention, S. 4 ff. und die Übersicht auf S. 35. 11 Assemblée Consultative, 1re Session, 18e Séance, Recommandation N° 38 adoptée par l’Assemblée, in: TP II, S. 275 ff. 12 Reunions du Comité d’Experts, 6–8 Février 1950 et 6–10 Mars 1950, Rapport au Comité des Ministres, in: TP IV, S. 3 ff. 13 Conférence de Hauts Fonctionnaires, 8–17 Juin 1950, Rapport de la Conférence de Hauts Fonctionnaires, in: TP IV, S. 243 ff. 9

B. Die Genese der Norm

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Ratifikationsurkunde durch Luxemburg als Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten am 3. September 1953 in Kraft.14

2. Die Wandlungen des Wortlauts Ausweislich des heute mit Art. 8 EMRK garantierten individualrechtlichen Anspruchs auf Achtung des Privat- und Familienlebens haben sich die an der Ausarbeitung der Konvention beteiligten Gremien und Organe des Europarates von der Formulierung im Entwurf der Europäischen Bewegung entfernt. Der dem Rechts- und Verwaltungsausschuß durch die Beratende Versammlung erteilte Arbeitsauftrag sprach zwar zunächst noch in Übereinstimmung mit dem Entwurf der Europäischen Bewegung von den „natürlichen Rechten der Familie“15; schon der von Pierre-Henri Teitgen als Diskussionsgrundlage für die Arbeit im Rechts- und Verwaltungsausschuß erstellte vorläufige Konventionsentwurf lehnte sich jedoch wieder deutlich an den Wortlaut von Art. 12 AEMR an: „L’inviolabilité de sa vie privée, de son domicile, de sa correspondance et de sa famille, conformément à l’article 12 de la Déclaration des Nations Unies.“16

Dieser Vorschlag trägt bereits die Züge eines klassischen Individualrechts, worauf auch die übrigen Schutzgüter und der Verweis auf Art. 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hindeuten. Auch die durch Art. 12 AEMR geschützte Privatsphäre wurde als „Privatleben“ in den Konventionsentwurf aufgenommen. Während der folgenden Beratungen wurde die Formulierung mehrfach geändert, behielt aber ihre grundlegende Struktur bei, wenn auch das vermittelte Schutzniveau sichtbar abgeschwächt wurde. Der von Pierre-Henri Teitgen vorbereitete und nach ihm benannte Bericht über die Arbeiten des Rechts- und Verwaltungsausschusses sprach in der der Beratenden Versammlung übermittelten und von ihr später übernommenen Fassung von: „L’immunité contre toutes immixtions arbitraires dans sa vie privée, sa famille, son domicile et sa correspondance, conformément à l’article 12 de la Déclaration des Nations Unies.“17

Der vom Ministerkomitee eingesetzte Sachverständigenausschuß löste während seiner Arbeiten am Konventionsentwurf die Kopplung der Konventionsrechte an 14 Die Bundesrepublik hat die Konvention am 5. Dezember 1950 ratifiziert (BGBl. 1995 II S. 685 ff., 953). Sie ist für die Bundesrepublik am 03.09.1953 in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 15.02.1953, BGBl. 1954 II S. 14). 15 Assemblée Consultative, 1re Session, Séances de la Commission des questions juridiques et administratives, Séance du 22 Août 1949, in: TP I, S. 161: „La liste des libertés garanties collectivement dans les conditions du droits interne de chaque pays doit-elle comprendre: […] g) les droits naturels qui découlent du mariage et de la paternité et ceux qui appartiennent à la famille?“ 16 Assemblée Consultative, 1re Session, Séances de la Commission des questions juridiques et administratives, Séance du 29 Août 1949, in: TP I, S. 169. 17 Assemblée Consultative, 1re Session, 15e Séance tenue le 5 Septembre 1949, in: TP I, S. 229. Die englische Fassung lautet „private and family life“, S. 228.

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die jeweiligen Garantien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf und formulierte einen in sich geschlossenen Konventionstext: „Nul ne sera l’objet d’immixtions arbitraires dans sa vie privée, sa famille, son domicile ou sa correspondance. Toute personne a droit à la protection de la loi contre de telles immixtions.“18

Während sich die Ausgestaltung als Individualrecht im Laufe der weiteren Beratungen als beständig erweisen sollte, drohte die Garantie zwischenzeitlich ganz aus dem Text der Konvention herauszufallen. Im Sachverständigenausschuß hatte sich der insbesondere von britischer Seite geäußerte Wunsch nach einer präziseren Definition der zu garantierenden Rechte als Streitpunkt mit erheblicher Sprengkraft erwiesen. Die britischen Sachverständigen präsentierten schließlich einen eigenen Konventionsentwurf, der sich auf eine kleinere Auswahl, dafür aber eingehend definierter Garantien beschränkte und weder die bisherige noch eine vergleichbare Vorschrift zum Schutz des Privatlebens und der Familie enthielt.19 Da es bis zum Ende der Beratungen nicht gelang, den Konflikt beizulegen, erstellte der Sachverständigenausschuß einen zweigeteilten Abschlußbericht, der die Entscheidung zwischen den beiden Alternativen dem Ministerkomitee überließ.20 Auch die daraufhin einberufene Konferenz leitender Regierungsbeamter zeigte sich zunächst gespalten, obgleich sich eine Mehrheit für den britischen Vorschlag abzeichnete, falls sich das Ministerkomitee nicht zur Einrichtung eines Menschenrechtsgerichtshofs, der die allgemein gehaltenen Garantien durch seine Rechtsprechung konkretisieren könnte, durchringen würde.21 Ein Kompromiß zeichnete sich erst ab, als der türkische Delegierte Vergin vorschlug, den britischen Vorschlag aufzugreifen, aber um zwei Artikel generelleren Charakters, darunter auch die bisherige Garantie zum Schutz des Privatlebens und der Familie, zu erweitern.22 Der auf der Grundlage dieses Vorschlags erarbeitete Entwurf orientierte sich der Wortwahl nach an den bislang erarbeiteten Versionen, wies aber einige Besonderheiten auf: „Le droit de toute personne au respect de sa vie privée et familiale, son domicile ou sa correspondance est reconnu.“23

Der Begriff „Familie“ wurde durch den Begriff des „Familienlebens“ ersetzt und vollzog damit die Wandlung des Ausdrucks „Privatsphäre“ aus Art. 12 AEMR zum „Privatleben“ im Entwurf des Rechts- und Verwaltungsausschusses nach. Außerdem mutierte die bislang stets als Abwehrrecht gegen willkürliche Eingriffe formulierte Garantie zu einem „Anspruch auf Achtung“, den anzuerkennen sich die Ver18

Réunion du Comité d’experts, 1re Réunion, Séance du 7 Février 1950, in: TP III, S. 223. Réunion du Comité d’experts, 1re Réunion, Séance du 6 Mars 1950, in: TP III, S. 281 ff. 20 Réunion du Comité d’experts, 2–8 Février 1950 et 6–10 Mars 1950, Rapport au Comité des Ministres, in: TP IV, S. 3 ff. 21 Conférence de Hauts Fonctionnaires, Séance du 12 Juin 1950, in: TP IV, S. 179. 22 Conférence de Hauts Fonctionnaires, Séance du 12 Juin 1950, in: TP IV, S. 175. 23 Conférence de Hauts Fonctionnaires, 8–17 Juin 1950, Rapport de la Conférence de Hauts Fonctionnaires, in: TP IV, S. 279. 19

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tragsparteien verpflichten, ohne daß damit jedoch erkennbar eine andere Bedeutung intendiert war. Während der folgenden Beratungen wurde die Formulierung nur noch um Nuancen geändert.24 Die um eine Stellungnahme gebetene Beratende Versammlung sah keinen Änderungsbedarf.25 In seiner endgültigen vom Ministerkomitee im November 1950 angenommenen Fassung lautete Art. 8 Abs. 1 EMRK im französischen und im gleichermaßen verbindlichen englischen Wortlaut: „Toute personne a droit au respect de sa vie privée et familiale, de son domicile et de sa correspondance.“ „Everyone has the right to respect for his private and family life, his home and his correspondence.“26

3. Motive Während sich also die im Konventionsentwurf der Europäischen Bewegung niedergelegten natürlichen Rechte der Familie im Laufe des Kodifizierungsprozesses zu einem klassischen Individualrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens wandelten, wurde der von der Europäischen Bewegung hervorgehobene Funktionszusammenhang zwischen einer kollektiven Garantie der Menschenrechte einerseits und dem Aufbau und der Sicherung einer demokratischen Ordnung in allen europäischen Staaten andererseits zu einem bestimmenden Element in den Diskussionen der Beratenden Versammlung sowie des Rechts- und Verwaltungsausschusses, deren Aufgabe in der Auswahl und der Definition der durch eine Konvention zu schützenden Rechte bestand. Die Debatten in der Beratenden Versammlung waren dabei zunehmend von den politischen Gegensätzen zwischen dem sozialistischen Lager der Delegierten und der Mehrheit der Versammlung geprägt. Während erstere die Notwendigkeit betonten, auch die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten sozialen Rechte aufzunehmen, da ohne deren effektive Verwirklichung jede politische Freiheit ihres wahren Inhalts beraubt würde, bekundeten Vertreter der Versammlungsmehrheit ihre Präferenz für eine eingeschränkte, allein die klassischen Freiheitsrechte einbeziehende Auswahl.27 Besonders pointiert kommen beide Positionen in den Anträgen des Franzosen Rolin und des Briten Lord Layton am Ende der ersten Sitzungsperiode zum Ausdruck. Rolin, Vertreter des sozialistischen Flügels, beantragte, den vom Rechts- und Verwaltungsausschuß ausgearbeiteten Ent24

Comité des Ministres, 5e Session, Réunion du Sous-Comité des droits de l’home, 4 Août 1950, Projet de Convention adopté par le Sous-Comité, in: TP V, S. 81: „Toute personne a droit au respect de sa vie privée et familiale, son domicile ou sa correspondance.“ 25 Texte du projet amende par l’Assemblée avec des annotations sur les article non encore approuves par le Comité des Ministres et dont l’Assemblée demande l’adoption, in: TP VI, S. 247. 26 Texte définitif de la Convention signée à Rome le 4 novembre 1950, in: TP VII, S. 54 f. 27 Weiß, Europäische Konvention, S. 6.

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wurf einer Menschenrechtskonvention um das Recht auf Arbeit, das Recht auf Erholung und Freizeit sowie den Anspruch auf einen angemessenen Lebensstandard zu ergänzen.28 Dem gegenüber schlug Lord Layton vor, sich auf die von ihm so bezeichneten drei Kardinalprinzipien jeder Demokratie zu beschränken: das Recht auf freie Wahlen, Kritik und Opposition, das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung sowie das Recht auf Redefreiheit.29 Auch wenn die Mehrheit der Delegierten diese von Lord Layton gezogene äußerste Konsequenz eines vom Gedanken der Demokratie her entwickelten Menschenrechtskatalogs nicht nachzuvollziehen bereit war, zeichnete sich von Beginn der Beratungen an der Wille der Versammlungsmehrheit ab, sich in Anlehnung an den Entwurf der Europäischen Bewegung auf die für das Funktionieren einer Demokratie erforderlichen Freiheitsrechte im weiteren Sinne zu beschränken. Bereits Pierre-Henri Teitgen hatte diese Idee in seinem einleitenden Referat zu Beginn der ersten Sitzungsperiode der Beratenden Versammlung aufgegriffen. Natürlich sehe sich die Versammlung mit einem theoretischen Ideal konfrontiert, der Aufgabe, eine umfassende Garantie sämtlicher Freiheiten und grundlegender Rechte zu entwerfen, die sowohl die individuellen Freiheiten und Rechte, als auch die sogenannten sozialen Freiheiten und Rechte beinhalte. Statt dieses erstrebenswerten Maximalziels, so Teitgens Wunsch an die Delegierten, möge sich die Versammlung aber auf das innerhalb einer kurzen Zeit Machbare konzentrieren und die sieben, acht oder zehn für eine demokratische Ordnung grundsätzlich erforderlichen Freiheiten definieren.30 Andere Delegierte stützten diese Position im weiteren Verlauf der Debatte. So wies der Brite Foster auf die noch nicht allzu lang zurückliegenden Erfahrungen mit totalitären Diktaturen auf europäischem Boden hin, um in der Konsequenz auf die Notwendigkeit eines wirksamen Schutzes gerade der politischen Freiheitsrechte hinzuweisen.31 Auch der dem sozialistischen Lager zuzurechnende französische Delegierte Jaquet hob die besondere Bedeutung hervor, die den individuellen und politischen Freiheiten zukomme, ohne die eine Demokratie nicht existieren könne. Auch wenn sich das Europa von morgen der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichten müsse, bestünde die gegenwärtige Aufgabe im Schutz dieser individuellen und politischen Rechte.32 Diese Auffassung schlug sich schließlich auch in den während der Beratungen der Versammlung diskutierten Konventionsentwürfen nieder. Der dem Rechts- und Verwaltungsausschuß zur näheren Befassung vorgelegte Menschenrechtskatalog orientierte sich eng am Entwurf der Europäischen Bewegung und bezog sich dem entsprechend allein auf die für eine Demokratie als unerläßlich erachteten Freiheitsrechte.33 28

Assemblée Consultative, 1re Session, 18e Séance, 8 Septembre 1949, in: TP II, S. 49. Assemblée Consultative, 1re Session, 18e Séance, 8 Septembre 1949, in: TP II, S. 52. 30 Assemblée Consultative, 1re Session, 8e Séance tenue le 19 Août 1949, in: TP I, S. 45. 31 Assemblée Consultative, 1re Session, 8e Séance tenue le 19 Août 1949, in: TP I, S. 96. 32 Assemblée Consultative, 1re Session, 8e Séance tenue le 19 Août 1949, in: TP I, S. 135 ff. 33 Assemblée Consultative, 1re Session, Séances de la Commission des questions juridiques et administratives, Séance du 22 Août 1949, in: TP I, S. 161. 29

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Auch der vom Ausschuß erarbeitete Entwurf34 und der von der Beratenden Versammlung letztendlich angenommene Vorschlag35 lehnten sich an diese Auswahl an, die im Kern bis zur Annahme der Konvention durch das Ministerkomitee unverändert bleiben sollte und sich bis heute in der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederfinden läßt. Dem Leitgedanken der Demokratie scheinbar widersprechend finden sich jedoch in allen Entwürfen auch Garantien zum Schutz der Familie. Der dem Rechtsund Verwaltungsausschuß vorgelegte Katalog sprach, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, noch von den natürlichen Rechten der Familie. Der Ausschuß entwickelte daraus drei voneinander unabhängige Garantien mit Familienbezug: die Freiheit vor willkürlicher Einmischung in die Familie (Art. 4), das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen (Art. 10) sowie das Recht der Eltern, zuvörderst über die Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen (Art. 11).36 Der schließlich von der Beratenden Versammlung angenommene und dem Ministerkomitee vorgelegte Entwurf gab das Erziehungsrecht auf, behielt aber die Freiheit vor willkürlichen Einmischungen in die Familie (Art. 2 Ziff. 4) und das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen (Art. 2 Ziff. 10) als Garantien bei.37 Daß zumindest die Mitglieder des Rechts- und Verwaltungsausschusses die Einbeziehung der familienbezogenen Rechte mehrheitlich nicht als Widerspruch zur Gesamtkonzeption des Menschenrechtskatalogs erachteten, verrät der von PierreHenri Teitgen erstellte und von den Mitgliedern angenommene Abschlußbericht über die Arbeiten des Rechts- und Verwaltungsausschusses: „L’insertion, dans la liste des libertés et droits garantis, des droits ‚familiaux‘ que constituent: a) l’immunité contre toutes immixtions arbitraires dans sa famille; b) le droit de se marier et de fonder une famille; c) le droit des parents de choisir par priorité le genre d’éducation à donner à leurs enfants, a soulevé, au sein de la Commission, diverses objections tirées du fait qu’il ne s’agissait pas là de droits considérés comme essentiels au fonctionnement des institutions démocratiques, qu’il convenait donc de les exclure de la garantie pour la limiter à ces seuls droits essentiels. L’argument n’a pas prévalu, la majorité de la Commission estimant que les restrictions raciales du droit au mariage dictées par les régimes totalitaires, comme la réquisition de l’enfance et de la jeunesse organisée par ces régimes, devaient être solennellement interdites.“38 34 Assemblée Consultative, 1re Session, 15e Séance tenue le 5 Septembre 1949, Rapport présenté par M. Teitgen, in: TP I, S. 229 ff. 35 Assemblée Consultative, 1re Session, 18e Séance tenue le 8 Septembre 1949, Recommandation N° 38 adoptée par l’Assemblée, in: TP II, S. 275 ff. 36 Assemblée Consultative, 1re Session, 15e Séance tenue le 5 Septembre 1949, Rapport présenté par M. Teitgen, in: TP I, S. 229 ff. 37 Assemblée Consultative, 1re Session, 18e Séance tenue le 8 Septembre 1949, Recommandation N° 38 adoptée par l’Assemblée, in: TP II, S. 277. Das Erziehungsrecht wurde erst mit Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls verwirklicht, vgl. Texte Définitif du Protocol Additionel, in: TP VIII, S. 215. 38 Assemblée Consultative, 1re Session, 15e Séance tenue le 5 Septembre 1949, Rapport présenté par M. Teitgen, in: TP I, S. 221. Vgl. dazu bereits Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 183 (184 f).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Der Ausschuß hat also eingehend über die familienbezogenen Rechte diskutiert. Während deren Aufnahme in den Konventionsentwurf zunächst vielfacher Kritik ausgesetzt war, maßgeblich weil zwischen dem Schutz der Familie und dem Funktionieren demokratischer Institutionen kein Zusammenhang gesehen wurde, erblickte die Ausschußmehrheit darin eine notwendige Voraussetzung für einen effektiven Schutz vor totalitären Systemen. Das Recht auf Heirat wurde als bewußte Abkehr von den rassistisch motivierten Eheverboten unter der Herrschaft des Nationalsozialismus verstanden. Das elterliche Erziehungsrecht und der Schutz vor willkürlichen Eingriffen in die Familie sollten eine Auflösung familiärer Bindungen verhindern, mit der sich totalitäre Systeme des einzelnen Menschen vollständig zu ermächtigen suchten. Hier weist der Ausschuß insbesondere auf die Vereinnahmung von Kindern und Jugendlichen durch Eingliederung in systemkonforme politische Organisationen hin.

III. Folgerungen Bei aller Lückenhaftigkeit der vorhandenen Materialien lassen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, daß sich die Beratende Versammlung, ihr Rechts- und Verwaltungsausschuß oder die anderen an der Ausarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention beteiligten Gremien und Organe ausdrücklich mit der in der Rechtsprechung schon bald nach Inkrafttreten der Konvention entwickelten aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkung von Art. 8 EMRK befaßt haben. Wohl aber läßt die Entstehungsgeschichte Rückschlüsse auf die mit der Aufnahme eines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in den Grundrechtskatalog der Konvention verbundene Wertentscheidung der Verfasser zu. Dies gilt insbesondere für den Schutz des Familienlebens. Der den Beratungen im Rahmen des Europarates zugrundeliegende Entwurf der Europäischen Bewegung orientierte sich zwar formal am Menschenrechtskatalog der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, übernahm jedoch tatsächlich nur die für das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens als erforderlich erachteten Freiheitsrechte rechtsstaatlich-liberaler Prägung. Auch der in Art. 12 AEMR enthaltene Schutz vor willkürlichen Eingriffen in die Privatsphäre und die Familie wurde nur partiell und in einer die Familie als eigentliches Rechtssubjekt hervorhebenden Weise aufgenommen. Beide Umstände legen den bereits von Partsch und Wolfrum gezogenen Schluß nahe, daß der Schutz der Familie weniger dem einzelnen Familienmitglied, sondern der Familie als Gemeinschaft galt, die als notwendige Voraussetzung für einen effektiven Schutz vor totalitären Systemen und damit zugleich als Grundlage jeder demokratischen Ordnung erachtet wurde. Die weiteren Arbeiten in den Gremien und Organen des Europarates zeigen Zweierlei. Einerseits wurde das Konzept von der Rechtssubjektivität der Familie von den Verfassern der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht weiterverfolgt. Nahm noch der dem Rechts- und Verwaltungsausschuß zur weiteren Befas-

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sung vorgelegte Menschenrechtskatalog der Beratenden Versammlung die Wendung von den natürlichen Rechten der Familie auf, wandelte sich Art. 8 EMRK im Laufe der weiteren Beratungen zu einem klassischen Individualrecht. Andererseits ist auch die von den Verfassern der Europäischen Menschenrechtskonvention getroffene Auswahl der zu schützenden Rechte vom Gedanken der Demokratie her entwickelt worden. Daß das Recht auf Achtung des Familienlebens dabei Eingang in den Menschenrechtskatalog fand, beruht auf einer bewußten Entscheidung des Rechts- und Verwaltungsausschusses, dessen Mehrheit in der Familie als Gemeinschaft eine notwenige Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Ordnung erblickte. Die Ausgestaltung als Individualrecht erweist sich damit nicht als Abkehr von der bereits im Rahmen der Europäischen Bewegung entwickelten Wertentscheidung. Gilt der Schutz des Familienlebens demnach in erster Linie der Familie als Gemeinschaft, so kann zunächst keine Deutung Bestand haben, die in Art. 8 EMRK allein den Schutz der Privatsphäre verwirklicht sieht, die durch die weiteren Schutzgüter (Familie, Wohnung, Korrespondenz) lediglich näher konkretisiert wird.39 Ein solches Verständnis, das sich schon über den Wortlaut der Bestimmung hinwegsetzt, die das Privat- und Familienleben nebeneinander stellt,40 mag allenfalls für die Art. 8 EMRK auf internationaler Ebene entsprechenden Vorschriften von Art. 12 AEMR und Art. 17 IPbürgR vertretbar sein.41 Diese Garantien lassen sich entstehungsgeschichtlich auf verschiedene Entwürfe zurückverfolgen, die sich vor allem durch eine Aneinanderreihung verschiedenster Schutzgüter auszeichneten, deren gemeinsamer Nenner, wenn überhaupt, dann in einem im weiteren Sinne verstandenen Recht auf Privatsphäre gesehen werden konnte.42 Daß sich Art. 8 EMRK sprachlich an Art. 12 AEMR anlehnt, erscheint allein der generellen Praxis des Rechts- und Verwaltungsausschusses geschuldet, die einzelnen Konventionsrechte auf ihr jeweiliges Pendant in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu beziehen, um die Verbundenheit mit dem Menschenrechtsregime der Vereinten 39 Daß die für die Travaux Préparatoires erstellte englische Übersetzung zwischenzeitlich von einem „right to privacy in respect of family, home and correspondence“ spricht, was eine erhebliche Bedeutungsverschiebung beinhaltet, beruht auf einem Übersetzungsfehler. Dies zeigt ein Vergleich mit der französischen Originalfassung, vgl. Conférence de Hauts Fonctionnaires, Séance du 15 Juin 1950, in: TP IV, S. 222 und 223. Zur Konferenzsprache vgl. Robertson, in: TP I, Introduction, S. XXXI. 40 So bereits Wolfrum, Die Friedenswarte 1975, 264 (267). 41 In diesem Sinne etwa Rehof, in: Alfredsson / Eide, Universal Declaration, S. 251. 42 Vgl. den maßgeblichen Entwurf der amerikanischen Delegation zu Art. 12 AEMR (E / CN.4/AC.1/11), zitiert nach: Morsink, Universal Declaration, S. 135: „No one shall be subjected to arbitrary or unauthorized searches of his person, home, papers and effects, or to unreasonable interference with his person, home, family, relations with others, reputation, privacy, activities, and property. The secrecy of correspondence shall be respected.“ Vgl. auch die Debatte in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu Art. 17 IPbürgR, in der die Streichung des Begriffs „family“ vorgeschlagen wurde, da die Begriffe „home“ und „privacy“ das Schutzgut bereits umfassen würden, United Nations, General Assembly, 3rd Committee, 15th Session (1960), in: Bossuyt, Travaux Préparatoires, S. 343.

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Nationen zum Ausdruck zu bringen. Die hinter dem Schutzgut des Familienlebens stehende Wertentscheidung entspringt jedoch einem originär europäischen Kontext. Zugleich folgt daraus, daß das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK auch das Recht beinhaltet, die Familie als Einheit vor staatlichen Eingriffen zu bewahren. So läßt sich möglicherweise auch die sprachliche Veränderung vom Begriff der „Familie“ hin zum Begriff des „Familienlebens“ deuten. Diese mag nicht nur der sprachlichen Angleichung an den Begriff des „Privatlebens“ geschuldet sein, sondern gerade der Betonung der Familieneinheit dienen. Ein Familienleben setzt physisch die Einheit der Familie voraus.43 Was das Recht auf Achtung des Privatlebens anbetrifft, erweisen sich die Materialien als weitgehend unergiebig. Im Entwurf der Europäischen Bewegung war eine vergleichbare Garantie nicht enthalten. Sie fand vielmehr erst mit dem an Art. 12 AEMR orientierten, dem Rechts- und Verwaltungsausschuß der Beratenden Versammlung vorgelegten Arbeitsentwurf Eingang in den Konventionstext. Bemerkenswert ist allein, daß der in Art. 12 AEMR verwendete Begriff der „Privatsphäre“ nicht übernommen wurde, ohne daß insoweit ein Grund für die Abweichung erkennbar ist. Gegenüber dem Begriff der Privatsphäre weist der Begriff des Privatlebens jedoch deutlicher in Richtung eines über den innersten Bereich der menschlichen Persönlichkeit hinausreichenden Schutzbereichs, der auch die Beziehungen einer Person zu seiner Umwelt, insbesondere zu anderen Menschen erfassen kann. Schließlich ist festzuhalten, daß die Art. 8 EMRK gelegentlich zugeschriebene Interpretationsoffenheit44 den Verfassern der Konvention durchaus bewußt war. Mehr noch legen die Beratungen den Schluß nahe, daß Art. 8 EMRK nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Interpretationsoffenheit in die endgültige Fassung übernommen wurde. Zwar mag der Gegenentwurf der britischen Sachverständigen, der sich auf eine kleinere Auswahl eingehend definierter Garantien beschränkte und eine Art. 8 EMRK vergleichbare Vorschrift konsequenterweise nicht enthielt, vor dem Hintergrund gedeutet werden, daß dem Vereinigten Königreich daran gelegen war, die „Einwirkungsmöglichkeiten“ eines europäischen Gerichtshofs von vornherein auf ein überschaubares Maß zu begrenzen.45 Die auf der Konferenz der leitenden Regierungsbeamten vorgenommenen Probeabstimmungen zeigen aber, daß die Delegierten mehrheitlich dem britischen Entwurf gerade für den Fall zuneigten, daß sich das Ministerkomitee nicht für die Einrichtung eines Gerichtshof entscheiden würde, von dessen Rechtsprechung eine Konkretisierung der im wesentlichen nur den Grundsatz betonenden Rechte des Versammlungsent43

Vgl. auch Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 197, der den Begriff des Familienlebens vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte kumulativ mit „family togetherness“ und „family autonomy“ umschreibt. Scheuner, in: Menschenrechte, S. 223, sieht in Art. 8 EMRK einen objektiven Grundsatz zum Schutz der Familieneinheit verwirklicht. 44 Vgl. Cohen-Jonathan, in: Macdonald / Matscher / Petzold, Protection of Human Rights, S. 405 f.; Feldman, EHRLR 1997, 265 (265 f.); Ovey / White, European Convention, S. 241; Warbrick, EHRLR 1998, 32 (33); Wildhaber, Wechselspiel, S. 389. 45 So Weiß, Europäische Konvention, S. 11.

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wurfs erwartet wurde. Daß Art. 8 EMRK schließlich wieder in den Konventionstext aufgenommen wurde, ist maßgeblich dem türkischen Delegierten Vergin zu verdanken, der die Ergänzung des britischen Entwurfs um zwei generellere Rechte anregte. Auch wenn damit die Existenz von Art. 8 EMRK aus dem Zwang zum Kompromiß entstanden ist, bleibt sie doch eine bewußte Entscheidung zugunsten einer Bestimmung, deren Entwicklungspotential offenkundig war, ja deren Fortbildung durch die Rechtsprechung als notwendig erachtet wurde.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährt jedermann ein Recht auf Achtung seines Privatund Familienlebens, ohne jedoch die geschützten Rechtsgüter selbst zu definieren. Sie sind im Grundsatz autonom, also als Begriffe einer eigenständigen Konventionsrechtsordnung auszulegen.1 Kommission und Gerichtshof haben in jahrzehntelanger Rechtsprechungstätigkeit das ihre getan, um sie durch eine umfangreiche Kasuistik zu konkretisieren.

I. Der Begriff des Familienlebens Der Bedeutung im aufenthaltsrechtlichen Kontext entsprechend soll zunächst das Schutzgut des Familienlebens eingehender beleuchtet werden. Im Kern lassen sich hier drei Personenkonstellationen voneinander unterscheiden, was auch die Gliederung der folgenden Ausführungen vorgibt. Diese gehen zunächst auf die eheliche und nichteheliche Beziehung zwischen Lebenspartnern ein, befassen sich dann mit dem Verhältnis von Eltern und Kindern und nehmen schließlich die über die Kernfamilie hinausreichenden Beziehungen zwischen Verwandten in den Blick.

1. Die Beziehung zwischen Lebenspartnern a) Die Ehe Die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau kann als ein eindeutiger Fall des Familienlebens bezeichnet werden.2 Die wesentlichen Grundzüge der Rechtsprechung lassen sich der bis heute maßgeblichen Leitentscheidung in der Rechtssa1 Vgl. zum Grundsatz der autonomen Auslegung ausführlich Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 9 ff.; Matscher, in: Schwind, Fragen zum Europarecht, S. 109 ff; Ost, in: Delmas-Marty, European Convention, S. 305. 2 Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 54 f.; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 26; Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (49); ders., in: GS-Ryssdal, S. 281 (284 f.);

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

che Abdulaziz, Cabales und Balkandali entnehmen. Der Fall betraf drei mit einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung im Vereinigten Königreich lebende Ausländerinnen. Vor dem Gerichtshof beanstandeten sie die Weigerung der britischen Einwanderungsbehörden, ihren jeweiligen Ehemännern eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Zwei der Ehemänner, ein Portugiese und ein Türke, waren mit einem befristeten Besuchsvisum eingereist, hatten die Beschwerdeführerinnen Abdulaziz und Balkandali geheiratet und unmittelbar danach eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Die dritte Beschwerdeführerin, Frau Cabales, hatte ihren philippinischen Ehemann in Manila in einer von den britischen Einwanderungsbehörden nicht anerkannten und auch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nach philippinischem Recht angezweifelten Hochzeitszeremonie geehelicht. Erst Jahre später, nach der Ablehnung seines Antrags auf Familienzusammenführung, reiste Herr Cabales mit einem nun erteilten Visum nach, um die Eheschließung nach britischem Recht zu wiederholen. In seinem Urteil stellte der Gerichtshof zunächst fest, daß unter den Familienbegriff des Art. 8 Abs. 1 EMRK zumindest eine rechtmäßige und echte Ehe („a lawful and genuine marriage“) fällt.3 Zur Annahme eines Familienlebens war darüber hinaus erforderlich, daß die Ehepartner auch tatsächlich eine eheliche Lebensgemeinschaft führten. Die Anforderungen haben sich hier im einzelnen gewandelt. Im konkreten Fall verlangte der Gerichtshof noch für den Regelfall ein Zusammenleben der Ehepartner in häuslicher Gemeinschaft.4 Heute können eine Reihe von Faktoren, etwa die Dauer der Beziehung oder gemeinsame Kinder, ausschlaggebend sein, ohne daß es zwingend auf eine häusliche Gemeinschaft ankommt: „The existence or non-existence of ‚family life‘ is essentially a question of fact depending upon the reality in practice of close personal ties […].When deciding whether a relationship can be said to amount to ‚family life‘, a number of factors may be relevant, including whether the couple live together, the length of their relationship and whether they have demonstrated their commitment to each other by having children together or by any other means […].“5

In der Mehrzahl der Fälle genügt der Rechtsprechung jedoch der Rechtsakt der Eheschließung als solcher, um ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen auch ein Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 15; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 16; Grant, Protection, S. 270; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 349; Ovey / White, European Convention, S. 247; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 196; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (429). 3 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). Dies stimmt mit der Rechtsprechung der Kommission überein, die in einer Ehe zwischen Mann und Frau stets selbstverständlich eine Familie sah; vgl. exemplarisch EKMR, Entsch. vom 03.10.1978, X. und Y. ./. Schweiz, DR 13, 241 (244): „The applicants are married and have thus already founded a family.“ 4 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62): „Furthermore, the expression ‚family life‘, in the case of a married couple, normally comprises cohabitation.“ 5 EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 112).

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Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK anzunehmen.6 Dieser Umstand legt nahe, daß die Rechtsprechung im Fall einer rechtmäßigen und echten Ehe die Existenz einer ehelichen Lebensgemeinschaft regelmäßig vermutet, solange nicht außergewöhnliche Umstände eine solche Schlußfolgerung zweifelhaft erscheinen lassen.7 Der Fall Abdulaziz, Cabales und Balkandali zeigt außerdem, daß Art. 8 EMRK eine gewisse Vorwirkung entfaltet, wenn zwar die Ehe geschlossen, aber das Familienleben noch nicht vollständig begründet ist. Die britische Regierung hatte vor dem Gerichtshof vorgetragen, daß Art. 8 EMRK ein bestehendes Familienleben voraussetze. Alle Beschwerdeführerinnen hätten jedoch zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung noch nicht mit ihren Ehemännern zusammengelebt.8 Dem entgegnete der Gerichtshof wie folgt: „The Court recalls that, by guaranteeing the right to respect for family life, Article 8 (art. 8) ‚presupposes the existence of a family‘ […]. However, this does not mean that all intended family life falls entirely outside its ambit. Whatever else the word ‚family‘ may mean, it must at any rate include the relationship that arises from a lawful and genuine marriage […] even if a family life of the kind referred to by the Government has not yet been fully established.“9

Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen soll nach Auffassung des Gerichtshofs auch ein beabsichtigtes Familienleben in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK fallen.10 Daß die Beschwerdeführerinnen noch 6 Vgl. EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, Slg. 2001-IX, 119 ff. (Ziff. 40): „In the present case, the applicant, an Algerian citizen, is married to a Swiss citizen. Thus, the refusal to renew the applicant’s residence permit in Switzerland interfered with the applicant’s right to respect for his family life“. Zu weiteren Beispielen vgl. etwa EKMR, Entsch. vom 31.08.1994, P. und P. ./. Schweiz, Nr. 24377/94; Entsch. vom 18.10.1994, A. ./. Schweiz, Nr. 25036/94; Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; Entsch. vom 21.10.1997, Gelaw ./. Schweden, Nr. 34025/96; EGMR, Entsch. vom 09.11.1999, Schober ./. Österreich, Nr. 34891/97; Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 37). 7 In diesem Sinne etwa auch Anderfuhren-Wayne, IJRL 8 (1996), 347 (356 f.); Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (236); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 27; Grant, Protection, S. 269. Sowohl im Fall Abdulaziz, Cabales und Balkandali, als auch im Fall Al-Nashif war das Bestehen eines Familienlebens streitig. 8 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 61). 9 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). 10 Vgl. zur inzwischen st. Rspr. EKMR, Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14068/88; Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 (267 f.); Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14742/89; Entsch, 19.02.1992, G. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17531/90; Entsch. vom 19.02.1992, B. und A. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19186/91; Entsch. vom 01.04.1992, C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18713/91; Entsch. vom 13.05.1992, B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19476/92; Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92; Entsch. vom 06.07.1992, S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/92; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 21.05.1997, O. H. S. und G. R. ./. Finnland, Nr. 32530/95; EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Pejcinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

nicht mit ihren Ehemännern zusammenlebten, erwies sich somit als unschädlich. Lediglich am Rande ist hier darauf hinzuweisen, daß der Streit um die Einbeziehung des noch nicht vollständig etablierten Familienlebens hinsichtlich der Beschwerdeführerinnen Abdulaziz und Balkandali im Kern die Frage des relevanten Rechtmäßigkeitszeitpunkts betraf. Während die Regierung die Existenz eines Familienlebens zum Zeitpunkt der Antragstellung bestritt, stellte der Gerichtshof fest, daß die Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt der endgültigen Ablehnung der Anträge mit ihren Ehemännern zusammenlebten und deshalb ein Familienleben vorliege.11 Zum anderen wird aus der Formulierung des Gerichtshofs deutlich, daß Art. 8 EMRK zwar nicht ein vollständiges Familienleben, wohl aber die Existenz einer Familie als solche voraussetzt. Systematisch folgt dies schon daraus, daß das Recht auf Eheschließung und Familiengründung in Art. 12 EMRK geregelt ist. In der Konsequenz kann aus Art. 8 EMRK auch kein Anspruch auf Einreise zum Zweck der Eheschließung abgeleitet werden.12 Die Rechtmäßigkeit einer Ehe beurteilt sich nicht ausschließlich nach dem Recht der Konventionsstaaten. Entscheidend ist, daß die Ehe nach dem jeweils geltenden Ortsrecht rechtmäßig zustande gekommen ist. So ließ der Gerichtshof hinsichtlich der Beschwerde von Frau Cabales auch die auf den Philippinen vollzogene und vom Vereinigten Königreich nicht anerkannte Hochzeitszeremonie genügen.13 Auch bezüglich des gegen die Rechtmäßigkeit der Ehe nach philippinischem Recht gerichteten Einwands der britischen Regierung verfuhr der Gerichtshof großzügig. Er erachtete es insoweit als ausreichend, daß die Ehepartner von der Wirksamkeit der Ehe ausgegangen waren und tatsächlich ein Familienleben führen wollten.14 Sofern daraus jedoch gefolgert wird, daß jede im Herkunftsland geschlossene religiöse, traditionelle oder zivile Ehe ausreichend sei, ist dies nur insofern zutreffend, als daß auch religiöse und traditionelle Ehen in dem Land, in dem sie vollzogen werden, im Grundsatz staatlich anerkannt sein müssen.15 Dies zeigt der Fall Hopic und Hopic-Destanova in dem eine nach einem Zigeuner-Ritus geschlossene Ehe mangels rechtlicher Anerkennung im Staat der Eheschlie-

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EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). Zur Frage des Rechtmäßigkeitszeitpunkts vgl. ausführlich unten unter G. 12 Vgl. EGMR, Entsch. vom 11.07.2006, Savoia und Bounegru ./. Italien, Nr. 8407/05; Entsch. vom 11.07.2006, Walter ./. Italien, Nr. 18059/06 wonach dies jedenfalls solange auch für Art. 12 EMRK gelten soll, wie die Betroffenen im Ausland heiraten können. 13 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 63). 14 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 3): „The Court does not consider that it has to resolve the difference of opinion that has arisen concerning the effect of Philippine law. Mr. and Mrs. Cabales had gone through a ceremony of marriage […] and the evidence before the Court confirms that they believed themselves to be married and that they genuinely wished to cohabit and lead a normal family life. And indeed they subsequently did so.“ 15 Vgl. Caroni, Privat- und Familienleben, S. 174; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (429).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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ßung nicht als Ehe gewertet wurde.16 Ob die Betroffenen eine vermeindlich im Ausland erfolgte Eheschließung hinreichend unter Beweis gestellt haben, unterliegt im Grundsatz der Beurteilung durch die nationalen Behörden. Der Gerichtshof billigt ihnen insoweit einen Beurteilungsspielraum zu und reduziert seine eigene Kontrolle im wesentlichen auf die Nachvollziehbarkeit der von den nationalen Behörden getroffenen Entscheidung.17 Das Familienleben endet spätestens mit der Scheidung.18 Diese löst die mit der Eheschließung gegründete Familie zwischen Mann und Frau auf und entzieht einem Familienleben die personale Grundlage. Da die Rechtsprechung aber auf tatsächlich bestehende enge, persönliche Bande abstellt, kann das Familienleben auch schon vor der endgültigen Scheidung der Ehe enden, wenn die Ehepartner keine eheliche Lebensgemeinschaft mehr führen.19 Eine bloß vorübergehende Trennung der Ehepartner ist jedoch unbeachtlich.20

b) Die Scheinehe Neben der Rechtmäßigkeit der Ehe kann auch deren Echtheit in Frage stehen. Gerade in Fällen mit aufenthaltsrechtlichem Bezug mußte sich die Rechtsprechung mit dem Problem der sogenannten Scheinehe auseinandersetzen. Für den Zweck dieser Arbeit sollen mit dem Begriff der Scheinehe die Fälle bezeichnet werden, in denen zwar formal ein Ehe geschlossen wird, die Ehepartner aber nicht den gemeinsamen Willen haben, eine eheliche Lebensgemeinschaft zu führen. Eine derartige Scheinehe wird durch Art. 8 EMRK nicht geschützt. Das ergibt sich bereits aus den oben genannten Grundsätzen der Rechtsprechung, nach de16

EKMR, Entsch. vom 04.07.1990, Hopic und Hopic-Destanova ./. Niederlande, Nr. 13158/

87. 17 Vgl. EGMR, Entsch. vom 08.07.2003, Afonso und Antonio ./. Niederlande, Nr. 11005/03: „The Court notes in the first place that the existence of a legally valid marriage between the first applicant and Mr Castelo has not been shown, as required by the domestic immigration rules in respect of requests for a residence permit on grounds of marriage, and there is no indication that the applicants have taken any initiatives to obtain the required official authenticated documents.“; Entsch. vom 29.11.2007, Taher ./. Schweden, Nr. 25709/05: „The Court considers that, in the context of family reunification, it rests with the persons alleging that there is a family relationship to provide reliable evidence thereof and to demonstrate that that relationship constitutes ‚family life‘ within the meaning of Article 8 of the Convention. […] Having regard to the above, the Court considers that the Swedish authorities had good reasons to conclude that the alleged family ties had not been proven. Moreover, against this background, the applicant’s submissions to the Court do not provide sufficient substantiation for the allegation that Ms Abdulqadir and the six children are his wife and children.“ 18 EKMR, Entsch. vom 29.05.1998, Karara ./. Finnland, Nr. 40900/98; EGMR, Entsch. vom 26.03.2002, Mir ./. Schweiz, Nr. 51268/99. 19 Vgl. EKMR, Entsch. vom 26.06.1996, J. O. ./. Österreich, Nr. 30079/96; Entsch. vom 17.01.1997, Dabhi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28627/95; Grant, Protection, S. 271. 20 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 48).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

nen eine nur rechtlich bestehende, aber tatsächlich nicht gelebte eheliche Gemeinschaft kein Familienleben darstellt.21 Gleichwohl läßt sich in der Rechtsprechung eine tendenziell zurückhaltende Vorgehensweise in den Fällen einer durch einen Konventionsstaat behaupteten Scheinehe konstatieren.22 Die Rechtssache Odedra verdeutlicht zunächst einen beweisrechtlichen Aspekt des Problems. Die Kommissionsentscheidung betraf einen indischen Staatsangehörigen, der in das Vereinigte Königreich eingereist war und zunächst erfolglos eine Einreiseerlaubnis beantragt hatte. Dank der Fürsprache eines Parlamentsabgeordneten erhielt er jedoch bis zur abschließenden Klärung seines Falls eine auf drei Monate befristete Aufenthaltsgenehmigung. Während dieser Zeit heiratete er eine britische Staatsangehörige, kehrte nach Indien zurück und stellte von dort aus im Wege des Ehegattennachzugs einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung, den die britischen Einwanderungsbehörden wegen des Verdachts einer Scheinehe ablehnten. In ihrer Entscheidung merkte die Kommission an, daß die britischen Einwanderungsbehörden weder die Rechtmäßigkeit der Eheschließung noch die Absicht, ein dauerhaftes Familienleben zu führen, bestritten hätten und deshalb ein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK vorliege: „The Commission notes in the present case that although the applicant and her husband only lived together for a few weeks in the United Kingdom the British immigration authorities have never contested that a valid marriage had been contracted between them and that they intended to live together permanently if the husband were allowed to settle in the United Kingdom. In these circumstances the Commission finds that the applicant’s marriage falls within the scope of the family life provision of Article 8 […].“23

Solange also die Wirksamkeit der Eheschließung als solche nicht in Frage steht, kann zumindest das Vorliegen einer familiären Beziehung zwischen den Ehepartnern nicht bestritten werden. Da darüber hinaus bereits die Absicht, eine eheliche Lebensgemeinschaft führen zu wollen, für die Annahme eines Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK genügt, dürfte in den Fällen des Familiennachzugs, wo typischerweise eine eheliche Lebensgemeinschaft noch nicht vollständig begründet sein kann, der Nachweis einer Scheinehe nur in den seltensten Fällen gelingen, müßte doch das Nichtvorhandensein einer Absicht nachgewiesen werden.

21 Vgl. auch Caroni, Privat- und Familienleben, S. 27 (Fn. 92); Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 349; Villinger, in: FS-Wiarda, S. 657 (658); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (430). 22 Vgl. etwa EKMR, Entsch. vom 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/ 86; Entsch. vom 06.01.1993, A. K. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20100/92; Entsch. vom 30.06.1993, Mahfaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20598/92. Hier ging die Kommission überhaupt nicht auf den von der Regierung vorgebrachten Einwand der Scheinehe ein. 23 EKMR, Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigte Königreich, Nr. 14742/89; in diesem Sinne auch EKMR, Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14068/ 88; Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 ff.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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Die Rechtsprechung hat jedenfalls bislang erst in einem einzigen Nachzugsfall die Existenz von Familienleben wegen einer Scheinehe verneint. Die Besonderheit des Falles lag allerdings darin, daß sich der Beschwerdeführer bereits seit etwa zwei Jahren im Konventionsstaat aufgehalten, aber während dieser Zeit nachweislich nicht mit seiner Ehefrau zusammengelebt hatte.24 Indes blieb das Motiv der Eheschließung auch in den übrigen Fällen nicht unberücksichtigt. Neben anderen Faktoren, insbesondere fehlenden Hindernissen für ein gemeinsames Leben des Ehepaars im Herkunftsland des Ausländers, ließ die Kommission den Einwand der Konventionsstaaten, die Eheschließung sei maßgeblich aus aufenthaltsrechtlichen Gründen erfolgt, in die weitere Abwägung einfließen. Regelmäßig wurde so trotz Annahme eines Familienlebens eine Verletzung von Art. 8 EMRK im Ergebnis verneint.25 Bei der Bewertung der Motive stützte sich die Kommission regelmäßig auf die Einschätzung der nationalen Behörden und Gerichte.26 Den Konventionsstaaten wurde damit ein weitgehender Beurteilungsspielraum zugestanden, der seine Grenzen allenfalls in einer Will-

24 Vgl. EKMR, Entsch. 16.01.1996, Yavuz ./. Österreich, Nr. 25050/94. In allen übrigen Nachzugsfällen nahm die Rechtsprechung ein Familienleben an, vgl. EKMR, Entsch. vom 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/86; Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14068/88; Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 ff.; Entsch. vom 19.02.1992, Babul ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17504/90; Entsch. vom 19.02.1992, G. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17531/90; Entsch. vom 19.02.1992, B. und A. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19186/91; Entsch. vom 01.04.1992, C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18713/91; Entsch. vom 13.05.1992, B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19476/92; Entsch. vom 06.07.1992, S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/92; Entsch. vom 12.10.1992, P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20118/92; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 21.05.1997, O. H. S. und G. R. ./. Finnland, Nr. 32530/95. 25 Vgl. EKMR, Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14068/88; Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 ff.; Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigte Königreich, Nr. 14742/89; Entsch. vom 19.02.1992, Babul ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17504/90; Entsch. vom 19.02.1992, G. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17531/90; Entsch. vom 19.02.1992, B. und A. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19186/91; Entsch. vom 01.04.1992, C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18713/91; Entsch. vom 13.05.1992, B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19476/92; Entsch. vom 06.07.1992, S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/92; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 21.05.1997, O. H. S. und G. R. ./. Finnland, Nr. 32530/95. 26 Vgl. beispielhaft EKMR, Entsch. vom 06.07.1992, S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/ 92: „The Commission has had regard to the findings of fact by the Adjudicator and her conclusion that, in light of the interviews with S. the primary purpose of the marriage was to effect the husband’s entry into the United Kingdom for economic purposes. In these circumstances the Commission concludes that the decision to refuse entry to the applicant’s husband has not failed to respect the applicant’s right to respect for family life.“; EKMR, Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14742/89: „The Commission notes that the British immigration authorities had reasonable grounds to consider that the husband had not shown that originally the main purpose of his marriage to the applicant, a British citizen, was not to immigrate to the United Kingdom.“

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

kürprüfung seitens der Kommission fand.27 Überzeugen kann dieses Vorgehen der Kommission nicht. Solange nicht der Nachweis erbracht ist, daß die Ehepartner tatsächlich keine eheliche Lebensgemeinschaft führen oder führen wollen, können die der Erschließung zugrundeliegenden Motive richtigerweise im Rahmen von Art. 8 EMRK keine weitere Berücksichtigung finden. Aus welchen Gründen Ehepartner eine eheliche Lebensgemeinschaft führen, ist eine rein persönliche Entscheidung, die sich angesichts des mit Art. 8 EMRK begründeten Achtungsanspruchs zugunsten des Familienlebens einer staatlichen Bewertung entziehen muß. Es ist daher zweifelhaft, ob sich der Gerichtshof der Kommissionsrechtsprechung insoweit anschließen wird.

c) Die Mehrehe Ein besonderes Problem bei der Einbeziehung einer Ehe in den Schutzbereich des Familienlebens stellt sich dort, wo die Ehe nicht dem traditionellen europäischen Ehebild entspricht. Dies ist in der Praxis insbesondere bei der in anderen Kulturen üblichen Mehrehe der Fall. Art. 12 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten anerkanntermaßen nicht, Eheschließungen mit mehreren Partnern zuzulassen.28 Gleichwohl kann sich für die Konventionsstaaten die Frage nach einer Anerkennung derartiger Verbindungen im Rahmen von Art. 8 EMRK stellen, wenn die Ehe im Ausland rechtmäßig geschlossen wurde. Während im Schrifttum offenbar verbreitet von einer Einbeziehung der Mehrehe in den Schutzbereich des Familienlebens ausgegangen wird,29 zeigt eine Untersuchung der Rechtsprechung, daß Kommission und Gerichtshof eine Mehrehe bislang nicht ausdrücklich als Familie im Sinne von Art. 8 EMRK anerkannt haben. In der Sache Khan, in der sich diese Frage tatsächlich gestellt hätte, wurde die Beschwerde aus formalen Gründen nicht zur Entscheidung angenommen.30 In der Sache Balbastro, wo bereits das Vorliegen 27 Vgl. EKMR, Entsch. 16.01.1996, Yavuz ./. Österreich, Nr. 25050/94: „The Commission has had regard to the findings of fact by the District Administrative Authority, as confirmed by the Public Security Authority, and its conclusion that, in light of these facts, the primary purpose of the marriage was to receive a working permit and a residence permit. The Commission finds that the decisions of the District Administrative Authority and the Administrative Court do not exhibit any arbitrariness.“ 28 EKMR, Entsch. vom 02.02.1970, X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 35, 102 (108); Entsch. vom 13.12.1979, Hamer ./. Vereinigtes Königreich, DR 24, 5 (14); EGMR, Urt. vom 18.12.1986, Johnston u. a. ./. Irland, Serie A 112 (Ziff. 52); Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (358); Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (56 f.); ders., in: GS-Ryssdal, S. 281 (292); Frowein, in ders./Peukert, EMRK, Art. 12 Rn. 2; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 64; Macho, Schutz des Familienlebens, S. 27. 29 So Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (358); Heringa / Zwaak, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 690; Macho, Schutz des Familienlebens, S. 26; Opsahl, in: Robertson, Privacy and Human Rights, S. 182 (213); Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 200 f.; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (429). 30 EKMR, Entsch. vom 29.11.1995, Khan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23860/94.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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einer Mehrehe zwischen den Parteien streitig war, ließ die Kommission das Vorliegen eines Familienlebens ausdrücklich offen.31 Die übrigen Entscheidungen zur Mehrehe betrafen nicht das Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern die Beziehung zu ihren leiblichen Kindern.32 Hier bestand bereits aufgrund der biologischen Abstammung eine Familie. Dies gilt auch für den oft zitierten Fall Bibi. Dieser betraf zwar den Nachzug einer sogenannten Zweitfrau, Beschwerdeführerin war jedoch nicht deren Ehemann, sondern die gemeinsame Tochter, so daß erneut ein Fall biologischer Abstammung vorlag.33 Zunächst kann also nur festgehalten werden, daß eine durch biologische Abstammung zwischen Eltern und Kind begründete Familie von der Mehrehe der Eltern unberührt bleibt.34 Aber auch dies bedeutet nicht, daß den Konventionsstaaten aus Art. 8 EMRK stets eine Verpflichtung erwächst, den Nachzug aller Kinder oder aller Ehefrauen zu erlauben. Entsprechend restriktive Regelungen, die etwa die Nachzugsmöglichkeit auf eine Ehefrau und deren Kinder beschränken, können nicht nur durch das wirtschaftliche Wohl des Landes,35 sondern auch zum Schutz der Moral und der Rechte und Freiheiten anderer gerechtfertigt sein: „The Commission is of the view that the family life circumstances in the present case do not outweigh the legitimate considerations of an immigration policy which rejects polygamy and is designed to maintain the United Kingdom’s cultural identity in this respect. It finds, therefore, that the interference with the applicant’s right to respect for family life was in accordance with the law and justified as being necessary in a democratic society for the protection of morals and the rights and freedoms of others.“36

Auch eine gemäß Art. 14 EMRK unzulässige Diskriminierung konnte die Rechtsprechung in einer den Nachzug auf eine Ehefrau und deren Kinder beschränkenden Regelung nicht erkennen. Die Ungleichbehandlung der Kinder aus einer zweiten Ehe wurde wegen der Ablehnung polygamer Familienstrukturen durch das nationale Recht als gerechtfertigt betrachtet.37 Die Versagung des Familiennach31

EKMR, Entsch. vom 29.06.1994, Balbastro ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23974/94. Vgl. EKMR, Entsch. 15.07.1967, Alam und Khan ./. Vereinigtes Königreich, CD 24, 116 ff.; Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86; Entsch. vom 06.01.1992, E. A. und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89; Entsch. vom 18.05.1995, Lamrabti ./. Niederlande, Nr. 24968/94; Entsch. vom 16.10.1995, Askar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26273/95. 33 Vgl. EKMR, Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 34 Vgl. ausdrücklich EKMR, Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/ 86: „This does not mean, however, that there is no right to respect for the family life of a father and his children born by different wives in a polygamous marriage.“ 35 Vgl. EKMR, Entsch. vom 06.01.1992, E. A. und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89 (Regulierung des Zugangs zum niederländischen Arbeitsmarkt). 36 EKMR, Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 37 Kritisch noch EKMR, Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86; vgl. aber EKMR, Entsch. vom 06.01.1992, E. A. und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89: „In respect of the present case, the Commission has already noted that the policy in question pursued a legitimate aim. […] In these circumstances, the Commission finds that the difference of treatment has an objective and reasonable justification.“ 32

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

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zugs für eine Zweitfrau sei bereits keine dem Konventionsstaat zurechenbare Diskriminierung, da sie in erster Linie Folge der polygamen Lebensführung des Ehemannes sei.38 Ob sich diese Grundsätze, also eine Einbeziehung in den Schutzbereich einerseits, aber eine Rechtfertigungsmöglichkeit für beschränkende Regelungen andererseits, auch auf die Mehrehe selbst übertragen lassen, ist zweifelhaft.39 So betonte die Kommission, daß die Konventionsstaaten nicht verpflichtet seien, Ehen, die dem nationalen ordre public widersprechen, volle Anerkennung zu gewähren: „When considering immigration on the basis of family ties, a Contracting State cannot be required under the Convention to give full recognition to polygamous marriages which are in conflict with their own ordre public.“40

Gänzlich eindeutig ist diese Aussage freilich nicht. So muß sie sich nicht zwingend auf den Ausschluß der Mehrehe vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK beziehen, sondern kann bereits eine Rechtfertigungsmöglichkeit für entsprechende Nachzugsbeschränkungen zum Schutz der christlich-abendländischen Kultur ins Auge fassen. Der Gerichtshof hat sich bislang – soweit ersichtlich – nicht zu den aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen von Art. 8 EMRK für die Mehrehe geäußert. Es bleibt daher abzuwarten, ob er der durch die Kommission zumindest bruchstückhaft vorgezeichneten Rechtsprechungslinie folgen wird.

d) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft Auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft kann eine Familie im Sinne von Art. 8 EMRK darstellen.41 Dies war bereits in der Rechtsprechung der Kommis38

EKMR, Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92: „The relevant domestic immigration law permits, in principle, a British citizen or an alien settled in the United Kingdom, to be joined by his or her foreign spouse. The entitlement is granted to just the one spouse for the duration of the marriage. The discrimination of which the applicant complains flows essentially from the practice of polygamy by the applicant’s father for which the respondent Government is not answerable under the Convention.“ 39 In diesem Sinne aber Caroni, Privat- und Familienleben, S. 174. 40 EKMR, Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86; so auch EKMR, Entsch. vom 06.01.1992, E. A. und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89. 41 Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (358); Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (235); Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (112); Brötel, Schutz des Familienlebens, S. 67; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 27; Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (50); ders., in: GS-Ryssdal, S. 281 (285); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 16; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 385; Mock, ZSR 112 (1993 I), 95 (99); ders., RUDH 1998, 237 (241); Ovey / White, European Convention, S. 247; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 198 f.; Pernthaler / Rath-Kathrein, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grund- und Menschenrechte, S. 245 (265); Sanz Caballero, Colum. J. Eur. L. 11 (2004– 2005), 151 ff.; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 52; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 9; Villiger, in: FS-Wiarda, 657 (658); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (430).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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sion anerkannt.42 Der Gerichtshof schloß sich dieser Auffassung im Fall Johnston43 an und stellt seitdem in ständiger Rechtsprechung fest, daß der Begriff der Familie nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt sei und auch sogenannte de facto Beziehungen umfasse, in denen Mann und Frau außerhalb einer Ehe zusammenleben: „The Court recalls that the notion of the ‚family‘ in this provision is not confined solely to marriage-based relationships and may encompass other de facto ‚family‘ ties where the parties are living together outside of marriage […].“44

Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft als Familie haben sich seit den ersten Entscheidungen der Kommission verändert. Während die Rechtsprechung zunächst einen gemeinsamen Haushalt und ein dauerhaftes Zusammenleben der Partner verlangte,45 stützte der Gerichtshof die Anerkennung als Familie im Fall Kroon auf die vier gemeinsamen Kinder des Paares. Zwar verlange Art. 8 EMRK grundsätzlich ein dauerhaftes Zusammenleben der Partner, ausnahmsweise könnten aber auch andere Faktoren als Anzeichen für eine hinreichend konstante Beziehung herangezogen werden.46 Die gegenwärtige Rechtsprechung ist ganz vom Zusammenleben als Regelvoraussetzung abgerückt. Ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft als Familie anerkannt wird, hängt vielmehr von einer Reihe von Faktoren ab, von denen das Zusammenleben der Lebenspartner nur einer ist. Daneben können auch die Dauer der Beziehung, gemeinsame Kinder oder andere Umstände entscheidend sein.47 42

Offen gelassen in EKMR, Entsch. vom 22.07.1970, X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 35, 102 (107); anerkannt in EKMR, Entsch. vom 14.07.1977, X. und Y. ./. Schweiz, DR 9, 57 (74); Entsch. vom 28.06.1995, Sim und Ungson ./. Finnland, Nr. 25947/94, 25946/94; Entsch. vom 09.04.1997, Gorman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32339/96. 43 EGMR, Urt. vom 24.01.1986, Johnston u. a. ./. Irland, Serie A 112 (Ziff. 56): „In the present case, it is clear that the applicants […] constitute a ‚family‘ for the purpose of Article 8. They are thus entitled to its protection, notwithstanding the fact that their relationship exists outside marriage.“ 44 EGMR, Urt. vom 26.05.1994, Keegan ./. Irland, Serie A 290 (Ziff. 44); vgl. außerdem EGMR, Urt. vom. 27.10.1994, Kroon u. a. ./. Niederlande, Serie A 297-C (Ziff. 33); Urt. vom 23.04.1997, X.Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1997-II, 620 (Ziff. 36); Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 112); Urt. vom 01.09.2004, Lebbink ./. Niederlande, RJD 2004-IV, 181 (Ziff. 35); Urt. vom 22.12.2004, Merger und Cros ./. Frankreich, Nr. 68864/01 (Ziff. 44); Urt. vom 18.01.2007, Estrikh ./. Lettland, Nr. 73819/01 (Ziff. 165). 45 EKMR, Entsch. vom 14.07.1977, X. und Y. ./. Schweiz, DR 9, 57 (74); EGMR, Urt. vom 24.01.1986, Johnston u. a. ./. Irland, Serie A 112 (Ziff. 56). 46 EGMR, Urt. vom. 27.10.1994, Kroon u. a. ./. Niederlande, Serie A 297-C (Ziff. 33): „Although, as a rule, living together may be a requirement for such a relationship, exceptionally other factors may also serve to demonstrate that a relationship has sufficient constancy to create de facto ‚family ties‘.“ 47 EGMR, Urt. vom 23.04.1997, X. Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1997-II, 620 (Ziff. 36): „When deciding whether a relationship can be said to amount to ‚family life‘, a number of factors may be relevant, including whether the couple live together, the length of their relationship and whether they have demonstrated their commitment to each other by having children together or by any other means“; in diesem Sinne auch EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 112); Urt. vom 22.12.2004, Merger und Cros ./. Frankreich, Nr. 68864/01 (Ziff. 44).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Abgelehnt wurde das Vorliegen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft etwa für die Beziehung eines siebzehnjährigen Mädchens, das noch bei seinen Eltern wohnte.48 Das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Schutzniveau scheint dabei von der Intensität der Beziehung abhängig zu sein. In der Rechtssache Gorman befaßte sich die Kommission mit dem Fall eines Briten, der seit einer kurzen beruflichen Tätigkeit in Nigeria mit einer nigerianischen Staatsangehörigen liiert war. Während des gemeinsamen Aufenthalts dort hatten beide nicht zusammengelebt, jedoch viel gemeinsame Zeit verbracht. Auch nach seiner Rückkehr aus Nigeria unterstützte der Beschwerdeführer seine Partnerin finanziell. Außerdem sah sich das Paar regelmäßig während gemeinsamer Ferien in Nigeria und Frankreich. Ein Treffen im Vereinigten Königreich scheiterte jedoch an den britischen Einwanderungsbehörden, die das erforderliche Touristenvisum verweigerten. Die Kommission ließ in ihrer Entscheidung offen, ob die Beziehung als Familien- oder als Privatleben im Sinne von Art. 8 EMRK einzuordnen sei. Sie wies jedoch daraufhin, daß das Paar nicht daran gehindert werde, sich weiterhin während der Ferien in Nigeria oder in Drittstaaten zu treffen. Es seien daher angesichts der Natur der Beziehung und der Schwere des Eingriffs keine Faktoren erkennbar, die die berechtigten Interessen des Vereinigten Königreichs an einer effektiven Einwanderungskontrolle überwiegen könnten.49

e) Die Verlobung Nicht eindeutig geklärt ist bislang die Einbeziehung einer Verlobung in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK.50 Der Entscheidung in der Rechtssache Patel kann keine klare Aussage der Kommission entnommen werden. Der Fall betraf den volljährigen und nach einer Verurteilung zu einer hohen Freiheitsstrafe aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesenen Inder Azis Patel. Dort hatte er mit seiner blinden Mutter, seiner Verlobten und deren vier Jahre altem Kind zusammengelebt. Die Kommission nahm ohne nähere Begründung einen Eingriff in das Familienleben an, ohne aber im einzelnen zu bestimmen, auf welche Beziehungen sie das Familienleben stützte.51 Der Fall Wakefield handelte von der Beziehung eines Gefangenen zu seiner Verlobten. Die Kommission hielt in ihrer Entschei48

EGMR, Entsch. vom 03.05.2007, Goncharova und Alekseytsev ./. Schweden, Nr. 31246/

06. 49

EMRK, Entsch. vom 09.04.1997, Gorman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32339/96: „Consequently, having regard to the nature of their relationship and the degree of interference disclosed by the refusal of a visitor’s visa the Commission is not satisfied that there are any elements concerning respect for private or family life which in this case outweigh the valid considerations relating to the proper enforcement of immigration controls.“ 50 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 28; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 350. 51 EKMR, Entsch. vom 06.09.1991, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16009/90.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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dung die Existenz von Familienleben für denkbar, verlangte jedoch eine stärkere Bindung als eine einmalige Begegnung und einen anschließenden Briefwechsel.52 Der Rechtsprechung läßt sich also die grundsätzliche Bereitschaft zur Einbeziehung einer Verlobung in den Schutzbereich des Familienlebens entnehmen, ohne daß jedoch dogmatische Konturen deutlich werden. Zweifelhaft erscheint der in der Literatur vertretene Ansatz, die im Urteil Abdulaziz, Cabales und Balkandali entwickelten Grundsätze auch im Fall der Verlobung fruchtbar machen zu wollen.53 Zwar hat der Gerichtshof dort entschieden, daß auch beabsichtigtes Familienleben unter den Schutz des Art. 8 EMRK fallen kann. Während aber im Fall Abdulaziz, Cabales und Balkandali mit der Eheschließung bereits eine Familie bestand und lediglich das Familienleben, also die tatsächliche Haus- und Lebensgemeinschaft, nicht vollständig etabliert war54, fehlt es im Fall der Verlobung bereits an einer Familie, der personalen Grundlage des Familienlebens. Plausibler ist daher die schon in der Kommissionsentscheidung im Fall Wakefield anklingende Lösung über die Grundsätze der Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Führen die Verlobten eine Beziehung, die ausweislich des Zusammenlebens der Partner, der Dauer der Beziehung, gemeinsamer Kinder oder anderer Umstände als konstante Lebenspartnerschaft bezeichnet werden kann, liegt ein Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK vor. Das in der Verlobung liegende Eheversprechen könnte dabei als „anderer Umstand“ mit berücksichtigt werden.55

f) Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft Eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft fällt nach der Straßburger Rechtsprechung bislang nicht in den Schutzbereich des Familienlebens.56 Das gilt selbst 52

EKMR, Entsch. vom 01.10.1990, Wakefield ./. Vereinigtes Königreich, DR 66, 251 (255). Caroni, Privat- und Familienleben, S. 28. 54 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). 55 Vgl. EMRK, Entsch. vom 09.04.1997, Gorman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32339/96: „In the present case, the Commission notes that the applicant and P. are not formally engaged, though it is stated that they intend to marry eventually.“ 56 EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221); Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89; Entsch. vom 10.02.1990, Z. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16106/90; Entsch. vom 19.05.1992, Kerkhoven u. a. ./. Niederlande, Nr. 15666/89; Anderfuhren-Wayne, IJRL 8 (1996), 347 (357 f.); Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (112); Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (54); Grant, Protection, S. 279; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 342; Liddy, EHRLR 1998, 15 (21); Madureira, Admission, S. 7; Mock, RUDH 1998, 237 (241); Ovey / White, European Convention, S. 248; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 199 f.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention; S. 162; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 52; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (429). 53

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

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dann, wenn die Partner gemeinsam ein Kind erziehen.57 Das Verhältnis eines homosexuellen Vaters oder einer homosexuellen Mutter zum leiblichen Kind stellt jedoch – davon unberührt – aufgrund der biologischen Verwandtschaft eine Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK dar.58 Ob der Gerichtshof diese traditionelle Rechtsprechungslinie auch künftig fortsetzen wird, scheint dabei maßgeblich von der gesellschaftlichen Entwicklung in den Konventionsstaaten abhängig zu sein. Bereits in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1983 hatte die Kommission auf den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen und der Auslegung des Familienbegriffs durch die Konventionsorgane hingewiesen: „Despite the modern evolution of attitudes towards homosexuality, the Commission finds that the applicants’ relationship does not fall within the scope of the right to respect for family life ensured by Article 8.“59

Auch wenn die Kommission den Stand der Entwicklung für noch nicht ausreichend befand, ihre Rechtsprechung zur Homosexualität in Frage zu stellen, klingt in dieser Aussage eine gewisse Entwicklungsoffenheit an. Jüngere Entscheidungen zeigen dann auch, daß die Straßburger Rechtsprechungsorgane bereit sind, aufgrund veränderter gesellschaftlicher Bedingungen von bisher anerkannten Rechtsprechungspositionen abzuweichen. So entschied die Kommission in der Rechtssache Sutherland über eine Regelung des britischen Strafrechts, nach der einverständlicher Sexualverkehr zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres, zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern aber bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres strafbar war. Die Kommission verwies zunächst auf ihre bisherigen Entscheidungen in ähnlichen Fällen, in denen sie keine unzulässige Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK feststellen konnte. Sodann nahm sie aber auf neuere medizinische Erkenntnisse zur Homosexualität und einen veränderten Umgang mit dem Thema in einer großen Mehrheit der Konventionsstaaten bezug und gelangte so zu einem neuen Ergebnis.60 Die Ungleichbehandlung lasse sich fortan nicht mehr rechtfertigen.61 Auch der Gerichtshof nahm in zwei zeitgleich ergangenen Urteilen zu einer ebenfalls diskriminierenden Vor-

57

EKMR, Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89; Entsch. vom 19.05.1992, Kerkhoven u. a. ./. Niederlande, Nr. 15666/89; vgl. auch Liddy, EHRLR 1998, 15 (21); kritisch dazu Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 10. 58 EGMR, Urt. vom 21.12.1999, Salgueiro da Silva Mouta ./. Portugal, RJD 1999-IX, 309 (Ziff. 22); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 18. 59 EKMR, Entsch. vom 03.05.1983, X und Y ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221). 60 EKMR, Bericht vom 01.07.1997, Sutherland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25186/94 (Ziff. 60): „The Commission, accordingly, considers it opportune to reconsider its earlier caselaw in the light of these modern developments“. Vgl. auch als Folgeverfahren EGMR, Urt. vom 10.02.2004, B. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 53760/00 (Ziff. 23 ff.). 61 EKMR, Bericht vom 01.07.1997, Sutherland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25186/94 (Ziff. 66).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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schrift des österreichischen Strafgesetzbuchs die veränderte gesellschaftliche Einstellung zur Homosexualität zum Anlaß, die Unvereinbarkeit mit der Konvention festzustellen.62 Die Konvention müsse als „living instrument“ im Lichte der zeitgenössischen Umstände interpretiert werden.63 Eine ähnliche Entwicklung scheint sich derzeit im Bereich des Adoptionsrechts abzuzeichnen. In der Sache Fretté, die die Verweigerung eines staatlichen Einverständnisses zur Adoption eines Kindes aufgrund der Homosexualität des Beschwerdeführers betraf, hatte der Gerichtshof noch wegen der diesbezüglich uneinheitlichen Rechtslage in den Konventionsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum zugunsten Frankreichs angenommen und keine Verletzung der Konvention gesehen.64 Anders urteilte er jedoch in einer jüngsten, ebenfalls Frankreich betreffenden Entscheidung, in der einer lesbischen Frau das staatliche Einverständnis zur Adoption mit Verweis auf die fehlende Vaterfigur verweigert worden war. Hierin sah die entscheidende Große Kammer unter Hinweis auf die Entwicklungsoffenheit der Konvention und die französische Rechtslage, die eine Adoption auch durch alleinstehende Personen ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung prinzipiell erlaubt, eine Verletzung von Art. 14 EMRK.65 Sollte also eine Mehrzahl der Mitgliedstaaten gleichgeschlechtliche Partnerschaften künftig als familiäre Bindungen anerkennen – etwa durch Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare oder durch Einführung eheähnlicher Institute wie der eingetragenen Lebenspartnerschaft – erscheint auch eine Einbeziehung in den Schutzbereich des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK naheliegend und eine Rechtsprechungsänderung durch den Gerichtshof möglich. Aber auch bei der bislang noch heterogenen Rechtslage in den Mitgliedstaaten kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Gerichtshof gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Einzelfall nach dem Grundsatz der Anerkennung im Aus62 EGMR, Urt. vom 09.01.2003, L. und V. ./. Österreich, RJD 2003-I, 29 (Ziff. 47) und S. L. ./. Österreich, RJD 2003-I, 71 (Ziff. 39); Vgl. auch die Folgeverfahren: EGMR, Urt. vom 21.01.2005, Woditschka und Wilfling ./. Österreich, Nr. 69756/01, 6306/02; Urt. 03.05.2005, Ladner ./. Österreich, Nr. 18297/03; Urt. vom 26.05.2005, Wolfmeyer ./. Österreich, Nr. 5263/03; Urt. vom 02.07.2005, H. G. und G. B. ./. Österreich, Nr. 11084/02, 15306/02. 63 EGMR, Urt. vom 09.01.2003, L. und V. ./. Österreich, RJD 2003-I, 29 (Ziff. 47): „The Court observes that in previous cases […] which related to Article 209 of the Austrian Criminal Code, the Commission found no violation of Article 8 of the Convention either taken alone or in conjunction with Article 14. However, the Court has frequently held that the Convention is a living instrument, which has to be interpreted in the light of present-day conditions.“ 64 EGMR, Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 41): „Force est de constater qu’il n’existe pas un tel dénominateur commun dans ce domaine. Même si la majorité des Etats contractants ne prévoient pas explicitement l’exclusion des homosexuels de l’adoption lorsque celle-ci est ouverte aux célibataires, on chercherait en vain dans l’ordre juridique et social des Etats contractants des principes uniformes sur ces questions de société sur lesquelles de profondes divergences d’opinions peuvent raisonnablement régner dans un Etat démocratique. La Cour estime normal que les autorités nationales, qui se doivent aussi de prendre en considération dans les limites de leurs compétences les intérêts de la société dans son ensemble, disposent d’une grande latitude lorsqu’elles sont appelées à se prononcer dans ces domaines.“ 65 EGMR, Urt. vom 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02 (Ziff. 91 ff.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

land geschlossener Ehen als Familie einordnen wird.66 Sofern die Rechtsprechung daran festhält, daß auch die im Herkunftsland des Ausländers geschlossene, rechtmäßige und echte Ehe eine Familie darstellt, obwohl die Eheschließung im Aufenthaltsland nicht anerkannt wird,67 müßte konsequenter Weise auch eine im Ausland geschlossene Ehe zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern eine Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen. Der Gerichtshof dürfte in einem solchen Fall jedoch aus Rücksicht auf das traditionelle Eheverständnis des Aufenthaltslandes eine Rechtsfertigungsmöglichkeit für aufenthaltsrechtliche Beschränkungen durch die Schranke der Moral und der Rechte und Freiheiten zulassen.68 Schließlich werden gleichgeschlechtliche Beziehungen ungeachtet der künftigen Entwicklung der Rechtsprechung bereits heute durch das Recht auf Achtung des Privatlebens geschützt. Aufenthaltsrechtliche Maßnahmen können daher gleichwohl einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen.69 Zugleich ist mit dem Schutzbereich des Privatlebens auch der Anwendungsbereich des unselbständigen Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK eröffnet. Ein gegenüber heterosexuellen Partnerschaften verminderter Schutz für homosexuelle Beziehungen durch das nationale Ausländerrecht stellt eine Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung dar, die von den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen ist.70

g) Transsexualität Die bislang zwischen verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften differenzierende Rechtsprechung führt dort zu Abgrenzungsschwierigkeiten, wo sich ein Lebenspartner aufgrund medizinischer Indikation einer Geschlechtsumwandlung unterzieht. So hatten Kommission und Gerichtshof über einen Fall zu entscheiden, in dem der Beschwerdeführer als Frau geboren worden war und sich dann einer Geschlechtsumwandlung unterzog. Mit 66

Macho, Schutz des Familienlebens, S. 29 ff. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 63). 68 Vgl. EKMR, Bericht vom 01.07.1997, Sutherland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25186/94 (Ziff. 54); EGMR, Urt. vom 24.07.2003, Karner ./. Österreich, RJD 2003-IX, 199 (Ziff. 40); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 175 f. 69 EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221) unter Verweis auf EGMR, Urt. vom 30.01.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 45 (Ziff. 41); EKMR, Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89; Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (357 f.); Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (112); Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (54); Grant, Protection, S. 279; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 342; Liddy, EHRLR 1998, 15 (21); Madureira, Admission, S. 7; Mock, RUDH 1998, 237 (241); Ovey / White, European Convention, S. 248; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 199 f.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 162; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 52; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (429). 70 Vgl. dazu ausführlich unter F. II. 3. 67

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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seiner Lebensgefährtin und zwei im Wege künstlicher Befruchtung gezeugter Kinder lebte er seit über 7 Jahren zusammen. Unter Hinweis auf die innerstaatliche Rechtslage, nach der der Beschwerdeführer nach wie vor als Frau galt, vertrat die britische Regierung die Auffassung, daß die Beziehung der Lebenspartner als lesbische Partnerschaft nicht in den Schutzbereich des Familienlebens fallen könne. Die Kommission wertete die Beziehung jedoch als Partnerschaft von Mann und Frau und nahm konsequenterweise ein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK an. Die aufgrund der Geburt erfolgende rechtliche Behandlung des Beschwerdeführers als Frau könne die aktuelle Lebenswirklichkeit nicht überwiegen.71 Der Gerichtshof schloß sich in seinem Urteil dem Bericht der Kommission an.72 Dieses Ergebnis ist um so erstaunlicher, als daß der Gerichtshof zum damaligen Zeitpunkt wegen der uneinheitlichen Rechtslage die Konventionsstaaten selbst nicht zur Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung verpflichtet sah.73 Eine Änderung der Rechtsprechung vollzog der Gerichtshof erst einige Jahre später.74

2. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern a) Minderjährige Kinder Die Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern stellt im Regelfall ein Familienleben im Sinne der Konvention dar.75 In der maßgeblichen Leitentscheidung, dem Urteil in der Sache Berrehab, folgerte der Gerichtshof, daß zwischen den aus einer rechtmäßigen und echten Ehe stammenden Kindern einerseits und ihren Eltern andererseits ipso iure, also ohne Prüfung einer tatsächlich gelebten Beziehung, Familienleben bestehe, selbst wenn die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt nicht mehr zusammenlebten: 71 EKMR, Bericht vom 27.06.1995, X., Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1997-II, 647 (Ziff. 58): „The Commission is of the opinion that this element, whether seen as biological or historical, cannot outweigh the reality of the applicants’ situation, which is otherwise indistinguishable from the traditional notion of ‚family life‘.“ 72 EGMR, Urt. vom 22.04.1997, X., Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1997-II, 619 (Ziff. 37). 73 EGMR, Urt. vom 17.10.1986, Rees ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 106 (Ziff. 37, 42); Urt. vom 27.09.1990, Cossey ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 184 (Ziff. 40); Urt. vom 30.07.1998, Sheffield und Horsham ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1998-V, 2011 (Ziff. 58). 74 EGMR Urt. vom 11.07.2002, Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2002-VI, 1; Urt. vom 11.07.2002, I. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25680/94; vgl. zur Entwicklung ausführlich Rains, GA. J. Int’l & Comp. L. 2005, 333 ff. sowie jüngst EGMR, Urt. vom 11.09.2007, L. ./. Litauen, Nr. 27527/03. 75 Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 65; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 29 ff.; Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (50); ders., in: GS-Ryssdal, S. 281 (285); Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 15; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 17; Grant, Protection, S. 272; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 351; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 8 Rn. 18; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 202 f.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung „It has held that the relationship created between spouses by a lawful and genuine marriage […] has to be regarded as ‚family life‘ […]. It follows from the concept of family on which Article 8 (art. 8) is based that a child born of such a union is ipso jure part of that relationship; hence, from the moment of the child’s birth and by the very fact of it, there exists between him and his parents a bond amounting to ‚family life‘, even if the parents are not then living together.“76

Das so begründete Familienleben kann durch nachträgliche Ereignisse grundsätzlich entfallen.77 Dies wird jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen angenommen.78 In der Praxis anerkannt sind Fälle, in denen Eltern und Kinder über Jahre getrennt lebten und keinen regelmäßigen Kontakt zueinander hatten, etwa weil der Vater seine Familie verlassen und sich fortan nicht mehr um seine Kinder gekümmert hatte oder weil ein Kind von seiner Geburt an in einer Pflegefamilie im Ausland aufwuchs.79 Keine außergewöhnlichen Umstände stellen die Emigration der Eltern ins Ausland,80 eine ausweisungsbedingte Ausreise,81 eine Inhaftierung82 oder die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie83 oder in einem staatlichen Heim dar,84 sofern die familiären Beziehungen nicht vollständig abgebrochen werden. Auch eine Scheidung der Eltern beeinträchtigt die Qualifizierung des Eltern-Kind-Verhältnisses als Familienleben nicht, solange der tatsächliche Kontakt 76 EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 21); vgl. sinngemäß auch EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 32); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25); Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 60); Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 28); Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 112); Entsch. vom 01.05.2005, Prince Charles und Akeem Headley ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39642/03. 77 EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 21): „Subsequent events, of course, may break that tie, but this was not so in the instant case.“ 78 EGMR, Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25): „Although that tie may be broken by subsequent events, this can only happen in exceptional circumstances“. 79 EKMR, Entsch. vom 20.01.1989, Gabriel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14522/89; Entsch. vom 13.05.1992, Zariouhi u. a. ./. Niederlande, Nr. 15723/89; Entsch. vom 17.01.1997, Dabhi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28627/95; Entsch. vom 02.07.1997, H. K. und A. K. ./. Schweiz, Nr. 36223/97. 80 EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 60); Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 33); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 30; Grant, Protection, S. 273; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (427). 81 EKMR, Bericht vom 30.06.1992, Yousef ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15723/89; Grant, Protection, S. 273; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug; S. 51; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (427). 82 EKMR, Bericht vom 15.03.1990, Djeroud ./. Frankreich, Serie A 191-B, 31 (Ziff. 53); EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 36); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 30; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51. 83 EGMR, Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25); Urt. vom 22.06.1989, Eriksson ./. Schweden, Serie A 156 (Ziff. 58); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 30; Grant, Protection, S. 273; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (427). 84 EGMR, Urt. vom 24.03.1988, Olsson ./. Schweden, Serie A 130 (Ziff. 59); Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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zwischen dem Kind und dem jeweiligen Elternteil nicht abreißt.85 Ein kurzfristiger Abbruch der Beziehungen ist dabei unschädlich.86 Auch auf ein Sorge- oder Umgangsrecht kommt es nicht an.87 Die ursprünglich nur im Hinblick auf eheliche Kinder entwickelte Rechtsprechung wurde durch den Gerichtshof bald auch auf nichteheliche Kinder übertragen. Bereits in seinem Urteil in der Rechtssache Marckx hatte der Gerichtshof darauf hingewiesen, daß die Konvention ausweislich des Wortlauts von Art. 8 EMRK („Jedermann“) und der durch Art. 14 EMRK verbotenen Diskriminierung aufgrund der Geburt nicht zwischen „legitimen“ und „illegitimen“ Familien unterscheide.88 Im konkreten Fall nahm der Gerichtshof zwischen der Mutter und ihrer nichtehelichen Tochter ein Familienleben an. In den Urteilen Keegan und Kroon stellte er sodann klar, daß auch das Familienleben zwischen nichtehelichen Kindern und ihren Eltern ipso iure besteht.89 Grundsätzlich bedarf es damit auch hier keiner weiteren Überprüfung, ob eine tatsächlich gelebte Beziehung vorliegt.90 Voraussetzung für die Anwendung dieses Grundsatzes ist jedoch stets, daß die Eltern zumindest ursprünglich in einer dauerhaften Partnerschaft lebten.91 Zwi85 EKMR, Entsch. vom 02.05.1978, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 14, 175 (176); Entsch. vom 04.03.1987, M. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 245 (249); Entsch. vom 30.06.1992, Yousef ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15723/89; Entsch. vom 30.11.1994, Maikoe und Baboelal ./. Niederlande, Nr. 22791/93; Entsch. vom 01.07.1998, Dilek ./. Niederlande, Nr. 35137/97; EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 21); Urt. vom 23.09.1994, Hokkanen ./. Finnland, Serie A 299-A (Ziff. 54). 86 EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 60). 87 Entsch. vom 04.03.1987, M. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 245 (249); Entsch. vom 09.04.1997, McKenzie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26285/95. 88 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 31 (Ziff. 31): „The Court concurs entirely with the Commission’s established case-law on a crucial point, namely that Article 8 (art. 8) makes no distinction between the ‚legitimate‘ and the ‚illegitimate‘ family. Such a distinction would not be consonant with the word ‚everyone‘, and this is confirmed by Article 14 (art. 14) with its prohibition, in the enjoyment of the rights and freedoms enshrined in the Convention, of discrimination grounded on ‚birth‘.“ 89 EGMR, Urt. vom 26.05.1994, Keegan ./. Irland, Serie A 290 (Ziff. 44); Urt. vom 27.10.1994, Kroon u. a. ./. Niederlande, Serie A 297-C (Ziff. 30); zuletzt Urt. vom 18.01.2007, Estrikh ./. Lettland, Nr. 73819/01 (Ziff. 165). 90 A. A. offenbar Caroni, Privat- und Familienleben, S. 30 f., die unter Bezug auf das Urteil des EGMR im Fall Kroon davon ausgeht, daß der Gerichtshof eine solche Überprüfung im Verhältnis zwischen einem minderjährigen Kind und seinem nichtehelichen Vater verlange. Richtigerweise bezieht sich diese Überprüfung im Fall jedoch auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft der Eltern, vgl. Urt. vom 27.10.1994, Kroon u. a. ./. Niederlande, Serie A 297-C (Ziff. 30); ebenso Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 37). 91 EGMR, Urt. vom 26.05.1994, Keegan ./. Irland, Serie A 290 (Ziff. 44): „The Court recalls that the notion of the ‚family‘ in this provision is not confined solely to marriage-based relationships and may encompass other de facto ‚family‘ ties where the parties are living together outside of marriage […] A child born out of such a relationship is ipso iure part of that ‚family‘ unit from the moment of his birth and by the very fact of it. There thus exists between the child and his parents a bond amounting to family life even if at the time of his or her birth the parents

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

schen einem Samenspender und seinem Kind kann deshalb – neben der unbestrittenen biologischen Abstammung – nicht ohne weiteres ein Familienleben angenommen werden, selbst wenn dieser während der ersten Lebensmonate regelmäßigen Umgang mit seinem Kind hatte.92 Auch kann nicht von vornherein auf ein Familienleben zwischen Vater und Kind geschlossen werden, wenn die nichteheliche Beziehung zur Mutter nur kurz andauerte.93 In diesem Fall bedarf es einer Prüfung, ob eine tatsächlich gelebte Beziehung vorliegt, die die Voraussetzungen des Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfüllt. Ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt ist dabei keine notwendige Voraussetzung.94 Daneben können die Natur der zwischen den Eltern bestehenden Beziehung, ein vorzeigbares Interesse am Kind oder die vom Vater eingegangenen Verpflichtungen gegenüber dem Kind vor und nach der Geburt maßgeblich sein.95 Auch ein noch nicht vollständig begründetes, wohl aber beabsichtigtes Familienleben kann genügen.96 Wird der für ein Familienleben erforderliche Grad der tatsächlichen Beziehung nicht mehr erreicht, kann das Verhältnis noch in den Schutzbereich des Privatlebens fallen.97

b) Volljährige Kinder Die zu minderjährigen Kindern entwickelten Grundsätze können nicht auf volljährige Kinder übertragen werden.98 Die Rechtsprechung nimmt ein Familienleben zwischen Erwachsenen nur bei einem über das normale, emotionale Maß hinausgehenden Abhängigkeitsverhältnis an: are no longer co-habiting or if their relationship has then ended“; vgl. auch EGMR, Urt. vom 02.06.2005, Znamenskaya ./. Rußland, Nr. 77785/01 (Ziff. 27); Liddy, EHRLR 1998, 15 (20). 92 EKMR, Entsch. vom 08.02.1993, J. R. M. ./. Niederlande, DR 74, 120 (124); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 31; Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (53); ders., in: GS-Ryssdal, 281 (288); Liddy, EHRLR 1998, 15 (21). 93 EKMR, Entsch. vom 06.04.1994, M. B. ./. Vereinigtes Königreich, DR 77-A, 108 (115); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 31; Liddy, EHRLR 1998, 15 (21). 94 EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 21): „The Court likewise does not see cohabitation as a sine qua non of family life between parents and minor children.“ Vgl. auch EKMR, Entsch. vom 08.02.1993, J. R. M. ./. Niederlande, DR 74, 120 (123); EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376); Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (359); Brötel, RabelsZ 1999, 580 (588); Madureira, Admission, S. 7; Mock, RUDH 1998, 237 (241); Ovey / White, European Convention, S. 247 f. 95 EKMR, Bericht vom 17.02.1993; Keegan ./. Irland, Serie A 290, 25 (Ziff. 48); Entsch. vom 15.01.1998, Al-Banaa ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28983/95; EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376). 96 EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376). 97 EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376); EGMR, Urt. vom 07.02.2002, Mikuliü ./. Kroatien, Nr. 53176/99 (Ziff. 52); Urt. vom 02.06.2005, Znamenskaya ./. Rußland, Nr. 77785/01 (Ziff. 27). 98 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 33 f.; Grant, Protection, S. 275; Hasenberger, Einwanderung, S. 38; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 353; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 203 f.; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (427). Zu den Besonderheiten bei Einwanderern der zweiten Generation siehe unten unter C. II. 3.a).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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„Generally, the protection of family life under Article 8 involves cohabiting dependents, such as parents and their dependent, minor children. Whether it extends to other relationships depends on the circumstances of the particular case. Relationships between adults […] would not necessarily acquire the protection of Article 8 of the Convention without evidence of further elements of dependency, involving more than the normal, emotional ties.“99

Anerkannt wird eine solche besondere Abhängigkeit aus finanziellen Gründen100 oder bei einer durch Behinderung oder schwere Erkrankung notwendig gewordenen Pflege.101 Auch kulturelle Umstände können zu einer besonderen Abhängigkeit von Eltern und Kindern führen, etwa wenn der erwachsenen Tochter als unverheirateter Frau ein eigenständiges Leben im muslimisch geprägten Heimatland nicht zugemutet werden kann.102 Schließlich kann auch eine trotz Volljährigkeit des Kindes fortgeführte Haus- und Lebensgemeinschaft Familienleben darstellen.103 In der Regel haben Kommission und Gerichtshof jedoch eine besondere Abhängigkeit und damit den Schutzbereich des Familienlebens verneint.104

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EKMR, Entsch. vom 10.12.1984, S. und S. ./. Vereinigtes Königreich, DR 40, 196 (198). EKMR, Entsch. vom 08.02.1972, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, CD 39, 104 (108); Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86; Entsch. vom 15.07.1988, B ./. Niederlande, Nr. 14014/88; Entsch. vom 08.09.1988, R. R. und S.R ./. Niederlande, Nr. 13654/88; Entsch. vom 16.01.1996, Pathan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26292/95; Caroni, Privat- und Familienlebens, S. 34. 101 EKMR, Entsch. vom 16.01.1996, Pathan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26292/95, Entsch. vom 12.09.1997, McCullough ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24889/94; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 34. 102 EKMR, Entsch. vom 15.07.1988, B. ./. Niederlande, Nr. 14014/88. 103 EKMR, Entsch. vom 16.01.1996, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26290/95; EGMR, Entsch. vom 03.12.2005, Pello-Sode ./. Schweden, Nr. 34391/05; Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 62). 104 EKMR, Entsch. 16.10.1986, P. ./. Schweden, Nr. 12440/86; Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86; EKMR, Entsch. vom 01.10.1990, B. ./. Schweiz, Nr. 16249/90; Entsch. vom 29.06.1992 und 07.04.1993, Akhtar, Johangir und Johangir ./. Niederlande, Nr. 14852/89; Entsch. vom 07.12.1992, Daldal-Uslu ./. Niederlande, Nr. 17546/90; Entsch. vom 11.01.1994, Akabbouz ./. Niederlande, Nr. 18056/91; Entsch. vom 14.04.1994, Külen ./. Schweden, Nr. 23761/94; Entsch. vom 11.05.1994, B. H., T. H., R. H. und R. H. ./. Schweiz, Nr. 23810/94; Entsch. vom 29.06.1994, Mutlu ./. Österreich, Nr. 20840/92; Entsch. vom 29.06.1994, S. T. ./. Schweiz, Nr. 24089/94; Entsch. vom 10.10.1994, Gül ./. Schweiz, Nr. 23218/94; Entsch. vom 29.06.1994, Ünlü ./. Österreich, Nr. 20957/92; Entsch. vom 12.10.1994, Ahmut ./. Niederlande, Nr. 21702/93; Entsch. vom 11.01.1995, K. F. Y. ./. Niederlande, Nr. 23002/93; Entsch. vom 18.05.1995, Lamrabti ./. Niederlande, Nr. 24968/94; Entsch. vom 18.10.1995, Ali ./. Vereinigtes Königreich,. Nr. 25936/94; Entsch. vom 29.11.1995, Ebibomi u. a. ./ Vereinigtes Königreich, Nr. 26922/95; Entsch. vom 26.06.1996, R. K.-V. ./. Schweiz, Nr. 31042/96; Entsch. vom 23.10.1997, Ayoola ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 33185/96; Entsch. vom 21.10.1998, Esen ./. Niederlande, Nr. 37312/97; EGMR, Entsch. 26.03.2002, Mir ./. Schweiz, Nr. 51268/99; Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 97); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 107); Entsch. vom 28.02.2006, Z. und T. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27034/05; Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 67); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 63); Entsch. vom 22.01.2007. Kilic ./. Dänemark, Nr. 20277/05. 100

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Eine Untersuchung der einschlägigen Judikatur ergibt, daß sich die Rechtsprechung hinsichtlich des Eintritts der Volljährigkeit an der Vollendung des 18. Lebensjahres orientiert,105 wenn auch die Annahme eines Familienlebens zwischen einem beinahe volljährigen oder einem gerade volljährigen Kind und seinen Eltern letztlich von den Umständen des Einzelfalls abhängt.106 Unklar bleibt, ob Kommission und Gerichtshof einen konventionsrechtlichen Volljährigkeitsbegriff unterstellen oder auf das jeweilige nationale Recht zurückgreifen, wobei dann in einem zweiten Schritt zu fragen wäre, ob das Recht des Aufenthaltslandes oder das des Herkunftslandes maßgeblich sein soll. Da die Konvention nach ständiger Rechtsprechung autonom, also als eigenständige Rechtsordnung, auszulegen ist, muß richtigerweise von einem konventionsrechtlichen Volljährigkeitsbegriff ausgegangen werden. Zwar liefert der Konventionstext selbst keine Definition der Volljährigkeit, die Straßburger Rechtsprechung kann sich jedoch im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung sowohl an völkerrechtlichen Regelungen als auch an der Rechtspraxis in den Konventionsstaaten orientieren. Ein erstes Indiz liefert dabei das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989, dessen Art. 1 für die Zwecke des Übereinkommens von einer Volljährigkeit ab der Vollendung des 18. Lebensjahres ausgeht, sofern nicht das auf das Kind anzuwendende Recht einen früheren Zeitpunkt bestimmt.107 Schließlich sehen, inzwischen ohne Ausnahme, sämtliche Konventionsstaaten im nationalen Recht eine Altersgrenze von 18 Jahren vor.108

c) Adoptivkinder Adoptivkinder werden in der Rechtsprechung des Gerichtshofs den leiblichen Kindern gleichgestellt:

105 Volljährigkeit wurde angenommen bei Vollendung des 21. Lebensjahres in EKMR, Entsch. vom 01.10.1990, B. ./. Schweiz, Nr. 16249/90; Entsch. vom 29.06.1994, Ünlü ./. Österreich, Nr. 20957/92; Entsch. vom 29.06.1994, S. T. ./. Schweiz, Nr. 24089/94; bei Vollendung des 19. Lebensjahres in EKMR, Entsch. vom 11.01.1995, K. F. Y. ./. Niederlande, Nr. 23002/93; EGMR, Entsch. vom 03.07.2001, Javeed ./. Niederlande, Nr. 47390/99; Entsch. vom 22.01.2007. Kilic ./. Dänemark, Nr. 20277/05; bei Vollendung des 18. Lebensjahres in EKMR, Entsch. vom 29.06.1992 und 07.04.1993, Akhtar, Johangir und Johangir ./. Niederlande, Nr. 14852/89. Minderjährigkeit wurde angenommen bei Vollendung des 16. Lebensjahres in EGMR, Entsch. vom 05.09.2000, Knel und Veira ./. Niederlande, Nr. 39003/97; bei Vollendung des 17. Lebensjahres in EKMR, Entsch. vom 11.01.1995, K. F. Y. ./. Niederlande, Nr. 23002/93; wohl auch in EKMR, Entsch. 15.05.1996, Altuntas ./. Österreich, Nr. 25918/94. 106 Vgl. insoweit abweichend von der Regel EGMR, Entsch. vom 22.01.2007, Kilic ./. Dänemark, Nr. 20730/05; Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 62). 107 Convention on the Rights of the Child, United Nations, Treaty Series, Nr. 1577, 3; BGBl. II 1992 S. 990. 108 Vgl. dazu die Länderübersicht bei Hausmann, in: Staudinger, Bürgerliches Gesetzbuch, Anhang zu Art. 7 EGBGB.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

73

„Relations between an adoptive parent and an adopted child are as a rule of the same nature as the family relations protected by Article 8 of the Convention.“109

Damit setzt der Gerichtshof im Grundsatz die Rechtsprechungslinie der Kommission fort, welche die Beziehung zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern bereits früh als Familienleben gewertet hat.110 Nach Auffassung der Kommission sollte jedoch anders als bei leiblichen Kindern, wo Familienleben bereits ipso iure mit der Geburt angenommen wurde, die Existenz einer tatsächlich gelebten Beziehung darzulegen sein. Sie verneinte beispielsweise ein Familienleben, wenn es im Anschluß an die Adoption nicht zu einer tatsächlichen Übernahme der elterlichen Verantwortung durch die Adoptiveltern kam und das Adoptivkind in der Familie seiner leiblichen Eltern verblieb, etwa weil die Einwanderungsbehörden seine Einreise verweigerten.111 Zumindest hinsichtlich eines Teilaspekts hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung nunmehr revidiert. So soll nach einem neueren Urteil auch ein bloß beabsichtigtes Familienleben genügen, wenn sich nach der Adoption keine vollständige Beziehung entwickelt hat, dieser Umstand den Adoptiveltern aber nicht zugerechnet werden kann.112 Hinsichtlich der weiteren Auswirkungen einer Adoption auf das Verhältnis der beteiligten Personen untereinander und bei der Bestimmung der aus Art. 8 EMRK folgenden Verpflichtungen stellt die Rechtsprechung im Wege der Rechtsvergleichung auf das einschlägige Völkervertragsrecht ab.113 Maßgeblich sind hier das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989,114 das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption von 1993115 sowie die Europäische Konvention zur Adoption von Kindern von

109

EGMR, Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 140). EKMR, Entsch. vom 10.07.1975, X ./. Belgien und Niederlande, DR 7, 75 (76); Entsch. vom 11.07.1977, X ./. Vereinigtes Königreich, DR 11, 160 (162); Entsch. vom 15.12.1977, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 12, 32 (34); Entsch. vom 05.10.1982, X ./. Frankreich, DR 31, 241 (242); Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 346 (358); Blume, in Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (112); Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 68; ders., RabelsZ 1999, 580 (587); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 32; Coussirat-Coustère, in: Internationalisation, S. 45 (51); ders., in: GS-Ryssdal, S. 281 (286); Grant, Protection, S. 274; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 379; Frowein, in ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 17; Mock, ZSR 112 (1993 I), 95 (99); ders., RUDH 1998, 237 (241); Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 204 f.; Pernthaler / Rath-Kathrein, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grund- und Menschenrechte, S. 245 (264); Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 51; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 9; Villiger, in: FS-Wiarda, S. 657 (658); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (427). 111 EKMR, Entsch. vom 15.12.1977, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 12, 32 (34); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 32. 112 EGMR, Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 143, 146). 113 EGMR, Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 139). 114 Convention on the Rights of the Child, United Nations Treaty Series, Nr. 1577, 3; BGBl. II 1992 S. 990. 115 Convention sur la protection des enfants et la coopération en matière d’adoption internationale, Recueil des conventions de la Haye, 1951–1996, 356 ff.; BGBl. II 2001 S. 1034 ff. 110

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

1967.116 Aus letzterer folgert die Rechtsprechung, daß eine rechtswirksame Adoption die auf Abstammung beruhende familiäre Bindung an die leiblichen Eltern beendet.117

d) Stiefkinder Sofern zwischen Stiefeltern und Stiefkindern eine tatsächlich gelebte Beziehung besteht, kann auch dieses Verhältnis ein Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen.118 Maßgeblich kommt es hier auf die Dauer der Beziehung der Eltern, das Alter der Kinder zum Zeitpunkt einer erneuten Eheschließung und die soziale Rolle an, die der Stiefvater oder die Stiefmutter innerhalb der neuen Familie einnimmt.119

e) Pflegekinder Die Rechtsprechung hat bislang eindeutige Aussagen zur Beziehung zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern vermieden. Die Kommission ließ eine Qualifizierung als Familienleben ausdrücklich offen und verwies darauf, daß zumindest der Schutzbereich des Privatlebens eröffnet sei.120 Der Gerichtshof umging eine Einordnung, indem er zur Begründung einer Familie auf das im konkreten Fall parallel bestehende Verwandtschaftsverhältnis abstellte; die Pflegeeltern waren zugleich die Großeltern des Pflegekindes.121 Lediglich das Kommissionsmitglied Schermers sprach sich in der Rechtssache Eriksson für die Einbeziehung in den Schutzbereich aus.122 Dem ist zu folgen, da die Rechtsprechung auch in anderen 116

European Convention on the Adoption of Children, Council of Europe, ETS Nr. 058; BGBl. II 1980 S. 1093 ff. 117 EKMR, Entsch. vom 11.07.1977, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 11, 160 (162); EGMR, Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 142); Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 68. 118 EKMR, Entsch. vom 03.12.1997, Bouhali ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35688/97; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 33 (Fn. 122); Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (235); Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 67; ders., RabelsZ 1999, 580 (587). 119 EKMR, Entsch. vom 03.12.1997, Bouhali ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35688/97: „The Commission notes the applicant’s arguments that his threatened deportation has had an effect on the children who have bonded with him as father figure […]. The Commission also notes the ages of the children at the relevant time of the marriage, three of whom are now adults and the short duration of the marriage.“ 120 EKMR, Entsch. vom 10.07.1978, X. ./. Schweiz, DR 13, 248 (250). 121 EGMR, Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98. 122 Sondervotum Schermers, in: EKMR, Bericht vom 14.07.1988, Eriksson ./. Schweden, Serie A 156, 37 (56): „The notion of family life in Article 8 of the Convention does not necessarily require bonds of blood or lawful marriage. The connection in the Article to private life and home rather suggests that the immediate surroundings of a person, the sphere in which he lives, are meant. Also factual circumstances, such as long cohabitation, may create family life.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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Fällen, namentlich bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft und bei Stiefkindern, eine Familie jenseits biologischer oder rechtlicher Verwandtschaft angenommen hat.123 Im Unterschied zu einer Adoption wird das zwischen einem Pflegekind und seinen biologischen Eltern bestehende Familieleben aber nicht automatisch beendet.124

3. Weitere Verwandtschaftsverhältnisse Neben der Beziehung von Mann und Frau und dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hat die Rechtsprechung auch in weiteren Fällen die Existenz eines Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK angenommen.125 Dies gilt zunächst für Geschwister untereinander, soweit zwischen ihnen eine tatsächlich gelebte Beziehung besteht.126 Im Fall einer durch Unterbringung in verschiedenen Pflegefamilien bedingten Trennung von Geschwistern entschloß sich der Gerichtshof jedoch zu einer großzügigen Anwendung dieses Kriteriums. Mit ihrer Beschwerde hatten sich zwei Pflegekinder gegen die Weigerung der Behörden gerichtet, ihnen Zugang zu ihrer ebenfalls in einer Pflegefamilie untergebrachten jüngeren Schwester zu gewähren. Obwohl sie bei deren Geburt bereits seit mehreren Jahren von den leiblichen Eltern getrennt gelebt hatten, die Geschwister also nicht gemeinsam aufgewachsen waren, nahm der Gerichtshof ein Mindestmaß an Familienleben an. Normally, there will be family life (as of fact) between foster parents and their children. The strength of this family life depends on factual circumstances and, in particular, on the duration and the age of the child and on the relationship between duration and age. Three years of a child of 15 is less than 3 years of a child of 4. […] However, the right to respect for family life of the foster parents is not part of the present application and, therefore, it does not require separate discussion.“ 123 Befürwortend auch Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (235); Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (112); Brötel, RabelsZ 1999, 580 (587); ders., Achtung des Familienlebens, S. 68; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 33; Mock, ZSR 112 (1993-I), 95 (99); ders., RUDH 1998, 237 (241); Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 205 f.; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 9; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (428). 124 EGMR, Urt. vom 22.06.1989, Eriksson ./. Schweden, Serie A 156 (Ziff. 58). 125 Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (358); Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 111 (113); Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 66 f.; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 34; Cvetic, ICLQ 1987, 647 (651); Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 15 f.; Grant, Protection, S. 277 f.; Hasenberger, Einwanderung, S. 41; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 391; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 8 Rn. 18; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 210; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 163; Pernthaler / Rath-Kathrein, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grund- und Menschenrechte, S. 245 (265); Mock, RUDH 1998, 237 (241); ders., ZSR, 112 (1993-I), 95 (99); Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 52; Storey, ICLQ 1990, 328 (329 f.); Warbrick, EHRLR 1998, 32 (33); Villiger, in: FS-Wiarda, S. 657 (658 f.); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (431). 126 EKMR, Entsch. vom 14.12.1972, X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 43, 119 (121); Entsch. vom 14.07.1982, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 30, 232 (234); EGMR, Entsch. vom 21.10.2004, I. und U. ./. Norwegen, Nr. 75531/01.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Dabei stützte er sich allein auf den von den Beschwerdeführerinnen geäußerten Wunsch, ihre jüngere Schwester kennen zu lernen.127 Sind die Geschwister volljährig, bedarf es nach der Rechtsprechung zur Annahme eines Familienlebens einer besonderen Abhängigkeit.128 Aber auch jenseits der Beziehungen innerhalb einer aus Eltern und deren Kindern bestehenden Kernfamilie ist von der Straßburger Rechtsprechung ein Familienleben angenommen worden. Bereits im Urteil in der Rechtssache Marckx hatte der Gerichtshof betont, daß der Begriff des Familienlebens zumindest die Beziehungen zwischen nahen Verwandten, etwa zwischen Großeltern und Enkelkindern, umfassen kann: „In the Court’s opinion, ‚family life‘, within the meaning of Article 8, includes at least the ties between near relatives, for instance those between grandparents and grandchildren, since such relatives may play a considerable part in family life.“129

Im folgenden hat die Rechtsprechung ein Familienleben zwischen Großeltern und Enkelkindern dann bejaht, wenn die Enkelkinder – zumindest für eine gewisse Dauer – bei ihren Großeltern aufwuchsen oder diese eine weitreichende Verantwortung für die Erziehung der Enkelkinder übernommen hatten.130 In vergleichbarer Weise ist auch das Verhältnis von Onkeln und Tanten einerseits und zu ihren Nichten und Neffen andererseits grundsätzlich als Familienleben anerkannt, sofern eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung besteht.131 Dabei sind ein Zusammenleben oder ein gemeinsamer Haushalt keine notwendigen Voraussetzungen. Daneben können auch regelmäßige Kontakte, viel gemeinsam verbrachte Zeit und die Übernahme einer vater- bzw. mutterähnlichen Rolle in der Erziehung der Kinder maßgeblich sein.132 Sind die Kinder volljährig, kommt ein Familienleben nur noch bei Vorliegen eines besonderen, über das normale emotio-

127 EGMR, Entsch. vom 21.10.2004, I. und U. ./. Norwegen, Nr. 75531/01: „In these circumstances, the Court has doubts as to the extent to which there still existed ‚family life‘ in the sense of Article 8 […]. Nevertheless, bearing in mind I. and U.’s declared aspiration to meet their younger sister, the Court will proceed on the assumption that to a degree the impugned measures amounted to an interference with their ‚family life‘ […].“ 128 EKMR, Entsch. vom 06.09.1995, Advic ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25525/94. 129 EGMR, Urt. vom 13.03.1978, Marckx ./. Belgien, Serie A 31 (Ziff. 45). 130 EKMR, Entsch. vom 10.03.1981, X. ./. Schweiz, DR 24, 183 (184); EGMR, Urt. vom 09.06.1998, Bronda ./. Italien, RJD 1998-IV, 1476 (Ziff. 51.); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98; Urt. vom 13.07.2000, Scozzari und Giunata ./. Italien, RJD 2000VIII, 401 (Ziff. 221). 131 Unklar noch in EKMR, Entsch. vom 15.12.1977, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 12, 32 (33); ausdrücklich anerkannt in EKMR, Bericht vom 09.02.1993, Boyle ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 282-B, 26 (Ziff. 42–45); EGMR, Entsch. vom 03.07.2001, Javeed ./. Niederlande, Nr. 47390/99; implizit auch EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Nsona ./. Niederlande, RJD 1996-V, 1979 (Ziff. 112 f.); vgl. auch Liddy, EHRLR 1998, 15 (20). 132 EKMR, Bericht vom 09.02.1993, Boyle ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 282-B, 26 (Ziff. 42–45).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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nale Maß hinausgehenden Abhängigkeitsverhältnisses in Betracht.133 Die Rechtsprechung überträgt hier die zur Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern entwickelten Grundsätze. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1989 befaßte sich die Kommission auch mit der Beziehung zwischen Schwager und Schwägerin. Der Beschwerdeführer, ein im Vereinigten Königreich illegal lebender Inder, sah in seiner Abschiebung eine Verletzung von Art. 8 EMRK, da er für seine alleinstehende und kranke Schwägerin sowie deren Tochter sorgen müsse. Die Kommission verneinte im Ergebnis eine hinreichend enge Beziehung. Dabei stellte sie zunächst fest, daß der Beschwerdeführer selbst eine eigene Familie in Indien habe, wenn er auch mit dieser nicht mehr zusammenlebe. Darüber hinaus war die Kommission nicht von der Notwendigkeit eines weiteren Aufenthalts zur Versorgung von Schwägerin und Nichte überzeugt. So gebe es weitere, im Vereinigten Königreich lebende Verwandte, deren Unterstützung in Anspruch genommen werden könne. Außerdem sei die Schwägerin Eigentümerin eines lastenfreien Grundstücks und habe einen Sozialhilfeanspruch.134 Schließlich sind auch die Beziehungen unter Cousins und Cousinen bei Vorliegen einer tatsächlich gelebten, engen Beziehung grundsätzlich als Familienleben anerkannt. Dies zeigt implizit der Fall einer russischen Staatsangehörigen, der eine Aufenthaltsgenehmigung für Schweden verwehrt wurde. Da sie ihren Ehemann erst nach der Ablehnung ihres Antrags geheiratet hatte, kam es vor der Straßburger Menschenrechtskommission entscheidend auf das Verhältnis zu ihrem Cousin, dem einzigen weiteren Verwandten mit Aufenthaltsrecht in Schweden an. Weil beide bereits volljährig waren, bedurfte es nach Auffassung der Kommission eines über das zwischen Verwandten normale, emotionale Maß hinausgehenden Abhängigkeitsverhältnisses.135 Feststellbar ist, daß die Rechtsprechung insbesondere dann eine hinreichend enge Beziehung zu einem Verwandten außerhalb der Kernfamilie annimmt, wenn dieser die soziale Rolle eines Mitglieds dieser Kernfamilie übernommen hat. Dies gilt für die Großeltern, die anstelle der Eltern für die Erziehung der Kinder zuständig sind,136 133

EGMR, Entsch. vom 03.07.2001, Javeed ./. Niederlande, Nr. 47390/99: „In the circumstances of the present case, the Court accepts that there is family life within the meaning of Article 8 of the Convention between the applicant and her minor nieces. However, the Court recalls that relationships between adult relatives do not necessarily attract the protection of Article 8 without further elements of dependency involving more than the normal emotional ties.“ 134 EKMR, Entsch. vom 09.05.1989, B., S. und K. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14416/88. 135 EKMR, Entsch. vom 12.10.1992, K. ./. Schweden, Nr. 20470/92: „Her cousin and herself are now grown up persons and even if their family ties may have been very strong at an earlier stage as a result of the circumstances obtaining after the death of the applicant’s mother, there is today a question of whether these go beyond normal emotional ties.“ 136 EKMR, Entsch. vom 10.03.1981, X. ./. Schweiz, DR 24, 183 (184); EGMR, Urt. vom 09.06.1998, Bronda ./. Italien, RJD 1998-IV, 1476 (Ziff. 51.); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

für den Onkel, der seit der Trennung der Eltern eine Art Vaterfigur für die Kinder darstellt137 oder für die Tante, die seit dem Tod der Mutter das Sorgerecht für deren Tochter besitzt.138 Dagegen neigt die Rechtsprechung dazu, ein über den Bereich der Kernfamilie hinausgehendes Familienleben zu verneinen, solange Eltern und Kinder eine eigenständige, nicht von besonderer Unterstützung durch weitere Verwandte abhängige Familieneinheit bilden.139 Jedenfalls im Regelfall geht der Schutzbereich des Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK damit nicht über die Kernfamilie hinaus: „In the Convention case-law relating to expulsion and extradition measures, the main emphasis has consistently been placed on the ‚family life‘ aspect […], it being understood that ‚family life‘ in this sense is normally limited to the core family.“140

4. Folgerungen Der Begriff des Familienlebens erfordert im Grundsatz eine zweistufige Prüfung.141 Er setzt zunächst eine bestehende Familie voraus, verlangt darüber hinaus aber eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung zwischen den Familienmitgliedern. In ihr erblickt die Rechtsprechung das entscheidende Element des Schutzbereichs.142 Sie lehnt sich damit im Ausgangspunkt eng an den Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EMRK an, dessen geschütztes Rechtsgut eben nicht die Familie als solche, sondern das Familienleben ist. Hinsichtlich des zugrundeliegenden Familienbegriffs lassen sich die von der Rechtsprechung anerkannten Familienverhältnisse drei verschiedenen Kategorien zuordnen.143 Zu nennen ist hier zunächst die Verwandtschaft kraft biologischer Abstammung. Sie umfaßt nicht nur das Verhältnis zwischen Eltern und Kin137 EKMR, Bericht vom 09.02.1993, Boyle ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 282-B, 26 (Ziff. 42); sinngemäß für eine Tante: EGMR, Entsch. vom 03.07.2001, Javeed ./. Niederlande, Nr. 47390/99. 138 Implizit EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Nsona ./. Niederlande, RJD 1996-V, 1979 (Ziff. 112 f.). 139 Vgl. bereits EKMR, Entsch. vom 10.03.1994, A. und Familie ./. Schweden, Nr. 22806/93: „Even if the applicants’ husband / father has disappeared, the Commission primarily considers that they must be regarded as an independent family unit. Thus, neither the first applicant’s relationship with her parents and sister in Sweden, nor the other applicants’ relationship with their grandparents and aunt in that country, could be regarded as ‚family life‘ within the meaning of Article 8.“ 140 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 94); in diesem Sinne auch EGMR, Entsch. vom 25.10.2005, Nagula ./. Estland, Nr. 39203/02. 141 So im Ergebnis auch Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 211 f. 142 Beispielhaft noch einmal EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/ 99 (Ziff. 112): „The existence or non-existence of ‚family life‘ is essentially a question of fact depending upon the reality in practice of close personal ties.“ 143 So auch die Kategorisierung von Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 48 ff. und Grant, Protection, S. 268.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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dern, also die Verwandtschaft in gerader Linie ersten Grades, sondern auch Verwandtschaftsverhältnisse mehrfachen Grades und zwar sowohl in gerader Linie als auch in Seitenlinie. Beispielhaft sei hierzu auf das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln einerseits und auf die Beziehungen unter Cousins und Cousinen andererseits verwiesen. Eine Begrenzung des Familienbegriffs auf nahe Verwandte läßt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Der Gerichtshof hat im Fall Marckx festgestellt, daß zumindest eine Beziehungen zwischen nahen Verwandten Familienleben im Sinne der Konvention darstellen könne, weil diese eine beachtenswerte Rolle im Familienleben übernehmen könnten.144 Diese Aussage läßt die Einbeziehung entfernter Verwandter ausdrücklich offen. Auch die vom Gerichtshof vorgebrachte Begründung ist nicht zwangsläufig auf nahe Verwandte beschränkt. Der Verwandtschaft kraft biologischer Abstammung ist die Verwandtschaft aufgrund Gesetzes als zweite Kategorie gleichgestellt. Sie betrifft in erster Linie die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau, die als solche eine Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt, darüber hinaus aber auch die Beziehung zwischen Adoptiveltern und Adoptivkindern. Maßgebliche Bedeutung kommt hier dem innerstaatlichen Recht der Konventionsstaaten zu, das Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Verwandtschaft bestimmt. Die Konvention begrenzt diesen Ermessensspielraum allein durch das in Art. 12 EMRK verbürgte Recht auf Eheschließung und Familiengründung. Aus Art. 8 Abs. 1 EMRK läßt sich kein darüber hinausgehendes Recht auf Gründung einer Familie ableiten, diese wird vielmehr als bestehend vorausgesetzt. Die Rechtsprechung hat jedoch mit dem Prinzip der Anerkennung ausländischer Ehen einen Ansatz entwickelt, der eine einheitliche Anwendung des Konventionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherstellt. Danach gilt eine im Ausland rechtmäßig geschlossene Ehe unabhängig von deren Anerkennung im innerstaatlichen Recht des Aufenthaltsstaates als Familie im Sinne der Konvention und ist dem gemäß auch vom Aufenthaltsstaat als solche zu schützen. Auch wenn bislang keine entsprechenden Fälle bekannt sind, hat die Rechtsprechung mit diesem Prinzip zumindest die Voraussetzungen dafür geschaffen, künftig auch im Ausland rechtmäßig vollzogene Adoptionen oder Eheschließungen zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern trotz fehlender Anerkennung im Aufenthaltsstaat selbst in den Schutzbereich des Familienlebens einbeziehen zu können. Neben der Verwandtschaft kraft biologischer Abstammung und der Verwandtschaft aufgrund Gesetzes haben Kommission und Gerichtshof schließlich weitere Personenkonstellationen als Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK anerkannt. Verwiesen sei auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die aus sich heraus – unabhängig von gemeinsamen Kindern – eine Familie darstellen soll, oder auf die Beziehung zwischen Stiefeltern und Stiefkindern. Die Rechtsprechung läßt sich in diesen Fällen maßgeblich von der sozialen Wirklichkeit leiten, anstatt auf die 144

EGMR, Urt. vom 13.03.1978, Marckx ./. Belgien, Serie A 31 (Ziff. 45).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

rechtlichen oder biologischen Unterschiede abzustellen. Brötel spricht daher von der „sozialen Familie“ als dritter Kategorie.145 Dies darf jedoch nicht dahingehend mißverstanden werden, daß die Straßburger Rechtsprechung in allen persönlichen Näheverhältnissen eine Familie erblickt. So stellt eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft nach bislang einheitlicher Rechtsprechung keine Familie dar, mag die Beziehung auch so eng und dauerhaft wie die zwischen Mann und Frau sein. Treffender erscheint die Terminologie von Grant, der von „analogen“ Personenkonstellationen spricht.146 Erfaßt sind demnach die einer auf Verwandtschaft beruhenden Familie wesensmäßig vergleichbaren Personenverhältnisse. Während der Kreis der Familienmitglieder im Fall der biologischen Abstammung auf natürliche Weise begrenzt ist und im Fall der Verwandtschaft aufgrund Gesetzes durch das innerstaatliche Recht der Konventionsstaaten vorgegeben wird, liegt es hier in der Hand des Gerichtshofs über eine wesensmäßige Vergleichbarkeit zu befinden. Neben der nichtehelichen Lebensgemeinschaft und der Beziehung zu Stiefkindern muß bereits heute das Verhältnis von Pflegeeltern zu Pflegekindern als Familie in diesem Sinne qualifiziert werden. Auch darüber hinaus ist das Kriterium der wesensmäßigen Vergleichbarkeit entwicklungsoffen. Besteht eine familiäre Bindung zwischen den betroffenen Personen, kommt es zur Begründung eines Familienlebens entscheidend auf eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung zwischen den Familienmitgliedern an. In den frühen Entscheidungen von Kommission und Gerichtshof kam dabei dem Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt eine maßgebliche Bedeutung zu. In der neueren Rechtsprechung hat dieses Kriterium an Bedeutung verloren. Die Frage, ob ein Familienleben besteht, ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu beantworten. Relevante Faktoren können neben einem gemeinsamen Haushalt etwa finanzielle Abhängigkeit, regelmäßiger Kontakt, gemeinsame Kinder, Unterhaltsverpflichtungen oder die tatsächliche Übernahme von Verantwortung für ein anderes Familienmitglied sein.147 Auch subjektive Kriterien, wie etwa der Wille, Kontakt zu einem Verwandten aufzunehmen, können berücksichtigt werden.148 Sind die Familienmitglieder volljährig, kommt ein Familienleben nur bei einer besonderen, über das normale emotionale Maß hinausgehenden Abhängigkeit in Betracht. Diese Einschränkung gilt nicht für die – typischerweise gerade zwischen Erwachsenen eingegangene – Ehe oder nichteheliche Lebensgemeinschaft.

145

Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 53 f. Grant, Protection, S. 268. 147 Vgl. auch die Aufzählung bei Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 56 ff. 148 Vgl. dazu noch einmal EGMR, Entsch. vom 21.10.2004, I. und U. ./. Norwegen, Nr. 75531/01: „In these circumstances, the Court has doubts as to the extent to which there still existed ‚family life‘ in the sense of Article 8 […]. Nevertheless, bearing in mind I. and U.’s declared aspiration to meet their younger sister, the Court will proceed on the assumption that to a degree the impugned measures amounted to an interference with their ‚family life‘ […].“ 146

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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Die Anforderungen an den Nachweis eines Familienlebens werden nach Kommission und Gerichtshof strenger, je weiter sich die familiäre Beziehung vom engen Bereich der sogenannten Kernfamilie entfernt. Im Verhältnis zwischen Eltern und deren minderjährigen Kindern nimmt die Rechtsprechung bereits ab dem Moment der Geburt ipso iure die Existenz einer tatsächlich gelebten, engen Beziehung an, wenngleich das Familienleben durch nachträgliche Umstände im Ausnahmefall wieder entfallen kann. In vergleichbarer Weise schließt die Rechtsprechung regelmäßig von einer rechtmäßigen und echten Ehe auf ein Familienleben der Ehepartner, sofern nicht die besonderen Umstände eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung zweifelhaft erscheinen lassen. Hinsichtlich der weiteren familiären Beziehungen muß die Existenz eines Familienlebens im konkreten Einzelfall nachgewiesen werden. Die Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof scheint dabei einem Subsidiaritätsgedanken zu folgen, wonach die Beziehung zu einem Familienmitglied außerhalb der Kernfamilie im Regelfall kein hinreichend enges Familienleben darstellt, solange die Kernfamilie selbst intakt ist und das entferntere Familienmitglied keine besondere, über das normale Maß hinausgehende Verantwortung im Leben der Kernfamilie übernimmt. Schließlich hat die Rechtsprechung den Begriff des Familienlebens dadurch erweitert, daß auch ein noch nicht vollständig begründetes, wohl aber beabsichtigtes Familienleben zur Eröffnung des Schutzbereichs genügt. Der Gerichtshof hatte diesen Grundsatz ursprünglich in einem Fall entwickelt, in dem ein Ehepaar aus aufenthaltsrechtlichen Gründen noch nicht zusammenleben konnte.149 Annahmen in der Literatur, wonach der Grund für diese Rechtsprechung in dem in der Eheschließung liegenden, besonders förmlichen Versprechen, eine eheliche Gemeinschaft führen zu wollen, liege und der Grundsatz daher auf den Fall der Ehe beschränkt sei,150 bestätigten sich nicht. Inzwischen hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung wie selbstverständlich auch auf das Verhältnis zwischen Eltern und nichtehelichen Kindern151 und auf die Beziehung von Adoptiveltern zu Adoptivkindern152 übertragen. Es ist daher davon auszugehen, daß es sich um einen allgemeinen Rechtsprechungsgrundsatz handelt, der unabhängig von der Personenkonstellation Anwendung findet. Lediglich auf die Familienverhältnisse der dritten Kategorie dürfte eine Übertragung aus praktischen Gründen schwierig sein, da es hier bereits zur Feststellung der familiären Bande selbst einer tatsächlich gelebten Beziehung bedarf. Allein auf dieser Grundlage kann mangels biologischer oder rechtlicher Anhaltspunkte die im konkreten Fall erforderliche soziale Vergleichbarkeit mit einer auf Verwandtschaft beruhenden Familie festgestellt werden.

149 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). 150 Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 196. 151 EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376). 152 EGMR, Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 143, 146).

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

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II. Der Begriff des Privatlebens Der Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens entzieht sich nach Einschätzung des Gerichtshofs einer abschließenden Definition.153 Dies ist jedoch nicht der Ort für eine ausführliche Untersuchung aller unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens relevanten Sachverhaltskonstellationen.154 Die folgende Darstellung muß sich auf die in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht bedeutsamen Aspekte beschränken. Schon die Kommission hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 1976 festgestellt, daß sich der Schutz des Privatlebens nicht im Schutz der Privatsphäre im engen Sinne erschöpft: „For numerous Anglo-Saxon and French authors the right to respect for ‚private life‘ is the right to privacy, the right to live as far as one wishes, protected from publicity […] In the opinion of the Commission however, the right to respect for private life does not end there.“155

Daneben werden nach ständiger Rechtsprechung der Straßburger Organe auch die physische und psychische Integrität der Person einschließlich des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung156 sowie die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung, insbesondere die Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt im allgemeinen geschützt.157 Diese Weite des Schutzbereichs führt in mehrfacher Hinsicht auch zu aufenthaltsrechtlichen Implikationen.

153

EGMR, Urt. vom 16.12.1992, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 251-B (Ziff. 29): „The Court does not consider it possible or necessary to attempt an exhaustive definition of the notion of ‚private life‘“; Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 46): „‚Private life‘ is a broad term not susceptible to exhaustive definition.“ 154 Vgl. ausführlich Breitenmoser, Privatsphäre, passim; Cohen-Jonathan, in: Macdonald / Matscher / Petzold, Protection of Human Rights, S. 405 (406 ff.); Doswald-Beck, HRLJ 1983, 283 (287 ff.); Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 3 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 6 ff.; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 95–337; Loucaides, BYIL 1990, 175 ff.; Lukasser, Menschenrecht, S. 33 ff.; Ovey / White, European Convention, S. 245 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 3 Rn. 3 ff. 155 EKMR, Entsch. vom 18.05.1976, X ./. Island, DR 5, 86 (87). 156 EGMR, Urt. vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 45 (Ziff. 45); Urt. vom 26.10.1988, Norris ./. Irland, Serie A 142 (Ziff. 38); Urt. vom 22.10.1996, Stubbings u. a. ./. Vereinigte Königreich, RJD 1996-IV, 1487 (Ziff. 61); Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 47); Entsch. vom 14.10.2003, Tomic ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17837/03; Entsch. vom 10.11.2005 Paramsothy ./. Niederlande, Nr. 14492/03. 157 EKMR, Entsch. vom 18.05.1976, X ./. Island, DR 5, 86 (87); EGMR, Urt. vom 16.12.1992, Niemietz ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 251-B (Ziff. 29); Urt. vom 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, RJD 2000-II, 201 (Ziff. 65); Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 47); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 102 f.); Entsch. vom 10.11.2005 Paramsothy ./. Niederlande, Nr. 14492/03; Urt. vom 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02 (Ziff. 43).

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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1. Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Integrität Zunächst kann die Abschiebung eines Ausländers einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn durch die Abschiebung als solche oder durch die Lebensumstände im Zielstaat der Abschiebung die physische oder psychische Integrität des Abzuschiebenden beeinträchtigt wird. Aus der Rechtsprechungspraxis sind Fälle bekannt, in denen der Beschwerdeführer eine mangelhafte medizinische Versorgung im Zielstaat geltend machte,158 sich auf dort drohende Racheakte wegen einer früheren Betätigung in einer am Bürgerkrieg beteiligten paramilitärischen Einheit berief159 oder aufgrund einer Rückführung in sein Herkunftsland traumatische Störungen befürchtete.160 In erster Linie werfen diese Konstellationen die Frage nach einer Vereinbarkeit der Abschiebung mit Art. 3 EMRK auf.161 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können allerdings auch hinreichend schwere Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen und damit eine Rechtfertigungsprüfung am Maßstab von Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderlich machen: „Not every act or measure which adversely affects moral or physical integrity will interfere with the right to respect to private life guaranteed by Article 8. However, the Court’s caselaw does not exclude that treatment which does not reach the severity of Article 3 treatment may nonetheless breach Article 8 in its private-life aspect where there are sufficiently adverse effects on physical and moral integrity […].“162

Ob eine Beeinträchtigung die Eingriffsschwelle des Art. 8 EMRK erreicht, hängt von den Umständen jedes Einzelfalls ab. Bislang hat die Rechtsprechung das Vorliegen eines Eingriffs stets verneint.163

2. Persönliche Beziehungen jenseits des Familienlebens Daneben kommt dem Recht auf Achtung des Privatlebens eine Art Auffangfunktion in denjenigen Konstellationen zu, in denen eine enge persönliche Beziehung zwischen Personen auf der Grundlage der Straßburger Rechtsprechung 158 EKMR, Entsch. vom 19.05.1994, Tanko ./. Finnland, Nr. 23634/94; EGMR, Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 7 ff.). 159 EGMR, Entsch. vom 14.10.2003, Tomic ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17837/03. 160 EGMR, Entsch. vom 10.11.2005, Paramsothy ./. Niederlande, Nr. 14492/03. 161 Vgl. dazu ausführlich oben unter A. VI. 162 EGMR, Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 46). 163 EKMR, Entsch. vom 19.05.1994, Tanko ./. Finnland, Nr. 23634/94; EGMR, Urt. vom 06.02.2001, Bensaid ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 303 (Ziff. 48); Entsch. vom 14.10.2003, Tomic ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17837/03; Entsch. vom 10.11.2005, Paramsothy ./. Niederlande, Nr. 14492/03.

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

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nicht als Familie oder zumindest nicht als Familienleben gewertet werden kann.164 Das gilt zum einen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die trotz der modernen Entwicklung im Umgang mit Homosexualität nicht als Familie im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK anerkannt werden. Die Kommission hat bereits in einer ihrer frühen Entscheidungen festgestellt, daß aufenthaltsrechtliche Beeinträchtigungen einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen können. Die hinsichtlich des Familienlebens entwickelten Grundsätze seien entsprechend übertragbar: „Despite the modern evolution of attitudes towards homosexuality, the Commission finds that the applicants’ relationship does not fall within the scope of the right to respect for family life ensured by Article 8. On the other hand, as the Commission and Court have recognised in the case of Dudgeon […] certain restraints on homosexual relationships could create an interference with an individuals’ right to respect for his private life ensured by Article 8. […] The Commission considers that it is helpful to draw a parallel with its jurisprudence in other immigration cases, in which the Commission has frequently held that there is no right to enter or remain in a particular country, guaranteed as such by the Convention. Where, however, a close member of a family is excluded from the country where his family resides, an issue may arise under Article 8.“165

Neben den Fällen gleichgeschlechtlicher Partnerschaft können auch verwandtschaftliche Beziehungen in den Schutzbereich des Privatlebens fallen, wenn zwar ein enges, aber für die Annahme eines Familienlebens nicht hinreichend intensives Verhältnis zwischen den Betroffenen besteht. „The existence or non-existence of ‚family life‘ for the purposes of Article 8 is essentially a question of fact depending upon the real existence in practice of close personal ties […]. However, it has also been the Convention organs’ traditional approach to accept that close relationships short of ‚family life‘ would generally fall within the scope of ‚private life‘ […].“166

Praktische Relevanz kommt diesem Grundsatz in der aufenthaltsrechtlichen Judikatur vor allem im Verhältnis zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern zu, wenn mangels einer über das normale emotionale Maß hinausgehenden Abhängigkeit kein Familienleben angenommen werden kann, gleichwohl aber ein intensives persönliches Verhältnis besteht.167 164

Caroni, Privat- und Familienleben, S. 303; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (434). EKMR, Entsch. vom 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221). Hinsichtlich weiterer Entscheidungen vgl. EKMR, Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89; Entsch. vom 10.02.1990, Z. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16106/90. Vgl. dazu auch oben unter C. I. 1. f). 166 EGMR, Urt. vom 12.10.2005, Znamenskaya ./. Rußland, Nr. 77785/01 (Ziff. 27). Vgl. in diesem Sinne bereits EKMR, Entsch. vom 10.07.1978, X. ./. Schweiz, DR 13, 248 (250); Entsch. vom 01.10.1990, Wakefield ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15817/89. 167 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 97); Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 67); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 63). 165

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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3. Der Schutz integrierter Ausländer Schließlich kann eine Ausweisung aus einem Konventionsstaat auch jenseits familiärer oder familienähnlicher Beziehungen die sonstigen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen des Ausgewiesenen derart beeinträchtigen, daß Kommission und Gerichtshof von einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens ausgehen. Das gilt insbesondere für die sogenannten Einwanderer der zweiten Generation, also Ausländer, die im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates als Kind eingewanderter Ausländer geboren wurden oder zumindest im frühen Kindesalter gemeinsam mit ihren Eltern eingewandert sind.168

a) Einwanderer der zweiten Generation Erste Ansätze zum Schutz sogenannter Einwanderer der zweiten Generation vor Ausweisung finden sich in der Rechtsprechung der frühen 1990er Jahre, in den Fällen Djeroud, Lamguindaz, Moustaquim, Beldjoudi und Nasri. Allen Fällen war gemeinsam, daß die Ausgewiesenen zum Zeitpunkt der Ausweisung bereits erwachsen waren, selbst aber noch keine eigene Familie gegründet hatten. Auf der Grundlage der bislang in ständiger Rechtsprechung angewandten Grundsätze hätten Kommission und Gerichtshof hier bereits den Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Familienlebens für nicht berührt erachten müssen, weil das Verhältnis der Betroffenen zu ihren Eltern wegen Volljährigkeit und mangels einer ausnahmsweise bestehenden, über das normale emotionale Maß hinausgehenden Abhängigkeit voneinander nicht als Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewertet werden konnte. Statt sich jedoch mit dem Einwand der Volljährigkeit zu befassen und gegebenenfalls ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zu prüfen, gingen Kommission und Gerichtshof von einem Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens aus.169 Im Schrifttum wurde daraufhin angenommen, daß das im Verhältnis von Eltern und Kindern grundsätzlich zur Ablehnung eines Familienlebens führende Kriterium der Volljährigkeit in den Fällen der Einwanderer der zweiten Generation keine Anwendung findet.170 168 Vgl. zur Definition EGMR, Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 33); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 31); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 40); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 47). 169 EKMR, Bericht vom 15.03.1990, Djeroud ./. Frankreich, Serie A 191-B, 31 (Ziff. 55); Bericht vom 13.10.1992, Lamguindaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16152/90 (Ziff. 37 ff.); EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 36); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234-A (Ziff. 67); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 34). 170 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 177 f.; Cholewinski, NQHR 1994, 287 (292 ff.); Grant, Protection, S. 276; Zeichen, ZÖR 2002, 413 (428).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Schon eine nähere Untersuchung der jeweiligen Urteilsgründe offenbart jedoch, daß der von der Rechtsprechung gewählte Ansatz zur Einbeziehung von Einwanderern der zweiten Generation in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, also die Erweiterung des Begriffs „Familienleben“, den Kern der Problematik nicht erfaßte. Die Umstände, aufgrund derer Kommission und Gerichtshof letztlich zur Annahme einer Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens gelangten, berührten das Familienleben der Betroffenen nur peripher. Maßgeblich stellte die Rechtsprechung darauf ab, daß das familiäre und soziale Lebensumfeld der Betroffenen seit frühster Kindheit im jeweiligen Aufenthaltsstaat bestand und die Beziehung zum Herkunftsland der Eltern über das rein rechtliche Band der Staatsangehörigkeit nicht hinausging.171 Innerhalb des Gerichtshofs mehrten sich daher bald kritische Stimmen, die die Ausweisung von Einwanderern der zweiten Generation als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens erachteten, um die gesamte Lebenssituation der Betroffenen angemessener würden zu können.172 Insbesondere könne den Konstellationen Rechnung getragen werden, in denen ein Einwanderer der zweiten Generation gar keine Familie mehr habe.173 In der Folge griffen Kommission und Gerichtshof den Gedanken des Privatlebens auf und erachteten die Ausweisung von Einwanderern der zweiten Generation regelmäßig als einen Eingriff in das Familien- und Privatleben der Betroffenen, ohne jedoch im einzelnen zwischen den beiden Schutzbereichen zu differenzieren.174 In den Rechtssachen Üner und Maslov ist diese Rechtsprechung 171

Vgl. exemplarisch EKMR, Bericht vom 15.03.1990, Djeroud ./. Frankreich, Serie A 191-B, 31 (Ziff. 64): „Although legally an alien, the applicant has his family and social ties in France, and the nationality which links him to Algeria, though a legal reality, does not reflect his actual position in human terms.“ In diesem Sinne auch Anderfuhren-Wayne, IJRL 1996, 347 (366). 172 Sondervotum Martens, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234-A (37): „Expulsion severs irrevocably all social ties between the deportee and the community he is living in and I think that the totality of those ties may be said to be part of the concept of private life, within the meaning of Article 8 (art. 8).“; Sondervotum de Meyer, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234-A (35): „Our colleague Mr. Martens was right to wonder whether the case did not concern their right to respect for their private life just as much as their right to respect for their family life.“; Sondervotum Morenilla, in: EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (31): „I nevertheless find the majority’s approach too formalistic […] in so far as it gives to Mr. Nasri’s deportation the legal classification of interference with his family life rather than his private life, a more general concept of which family life is one element.“; Sondervotum Wildhaber, in: EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (32): „Like the applicant himself, our Court, in relying on Article 8 (art. 8), invokes only the right to respect due to his family life. This approach is somewhat artificial, because the element of the respect of his private life is missing. In such cases, it would be more realistic to look at the whole social fabric which is important to the applicant, and the family is only part of the entire context, albeit an essential one.“ 173 Sondervotum Martens, in: EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (613). 174 EKMR, Entsch. vom 04.09.1996, Dhaliwal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27724/95; EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 35); Urt.

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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nun auch durch Entscheidung einer Großen Kammer bestätigt worden. Dies gilt zumindest insoweit, als die Gesamtheit der sozialen Beziehungen eines Einwanderers der zweiten Generation in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens fällt: „It observes in this context that not all such migrants, no matter how long they have been residing in the country from which they are to be expelled, necessarily enjoy ‚family life‘ there within the meaning of Article 8. However, as Article 8 also protects the right to establish and develop relationships with other human beings and the outside world […] and can sometimes embrace aspects of an individual’s social identity […], it must be accepted that the totality of social ties between settled migrants and the community in which they are living constitute part of the concept of ‚private life‘ within the meaning of Article 8. Regardless of the existence or otherwise of a ‚family life‘, therefore, the Court considers that the expulsion of a settled migrant constitutes interference with his or her right to respect for private life.“175

Vorerst unklar bleibt allerdings, ob der Gerichtshof auch künftig an seiner Rechtsprechung festhalten wird, nach der das Verhältnis bereits erwachsener Einwanderer der zweiten Generation zu ihren Eltern ungeachtet der Volljährigkeit als Familienleben gewertet werden kann. So erachtete der Gerichtshof das Volljährigkeitskriterium, auch nachdem er die grundsätzliche Bedeutung des Privatlebens für die Ausweisung von Einwanderern der zweiten Generation entdeckt hatte, zunächst als unbeachtlich. Jedenfalls finden sich in seiner Judikatur einige Urteile und Entscheidungen, in denen er trotz Volljährigkeit des Beschwerdeführers von einem Eingriff auch in das Familienleben ausging.176 Erst in jüngeren Urteilen scheint sich der Gerichtshof wieder auf seine ursprüngliche Rechtsprechung zu besinnen, nach der die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kinder allenfalls aufgrund eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses als Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK gelten kann. In den Rechtssachen Ezzouhdi und Emre ging der Gerichtshof im Rahmen des Schutzbereichs zunächst noch davon aus, daß die Ausweisung des volljährigen Beschwerdeführers einen Eingriff in das Privat- und Familienleben darstelle, verwies dann jedoch – systematisch zweifel29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 27); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36); Entsch. vom 08.12.1998, Benrachid ./. Frankreich, RJD 1999-II, 371 (376); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff 37); Entsch. vom 03.05.2001, Coretti ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 46689/99; Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 23); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 28). 175 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 60); bestätigt durch EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 63). 176 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 35); Urt. 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36); Entsch. vom 08.12.1998, Benrachid ./. Frankreich, RJD 1999-II, 371 (376); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999VIII, 169 (Ziff 37); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 23); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 28).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

haft – im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung auf das für einen Schutz durch das Recht auf Achtung des Familienlebens erforderliche besondere Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eltern und erwachsenen Kindern, das in beiden Fällen nicht dargelegt worden war.177 In den Fällen Sisojeva, Shevanova und Kaftailova verneinte der Gerichtshof ein Familienleben zwischen Eltern und erwachsenen Kindern und prüfte die Beschwerden allein unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens. Allerdings war hier nicht das Aufenthaltsrecht der erwachsenen Kinder, sondern das der Eltern, die selbst nicht als Einwanderer der zweiten Generation angesehen werden konnten, Gegenstand der Beschwerde.178 Auch in drei jüngst entschiedenen Fällen, den gleichnamigen Rechtssachen Kilic und Kilic sowie der Rechtssache Kaya, prüfte der Gerichtshof insoweit allein den Schutzbereich des Privatlebens.179 Diesem Trend scheinbar widersprechend wurde dann jedoch im Fall Maslov wiederum trotz Volljährigkeit auch der Schutzbereich des Familienlebens für berührt erachtet.180 Allerdings handelte es sich um einen Grenzfall, da der Beschwerdeführer das 18. Lebensjahr erst gerade vollendet hatte und noch bei seinen Eltern lebte. Ein sich hier unter Umständen abzeichnender Rechtsprechungswandel ist zu begrüßen. In praktischer Hinsicht besteht für ein ursprünglich aus der Not heraus geborenes erweitertes Verständnis des Familienlebens in den Fällen der Einwanderer der zweiten Generation seit der Anerkennung der Bedeutung des Privatlebens keine Notwendigkeit mehr. Sachlich läßt sich eine Ausnahme vom Volljährigkeitskriterium in diesen Fällen ohnehin nicht rechtfertigen, da die Intensität des Familienlebens zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern von vielen Faktoren, aber nicht zwingend vom Zeitpunkt der Einwanderung abhängig ist. Allenfalls dann, wenn ein volljähriger Einwanderer der zweiten Generation in besonderer Abhängigkeit von seinen Eltern lebt oder inzwischen selbst eine eigene Familie gegründet hat, kann seine Ausweisung auch einen Eingriff in das Familienleben darstellen. Vielleicht kann der Gerichtshof in diesem Sinne verstanden werden, wenn er im Fall Üner betont, daß es von den Umständen des Einzelfalls abhängt, ob die Ausweisung eines Einwanderers der zweiten Generation ungeachtet des Eingriffs in das Privatleben doch unter dem Gesichtspunkt des Familienlebens zu prüfen ist.181

177 Vgl. EGMR, Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff 34); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 80). 178 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 103); Urt. vom 15.06.2006, Sevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 67); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 63). 179 Vgl. EGMR, Entsch. vom 22.01.2007, Kilic ./. Dänemark, Nr. 20730/05; Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 56 ff.); Entsch. vom 22.07.2007, Kilic ./. Dänemark, Nr. 20277/05. 180 Vgl. EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 62). 181 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 60): „It will depend on the circumstances of the particular case whether it is appropriate for the Court to focus on the ‚family life‘ rather than the ‚private life‘ aspect.“

C. Der Schutzbereich des Privat- und Familienlebens

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b) Sonstige fest integrierte Ausländer Die den Grundsatzurteilen in den Rechtssachen Üner und Maslov zugrundeliegenden Sachverhalte betrafen Ausländer, die im frühen Kindesalter gemeinsam mit ihren Eltern eingewandert waren.182 Die übrige Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof zeigt jedoch, daß vielfach auch dann einen Eingriff in das Privatleben angenommen wurde, wenn die ausgewiesenen Ausländer nicht als Einwanderer der zweiten Generation angesehen werden konnten.183 In diesen Fällen lebten die Betroffenen seit vielen Jahren, in der Regel seit deutlich mehr als einem Jahrzehnt im jeweiligen Konventionsstaat.184 Neben den Einwanderern der zweiten Generation schützt das Recht auf Achtung des Privatlebens also auch sonstige, fest integrierte Ausländer. Diese Erweiterung ist schlüssig, schon weil sich die Abgrenzung zwischen Einwanderern der zweiten Generation, zu denen der Gerichtshof eben auch Ausländer zählt, die im frühen Kindesalter eingewandert sind, und anderen integrierten Ausländern im Einzelfall als schwierig erweisen kann. Außerdem ist die Intensität der in einem Konventionsstaat entwickelten persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen nicht zwingend von der Einordnung eines Ausländers als Einwanderer der zweiten Generation abhängig.185 Letztlich wird sich jeder Ausländer, der sich in einem Konventionsstaat aufhält, ein Lebensumfeld schaffen, aus dem er durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme herausgerissen wird. Dies muß richtigerweise stets als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens verstanden werden. Es ist jedoch eine andere Frage, ob das Interesse des Ausländers an der Erhaltung seines Privatlebens die staatlichen Interessen an seiner Ausweisung überwiegen kann. Bei einem bloß kurzen Aufenthalt wird das regelmäßig nicht der Fall sein. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK kommt hier allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Familienlebens in Betracht, so daß Aspekte des Privatlebens von vornherein vernachlässigt werden können. Mit fortschreiten182 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 13); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 11). 183 Vgl. EKMR, Entsch. vom 29.06.1994, Sun ./. Österreich, Nr. 21630/93; Bericht vom 27.06.1995, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1996-V, 1893 (Ziff. 134); EGMR, Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 45); Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Entsch. vom 23.03.1999, Sahintürk ./. Österreich, Nr. 33449/96; Entsch. vom 24.08.1999, Cartagena Olmos ./. Schweden, Nr. 47485/99; Entsch. vom 09.11.1999, Schober ./. Österreich, Nr. 34891/97; Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, Nr. 32365/96; Entsch. vom 04.05.2000, Hussain und C. ./. Norwegen, Nr. 36844/97; Entsch. vom 07.12.2000, Caglar ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 62444/00; Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 36); Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 22); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 6 f., 54). 184 Eine Ausnahme bildet EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96. Der Gerichtshof scheint einen Eingriff in das Privat- und Familienleben allerdings nur unter Vorbehalt zu unterstellen, da er – sofern überhaupt vorhanden – ohnehin gerechtfertigt wäre. 185 Vgl. dazu auch die Ausführungen unten unter E. III. 2. j).

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der Verfestigung des Aufenthalts186 erhält jedoch das Privatleben zunehmende Bedeutung, so daß es sich für den Gerichtshof anbieten kann, neben dem Familienleben des Ausländers auch dessen Privatleben in die Prüfung einzubeziehen. Bei fest integrierten Ausländern ohne nennenswerte familiäre Bindungen wird schließlich das Privatleben den maßgeblichen Anknüpfungspunkt darstellen und das Familienleben in seiner Bedeutung zurücktreten lassen.187

4. Folgerungen Dem Recht auf Achtung des Privatlebens kommt in den hier untersuchten aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten im wesentlichen eine bloß komplementäre Funktion zu. Dies gilt sowohl für Fälle, in denen die Rückführung eines Ausländers in sein Herkunftsland die physische oder psychische Integrität des Betroffenen verletzt, aber nicht die Schwelle zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK überschreitet, als auch für Konstellationen, in denen die persönliche Beziehung eines Ausländers zu anderen Personen, die durch eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme beeinträchtigt wird, nach den anerkannten Grundsätzen nicht als Familie oder Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK gewertet werden kann. Entscheidend ist die Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens jedoch bei der Ausweisung von fest integrierten Ausländern, die sich in einem Konventionsstaat ein persönliches, soziales und wirtschaftliches Lebensumfeld geschaffen haben. Je nach der Intensität zugleich bestehender familiärer Bindungen, kann das Privatleben der Betroffenen hier den maßgeblichen Anknüpfungspunkt für eine Überprüfung nationaler Ausweisungsentscheidungen am Maßstab von Art. 8 EMRK darstellen.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

Der Schutz des Aufenthalts ist nicht unmittelbares Thema von Art. 8 EMRK. Gleichwohl können aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten nach inzwischen ständiger Rechtsprechung zu einer Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens für die Betroffenen führen und insoweit konventionsrechtlichen Beschränkungen unterliegen. Im einzelnen ist hier 186 Die Dauer des Aufenthalts ist dafür allenfalls ein Indiz, begründet als solche aber kein Privatleben, vgl. EGMR, Entsch. vom 26.03.2002, Mir ./. Schweiz, Nr. 51268/99: „Moreover, as the Federal Court confirmed in its judgment of 27 November 1998, the applicant had not up until then shown that he has any particular close ties with Switzerland. Long-term residence cannot of itself constitute in the circumstances of this case ‚private life‘ […].“ 187 In diesem Sinne auch van Dijk, in: Guild / Minderhoud, Security of Residence, S. 23 (29 f.).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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zwischen negativen und positiven Verpflichtungen der Konventionsstaaten zu differenzieren.

I. Die Anerkennung der aufenthaltsrechtlichen Bedeutung Daß Maßnahmen der Konventionsstaaten auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts überhaupt als Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK verstanden werden, mag zunächst erstaunen. Aus völkerrechtlicher Perspektive gehört die Materie zum Kernbereich staatlicher Souveränität. Im Grundsatz liegt es im freien Ermessen der Staaten, über die Gestattung oder Beendigung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet zu entscheiden.1 Eine Beschränkung dieses Rechts läßt sich zumindest ausdrücklich weder aus dem Wortlaut von Art. 8 EMRK, noch aus seiner Entstehungsgeschichte ableiten.2 Gleichwohl wurde die aufenthaltsrechtliche Bedeutung von Art. 8 EMRK – soweit es das Recht auf Achtung des Familienlebens betrifft – schon wenige Jahre nach Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention und zunächst ohne größeren Begründungsaufwand durch die Kommission entdeckt. Die insoweit wohl erste Entscheidung stammt aus dem Januar 1959. Der bereits einleitend geschilderte Fall betraf einen seit seiner Geburt in Belgien lebenden italienischen Staatsangehörigen, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch ein belgisches Kriegsgericht wegen Kollaboration mit den deutschen Besatzern zunächst zum Tode, später aber im Wege eines Gnadenaktes zu Zwangsarbeit verurteilt worden war. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung wurde er umgehend aus Belgien ausgewiesen. Die Kommission nahm seine gegen die Ausweisung gerichtete Beschwerde, die sich maßgeblich darauf stützte, daß er von seiner belgischen Ehefrau und seinem Sohn getrennt werden würde, nicht zur Entscheidung an, da insoweit keinerlei Zweifel an der Vereinbarkeit der Ausweisung mit den Grundrechtsschranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK bestünden.3 Auch wenn ausdrückliche Ausführungen zur Frage einer Grundrechtsbeeinträchtigung fehlen, zeigt die gleichsam vorsorgliche Prüfung der Grundrechtsschranken implizit, daß die Kommission es zumindest nicht für ausgeschlossen hielt, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen eine Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Familienlebens darstellen können. In einer nur wenige Monate später ergangenen Entscheidung nahm die Kommission dann ausdrücklich zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf aufenthaltsrechtliche Fallkonstellationen Stellung. Im konkreten Fall richtete sich die Beschwerde gegen Weigerung der schwedischen Behörden, dem ausländischen Vater eines mittlerweile gemeinsam mit seiner Mutter in Schweden lebenden Kindes eine Einreiseerlaubnis zu erteilen, um dort an einem vor Gericht anhängigen Um1 Hailbronner, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 3. Abschn. Rn. 268 ff.; Herdegen, Völkerrecht, § 27 Rn. 1 ff.; Verdross / Simma, Völkerrecht, § 1210 f. 2 Zur Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK vgl. ausführlich oben unter B. 3 EKMR, Entsch. vom 09.01.1959, X. ./. Belgien, Yearbook II (1958–59), 352 (353).

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gangsrechtsstreit teilzunehmen. Der Beschwerdeführer sah sich sowohl in seinem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK, als auch in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt. Die Kommission, die die Beschwerde letztlich wegen Nichterschöpfung des nationalen Rechtswegs als unzulässig zurückwies, stellte einerseits fest, daß es Staaten nach allgemeinem Völkerrecht grundsätzlich zustehe, als Ausdruck ihrer Souveränität über die Einund Ausreise von Ausländern selbst zu entscheiden und daß ein Recht auf Einreise als solches auch nicht in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthalten sei. Andererseits liege aber in einem Beitritt zur Konvention die Einwilligung eines Staates, seine völkerrechtliche Souveränität – einschließlich des Rechts zur Kontrolle der Ein- und Ausreise von Ausländern – gemäß der konventionsrechtlichen Verpflichtungen zu beschränken: „Whereas under general international law a State has the right, in virtue of its sovereignty, to control the entry and exit of foreigners into and out of its territory; and whereas it is true that a right or freedom to enter the territory of States, Members of the Council of Europe, is not, as such, included in Section I of the Convention; whereas, however, a State which signs and ratifies the European Convention of Human Rights and Fundamental Freedoms must be understood as agreeing to restrict the free exercise of its rights under general international law, including its right to control the entry and exit of foreigners, to the extent and within the limits of the obligations which it has accepted under that Convention; […].“4

In den nachfolgenden Entscheidungen überprüfte die Kommission unter Verweis auf diesen Grundsatz aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten gegenüber Ausländern regelmäßig auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK, wenn die Familieneinheit der Betroffenen durch eine zwangsweise Beendigung des Aufenthalts oder die Verweigerung eines Nachzugsrechts für noch im Ausland lebende Familienangehörige beeinträchtigt wurde.5 Der Gerichtshof konnte damit auf eine bereits gefestigte Kommissionsrechtsprechung zurückgreifen, als er sich im Jahre 1985 in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali erstmals mit der aufenthaltsrechtlichen Bedeutung von Art. 8 EMRK befaßte. Die Regierung des Vereinigten Königsreichs hatte hier die bisherige Rechtsprechungslinie der Kommission insbesondere mit Hinweis auf die 4

EKMR, Entsch. vom 30.06.1959, X. ./. Schweden, Yearbook II (1958–1959), 354 (373). Vgl. EKMR, Entsch. vom 13.04.1961, X. ./. Belgien, CD 6, 5 ff.; Entsch. vom 24.04.1965, X. ./. Dänemark, CD 16, 50 ff.; Entsch. vom 16.07.1965, X ./. Bundesrepublik Deutschland, CD 17, 28 ff.; Entsch. vom 15.07.1967, Alam und Khan; Singh ./. Vereinigtes Königreich, CD 24, 166 ff.; Entsch. vom 10.10.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians I“), CD 36, 92 ff.; Entsch. vom 18.12.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians II“), CD 36, 127 ff.; Entsch. vom 08.02.1972, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, CD 39, 104 ff; Bericht vom 14.12.1973, East African Asians ./. Vereinigtes Königreich, DR 78-B, 5 ff; Entsch. vom 08.10.1974, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 1, 7 ff.; Entsch. vom 12.07.1976, X. ./. Schweiz, DR 6, 124 ff.; Entsch. vom 19.05.1977, X. und Y. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 9, 219 ff.; Entsch. vom 05.05.1981, X. ./. Dänemark, DR 24, 239 ff.; Entsch. vom 06.05.1981, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 24, 98 ff.; vgl. dazu auch Villiger, in: FS-Wiarda, S. 657 (657). 5

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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aufenthaltsrechtlichen Vorschriften des inzwischen in Kraft getretenen 4. Zusatzprotokolls zu erschüttern versucht. Die Materie des Aufenthaltsrechts sei dort abschließend geregelt und könne mithin nicht Gegenstand der Konvention im allgemeinen und von Art. 8 EMRK im besonderen sein. Der Gerichtshof folgte diesem Argument nicht: „Above all, the Court recalls that the Convention and its Protocols must be read as a whole; consequently a matter dealt with mainly by one of their provisions may also, in some of its aspects, be subject to other provisions thereof […]. Thus, although some aspects of the right to enter a country are governed by Protocol No. 4 as regards States bound by that instrument, it is not to be excluded that measures taken in the field of immigration may affect the right to respect for family life under Article 8 (art. 8). The Court accordingly agrees on this point with the Commission.“6

Nur weil also das 4. Zusatzprotokoll den Aufenthalt von Ausländern hinsichtlich bestimmter Aspekte schütze, sei nicht ausgeschlossen, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt des Familienlebens auch eine Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK darstellen könnten. In der Sache schloß sich der Gerichtshof damit der vorausgegangenen Rechtsprechung der Kommission an. Innerhalb des Gerichtshofs vereinzelt zu vernehmende kritische Stimmen, die in der Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf aufenthaltsrechtliche Streitigkeiten eine zu weitgehende Beschränkung der Konventionsstaaten erblickten, konnten diese Rechtsauffassung nachträglich nicht mehr ernsthaft in Frage stellen.7 Vielmehr hielt der Gerichtshof, ohne sich erneut auf grundsätzliche Weise mit der Problematik zu befassen, daran fest, aufenthaltsrechtliche Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Recht auf Achtung des Familielebens zu überprüfen. Eine Erweiterung erfuhr die Rechtsprechung schließlich dadurch, daß Kommission und Gerichtshof seit Mitte der 1990er Jahre bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber in einem Konventionsstaat fest integrierten Ausländern auch eine Be6 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 60). 7 Vgl. Sondervotum Richter Pettiti, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234, 32 f.: „The Convention does not limit the sovereign right of States to decide to deport from their territory aliens who have committed crimes. The right of an alien to reside on the territory of a High Contracting Party is not guaranteed as such by the Convention. Similarly, the right of asylum and the right not to be deported do not appear as such in the series of rights and freedoms guaranteed by the Convention […] Only in exceptional circumstances can expulsion mean a violation of the Convention. […] The only possible general defence should be a reference to Article 3, otherwise a long period of residence would suffice for reliance on Article 8. A great many deportations of aliens from Europe would be affected.“ Ebenso Sondervotum Richter Valticos, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234, 36: „One may well wonder, however, whether it [Anm. des Verf.: Art. 8 EMRK] was designed to prohibit the deportation of aliens married to citizens of the host country. Such an interpretation might open the way to many abuses. In any event, it does not seem to me to be possible to use Article 8 of the Convention to restrict the right of States to take deportation measures, where they have valid reasons for deciding on them in defence of public safety, and where their effect on family life is only an indirect consequence.“

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

einträchtigung des durch Art. 8 EMRK gleichermaßen geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens in Betracht zogen.8

II. Das Recht auf Achtung: Negative und positive Verpflichtungen Hinsichtlich der Art der Beeinträchtigung ist im Rahmen von Art. 8 EMRK zwischen sogenannten negativen und positiven Verpflichtungen zu unterscheiden. Grundsätzlich gilt, daß Art. 8 EMRK trotz seines im Kreis der übrigen Konventionsrechte auffälligen Wortlauts („Recht auf Achtung“) in erster Linie kein Leistungsrecht, sondern wie die anderen Freiheitsrechte der Konvention auch ein Abwehrrecht im rechtsstaatlich-liberalen Sinne darstellt. Dies geht nicht nur aus der Entstehungsgeschichte der Norm unzweifelhaft hervor,9 auch der Gerichtshof betont, daß Art. 8 EMRK seiner Funktion nach primär zur Abwehr willkürlicher Eingriffe des Staates in das Familienleben bestimmt ist: „[…] its object is essentially that of protecting the individual against arbitrary interference by the public authorities in his private family life.“10

Gleichwohl ist seit dem Marckx-Urteil des Gerichtshofs anerkannt, daß ein effektives Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens die Konventionsstaaten in gewissem Umfang auch dazu verpflichten kann, Maßnahmen zum Schutz des Familienlebens zu ergreifen. Die negative Verpflichtung der Konventionsstaaten, Eingriffe zu unterlassen, wird also durch positive Verpflichtungen ergänzt: „Nevertheless it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking, there may be positive obligations inherent in an effective ‚respect‘ for family life.“11

Auch hinsichtlich von Grundrechtsbeeinträchtigungen durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen ist diese Differenzierung von Relevanz.

8 Vgl. EKMR, Entsch. vom 04.09.1996, Dhaliwal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27724/95; EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 35); Urt. 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 27); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36); Entsch. vom 08.12.1998, Benrachid ./. Frankreich, RJD 1999-II, 371 (376); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff 37); siehe zum ganzen ausführlich oben unter C. II. 3. 9 Vgl. dazu ausführlich oben unter B., insbesondere unter II. 2. 10 EGMR, Urt. vom 23.07.1968, Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ ./. Belgien („Belgian Linguistic“), Serie A 6 (Ziff. 7). 11 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Serie A 31 (Ziff. 31).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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1. Das Recht auf Achtung als Abwehrrecht a) Grundsätzliches In seiner Funktion als Abwehrrecht ist Art. 8 EMRK – jedenfalls im Kern12 – stets dann betroffen, wenn ein Ausländer durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gezwungen wird, das Land zu verlassen und dadurch sein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Privat- oder Familienleben beeinträchtigt wird. In der aufenthaltsrechtlich bedingten Trennung der Familienmitglieder bzw., soweit es das Recht auf Achtung des Privatlebens betrifft, in der Trennung eines fest integrierten Ausländers von seinem persönlichen Lebensumfeld, liegt hier ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dies war im Grundsatz bereits in der Rechtsprechung der Kommission anerkannt, die aufenthaltsbeendende Maßnahmen schon früh am Maßstab der Grundrechtsschranken des Abs. 2 maß, ohne freilich zunächst einen Eingriff, geschweige denn eine Verletzung von Art. 8 EMRK festzustellen.13 Der Gerichtshof befaßte sich erstmals im Jahre 1988 in der Rechtssache Berrehab mit der Bedeutung von Art. 8 EMRK für die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Der Fall betraf einen marokkanischen Staatsangehörigen, der aufgrund seiner Ehe mit einer Niederländerin eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande erhalten hatte. Nach Scheidung der Ehe verweigerten die zuständigen Behörden eine Verlängerung der Genehmigung und schoben den Beschwerdeführer in sein Herkunftsland ab. Dieser sah sich dadurch in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt, da er an der Ausübung seines Umgangsrechts mit seiner aus der Ehe hervorgegangen Tochter gehindert werde. Der Gerichtshof erblickte im Verhalten der niederländischen Behörden einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK, der vor dem Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu bestehen habe.14

b) Präzisierungen Daß Art. 8 EMRK unmittelbar allein das Privat- und Familienleben schützt, ein Recht auf Aufenthalt also allenfalls mittelbar und nur insoweit gewährt, wie dies zur Verwirklichung des Privat- und Familienlebens erforderlich ist, führt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einigen Besonderheiten, die bei der Prüfung eines Eingriffs durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu berücksichtigen sind.

12

Hinsichtlich einer präzisen Abgrenzung siehe sogleich unter D. III. 1. Vgl. EKMR, Entsch. vom 09.01.1959, X. ./. Belgien, Yearbook II (1958–59), 352 (353); Entsch. vom 13.04.1961, X. ./. Belgien, CD 6, 5 (15); Entsch. vom 24.04.1965, X. ./. Dänemark, CD 16, 50 (52); Entsch. vom 16.07.1965, X ./. Bundesrepublik Deutschland, CD 17, 28 (30); siehe dazu auch Villiger, in: FS-Wiarda, S. 657 (657). 14 EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 23). 13

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Zu diesen Besonderheiten gehört zunächst, daß der Gerichtshof im Entzug eines Aufenthaltsrechts solange keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens sieht, wie es im Anschluß nicht zu einer Vollstreckung der bestehenden Ausreisepflicht kommt, der Ausländer also im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates verbleibt. In diesem Fall wird weder die Familieneinheit des Betroffenen beeinträchtigt, noch wird ein fest integrierter Ausländer von seinem persönlichen Lebensumfeld getrennt. So hat der Gerichtshof etwa trotz Erlaß einer Ausweisungsverfügung oder eines Aufenthaltsverbots einen Eingriff in Art. 8 EMRK verneint, wenn die Ausreisepflicht aufgrund einer Befristung der Maßnahmen nicht länger vollstreckt werden konnte,15 eine Abschiebung in das Herkunftsland des Ausländers nach nationalem Recht wegen eines dort ausgebrochenen Bürgerkrieges16 oder wegen Staatenlosigkeit17 bzw. unbekannter Staatsangehörigkeit18 des Betroffenen unmöglich war oder wenn die Abschiebung förmlich ausgesetzt19 oder eine neue Aufenthaltserlaubnis angeboten wurde.20 Auch die Rücknahme einer bereits erteilten oder die Verweigerung einer neuen Aufenthaltsgenehmigung stellt solange keinen Eingriff dar, wie der betreffende Konventionsstaat nichts unternimmt, um den Aufenthalt des Ausländers tatsächlich zu beenden.21 Eine gleichwohl gegen den Entzug des Aufenthaltsrechts gerichtete Beschwerde ist als unzulässig abzuweisen, da der Beschwerdeführer nicht behaupten kann, Opfer einer Verletzung einer Konventionsverletzung im Sinne von Art. 34 EMRK zu sein.22 Der Gerichtshof differenziert insoweit teils ausdrücklich zwischen der förmlichen Entscheidung über eine Aufenthaltsbeendigung und der tatsächlichen Aufenthaltsbeendigung. Dies zeigt bereits die Rechtssache Beldjoudi. Der Fall betraf einen algerischen Einwanderer, der schon in zweiter Generation in 15 EKMR, Entsch. vom 03.05.1993, Zikic ./. Österreich, Nr. 14620/89; EGMR, Entsch. vom 18.01.2000, Köse ./. Österreich, Nr. 30964/96; Entsch. vom 05.03.2002, Bari ./. Schweden, Nr. 56726/00; Urt. vom 07.12.2007, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 46); Urt. vom 07.12.2007, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 49). 16 EKMR, Entsch. vom 31.03.1993, S. T. ./. Niederlande, Nr. 16631/90. 17 EGMR, Entsch. vom 22.05.2001, Okonkwo ./. Österreich, Nr. 35117/97. 18 EKMR, Entsch. vom 20.02.1995, Ünver und Issa ./. Schweden, Nr. 23662/94. 19 EGMR, Entsch. vom 13.10.2005, Yildiz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 40932/02. 20 EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 91 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 46 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 49 ff.). 21 EKMR, Entsch. vom 28.06.1995, Jankovic ./. Österreich, Nr. 25777/94; Entsch. vom 16.01.1996, Özdemir ./. Österreich, Nr. 27646/95. 22 EKMR, Entsch. vom 28.06.1995, Jankovic ./. Österreich, Nr. 25777/94; Entsch. vom 16.01.1996, Özdemir ./. Österreich, Nr. 27646/95; EGMR, Entsch. vom 22.05.2001, Okonkwo ./. Österreich, Nr. 35117/97; Entsch. vom 13.10.2005, Yildiz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 40932/02; besonders deutlich nun EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 93): „the Court has consistently held that an applicant cannot claim to be the ‚victim‘ of a deportation measure if the measure is not enforceable […]. It has adopted the same stance in cases where execution of the deportation order has been stayed indefinitely or otherwise deprived of legal effect and where any decision by the authorities to proceed with deportation can be appealed against before the relevant courts […].“

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Frankreich lebte, aber nach Begehung zahlreicher Straftaten durch das französische Innenministerium ausgewiesen wurde. Auf Empfehlung des Kommissionspräsidenten hatte die französische Regierung bis zu einer endgültigen Entscheidung durch die Straßburger Instanzen von einer Vollstreckung der Ausweisung vorläufig abgesehen. In seinem Urteil sah der Gerichtshof nicht in der Ausweisungsentscheidung selbst, sondern in deren bevorstehender Vollstreckung einen (drohenden) Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK.23 Auch im Fall Maslov hat der Gerichtshof nun besonders pointiert darauf hingewiesen, daß er nicht etwa über die Konventionskonformität einer Ausweiungsverfügung, sondern über die Konventionskonformität der tatsächlichen Aufenthaltsbeendigung zu entscheiden habe.24 Kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens liegt auch dann vor, wenn sich die aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht nur gegen ein einzelnes Familienmitglied, sondern gegen die Familie insgesamt richtet. Diesen Grundsatz hat die Kommission bereits in einer ihrer frühen Entscheidungen entwickelt. Der Fall betraf einen in Belgien lebenden ungarischen Journalisten, der von den belgischen Sicherheitsbehörden wegen vermeintlicher Agententätigkeit verhaftet und später unter der Auflage aus der Haft entlassen worden, das Land unverzüglich mit Ehefrau und Sohn zu verlassen. Die Kommission sah in diesem Vorgehen keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, da die Familieneinheit des Beschwerdeführers aufgrund der gemeinsamen Ausweisung mit Ehefrau und Sohn nicht beeinträchtigt worden war.25 Seit dem verneint die Rechtsprechung bei gemeinsamer Ausweisung aller Familienmitglieder regelmäßig einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK.26 Vom Gedanken der Familieneinheit aus erweist sich diese Argumentation als konsequent, auch wenn sie in der Folge eine Benachteiligung rein ausländischer Familien bedeutet, da eigene Staatsangehörige gemäß Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls grundsätzlich nicht ausgewiesen werden dürfen und die Aus23 EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 67): „The Court merely notes, in agreement with the Commission, that enforcement of the deportation order would constitute an interference by a public authority with the exercise of the applicants’ right to respect for their family life […]“. In demselben Sinne EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 34); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 5, 44); ähnlich auch Urt. vom 06.12.2007, Liu und Liu ./. Rußland, Nr. 42086/05 (Ziff. 51). 24 EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 93): „In this connection the Court would point out that its task is to assess the compatibility with the Convention of the applicant’s actual expulsion, not that of the final expulsion order.“ 25 EKMR, Entsch. vom 13.04.1961, X. ./. Belgien, CD 6, 5 (15). 26 EKMR, Entsch. vom 16.10.1986, P. ./. Schweden. Nr. 12440/86; Entsch. vom 07.05.1993, M. B. und F. B. ./. Schweiz, Nr. 20301/92; Entsch. vom 11.05.1994, B. H., T. H., R. H. und R. H. ./. Schweiz, Nr. 23810/94; Entsch. vom 02.09.1994, Daferofski ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 22178/93; Entsch. vom 06.09.1994, Singh ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22471/93; Entsch. vom 21.05.1996, M. K. A. u. a. ./. Schweden, Nr. 27056/95; Entsch. vom 10.09.1997, M. K. und L. K.-K. ./. Schweiz, Nr. 36774/97; Entsch. vom 18.05.1998, Korkis u. a. ./. Schweden, Nr. 35557/97; EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 97); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 103).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

weisung ausländischer Angehöriger demnach stets eine Trennung der Familienmitglieder und damit einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt. Unerheblich ist im übrigen, wenn sich einzelne Familienmitglieder der von der Ausländerbehörde intendierten gemeinsamen Abschiebung durch Untertauchen entziehen und es in der Folge zu einer getrennten Abschiebung der Familienmitglieder kommt. Die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Familieneinheit rechnen Kommission und Gerichtshof nicht dem abschiebenden Konventionsstaat, sondern den untergetauchten Familienmitgliedern zu.27 Sofern die Betroffenen als fest integrierte Ausländer auch eine Beeinträchtigung ihres Privatlebens geltend machen können, müßte richtigerweise aber auch bei rein ausländischen Familien trotz gemeinsamer Ausweisung aller Familienangehörigen insoweit von einem Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK ausgegangen werden. Schließlich ergibt sich aus der Konstruktion eines bloß mittelbaren, aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familielebens abgeleiteten Aufenthaltsrechts eine nicht unerhebliche Erweiterung des Kreises der betroffenen Grundrechtsträger. Dies gilt jedenfalls, soweit es das Recht auf Achtung des Familienlebens betrifft. Vom Schutzgut der Familieneinheit aus gedacht greifen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nämlich nicht nur in die Rechte des jeweiligen Adressaten einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein, sondern auch in die der übrigen Familienmitglieder, die durch die Trennung gleichermaßen betroffen sind. Auch wenn in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs zumeist der Ausgewiesene selbst eine Verletzung von Art. 8 EMRK rügte,28 finden sich daher zahlreiche Urteile und Entscheidungen, in denen der Gerichtshof in der Ausweisung eines Familienmitglieds auch einen Eingriff in das Recht der Angehörigen auf Achtung ihres Familienlebens festgestellt hat.29 Inwieweit sich diese Überlegungen, die maßgeb27 EGMR, Urt. vom 20.03.1991, Cruz Varas ./. Schweden, Serie A 121 (Ziff. 32); EKMR, Entsch. vom 19.05.1994, Dreshaj ./. Finnland, Nr. 23159/94. 28 Vgl. allein die Urteile des Gerichtshofs: EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 36); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 34); Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 35); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 36); Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 27); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./ Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 37); Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 62); Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 26); Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 40); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 27); Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 22); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 25); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 23); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 28); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 38); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 53); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 76). 29 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 1, 23); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 67); Entsch. vom 09.11.1999,

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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lich darauf beruhen, daß der Schutz des Familielebens in erster Linie der Familie als Gemeinschaft gilt, auch auf Beeinträchtigungen des Privatlebens übertragen lassen, kann bislang nicht abschließend beantwortet werden. Grundsätzlich ist der Schutz des Privatlebens nicht nur auf die Privatsphäre im engeren Sinne gerichtet, sondern auch auf die Beziehung zu anderen Menschen.30 Insoweit läßt sich der Garantie ein gewisser Gemeinschaftsbezug nicht absprechen. In der Rechtsprechung finden sich Anhaltspunkte dafür, daß in aufenthaltsbeendenden Maßnahmen jedenfalls dann eine Beeinträchtigung des Privatlebens Dritter gesehen werden kann, wenn das Verhältnis zwischen Ausgewiesenem und Drittem einer familiären Beziehung ähnelt, aber nicht in den Schutzbereich des Familienlebens fällt. Dies gilt namentlich für gleichgeschlechtliche Partnerschaften31 oder bereits volljährige Familienangehörige.32 Gegenüber weiteren Personen, zu denen ein ausgewiesener Ausländer „auf irgendeine Art“ Kontakt hat, dürfte ein Eingriff jedoch, um eine uferlose Geltung des Grundrechts zu vermeiden, nicht angenommen werden können. Soweit das Recht auf Achtung des Privatlebens die sonstigen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Bindungen eines fest integrierten Ausländers schützt, wird der Schutz hier vielmehr diesen Bindungen als Gesamtheit gelten.

c) Das Problem mittelbar-faktischer Eingriffe Als wenig aussagekräftig erweist sich die Straßburger Rechtsprechung hinsichtlich der Behandlung ausweisungsbedingter, mittelbar-faktischer Eingriffe in das Familienleben. Dabei ist nicht die Beeinträchtigung der Familienangehörigen des Ausgewiesenen gemeint, da diese wie soeben gezeigt in ihrem Familienleben schon unmittelbar betroffen sind.33 Gedacht ist vielmehr an Konstellationen, in denen sich Angehörige aufgrund ihrer engen Bindung an den Ausgewiesenen dazu Schober ./. Österreich, Nr. 34891/97; Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, Nr. 32365/96; Entsch. vom 04.05.2000, Hussain und C. ./. Norwegen, Nr. 36844/97; Entsch. vom 26.09.2000, Singh u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 30024/96; Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 115); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 36); Entsch. vom 08.03.2005, Hussein Mossi u. a. ./. Schweden, Nr. 15017/03; Entsch. vom 01.05.2005, Prince Charles und Akeem Headley ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39642/03; Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 40); Urt. vom 06.12.2007, Liu und Liu ./. Rußland, Nr. 42086/05 (Ziff. 51); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 54); Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 37). 30 Vgl. dazu ausführlich oben unter C. II. 2./3. 31 So jedenfalls im Grundsatz die Rechtsprechung der Kommission in EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221 ff.); Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89. 32 In diesem Sinne wohl EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 97); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 103). 33 Das verkennt Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 48.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

veranlaßt sehen, ebenfalls das Land zu verlassen und erst durch ihre – streng genommen freiwillige – Ausreise weitere familiäre Beziehungen beeinträchtigt werden. Für die Kommission stellte sich diese Problematik erstmals in der Rechtssache Maikoe und Baboelal. Die Beschwerdeführerinnen, Mutter und Tochter, richteten sich mit ihrer Beschwerde gegen die Ausweisung der Mutter aus den Niederlanden. Da die Kommission den Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens für das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter unter anderem deswegen als verhältnismäßig erachtete, weil der Tochter aufgrund ihres Alters eine gemeinsame Ausreise mit der Mutter zuzumuten sei, machte die Tochter ergänzend eine Beeinträchtigung ihres Familienlebens mit ihrem ebenfalls in den Niederlanden lebenden leiblichen Vater geltend, der nach Scheidung der Ehe den Kontakt zu seiner Tochter nicht hatte abreißen lassen. Die Kommission stellte einerseits klar, daß eine eventuelle Trennung von Vater und Tochter auf einer freiwilligen Ausreiseentscheidung der Tochter bzw. in diesem Fall der sorgeberechtigten Mutter beruhe und nicht dem Staat zugerechnet werden könne. Andererseits werde das Familienleben zwischen Vater und Tochter faktisch sehr wohl durch die Ausweisung der Mutter beeinträchtigt, da eine gemeinsame Ausreise von Mutter und Tochter wahrscheinlich sei. Im Ergebnis enthielt sich die Kommission einer Bewertung, da ein Eingriff, sollte dieser tatsächlich vorliegen, ohnehin nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt wäre.34 Ein ähnliches Problem stellte sich in der Sache Poku, die die Ausweisung einer Staatsangehörigen von Ghana aus dem Vereinigten Königreich betraf. Neben der Ausgewiesenen und ihrer Familie hatten auch ihr früherer Ehemann und der bei seiner Mutter lebende gemeinsame Sohn aus erster Ehe, sowie die ebenfalls aus erster Ehe stammende, aber bei ihrer Mutter lebende Tochter des gegenwärtigen Ehemanns eine auf Art. 8 EMRK gestützte Beschwerde erhoben. Sie sahen sich durch die geplante gemeinsame Ausreise der Familie in ihrem jeweiligen Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt: der frühere Ehemann, weil sein Sohn aus erster Ehe der Mutter nach Ghana folgen würde, die Tochter des gegenwärtigen Ehemanns wegen der bevorstehenden Trennung von ihrem leiblichen Vater. Die Kommission bemerkte, daß die Beeinträchtigung des Familienlebens in diesen Fällen primär auf einer Entscheidung der jeweiligen Familienmitglieder beruhe, die ausgewiesene Beschwerdeführerin in ihr Herkunftsland zu begleiten. Allerdings behandelte die Kommission den gesamten Fall aufgrund besonderer Umstände nicht als Eingriffskonstellation, sondern als Fall einer positiven Verpflichtung. Ob die an sich freiwillige Ausreiseentscheidung der Angehörigen die Annahme eines staatlichen Eingriffs in das Familienleben Dritter ausschließt, läßt sich dieser Entscheidung daher nicht entnehmen. Jedoch floß der Aspekt der freiwilligen Ausreise in die bei einer positiven Verpflichtung vorzunehmende Gesamtabwägung ein, was nahelegt, daß die Kommission eine Verletzung von Art. 8 34

EKMR, Entsch. vom 30.11.1994, Maikoe und Baboelal ./. Niederlande, Nr. 22791/93.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Abs. 1 EMRK in den Fällen bloß mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen nicht von vornherein ausschließt.35 Sinngemäß läßt sich diese Schlußfolgerung auch aus der Rechtssache McKenzie ziehen, in dem wegen der besonderen Umstände des Sachverhalts ebenfalls die Verletzung einer positiven Verpflichtung geprüft wurde. Die Beschwerdeführerin hatte vor der Kommission geltend gemacht, daß ihre Ausweisung aus dem Vereinigten Königreich nicht nur die zu ihrer Tochter bestehende Beziehung beeinträchtige, sondern aufgrund der geplanten gemeinsamen Ausreise auch deren Verhältnis zum leiblichen Vater, der nach wie vor Kontakt zu seiner Tochter habe, aber im Vereinigten Königreich wohnhaft bleiben werde. Die Kommission stellte in ihrer Entscheidung fest, daß die Trennung von Vater und Tochter primär auf einer Entscheidung der Eltern beruhe und nicht auf der Ausweisung der Mutter. Außerdem sei dem Vater stets bewußt gewesen, daß sich die Beschwerdeführerin illegal im Vereinigten Königreich aufgehalten habe und dies negative Folgen für eine Beziehung zu gemeinsamen Kindern haben könne. Die Entscheidung der Eltern wird also auch hier lediglich als einer von mehreren Aspekten der Verhältnismäßigkeitsprüfung behandelt.36 Der Gerichtshof hat sich bislang – soweit ersichtlich – nicht mit der Problematik mittelbar-faktischer Eingriffe durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen befassen müssen. Daß bereits die Kommission mittelbare Eingriffe zumindest nicht prinzipiell abzulehnen scheint, könnte dafür sprechen, daß der Gerichtshof einen weiten, auch mittelbar-faktische Beeinträchtigungen umfassenden Eingriffsbegriff wählen wird. Dem ist entgegen vereinzelten Stimmen im Schrifttum zuzustimmen.37 Zwar beruht die Beeinträchtigung des Familienlebens in diesen Fällen nicht primär auf einem staatlichen Akt, sondern formal betrachtet auf einer freiwilligen Ausreiseentscheidungen der übrigen Familienmitglieder. Tatsächlich dürften sich diese jedoch vielfach in einer Zwangssituation befinden, in der sie sich zwischen mehreren Angehörigen zu entscheiden haben. Außerdem würde eine Beschränkung auf unmittelbare Eingriffe zu einem erheblichen Wertungswiderspruch in der Rechtsprechung führen. Der Gerichtshof kann nicht einerseits die Möglichkeit einer gemeinsamen Ausreise aller Familienmitglieder heranziehen, um die Verhältnismäßigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zu begründen, andererseits aber die Verantwortung der Konventionsstaaten dafür ausschließen, daß Familienangehörige gerade von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und es in der Folge zu einer Beeinträchtigung weiterer familiärer Beziehungen kommt. Mit einer ausufernden Judikatur dürfte im übrigen trotz Anerkennung mittelbar-faktischer Eingriffe nicht zu rechnen sein. So zeigen die bislang von der Kommission behandelten Fälle, daß die mittelbar beeinträchtigten Familienbeziehungen in der Regel nur 35

EKMR, Entsch. vom 15.05.1996, Poku u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26985/95. EKMR, Entsch. vom 09.04.1997, McKenzie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26285/95. 37 Ablehnend etwa Villiger, Europäische Menschenrechtskonvention, Rn. 542; wie hier Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 22. 36

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

schwach ausgeprägt sein werden und eine Rechtfertigung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK daher in vielen Fällen nicht allzu schwerfallen wird.

2. Das Recht auf Achtung als positive Verpflichtung a) Grundsätzliches In aufenthaltsrechtlicher Hinsicht sind die aus Art. 8 EMRK folgenden positiven Verpflichtungen im Kern in denjenigen Fällen von Relevanz, in denen sich ausländische Familienmitglieder um ein Nachzugsrecht zu ihren im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates lebenden Angehörigen bemühen. Nach der Rechtsprechung ist hier zu prüfen, ob die Konventionsstaaten aufgrund von Art. 8 EMRK verpflichtet sind, den Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung in ihrem Hoheitsgebiet zu gestatten. Sinngemäß gilt dies für das Recht auf Achtung des Privatlebens zumindest bezüglich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die nach gegenwärtiger Rechtsprechung per definitionem nicht in den Schutzbereich des Familienlebens fallen.38 Die Kommission hat die Bedeutung von Art. 8 EMRK für den Familiennachzug bereits in ihren frühen Entscheidungen anerkannt, ohne allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits zwischen negativen und positiven Verpflichtungen zu unterscheiden.39 Besondere Beachtung fand der Fall der sogenannten East African Asians, ursprünglich aus Indien stammender britischer Staatsangehöriger, die in die britischen Kolonien Ostafrikas ausgewandert waren, sich jedoch nach deren Unabhängigkeit durch die dortige Afrikanisierungspolitik veranlaßt sahen, das Land wieder zu verlassen. Die britische Regierung reagierte auf die in der Folge dramatisch ansteigende Zahl der Einwanderer in das Vereinigte Königreich mit einer Verschärfung der Einreisebestimmungen für britische Staatsangehörige aus den ehemaligen Kolonien. In diesem Zusammenhang befaßte sich die Kommission mit den Beschwerden einer Gruppe von Ehemännern, die sich erfolglos um ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich bemüht hatten, obwohl ihre Ehefrauen bereits eine entsprechende Niederlassungserlaubnis besaßen.40 In ihrem abschließenden Bericht gelangte die Kommission zu der Feststellung, daß das Vorgehen der britischen Behörden die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens in Verbindung mit Art. 14 EMRK verletzte.41 38 So jedenfalls EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221). 39 Vgl. als wohl erste Entscheidung EKMR, Entsch. vom 15.07.1967, Alam und Khan; Singh ./. Vereinigtes Königreich, CD 24, 166 ff. 40 EKMR, Entsch. vom 10.10.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians I“), CD 36, 92 ff.; Entsch. vom 18.12.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians II“), CD 36, 127 ff; vgl. dazu Davy, JRP 1996, 250 (252). 41 EKMR, Bericht vom 14.12.1973, East African Asians ./. Vereinigtes Königreich, DR 78-B, 5 (Ziff. 233).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Erst der Gerichtshof führte die Differenzierung zwischen Art. 8 EMRK als Abwehrrecht und als Grundlage einer positiven Verpflichtung in die aufenthaltsrechtliche Judikatur ein. Die maßgebliche Leitentscheidung stellt das Urteil in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali dar. Der Gerichtshof sah in der Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung für die Ehemänner der Beschwerdeführerinnen keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Statt dessen wies er in Übertragung der in den Fällen Belgian Linguistic und Marckx entwickelten Rechtsprechung darauf hin, daß Art. 8 EMRK nicht nur ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe darstelle, sondern auch positive Verpflichtungen der Konventionsstaaten beinhalte.42 Auch wenn der Gerichtshof im konkreten Fall durch die Versagung des Ehegattennachzugs keine Verletzung einer positiven Verpflichtung aus Art. 8 EMRK feststellen konnte, legte er mit seinem Urteil doch den Grundstein für eine bis heute aktuelle Rechtsprechungspraxis, nach der staatliches Tun von staatlichem Unterlassen zu unterscheiden ist und nur im ersten Fall ein Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK angenommen wird, während sonst allenfalls die Verletzung einer positiven Verpflichtung in Betracht kommt.43

b) Konsequenz für das Prüfungsprogramm Die Unterscheidung von negativen und positiven Verpflichtungen kommt auch in einem divergierenden Prüfungsprogramm zum Ausdruck. Stellt die Rechtsprechung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens fest, folgt als nächster Prüfungsschritt die Vereinbarkeit des Eingriffs mit den Grundrechtsschranken aus Art. 8 Abs. 2 EMRK. Da ein staatliches Unterlassen von der Rechtsprechung nicht als Eingriff gewertet wird, entfällt bei der Prüfung positiver Verpflichtungen konsequenterweise eine entsprechende Prüfung. Vielmehr bestimmt die Rechtsprechung noch auf der Ebene von Art. 8 Abs. 1 EMRK die Reichweite einer positiven Verpflichtung. Erstreckt sich diese im konkreten Fall auf das Begehren des Beschwerdeführers, liegt unmittelbar eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens vor.44 Trotz dieses verschiedenartigen Vorgehens be42 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 67): „The Court recalls that, although the essential object of Article 8 (art. 8) is to protect the individual against arbitrary interference by the public authorities, there may in addition be positive obligations inherent in an effective ‚respect‘ for family life […].“ 43 Vgl. im Anschluß EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159; Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017; zuletzt Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99. Zu diesem Aspekt des Eingriffsbegriffs allgemein Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 55 ff. 44 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 33–42); Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 41–52); Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 37–44);

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

tont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, daß die anwendbaren Prinzipien im wesentlichen vergleichbar seien. In beiden Fällen müsse überprüft werden, ob die Konventionsstaaten einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden hätten und in beiden Fällen stehe den Konventionsstaaten ein gewisser Beurteilungsspielraum zu: „The applicable principles are, nonetheless, similar. In both contexts regard must be had to the fair balance that has to be struck between the competing interests of the individual and of the community as a whole; and in both contexts the State enjoys a certain margin of appreciation […].“45

Die Bestimmung einer positiven Verpflichtung läuft somit auf eine Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls hinaus, die sich nicht wesentlich von der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterscheidet, die bei Eingriffskonstellationen im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmen ist. Auch die dort genannten Grundrechtsschranken können der Sache nach als Aspekte in die Gesamtabwägung einfließen, obwohl sie auf Eingriffskonstellationen zugeschnitten sind. Sie stellen jedoch anders als in einer Eingriffskonstellation keine abschließende Schrankenregelung dar: „In striking this balance the aims mentioned in the second paragraph of Article 8 (art. 8–2) may be of a certain relevance, although this provision refers in terms only to ‚interferences‘ with the right protected by the first paragraph – in other words is concerned with the negative obligations flowing therefrom […].“46

Eine besondere Bedeutung kommt hier dem wirtschaftlichen Wohl des Landes zu, das durch eine ungesteuerte Zuwanderung von Ausländern beeinträchtigt werden kann.47

Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (242 f.); Brötel, RabelsZ 1999, 580 (592); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 9 ff.; Connelly, ICLQ 1986, 567 (570 ff.); Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 51 ff.; Macho, Schutz des Familienlebens, S. 21 f.; Ovey / White, European Convention, S. 244; Palm-Risse, S. 288 f.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 155; Warbrick, EHRLR 1998, 32 (36 ff.); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (446 f.). 45 EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 38). In demselben Sinne EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 63); Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 31); Urt. vom 01.12.2005, TuquaboTekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 42); Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 39). 46 EGMR, Urt. vom 17.10.1986, Rees ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 106 (Ziff. 37); vgl. ebenso Urt. vom 07.07.1989, Gaskin ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 160 (Ziff. 42); zuletzt etwa Urt. vom 18.04.2006, Dickson ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 44362/04 (Ziff. 32). 47 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 44).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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c) Die Relevanz des territorialen Anwendungsbereichs der Konvention Eine mit den Anforderungen des Art. 8 EMRK unvereinbare Versagung des Familiennachzugs verletzt nicht nur eine positive Verpflichtung gegenüber dem nachziehenden Angehörigen selbst, sondern – wie bereits sinngemäß für Eingriffe durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen festgestellt – auch gegenüber den übrigen Familienmitgliedern, da diese durch die unterbundene Familienzusammenführung gleichermaßen in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens beeinträchtigt werden. In der Rechtsprechungspraxis ist daher grundsätzlich anerkannt, daß sich sowohl der nachziehende Angehörige,48 als auch die bereits im Hoheitsgebiet des jeweiligen Konventionsstaates lebenden Familienmitglieder49 auf Art. 8 EMRK berufen können. Oftmals wird eine Verletzung von allen Familienmitgliedern gemeinsam gerügt.50 Nur auf den ersten Blick problematisch erscheint dieser Grundsatz in den Fällen, in denen sich ein auf Art. 8 EMRK berufender Beschwerdeführer noch im Ausland befindet, obwohl die Konventionsrechte gemäß Art. 1 EMRK nur den der Hoheitsgewalt der Konventionsstaaten unterstehenden Personen gewährt werden. Die niederländische Regierung hatte dieses Argument in zwei sie betreffenden Verfahren geltend gemacht, um einer wegen Verweigerung der Familienzusammenführung drohenden Verurteilung durch den Gerichtshof zumindest partiell zu entgehen. In der Sache Tuquabo-Tekle, die die Verweigerung eines Visums für die Tochter einer aus Äthiopien geflohenen, inzwischen niederländischen Staats48 Vgl. EGMR, Entsch. vom 06.11.2001, Kaya ./. Niederlande; Entsch. vom 06.05.2003, Nessa u. a. ./. Finnland, Nr. 31862/02; Entsch. vom 08.07.2003, Afonso und Antonio ./. Niederlande, Nr. 11005/03; Entsch. 05.10.2004, Amara ./. Niederlande; Nr. 6914/02; Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00; Entsch. vom 06.07.2006, Priya ./. Dänemark, Nr. 13594/03. 49 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 83); Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 43); Entsch. vom 07.11.2000, P. R. ./. Niederlande, Nr. 39391/98; Entsch. vom 09.01.2001, J. M. ./. Niederlande, Nr. 38047/97; Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 25.03.2003, I. M. ./. Niederlande, Nr. 41226/98; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00; Entsch. vom 14.06.2005, Magoke ./. Schweden, Nr. 12611/03; Entsch. vom 29.11.2007, Taher ./. Schweden, Nr. 25709/05. 50 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 73); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejcinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96; Entsch. vom 22.06.1999, Ajayi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27663/95; Entsch. vom 05.09.2000, Knel und Veira ./. Niederlande, Nr. 39003/97; Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 8 (Ziff. 29, 42); Entsch. vom 03.09.2002, Singh u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 60148/00; Entsch. vom 18.03.2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04; Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie ./. Niederlande, Nr. 8876/04; Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 52); Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 44).

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angehörigen betraf, konnte der Gerichtshof noch eine inhaltliche Auseinandersetzung umgehen, in dem er die niederländische Regierung darauf verwies, daß ein den Geltungsbereich der Konvention betreffender Einwand bereits während des Zulässigkeitsverfahrens hätte geltend gemacht werden müssen und nun präkludiert sei.51 Dieser Ausweg stand dem Gerichtshof in der Sache Haydarie nicht zur Verfügung. Gegenstand dieses Verfahrens war die Weigerung der niederländischen Behörden, drei zunächst verschollen geglaubten Flüchtlingskindern aus Afghanistan, deren Mutter gemeinsam mit anderen Familienangehörigen bereits in den Niederlanden lebte, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Die niederländische Regierung trug diesmal bereits im Zulässigkeitsverfahren vor, daß die Beschwerde, soweit sie im Namen der drei sich damals in Pakistan aufhaltenden Kinder erhoben worden war, unzulässig sei.52 Bei ihren Ausführungen berief sich die niederländische Regierung maßgeblich auf die Entscheidung der großen Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Bankoviü. In dieser Entscheidung, die die NATO-Luftangriffe auf die serbische Radio- und Fernsehstation Radio Televizije Srbije (RTS) während des sogenannten Kosovokrieges betraf, hatte der Gerichtshof sich umfassend mit dem territorialen Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention befaßt und nach verbreiteter Einschätzung der Literatur das bislang vorherrschende Verständnis von Art. 1 EMRK in Teilen revidiert.53 Dem am völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenverantwortlichkeit orientierten Argumentationsansatz der Beschwerdeführer, nach dem letztlich jede Ausübung staatlicher Gewalt gleich ob gegenüber Personen innerhalb oder außerhalb des eigenen Staatsgebietes dem Maßstab der

51

EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 32). EGMR, Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie u. a. ./. Niederlande, Nr. 8876/04: „The Government referred to the case-law of the Court […] according to which it was only in exceptional cases that acts of Contracting States performed, or producing effects, outside their territories could constitute an exercise of jurisdiction by those States. However, the act complained of in the present case – i.e. the refusal to grant a provisional residence visa to Fatma, Yusuf and Ali – came nowhere near the kind of situation in which the Court has been prepared to accept extraterritorial jurisdiction under the Convention. The State of the Netherlands had merely exercised its day-to-day responsibility of the regulation and control of the entry into its territory of aliens. To infer from such acts a direct responsibility of the State for the protection of the rights enshrined in the Convention to all those residing abroad and wishing to enter the Netherlands, would, according to the Government, extend the notion of jurisdiction to an unacceptable level.“ 53 Vgl. dazu ausführlich Ben-Naftali / Shany, Isr. L. Rev. 37 (2003–2004), 17 (80 ff.); Berry, EPL 2006, 629 (649 ff.); Breuer, EuGRZ 2003, 449 (450 f.); Cerna, ILSA J Int’l & Comp L 2005, 465 (467 ff.); Cohen-Jonathan, RTDH 2002, 1069 (1974 ff.); Krieger, ZaöRV 62 (2002), 669 (670 f.); Lawson, in: Coomans / Kamminga, Extraterritorial Application, S. 83 ff.; Lorenz, Anwendungsbereich, S. 28 ff.; Martin, Sask. L. Rev. 2002, 451 (462 ff.); O’Boyle, in: Coomans / Kamminga, Extraterritorial Application, S. 125 ff.; Ress, IYIL 2002, 51 (53 ff.); ders. ZEuS 2003, 73 (82 f.); Roxstrom / Gibney / Einarsen, B. U. Int’l L. J. 2005, 55 (77 ff.); Ruth / Trilsch, AJIL 2003, 168 (170 ff.); Schäfer, MRM 2002, 149 (155 ff.); Schorkopf, GLJ 3 (2002) 2, Ziff. 16; Tomuschat, Human Rights, S. 107 f.; Williams / Shah, EHRLR 2002, 775 (780 f.). 52

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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EMRK zu genügen habe,54 stellte der Gerichtshof insbesondere unter Berücksichtigung des englischen und französischen Wortlauts („jurisdiction“ bzw. „juridiction“) und dessen allgemeiner Bedeutung im Völkerrecht einen primär territorial verstandenen Begriff der Hoheitsgewalt gegenüber.55 Die Konvention solle daher in erster Linie diejenigen Personen schützen, die sich innerhalb des Staatsgebietes der Konventionsstaaten aufhielten, nicht jedoch das Handeln der Konventionsstaaten weltweit begrenzen: „The Convention was not designed to be applied throughout the world, even in respect of the conduct of Contracting States.“56

Eine Anwendung der Konvention außerhalb des Hoheitsgebiets der Konventionsstaaten könne demnach nur ausnahmsweise angenommen werden, nämlich dann, wenn ein Konventionsstaat etwa aufgrund militärischer Besatzung oder mit Einverständnis der jeweiligen ausländischen Regierung in einem umfassenden Sinne Hoheitsgewalt über ein ausländisches Territorium ausübe.57 In der Sache Haydarie sah sich der Gerichtshof jedoch durch den Einwand der niederländischen Regierung nicht an einer Annahme der Beschwerde gehindert. Vielmehr lehnte er es ab, sich im konkreten Fall überhaupt mit der Reichweite von Art. 1 EMRK zu befassen. Dies sei nicht erforderlich, da hinsichtlich des in Frage stehenden Familienlebens nicht zwischen den bereits in den Niederlanden lebenden Familienangehörigen und den sich bislang noch in Pakistan aufhaltenden Kindern unterschieden werden könne: „The Court considers that, as regards the family life at issue in the present case – the existence of which is not in dispute –, no distinction can be drawn between the two applicants living in the Netherlands and the three others currently residing in Pakistan. In these circumstances, it does not find it necessary to determine the Government’s argument that the three

54 Vgl. EGMR, Entsch. vom 12.12.2001, Bankoviü u. a. ./. Belgien u. a., RJD 2001-XII, 333 (Ziff. 46 f.). 55 EGMR, Entsch. vom 12.12.2001, Bankoviü u. a. ./. Belgien u. a., RJD 2001-XII, 333 (Ziff. 59): „As to the ‚ordinary meaning‘ of the relevant term in Article 1 of the Convention, the Court is satisfied that, from the standpoint of public international law, the jurisdictional competence of a State is primarily territorial. While international law does not exclude a State’s exercise of jurisdiction extra-territorially, the suggested bases of such jurisdiction (including nationality, flag, diplomatic and consular relations, effect, protection, passive personality and universality) are, as a general rule, defined and limited by the sovereign territorial rights of the other relevant States […].“ 56 EGMR, Entsch. vom 12.12.2001, Bankoviü u. a. ./. Belgien u. a., RJD 2001-XII, 333 (Ziff. 80). 57 EGMR, Entsch. vom 12.12.2001, Bankoviü u. a. ./. Belgien u. a., RJD 2001-XII, 333 (Ziff. 71): „In sum, the case-law of the Court demonstrates that its recognition of the exercise of extra-territorial jurisdiction by a Contracting State is exceptional: it has done so when the respondent State, through the effective control of the relevant territory and its inhabitants abroad as a consequence of military occupation or through the consent, invitation or acquiescence of the Government of that territory, exercises all or some of the public powers normally to be exercised by that Government.“

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

applicants in Pakistan cannot be regarded as finding themselves within the jurisdiction of the Netherlands State within the meaning of Article 1 of the Convention jurisdiction.“58

Auch wenn die Begründung des Gerichtshofs knapp ausfällt, lassen sich doch zwei Folgerungen aus seinen Ausführungen ableiten. Daß der Gerichtshof eine Auseinandersetzung mit dem Problem der extraterritorialen Wirkung der Konvention für entbehrlich hält, kann erstens nur bedeuten, daß er den vorliegenden Sachverhalt nicht als Fall einer extraterritorialen Ausübung konventionsstaatlicher Gewalt betrachtet. In einem solchen Fall hätte er aufgrund der ausdrücklichen Rüge der niederländischen Regierung die Beschwerde entweder schon wegen Nichtanwendbarkeit der Konvention als unzulässig zurückweisen oder darlegen müssen, daß entgegen der allgemeinen Regel ein Ausnahmefall vorliegt. Auch ein Rückgriff auf die sogenannte Soering-Rechtsprechung, nach der die Auswirkungen innerstaatlichen Handelns im Ausland den Konventionsstaaten zugerechnet werden können, hätte angesichts der Bankoviü-Entscheidung jedenfalls nicht ohne nähere Begründung erfolgen können. Der Gerichtshof führte dort die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK auf die Abschiebung von Ausländern in Staaten, in denen Folter oder erniedrigende Behandlung drohen ausdrücklich darauf zurück, daß sich die von Abschiebung Betroffenen noch innerhalb des Hoheitsgebietes des jeweiligen Konventionsstaates aufhalten.59 Zweitens zeigt der Verweis auf das Familienleben der Betroffenen, daß der Gerichtshof den Anknüpfungspunkt für einen innerterritorialen Anwendungsfall der Konvention offenbar in dem bereits partiell auf niederländischem Hoheitsgebiet etablierten Familienleben sieht.60 Der Schutzzweck von Art. 8 EMRK wird somit trotz der individualrechtlichen Ausgestaltung der Garantie offenbar im Schutz der Familie als solcher und weniger im Schutz der einzelnen Familienmitglieder erblickt – eine Auslegung, die sich, wie bereits an anderer Stelle gezeigt, auf die Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK zurückführen läßt.61

58

EGMR, Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie u. a. ./. Niederlande, Nr. 8876/04. EGMR, Entsch. vom 12.12.2001, Bankoviü u. a. ./. Belgien u. a., RJD 2001-XII, 333 (Ziff. 68). 60 Ähnlich bereits Matscher, in: FS-Trechsel, S. 25 (34), der allerdings allein die Absicht, im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates ein Familienleben gründen zu wollen, als hinreichenden Inlandsbezug genügen läßt. Dies würde im Ergebnis dazu führen, daß bislang in verschiedenen ausländischen Staaten getrennt lebenden Familienangehörigen, die die einzige Möglichkeit einer Familienzusammenführung in einer Gestattung des gemeinsamen Aufenthalts in einem Konventionsstaat sehen, eine Berufung auf Art. 8 EMRK nicht prinzipiell verwehrt wäre. Eine derartige Fernwirkung dürfte jedoch mit Art. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR im Fall Bankoviü nicht vereinbar sein. 61 Vgl. dazu zusammenfassend oben unter B. III. 59

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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III. Rationalität, Relevanz und Legitimität der Unterscheidung 1. Kritische Rezeption der Rechtsprechung Innerhalb des Gerichtshof finden sich nur vereinzelte Stimmen, die sich gegenüber der in der aufenthaltsrechtlichen Judikatur zu Art. 8 EMRK praktizierten Unterscheidung von negativen und positiven Verpflichtungen kritisch positionieren. Dabei richtet sich die Kritik in erster Linie nicht gegen die Ableitung positiver Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention als solche, wie dies noch zu Beginn der heute ständigen Rechtsprechung etwa von Richter Wold in Belgian Linguistic insbesondere unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte der Konvention vertreten worden war.62 Stein des Anstoßes ist vielmehr das aus der Unterscheidung folgende unterschiedliche Prüfungsprogramm. Als der Gerichtshof in seiner maßgeblichen Leitentscheidung Abdulaziz, Cabales und Balkandali eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die Versagung eines Nachzugsrechts für die Ehemänner der Beschwerdeführerinnen verneinte, äußerten einige Richter Unverständnis vor allem über das methodische Vorgehen. Richter Vilhjálmsson vertrat die Ansicht, daß er zwar die Mehrheitsmeinung im Ergebnis teile, eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens aber nur durch Rückgriff auf die Grundrechtsschranken aus Art. 8 Abs. 2 EMRK ausgeschlossen werden könne.63 Richter Bernhardt wies zudem darauf hin, daß die vom Gerichtshof bereits im Rahmen von Abs. 1 vorgenommene Bestimmung der Reichweite der aus Art. 8 EMRK folgenden Verpflichtungen zur Anerkennung grundrechtsimmanenter Schranken auf der Ebene des Schutzbereichs führe und damit die ausdrücklich niedergelegten Grundrechtsschranken des Abs. 2 systemwidrig außerachtlasse.64 Sinngemäß schloß sich dieser Auffassung auch Richter Martens in der Sache Gül an. Insbesondere bemerkte er, daß eine klare Abgrenzung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen selbst nach der Einschätzung der Mehrheitsmeinung nicht immer möglich sei. Gerade im vorliegenden Fall könne die Versagung der Einreise- und Aufenthaltserlaubnis für den Sohn der Beschwerdeführer einerseits als positives Tun verstanden werden, das von den zuständigen Behörden angesichts der Wertungen von Art. 8 EMRK zu unterlassen sei, andererseits aber auch als Unterlassen der von Art. 8 EMRK zur Familienzusammenführung geforderten Maßnahmen. Eine Differenzierung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen sei nur dann unschädlich, wenn beide Konstellationen demselben Prüfungsprogramm unterliegen würden.65 Abschwächend fügte er jedoch an, daß 62

Sondervotum Richter Wold, in: EGMR, Urt. vom 23.07.1968, Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ ./. Belgien, Serie A 6, 103 ff. 63 Sondervotum Richter Vilhjálmsson, in: EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94, 47. 64 Sondervotum Richter Bernhardt, in: EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94, 47. 65 Sondervotum Richter Martens, sich anschließend Richter Russo, in: EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (180).

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der Gerichtshof nun zumindest klargestellt habe, daß die anwendbaren Prinzipien in beiden Fällen weitgehend identisch seien. Es könne daher davon ausgegangen werden, daß das unterschiedliche Prüfungsprogramm keine Auswirkungen auf die Darlegungslast der Verfahrensbeteiligten oder den angelegten Prüfungsmaßstab habe.66 Im Fall Ahmut wiederholte Martens seine Kritik an der Rechtsprechungspraxis und sah unter Verweis auf sein früheres Sondervotum in der Verweigerung des Familiennachzugs im konkreten Fall eine nach Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtfertigungsbedürftige Maßnahme.67 Ebenso hielt Richter Morenilla eine Prüfung der Grundrechtsschranken aus Abs. 2 für erforderlich, ohne sich allerdings argumentativ mit dem methodischen Vorgehen des Gerichtshofs auseinanderzusetzen.68 Im Schrifttum ist heute grundsätzlich anerkannt, daß die von der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Freiheiten nicht nur Abwehrrechte im rechtsstaatlich-liberalen Sinne darstellen, sondern den Konventionsstaaten darüber hinaus auch in gewissem Umfang positive Verpflichtungen auferlegen.69 Soweit jedoch die von Kommission und Gerichtshof entwickelte Unterscheidung von negativen und positiven Verpflichtungen in aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten im Rahmen von Art. 8 EMRK thematisiert wird, fällt das Urteil überwiegend kritisch aus. Teils wird bereits der dogmatische Ansatz der Rechtsprechung, in der Verweigerung des Familiennachzugs keinen Eingriff zu sehen und im Rahmen einer Gesamtabwägung der betroffenen Interessen auf eine strikte Bindung an die Grundrechtsschranken des Abs. 2 zu verzichten, in Zweifel gezogen.70 Teils bezieht sich die Kritik darauf, daß Kommission und Gerichtshof bislang keine klare Kriterien zur Abgrenzung beider Konstellationen entwickelt hätten,71 wobei allerdings vereinzelt Bedenken geäußert werden, ob eine sinnvolle Abgrenzung von negativen 66 Sondervotum Richter Martens, sich anschließend Richter Russo, in: EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (181). 67 Sondervotum Richter Martens, sich anschließend Richter Lǀhmus, in: EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (2036). 68 Sondervotum Richter Morenilla, in: EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (2038). 69 Vgl. Alkema, in: FS-Wiarda, S. 33 ff.; Bleckmann, in: FS-Bernhardt, S. 310 ff.; Clapham, in: Macdonald / Matscher / Petzold, Protection of Human Rights, S. 163 ff.; Dröge, Positive Verpflichtungen, passim; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19; Holoubek, Gewährleistungspflichten, S. 45 ff.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 103 ff.; Ress, in: Klein, Duty to Protect, S. 165 ff.; Sudre, in: GS-Ryssdal, S. 1359 ff.; ders., RTDH 1995, 363 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 712 ff; Streuer, Positive Verpflichtungen, passim, insbesondere S. 196 ff.; Wiesbrock, Menschenrechte, S. 84 ff. 70 Davy, JRP 1996, 250 (261); Huber, in: Barwig / Lörcher / Schumacher, Familiennachzug, S. 27 (35 f.); kritisch auch Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 63 ff., der allerdings in den ersten Urteilen des Gerichtshofs zur Behandlung positiver Verpflichtungen ein prinzipiell anderes, methodisch nicht vertretbares Vorgehen bei der Behandlung ausländerrechtlicher Fälle zu erkennen, das in den folgenden Entscheidungen richtigerweise wieder aufgegeben worden sei. 71 Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (243); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 11; Conelly, ICLQ 1986, 567 (577, 588 f.); Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 340; Grant, Protection, S. 302; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 251 f.; Warbrick, EHRLR 1998, 32 (43).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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und positiven Verpflichtungen überhaupt gelingen könne.72 Die Konsequenzen des unterschiedlichen Prüfungsprogramms für das durch Art. 8 EMRK vermittelte Schutzniveau werden unterschiedlich beurteilt. Während einige Autoren einen gegenüber aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingeschränkten Schutz des Familiennachzugs sehen, weil dessen Verweigerung nicht dem Maßstab von Art. 8 Abs. 2 EMRK genügen müsse oder zumindest der den Konventionsstaaten zugebilligte Beurteilungsspielraum im Rahmen positiver Verpflichtungen größer ausfalle,73 sehen andere das niedrigere Schutzniveau nicht als Folge unterschiedlicher Prüfungsmaßstäbe, sondern verschiedener Sachverhaltskonstellationen. Im Fall des Nachzugs eines Familienangehörigen erweise sich dessen Bindung an den Konventionsstaat naturgemäß als weniger ausgeprägt als bei der Ausweisung eines bereits seit mehreren Jahren dort lebenden Ausländers. Dementsprechend variiere der den Konventionsstaaten verbleibende Spielraum, die Einreise eines Ausländers zu verweigern bzw. dessen Aufenthalt zu beenden.74 Unabhängig von den unmittelbaren Auswirkungen des Prüfungsprogramms werden zudem Auswirkungen auf die Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK angenommen. Werde ein Fall unter dem Gesichtspunkt einer positiven Verpflichtung geprüft und das Vorliegen einer solchen verneint, liege kein Eingriff im Sinne von Art. 13 EMRK vor, so daß dem Betroffenen auch kein Anspruch auf eine wirksame Beschwerde zustehe.75 Im Ergebnis wird von einem Großteil des Schrifttums eine Gleichbehandlung negativer und positiver Verpflichtungen gefordert. Auch die Verletzung einer positiven Verpflichtung müsse als Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK verstanden werden und daher einer Prüfung am Maßstab der dort genannten Rechtfertigungsgründe standhalten.76

2. Rationalität der Unterscheidung a) Vorbemerkungen Einer Untersuchung der von Kommission und Gerichtshof entwickelten Unterscheidungskriterien sind einige einleitende Bemerkungen voranzustellen, die das Verständnis des vorliegenden Rechtsprechungsmaterials erleichtern. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß insbesondere die frühen Entscheidungen der 72

Grant, Protection, S. 302; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 251 f. Arai, NQHR 1998, 41 (49); ders., Margin of Appreciation, S. 68; Davy, JRP 1996, 250 (261); Peers, in: Shah, Callenge of Asylum, S. 83 (84); Warbrick, EHRLR 1998, 32 (43). 74 Ovey, HRLJ 1998, 10 (10); in diese Richtung auch Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 351. 75 Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (243); Grant, Protection, S. 315. 76 Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (243); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 11; Huber, in: Barwig / Lörcher / Schumacher, Familiennachzug, S. 27 (35 f.); Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 251 f.; Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 63 ff.; Wildhaber, Wechselspiel, S. 380 f.; in diese Richtung auch Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 354; a. A. Warbrick, EHRLR 1998, 32 (43 f.): Positive Verpflichtungen auch bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen; Maaßen, Rechtsstellung des Asylbewerbers, S. 156: Generell keine Verpflichtung zur Gestattung des Familiennachzugs. 73

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Kommission oftmals kein klares, in sich stringentes Prüfungsprogramm erkennen lassen, so daß die behandelten Aspekte keiner bestimmten Prüfungsstufe zugeordnet werden können. Beispielhaft sei auf den Fall eines 1924 in Dänemark geborenen Sohnes zweier deutscher Auswanderer verwiesen. Dieser war 1942 nach Deutschland zurückgekehrt, um seinen Militärdienst in der deutschen Wehrmacht zu versehen. Nach Kriegsende verweigerten die dänischen Behörden die Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis, auch wenn sie ab 1957 regelmäßige Besuchsaufenthalte bei den Eltern gestatteten. Die Kommission beließ es in ihrer ablehnenden Entscheidung bei der Festsstellung, daß der Beschwerdeführer angesichts seines inzwischen mehr als zwanzig Jahre dauernden Aufenthalts in Deutschland, seines Alters von einundvierzig Jahren und der bestehenden Besuchsregelung eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Familienlebens nicht hinreichend dargelegt habe.77 Ob das Alter des Beschwerdeführers hier bereits die Existenz eines Familienlebens ausschließt oder die bestehende Besuchsmöglichkeit einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens entfallen läßt oder ob beide Aspekte doch erst zur Verhältnismäßigkeit und damit zur Rechtfertigung eines Eingriffs beitragen, kann aus den Entscheidungsgründen nicht abgeleitet werden. Weiterhin ist anzumerken, daß die Kommission zunächst nicht zwischen negativen und positiven Verpflichtungen differenzierte. Vielmehr nahm sie auch in denjenigen Konstellationen, die nach heutiger Dogmatik als Fall einer positiven Verpflichtung angesehen werden, eine Prüfung anhand eines Eingriffsschemas vor.78 In der Konsequenz vermittelte Art. 8 EMRK jedoch keinesfalls eine stärkere Rechtsposition als dies bei Zugrundelegung einer (bloß) positiven Verpflichtung der Fall wäre. Die Kommission berücksichtigte nämlich die nach heutiger Rechtsprechung in die Gesamtabwägung einfließenden Aspekte, etwa die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens der Familie im Herkunftsland, die soziale und kulturelle Bindung des Ausländers an den Aufenthaltsstaat oder den begründeten Verdacht einer Zweckehe bereits auf der Eingriffsebene.79 Ein Eingriff in das Recht 77 EKMR, Entsch. vom 24.04.1965, X. ./. Dänemark, CD 16, 50 (52). Unklar auch EKMR, Entsch. vom 03.10.1972, X. und X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 42, 146 (146); Entsch. vom 03.10.1972, X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 43, 82 (84). 78 Vgl. EKMR, Entsch. vom 10.10.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians I“), CD 36, 92 (129); Entsch. vom 08.02.1972, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, CD 39, 104 (107); Entsch. vom 19.05.1977, Fünfzehn ausländische Studenten ./. Vereinigtes Königreich, DR 9, 185 (187); Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 (268 f.); Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14069/88; Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14742/89; Entsch. vom 05.10.1990, de Alwis ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14984/89; Entsch. vom 19.02.1992, D. G. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17531/90; Entsch. vom 01.04.1992, R. C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18713/91; Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 79 Vgl. exemplarisch EKMR, Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14742/89: „The Commission notes that the British immigration authorities had reasonable grounds to consider that the husband had not shown that originally the main purpose of his marriage to the applicant, a British citizen, was not to immigrate to the United Kingdom. The Commission also observes that the applicant’s husband apparently has no strong ties with the

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auf Achtung des Familienlebens wurde also gleichsam wertend bestimmt und in der Rechtsprechungspraxis regelmäßig verneint.80 Dieses Vorgehen der Kommission entsprach im Ansatz auch dem damaligen Prüfungsprogramm bei Eingriffskonstellationen im eigentlichen Sinne. Die Möglichkeit eines gemeinsames Familienlebens außerhalb der Bundesrepublik wurde hier zunächst nicht auf der Rechtfertigungsebene als Aspekt der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt, sondern gab der Kommission Anlaß, bereits einen Eingriff in Art. 8 EMRK durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen abzulehnen.81 Erst mit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre läßt sich sodann eine vorsichtige Änderung der Kommissionsrechtsprechung feststellen, die wohl auf die Grundsatzentscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali zurückzuführen sein wird, in der erstmals die Existenz aus Art. 8 EMRK folgender positiver Verpflichtungen mit aufenthaltsrechtlicher Relevanz anerkannt wurde.82 Einerseits sah die Kommission in aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nun trotz der Möglichkeit eines gemeinsamen Familienlebens außerhalb der Bundesrepublik einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Der Möglichkeit bzw. Zumutbarkeit einer gemeinsamen Ausreise aller Familienmitglieder war fortan allein für die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme von Belang.83 Andererseits behielt die Kommission in den nach heutiger Rechtsprechung als Fälle positiver Verpflichtungen einzuordnenden Konstellationen ihre bisherige United Kingdom, not having lived there for a reasonable period of time and not having any relatives there apart from the applicant. Moreover there seem to be no serious obstacles preventing the applicant following her husband to India. In the light of these circumstances, the Commission concludes that there has not been an interference with the applicant’s right to respect for family life ensured by Article 8 […].“ 80 Soweit ersichtlich hat die Kommission allein in zwei Fällen in der Verweigerung des Familiennachzugs einen rechtfertigungsbedürftigen (aber im übrigen rechtfertigungsfähigen) Eingriff erblickt, vgl. EKMR, Entsch. vom 10.12.1986, Y. H. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 258 (265) und Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 81 Vgl. EKMR, Entsch. vom 08.10.1974, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 1, 77 (77); Entsch. vom 12.07.1976, X. ./. Schweiz, DR 6, 124 (125); Entsch. vom 17.12.1976, Agee ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 146 (173); Entsch. vom 15.12.1977, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 12, 197 (198 f.); Entsch. vom 06.05.1981, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 24, 98 (100); Entsch. vom 08.12.1981, X ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 27, 243 (244); Entsch. vom 17.05.1985, C. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 43, 227 (228); Entsch. vom 01.07.1985, Familie K. und W. ./. Niederlande, DR 43, 216 (221); Entsch. vom 12.05.1986, C. ./. Vereinigtes Königreich, DR 47, 85 (93). 82 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 67). 83 Vgl. als vereinzelte Entscheidung bereits EKMR, Entsch. vom 06.07.1982, X., Y., Z. ./. Vereinigtes Königreich, DR 29, 205 (209); vgl. sodann EKMR, Entsch. vom 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/86; Entsch. vom 13.07.1987, O. und O. L. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 11970/86; Entsch. vom 08.03.1988, Kassim ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12894/87; Entsch. vom 15.07.1988, C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 13718/88; Entsch. vom 06.03.1989, Polat ./. Niederlande, Nr. 13113/87; Entsch. vom 14.04.1989, K. und A. ./. Niederlande, Nr. 13318/87; Entsch. vom 13.07.1990, B. I. ./. Schweiz, Nr. 16563/90; Entsch. vom 03.09.1991, Yalcinkaya ./. Schweiz, Nr. 18017/91; st. Rspr.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Rechtsprechung bei, nach der insbesondere die Möglichkeit eines gemeinsamen Familienlebens im Ausland schon zur Ablehnung eines Eingriffs führte.84 Implizit vollzog die Kommission damit die vom Gerichtshof entwickelte Differenzierung zwischen Eingriffskonstellationen und Fällen positiver Verpflichtungen nach, auch wenn sich dies vorläufig nur im Prüfungsprogramm, nicht jedoch in der Begrifflichkeit niederschlug. Erst einige Jahre später setzte sich in der Kommissionsrechtsprechung ein sprachlicher Wandel durch. Statt in ablehnenden Annahmeentscheidungen nach umfassender Abwägung das Vorliegen eines Eingriffs zu verneinen, sprach die Kommission nun von „fehlendem Respekt“ gegenüber dem Familienleben, den der Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt habe.85

b) Unterscheidungskriterien der Kommission Eine Untersuchung der Rechtsprechung ergibt zunächst, daß die Kommission bei der Unterscheidung von positivem Tun und Unterlassen nicht auf die konkret vom Staat verlangte Leistung abstellte. Ein solcher, gewissermaßen formaler Ansatz hätte zur Folge, daß der Erlaß einer Ausweisungsverfügung, die Rücknahme einer Aufenthaltsgenehmigung oder die nach der ausländerrechtlichen Gesetzgebung einiger Konventionsstaaten mögliche Erteilung eines Aufenthaltsverbots stets einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen würde, während bei Versagung eines beantragten Aufenthaltstitels die Verletzung einer positiven Verpflichtung aus Art. 8 EMRK zu prüfen wäre. Die Rechtsprechung zeigt jedoch, daß die Kommission in zahlreichen Fällen auch in der Versagung eines Aufenthaltstitels einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens erblickte.86 Eine unter formalen Gesichtspunkten in sich stimmige Rechtsprechungs84

Vgl. EKMR, Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 (268 f.); Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14069/88; Entsch. vom 04.04.1990, Odedra ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14742/89; Entsch. vom 05.10.1990, de Alwis ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14984/89; Entsch. vom 19.02.1992, D. G. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17531/90; Entsch. vom 01.04.1992, R. C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 18713/91; Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 85 Vgl. als vereinzelte Entscheidung bereits EKMR, Entsch. vom 02.04.1990, B ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14507/89; vgl. sodann EKMR, Entsch. vom 19.02.1992, Babul ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17504/90; Entsch. vom 06.07.1992, S. S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/92; Entsch. vom 12.10.1992, F. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20118/92; Entsch. vom 30.06.1993, Mahfaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20598/92; Entsch. vom 10.03.1994, A. und Familie ./. Schweden, Nr. 22806/93; Entsch. vom 10.03.1994, L. A. ./. Schweden, Nr. 23253/94; st. Rspr. 86 Vgl. EKMR, Entsch. vom 13.05.1992, A. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19476/92; Entsch. vom 13.05.1992, M. L. und A. S. ./. Schweden, Nr. 18288/91; Entsch. vom 10.09.1992, M. K. ./. Schweden, Nr. 20470/92; Entsch. vom 11.01.1994, Akabbouz ./. Niederlande, Nr. 18056/91; Entsch. vom 29.06.1994, I. P. ./. Schweiz, Nr. 24080/94; Entsch. vom 29.06.1994, S. T. ./. Schweiz, Nr. 24089/94; Entsch. vom 18.10.1994, Z. A. ./. Schweiz, Nr. 25036/94; Entsch. vom 30.11.1994, S. Z. ./. Schweiz, Nr. 25161/94; Entsch. vom 07.12.1994, H. M. C. ./. Schweiz, Nr. 25436/94; Entsch. vom 29.06.1994, I. P. ./. Schweiz, Nr. 24080/94; Entsch. vom

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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praxis ergibt sich auch dann nicht, wenn statt der Nichtgewährung des Aufenthaltstitels die anschließende Vollstreckung der Ausreisepflicht als Anknüpfungspunkt für eine Unterscheidung herangezogen wird, sofern sich der Ausländer bereits im Hoheitsgebiet des Konventionsstaates befindet. So finden sich wiederum zahlreiche Entscheidungen, in denen die Kommission die Versagung eines Aufenthaltstitels trotz anschließend notwendiger Vollstreckung der Ausreisepflicht nicht als Eingriff, sondern als mögliche Verletzung einer positiven Verpflichtung wertete.87 Ebensowenig wie in den Fällen der Versagung eines Aufenthaltstitels läßt sich von einem formalen Standpunkt aus die Kommissionsrechtsprechung in den Konstellationen erklären, in denen sich ein Ausländer gegen eine Ausweisungsverfügung oder gegen die Rücknahme einer Aufenthaltsgenehmigung zur Wehr setzte. So prüfte die Kommission hier gelegentlich die Verletzung einer positiven Verpflichtung, obwohl die Beschwerdeführer ein Unterlassen des Staates einforderten.88 Ein einheitlicheres Bild ergibt sich jedoch, wenn das Begehren eines Ausländers nicht von der konkret vom Staat verlangten Leistung, sondern von der Verwirklichung des durch die Konvention geschützten Familienlebens aus interpretiert wird. Soweit das Familienleben bereits im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates etabliert war, wertete die Kommission im Regelfall alle zeitlich nachfolgenden Maß29.06.1994, S. T. ./. Schweiz, Nr. 24089/94; Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; Entsch. vom 18.05.1995, Lamrabti ./. Niederlande, Nr. 24968/94; Entsch. vom 28.06.1995, Sim und Ungson ./. Finnland, Nr. 25946/94 und 25947/94; Entsch. vom 29.11.1995, Özkaran ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 25783/94; Entsch. vom 11.04.1996, Sacic ./. Schweden, Nr. 28071/95; Entsch. vom 26.02.1997, V. K. ./. Schweiz, Nr. 34295/96; Entsch. vom 10.09.1997, Eshak ./. Schweden, Nr. 33758/96; Entsch. vom 22.10.1997, H. U. ./. Schweiz, Nr. 36865/97; Entsch. vom 12.01.1998, Aboikonie und Read ./. Niederlande, Nr. 26336/95; Entsch. vom 01.07.1998, Dilek ./. Niederlande, Nr. 35137/97; Entsch. vom 02.07.1998, Kwong ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 36336/97. 87 Vgl. EKMR, Entsch. vom 19.02.1992, Babul ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17504/90; Entsch. vom 07.12.1992, Daldal-Uslu ./. Niederlande, Nr. 17546/90; Entsch. vom 10.03.1994, A. und Familie ./. Schweden, Nr. 22806/93; Entsch. vom 14.04.1994, Külen ./. Schweden, Nr. 23761/94; Entsch. vom 19.05.1994, Tanko ./. Finnland, Nr. 23634/94; Entsch. vom 29.11.1995, Ebibomi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26922/95; Entsch. vom 15.05.1996, Poku ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26985/95; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 09.04.1997, McKenzie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26285/95; Entsch. vom 21.05.1997, Williamson ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 29308/95; Entsch. vom 21.05.1997, Tella ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 31612/96; Entsch. vom 11.09. 1997, Phull ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32789/96; Entsch. vom 10.07.1998, MomiquePola ./. Schweden, Nr. 36287/97. 88 Vgl. EMRK, Entsch. vom 29.06.1994, Cimen ./. Österreich, Nr. 20933/92; Entsch. vom 29.06.1994, Ünlü ./. Österreich, Nr. 20957/92; Entsch. vom 29.06.1994, Balbastro u. a. ./. Schweden, Nr. 23974/94; Entsch. vom 31.08.1994, Kamara ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24381/ 94; Entsch. vom 16.10.1995, Onyegbule ./. Österreich, Nr. 26609/95; Entsch. vom 23.10.1995, Sorabjee ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23938/94; Entsch. vom 23.10.1995, Jaramillo ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24865/94; Entsch. vom 16.01.1996, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26290/95; Entsch. vom 28.02.1996, Larbie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25073/94; Entsch. vom 09.04.1997, Aslam ./. Norwegen, Nr. 27057/95; Entsch. vom 03.12.1997, Bouhali ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35688/97.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

nahmen, die ein ausländisches Familienmitglied zum Verlassen des Landes zwangen, als einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, gleich ob es sich um den Erlaß einer Ausweisungsverfügung bzw. einer vergleichbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme89 oder um die Versagung einer neuen bzw. um die Nichtverlängerung einer zunächst nur befristet erteilten Aufenthaltsgenehmigung handelte.90 Hatten die Familienmitglieder dagegen noch kein gemeinsames Fami89

Vgl. EKMR, Entsch. vom 07.04.1994, Haberer ./. Österreich, Nr. 20821/92; Entsch. vom 29.06.1994, Mutlu ./. Österreich, Nr. 20840/92; Entsch. vom 29.06.1994, Sun ./. Österreich, Nr. 21630/93; Entsch. vom 31.08.1994, D. O. ./. Schweiz; Nr. 24545/94; Entsch. vom 31.08.1994, B. P. und D. P. ./. Schweiz, Nr. 243777/94; Entsch. vom 02.09.1994, Karadag ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 21212/93; Entsch. vom 12.10.1994, Füçük ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 19544/92; Entsch. vom 12.10.1994, Lumumba ./. Schweden, Nr. 22696/93; Entsch. vom 12.10.1994, Niknam ./. Schweden, Nr. 23446/94; Entsch. vom 30.11.1994, Bacovic ./. Schweden, Nr. 24485/94; Bericht vom 10.01.1995, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, S. 617 ff. (Ziff. 65); Entsch. vom 11.01.1995, Tosun ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 19710/92; Bericht vom 21.02.1995, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, S. 926 ff. (Ziff. 36); Entsch. vom 05.04.1995, Charfa ./. Schweden, Nr. 20002/92; Bericht vom 27.06.1995, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22414/93 (Ziff. 134); Entsch. vom 28.06.1995, Doymus ./. Schweiz, Nr. 27269/95; Entsch. vom 28.06.1995, Timocin ./. Schweiz; Nr. 27275/95; Entsch. vom 14.09.1995, Akbas ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 25168/94; Bericht vom 15.05.1996, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1974 ff. (Ziff. 33); Bericht vom 26.06.1996, Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1995 ff. (Ziff. 42); Bericht vom 26.06.1996, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2269 ff. (Ziff. 32); Entsch. vom 04.09.1996, Dhaliwal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27724/95; Entsch. vom 14.10.1996, Sadaghi ./. Schweden, Nr. 27794/95; Entsch. vom 15.01.1997, B. S. ./. Österreich, Nr. 27647/95; Entsch. vom 09.04.1997, N. B. und F. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 34556/97; Entsch. vom 17.04.1997, P. K. ./. Schweiz, Nr. 35602/97; Entsch. vom 10.09.1997, Karadeniz ./. Schweiz, Nr. 36335/97; Entsch. vom 16.09.1997, Nakunzi ./. Schweden, Nr. 31049/96; Entsch. vom 21.10.1997, Gelaw ./. Schweden, Nr. 34025/96; Entsch. vom 12.03.1998, Redzepi ./. Schweiz, Nr. 40080/98; Bericht vom 15.04.1998, Ciftic ./. Österreich, Nr. 24375/94; Entsch. vom 29.05.1998, Karara ./. Finnland, Nr. 40900/98; Entsch. vom 21.10.1998, Mehmeti ./. Schweden, Nr. 38900/97; Entsch. vom 30.10.1998, A. Z., A. S. Z. und G. A. Z. ./. Schweiz, Nr. 43678/98; Entsch. vom 08.12.1998, Benraschid ./. Frankreich, Nr. 39518/98; insoweit inkonsequent: EKMR, Entsch. vom 26.06.1996, J. O. ./. Österreich, Nr. 30079/96; Entsch. vom 09.04.1997, Aslam ./. Norwegen, Nr. 27057/95. 90 Vgl. EKMR, Entsch. vom 29.06.1994, I. P. ./. Schweiz, Nr. 24080/94; Entsch. vom 29.06. 1994, S. T. ./. Schweiz, Nr. 24089/94; Entsch. vom 18.10.1994, Z. A. ./. Schweiz, Nr. 25036/94; Entsch. vom 30.11.1994, S. Z. ./. Schweiz, Nr. 25161/94; Entsch. vom 07.12.1994, H. M. C. ./. Schweiz, Nr. 25436/94; Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; Entsch. vom 28.06.1995, Sim und Ungson ./. Finnland, Nr. 25946/94, 25947/94; Entsch. vom 26.02. 1997, V. K. ./. Schweiz, Nr. 34295/96; Entsch. vom 10.09.1997, Eshak ./. Schweden, Nr. 33758/ 96; Bericht vom 20.05.1998, Ciliz ./. Niederlande, Nr. 29192/95 (Ziff. 61); Entsch. vom 01.07.1998, Dilek ./. Niederlande, Nr. 35137/97. Dem stehen auch die Entscheidungen Schneider und Patel nicht entgegen. Hier prüfte die Kommission zwar eine Verletzung einer positiven Verpflichtung, jedoch war die ohnehin kurze Ehe der Beschwerdeführer durch Tod des Ehegatten bzw. Scheidung zuvor beendet worden, so daß kein Familienleben mehr bestand, vgl. EKMR, Entsch. vom 15.01.1998, Schneider ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 37003/97 und Entsch. vom 22.10.1998, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35693/97. In EKMR, Entsch. vom 16.10.1996, Boyce ./. Schweden, Nr. 27327/95, hätte aber konsequenterweise ein Eingriff statt einer positiven Verpflichtung verneint werden müssen.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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lienleben im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates begründet, sollte also die Familieneinheit erst durch Nachzug eines Familienmitgliedes hergestellt werden, ging die Kommission regelmäßig davon aus, daß die Verweigerung von Einreise und Aufenthalt allenfalls eine Verletzung einer positiven Verpflichtung aus Art. 8 EMRK darstellen kann.91 Allerdings lassen sich nicht alle Entscheidungen der Kommission anhand dieses Schemas sinnvoll einordnen. So finden sich zunächst einige Entscheidungen, in denen die Kommission trotz eines im Hoheitsgebiet des betreffenden Konventionsstaates geführten Familienlebens die Ausweisung eines ausländischen Familienmitglieds, den Erlaß eines Aufenthaltsverbots oder die Rücknahme einer Aufenthaltsgenehmigung nicht als Eingriff, sondern als mögliche Verletzung einer positiven Verpflichtung verstand. Warum die Kommission dort von ihrer Rechtsprechungslinie abwich, geht aus den jeweiligen Entscheidungsgründen nicht hervor. Die Gemeinsamkeit der zugrundeliegenden Sachverhaltskonstellationen besteht jedoch darin, daß der Beschwerdeführer illegal eingereist war, sich zumindest im Zeitpunkt der Familiengründung, etwa der Eheschließung, ohne gültigen Aufenthaltstitel im betreffenden Konventionsstaat aufhielt oder seine Aufenthaltsgenehmigung durch Vortäuschung falscher Tatsachen erschlichen hatte.92 Dies legt den Schluß nahe, daß die Kommission mit ihrem Rückgriff auf das Prüfungsschema der positiven Verpflichtung allein einem konventionsrechtlich prämierten Mißbrauch der nationalen Einwanderungsregeln vorbeugen wollte. Ausländer, die sich unter Umgehung der Einwanderungsvorschriften bereits im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates befanden, sollten aus ihrem rechtswidrigen Verhalten keinen Vorteil gegenüber denjenigen erzielen, die sich aus dem Ausland heraus um Familienzusammenführung bemühten. Sinngemäß läßt sich dieser Gedanke auf Fälle übertragen, in denen Ausländer nicht aufgrund eines illegalen Aufenthalts ausgewiesen wurden, sich aber erfolglos um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühten, nachdem sie die Familieneinheit im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates den jeweiligen Einreise- oder Aufenthaltsbestimmungen zuwider herbeige91 Vgl. EKMR, Entsch. vom 06.07.1992, S. S. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19788/92; Entsch. vom 12.10.1992, F. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20118/92; Entsch. vom 06.01.1993, A. K. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20100/92; Entsch. vom 30.06.1993, Mahfaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20598/92; Entsch. vom 09.04.1997, S. H. ./. Irland, Nr. 27689/95; Entsch. vom 09.04.1997, Gorman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32339/96; Entsch. vom 21.05.1997, O. H. S. und G. R. ./. Finnland, Nr. 32530/95; anders aber: EKMR, Bericht vom 04.04.1995, Gül ./. Schweiz, Nr. 23218/94 (Ziff. 42) mit abweichender Meinung Trechsel u. a.; Entsch. vom 18.05.1995, Lamrabti ./. Niederlande, Nr. 24968/94. 92 Vgl. EKMR, Entsch. vom 29.06.1994, Cimen ./. Österreich, Nr. 20933/92; Entsch. vom 29.06.1994, Ünlü ./. Österreich, Nr. 20957/92; Entsch. vom 29.06.1994, Balbastro u. a. ./. Schweden, Nr. 23974/94; Entsch. vom 31.08.1994, Kamara ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24381/94; Entsch. vom 23.10.1995, Sorabjee ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23938/94; Entsch. vom 16.01.1996, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26290/95; Entsch. vom 28.02.1996, Larbie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25073/94; Entsch. vom 03.12.1997, Bouhali ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35688/97; anders aber EKMR, Entsch. vom 12.04.1996, Afopka ./. Österreich, Nr. 26720/95; Bericht vom 17.05.1996, Ahmut ./. Niederlande, Nr. 21702/93 (Ziff. 45).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

führt hatten. Auch hier prüfte die Kommission vielfach die Verletzung einer positiven Verpflichtung.93 Allerdings fällt die Judikatur in diesem Bereich nicht völlig einheitlich aus.94 Schließlich verbleiben Entscheidungen, in denen die Kommission bei Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung die Verletzung einer positiven Verpflichtung prüfte, obwohl sich der Beschwerdeführer bei der Herstellung der Familieneinheit bereits rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Konventionsstaates aufhielt. Allerdings war der Aufenthaltstitel in diesen Fällen schon seiner Zweckbestimmung nach auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt beschränkt.95 Zu nennen ist hier insbesondere der Besitz eines bloß einige Wochen oder Monate gültigen Besuchsvisums oder einer zum Zweck des Studiums erteilten Aufenthaltsgenehmigung. Sinngemäß gehören zu dieser Fallgruppe auch die Konstellationen, in denen der Aufenthalt eines Ausländers ausschließlich zur Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung oder politischen Asyls gestattet worden war. Indes kann die Rechtsprechung auch in diesen Fällen mit dem Mißbrauchsgedanken sinnvoll erklärt werden. Zwar hat der Betroffene im Gegensatz zu der soeben beschrieben Fallkonstellation nicht gegen nationale Einreise- und Aufenthaltsvorschriften verstoßen, doch liegt in der Gestattung eines derart zweckbestimmten Aufenthalts gerade nicht die staatliche Einwilligung in einen auf Dauer angelegten Aufenthalt zur Herstellung der Familieneinheit. Insoweit ist eine Gleichbehandlung mit den Fällen geboten, in denen Ausländer sich aus dem Ausland heraus um eine Aufenthaltsgenehmigung zum 93

Vgl. EKMR, Entsch. vom 07.12.1992, Daldal-Uslu ./. Niederlande, Nr. 17546/90; Entsch. vom 10.03.1994, L. A. ./. Schweden, Nr. 23253/94; Entsch. vom 16.01.1996, Yavuz ./. Österreich, Nr. 25050/94; Entsch. vom 15.05.1996, Poku ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26985/95; Entsch. vom 09.04.1997, McKenzie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26285/95; Entsch. vom 21.05.1997, Williamson ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 29308/95; Entsch. vom 21.05.1997, Tella ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 31612/96; Entsch. vom 21.05.1997, Miah und Miah ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 31762/96; Entsch. vom 18.09.1998, K. K. ./. Schweiz, Nr. 43678/98; Entsch. vom 21.10.1998, Esen ./. Niederlande, Nr. 37312/97. 94 Eine Eingriffskonstellation wurde angenommen von EKMR, Entsch. vom 13.05.1992, A. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19476/92; Entsch. vom 13.05.1992, M. L. und A. S. ./. Schweden, Nr. 18288/91; Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; Entsch. vom 18.10.1995, Öztürk ./. Österreich, Nr. 26400/95; Entsch. vom 29.11.1995, Özkaran ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 25783/94; Entsch. vom 02.07.1997, H. K. und A. K. ./. Schweiz, Nr. 36223/97; Entsch. vom 22.10.1997, H. U. ./. Schweiz, Nr. 36865/97; Entsch. vom 12.01.1998, Aboikonie and Read ./. Niederlande, Nr. 26336/95; Entsch. vom 02.07.1998, Kwong ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 36336/97. 95 Vgl. EKMR, Bericht vom 07.06.1990, Cruz Varas, Bustamento Lazo, Crus ./. Schweden, Nr. 15576/89 (Ziff. 102); Entsch. vom 10.03.1994, A. und Familie ./. Schweden, Nr. 22806/93; Entsch. vom 14.04.1994, Külen ./. Schweden, Nr. 23761/94; Entsch. vom 19.05.1994, Tanko ./. Finnland, Nr. 23634/94; Entsch. vom 29.11.1995, Ebibomi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26922/95; Entsch. vom 13.05.1996, Choudry ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27949/95; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 23.10. 1997, Ayoola ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 33185/96; Entsch. vom 11.09.1997, Phull ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 32789/96; Entsch. vom 10.07.1998, Momique-Pola ./. Schweden, Nr. 36287/97.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Zweck der Familienzusammenführung bemühen. Auch hier ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Kommission keinesfalls einheitlich entschied. In einigen Fällen wurde gleichwohl ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens angenommen.96

c) Unterscheidungskriterien des Gerichtshofs Die Rechtsprechung des Gerichtshofs läßt sich im wesentlichen anhand derselben Kriterien systematisieren, zeichnet sich dabei aber gegenüber der Kommissionsrechtsprechung durch eine insgesamt stärkere Stringenz aus. Hat der Beschwerdeführer bereits ein Familienleben im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates ohne Verstoß gegen Einreise- und Aufenthaltsvorschriften etabliert, wertet der Gerichtshof alle nachfolgenden aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen, die die bestehende Familieneinheit beeinträchtigen, als Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens. Das gilt für eine Aufenthaltsbeendigung aufgrund einer Ausweisung oder einer vergleichbaren Maßnahme97 ebenso wie für eine Aufenthalts96 Vgl. EKMR, Entsch. vom 10.09.1992, M. K. ./. Schweden, Nr. 20470/92; Entsch. vom 02.03.1994, Korieh ./. Schweden, Nr. 22978/93; Entsch. vom 30.11.1994, H. Z. ./. Schweiz, Nr. 24136/94; Entsch. vom 15.05.1996, Altuntas ./. Österreich, Nr. 25918/94; Entsch. vom 04.07.1995, E. S. ./. Finnland, Nr. 26157/95; Entsch. vom 11.04.1996, Sacic ./. Schweden, Nr. 28071/95; Entsch. vom 18.09.1997, Al-Dabbagh ./. Schweden, Nr. 36756/97. 97 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 36); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 67); Urt. 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320 (Ziff. 34); Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 35); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 25); Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 27); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36); Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Entsch. vom 23.03.1999, Sahintürk ./. Österreich, Nr. 33449/96; Entsch. vom 23.03.1999, Demir ./. Finnland, Nr. 44944/98; Entsch. vom 01.06.1999, Torunlar ./. Schweden, Nr. 41216/98; Entsch. vom 29.06.1999, Slavov ./. Schweden, Nr. 44828/98; Entsch. vom 24.08.1999, Cartagena Olmos ./. Schweden, Nr. 47485/99; Entsch. vom 24.08.1999, Farah ./. Schweden, Nr. 43218/98; Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 37); Entsch. 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, Nr. 32365/96; Entsch. vom 04.05.2000, Hussain und C. ./. Norwegen, Nr. 36844/97; Entsch. vom 07.12.2000, Caglar ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 62444/00; Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 26); Entsch. vom 03.05.2001, Coretti ./. Bundesrepublik Deutschland; Nr. 46689/99; Entsch. vom 10.07.2001, Nwosu ./. Dänemark, Nr. 50359/99; Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 40); Entsch. vom 23.10.2001, Lakatoš ./. Tschechische Republik, Nr. 42052/98; Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 115); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 27); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 36); Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 22); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 25); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 23); Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 96); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 28); Entsch. vom 22.06.2004, Ndangoya ./. Schweden, Nr. 17868/03; Entsch. vom 06.07.2004, Najafi ./.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

beendigung in Folge der Versagung einer neuen Aufenthaltsgenehmigung bzw. deren Nichtverlängerung.98 Soll die Familieneinheit dagegen erst im Wege der Familienzusammenführung hergestellt werden, liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Verweigerung des Nachzugs kein Eingriff in Art. 8 EMRK, sondern allenfalls die Verletzung einer positiven Verpflichtung.99 Als entscheidend erweist sich somit die Auswirkung einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme auf den Status des Familienlebens, während die formal vom Staat verlangte Leistung außer Betracht bleibt. Besonders anschaulich kommt dieses Unterscheidungskriterium in den Rechtssachen Ciliz und Haydarie zum Ausdruck, die beide die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung betrafen. Während der Beschwerdeführer in Ciliz eine erneute Aufenthaltsgenehmigung begehrte, um auch nach Scheidung seiner Ehe den bereits bestehenden Umgang mit der gemeinsamen Tochter aufrechterhalten zu können, bemühte sich die als Flüchtling in den Niederlanden aufgenommene Beschwerdeführerin in Haydarie um eine Aufenthaltsgenehmigung für ihre drei bislang in Pakistan lebenden Kinder, um nach gemeinsamer Flucht aus Afghanistan und anschließender Trennung ein gemeinsames Familieleben in den Niederlanden zu etablieren. Im ersten Fall sah der Gerichtshof das Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Funktion als Abwehrrecht betroffen,100 im zweiten Fall prüfte er die Verletzung einer positiven Verpflichtung.101 Schweden, Nr. 28570/03; Entsch. vom 31.08.2004, A. B. ./. Schweden, Nr. 24697/04; Entsch. vom 08.03.2005, Hussein Mossi u. a. ./. Schweden, Nr. 15017/03; Entsch. vom 01.05.2005, Prince Charles und Akeem Headley ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39642/03; Entsch. vom 31.05.2005, Mccalla ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 30673/04; Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 38); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 53); Entsch. vom 13.12.2005, Pello-Sode ./. Schweden, Nr. 34391/05; Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff.76); Urt. vom 12.10.2006, Kaya ./. Rumänien, Nr. 33970/05 (Ziff. 29 ff.); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 54); Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 37); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 60); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 61). 98 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 23); Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 45); Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 62); Entsch. vom 05.10.2000, Katanic ./. Schweiz, Nr. 54271/00; Entsch. vom 31.05.2005, Davydov ./. Estland, Nr. 16387/03; Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 40); Urt. vom 06.12.2007, Liu und Liu ./. Rußland, Nr. 42086/05 (Ziff. 51). 99 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 69); Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 38); Entsch. vom 07.11.2000, P. R. ./. Niederlande, Nr. 39391/98; Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96; Nessa u. a. ./. Finnland, Nr. 31862/02; Entsch. vom 18.03. 2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 25.03.2003, I. M. ./. Niederlande, Nr. 41226/98; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00; Entsch. vom 14.06.2005, Magoke ./. Schweden, Nr. 12611/03; Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie u. a. ./. Niederlande, Nr. 8876/04; Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 41); Entsch. vom 29.11.2007, Taher ./. Schweden, Nr. 25709/05. 100 EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 62). 101 EGMR, Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie u. a. ./. Niederlande, Nr. 8876/04.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Unerheblich für die Unterscheidung zwischen beiden Konstellationen ist, ob sich der nachziehende Familienangehörige aus dem Ausland heraus um eine Aufenthaltsgenehmigung bemüht oder ob er schon eingereist ist, die angestrebte Familieneinheit somit faktisch hergestellt hat und vom Boden des Konventionsstaates aus eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt. In beiden Fällen prüft der Gerichtshof die Verletzung einer positiven Verpflichtung.102 Ebenso ist nach seiner Rechtsprechung zu entscheiden, wenn sich der nachziehende Familienangehörige aufgrund eines befristeten Aufenthaltstitels im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates aufhält und der Aufenthalt auch dem Zweck der Genehmigung nach nicht auf einen dauerhaften Verbleib hin angelegt ist. Das gilt – wie schon aus der Rechtsprechung der Kommission bekannt – insbesondere für den Besitz eines Besuchsvisums, einer Aufenthaltsgenehmigung für Studienzwecke oder einer vorübergehenden Gestattung des Aufenthalts bis zum Abschluß eines Asylverfahrens.103 Die Befristung einer Aufenthaltsgenehmigung allein ist dabei jedoch nicht entscheidend. Dies zeigt die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Yagiz. Dort setzte sich ein seit mehreren Jahren mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung in Österreich lebender türkischer Staatsangehöriger gegen die Verhängung eines fünfjährigen Aufenthaltsverbots zur Wehr. Der Gerichtshof verwies darauf, daß die Aufenthaltsgenehmigung bedingungslos erteilt und regelmäßig verlängert worden war. Außerdem deute der inzwischen von den österreichischen Behörden gestattete Nachzug weiterer Familienangehöriger darauf hin, daß der Aufenthalt des Beschwerdeführers auf Dauer angelegt war. Somit stelle das Aufenthaltsverbot einen Eingriff in Art. 8 EMRK dar.104 Als maßgebliches Abgrenzungskriterium erweist sich damit letztlich der Wille des Konventionsstaates, den Aufenthalt eines Ausländers vorbehaltlich sich ändernder Umstände jedenfalls dem Grundsatz nach dauerhaft zu gestatten. Von diesen Überlegungen ausgehend konsequent entscheidet der Gerichtshof auch in den Fallkonstellationen, in denen die Familieneinheit im Hoheitsgebiet 102 Vgl. EGMR, Urt. vom 20.03.1991, Cruz Varas u. a. ./. Schweden, Serie A 201 (Ziff. 89); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96; Entsch. vom 08.07.2003, Afonso und Antonio, Nr. 11005/03; Entsch. vom 05.04.2004, Benamar u. a. ./. Niederlande, Nr. 43786/04. 103 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 69); Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00; der Prüfung nach auch Entsch. vom 06.07.2006, Priya ./. Dänemark, Nr. 13594/03. 104 EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96: „Further, the Commission has found that the deportation of an alien whose presence in the Contracting State was only conditional and temporary did not interfere with his right to respect for his private life […]. However, it appears that the applicant’s residence permit was not subject to any particular conditions and was renewed on a regular basis. The fact that his family joined him under a family reunion scheme also indicates that his permission to stay in Austria had a long-term perspective. The Court will, therefore, assume that the issue of a residence ban against the applicant constituted an interference with his right to respect for his private and family life.“; vgl. auch Urt. vom 12.10.2006, Kaya ./. Rumänien, Nr. 33970/05 (Ziff. 29 ff.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

eines Konventionsstaates unter Verstoß gegen nationale Einreise- oder Aufenthaltsvorschriften hergestellt wird. Zu denken ist hier insbesondere an Fälle, in denen ein Ausländer illegal einreist oder nach Ablauf eines befristeten Visums rechtswidriger Weise im Hoheitsgebiet verbleibt. Während sich die Rechtsprechung der Kommission hier noch als weitgehend unübersichtlich erwies, prüft der Gerichtshof mit zunehmender Regelmäßigkeit sowohl bei Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung als auch bei Ausweisung des Ausländers eine Verletzung einer positiven Verpflichtung.105 Lediglich vereinzelte Annahmeentscheidungen gehen noch von einem Eingriff aus.106 In der Rechtssache Rodrigues da Silva und Hoogkamer hat der Gerichtshof jüngst ausdrücklich klargestellt, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei von Anfang an illegalem Aufenthalt keinen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellen: „Next, it observes that the present case concerns the refusal of the domestic authorities to allow the first applicant to reside in the Netherlands; although she has been living in that country since 1994, her stay there has at no time been lawful. Therefore, the impugned decision did not constitute interference with the applicants’ exercise of the right to respect for their family life on account of the withdrawal of a residence status entitling the first applicant to remain in the Netherlands. Rather, the question to be examined in the present case is whether the Netherlands authorities were under a duty to allow the first applicant to reside in the Netherlands, thus enabling the applicants to maintain and develop family life in their territory. For this reason the Court agrees with the parties that this case is to be seen as one involving an allegation of failure on the part of the respondent State to comply with a positive obligation […].“107

Es bleibt freilich abzuwarten, ob sich diese klare Positionierung der entscheidenden Kammer künftig als einheitliche Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs behaupten wird.

105 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 69); Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 63); Entsch. vom 26.01.1999, Sarumi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 43279/98; Entsch. vom 04.05.1999, Alidjah-Anyame ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39633/98; Entsch. vom 22.06.1999, Ajayi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27663/95; Entsch. vom 05.09.2000, Knel und Veira ./. Niederlande, Nr. 39003/07; Entsch. vom 06.11.2001, Kaya ./. Niederlande, Nr. 44947/98; Entsch. vom 05.10.2004, Amara ./. Niederlande, Nr. 6914/02; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 38); Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00; nicht ausdrücklich, aber dem Prüfungsprogramm nach auch Urt. 26.04.2007, Konstatinov ./. Niederlande, Nr. 16351/03 (Ziff. 46 f.). 106 Vgl. EGMR, Entsch. vom 09.11.1999, Schober ./. Österreich, Nr. 34891/97; Entsch. vom 04.07.2000, Butovic ./. Schweden, Nr. 40746/98; Entsch. vom 05.09.2000, Solomon ./. Niederlande, Nr. 44328/98; Entsch. vom 26.09.2000, Singh u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 30024/96; Entsch. vom 03.05.2007, Goncharova und Alekseytsev ./. Schweden, Nr. 31246/06. 107 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 38).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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d) Folgerungen Festzuhalten ist, daß sich trotz vereinzelter Abweichungen insbesondere der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine stringentere Unterscheidung von Eingriffskonstellationen und Fällen einer positiven Verpflichtung entnehmen läßt, als dies angesichts der verbreiteten Kritik vor allem im Schrifttum zu erwarten war. Im Grundsatz gilt, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die eine bestehende Familieneinheit (respektive ein etabliertes Privatleben) beeinträchtigen, als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gewertet werden, während Fälle, in denen eine Familieneinheit erst durch den Nachzug von Familienangehörigen hergestellt werden soll, die Frage nach einer positiven Verpflichtung zur Gestattung des Aufenthalts aufwerfen. Im einzelnen ist jedoch zu differenzieren. Ist die Familieneinheit faktisch bereits hergestellt, erfolgt gleichwohl eine Gleichstellung mit den originären Nachzugsfällen, wenn der Aufenthalt des Betroffenen von Anfang an rechtswidrig war oder der jeweilige Konventionsstaat noch nicht endgültig über die Gestattung eines zumindest potentiell dauerhaften Aufenthaltsrechts entschieden hat.

3. Relevanz der Unterscheidung Der insbesondere im Schrifttum erhobene Vorwurf, das auf die Rüge einer Verletzung einer positiven Verpflichtung hin praktizierte Prüfungsprogramm führe zu einem gegenüber Eingriffskonstellationen schwächeren Schutz des Familienlebens, entbehrt, betrachtet man die Erfolgsbilanz der gegen aufenthaltsrechtliche Maßnahmen gerichteten Beschwerden, nicht einer gewissen Plausibilität. So hat die Kommission während ihrer bis 1998 dauernden Amtszeit soweit ersichtlich in keinem einzigen Fall eine Verletzung einer positiven Verpflichtung durch die Versagung des Familiennachzugs feststellen können. In der umfangreichen Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich bislang allein drei Urteile, nämlich Sen, Tuquabo-Tekle und Rodrigues da Silva und Hoogkamer, in denen Konventionsstaaten wegen Verletzung einer positiven Verpflichtung verurteilt wurden.108 Eine Aussage über die praktische Relevanz des unterschiedlichen Prüfungsprogramms läßt sich jedoch nicht allein auf der Grundlage einer empirischen Erhebung treffen, sondern setzt eine Untersuchung der jeweiligen Entscheidungsgründe voraus.

108

Vgl. EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96; Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99.

124

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

a) Eine Untersuchung am Einzelfall: Die Rechtssachen Gül und Ahmut Es bietet sich an, die Untersuchung mit den Rechtssachen Gül und Ahmut zu beginnen, liefern sie doch zumindest dem ersten Anschein nach ein deutliches Indiz dafür, daß sich das unterschiedliche Prüfungsprogramm bei negativen und positiven Verpflichtungen tatsächlich auf die Erfolgsaussichten einer Beschwerde auswirkt. In beiden Fällen hatte die Kommission in ihrem abschließenden Bericht eine Eingriffskonstellation unterstellt und war im Ergebnis zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK gelangt. Der Gerichtshof entschied jedoch, daß die Beschwerden allenfalls die Frage nach einer Verletzung einer positiven Verpflichtung aufwarfen und verneinte einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK. Die Sache Gül betraf einen nach eigenen Angaben wegen politischer Verfolgung aus der Türkei geflohenen türkischen Staatsangehörigen, der sich zunächst erfolglos in der Schweiz um Asyl bemühte, jedoch später aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Seine ebenfalls türkische Ehefrau folgte ihm einige Jahre später, zunächst um sich in der Schweiz wegen schwerer Verbrennungen, die sie in Folge eines epileptischen Anfalls erlitten hatte, medizinisch behandeln zu lassen. Da aber eine ausreichende medizinische Versorgung in der Türkei auch künftig nicht gesichert schien, wurde schließlich auch ihr eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen erteilt. Nach der Geburt eines weiteren Kindes bemühte sich der Beschwerdeführer dann um den Nachzug seines Sohnes, der in der Türkei zurückgeblieben war und dort von Verwandten betreut wurde. Die zuständigen Behörden lehnten die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ab, weil der Beschwerdeführer ihrer Ansicht nach nicht selbständig für den Lebensunterhalt seines Sohnes aufkommen könne.109 Der Beschwerdeführer in der Sache Ahmut war ein marokkanischer Staatsangehöriger, der nach der Scheidung seiner Ehe in die Niederlande ausgewandert war. Nachdem zwei seiner Kindern zu Studienzwecken eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande erhalten hatten, bemühte er sich auch um einen Aufenthaltstitel für seine inzwischen illegal eingereiste dritte Tochter, deren Versorgung er in Marokko nach dem Tod der Mutter nicht länger gewährleistet sah. Die niederländischen Behörden lehnten seinen Antrag mit Verweis auf die geltenden Zuwanderungsbeschränkungen ab.110 Die von der Kommission für eine Verletzung von Art. 8 EMRK angeführten Gründe zeigen zunächst, daß das von den Urteilen des Gerichtshofs abweichende Ergebnis nicht darauf beruht, daß die Versagung des Familiennachzugs unter keine der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Grundrechtsschranken, an die der Gerichtshof aufgrund der unterschiedlichen Prüfungsstruktur nicht gebunden war, subsumiert werden konnte. So zog die Kommission in beiden Fällen das wirtschaftliche Wohl des Landes als Schranke heran. In der Sache Gül drohe eine zusätzliche 109 110

EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 6 ff.). EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 7 ff.).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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Inanspruchnahme des schweizerischen Sozialsystems111; in der Sache Ahmut dienten die einem Nachzug entgegenstehenden Zuwanderungsbeschränkungen dem Schutz des niederländischen Arbeitsmarktes sowie der Regulierung des Bevölkerungswachstums.112 Ein Vergleich von Kommissionsbericht und Urteil zeigt in beiden Fällen vielmehr, daß das abweichende Ergebnis auf unterschiedliche Wertungen innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung zurückzuführen ist. So gelangten Kommission und Gerichtshof in der Sache Gül insbesondere zu einer divergierenden Einschätzung der Rückkehrmöglichkeit in die Türkei. Die Kommission ging davon aus, daß weder mit einer freiwilligen Rückkehr in die Türkei gerechnet, noch eine solche Rückkehr aufgrund des prekären Gesundheitszustandes der Ehefrau in absehbarer Zeit verlangt werden könne.113 Der Gerichtshof stellte demgegenüber fest, daß weder die angebliche politische Verfolgung des Beschwerdeführers, noch der Gesundheitszustand der Ehefrau beide in der Vergangenheit daran gehindert habe, mehrfach und auch für längere Zeit in die Türkei zu reisen. Der Familie sei daher eine Rückkehr in die Türkei zumutbar.114 In der Sache Ahmut stützte sich die Kommission insbesondere darauf, daß der Beschwerdeführer nach dem Tod der Mutter der engste Angehörige seiner Tochter sei und deren Versorgung in Marokko durch die inzwischen fünfundachtzigjährige Großmutter langfristig nicht gesichert erscheine.115 Der Gerichtshof betonte, daß die Tochter des Beschwerdeführers sprachlich, kulturell und familiär in Marokko verwurzelt sei und die Trennung von Vater und Tochter auf einer bewußten Lebensentscheidung des Beschwerdeführers beruhe. Sofern dieser eine intensivere Beziehung zu seiner Tochter wünsche, als es dem bisherigen Grad des Familienlebens entspreche, könne von ihm eine Rückkehr nach Marokko verlangt werden.116

b) Eine Untersuchung der relevanten Prüfungskriterien aa) Allgemeine Grundsätze Ob im Einzelfall eine aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende positive Verpflichtung zur Gestattung des Aufenthalts besteht, hängt von einer umfassenden Gesamtabwägung aller Umstände ab. Die Leitlinien dieses Abwägungsprozesses hat der Gerichtshof auf seinem Urteil in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali aufbauend insbesondere in den nachfolgenden Urteilen Gül und Ahmut entwickelt. Erstens hingen das Bestehen und die Reichweite einer positiven Verpflichtung von der Situation des nachzugbegehrenden Ausländers und vom Allgemeininteresse ab. Zweitens stehe den Staaten nach völkerrechtlichen Grund111 112 113 114 115 116

EKMR, Bericht vom 04.04.1995, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 186 (Ziff. 50 f.). EKMR, Bericht vom 17.05.1995, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2039 (Ziff. 48). EKMR, Bericht vom 04.04.1995, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 186 (Ziff. 67). EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 41). EKMR, Bericht vom 17.05.1995, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2039 (Ziff. 51 f.). EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 69 ff.)

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

sätzen – vorbehaltlich ihrer völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen – das Recht zu, über die Einreise fremder Staatsangehöriger in das eigene Hoheitsgebiet zu bestimmen. Drittens könne aus Art. 8 EMRK keine generelle Verpflichtung eines Staates abgeleitet werden, die Wohnsitzwahl von Einwanderern zu akzeptieren und die Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten: „The applicable principles have been stated by the Court in its Gül judgment as follows […]: (a) The extent of a State’s obligation to admit to its territory relatives of settled immigrants will vary according to the particular circumstances of the persons involved and the general interest. (b) As a matter of well-established international law and subject to its treaty obligations, a State has the right to control the entry of non-nationals into its territory. (c) Where immigration is concerned, Article 8 (art. 8) cannot be considered to impose on a State a general obligation to respect immigrants’ choice of the country of their matrimonial residence and to authorise family reunion in its territory.“117

Diese Grundsätze sind durch den Gerichtshof inzwischen mehrfach bestätigt worden und geben die generelle Rechtsprechungslinie wieder.118 Sie legen nahe, daß aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nur in Ausnahmekonstellationen ein Anspruch auf Familiennachzug abgeleitet werden kann.

bb) Familienstatus zum Zeitpunkt der Einwanderung Im einzelnen differenziert der Gerichtshof zunächst nach dem Familienstatus der Betroffenen zum Zeitpunkt der Einwanderung bzw. der Äußerung des Einwanderungsbegehrens. Zu fragen ist, ob ein Ausländer erst nach Familiengründung, etwa durch Heirat mit einem Staatsangehörigen des betreffenden Konventionsstaates oder einem dort lebenden Ausländer, für sich selbst einen Nachzugsanspruch geltend macht oder ob er zum Zeitpunkt der Einwanderung bereits eine Familie gegründet hatte und sich nun um den Nachzug seiner zunächst im Herkunftsland zurückgelassen Angehörigen bemüht.119 In der ersten Konstellation folgert der Gerichtshof, daß den Betroffenen bei Familiengründung die in aufenthaltsrechtlicher Hinsicht unsichere Zukunft eines gemeinsamen Familienlebens im Konventionsstaat bekannt gewesen sein muß. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK könne unter diesen Umständen lediglich in extremen Ausnahmefällen vorliegen:

117 EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 67); vgl. auch EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 38). 118 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 36); Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 43); Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 39). 119 Vgl. bereits EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 68): „The Court observes that the present proceedings do not relate to immigrants who already had a family which they left behind in another country until they had achieved settled status in the United Kingdom. It was only after becoming settled in the United Kingdom, as single persons, that the applicants contracted marriage […].“

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

127

„Another important consideration will also be whether family life was created at a time when the persons involved were aware that the immigration status of one of them was such that the persistence of that family life within the host State would from the outset be precarious. The Court has previously held that where this is the case it is likely only to be in the most exceptional circumstances that the removal of the non-national family member will constitute a violation of Article 8 […].“120

In der Rechtsprechungspraxis führt die Kenntnis vom unsicheren Aufenthaltsstatus daher regelmäßig zu einem Ausschluß eines aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung.121 Anders zu bewerten ist dagegen der Fall, in dem ein Ausländer bereits einen festen Aufenthaltsstatus in einem Konventionsstaat erlangt hat und nun den Nachzug seiner noch im Herkunftsland lebenden Angehörigen begehrt. Hier betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, daß es sich angesichts der Wertentscheidung von Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig erweisen könne, den eingewanderten Ausländern eine Entscheidung zwischen ihren zurückgebliebenen Angehörigen und ihrem im Konventionsstaat erworbenen Status aufzubürden: „The Court notes in this context, however, that due consideration should be given to cases where a parent has achieved settled status in a country and wants to be reunited with her or his children who, for the time being, have been left behind in their country of origin, and that it may be unreasonable to force the parent to choose between giving up the position which she / he has acquired in the country of settlement or to renounce the mutual enjoyment by parent and child of each other’s company which constitutes a fundamental element of family life […].“122

Da der Gerichtshof selbst keine Begründung für die Unterscheidung zwischen beiden Fallkonstellationen gegeben hat, lassen sich über ihren Zweck allenfalls 120 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 39). 121 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 68); Entsch. vom 26.01.1999, Sarumi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 43279/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejcinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96; Entsch. vom 04.05.1999, Alidjah-Anyame ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39633/98; Entsch. vom 22.06.1999, Ajayi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27633/98; Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 06.11.2001, Kaya ./. Niederlande, Nr. 44947/98; Entsch. vom 05.10.2004, Amara ./. Niederlande, Nr. 6914/02; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04. 122 EGMR, Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99. Vgl. in diesem auch EGMR, Entsch. vom 09.01.2001, J. M. ./. Niederlande, Nr. 38047/97; Entsch. vom 18.03.2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 20.10.2005, Haydarie u. a. ./. Niederlande, Nr. 8876/04; noch weitergehend Sondervotum Richter Martens, sich anschließend Richter Russo, in: EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (181): „[…] the Abdulaziz, Cabales and Balkandali judgment supports the proposition that in cases where a father and mother have achieved settled status in a country and want to be reunited with their child which for the time being they have left behind in their country of origin, it is per se unreasonable, if not inhumane to give them the choice between giving up the position which they have acquired in the country of settlement or to renounce the mutual enjoyment by parent and child of each other’s company which constitutes a fundamental element of family life.“

128

Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Mutmaßungen anstellen. Nicht ersichtlich ist, daß sie auf einer divergierenden Schutzbedürftigkeit der betroffenen Familien als solcher beruht. Auch wenn Ausländer im Bewußtsein eines ungewissen Aufenthaltsstatus eine Familie gründen und somit ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit für ihre prekäre Familiensituation tragen, die die aus Art. 8 EMRK folgende positive Verpflichtung der Konventionsstaaten begrenzen mag, unterscheidet sich ihre Position in dieser Hinsicht nicht von Ausländern, die ihre bereits bestehende Familie zunächst im Herkunftsland zurücklassen. Auch hier – wenn nicht gerade hier – sind die Betroffenen maßgeblich für die Trennung der Familie selbst verantwortlich. Sinnvoll erklären läßt sich das Kriterium der Kenntnis nur, wenn hinter ihm der Schutz der staatlichen Souveränität in Einwanderungsfragen erblickt wird. Die Konventionsstaaten werden vor einer allein in der Hand der Betroffenen liegenden, gleichsam „aufgedrängten“ Einwanderung durch Familiengründung geschützt.123 Haben sie dagegen die Einwanderung eines Ausländers mit im Herkunftsland zurückgebliebenen Familienangehörigen gestattet, müssen sie bei dieser Entscheidung die Möglichkeit eines später geltend gemachten Anspruchs auf Familiennachzug in Kauf genommen haben. So betont der Gerichtshof, daß die Konventionsstaaten aus der Entscheidung eines einwandernden Ausländers, seine Angehörigen im Herkunftsland zurückzulassen, nicht folgern dürfen, daß sich die Betroffenen auf Dauer mit der Familientrennung abfinden werden.124

cc) Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland Die Urteile Sen, Tuquabo-Tekle und Rodrigues da Silva und Hoogkamer, in denen der Gerichtshof in der Verweigerung des Familiennachzugs eine Verletzung einer aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgenden positiven Verpflichtung erblickte, zeigen weiterhin, daß der Zumutbarkeit eines gemeinsamen Familienlebens im Ausland eine entscheidende Bedeutung zukommt. Die Rechtssache Sen betraf einen bereits im Kindesalter in die Niederlande eingewanderten türkischen Staatsangehörigen, der sich um ein Nachzugsrecht für seine in der Türkei lebende Tochter bemühte. Obwohl seiner ebenfalls türkischen Ehefrau inzwischen eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt und in den Niederlanden zwei weitere Kinder geboren worden waren, weigerten sich die niederländischen Ausländerbehörden, der bislang von Verwandten umsorgten Tochter eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Der Gerichtshof stütze sich in seiner Urteilsbegründung maßgeblich darauf,

123

Vgl. dazu auch Ress, in: Klein, Duty to Protect, S. 165 (180 f.). EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 45) mit Verweis auf EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 40): „However, the Court has previously held that parents who leave children behind while they settle abroad cannot be assumed to have irrevocably decided that those children are to remain in the country of origin permanently and to have abandoned any idea of a future family reunion […].“ 124

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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daß einer Rückkehr der Familie in die Türkei zum Zweck der Familienzusammenführung im Vergleich zu anderen Fällen ein größeres Hindernis entgegenstehe. Das Ehepaar Sen lebe seit Jahren rechtmäßig in den Niederlanden und habe dort auf der Grundlage der ihnen erteilten Niederlassungs- bzw. Aufenthaltserlaubnis eine eheliche Gemeinschaft etabliert. Außerdem seien zwei ihrer Kinder in den Niederlanden geboren und eingeschult worden, die außer durch ihre Staatsangehörigkeit keinerlei Verbindung zum Herkunftsland ihrer Eltern besäßen. Vor diesem Hintergrund erweise sich ein Nachzug der in Türkei lebenden Tochter in die Niederlande als das angemessene Mittel zur Familienzusammenführung.125 In der Sache Tuquabo-Tekle begehrte eine ursprünglich aus Äthiopien geflohene Mutter den Nachzug ihrer noch in Afrika lebenden Tochter, die sie anders als ihr zweites Kind bei ihrer Flucht hatte zurücklassen müssen. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Norwegen war sie in die Niederlande ausgewandert, wo sie mit ihrem niederländischen Ehemann zwei weitere Kinder bekam und nach einigen Jahren auch die niederländische Staatsangehörigkeit erwarb. Der Gerichtshof wies in seinem Urteil auf die Parallelen zum Fall Sen hin. So lebe die Beschwerdeführerin seit Jahren rechtmäßig in den Niederlanden. Außerdem seien die zwei dort geborenen Kinder sprachlich und kulturell in den Niederlanden verwurzelt, so daß ihnen eine gemeinsame Rückkehr mit ihrer Mutter nach Afrika nicht zugemutet werden könne.126 Der dem Urteil Rodrigues da Silva und Hoogkamer zugrundeliegende Sachverhalt unterscheidet sich zunächst von den beiden zuvor dargestellten Sachverhaltskonventionen. Die Beschwerdeführerin, eine brasilianische Staatsangehörige, reiste illegal in die Niederlande ein. Dort lebte sie für einige Jahre in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit einem Niederländer, aus der eine gemeinsame Tochter hervorging. Nach der Trennung des Paares wurde dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Mit ihrer Beschwerde richtete sie sich gegen die wiederholte Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung durch die niederländischen Ausländerbehörden. Obwohl der Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt ihrer Familiengründung in den Niederlanden bekannt war, daß ihr Aufenthalt illegal war und mit der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nicht in jedem Fall gerechnet werden konnte, stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, da es der Beschwerdeführerin aufgrund der Sorgerechtsverteilung schlicht nicht möglich sei, gemeinsam mit ihrer Tochter nach Brasilien zurückzukehren.127 Diese Urteile zeigen zunächst, daß sich der Gerichtshof bei der Bestimmung der Zumutbarkeit einer gemeinsamen Ausreise von mehreren Faktoren leiten läßt. Relevant sind sowohl das Ausmaß der Integration des Zusammenführenden im Konventionsstaat, insbesondere die Dauer seines Aufenthalts und die Etablierung eines auf Dauer angelegten Familienlebens in dessen Hoheitsgebiet, als auch der Aufenthaltsstatus, den der Zusammenführende im Konventionsstaat erlangt 125

EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 40). EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 47). 127 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 41). 126

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

hat.128 Besonders fallen dort geborene Kinder ins Gewicht, die aufgrund ihrer Sozialisation im Konventionsstaat nur minimale Bindungen an das Herkunftsland ihrer Eltern besitzen.129 Sofern eine gemeinsame Rückkehr in das Herkunftsland nicht bloß unzumutbar, sondern unmöglich ist, müssen schließlich Belange der Einwanderungskontrolle, die regelmäßig zu einem Ausschluß eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung führen, wenn der Betroffene im Bewußtsein seines prekären Aufenthaltsstatus ein Familienleben begründet, hinter dem Schutz des Familienlebens zurückstehen. dd) Intensität der familiären Bindung Ein weiterer Faktor ist die Intensität der familiären Bindung des nachzugbegehrenden Ausländers an seine im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates lebenden Angehörigen. In der Rechtsprechungspraxis scheiterten zahlreiche Beschwerden daran, daß die Familienmitglieder bereits über Jahre getrennt lebten und sich ihr bislang praktiziertes Familienleben allenfalls auf eine Fernbeziehung und gelegentliche Besuche beschränkte. Die Verweigerung des nachträglich beantragten Familiennachzugs konnte in diesen Fällen den Grad des bisherigen Familienlebens nicht beeinträchtigen.130 Der Gerichtshof berücksichtigt dabei auch, ob sich die bisherige Trennung als Folge einer bewußten und freiwilligen Lebensentscheidung darstellt und damit maßgeblich der Verantwortlichkeitssphäre der Betroffenen zuzurechnen ist. Zu denken ist hier etwa an Fälle, in denen ein Ausländer in einen Konventionsstaat einwandert, um dort eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder um nach Eheschließung mit einem Staatsangehörigen des betreffenden Staates oder einem dort lebenden Ausländer ein gemeinsames Leben zu führen.131 Selbst 128 Vgl. dazu auch EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 41): „Furthermore, although Mr and Mrs Gül are lawfully resident in Switzerland, they do not have a permanent right of abode, as they do not have a settlement permit but merely a residence permit on humanitarian grounds, which could be withdrawn, and which under Swiss law does not give them a right to family reunion.“ 129 Insoweit läßt sich eine Parallele zu den Fällen einer Ausweisung fest integrierter Ausländer feststellen, vgl. dazu unten unter E. III. 2. j). 130 Vgl. EGMR, Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; Entsch. vom 18.03.2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 25.03.2003, I. M. ./. Niederlande, Nr. 41226/98; Entsch. vom 06.05.2003, Nessa u. a. ./. Niederlande, Nr. 31862/02; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04; Entsch. vom 14.06.2005, Magoke ./. Schweden, Nr. 12611/03. 131 Vgl. EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 41); Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 71); Entsch. vom 05.09.2000, Knel und Veira ./. Niederlande, Nr. 39003/97; Entsch. vom 07.11.2000, P. R. ./. Niederlande, Nr. 39391/98; Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 18.03.2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 25.03.2003, I. M. ./. Niederlande, Nr. 41226/98; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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wenn die Trennung der Familie ursprünglich nicht auf einer eigenverantwortlichen Lebensentscheidung beruht, etwa weil ein Einwanderer vor politischer Verfolgung oder Bürgerkrieg geflohen ist, prüft der Gerichtshof, ob sich der Betroffene unmittelbar nach Ankunft im Konventionsstaat um den Nachzug seiner Angehörigen bemüht oder ob der Entschluß zur Familienzusammenführung erst Jahre später getroffenen wird. Einen allzu langen zeitlichen Abstand – in der Rechtsprechung finden sich hier Beispiele zwischen einem und zehn Jahren – wertet der Gerichtshof als Indiz dafür, daß sich die Betroffenen mit dem bisherigen Grad des Familienlebens abgefunden haben.132 Für die Intensität der familiären Bindung von Eltern und nachziehenden Kindern ist außerdem das Kindesalter bei Beantragung des Familiennachzugs relevant. Als Grundregel gilt hier, daß ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung um so eher angenommen werden kann, je jünger die Kinder und je stärker sie in der Folge auf ihre Eltern angewiesen sind.133 Dabei verbietet sich jedoch eine schematische Prüfung, wie der Fall Tuquabo-Tekle zeigt. Hier hatte die nachziehende Tochter zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bereits das fünfzehnte Lebensjahr vollendet, so daß die niederländische Regierung keine Notwendigkeit für einen Nachzug sah. Dem gegenüber hatten die Beschwerdeführer darauf verwiesen, daß die Tochter nach den im Herkunftsland geltenden Gebräuchen ein heiratsfähiges Alter erreicht habe und umsomehr den Schutz ihrer Eltern benötige, um keine Zwangsehe eingehen zu müssen. Auch wenn diese Befürchtung für sich allein nicht zur Begründung einer positiven Verpflichtung führe, nahm der Gerichtshof an, daß das Alter der Tochter einem aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Nachzugsanspruchs aufgrund der besonderen Umstände des Falls nicht entgegenstehe.134

ee) Bindungen an das Herkunftsland Spiegelbildlich zur Intensität der familiären Bindung des nachzugbegehrenden Ausländers an seine im Konventionsstaat lebenden Verwandten ist auch dessen familiäre, kulturelle und sprachliche Bindung an das jeweilige Herkunftsland zu berücksichtigen. Eine starke Bindung spricht nach der Auffassung des Gerichtshofs tendenziell für eine Familienzusammenführung im Herkunftsland und damit ge132 Vgl. EGMR, Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; Entsch. vom 18.03.2003, Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/ 99; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04. 133 EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. andere ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 49): „The Court has indeed previously rejected cases involving failed applications for family reunion and complaints under Article 8 where the children concerned had in the meantime reached an age where they were presumably not as much in need of care as young children and increasingly able to fend for themselves.“ 134 EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 50).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

gen ein aus Art. 8 EMRK abgeleitetes Nachzugsrecht. Im Vergleich zu den übrigen Kriterien kommt den Bindungen an das Herkunftsland jedoch keine überragende Bedeutung zu. So findet sich keine Entscheidung, in der eine starke Bindung an das Herkunftsland für sich genommen einen Nachzugsanspruch ausschloß.135

ff) Effektivität der staatlichen Einwanderungskontrolle Hat ein nachzugbegehrender Ausländer schließlich gegen nationale Einreiseoder Aufenthaltsbestimmungen verstoßen, etwa durch eine illegale Einreise, kann er nach der Auffassung der Straßburger Rechtsprechung in der Regel nicht mehr mit der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung rechnen: „The Court reiterates that persons who, without complying with the regulations in force, confront the authorities of a Contracting State with their presence in the country as a fait accompli do not, in general, have any entitlement to expect that a right of residence will be conferred upon them […].“136

Der Schutzzweck dieser Rechtsprechung liegt in der Wahrung einer effektiven Einwanderungskontrolle durch die Konventionsstaaten, die zu unterlaufen werden droht, falls Ausländer ungeachtet der Einhaltung nationaler Einreise- und Aufenthaltsvorschriften aus der Europäischen Menschenrechtskonvention einen Anspruch auf Aufenthalt ableiten könnten. Weniger schwer fällt ein Verstoß jedoch ins Gewicht, wenn es ein illegal eingereister Ausländer versäumt, seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren und nach dem Recht des betreffenden Konventionsstaates die Bedingungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels tatsächlich erfüllt waren.137

gg) Vergleich mit der Rechtfertigungsprüfung in Eingriffskonstellationen Ohne einer eingehenden Untersuchung der Rechtfertigungsmöglichkeiten für Grundrechtseingriffe nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorgreifen zu wollen, soll bereits an dieser Stelle festgehalten werden, daß die von der Rechtsprechung zur Bestimmung einer positiven Verpflichtungen herangezogenen Kriterien im wesentlichen denjenigen entsprechen, die auch in der im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant werden. Dies gilt in erster Li135 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, RJD 1996-VI, 2017 (Ziff. 71); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98; Entsch. vom 09.01.2001, J. M. ./. Niederlande, Nr. 38047/97; Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; Entsch. vom 06.05.2003, Nessa u. a. ./. Niederlande, Nr. 31862/02; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04. 136 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 43). 137 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 43).

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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nie für die Frage nach der Möglichkeit und Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland, die Intensität der familiären Bindungen und die Bindungen eines Ausländers an sein Herkunftsland.138 Aber auch die von der Rechtsprechung vorgenommene Differenzierung nach dem Familienstatus zum Zeitpunkt der Einwanderung und die Wahrung der Effektivität der staatlichen Einwanderungskontrolle, die regelmäßig zum Ausschluß eines Nachzugsanspruchs führt, wenn ein Ausländer die nationalen Behörden durch eine illegale Einreise vor vollendete Tatsachen stellt, finden dort zumindest sinngemäß eine Entsprechung. Für den Familienstatus gilt dies insofern, als die Rechtsprechung ein Familienleben dann als wenig schutzwürdig erachtet, wenn es erst zu einem Zeitpunkt entsteht, in dem sich die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, etwa in Folge einer begangenen Straftat, bereits absehen läßt. In diesen Fällen können die Betroffenen nach Auffassung der Rechtsprechung nicht auf einen auch künftig gemeinsamen Aufenthalt vertrauen.139 Hinsichtlich der Effektivität der Einwanderungskontrolle läßt sich insoweit eine Parallele ziehen, als daß Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen auch einen Eingriff in Art. 8 EMRK rechtfertigen können.140 Wohl aber kann die Anwendung dieser Kriterien auf Fälle des Familiennachzugs wegen der anders gelagerten Sachverhaltskonstellation zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies gilt insbesondere für die Intensität der familiären Bindung eines nachzugbegehrenden Ausländers an seine bislang getrennt von ihm lebenden Angehörigen, die typischerweise schwächer ausfällt als in Eingriffskonstellationen, in denen eine bereits bestehende Familieneinheit beeinträchtigt wird. Spiegelbildlich gilt dies auch für die Bindungen eines Ausländers an sein Herkunftsland. Als entscheidend erweist sich damit letztlich, ob eine Familienzusammenführung im Konventionsstaat für die Betroffenen unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten die einzige Möglichkeit darstellt, ein Familienleben zu führen.

c) Eine Untersuchung zur Beweislastverteilung Auch hinsichtlich der Beweislastverteilung lassen sich insoweit keine aus dem unterschiedlichen Prüfungsprogramm folgenden Unterschiede bei negativen und positiven Verpflichtungen feststellen. Grundsätzlich gilt ohnehin, daß der Gerichtshof von Amts wegen ermittelt und eine Beweisführungslast der Parteien im engen Sinne damit nicht besteht. Dennoch gibt es eine materielle Beweislast, die darüber entscheidet, zu wessen Nachteil es gereicht, wenn Feststellungen zum Sachverhalt nicht getroffen werden können.141 Hinsichtlich des Bestehens einer positiven Verpflichtung liegt diese materielle Beweislast beim Beschwerdefüh138

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen unten unter E. III. 2. e), h), j). Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen unten unter E. III. 2. c). 140 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen unten unter E. II. 141 Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 38 Rn. 2, 15; vgl. außerdem Art. 42 der Verfahrensordnung. 139

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

rer. In der Praxis relevant wird dies insbesondere bei der Frage nach der Möglichkeit und Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Herkunftsland des nachzugbegehrenden Ausländers. Kann der Gerichtshof nicht feststellen, ob diesbezüglich ernstzunehmende Hindernisse bestehen, wird regelmäßig von der Möglichkeit und Zumutbarkeit ausgegangen.142 Ebenso verfährt die Rechtsprechung in Eingriffskonstellationen. Grundsätzlich obliegt es hier zwar den Konventionsstaaten, die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK darzulegen. Da der Gerichtshof ihnen jedoch einen weitgehenden Beurteilungsspielraum einräumt, sich also maßgeblich auf den Vortrag der Konventionsstaaten verläßt, trägt regelmäßig der Beschwerdeführer die materielle Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs.143 In der Praxis betrifft dies auch hier vielfach die Frage nach der Möglichkeit und Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Herkunftsland.144

d) Eine Untersuchung zur Anwendbarkeit von Art. 13 und Art. 14 EMRK Als unbegründet erweist sich schließlich die im Schrifttum geäußerte Auffassung, daß eine Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK, der jedermann bei Verletzung seiner Konventionsrechte ein Recht auf eine innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit gewährt, ausscheide, wenn in einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme kein Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gesehen und letztlich auch keine Verletzung einer positiven Verpflichtung festgestellt werde.145 Richtig ist zunächst, daß Art. 13 EMRK entgegen seinem Wortlaut keine Konventionsverletzung voraussetzt. Mit dem garantierten Rechtsbehelf soll gerade überprüft werden, ob eine solche vorliegt.146 Voraussetzung ist allein, daß ein Beschwerdeführer plausibel 142 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 68); Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 06.11.2001, Adane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; Entsch. vom 25.03.2003, I. M. ./. Niederlande, Nr. 41226/98; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 06.07.2004, Ramos Andrade ./. Niederlande, Nr. 53675/00; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04; vgl. sinngemäß zur Nichtbeweisbarkeit einer hinreichend engen familiären Bindung EGMR, Entsch. vom 14.06.2005, Magoke ./. Schweden, Nr. 12611/03. 143 Ausführlich Kokott, Beweislastverteilung, S. 416 ff.; zum Beurteilungsspielraum siehe sogleich unter E. III. 1. 144 Vgl. EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Entsch. vom 24.08.1999, Cartagena Olmos ./. Schweden, Nr. 47485/99; Entsch. vom 09.11.1999, Schober ./. Österreich, Nr. 34891/97; Entsch. vom 08.07.2003, Afonso und Antonio ./. Niederlande, Nr. 11005/03; Entsch. vom 05.10.2004, Amara ./. Niederlande, Nr. 6914/02; Entsch. vom 01.05.2005, Prince Charles und Akeem Headley ./. Niederlande, Nr. 39642/03; vgl. sinngemäß zur Frage, ob von einem straffälligen Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgeht EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 60). 145 So aber Bertschi / Gächter, ZBl. 2003, 225 (243); Grant, Protection, S. 315. 146 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 170; Frowein, in: ders./ Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 13 Rn. 2; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 4.

D. Beeinträchtigung durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen

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behaupten kann („arguable claim“), Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.147 Auch wenn der Gerichtshof hohe Anforderungen an die Plausibilität stellt und Art. 13 EMRK vielfach rückblickend nicht für anwendbar hält, wenn er die später erhobene Beschwerde hinsichtlich der geltend gemachten materiellen Konventionsverletzung als offenkundig unbegründet und damit unzulässig einstuft, setzt die Plausibilität nicht voraus, daß zumindest ein (im weiteren rechtsfertigungsbedürftiger) Grundrechtseingriff vorliegt. Auch wenn die Verletzung einer positiven Verpflichtung hinreichend plausibel darlegt ist – obwohl sie sich später als unbegründet erweist – ist Art. 13 EMRK anwendbar.148 Gleiches gilt im übrigen für die Anwendbarkeit des unselbständigen Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK. Hier genügt es, daß der der Beschwerde zugrundeliegende Sachverhalt in den Geltungsbereich („ambit“) eines Konventionsrechts fällt.149

e) Folgerungen Allein aus dem gegenüber Eingriffskonstellationen unterschiedlichen Prüfungsprogramm zur Bestimmung einer positiven Verpflichtung läßt sich keine nachteilige Behandlung der betroffenen Sachverhaltskonstellationen folgern. Die von der Rechtsprechung im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung herangezogenen Kriterien entsprechen im wesentlichen denjenigen, die auch in der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK berücksichtigt werden. Gleiches gilt in verfahrensrechtlicher Hinsicht für die Frage der materiellen Beweislast und für die Auswirkungen auf die Anwendbarkeit von Art. 13 und 14 EMRK. Zumindest dem ersten Anschein nach empirisch feststellbare, geringere Erfolgschancen von Beschwerden gegen die Verweigerung des Familiennachzugs sind maßgeblich auf die unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen selbst zurückzuführen. Beschränkungen des Familiennachzugs lassen sich wegen der vielfach schwächeren familiären Bindungen leichter rechtfertigen, als die Trennung einer bereits bestehenden Familieneinheit. 147

Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 171; Frowein, in: ders./ Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 13 Rn. 2; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 5. 148 Vgl. EGMR, Urt. vom 10.10.2002, D. P. und J. C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 38719/97 (Ziff. 136): „The Court has not found it established in this case that there has been a violation of Article 3, or Article 8, of the Convention in respect of the applicants’ claims that the authorities failed in a positive obligation to protect them from the abuse of their stepfather, N. C. This does not however mean, for the purposes of Article 13, that their complaints fall outside the scope of its protection. These complaints were not declared inadmissible as manifestly ill-founded and necessitated an examination on the merits.“ 149 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 71); Urt. vom 21.02.1997, van Raalte ./. Niederlande, 1997-I, 173 (Ziff. 33); Urt. vom 27.03.1998, Petrovic ./. Österreich, RJD 1998-II, 579 (Ziff. 22); Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 27); Urt. vom 20.06.2006, Zarb Adami ./. Malta, Nr. 17209/02 (Ziff. 42).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

4. Legitimität der Unterscheidung Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die von der Rechtsprechung im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlich bedingten Beeinträchtigungen des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens entwickelte Unterscheidung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen entgegen mancher Kritik insbesondere aus dem Schrifttum im wesentlichen auf an sich nachvollziehbaren Unterscheidungskriterien beruht. Als Grundregel gilt: Richtet sich die Beschwerde gegen Maßnahmen, die eine bereits im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates bestehende Familieneinheit (bzw. ein dort etabliertes Privatleben) beeinträchtigen, liegt ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK vor. Begehrt ein Ausländer dagegen erst die Herstellung der Familieneinheit im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates, ist die Frage nach einer positiven Verpflichtung dieses Konventionsstaates, die Herstellung der Familieneinheit zu ermöglichen, aufgeworfen. Im einzelnen ist freilich wie ausgeführt zu differenzieren. Das jeweilige Prüfungsprogramm unterscheidet sich nur insofern, als die Bestimmung einer positiven Verpflichtung bereits auf der Ebene von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfolgt, also keine Rechtfertigungsprüfung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK stattfindet. Dies entbindet die Konventionsstaaten zunächst vom Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage und von einer strikten Einhaltung der Schrankenziele, wobei letztere aufgrund ihrer Weite auch in Eingriffskonstellationen kaum zu einer Einschränkung des Handlungsspielraums der Konventionsstaaten führen dürften. Letztlich kommt es in beiden Konstellationen entscheidend auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung an, wobei die Rechtsprechung insoweit auf im wesentlichen vergleichbare Kriterien zurückgreift. Eine unterschiedliche Behandlung von Eingriffskonstellationen und Fällen einer positiven Verpflichtung ist insoweit nicht feststellbar. Allerdings erweist sich die von der Rechtsprechung entwickelte Differenzierung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen, soweit sie sich auf die hier untersuchten aufenthaltsrechtlichen Fallkonstellationen bezieht, keineswegs als zwingend. Zunächst stellen die von der Rechtsprechung in Bezug genommen positiven Verpflichtungen hier keine Schutzpflichten im engeren Sinne dar, die den Staat verpflichten, die Rechtspositionen eines Grundrechtsberechtigten vor Beeinträchtigungen durch Private zu bewahren.150 Vielmehr betreffen beide Konstellationen unmittelbar das Verhältnis des durch Art. 8 EMRK berechtigten Ausländers gegenüber dem durch Art. 8 EMRK verpflichteten Staat. Ein Grund, dennoch zwischen negativen und positiven Verpflichtungen zu unterscheiden, ist hier nicht ersichtlich. Wenn aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Anspruch auf Familieneinheit folgt, dann läßt sich konsequenterweise jede staatliche Maßnahme als Eingriff verstehen, die den Einzelnen an der Verwirklichung dieses Rechts hindert. Dies ist – wie die Rechtsprechung zu Recht annimmt – bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen 150 Vgl. zu positiven Verpflichtungen im Sinne von Schutzpflichten ausführlich Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 7 ff.

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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der Fall, aber ebenso bei der Verweigerung des Familiennachzugs. In beiden Konstellationen werden die Familienangehörigen durch eine staatliche Maßnahme getrennt. Diese liegt in der ersten Konstellation in der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung, in der zweiten Konstellation im Verbot, einreisen zu dürfen. In beiden Konstellationen sollte daher richtigerweise von einem Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 gewährten Rechte ausgegangen werden, der stets einer Rechtfertigung am Maßstab der Grundrechtsschranken aus Art. 8 Abs. 2 EMRK bedarf.

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK gilt nicht absolut. Soweit eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme nicht ohnehin allein eine aus Abs. 1 folgende positive Verpflichtung berührt, sondern als Eingriff zu qualifizieren ist, kann sie nach Maßgabe der Grundrechtsschranken des Abs. 2 gerechtfertigt sein. Das ist dann der Fall, wenn die Maßnahme gesetzlich vorgesehen ist, eines der in Abs. 2 genannten Ziele verfolgt und sich als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft erweist. Im folgenden sollen die Grundrechtsschranken – soweit sie für die Beurteilung aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen von Relevanz sind – in ihren Einzelheiten untersucht werden.

I. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Das durch Art. 8 Abs. 2 EMRK angeordnete Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage („in accordance with the law“ bzw. „prévue par la loi“) ist – wie andere Begriffe des Konventionstextes auch – autonom auszulegen.1 Der Gerichtshof greift hier in ständiger Rechtsprechung auf einen im Kern dreistufigen Test zurück: „According to the established case-law of the Court, the expression ‚in accordance with the law‘ requires that the impugned measure should have some basis in domestic law, and it also refers to the quality of the law in question, requiring that it should be accessible to the person concerned and foreseeable as to its effects […].“2 1 Vgl. zum Grundsatz der autonomen Auslegung ausführlich Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 5 Rn. 9 ff.; Matscher, in: Schwind, Fragen zum Europarecht, S. 109 ff; Ost, in: Delmas-Marty, European Convention, S. 305. 2 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 100); vgl. aus dem Schrifttum ausführlich Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 73 ff.; Duffy, YEL 1982, 191 (203 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 7 ff.; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 36 ff.; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 538–570; Ovey / White, European Convention, S. 223 ff.; kritisch zur fehlenden demokratischen Funktion des Gesetzesvorbehalts in der Rechtsprechung des EGMR Schilling, AVR 44 (2006), 57 (58 ff.); Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 61 ff., insbesondere S. 64.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Erforderlich ist also zunächst, daß die eingreifende Maßnahme eine gesetzliche Grundlage im jeweiligen nationalen Recht findet. In qualitativer Hinsicht muß diese gesetzliche Grundlage für den Einzelnen außerdem zugänglich und derart bestimmt sein, daß die aus ihr folgenden Konsequenzen vorhersehbar sind.

1. Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach nationalem Recht Der Begriff „law“ bzw. „loi“ stellt zunächst eine Rückverweisung auf das nationale Recht der Konventionsstaaten dar. Eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme muß eine gesetzliche Grundlage im nationalen Recht haben3 und mit dieser4 sowie mit weiteren im Einzelfall einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts5 übereinstimmen. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage geht damit über einen reinen Gesetzesvorbehalt hinaus. Verlangt wird die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nach nationalem Recht.6 Ob ein Rechtssatz seiner Rechtsqualität nach als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommt, richtet sich vorbehaltlich der weiteren aus Art. 8 Abs. 2 EMRK folgenden Kriterien ebenfalls nach der nationalen Rechtsordnung. Neben Gesetzen im formellen Sinne können damit auch untergesetzliche Rechtsnormen, wie Rechtsverordnungen7 oder autonomes Satzungsrecht8 genügen. Auch Verwaltungs3

Vgl. EGMR, Urt. vom 25.03.1985, Barthold ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 90 (Ziff. 45); Urt. vom 26.03.1987, Leander ./. Schweden, Serie A 116 (Ziff. 50); Urt. vom 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Serie A 176-A (Ziff. 27); Urt. vom 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, RJD 2000-II, 201 (Ziff. 50); Urt. vom 04.05.2000, Rotaru ./. Rumänien, RJD 2000-V, 61 (Ziff. 52); Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 100); Urt. vom 06.06.2006, Segerstedt-Wiberg u. a. ./. Schweden, Nr. 62332/00 (Ziff. 76). 4 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 234 (Ziff. 38); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 69); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 36); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 27); Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 64); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 39); Urt. vom. 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 106). 5 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.11.1986, Gillow ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 109 (Ziff. 48 ff.): Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage; EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 39): Vereinbarkeit mit dem innerstaatlich anwendbaren Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG / Türkei vom 19.09.1980. 6 Insoweit zu kurz Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 7 ff.; vgl. aber Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 553; Villiger, in: FSWiarda, S. 657 (660). 7 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.03.1987, Leander ./. Schweden, Serie A 116 (Ziff. 52 ff.); Urt. vom 04.05.2000, Rotaru ./. Rumänien, RJD 2000-V, 61 (Ziff. 53); Urt. vom 06.06.2006, Segerstedt-Wiberg u. a. ./. Schweden, Nr. 62332/00 (Ziff. 77). 8 Vgl. EGMR, Urt. vom 25.03.1985, Barthold ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 90 (Ziff. 46); Urt. vom 17.10.2002, Stambuk ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 37928/97 (Ziff. 25 f.) [beide zu Art. 10 Abs. 2 EMRK].

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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vorschriften scheinen prinzipiell eine Ermächtigungsgrundlage darstellen zu können, sofern ihnen nach nationalem Recht Rechtsverbindlichkeit zukommt.9 Nicht erforderlich ist weiterhin, daß es sich um geschriebenes Recht handelt. In der Rechtssache Sunday Times ließ der Gerichtshof auch das englische common law als Ermächtigungsgrundlage genügen.10 Diese ursprünglich historisch begründete und damit allein auf die common law-Staaten bezogene Rechtsprechung11 hat der Gerichtshof in den Rechtssachen Kruslin und Huvig in dem Sinne erweitert, daß auch in kontinentaleuropäischen Staaten, deren Rechtsordnungen im wesentlichen kodifiziert sind, ungeschriebenes Richterrecht als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommen kann.12 Schließlich werden auch völkerrechtliche Regeln und Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts einschließlich des sogenannten Assoziationsrechts einbezogen, soweit ihnen ein innerstaatlicher Geltungsanspruch zukommt.13 Besondere Beachtung fand das Gemeinschaftsrecht in der Rechtssache Aristimuño Mendizabal. Der Beschwerdeführerin, einer spanischen Staatsangehörigen, war ein ihr nach europäischem Freizügigkeitsrecht zustehender Aufenthaltstitel durch die französischen Behörden über viele Jahre vorenthalten worden. Der Gerichtshof betonte, daß Art. 8 EMRK im Lichte des Gemeinschaftsrechts, im

9 So implizit EGMR, Urt. vom 25.03.1983, Silver ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 61 (Ziff. 86 f.); EKMR, Bericht vom 18.10.1985, Farrant ./. Vereinigtes Königreich, DR 50, 5 (Ziff. 45, 49, 52). Allerdings wird eine derartige Ermächtigungsgrundlage in der Regel an den weiteren qualitativen Voraussetzungen, insbesondere an der Zugänglichkeit der Ermächtigungsgrundlage, scheitern, vgl. in diesem Sinne auch Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 540, a. A. offenbar Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 8. 10 EGMR, Urt. vom 26.04.1979, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 30 (Ziff. 47); vgl. auch EGMR, Urt. vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 45 (Ziff. 44); Urt. vom 30.03.1989, Chappell ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 152-A (Ziff. 52). 11 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.04.1979, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 30 (Ziff. 47): „It would clearly be contrary to the intention of the drafters of the Convention to hold that a restriction imposed by virtue of the common law is not ‚prescribed by law‘ on the sole ground that it is not enunciated in legislation: this would deprive a common-law State which is Party to the Convention of the protection of Article 10 (2) (art. 10–2) and strike at the very roots of that State’s legal system.“ 12 EGMR, Urt. vom 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Serie A 176-A (Ziff. 29): „The Sunday Times, Dudgeon and Chappell judgments admittedly concerned the United Kingdom, but it would be wrong to exaggerate the distinction between common-law countries and Continental countries, as the Government rightly pointed out. Statute law is, of course, also of importance in common-law countries. Conversely, case-law has traditionally played a major role in Continental countries, to such an extent that whole branches of positive law are largely the outcome of decisions by the courts.“; in demselben Sinne EGMR, Urt. vom 24.04.1990, Huvig ./. Frankreich, Serie A 176-B (Ziff 28). Vgl. dazu ausführlich Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 542–550. 13 Zum Völkerrecht vgl. EGMR, Urt. vom 28.03.1990, Groppera Radio AG u. a. ./. Schweiz, Serie A 173 (Ziff. 65 ff.); Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 105 f.). Zum Assoziationsrecht vgl. EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 39).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

vorliegenden Fall insbesondere im Lichte der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen, ausgelegt werden müsse: „La Cour estime donc que l’article 8 doit être interprété en l’espèce à la lumière du droit communautaire et en particulier des obligations imposées aux Etats membres quant aux droits d’entrée et de séjour des ressortissants communautaires […].“14

Der von der Beschwerdeführerin begehrte Aufenthaltstitel als freizügigkeitsberechtigte EG-Bürgerin folge nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht, so daß der durch die Mitgliedstaaten erteilte Aufenthaltstitel lediglich deklaratorischer Art sei.15 Die Vorenthaltung des der Beschwerdeführerin nach Gemeinschaftsrecht zustehenden Aufenthaltstitels sei daher sowohl mit französischem als auch mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar und habe damit keine gesetzliche Grundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK.16 Ob eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme als rechtmäßig beurteilt werden kann, ist primär eine Entscheidung der nationalen Gerichte. Der Gerichtshof versteht sich insoweit nicht als Superrevisionsinstanz, sondern beschränkt sich grundsätzlich auf eine Überprüfung nationaler Gerichtsentscheidungen am Maßstab der Konvention: „The Court reiterates that it is primarily for the national authorities, notably the courts, to interpret and apply domestic law […] The Court’s function is to review, from the point of view of the Convention, the reasoning in the decisions of the domestic courts rather than to re-examine their findings as to the particular circumstances of the case or the legal classification of those circumstances under domestic law.“17

Sofern der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften geltend macht, begnügt sich der Gerichtshof in der Rechtsprechungspraxis daher regelmäßig damit, daß nationale Gerichte die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Maßnahme festgestellt haben.18 Dies schließt jedoch eine Willkürkontrolle

14 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 69); kritisch zum methodischen Vorgehen des EGMR Daiber, EuR 2007, 406 (409). 15 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 68). 16 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 79). 17 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 105); vgl. auch EGMR, Urt. vom 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Serie A 176-A (Ziff. 29); Urt. vom 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, RJD 2000-II, 201 (Ziff. 52); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 38); Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 89); Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 30). 18 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 234 (Ziff. 38); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 69); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 36); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 27); Urt. vom 2901.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 39); Urt. vom. 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 106).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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durch den Gerichtshof nicht aus, falls die Rechtswidrigkeit im konkreten Fall offenkundig ist.19

2. Zugänglichkeit Der Gerichtshof begnügt sich hinsichtlich der von Art. 8 Abs. 2 EMRK geforderten gesetzlichen Grundlage nicht mit der Feststellung, daß eine staatliche Maßnahme nach den Vorschriften des nationalen Rechts rechtmäßig ist. Vielmehr hat er aus Art. 8 Abs. 2 EMRK in Verbindung mit dem in der Präambel der Konvention verankerten Rechtsstaatsprinzip qualitative Anforderungen an die gesetzliche Grundlage entwickelt. Dazu gehört zunächst, daß sie für den Bürger zugänglich sein muß. Der Bürger muß gemessen an den jeweiligen Umständen des Einzelfalls in ausreichendem Maße erkennen können, welche rechtlichen Vorschriften auf seine Situation anwendbar sind.20 Unveröffentlichte Verwaltungsvorschriften genügen diesem Kriterium nicht.21

3. Bestimmtheit Eng mit dem Kriterium der Zugänglichkeit verbunden ist die hinreichende Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage. Der Bürger muß – notfalls unter Zuhilfenahme eines Rechtsbeistandes – die sich aus der gesetzlichen Grundlage ergebenden Konsequenzen vorhersehen können, um sein Verhalten daran auszurichten.22 Im Bereich des Ausländerrechts verlangt der Gerichtshof dabei nicht, daß die gesetzliche Grundlage detailliert all diejenigen Verhaltensweisen auflistet, die zu einer Ausweisung eines Ausländers führen. Insbesondere, wenn die Ausweisung aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt, können nach Auffassung des Gerichtshofs nicht alle denkbaren Konstellationen durch den Gesetzgeber antizipiert 19 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 103); Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 89); Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 30); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 66). Caroni, Privat- und Familienleben, S. 42; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 553. 20 EGMR, Urt. vom 26.04.1979, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 30 (Ziff. 49); Urt. vom 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 82 (Ziff. 66). 21 EKMR, Bericht vom 18.10.1985, Farrant ./. Vereinigtes Königreich, DR 50, 5 (Ziff. 45, 49, 52); EGMR, Urt. vom 25.03.1983, Silver ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 61 (Ziff. 87); Urt. vom 18.01.2007, Estrikh ./. Lettland, Nr. 73819/01 (Ziff. 171 f.). 22 EGMR, Urt. vom 26.04.1979, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 30 (Ziff. 49); Urt. vom 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 82 (Ziff. 66); Urt. vom 15.11.1996, Cantoni ./. Frankreich, RJD 1996-V, 1614 (Ziff. 31); Urt. vom 26.07.2000, Hasan und Chaush ./. Bulgarien, RJD 2000-XI, 117 (Ziff. 85); Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff 119); Urt. vom 18.01.2007, Estrikh ./. Lettland, Nr. 73819/01 (Ziff. 167); vgl. auch Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 559 ff.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

werden, zumal es Schwierigkeiten bereiten kann, das sicherheitsgefährdende Verhalten eines Ausländers umfassend zu definieren.23 Sofern der Verwaltung jedoch ein Ermessensspielraum eingeräumt wird, muß das nationale Recht hinreichende Schutzvorkehrungen gegen willkürliches Behördenhandeln vorsehen. So muß die gesetzliche Grundlage die Grenzen des Ermessensspielraums benennen und hinreichend klare Vorgaben zur Ermessensausübung aufstellen: „Consequently, the law must indicate the scope of any such discretion conferred on the competent authorities and the manner of its exercise with sufficient clarity, having regard to the legitimate aim of the measure in question, to give the individual adequate protection against arbitrary interference […].“24

In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist außerdem eine hinreichende Rechtsschutzmöglichkeit gegen willkürliches Behördenhandeln erforderlich. Für den Fall einer Ausweisung aus Gründen der nationalen Sicherheit hat der Gerichtshof in der Rechtssache Al-Nashif die Anforderungen an diese hinreichende Rechtsschutzmöglichkeit präzisiert. Der Fall betraf die Ausweisung eines staatenlosen Palästinensers aus Bulgarien, dem aufgrund polizeilicher Erkenntnisse Verbindungen zu islamischen Fundamentalisten nachgesagt wurden. Auch wenn die nationale Sicherheit berührt ist, verlangt der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft danach die Möglichkeit einer Überprüfung der Ausweisung durch eine unabhängige Instanz in einem kontradiktorischen Verfahren. Notfalls können dabei angemessene Regelungen zum Umgang mit vertraulichem Beweismaterial vorgesehen werden. Der Betroffene muß aber in der Lage sein, die ihm vorgeworfene Sicherheitsgefährdung zu widerlegen. Bei der Frage, ob Tatsachen eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen, kommt der Beurteilung durch die nationalen Behörden zwar besonderes Gewicht zu, jedoch muß die für die Prüfung zuständige unabhängige Instanz den Vorwurf einer Sicherheitsgefährdung verwerfen können, falls er nicht auf einer vernünftigen Tatsachenbasis beruht oder sich als widersinnig und willkürlich erweist: „Even where national security is at stake, the concepts of lawfulness and the rule of law in a democratic society require that measures affecting fundamental human rights must be subject to some form of adversarial proceedings before an independent body competent to review the reasons for the decision and relevant evidence, if need be with appropriate proce23 EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 121): „It considers that the requirement of ‚foreseeability‘ of the law does not go so far as to compel States to enact legal provisions listing in detail all conduct that may prompt a decision to deport an individual on national security grounds. By the nature of things, threats to national security may vary in character and may be unanticipated or difficult to define in advance.“ 24 EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 119); ferner EGMR, Urt. vom 06.09.1978, Klass u. a. ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 28 (Ziff. 47 ff.); Urt. vom 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 82 (Ziff. 67 f.); Urt. vom 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, RJD 2000-II, 201 (Ziff. 55 f.); Urt. vom 04.05.2000, Rotaru ./. Rumänien, RJD 2000-V, 61 (Ziff. 55 ff.); Urt. vom 26.07.2000, Hasan und Chaush ./. Bulgarien, RJD 2000-XI, 117 (Ziff. 84); Urt. vom 06.12.2007, Liu und Liu ./. Rußland, Nr. 42086/05 (Ziff. 56); Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 39).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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dural limitations on the use of classified information […] The individual must be able to challenge the executive’s assertion that national security is at stake. While the executive’s assessment of what poses a threat to national security will naturally be of significant weight, the independent authority must be able to react in cases where invoking that concept has no reasonable basis in the facts or reveals an interpretation of ‚national security‘ that is unlawful or contrary to common sense and arbitrary.“25

Im konkreten Fall stand dem Beschwerdeführer eine derartige Rechtsschutzmöglichkeit nicht zur Verfügung, so daß seine Ausweisung nach Auffassung des Gerichtshofs schon deshalb nicht auf einer gesetzlichen Grundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK beruhte.26 Inzwischen hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung weiter konkretisiert. So genügt es der geforderten Rechtsschutzmöglichkeit nicht, wenn die Behörden der zur Überprüfung berufenen Instanz relevantes Aktenmaterial vorenthalten.27 Auch ist die zur Überprüfung berufene Instanz gehalten, die angegriffene Behördenentscheidung auch tatsächlich einer ernsthaften Kontrolle zu unterziehen. Der Gerichtshof nimmt für sich insoweit eine Prüfungskompetenz in Anspruch.28

II. Legitimes Ziel Neben dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage muß ein Eingriff der Verwirklichung eines oder mehrerer der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dienen. In Betracht kommen die nationale und öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten oder der Schutz der Gesundheit, der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer. Entgegen der frühen Kommissionsrechtsprechung29 versteht der Gerichtshof die Aufzählung der Eingriffsziele seit seinem Urteil in der Rechtssache Golder als abschließende Regelung zur Einschränkung der in Art. 8 Abs. 1 EMRK enthaltenen Garantien.30 Weitere Schranken, mögen diese als ungeschriebene Rechtfertigungstatbestände oder als bereits dem Schutzbereich immanente 25

EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 123 f.). EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 125 ff.). 27 EGMR, Urt. vom 06.12.2007, Liu und Liu ./. Rußland, Nr. 42086/05 (Ziff. 61 ff.) 28 EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 40 ff.). 29 Vgl. zur Anerkennung immanenter Schranken durch die Kommission Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 69 f.; Connelly, ICLQ 1986, 567 (580 ff.); Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 579. Auf dem Gebiet des Ausländerrechts verneinte die Kommission gelegentlich einen Eingriff in das Privatleben durch eine Aufenthaltsbeendigung, weil jede Aufenthaltsbeendigung zwangsläufig das Privatleben beeinträchtige, die Konvention aber das Recht der Mitgliedstaaten zur Ausweisung von Ausländern grundsätzlich anerkenne, vgl. EKMR, Entsch. vom 09.05.1986, A ./. Niederlande, Nr. 11733/85; Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86. 30 EGMR, Urt. vom 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 18 (Ziff. 44): „The restrictive formulation used at paragraph 2 (art. 8–2) (‚There shall be no interference … except such as …‘) leaves no room for the concept of implied limitations.“ 26

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Begrenzungen konstruiert werden, sind damit grundsätzlich ausgeschlossen.31 Die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zugelassenen Einschränkungen dürfen außerdem nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen. Dieser sich bereits aus dem Sinn der Schrankenregelung ergebende Grundsatz wird durch Art. 18 EMRK bestätigt. Daraus folgt, daß der Gerichtshof grundsätzlich überprüfen muß, ob die von einem Konventionsstaat vorgebrachten Gründe für eine Einschränkung den tatsächlich verfolgten Zielen entsprechen.32 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen werden in der Rechtsprechungspraxis überwiegend mit der Aufrechterhaltung der Ordnung oder der Verhütung von Straftaten gerechtfertigt. Der Begriff der Aufrechterhaltung der Ordnung ist dabei im Sinne polizeirechtlicher Gefahrenabwehr zu verstehen33 und erfaßt damit auch Rechtsverstöße des Ausländers, die keine Straftaten darstellen. Zu denken ist hier insbesondere an Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen.34 Hat der ausgewiesene Ausländer eine Straftat begangen, zieht die Rechtsprechung regelmäßig beide Eingriffsziele gemeinsam heran, ohne zwischen der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten im einzelnen zu differenzieren.35 Die31 Arai, in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 344 f.; Breitenmoser, Schutz der Privatsphäre, S. 71 f.; Caroni, Privat- und Familienleben, S. 51; Duffy, YEL 1982, 191 (203 f.); Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, vor Art. 8–11 Rn. 11; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 12; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 32; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 580, 595; Mock, RUDH 1998, 237 (244); Pernthaler / Rath-Kathrein, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grund- und Menschenrechte, S. 245 (269). 32 Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 18 Rn. 2; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 588; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 18 Rn. 1. Im Fall Berrehab, EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 25 f.), stützte der Gerichtshof die Ausweisung auf das wirtschaftliche Wohl des Landes, da die Maßnahme insbesondere den Schutz des niederländischen Arbeitsmarktes bezweckte, und setzte sich damit über den Vortrag der niederländischen Regierung hinweg, die sich auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung berufen hatte. Vgl. auch EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 43) zum Begriff der nationalen Sicherheit. 33 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 44; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKomm EMRK, Art. 8 Rn. 610 ff. 34 Vgl. EKMR, Entsch. vom 06.05.1986, A. ./. Niederlande, Nr. 11618/85; Entsch. vom 06.05.1986, B. ./. Niederlande, Nr. 11619/85; Entsch. vom 16.10.1986, L. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12122/86; Entsch. vom 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/86; Entsch. vom 13.07.1987, O. und O. L. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 11970/86; Entsch. vom 15.02.1990, Noor Islam ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15869/89; Entsch. vom 06.01.1992, E. A. und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89; Bericht vom 30.06.1992, Yousef ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14830/89; Entsch. vom 10.09.1992, M. K. ./. Schweden, Nr. 20470/92; EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 106). 35 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 70); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 37); Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 38); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 28); Urt. vom 2901.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 44); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 30);

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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ses Vorgehen mag insbesondere auf die englische Fassung des Konventionstextes zurückzuführen sein, in der beide Ziele als einheitliche Grundrechtsschranke formuliert werden („for the prevention of disorder or crime“), während die gleichermaßen verbindliche französische Fassung eine getrennte Formulierung wählt („à la défense de l’ordre et à la prévention des infractions pénales“). Beide Ziele dienen der Rechtfertigung präventiver Maßnahmen. Eine Ausweisung kann daher nur dann zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten gerechtfertigt sein, wenn zu befürchten steht, daß ein einmal straffällig gewordener Ausländer auch weiterhin eine Gefahr darstellt. Bereits begangene Straftaten können dabei allenfalls als Indiz für die geforderte Prognoseentscheidung dienen. Zu berücksichtigen ist auch das Verhalten des Betroffenen nach einer strafrechtlichen Verurteilung, etwa seine erfolgreiche Resozialisierung nach Beendigung des Strafvollzugs.36 Die übrigen Eingriffsziele spielen in der aufenthaltsrechtlichen Judikatur nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn ihnen eine im Einzelfall zukommende Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. So kann zusätzlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhinderung von Straftaten auch der Schutz der Gesundheit („protection of health“ / „protection de la santé“) die Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers rechtfertigen, wenn es sich bei den begangenen Delikten um Verstöße gegen das Betäubungsmittelstrafrecht, insbesondere durch Inverkehrbringen verbotener Substanzen, handelt.37 Das wirtschaftliche Wohl des Landes („economic well-being of the country“ / „bien-être économique du pays“) wurde erst in der späten Phase der AusUrt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 36); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 39); Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 48); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 40); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 28); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 26); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 28); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 38); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 53); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 79); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 40); Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 61); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 55); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 63); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 67). 36 EKMR, Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 50 f.); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 45); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 60); Caroni, Privat- und Familienleben, S. 43 f.; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 610, 620. 37 EKMR, Entsch. vom 19.05.1977, X. und Y. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 9, 219 (220 f.); Entsch. vom 15.12.1977, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 12, 197 (199); Entsch. vom 13.07.1990, B. I. ./. Schweiz, Nr. 16563/90; EGMR, Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 40); Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 29).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

arbeitung des Konventionstextes auf Wunsch der britischen Delegation in den Schrankenkatalog des Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgenommen und sollte insbesondere Briefkontrollen zur Durchsetzung von Devisenvorschriften ermöglichen.38 Nach der Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof kann das wirtschaftliche Wohl des Landes auch zur Rechtfertigung einer Ausweisung herangezogen werden, wenn Ausländer dem nationalen Sozialsystem zur Last zu fallen drohen oder der nationale Arbeitsmarkt gegen ausländische Arbeitskräfte geschützt werden soll.39 Auch die nationale Sicherheit („national security“ / „sécurité national“) kann im Einzelfall die Ausweisung eines Ausländers rechtfertigen. Da sie jedoch von der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhinderung von Straftaten als weiteren Eingriffszielen abzugrenzen ist, können nicht bereits gewöhnliche Verstöße gegen Straf- oder Ordnungsvorschriften die Interessen der nationalen Sicherheit beeinträchtigen. Caroni und Wildhaber / Breitenmoser halten eine Gefährdung der fundamentalen staatlichen Einrichtungen für erforderlich.40 Der Gerichtshof hat die nationale Sicherheit als Eingriffsziel im Fall der Ausweisung ehemals bei den sowjetischen Streitkräften beschäftigter russischer Staatsangehöriger aus Lettland herangezogen. Die lettische Regierung hatte die Ausweisung als Folgenbeseitigung der illegalen sowjetischen Besatzung gerechtfertigt.41 Denkbar erscheint eine Berufung auf die nationale Sicherheit auch bei Verbindungen eines Ausländers zu islamischen Fundamentalisten.42 Dagegen wurde eine Beteiligung am Drogenhandel nicht als Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit gewertet.43 38 Comité des Ministres, 5e Session, Réunion du Sous-Comité des droits de l’homme, 4 Août 1950, in: TP V, S. 67 ff. 39 EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 26). Die Rechtsprechung der Kommission betraf vielfach Nachzugsfälle, in denen nach heutiger Dogmatik allenfalls eine Verletzung einer positiven Verpflichtung in Betracht kommen kann, vgl. EKMR, Entsch. vom 15.07.1988, El Belhaji ./. Niederlande, Nr. 14014/88; Entsch. vom 08.09.1988, R. R. und S. R. ./. Niederlande, Nr. 13654/88; Entsch. vom 13.03.1989, J. S. und V. K. ./. Niederlande, Nr. 11916/86; Entsch. vom 13.05.1992, Zariouhi u. a. ./. Niederlande, Nr. 15723/89; Bericht vom 30.06.1992, Yousef ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14830/89; Entsch. vom 11.01.1994, Akabbouz ./. Niederlande, Nr. 18056/91; Entsch. vom 02.03.1994, Korieh ./. Schweden, Nr. 22978/93; Entsch. vom 30.11.1994, H. Z. ./. Schweden, Nr. 24136/94; Entsch. vom 30.11.1994, Bacovic ./. Schweden, Nr. 24485/94; Entsch. vom 18.05.1995, Lamrabti ./. Niederlande, Nr. 24968/94; Entsch. vom 28.06.1995, Sim und Ungson ./. Finnland; Nr. 25947/94 und 25946/94; Entsch. vom 29.11.1995, Özkaran ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 25783/94; Entsch. vom 17.04.1997, P. K. ./. Schweiz, Nr. 35602/97. 40 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 43; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKomm EMRK, Art. 8 Rn. 598. 41 EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 110 ff.); vgl. aber auch EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 106). 42 Vgl. EGMR, Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 123). 43 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 43): „It is true that the notion of ‚national security‘ is not capable of being comprehensively defined […]. However, that does not mean that its limits may be stretched beyond its natural meaning […].

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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Aus der Rechtsprechung der Kommission ist außerdem bekannt, daß der Schutz der Moral („protection of morals“ / „protection de la morale“) und der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer („protection of the rights and freedoms of others“ / „protection des droits et libertés d’autrui“) dem Nachzug eines Ehegatten entgegenstehen kann, wenn eine mit dem nationalen Recht unvereinbare Mehrehe besteht.44 Auch wenn diese Konstellation nach heutiger Dogmatik als Fall einer positiven Verpflichtung behandelt wird, liegt es nahe, diese Eingriffsziele – gegebenenfalls ergänzend – zur Rechtfertigung einer Ausweisung heranziehen, wenn bereits im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates niedergelassene Ausländer eine rechtswidrige Mehrehe führen.45 Unklar ist schließlich die Bedeutung der öffentlichen Sicherheit („public safety“ / „sûreté publique“), die neben der Aufrechterhaltung der Ordnung genannt wird. In der Literatur wird angenommen, daß dieses Eingriffsziel ebenfalls polizeiliche, aber im Gegensatz zur Aufrechterhaltung der Ordnung vorwiegend repressive Maßnahmen erfasse.46 In der Rechtsprechung wird die öffentliche Sicherheit gelegentlich ergänzend zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhinderung von Straftaten herangezogen, um die Ausweisung straffällig gewordener Ausländer zu rechtfertigen. Ein eigenständiger Bedeutungsinhalt ist dabei jedoch nicht erkennbar.47 In der Rechtsprechungspraxis haben die durch Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen eine nur geringe Bedeutung. Dies mag einerseits daran liegen, daß sie weit formuliert sind und sich der Gerichtshof bislang nicht um eine detaillierte Definition bemüht hat. Zum anderen kommt den Konventionsstaaten hinsichtlich der Verwirklichung der Schrankenziele ein weitgehender Beurteilungsspielraum zu.48 Das gilt auch für den präventiven Charakter der Eingriffsziele „Aufrechterhaltung der Ordnung“ und „Verhütung von Straftaten“. Grundsätzlich folgt der Gerichtshof hier dem Vortrag der Regierung und nimmt an, daß die Ausweisung den ge-

It can hardly be said, on any reasonable definition of the term, that the acts alleged against the first applicant – as grave as they may be, regard being had to the devastating effects drugs have on people’s lives – were capable of impinging on the national security […].“ 44 EKMR, Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92. 45 Vgl. zur Problematik der Mehrehe oben unter C. I. 1. c). 46 Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 602 f. mit Verweis auf Beschwerden gegen Haft- und Gefängnisbedingungen. 47 Vgl. EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 53); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 40); Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 61); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 55). 48 Blume, in: Wiederin, Ausländerrecht, S. 113 (114); Engel, ÖZöRV 1986, 261 (273); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 13; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 590 ff.; Mock, RUDH 1998, 237 (244); Rupp-Swienty, Margin of Appreciation, S. 70 f.; Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 66; van Dijk, in: Guild / Minderhoud, Security of Residence, S. 23 (30 f.); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (440).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

nannten Zielen dient.49 Die vom Ausgewiesenen tatsächlich ausgehende Gefahr weiterer Rechtsverstöße wird erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt.50 Es verwundert daher nicht, daß die Rechtsprechung in der aufenthaltsrechtlichen Judikatur zu Art. 8 EMRK bislang – soweit ersichtlich – in keinem Fall die Rechtfertigung einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme am Fehlen eines legitimen Ziels hat scheitern lassen. Der Schwerpunkt der Rechtfertigungsprüfung liegt vielmehr in der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.

III. Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft 1. Grundsätzliches Aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die in das Privat- und Familienleben eingreifen, müssen gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Hinter dieser Voraussetzung verbirgt sich im Kern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der die Reichweite der Grundrechtsschranken im Einzelfall materiell begrenzt.51 Formelhaft wiederholt der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung: „The Court does not in any way underestimate the Contracting States’ concern to maintain public order, in particular in exercising their right, as a matter of well-established international law and subject to their treaty obligations, to control the entry, residence and expulsion of aliens […]. However, in cases where the relevant decisions would constitute an interference with the rights protected by paragraph 1 of Article 8 (art. 8–1), they must be shown to be ‚necessary in a democratic society‘, that is to say justified by a pressing social need and, in particular, proportionate to the legitimate aim pursued.“52

49 Aus der Rechtsprechung vgl. exemplarisch EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 44 f.): „When refusing to renew the applicant’s residence permit, the Swiss authorities, such as the Federal Court in its judgment of 3 November 1999, considered that the applicant’s residence permit should not be renewed in view of the serious offence which he had committed and in the interests of public order and security. The Court is, therefore, satisfied that the measure was imposed ‚for the prevention of disorder or crime‘ within the meaning of Article 8 § 2 of the Convention.“ 50 Vgl. EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 50 f.); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 45); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 60). 51 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 46; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 14; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 660. 52 EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 43); ferner EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 74); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 12); Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 41); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 31); Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 48); Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 34); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 39); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frank-

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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Erforderlich ist demnach, daß der Eingriff durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt werden kann und – insbesondere – bezüglich des verfolgten Eingriffsziels angemessen ist. In der Rechtsprechungspraxis erschöpft sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig in der Prüfung der Angemessenheit der aufenthaltsrechtlichen Maßnahme, also der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Verlangt wird ein gerechter Ausgleich („fair balance“) zwischen den Interessen des Betroffenen, namentlich dem Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens, und den nach Art. 8 Abs. 2 EMRK verfolgten Eingriffszielen.53 Die aus der deutschen Grundrechtsdogmatik bekannte, der Angemessenheitsprüfung gedanklich vorausgehende Frage nach der Geeignetheit und Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels kommt dabei in der Regel keine eigenständige Bedeutung zu.54 Allerdings können diese Aspekte implizit in der Angemessenheitsprüfung mit berücksichtigt werden.55 Als milderes Mittel ist in diesem Zusammenhang insbesondere an ein befristetes Aufenthaltsverbot zu denken.56

reich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 42); EGMR, Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 52); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 45); Urt. vom 13.02.1001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 32); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 33); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 41); Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 25); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 29); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 27); Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 113); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 31); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 99); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 39); Urt. vom 27.10.2005; Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 54); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 80); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 41); Urt. vom 18.06.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 54); Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 33); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 65). 53 Vgl. exemplarisch EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 41): „It remains to be determined whether the interference was ‚necessary in a democratic society‘, that is to say justified by a pressing social need and, in particular, proportionate to the legitimate aim pursued […]. Therefore, the Court’s task consists in ascertaining whether in the circumstances of the present case the refusal struck a fair balance between the relevant interests, namely the applicants’ right to respect for their family life, on the one hand, and the interests of public safety and the prevention of disorder and crime, on the other.“ Vgl. in diesem Sinne auch (teils ausdrücklich, teils implizit) die in der vorherigen Fn. genannten Nachweise. 54 Vgl. aber EGMR, Urt. vom 27.09.1999, Lustig-Prean und Becket ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 31417/96 (Ziff. 67). 55 EGMR, Urt. vom 29.04.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 24 (Ziff. 58); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 37); vgl. dazu Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 15; Engel, ÖZöRV 1986, 261 (263). 56 Vgl. etwa EGMR, Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 37); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 37); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 84 f.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Die Bezugnahme auf eine demokratische Gesellschaft stellt einen Verweis auf die demokratische Verfassungsordnung dar, die ausweislich der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Satzung des Europarates allen Konventionsstaaten eigen ist. Hier spiegelt sich die Absicht der an der Ausarbeitung des Konventionstextes beteiligten Gremien und Organe wieder, diejenigen Rechte und Freiheiten zu kodifizieren, die für ein demokratisches Gemeinwesen unerläßlich sind.57 Davon ausgehend ist es konsequent, wenn Grundrechtseingriffe nur insoweit zugelassen werden können, wie sich dies mit den Grundsätzen einer demokratischen Grundordnung vereinbaren läßt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich der Verweis auf die demokratische Gesellschaft insoweit aus, als die durch den Gerichtshof identifizierten für eine Demokratie charakteristischen Grundwerte, wie Toleranz, Pluralität und Offenheit, den Wertmaßstab für die vorzunehmende Interessenabwägung bilden.58 In der Rechtsprechung läßt sich ein Rückgriff auf diesen Wertmaßstab vor allem bei Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Rahmen des weitgehend gleichlautenden Art. 10 Abs. 2 EMRK nachweisen. Implikationen für die Verhältnismäßigkeit aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 EMRK sind bislang nicht feststellbar.59 Bei der Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft billigt die Rechtsprechung den Konventionsstaaten einen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) zu.60 Der Gerichtshof hat die Existenz eines Beurteilungs57

Ausführlich Berka, ÖZöRV 1986, 71 (87); Engel, ÖZöRV 1986, 261 (264 ff.); Garibaldi, in: FS-Sohn, S. 23 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 18 f.; Hailbronner, in: FS-Mosler, S. 359 ff.; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 62 ff.; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 720 ff.; Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 70 ff. 58 EGMR, Urt. vom 29.04.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 24 (Ziff. 49); Urt. vom 13.08.1981, Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 44 (Ziff. 63); Urt. vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 45 (Ziff. 53); Urt. vom 24.05.1988, Müller u. a. ./. Schweiz, Serie A 133 (Ziff. 33); Urt. vom 26.05.1995, Vogt ./. Bundesrepublik Deutschland, Serie A 323 (Ziff. 52); Urt. vom 25.11.1997, Zana ./. Türkei, RJD 1997-VII, 2533 (Ziff 51); Urt. vom 10.07.2003, Murphy ./. Irland, RJD 2003-IX, 1 (Ziff. 72); Urt. vom 29.03.2005, Sokolowski ./. Polen, Nr. 75955/01 (Ziff. 41). 59 Vgl. aber Sondervotum Richter Costa und Tulkens zur Notwendigkeit der Ausweisung eines straffällig gewordenen Einwanderers der zweiten Generation, in: EGMR, Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (186): „In summary, Mr Baghli is a second-generation immigrant, virtually a French national, the vast majority of whose family, social, occupational and cultural ties were in France. As Mrs Palm observed in her dissenting opinion in the case of Bouchelkia v. France […] that consideration ought under ordinary circumstances to incite the host country to treat Mr Baghli in the same way as it would treat nationals. Certainly he broke the rules. But is not a year in prison enough to pay off the debt? Was it necessary to multiply the prison sentence by ten when determining the length of lawful banishment to which exclusion orders are tantamount? We do not think so, since that is something which, in a democratic society, is not necessary.“ 60 Ausführlich Arai, Margin of Appreciation, S. 63; ders., NQHR 16 (1998), 41 ff.; ders., in: van Dijk / van Hoof u. a., Theory and Practice, S. 341; Duffy, YEL 1982, 191 (208 ff.); En-

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spielraums in der Rechtssache Handyside insbesondere mit der Subsidiarität des durch die Konvention gewährleisteten Rechtsschutzes gegenüber der Verwirklichung der Konventionsgarantien durch die Konventionsstaaten begründet.61 Es obliege daher in erster Linie den nationalen Instanzen, das Vorliegen eines dringenden sozialen Bedürfnisses zu prüfen.62 Dabei unterliegen sie jedoch gemäß Art. 19 EMRK einer letztentscheidenden Kontrolle durch die Konventionsorgane.63 Auch hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK haben Kommission und Gerichtshof ausdrücklich auf den Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten hingewiesen.64

2. Leitlinien der Angemessenheitsprüfung Ob eine aufenthaltsbeendende Maßnahme als angemessen zu werten ist, die nationalen Behörden also einen gerechten Ausgleich zwischen den involvierten Interessen gefunden haben, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Nach innerhalb wie außerhalb des Gerichtshofs geäußerter Kritik an einer allzu kasuistischen

gel, ÖZöRV 1986, 261 (273 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 18 Rn. 20 f.; Hailbronner, in: FS-Mosler, S. 359 (381 ff.); Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 70 ff.; Wildhaber / Breitenmoser, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 662 ff.; Ovey, HRLJ 1998, 10 ff.; Ovey / White, European Convention, S. 232 ff.; Rupp-Swienty, Margin of Appreciation, S. 71 ff.; Stieglitz, Grundrechtsverständnis, S. 74 ff.; Yourow, Margin of Appreciation, S. 84 ff. 61 EGMR, Urt. vom 07.12.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 24 (Ziff. 48): „The Court points out that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights […]. The Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and liberties it enshrines. The institutions created by it make their own contribution to this task but they become involved only through contentious proceedings and once all domestic remedies have been exhausted (Article 26) (art. 26).“ 62 EGMR, Urt. vom 07.12.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 24 (Ziff. 48): „Nevertheless, it is for the national authorities to make the initial assessment of the reality of the pressing social need implied by the notion of ‚necessity‘ in this context.“ 63 EGMR, Urt. vom 07.12.1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 24 (Ziff. 49): „The domestic margin of appreciation thus goes hand in hand with a European supervision. Such supervision concerns both the aim of the measure challenged and its ‚necessity‘; it covers not only the basic legislation but also the decision applying it, even one given by an independent court.“ 64 Aus der Rechtsprechung der Kommission vgl. bereits EKMR, Entsch. vom 22.07.1970, X ./. Vereinigtes Königreich, CD 35, 102 (107); seit dem st. Rspr., zuletzt EKMR, Entsch. vom 26.02.1997, V. K. ./. Schweiz, Nr. 34295/96; Entsch. vom 10.09.1997, Eshak ./. Schweden, Nr. 33758/96. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs vgl. EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 28); Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 41); Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 32); Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229 (Ziff. 113); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 109 f.); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 76).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Prüfungsweise65 hat der Gerichtshof die Rechtssache Boultif zum Anlaß genommen, um die bisherige Rechtsprechung zu systematisieren und leitenlinienartig zusammenzufassen: „In assessing the relevant criteria in such a case, the Court will consider the nature and seriousness of the offence committed by the applicant; the duration of the applicant’s stay in the country from which he is going to be expelled; the time which has elapsed since the commission of the offence and the applicant’s conduct during that period; the nationalities of the various persons concerned; the applicant’s family situation, such as the length of the marriage; other factors revealing whether the couple lead a real and genuine family life; whether the spouse knew about the offence at the time when he or she entered into a family relationship; and whether there are children in the marriage and, if so, their age. Not least, the Court will also consider the seriousness of the difficulties which the spouse would be likely to encounter in the applicant’s country of origin, although the mere fact that a person might face certain difficulties in accompanying her or his spouse cannot in itself preclude expulsion.“66

Zu berücksichtigen sind demnach (1) die Natur und Schwere des Delikts, (2) die Dauer des Aufenthalts im Konventionsstaat, (3) die seit Begehung des Delikts vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers währenddessen, (4) die Staatsangehörigkeit der Betroffenen, (5) die familiäre Situation des Ausländers, insbesondere die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren die auf ein tatsächliches und echtes Familienleben schließen lassen, (6) eine eventuell vorhandene Kenntnis des Ehepartners von der Straffälligkeit zum Zeitpunkt der Eheschließung, (7) gemeinsame Kinder und deren Lebensalter sowie (8) das Ausmaß der Schwierigkeiten, mit denen der Ehepartner im Herkunftsland des Ausgewiesenen konfrontiert wäre, auch wenn Schwierigkeiten für sich genommen eine Ausweisung nicht ausschließen. Diese Leitlinien wurden inzwischen mehrfach67 und in den Rechtssachen Üner und Maslov nunmehr auch durch eine Große Kammer des Gerichtshofs bestätigt.68 65 Vgl. zur Kritik innerhalb des Gerichtshofs insbesondere Sondervotum Richter Martens, in: EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (613): „National administrations and national courts are unable to predict whether expulsion of an integrated alien will be found acceptable or not. The majority’s case-by-case approach is a lottery for national authorities and a source of embarrassment for the Court. A source of embarrassment since it obliges the Court to make well-nigh impossible comparisons between the merits of the case before it and those which it has already decided“; zum Schrifttum vgl. insbesondere Frontman-Cain, Loy. L. A. Int’l & Comp. L. Rev. 2003, 323 (328 ff.); Harvey, in: Guild / Minderhoud, Security of Residence, S. 41 (46 ff.); Sherlock, E. L.Rev. 1998, HR 62 (70). 66 EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 48); vgl. zuvor bereits EGMR, Entsch. vom 10.07.2001, Nwosu ./. Dänemark, Nr. 50359/99. 67 Vgl. EGMR, Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811(Ziff. 35); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 30); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 40); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 42); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 83); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 58). 68 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 57); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 68).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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In der Sache Üner hielt es der Gerichtshof allerdings für erforderlich, den Kriterienkatalog ausdrücklich um zwei Aspekte zu ergänzen, die nach seiner Auffassung bislang allenfalls implizit enthalten waren: „The Court would wish to make explicit two criteria which may already be implicit in those identified in the Boultif judgment: - the best interests and well-being of the children, in particular the seriousness of the difficulties which any children of the applicant are likely to encounter in the country to which the applicant is to be expelled; and - the solidity of social, cultural and family ties with the host country and with the country of destination.“69

Hinzukommen damit (9.) das Wohlergehen der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen sie im Herkunftsland des ausgewiesenen Elternteils ausgesetzt wären und (10.) die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausgewiesenen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland. In der Sache Maslov hob der Gerichtshof zudem die Bedeutung dieses Kriterienkatalogs für die Anwendung der Konvention durch die nationalen Gerichte hervor, nicht aber ohne zugleich auf das Erfordernis einer unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Kriterien je nach den Umständen des Einzelfalls hinzuweisen: „The Court would stress that while the criteria which emerge from its case-law and are spelled out in the Boultif and Üner judgments are meant to facilitate the application of Article 8 in expulsion cases by domestic courts, the weight to be attached to the respective criteria will inevitably vary according to the specific circumstances of each case.“70

So erweisen sich etwa die auf die familiäre Situation eines Ausländers abstellenden Kriterien bei fest integrierten Ausländern ohne Familieleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK, deren Ausweisung maßgeblich unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu prüfen ist, als unpassend. Der Schwerpunkt der Prüfung verlagert sich hier auf die sozialen, kulturellen und (im weiteren Sinne) familiären Bindungen des Betroffenen. Auch kann der im wesentlichen auf straffällig gewordene Ausländer zugeschnittene Kriterienkatalog nur partiell herangezogen werden, wenn der Anlaß einer Ausweisung nicht in der Begehung einer Straftat liegt. Zusammenfassed gilt, daß sich eine allzu schematische Prüfung verbietet. Im einzelnen lassen sich der Rechtsprechung die folgenden allgemeingültigen Aussagen zu Inhalt, Gewicht und Anwendbarkeit der einzelnen Kriterien entnehmen.

a) Natur und Schwere des Delikts Von Relevanz ist zunächst die Natur des durch einen Ausländer verwirklichten Delikts. Die Rechtsprechung erkennt an, daß die Konventionsstaaten bei einigen, als besonders gravierend zu erachtenden Delikten mit großer Entschlossenheit

69 70

EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 58). EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 70).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

(„great firmness“) gegen tatbeteiligte Ausländer vorgehen.71 Ausdrücklich wird dazu aufgrund ihrer verheerenden Wirkung die Betäubungsmittelkriminalität gezählt, wobei der Gerichtshof zwischen Konsum bzw. dem Eigenbedarf dienenden Besitz verbotener Substanzen und deren aktiver Verbreitung differenziert. Allein letzteres wird als besonders schwerwiegend erachtet: „In view of the devastating effects of drugs on people’s lives, the Court understands why the authorities show great firmness with regard to those who actively contribute to the spread of this scourge.“72

Ähnliches gilt für Straftaten gegen Leib und Leben73 oder die sexuelle Integrität.74 Demgegenüber sind Straßenverkehrsdelikte,75 kleinere Eigentumsdelikte ohne Einsatz körperlicher Gewalt gegen Personen,76 aber auch Verstöße gegen ausländerrechtliche Vorschriften77 weniger gravierend. Die Natur des Delikts ist je71 EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 59): „The Court also appreciates that the domestic authorities show great firmness against aliens who have committed certain types of offences […].“ 72 EGMR, Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 54); vgl. ferner EGMR, Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 35); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 34); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 37); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 35); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 32); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 34); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 59); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 86); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 43). 73 Vgl. EKMR, Entsch. vom 14.04.1989, K. und A. ./. Niederlande, Nr. 13318/87; Entsch. vom 12.10.1989, Hassan Akbulut ./. Niederlande, Nr. 14095/88; Entsch. vom 03.09.1991, Yalcinkaya ./. Schweiz, Nr. 18017/91; Entsch. vom 29.06.1994, Mutlu ./. Österreich, Nr. 20840/92; Entsch. vom 04.09.1996, Dhaliwal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27724/95; Entsch. vom 26.02.1997, V. K. ./. Schweiz, Nr. 34295/96; Entsch. vom 29.05.1998, Karara ./. Finnland, Nr. 40900/98; EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 51); Entsch. vom 22.06.2004, Ndangoya ./. Schweden, Nr. 17868/03; Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 41); Entsch. vom 11.10.2005, Tajdirti ./. Niederlande, Nr. 22050/04; Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 63). 74 Vgl. EKMR, Entsch. vom 02.12.1992, D. F. ./. Finnland, Nr. 20202/92; Entsch. vom 29.06.1994, I. P. ./. Schweiz, Nr. 24080/94; Entsch. vom 12.10.1994, Füçük ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 19544/92; EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B, 12 (Ziff. 42); Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 51); EKMR, Entsch. vom 21.10.1997, Gelaw ./. Schweden, Nr. 34025/96; Entsch. vom 29.05.1998, Karara ./. Finnland, Nr. 40900/98; Entsch. vom 30.10.1998, A. Z. u. a. ./. Schweiz, Nr. 43678/98; Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 61). 75 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 45); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 59). 76 Vgl. EGMR, Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 30); Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 39); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 81). 77 Vgl. EKMR, Entsch. vom 08.10.1974, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 1, 7 (8). Soweit Caroni, Privat- und Familieleben, S. 353 f., davon ausgeht, daß die Rechtsprechung aus-

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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doch nur ein erster Anhaltspunkt. Auch schwerwiegende Delikte, etwa der Handel mit Betäubungsmitteln, führen nicht zwangsläufig zur Angemessenheit einer Ausweisung.78 Umgekehrt schließt die Begehung einfacherer Delikte, etwa eines Ladendiebstahls oder wiederholter Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, eine Ausweisung nicht von vornherein aus.79 Als die Schwere eines Delikts bestimmend lassen sich die übrigen Aspekte beschreiben, die von der Rechtsprechung in die Bewertung einbezogen werden. Zu nennen ist hier zunächst die Würdigung der konkreten Tat durch die nationalen Gerichte, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe. So haben Kommission und Gerichtshof ein Delikt als weniger schwerwiegend eingestuft, wenn nur eine Geldstrafe oder niedrige Freiheitsstrafe verhängt, eine Erziehungsmaßnahme angeordnet oder eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.80 Eine hohe Freiheitsstrafe spricht dagegen für eine besonders schwere Verletzung der Rechtsordnung.81 Die Einbeziehung des Strafmaßes in die Bewertung ist erforderlich, da die abstrakte Natur eines Delikts im Einzelfall nur begrenzt Aufschluß über die Schwere der tatsächlich begangenen Tat zu geben vermag. Das gilt insbesondere bei Delikten mit einem großen Strafrahmen.82 Außerdem ermöglicht dieses Vorgehen, die von Konventionsstaat zu Konventionsstaat divergierenden Maßstäbe zu berücksichtigen, die die nationalen Gerichte bei der Strafzumessung zugrundelegen und die Ausdruck der dem Delikt nach nationaler Vorstellung zukommenden Schwere sind. Gelegentlich rekurriert die Rechtsprechung neben der Tatwürdigung durch die nationalen Gerichte unmittelbar auf die der Würdigung zugrundeliegenden Tatumstände. Hat etwa ein Ausländer den Großteil der ihm zur Last gelegten Delikte als Jugendlicher und nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums

länderrechtlichen Delikten besonderes Gewicht beimißt, betreffen diese Fälle die illegale Einreise von Ausländern, also Konstellationen, in denen ohnehin kein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK vorliegt, sondern eine Verletzung einer positiven Verpflichtung zu prüfen ist. 78 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 37); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 36 ff.); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 43 ff.). 79 Vgl. EKMR, Entsch. vom 10.12.1986, Y. H. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 51, 258 (265); EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96. 80 Vgl. EKMR, Bericht vom 13.10.1992, Lamguindaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16152/90 (Ziff. 21, 47); EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 38); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 45); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 34); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 59); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 75). 81 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 44); Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 35); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Franreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 32); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 86); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 61). 82 Caroni, Privat- und Familienleben, S. 351.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

begangen, wird das Fehlverhalten als weniger schwerwiegend eingestuft.83 Im Hintergrund steht die kriminologische Erkenntnis, daß sich das kriminelle Verhalten Jugendlicher vielfach während des Erwachsenwerdens legt.84 Anders zu beurteilen ist demgegenüber ein besonders berechnend oder gewerbsmäßig handelnder erwachsener Täter.85 Schließlich berücksichtigt die Rechtsprechung auch, ob ein Ausländer wiederholt straffällig geworden ist.86 Allerdings steht auch eine erstmalige Verurteilung einer Ausweisung nicht prinzipiell entgegen.87 Liegt der Anlaß einer Ausweisung nicht in der Straffälligkeit eines Ausländers, was in der Rechtsprechungspraxis selten, aber durch Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht ausgeschlossen ist (zu denken ist hier etwa an Maßnahmen zum Schutz des nationalen Arbeitsmarktes, die mit dem wirtschaftlichen Wohls des Landes gerechtfertigt werden können), soll nach der Auffassung des Gerichtshofs zugunsten des Betroffenen zu berücksichtigen sein, daß ihm kein Rechtsverstoß vorwerfbar ist.88 Der Gerichtshof scheint somit den Eingriffszielen des Art. 8 Abs. 2 EMRK eine gewisse Rangordnung zu entnehmen, nach der aufenthaltsbeendende Maßnahmen,

83

Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 44): „Mr Moustaquim’s alleged offences in Belgium have a number of special features. They all go back to when the applicant was an adolescent […]. Furthermore, proceedings were brought in the criminal courts in respect of only 26 of them, which were spread over a fairly short period […].“; Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 35): „Without disregarding the serious nature of the offences, the Court notes, however, that the applicant committed them as a juvenile […]“; Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 39): „However, it observes that the applicant committed the offences at the age of 14 and 15, during the difficult period of adolescence“; Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 74): „En même temps, la Cour constate qu’une partie des agissements imputés au requérant remontent à son adolescence et les autres à un âge relativement jeune […].“ ; vgl. dieses Kriterium anerkennend auch die Entscheidung der Großen Kammer in EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 72). 84 Vgl. EGMR, Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 74) unter ausdrücklichem Verweis auf die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Richtlinien zur Bekämpfung von Jugendkriminalität (United Nations Guidelines for the Prevention of Juvenile Delinquency – The Riyadh Guidelines, Resolution 45/112, in: United Nations, General Assembly, Official Records 45th Session 1990, S. 200 ff.). 85 Vgl. EGMR, Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, Nr. 32365/96: „Adding to the seriousness of the crime was the effort made to introduce heroin to a new area and the sole motive of the crime being financial gain – the first applicant himself not being an addict.“ 86 Vgl. EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Slavov ./. Schweden, Nr. 44828/98; Entsch. vom 01.05.2005, Prince Charles und Akkem Headley ./. Niederlande, Nr. 39642/03; Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 74); vgl. auch Caroni, Privat- und Familienleben, S. 351 f. 87 EGMR, Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 51); Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, Nr. 32365/96; Entsch. vom 10.07.2001, Nwosu ./. Dänemark, Nr. 50359/99; Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 37); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 43). 88 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 29); Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 69); Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 108).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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die nicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten erfolgen, schwerer zu rechtfertigen sind.

b) Dauer des Aufenthalts Die Angemessenheit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann nicht losgelöst von der Dauer des Aufenthalts betrachtet werden. Als Grundregel gilt, daß die an die Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen steigen, je länger sich ein Ausländer im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates aufhält.89 Das gilt insbesondere für die Natur und Schwere des durch ihn begangenen Delikts. Beträgt die Dauer des Aufenthalts nur wenige Jahre, können bereits verhältnismäßig geringfügige Verstöße gegen die Rechtsordnung zur Rechtfertigung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme genügen. So hielt der Gerichtshof die wiederholte Verhängung eines Bußgelds wegen einer Trunkenheitsfahrt bzw. wegen Verweigerung einer Blutalkoholkontrolle für ausreichend, um gegen einen seit etwas mehr als fünf Jahren in Österreich lebenden Ausländer ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot auszusprechen.90 Hat ein Ausländer dagegen den Großteil seines Lebens in einem Konventionsstaat verbracht, kommt eine Ausweisung regelmäßig nur bei der Begehung schwerwiegender Delikte in Betracht. Der Gerichtshof erachtete die Ausweisung eines siebenundzwanzig Jahre in Deutschland lebenden Ausländers, der mehrfach wegen Straßenverkehrsdelikten verurteilt worden war, für unangemessen,91 während er die Ausweisung eines seit dreiunddreißig Jahre in Schweden ansässigen und wiederholt wegen schwerer Betäubungsmitteldelikte und Raubes straffällig gewordenen Ausländers für mit Art. 8 EMRK vereinbar hielt.92 Zu berücksichtigen ist auch hier, daß die Schwere des Delikts und die Dauer des Aufenthalts nicht allein ausschlaggebend für die Angemessenheit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sind. So kann auch eine Ausweisung wegen Drogenhandels trotz eines verhältnismäßig kurzen Aufenthalts unangemessen sein, wenn die Angehörigen des Ausländers nicht in das Herkunftsland folgen können, also Fortbestand der Familieneinheit faktisch unmöglich wird.93 Eng verbunden mit dem Kriterium der Dauer 89 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 45); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 77); EKMR, Entsch. vom 02.09.1994, Karadag ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 21212/93; Entsch. vom 04.09.1996, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24723/94; Entsch. vom 15.01.1997, B. S. ./. Österreich, Nr. 27647/95; EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 40); EKMR, Entsch. vom 15.01.1998, Schneider ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 37003/97; EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Entsch. vom 29.06.1999, Slavov ./. Schweden, Nr. 44828/98; Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 43); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik, Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 61). 90 EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96. 91 EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik, Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 59 ff.). 92 EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Slavov ./. Schweden, Nr. 44828/98. 93 EGMR, Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 36 ff.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

des Aufenthalts ist schließlich die Frage nach den sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Betroffenen im Aufenthaltsstaat bzw. im Herkunftsland.94

c) Persönliche Entwicklung des Täters nach der Tat Zu berücksichtigen ist auch die seit Begehung des einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zugrundeliegenden Delikts vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers während dessen. Liegt die Begehung des Delikts bereits einige Jahre zurück und hat der Betroffene seit dem keine weiteren Rechtsverstöße begangen, wertet die Rechtsprechung dies als Anhaltspunkt für eine Unangemessenheit aufenthaltsbeendender Maßnahmen.95 Auch eine erfolgreiche Resozialisierung des Ausländers nach Verbüßung einer Strafe fällt hier ins Gewicht. Dazu zählt etwa die Teilnahme an einer berufsausbildenden Maßnahme während der Haftzeit und eine anschließende berufliche Reintegration in die Gesellschaft96 oder die erfolgreiche Teilnahme an einer Drogentherapie.97 Umgekehrt indizieren eine wiederholte Straffälligkeit98 oder die Verweigerung einer geeigneten Therapiemaßnahme bzw. deren bislang erfolgloser Verlauf,99 daß die Konventionsstaaten den Betroffenen ausweisen durften. Der Hintergrund dieses Kriteriums dürfte in den nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässigen Eingriffszielen zu sehen sein. Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhütung von Straftaten dienen nicht der Sanktionierung begangenen Unrechts, sondern der Abwehr weiterer Rechtsverstöße. Davon ausgehend fordert Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Bewertung der von dem Aufenthalt des Ausländers künftig ausgehenden Gefahr. Als Grundlage der damit vorzunehmenden Prognoseentscheidung kommt nicht nur das bereits begangene Delikt, sondern auch die persönliche Entwicklung des Ausländers in der Folgezeit in Betracht. Gleichwohl ist die der Sache nach richtige Berücksichtigung der Gefahrenprognose als Aspekt der Angemessenheitsprüfung systematisch zweifelhaft. Folgt deren Er94

Siehe dazu sogleich unter j). Vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 44); Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 42); Sondervotum Richter de Meyer, Bernhardt und Levits, in: EGMR, Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (95); Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 51); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 45); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 44); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 87 ff.). 96 Vgl. EKMR, Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/94; EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 51); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 44). 97 Vgl. EKMR, Bericht vom 15.04.1998, Ciftci ./. Österreich, Nr. 24375/94 (Ziff. 43). 98 Vgl. EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Slavov ./. Schweden, Nr. 44828/98. 99 Vgl. EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 60); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 63); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 78). 95

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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forderlichkeit nämlich aus den von Art. 8 Abs. 2 EMRK als zulässig anerkannten Eingriffszielen, ist bereits bei deren Überprüfung nachzuweisen, daß die Ausweisung des betroffenen Ausländers nach den Umständen des Einzelfalls tatsächlich der Abwehr künftiger Rechtsverstöße dient.100 Erscheint dies auch bei Berücksichtigung des den Konventionsstaaten insoweit zuerkannten Beurteilungsspielraums aufgrund der persönlichen Entwicklung des Ausländers nicht plausibel, ist ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK von vornherein unzulässig, ohne daß es auf die Angemessenheit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme im übrigen ankommt. Daß der Gerichtshof an dieser Stelle regelmäßig die bloße Behauptung eines Konventionsstaates genügen läßt und die Prüfung der von einem Ausländer ausgehenden Gefahr in die Angemessenheitsprüfung verlagert, führt zu einer mit Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht zu vereinbarenden Relativierung der Eingriffsziele. Es erscheint somit denkbar, daß die Rechtsprechung die Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers auch dann für gerechtfertigt hält, wenn weitere Rechtsverstöße nicht zu befürchten sind, aber die übrigen in der Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigenden Aspekte zu seinen Lasten ausfallen.101 Auch wenn die bisherige Zurückhaltung des Gerichtshofs bei der Prüfung eines legitimen Ziels mit der Weite und Unbestimmtheit der durch Art. 8 Abs. 2 EMRK formulierten Schranken zu erklären sein mag, liegt es in seiner Hand, deren Bedeutung durch Auslegung zu konkretisieren und damit einen Beitrag zu einer weiteren Präzisierung der aus Art. 8 EMRK folgenden Anforderungen an die Ausweisung von Ausländern zu leisten.

d) Staatsangehörigkeit der Betroffenen Der Staatsangehörigkeit des ausgewiesenen Ausländers selbst kommt eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Hat ein Ausländer inzwischen die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltslandes erworben, steht aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bereits Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls entgegen, der den Konventionsstaaten die Ausweisung eigener Staatsangehöriger ausnahmslos untersagt und ihnen ergänzend ein Recht auf Einreise gewährt. Auch eine Aberkennung der Staatsangehörigkeit, die allein zum Zweck der späteren Ausweisung erfolgt, ist dabei im Grundsatz ausgeschlossen.102 Hat sich ein Ausländer allerdings nicht um den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates bemüht, obwohl die dazu erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen gegeben waren, kann dies nach Auffassung des Gerichtshofs als mangelndes Interesse an einer vollständigen Integration im Auf100

So auch van Dijk, in: Guild / Minderhoud, Security of Residence, S. 23 (30 f.). Vgl. in diesem Sinne bereits EGMR, Entsch. vom 22.06.2004, Ndangoya ./. Schweden, Nr. 17868/03: „However, even assuming that the applicant would refrain from further hazardous behaviour, the Court is of the opinion that the crimes of which he was convicted […] are of such a serious nature that the order for his expulsion must be considered to have been justified […].“ 102 Vgl. dazu ausführlich oben unter A. III. 101

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

enthaltsstaat interpretiert werden, was sich hinsichtlich der Angemessenheit der Ausweisung zu Lasten des Beschwerdeführers auswirkt.103 Soweit die Rechtsprechung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK auf die Staatsangehörigkeit der Betroffenen abstellt, bezieht sich dies maßgeblich auf die von der Ausweisung eines Ausländers ebenfalls in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens betroffenen Angehörigen. Besitzen diese die Staatsangehörigkeit des ausweisenden oder zumindest eines dritten Staates, kann eine Ausweisung jedenfalls nicht ohne weiteres gerechtfertigt werden. Wie im einzelnen noch näher auszuführen sein wird, hängt die Angemessenheit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme maßgeblich davon ab, ob eine Fortführung des Familienlebens im Ausland möglich und zumutbar ist. Daß Familienangehörige die Staatsbürgerschaft des ausweisenden oder eines dritten Staates besitzen, führt zwar nicht per se zur Unzumutbarkeit eines Familienlebens im Herkunftsland des Ausgewiesenen,104 doch wird für sie der Erwerb eines dauerhaften Aufenthaltsrechts erheblich schwieriger sein. Die Rechtsprechung wertet daher die Staatsbürgerschaft der Angehörigen neben ihrer sprachlichen und kulturellen Prägung als einen für die Unzumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Herkunftsland des Ausgewiesenen sprechenden Aspekt.105 Darüber hinaus ist – soweit die Familienangehörigen Staatsbürger des ausweisenden Konventionsstaates selbst sind – auch an eine mittelbar-faktische Verletzung von Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls zu denken. Die Kommission hat zwar in der Rechtssache Maikoe und Baboelal in der Ausweisung einer ausländischen Mutter aus den Niederlanden keinen Eingriff in die durch Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls garantierten Rechte der die niederländische Staatsangehörigkeit besitzenden Tochter erblickt, da diese nicht selbst Adressatin der Ausweisungsverfügung sei.106 Dieser formalen Betrachtungsweise kann jedoch nach der hier vertretenen Auffassung nicht gefolgt werden.107 Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof nicht zumindest dann einen mittelbar-faktischen Grundrechtseingriff annehmen wird, wenn für den formal nicht ausgewiesenen Familienangehörigen faktisch keine Möglichkeit zum Verbleib im Konventionsstaat besteht. Zu denken ist hier etwa an ein noch minder-

103

EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 40); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 44); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 64); nach EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 77), gilt das nicht, wenn der Nichterwerb auf ein Verschulden der Eltern zurückzuführen ist. 104 EKMR, Entsch. vom 19.05.1977, X. und Y. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 9, 219 (220 f.); Entsch. vom 01.07.1985, Familie K. und W. ./. Niederlande DR 43, 216 (221); Entsch. vom 30.11.1994, Maikoe und Baboelal ./. Niederlande, Nr. 22791/93. 105 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 36); Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 53); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 41). 106 EKMR, Entsch. vom 30.11.1994, Maikoe und Baboelal ./. Niederlande, Nr. 22791/93; offen gelassen noch in EKMR, Entsch. vom 13.10.1987, Kilicarslan ./. Frankreich, Nr. 11939/86. 107 Vgl. dazu ausführlich oben unter A. III.

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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jähriges Kind, das außer dem ausgewiesenen Elternteil keine weiteren Angehörigen besitzt, die die Personensorge übernehmen könnten.

e) Die familiäre Situation des Ausländers Ob der Beschwerdeführer ein Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK führt, ist eine bereits den Schutzbereich betreffende Frage. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung rekurrieren Kommission und Gerichtshof auf die Stärke der familiären Bindungen. Als Anhaltspunkte dienen die Dauer der Beziehung zum Ehe- bzw. Lebenspartner,108 aber auch andere Aspekte, die auf ein tatsächliches und echtes Familienleben schließen lassen, wie gemeinsame Kinder (dazu sogleich) oder ein gemeinsamer Haushalt.109 Haben Familienangehörige keinen regelmäßigen Kontakt mehr, wird die mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verbundene Beeinträchtigung des Familienlebens als weniger gravierend gewertet.110 Den nationalen Behörden und Gerichten obliegt es bei Anordnung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, die familiäre Situation eines Ausländers sorgfältig zu prüfen. Insbesondere kann von einem bloß vorrübergehenden Getrenntleben der Ehe- bzw. Lebenspartner nicht vorschnell auf ein Ende der Beziehung und damit auf den Wegfall des durch Art. 8 EMRK vermittelten Aufenthaltsschutzes geschlossen werden. Verlangt wird vielmehr, daß eine Ehe oder Lebenspartnerschaft als dauerhaft gescheitert betrachtet werden kann.111

f) Kenntnis des Ehepartners von der Straffälligkeit Die Schutzwürdigkeit einer Ehe – sinngemäß wird dies auch für eine nichteheliche Lebensgemeinschaft gelten – soll außerdem von einer schon bei Beginn der Beziehung vorhandenen Kenntnis des Ehegatten von der Straffälligkeit des ausländischen Partners abhängig sein. Diese vom Gerichtshof in der Sache Boultif gewählte und in der Folge mehrfach in Bezug genommene Formulierung bedarf in zweifacher Hinsicht der Präzisierung. Anzumerken ist zunächst, daß die Rechtsprechung den zulasten der Schutzwürdigkeit ins Gewicht fallenden Umstand nicht in der Kenntnis von der Straffälligkeit als solcher erblickt. Vielmehr stellt sie darauf, daß der Ehepartner aufgrund dieser Kenntnis schon zu Beginn der Beziehung davon ausgehen mußte, daß ein Fortbestand der Familieneinheit im Ho108

Vgl. EGMR, Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 88). 109 Vgl. zu den Kriterien oben unter C. I. 1. a) und d). 110 Vgl. EKMR, Entsch. vom 28.06.1995, Doymus ./. Schweiz, Nr. 27269/95; Entsch. vom 28.06.1995, Timocin ./. Schweiz, Nr. 27275/95; Entsch. vom 10.09.1997, Eshak ./. Schweden, Nr. 33758/96; EGMR; Entsch. vom 13.12.2005, Pello-Sode ./. Schweden, Nr. 34391/05; Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 64 f.). 111 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 48).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

heitsgebiet des jeweiligen Konventionsstaates zumindest ungewiß ist, da die Straffälligkeit eines Ausländers unter Umständen aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen kann.112 Es ist daher in Wahrheit die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen des unsicheren Aufenthaltsstatus, das zu einem verminderten aufenthaltsrechtlichen Schutz des Familielebens führen soll. Davon ausgehend erweist sich außerdem die aus der Formulierung des Kriteriums scheinbar folgende Beschränkung auf eine eventuell vorhandene Kenntnis von der Straffälligkeit als irreführend. Auch andere Umstände, etwa die Aussicht, daß eine nur befristet erteilte Aufenthaltsgenehmigung nicht weiter verlängert wird, müßten daher grundsätzlich zu einem verminderten Aufenthaltsschutz führen, wenn dies bereits bei Beginn der Beziehung bekannt ist.113 Eine andere Frage ist freilich die nach der Legitimität des Kriteriums. Wenn Kommission und Gerichtshof darauf abstellen, ob bereits bei Gründung einer Familie der Fortbestand der Familieneinheit aus aufenthaltsrechtlicher Sicht unsicher ist, scheinen sie sich dabei maßgeblich vom Gedanken des Vertrauensschutzes leiten zu lassen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich eine solche Begründung mit der ratio des durch Art. 8 EMRK garantierten Achtungsanspruchs zugunsten des Familienlebens vereinbaren läßt. Eine Eheschließung stellt eine prinzipielle Lebensentscheidung zugunsten eines anderen Menschen dar, die von vielen Faktoren abhängig sein mag, im unterstellten Idealfall aber nicht aus aufenthaltsrechtlichen Gründen erfolgt. Dies vorausgesetzt ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, daß ein Familienleben weniger schützenswürdig ist, wenn einer der Partner, etwa wegen Begehung einer Straftat, über kein langfristig gesichertes Aufenthaltsrecht verfügt. Das gilt um so mehr für den Ehegatten des Auszuweisenden, dem keine Verfehlung zur Last gelegt werden kann. Verweist ihn die Rechtsprechung darauf, daß seine Rechtsposition weniger schützenswert sei, weil er schon bei Beginn der Beziehung vom unsicheren Aufenthaltsstatus Kenntnis gehabt habe, wird ihm implizit die Auswahl des Ehepartners zum Vorwurf gemacht. Richtigerweise kann die Kenntnis vom unsicheren Aufenthaltsstatus daher nur insofern zu einem verminderten Aufenthaltsschutz durch Art. 8 EMRK führen, wie darin ein Indiz für das Vorliegen einer Scheinehe zu sehen ist. Heiratet ein Ausländer zu einem Zeit112

So ausdrücklich bereits EKMR, Entsch. vom 17.05.1995, Marhan ./. Schweiz, Nr. 25037/ 94: „Furthermore, the applicants married while the second applicant was remanded in custody. They had therefore to expect that, upon his conviction by the Criminal Court and his release from prison, they might have to continue their married life outside Switzerland.“ Vgl. ferner EKMR, Entsch. vom 05.04.1995, Charfa ./. Schweden, Nr. 20002/92; Entsch. vom 04.07.1995, E. S. ./. Finnland, Nr. 26157/95; Entsch. vom 15.01.1997, B. S. ./. Österreich, Nr. 27647/95; Entsch. vom 02.07.1998, Kwong ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 36336/97; EGMR, Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Entsch. vom 04.05.2000, Hussain und C. ./. Norwegen, Nr. 36844/97; Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34). 113 So für den Fall einer positiven Verpflichtung etwa EGMR, Entsch. vom 26.01.1999, Sarumi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 43279/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejcinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96.

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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punkt, zu dem er mit einer drohenden Ausweisung rechnen muß, steht zumindest der Verdacht im Raum, daß die Eheschließung aus aufenthaltsrechtlichen Gründen erfolgt. Erforderlich wären dann aber weitere Umstände, die das Vorliegen einer Scheinehe nahelegen. Selbst wenn den nationalen Behörden und Gerichten diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zukommt, kann die sich bislang formal am Zeitpunkt der Eheschließung orientierende Rechtsprechung nicht überzeugen.

g) Gemeinsame Kinder und deren Lebensalter Zur familiären Situation des Beschwerdeführers zählen schließlich auch gemeinsame Kinder des Paares sowie deren Lebensalter. Der Gerichtshof geht davon aus, daß insbesondere junge Kinder in der Phase des Heranwachsens auf beide Elternteile angewiesen sind und die Ausweisung der Mutter oder des Vaters daher einen gravierenden Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellt, der einen erhöhten Rechtfertigungsbedarf auslöst.114 Mit zunehmendem Alter der Kinder läßt diese Angewiesenheit nach.115 Im Fall der Ehescheidung mißt die Rechtsprechung der Sorge- und Umgangsrechtsregelung entscheidende Bedeutung bei. Steht dem Auszuweisenden kein Sorgerecht für seine Kinder und auch nur ein beschränktes Umgangsrecht zu, wertet die Rechtsprechung die familiäre Beziehung als eher schwach.116 In diesen Fällen kann die durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verursachte Trennung durch gelegentliche Besuche kompensiert werden, sofern dies aufenthaltsrechtlich, etwa durch Ausstellung jeweils befristeter Visa, möglich und zumutbar ist.117 Der Verweis auf eine Besuchsmöglichkeit trägt jedoch nicht, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen eine intakte Familieneinheit beeinträchtigen.118

h) Fortführung des Familienlebens im Ausland Die Angemessenheit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme hängt weiterhin davon ab, ob es dem Ehepartner des ausgewiesenen Ausländers möglich und zumutbar ist, gemeinsam auszureisen und das Familienleben im Ausland fortzu114

EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 29). EKMR, Entsch. vom 28.06.1995, Doymus ./. Schweiz, Nr. 27269/95. 116 Vgl. EKMR, Entsch. vom 13.03.1989, J. S. und V. K. ./. Niederlande, Nr. 11916/86; Bericht vom 30.06.1992, Yousef ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14830/89. 117 Vgl. EKMR, Entsch. vom 05.04.1995, Charfa ./. Schweden, Nr. 20002/92; Entsch. vom 16.10.1996, Boyce ./. Schweden, Nr. 27327/95; EGMR, Entsch. vom 08.03.2005, Hussein Mossi u. a. ./. Schweden, Nr. 15017/03. 118 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 49): „It is true that, in theory at least, the first applicant is entitled to make occasional visits to the Netherlands […]. However, in this context the Court notes that the present case does not concern a divorced father with an access arrangement, but a functioning family unit where the parents and children are living together.“ 115

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

führen. Dieses Kriterium läßt sich im Kern bereits in der frühen Kommissionsrechtsprechung nachweisen, auch wenn es dort zunächst nicht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung, sondern bereits beim Eingriff verortet wurde.119 So sah die hinsichtlich des aus Art. 8 EMRK folgenden Aufenthaltsschutzes anfangs sehr zurückhaltende Kommission in einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme regelmäßig nur dann einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, wenn keine Möglichkeit zur Fortführung des Familielebens im Ausland bestand.120 In den 1980er Jahren deutete sich dann zunehmend ein Rechtsprechungswandel hin zu einem erweiterten Eingriffsverständnis an. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland wurde erst im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK relevant.121 In der Sache erweist sich dieser Rechtsprechungswandel als richtig. Auch wenn die Familie ins Ausland folgen kann und damit der Fortbestand der Familieneinheit als solcher zumindest nicht unmöglich ist, stellt allein die Notwendigkeit, das bisherige Lebensumfeld dauerhaft verlassen zu müssen, um auch künftig als Familie zusammenleben zu können, eine erhebliche Beeinträchtigung des Familienlebens dar. Die Alternative eines gemeinsamen Lebens im Ausland kann damit nicht bereits einen Eingriff in Art. 8 EMRK ausschließen, sondern allenfalls für die Angemessenheit einer Ausweisung sprechen. Auch inhaltlich haben sich die Anforderungen an die Möglichkeit einer Fortführung des Familienlebens im Ausland gewandelt. Im Vergleich zur frühen Rechtsprechung der Kommission läßt sich eine zunehmend großzügigere Handhabung konstatieren. Diese hatte zunächst allein rechtliche Hindernisse für ein gemeinsames Leben im Ausland genügen lassen.122 Nach dem Stand der damaligen Rechtsprechungsentwicklung kam ein Eingriff in Art. 8 EMRK damit nur dann in Betracht, wenn der Ehepartner oder die Kinder des Auszuweisenden keine für ein Leben im Ausland erforderliche Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnten. Später grenzte sie die Verweisungsmöglichkeit auf ein alternatives Leben im Ausland insoweit ein, als es einer Familie nicht zumutbar sei, in ein Land auszuwandern, zu dem keines 119 Storey, ICLQ 1990, 328 (329 ff.), spricht hier vom sog. „elsewhere approach“; vgl. dazu auch Hasenberger, Einwanderung, S. 41 ff; Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 284 ff. 120 Vgl. EKMR, Entsch. vom 16.07.1965, X ./. Bundesrepublik Deutschland, CD 17, 28 (30); Entsch. vom 08.02.1972, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, CD 39, 104 (107); Entsch. vom 12.07.1976, X. ./. Schweiz, DR 6, 124 (125); Entsch. vom 15.12.1977, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 12, 197 (198 f.); Entsch. vom 06.05.1981, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 24, 98 (100); Entsch. vom 08.12.1981, X ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 27, 243 (244); Entsch. vom 01.07.1985, Familie K. und W. ./. Niederlande, DR 43, 216 (221). 121 Vgl. EKMR, Entsch. vom 06.07.1982, X., Y., Z. ./. Vereinigtes Königreich, DR 29, 205 (209); Entsch. vom 13.07.1987, O. und O. L. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 11970/86; Entsch. vom 08.03.1988, Kassim ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12894/87; Entsch. vom 15.07.1988, C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 13718/88; Entsch. vom 14.04.1989, K. und A. ./. Niederlande, Nr. 13318/87; Entsch. vom 13.07.1990, B. I. ./. Schweiz, Nr. 16563/90; Entsch. vom 03.09.1991, Yalcinkaya ./. Schweiz, Nr. 18017/91. 122 Vgl. EKMR, Entsch. vom 08.02.1972, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, CD 39, 104 (107); Entsch. vom 19.05.1977, 15 ausländische Studenten ./. Vereinigtes Königreich, DR 9, 185 (187); Entsch. vom 15.12.1977, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 12, 197 (198 f.).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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der Familienmitglieder einen Bezug habe („unconnected with either of them“).123 Erstmals erkannte die Kommission damit implizit an, daß neben rein rechtlichen Hindernissen, auch soziale und kulturelle Bindungen gegen ein gemeinsames Familienleben im Ausland sprechen können.124 In den folgenden Judikaten läßt sich sodann – mit jeweils unterschiedlicher Formulierung – eine generelle Anerkennung außerrechtlicher Hinderungsgründe feststellen. So sprach die Kommission wahlweise von gültigen Gründen („valid reasons“),125 von ernsthaften („serious obstacles“),126 von rechtlichen und tatsächlichen („factual or legal obstacles“)127 oder von unüberwindbaren Hindernissen („insurmountable obstacles“),128 die einer Fortführung des Familienlebens im Ausland entgegenstünden. Gelegentlich stellte sie fest, daß ein Leben im Ausland eine besondere Härte („considerable hardship“)129 für die Angehörigen bedeuten würde. In anderen Entscheidungen prüfte sie wiederum die Realisierbarkeit und Zumutbarkeit („practicability and reasonableness“)130 einer gemeinsamen Ausreise oder fragte schlicht danach, ob von den Angehörigen vernünftigerweise erwartet („reasonable to expect“)131 werden konnte, ins Ausland zu folgen. Der Gerichtshof griff die Kommissionsrechtsprechung weitestgehend auf und stellt nun nach seiner Diktion in der Sache Boultif auf das Ausmaß der Schwierigkeiten („seriousness of the difficulties“)132 ab, denen der Ehepartner im Ausland begegnen würde. Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß neben der Möglichkeit einer Fortführung des Familienlebens im Ausland auch die Zumutbarkeit einer solchen Alternative zu berücksichtigen ist. Im einzelnen gilt es dabei zunächst das für eine Fortführung des Familienlebens in Betracht kommende Aufnahmeland zu bestimmen. Auch wenn der Gerichtshof ein gemeinsames Leben in einem Drittstaat, dessen Staatsbürgerschaft weder der auszuweisende Ausländer noch dessen Ehepartner besitzen, nicht prinzipiell aus123

EKMR, Entsch. vom 03.10.1972, X. und X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 42, 146 (146); Entsch. vom 03.10.1972, X. ./. Vereinigtes Königreich, CD 43, 82 (84). 124 Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 284. 125 EKMR, Entsch. vom 08.10.1974, X. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 1, 7 (8). 126 EKMR, Entsch. vom 19.05.1977, X. und Y. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 9, 219 (220 f.); Entsch. vom 06.05.1981, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 24, 98 (100); Entsch. vom 14.12.1988, Patel ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14069/88; Entsch. vom 14.12.1988, Khanam ./. Vereinigtes Königreich, DR 59, 265 (269). 127 EKMR, Entsch. vom 10.03.1994, L. A. ./. Schweden, Nr. 23253/94. 128 EKMR, Entsch. vom 06.07.1982, X., Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, DR 29, 205 (209); Entsch. vom 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/86. 129 EKMR, Entsch. vom 06.03.1989, Polat ./. Niederlande, Nr. 13113/87; Entsch. vom 14.04.1989, K. und A. ./. Niederlande, Nr. 13318/87; Entsch. vom 18.09.1997, Al-Dabbagh ./. Schweden, Nr. 36765/97. 130 EKMR, Entsch. vom 08.12.1981, X ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 27, 243 (245); Entsch. vom 17.05.1985, C. ./. Bundesrepublik Deutschland, DR 43, 227 (228). 131 EKMR, Entsch. vom 12.05.1986, C. ./. Vereinigtes Königreich, DR 47, 85 (93); Entsch. vom 13.07.1990, B. I. ./. Schweiz, Nr. 16563/90; Entsch. vom 03.09.1991, Yalcinkaya ./. Schweiz, Nr. 18017/91; Entsch. vom 18.10.1994, Z. A. ./. Schweiz, Nr. 25036/94. 132 EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 48).

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zuschließen scheint,133 hat er in der Rechtsprechungspraxis den Beschwerdeführer bislang in keinem Fall auf eine solche Alternative verwiesen. Das mag zum einen daran liegen, daß bereits der Erwerb einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung in diesen Fällen äußert ungewiß ist. Zum anderen wird regelmäßig keines der Familienmitglieder über die erforderlichen sozialen, kulturellen und sprachlichen Bindungen verfügen, so daß eine Fortführung des Familienlebens in diesem Drittstaat als unzumutbar zu erachten ist.134 Im Ergebnis liegt damit kein deutlicher Widerspruch zur Kommissionsrechtsprechung vor. Allenfalls dann, wenn der Ehepartner eines auszuweisenden Ausländers die Staatbürgerschaft eines Drittstaates besitzt, ist eine Fortführung des Familielebens in einem Drittstaat denkbar. Auch hier ist allerdings zu berücksichtigen, daß sich der Erwerb einer Aufenthaltsgenehmigung für den auszuweisenden Ausländer gerade mit Blick auf eine die Ausweisung tragende Straffälligkeit als problematisch erweisen kann.135 Regelmäßig kommt daher allein das Herkunftsland des Ausländers als Alternative in Betracht. Weiterhin ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob eine Fortführung des Familienlebens im Herkunftsland des Ausländers für den Ehepartner tatsächlich zumutbar ist. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs läßt sich hier bei typisierender Betrachtung eine nach der Staatangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus des Ehepartners differenzierende Betrachtungsweise entnehmen. Regelmäßig unzumutbar ist ein gemeinsames Leben im Herkunftsland des Ausländers, wenn der Ehepartner Staatsbürger des ausweisenden Konventionsstaates ist, nie im Herkunftsland des Ausländers gelebt hat und weder mit dessen Sprache noch mit der dort vorherrschenden Kultur vertraut ist.136 Ähnlich entscheidet der Gerichtshof, wenn der Ehepartner zwar dieselbe Staatsangehörigkeit wie der Aus133 Zwar spricht der Gerichtshof in EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 48) von „in the applicant’s country of origin“ und in EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 57) von „the country to which the applicant is to be expelled“, gelegentlich bezieht er aber auch Drittstaaten in die Prüfung ein, vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 36); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 42); Urt. vom. 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34). 134 Vgl. EGMR, Urt. vom. 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34): „La Cour a examiné ensuite la possibilité pour le requérant et son épouse d’établir une vie familiale ailleurs. Outre l’absence de liens avérés avec d’autres pays que la France et l’Algérie et les difficultés d’intégration en résultant, il est peu probable qu’ils obtiennent la possibilité de s’installer dans un pays tiers, eu égard à la nature de l’infraction perpétrée.“ 135 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 36): „Quant à l’établissement du ménage en Italie, s’il ne paraît pas inconcevable dans la mesure où Mme Mehemi a la nationalité de ce pays, il impliquerait pour les enfants du couple un déracinement. En outre, en raison notamment du passé pénal du requérant, l’entrée et l’installation de celui-ci sur le territoire de cet Etat se heurteraient sans nul doute à des obstacles juridiques dont le Gouvernement n’a pas démontré qu’ils fussent surmontables.“ 136 Vgl. EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 53); Urt. vom 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00 (Ziff. 41); Urt. vom. 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34); anders aber EGMR, Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 45).

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länder besitzt, jedoch im Konventionsstaat als sogenannter Einwanderer der zweiten Generation geboren wurde oder zumindest in den frühen Lebensjahren dort eingewandert ist. Auch in diesen Fällen sind die sozialen, kulturellen oder familiären Bindungen zum Herkunftsland, wenn überhaupt vorhanden, regelmäßig so schwach, daß der Gerichtshof dem Ehepartner eine Ausreise nicht zumuten will.137 Stammt der Ehepartner dagegen aus dem Herkunftsland des Ausländers und hat dort einen nennenswerten Teil seines Lebens verbracht, geht der Gerichtshof vielfach von der Zumutbarkeit aus.138 Zu berücksichtigen sind allerdings auch hier die besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa eine schwere Erkrankung des Ehepartners, die gleichwohl zur Unzumutbarkeit einer Fortführung des Familienlebens im Herkunftsland des Ausländers führen können.139 i) Das Wohlergehen der Kinder Ob eine Fortführung des Familienlebens im Ausland möglich und zumutbar ist, hängt nicht nur von der Lebenssituation des Ehepartners, sondern auch vom Wohlergehen der Kinder eines Ausländers ab. Die Große Kammer des Gerichtshofs hat daher in der Sache Üner die bisherige Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof aufgreifend ausdrücklich auf die Bedeutung dieses Aspekts hingewiesen.140 Die Möglichkeit und Zumutbarkeit einer gemeinsamen Ausreise hängt dabei maßgeblich vom Alter der Kinder und ihren Bindungen an das Herkunftsland des ausgewiesenen Elternteils bzw. an den Konventionsstaat ab. Sind die Kinder noch jung, geht die Rechtsprechung davon aus, daß sie sich leicht an andere sprachliche und kulturelle Lebensbedingungen gewöhnen können.141 Dagegen kann eine Ausreise eine erhebliche Belastung darstellen, wenn die Kinder als sogenannte Einwanderer der zweiten Generation im Konventionsstaat geboren wurden oder im frühen Kindesalter mit ihren Eltern eingereist sind und dort inzwischen einen Teil ihrer Schulausbildung erhalten haben.142 Das Kindes137 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 43); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 47). 138 Vgl. EGMR, Entsch. vom 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96; Entsch. vom 24.08.1999, Cartagena Olmos ./. Schweden, Nr. 47485/99; Entsch. vom 11.10.2005, Tajdirti ./. Niederlande, Nr. 22050/04; Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 63). 139 Vgl. EGMR, Entsch. vom 04.05.2000, Hussain und C. ./. Norwegen, Nr. 36844/97. 140 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 58). 141 Vgl. EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 64): „The Court concurs with the Chamber in its finding that at the time the exclusion order became final, the applicant’s children were still very young – six and one and a half years old respectively – and thus of an adaptable age […]“; ferner EGMR, Entsch. vom 10.02.2000, Caruso ./. Schweiz, Nr. 54448/00; Entsch. vom 21.03.2000, Öztürk ./. Norwegen, Nr. 32797/96; Entsch. vom 05.10.2000, Katanic ./. Schweiz, Nr. 54271/00. 142 Vgl. EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 27.10.2005 (Ziff. 64); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 47); Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 66).

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wohl ist schließlich auch dann von Belang, wenn es das Kind selbst ist, das ausgewiesen werden soll oder die der Ausweisung zugrundeliegenden Straftaten im Kindesalter begangen wurden. In der Rechtssache Maslov leitete der Gerichtshof in einem Urteil der Großen Kammer aus dem Kindeswohlgedanken eine Pflicht der Konventionsstaaten ab, die Reintegration jugendlicher Straftäter in die Gesellschaft zu ermöglichen – ein Ziel, dem eine Ausweisung wegen der damit verbundenen Schwächung familiärer und sozialer Bindungen regelmäßig zuwiderlaufe. Jedenfalls in den Fällen leichterer Kriminalität bliebe für eine Ausweisung minderjähriger und in einem Konventionsstaat verwurzelter Ausländer kein Raum.143

j) Soziale, kulturelle und familiäre Bindungen Schließlich sind nach dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Üner Ausmaß und Intensität der sonstigen sozialen, kulturellen und familiären Bindungen eines Ausländers zum Aufenthaltsstaat und – gleichsam spiegelbildlich – zum Zielstaat einer Abschiebung, d. h. regelmäßig zum Herkunftsland des Ausländers, zu berücksichtigen. Dieses Kriterium erfaßt losgelöst vom Familienleben oder doch über das Familienleben des Betroffenen hinaus die Gesamtheit aller Bindungen, die durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme beeinträchtigt werden. Hierin spiegelt sich die bereits hinsichtlich des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK getroffene Feststellung wieder, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht nur das Familienleben, sondern auch das Privatleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK beeinträchtigen können.144 Nach der in der Rechtssache Üner bekräftigten Auffassung des Gerichtshofs sind die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen vor allem bei fest integrierten Ausländern, insbesondere bei sogenannten Einwanderern der zweiten Generation von Relevanz. Zum einen sind Konstellationen denkbar, in denen ein integrierter Ausländer bereits erwachsen ist, selbst aber noch keine eigene Familie gegründet hat. Die Boultif-Kriterien, die in weiten Teilen gerade auf das Familienleben eines Ausländers zugeschnitten sind, greifen hier zu kurz. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, daß diese Kriterien für integrierte Ausländer ohne eigenes Familienleben im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK nur partiell anwendbar sind: „This leads the Court to consider whether the ‚Boultif criteria‘ are sufficiently comprehensive to render them suitable for application in all cases concerning the expulsion and / or ex143

EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 82 ff.): „The Court considers that, where expulsion measures against a juvenile offender are concerned, the obligation to take the best interests of the child into account includes an obligation to facilitate his or her reintegration. […] In the Court’s view this aim will not be achieved by severing family or social ties through expulsion, which must remain a means of last resort in the case of a juvenile offender. […] In sum, the Court sees little room for justifying an expulsion of a settled migrant on account of mostly non-violent offences committed when a minor.“ 144 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen oben unter C. II. 3.

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clusion of settled migrants following a criminal conviction. It observes in this context that not all such migrants, no matter how long they have been residing in the country from which they are to be expelled, necessarily enjoy ‚family life‘ there within the meaning of Article 8. However, as Article 8 also protects the right to establish and develop relationships with other human beings and the outside world […] and can sometimes embrace aspects of an individual’s social identity […] it must be accepted that the totality of social ties between settled migrants and the community in which they are living constitute part of the concept of ‚private life‘ within the meaning of Article 8.“145

Statt den auf die familiäre Situation abstellenden Kriterien sind hier also allein die sozialen, kulturellen und (im weiteren Sinne) familiären Bindungen unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens in die Angemessenheitsprüfung einzubeziehen. Zum anderen werden Ausmaß und Intensität der Bindungen an den Aufenthaltsstaat regelmäßig zunehmen, je länger sich ein Ausländer dort aufhält. Zwar läßt sich aus Art. 8 EMRK angesichts der Schrankenregelung in Abs. 2 kein prinzipielles Ausweisungsverbot für fest integrierte Ausländer ableiten: „While a number of Contracting States have enacted legislation or adopted policy rules to the effect that long-term immigrants who were born in those States or who arrived there during early childhood cannot be expelled on the basis of their criminal record […], such an absolute right not to be expelled cannot, however, be derived from Article 8 of the Convention, couched, as paragraph 2 of that provision is, in terms which clearly allow for exceptions to be made to the general rights guaranteed in the first paragraph.“146

Jedoch kommt den sozialen, kulturellen und familiären Bindungen von Ausländern, die ihre ganze oder zumindest den Großteil ihrer Kindheit in einem Konventionsstaat verbracht haben, dort aufgewachsen sind und ihre Ausbildung dort erhalten haben, im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ein besonderes, ihrer speziellen Lebenssituation entsprechendes Gewicht zu: „Indeed, the rational behind making the duration of a person’s stay in the host country one of the elements to be taken into account lies in the assumption that the longer a person has been residing in a particular country the stronger his or her ties with that country and the weaker the ties with the country of his or her nationality will be. Seen against that background, it is self-evident that the Court will have regard to the special situation of aliens who have spent most, if not all, their childhood in the host country, were brought up there and received their education there.“147

145 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 59); vgl. außerdem EGMR, Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 33); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 31); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 33); Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 36); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 68); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 71). 146 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 55); vgl. auch Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 66). 147 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 58); vgl. auch Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 69).

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In der Anerkennung eines stärkeren Schutzes von Einwanderern der zweiten Generation sieht sich der Gerichtshof zudem durch die Empfehlungen Rec (2000) 15 und Rec (2002) 4 des Europarates bestätigt.148 Der Judikatur des Gerichtshofs zur Vereinbarkeit einer Ausweisung läßt sich dabei – entgegen früherer Mutmaßungen149 – eine differenzierte Herangehensweise entnehmen. Diese äußert sich zunächst in einer auf den jeweiligen Einzelfall abstellenden Untersuchung der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Betroffenen. Der Gerichtshof begnügt sich nicht mit einer pauschalen Einordnung eines Ausländers als Einwanderer der zweiten Generation, zu denen er im Kern diejenigen Ausländer zählt, die im Konventionsstaat geboren wurden oder zumindest in den frühen Lebensjahren eingewandert sind,150 sondern überprüft regelmäßig, ob der Betroffene tatsächlich keinerlei Bezug zum Herkunftsland seiner Eltern aufweist. Dieser Ansatz ist stimmig, da der durch Art. 8 EMRK vermittelte Ausweisungsschutz nur mittelbar aus einem Achtungsanspruch zugunsten des Familien- und Privatlebens folgt und gerade nicht formal an die Dauer des Aufenthalts anknüpft. Damit aber können allein die tatsächlich bestehenden sozialen, kulturellen und familiären Bindungen maßgeblich sein. Hat ein Ausländer etwa die ersten Jahre seines Lebens noch im Herkunftsland seiner Eltern verbracht und dort erste soziale Beziehungen aufgebaut oder sogar einen Teil seiner Schulausbildung absolviert, spricht dies ungeachtet des gegenwärtigen Lebensmittelspunkts für zwar schwache, aber dennoch im Rahmen der Angemessenheitsprüfung relevante Bin-

148 EGMR, Urt. vom 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 55 f.); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 73); vgl. zu den Empfehlungen des Europarats oben unter A. VII. 149 Vgl. Cholewinski, NQHR 1994, 287 (298 ff.), der gar von einer verborgenen Straßburger Agenda spricht und sich dabei maßgeblich auf die Sondervoten einiger Richter stützt, die eine Ausweisung von Einwanderern der zweiten Generation generell als Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder als grundsätzlich nicht rechtfertigungsfähigen Eingriff in Art. 8 EMRK werteten, da diese den Staatsangehörigen eines Konventionsstaates gleichzustellen seien, die wegen Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls nicht ausgewiesen werden dürfen. Vgl. dazu Sondervotum Richter de Meyer, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (35); Sondervotum Richter Martens, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (37); Sondervotum Richter Morenilla, in: EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (31); Sondervotum Richter Martens, in: EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (613 ff.); Sondervotum Richter Baka, in: EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (612). Auch die Kommission schien in diese Richtung zu tendieren, begründete sie doch die Verletzung von Art. 8 EMRK in den Rechtssachen Djeroud und Lamguindaz damit, daß der rechtliche Status als Ausländer nicht die Lebenswirklichkeit eines Einwanderers der zweiten Generation wiedergebe, vgl. EKMR, Bericht vom 15.03.1990, Djeroud ./. Frankreich, Serie A 191-B, 35 (Ziff. 64); Bericht vom 13.10.1992, Lamguindaz ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16152/90 (Ziff. 45). 150 EGMR, Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 33); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 31); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 40); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 47).

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dungen an das Herkunftsland.151 Zu berücksichtigen ist auch, ob ein Ausländer neben der Sprache des jeweiligen Konventionsstaats zumindest rudimentär die Sprache seiner Eltern beherrscht,152 nach wie vor über Kontakte zu im Herkunftsland der Eltern lebenden Verwandten verfügt,153 dort gelegentlich seinen Urlaub verbringt154 oder seinen Militärdienst abgeleistet hat.155 Für bestehende Bindungen an das Herkunftsland und gegen eine vollständige Integration in die Gesellschaft des Aufenthaltsstaates kann ferner sprechen, wenn sich der Beschwerdeführer trotz seines langen Aufenthalts für eine aus dem Herkunftsland stammende Ehefrau entscheidet und diese nachziehen läßt, statt im Aufenthaltsstaat zu heiraten.156 Ebenso wird zu Lasten des Beschwerdeführers berücksichtigt, wenn er nicht die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Konventionsstaates erwirbt, obwohl er die dazu erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen erfüllt.157 Steht nach Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls fest, daß die Bindungen eines Ausländers zum Herkunftsland der Eltern über das rein rechtliche Band der Staatsangehörigkeit hinausreichen, ist eine Ausweisung vielfach angemessen.158 Besitzt ein fest integrierter Ausländer über seine Staatsangehörigkeit hinaus keinerlei Bindungen an sein Herkunftsland, führt dies vielfach zur Unangemes151 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 43); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 34); Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99 (Ziff. 44). 152 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 44); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 34); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 40); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 65); EGMR, Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 80). 153 Vgl. EGMR, Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 50); EGMR, Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 80). 154 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 40); Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 64); EGMR, Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 80). 155 Vgl. EGMR, Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48). 156 Vgl. EGMR, Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 34); Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 62). 157 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593 (Ziff. 44); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 33); Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 40); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI. 2254 (Ziff. 44); Entsch. vom 23.03.1999, Sahintürk ./. Österreich, Nr. 33449/96; Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 48); Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 64). 158 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, RJD 1996-II, 593; Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915; Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47; Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980; Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI. 2254; Entsch. vom 23.03.1999, Sahintürk ./. Österreich, Nr. 33449/96; Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999VIII, 169; Urt. vom 05.07.2005, Üner ./. Niederlande, Nr. 46410/99; Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

senheit einer Ausweisung. Auch hier ist jedoch eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. In der Sache Moustaquim nahm der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die Ausweisung eines seit dem zweiten Lebensjahr in Frankreich lebenden Marokkaners an, der allein bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres der Begehung von insgesamt 147 Delikten, darunter schwerer Diebstahl und Raub, beschuldigt worden war. Da er den Großteil seiner Straftaten als Jugendlicher begangen hatte, wurde jedoch nur ein kleiner Teil der ihm zur Last gelegten Straftaten tatsächlich angeklagt. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von etwas mehr als zwei Jahren wegen insgesamt 22 dieser Delikte erachtete der Gerichtshof nicht als hinreichend, um eine Ausweisung zu rechtfertigen, zumal die Delikte zum Zeitpunkt der Ausweisung bereits drei Jahren zurücklagen und der Beschwerdeführer inzwischen nicht wieder straffällig geworden war.159 Auch in der Sache Beldjoudi gelangte der Gerichtshof zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl der Beschwerdeführer, ein 1950 in Frankreich geborener Algerier, wegen zahlreicher Eigentumsdelikte zu insgesamt mehr als sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Zwar seien die Delikte als schwerwiegender einzustufen, zu berücksichtigen sei jedoch auch, daß der französischen Ehefrau des Beschwerdeführers ein Leben in Algerien kaum zumutbar sei.160 Die Unangemessenheit der Ausweisung in der Sache Nasri – der Beschwerdeführer war mehrfach wegen Eigentumsdelikten und wegen Vergewaltigung verurteilt worden – begründete der Gerichtshof maßgeblich mit der besonderen Abhängigkeit des taub-stummen Beschwerdeführers von seiner ebenfalls in Frankreich lebenden Familie.161 In der Sache Mehemi sah er in der Ausweisung eines 1962 in Lyon geborenen Algeriers, der 1991 wegen Einfuhr und Besitz von 142 kg Haschisch zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden war, eine Verletzung von Art. 8 EMRK, obwohl es sich bei der begangen Straftat um ein schweres Delikt handele. Allerdings würde eine Fortführung des Familienlebens im Ausland insbesondere für die 1982, 1983 und 1984 in Frankreich geborenen Kinder des Beschwerdeführers eine radikale Umstellung bedeuten.162 Auch in der Sache Ezzouhdi gelangte der Gerichtshof zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK. Der Beschwerdeführer war mehrfach wegen Beleidigungsdelikten, Hausfriedensbruch und Verstößen gegen das Betäubungsmittelrecht zu geringen Freiheits- bzw. Geldstrafen verurteilt worden. Besonderes Gewicht maß der Gerichtshof dem Umstand bei, daß die ihm zur Last gelegten Betäubungsmitteldelikte lediglich den Konsum bzw. den dem Eigenbedarf dienenden Besitz von Betäubungsmitteln betrafen.163 Dagegen hielt der Gerichtshof in der Sache Coretti die Ausweisung eines 1967 in Deutschland geborenen und dort aufgewachsenen Italieners für angemessen, der bereits in der Vergangenheit wiederholt straffällig geworden und 1997 we159 160 161 162 163

EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 44 ff.). EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 77 ff.). EGMR, Urt. vom 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Serie A 320-B (Ziff. 41 ff.). EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959 (Ziff. 36 f.). EGMR, Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 34 ff.).

E. Die Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK

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gen Handels mit Betäubungsmitteln zu einer fast vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Der Gerichtshof stützte sich hier maßgeblich auf die Schwere des Delikts und verwies außerdem darauf, daß dem Beschwerdeführer für den Fall einer erneuten Straffälligkeit bereits zweimal eine Ausweisung angedroht worden war.164 Die Sache Benhebba betraf einen im frühen Kindesalter nach Frankreich emigrierten Algerier, dessen Eltern und Geschwister in Frankreich lebten und der dort seine gesamte Schul- und Berufsausbildung erhalten hatte. Der mehrfach wegen Einbruchsdiebstahls und Diebstahls mit Waffen vorbestrafte Beschwerdeführer wurde 1996 wegen Drogenbesitzes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt und für zehn Jahre des Landes verwiesen. Der Gerichtshof hielt diese Maßnahme angesichts der Schwere des Betäubungsmitteldelikts und der Befristung des Aufenthaltsverbots für angemessen.165 Demgegenüber sah er in der Sache Mokrani eine Verletzung, obwohl der in Frankreich geborene und bereits wegen Diebstahls vorbestrafte Beschwerdeführer wegen Mitgliedschaft in einer am Handel mit Betäubungsmitteln beteiligten Bande zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war. Den für die Unangemessenheit maßgeblichen Umstand erblickte der Gerichtshof darin, daß eine Verlegung des Lebensmittelpunkts nach Algerien für die französische Ehefrau des Beschwerdeführers unzumutbar sei.166 In der Sache Aoulmi erklärte der Gerichtshof die Ausweisung eines 1956 in Algerien geborenen und im Alter von vier Jahren in Frankreich eingewanderten Algeriers für vereinbar mit Art. 8 EMRK, da der bereits mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer zu Freiheitsstrafen von vier bzw. sechs Jahren wegen Drogendelikten verurteilt worden war. Auch hier ließ sich der Gerichtshof maßgeblich von der Schwere des Delikts leiten. Die Ehe des Beschwerdeführers war zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Ausweisungsverfügung geschieden.167 In der Sache Maslov gelangte er wiederum zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK, da die durch den Beschwerdeführer begangenen Straftaten als typische Fälle von Jugendkriminalität einzustufen seien.168 Auch in der jüngst entschiedenen Rechtssache Emre stellte der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention fest. Der zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Ausweisung 23 Jahre alte türkische Beschwerdeführer hatte seit seinem 17. Lebensjahr mehrfach Straftaten, darunter schwere körperliche Gewalt, Raub und Vergehen gegen das Waffengesetz, begangen und war dafür zu insgesamt dreizehneinhalb Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Gerichtshof maß den Delikten insbesondere aufgrund des Strafmaßes nur eine relative Schwere zu, die angesichts der schwachen Bindungen des Beschwerdeführers an die Türkei eine ohne Befristung ausgesprochene Ausweisung nicht tragen könne.169 164

EGMR, Entsch. vom 03.05.2001, Coretti ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 46689/99. EGMR, Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 34 ff.). 166 EGMR, Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 32 ff.). 167 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 85 ff.). 168 EGMR, Urt. vom 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 39); zur Entscheidung der Großen Kammer vgl. EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 77 ff.). 169 EGMR, Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 86). 165

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

F. Komplementäre Verpflichtungen F. Komplementäre Verpflichtungen

Hat sich die bisherige Untersuchung im wesentlichen auf die Frage beschränkt, ob und unter welchen Umständen das durch Art. 8 EMRK gewährte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einem Ausländer einen Anspruch auf Aufenthalt vermittelt, sollen im folgenden einige ergänzende Aspekte behandelt werden, die bei der Würdigung aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen gegenüber Ausländern im Lichte von Art. 8 EMRK ebenfalls zu berücksichtigen sind.

I. Komplementäre Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK Die Straßburger Rechtsprechung hat aus Art. 8 EMRK einige Verpflichtungen der Konventionsstaaten abgeleitet, die der praktischen Wirksamkeit des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens dienen sollen. Aufgrund der in gewisser Hinsicht unselbständigen Funktion dieser Verpflichtungen soll hier im folgenden von komplementären Verpflichtungen gesprochen werden. Dazu zählen insbesondere verfahrensrechtliche Verpflichtungen, nach denen die Konventionsstaaten Vorkehrungen zu treffen haben, um eine Verletzung der geschützten Rechtsgüter bereits im Vorfeld zu verhindern oder bei einer schon erfolgten Verletzung die Beeinträchtigung zu beenden und die Folgen einer Verletzung rückgängig zumachen.1 Darüber hinaus hat der Gerichtshof in einigen jüngeren Urteilen aus Art. 8 EMRK gewisse Mindeststandards für Art und Umfang eines aus Art. 8 EMRK folgenden Aufenthaltsrechts entwickelt. Tragender Gedanke ist stets die Effektivität des durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Grundrechtsschutzes.2 Die Rechtsprechung stützt sich teils ausdrücklich auf dieses Auslegungsargument.3 In dogmatischer Hinsicht versteht die Rechtsprechung die aus Art. 8 EMRK folgenden komplementären Verpflichtungen als sogenannte positive Verpflichtungen der Konventionsstaaten, nimmt aber dessen ungeachtet regelmäßig eine Prüfung anhand des Eingriffsschemas vor.4 Dies wird wohl in dem Sinne zu verstehen sein, daß sich die Art des Prüfungsprogramms nicht nach der berührten komplementären Verpflichtung selbst, sondern nach der in der Hauptsache betroffenen Funktion von Art. 8 EMRK richtet. 1 Brötel, RabelsZ 1999, 580 (593 f.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 6. 2 Zur sog. effektivitätssichernden Auslegung vgl. ausführlich Ost, in: Delmas-Marty, European Convention, S. 294; Ovey / White, European Convention, S. 47 f.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 19. 3 Vgl. zu verfahrensrechtlichen Verpflichtungen gemäß Art. 8 EMRK exemplarisch EGMR, Urt. vom 08.07.1987, H. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 120-B (Ziff. 90); Urt. vom 08.07.1987, W. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-A (Ziff. 65); Urt. vom 08.07.1987, B. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-B (Ziff. 61, 63); EKMR, Bericht vom 15.03.1990, Nyberg ./. Schweden, Serie A 181-B, 42 (Ziff. 104); EGMR, Urt. vom 26.05.1994, Keegan ./. Irland, Serie A 290 (Ziff. 49 ff.); im übrigen siehe sogleich. 4 So auch Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 19 Rn. 6.

F. Komplementäre Verpflichtungen

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1. Verfahrensrechtliche Verpflichtungen Für die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten ist die Anerkennung verfahrensrechtlicher Garantien aus Art. 8 EMRK von besonderer Bedeutung, da sich Art. 6 EMRK allein auf Strafverfahren und Entscheidungen in Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche bezieht und damit nach übereinstimmender Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof nicht auf aufenthaltsrechtliche Verfahren anwendbar ist.5 Auch von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls, der ausweislich seiner Entstehungsgeschichte gerade als Reaktion auf den insoweit begrenzten Schutzbereich von Art. 6 EMRK entstanden ist, wird vielfach keine Abhilfe zu erwarten sein, da er sich auf einige wenige verfahrensrechtliche Mindeststandards bei der Ausweisung von Ausländern beschränkt.6 Im übrigen wurde das 7. Zusatzprotokoll durch die Bundesrepublik bislang nicht ratifiziert.

a) Vorkehrungen zur Vermeidung einer Konventionsverletzung Die von der Rechtsprechung bislang aus Art. 8 EMRK entwickelten verfahrensrechtlichen Garantien beziehen sich schwerpunktmäßig auf familienrechtliche Fälle, etwa Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten oder Adoptionsverfahren.7 In diesem Zusammenhang hat die Rechtsprechung anerkannt, daß Art. 8 EMRK im einzelnen ein Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer,8 auf Ergreifung aller erforderlichen Vollstreckungsmaßnahmen9 und auf eine zur Wahrung ihrer Interessen hinreichende Beteiligung der Betroffenen an einem Verfahren10 gewährt. Zu nennen sind hier insbesondere ein Recht auf Anhörung,11 auf Einsicht in die in einen Prozeß eingeführten Akten,12 auf Kenntnis des vorliegenden Beweis5

EKMR, Entsch. vom 17.12.1976, Agee ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 164 (175 f.); Entsch. vom 03.05.1993, Zikic ./. Österreich, Nr. 14620/89; EGMR, Urt. vom 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, RJD 2000-X, 273 (Ziff. 40); vgl. dazu Zander, InfAuslR 2001, 109 ff. 6 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen oben unter A. V. 7 Ein Überblick zur Rechtsprechung findet sich bei Brötel, Achtung des Familienlebens, S. 139 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 51; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 396 ff.; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 8 Rn. 29, 43a. 8 Vgl. EGMR, Urt. vom 08.07.1987, H. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 120-B (Ziff. 89); Urt. vom 08.07.1987, W. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-A (Ziff. 65); Urt. vom 09.05.2003, Covezzi und Morselli ./. Italien, Nr. 52763/99 (Ziff. 137 f.). 9 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.2003, Sylvester ./. Österreich, Nr. 36812/97, 40104/98 (Ziff. 59). 10 Vgl. EGMR, Urt. vom 08.07.1987, W. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-A (Ziff. 64); Urt. vom 08.07.1987, B. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-B (Ziff. 65); Urt. vom 13.07.2000, Elsholz ./. Bundesrepublik Deutschland, RJD 2000-VIII, 345 (Ziff. 52); Urt. vom 09.05.2003, Covezzi und Morselli ./. Italien, Nr. 52763/99 (Ziff. 137 f.). 11 Vgl. EGMR, Urt. vom 08.07.1987, W. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-A (Ziff. 63 f.); Urt. vom 26.05.1994, Keegan ./. Irland, Serie A 290 (Ziff. 55). 12 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.02.1995, McMichael ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 307-B (Ziff. 92).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

materials13 und auf Stellungnahme zu diesem.14 Maßgeblich ließ sich die Rechtsprechung dabei von dem Gedanken leiten, daß Entscheidungen in familienrechtlichen Verfahren oftmals irreversible Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern haben und eine effektive Achtung des Familienlebens daher schon während des Entscheidungsprozesses verfahrensrechtliche Standards zur Berücksichtigung der einzelnen Interessen verlangt.15 Davon ausgehend ist anzunehmen, daß die in familienrechtlichen Streitigkeiten im einzelnen anerkannten verfahrensrechtlichen Garantien sinngemäß auf aufenthaltsrechtliche Verfahren übertragbar sind, da auch hier eine mitunter dauerhafte Trennung der Familienmitglieder droht und familiäre Beziehungen allein durch die Dauer einer Trennung bis zu einer endgültigen Entscheidung des Gerichtshofs erheblichen, nicht in vollem Umfang zu beseitigenden Schaden nehmen können. Die Kommission hat insofern bislang anerkannt, daß eine überlange Verfahrensdauer bei der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zum Zweck der Familienzusammenführung einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK darstellen kann.16 Auch muß das Verfahren so ausgestaltet sein, daß die Betroffenen eine faire Möglichkeit haben, ihr Anliegen darzulegen und etwa den Nachweis der Verwandtschaft zu einem im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates lebenden Angehörigen zu erbringen.17 Der Gerichtshof hat außerdem unter Berufung auf einen aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Grundsatz des fairen Verfahrens18 eine Verletzung des Rechts auf Achtung 13

Vgl. EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Scozzari und Giunta ./. Italien, RJD 2000-VIII, 401 (Ziff. 208). 14 Vgl. EGMR, Urt. vom 10.05.2001, T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-V, 119 (Ziff. 82); Urt. vom 20.12.2001, Buchberger ./. Österreich, Nr. 32899/96 (Ziff. 43 f.). 15 Vgl. etwa EGMR, Urt. vom 08.07.1987, W. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 121-A (Ziff. 65): „As the Commission has rightly pointed out, in cases of this kind there is always the danger that any procedural delay will result in the de facto determination of the issue submitted to the court before it has held its hearing. And an effective respect for family life requires that future relations between parent and child be determined solely in the light of all relevant considerations and not by the mere effluxion of time.“; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 22 Rn. 51; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 397. 16 Vgl. EKMR, Entsch. vom 16.10.1995, Askar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 26373/95; offenlassend noch EKMR, Entsch. vom 09.03.1977, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 9, 42 (43). 17 Vgl. EKMR, Entsch. vom 14.05.1980, Kamal ./. Vereinigtes Königreich, DR 20, 168 (172 f.); Entsch. vom 01.07.1992, H. M. und J. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19153/91; Entsch. 01.07.1992, M. und M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19153/91; Entsch. vom 14.10. 1992, Ullah ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17712/91; Entsch. vom 08.01.1993, T. A. und H. N. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19577/92; Entsch. vom 31.03.1993, Miah ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19546/92; Entsch. vom 31.03.1993, K. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 20516/92; Entsch. vom 09.04.1997, Afzal ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28853/95; Entsch. vom 10.07.1998, Momique-Pola ./. Schweden, Nr. 36287/97. 18 Vgl. EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 66): „In determining whether an interference was ‚necessary in a democratic society‘, the Court will take into account that a margin of appreciation is left to the Contracting States. It recalls in this

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des Familienlebens angenommen, wenn das aufenthaltsrechtliche Verfahren nicht hinreichend mit einem parallel geführten Umgangsrechtsstreit abgestimmt war. Im konkreten Fall, der Rechtssache Ciliz, hatten die mit der Ausweisung des Beschwerdeführers befaßten Behörden und Gerichte nicht berücksichtigt, daß noch nicht endgültig über ein dem Beschwerdeführer zustehendes Umgangsrecht mit seinem Sohn entschieden worden war und durch seine vorzeitige Abschiebung den Ausgang des Umgangsrechtsstreits beeinflußt. Der Beschwerdeführer war fortan an einer persönlichen Teilnahme am Gerichtsverfahren gehindert und konnte auch die Beziehung zu seinem Sohn nicht weiterentwickeln. Letztinstanzlich wurde die Anordnung einer Umgangsregelung abgelehnt, da der Beschwerdeführer aufgrund seiner Abschiebung seit zweieinhalb Jahren keinen Kontakt zu seinem Sohn hatte und seine Rückkehr in die Niederlande auch künftig ungewiß schien.19 In der Konsequenz dieses Urteils wird eine Abschiebung regelmäßig erst dann zulässig sein, wenn eine durch den abzuschiebenden Ausländer geführte Sorge- oder Umgangsrechtsstreitigkeit abgeschlossen ist. Die Erteilung eines kurzfristigen Visums, das allein die Teilnahme an einem Prozeß ermöglicht, kann hier allenfalls dann genügen, wenn das familienrechtliche Verfahren in absehbarer Zeit seinen Abschluß findet. Andernfalls wird die Dauer der Trennung das Verhältnis des abgeschobenen Elternteils zu seinem Kind irreversibel schädigen.

b) Anspruch auf Folgenbeseitigung Art. 8 EMRK beinhaltet darüber hinaus die Verpflichtung der Konventionsstaaten, die Folgen einer bereits eingetretenen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu beseitigen. Für eine gegen Art. 8 EMRK verstoßene Ausweisung bedeutet dies, daß die Konventionsstaaten die Wiedereinreise des ausgewiesenen Ausländern ohne nennenswerte Verzögerung zu ermöglichen haben. In diesem Sinne entschied der Gerichtshof in der Rechtssache Mehemi, die einen respect that the Convention does not in principle prohibit Contracting States from regulating the entry and length of stay of aliens […]. Nevertheless, the Court also reiterates that, whilst Article 8 contains no explicit procedural requirements, the decision-making process leading to measures of interference must be fair and such as to afford due respect to the interests safeguarded by Article 8 […].“ 19 Vgl. EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 (Ziff. 71): „In the view of the Court, the authorities not only prejudged the outcome of the proceedings relating to the question of access by expelling the applicant when they did, but, and more importantly, they denied the applicant all possibility of any meaningful further involvement in those proceedings for which his availability for trial meetings in particular was obviously of essential importance. It can, moreover, hardly be in doubt that when the applicant eventually obtained a visa to return to the Netherlands for three months in 1999, the mere passage of time had resulted in a de facto determination of the proceedings for access which he then instituted […]. The authorities, through their failure to coordinate the various proceedings touching on the applicant’s family rights, have not, therefore, acted in a manner which has enabled family ties to be developed […].“

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

in Frankreich geborenen Algerier betraf, der wegen Handels mit Betäubungsmitteln verurteilt, ausgewiesen und abgeschoben worden war. Der Gerichtshof hatte bereits in einem vorausgegangen, gegen die Aufenthaltsbeendigung gerichteten Verfahren eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt.20 Mit seiner zweiten Beschwerde richtete sich der Beschwerdeführer unter anderem gegen Verzögerungen bei der Wiedereinreise. Der Gerichtshof entnahm Art. 8 EMRK eine positive Verpflichtung, die Zusammenführung des Beschwerdeführers mit seiner Familie ohne zeitliche Verzögerung zu ermöglichen. Die Position des Beschwerdeführers könne insofern nicht mit der eines gewöhnlichen Familiennachzugs verglichen werden.21 Im Ergebnis hielt der Gerichtshof den Zeitraum von rund dreieinhalb Monaten zwischen Urteil und Ermöglichung der Wiedereinreise nicht für derart exzessiv, daß er eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstelle. Der von der französischen Regierung eingebrachte Hinweis auf mit der Durchführung eines Verwaltungsverfahrens gewöhnlich verbundene Verzögerungen sei jedoch für die Beurteilung der Angemessenheit der Wartezeit allenfalls von untergeordneter Bedeutung.22 Nur auf den ersten Blick scheint dieses Urteil im Widerspruch zum Rechtsschutzsystem der Konvention zu stehen, wonach die Konventionsstaaten zwar gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK an die Urteile des Gerichtshofs gebunden sind, die Einhaltung dieser Verpflichtung jedoch nach Art. 46 Abs. 2 EMRK nicht durch den Gerichtshof selbst, sondern durch das Ministerkomitee des Europarates überwacht wird. Zutreffend wies der Gerichtshof insofern darauf hin, daß er nicht gehindert sei, über eine erneute Beschwerde zu entscheiden, die sich auf die in einem vorausgegangen Urteil nicht streitgegenständlichen nachfolgenden Umstände beziehe.23

20

Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1959. EGMR, Urt. vom 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), RJD 2003-IV, 291 (Ziff. 47): „Accordingly the national authorities were under a duty to facilitate the applicant’s return to France to be with his family. The Court must therefore determine whether they quickly took all the necessary steps which they ought reasonably to have taken in the circumstances. Thus the applicant’s situation cannot be regarded as comparable with that of any other Algerian national seeking a residence permit.“ 22 EGMR, Urt. vom 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), RJD 2003-IV, 291 (Ziff. 49). 23 EGMR, Urt. vom 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), RJD 2003-IV, 291 (Ziff. 43): „The Court observes that under Article 46 of the Convention the Contracting Parties undertake to abide by the final judgments of the Court in any case to which they are parties, execution being supervised by the Committee of Ministers. It follows, inter alia, that a judgment in which the Court finds a breach of the Convention or the Protocols thereto imposes on the respondent State a legal obligation not just to pay those concerned the sums awarded by way of just satisfaction, but also to choose, subject to supervision by the Committee of Ministers, the general and / or, if appropriate, individual measures to be adopted in its domestic legal order to put an end to the violation found by the Court and to redress so far as possible the effects […]. The Court does not have jurisdiction to verify whether a Contracting Party has complied with the obligations imposed on it by one of the Court’s judgments […]. However, there is nothing to prevent the Court from examining a subsequent application raising a new issue undecided by the judgment […].“ 21

F. Komplementäre Verpflichtungen

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2. Neuere Entwicklungstendenzen Über die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen im engeren Sinne hinaus lassen sich einigen jüngeren Urteilen des Gerichtshofs zudem Ansätze zur Entwicklung weiterer komplementärer Verpflichtungen entnehmen, die für Art und Umfang eines wegen Art. 8 EMRK zu gewährenden Aufenthaltsrechts von Bedeutung sind. Jedenfalls bislang galt, daß Art. 8 EMRK zwar einen Anspruch auf Aufenthalt gewähren kann, nicht aber einen Anspruch auf einen bestimmten Aufenthaltstitel.24 Letztlich folgt dies als Konsequenz daraus, daß Art. 8 EMRK nur insoweit aufenthaltsschützende Wirkung entfaltet, wie dies zur Verwirklichung des Privat- und Familienlebens erforderlich ist. Regelmäßig genügt hier der Aufenthalt als solcher, um die Familieneinheit bzw. die sonstigen sozialen Beziehungen eines Ausländers nicht zu beeinträchtigen. Die Rechtsprechung lehnte daher vielfach einen Eingriff in Art. 8 EMRK ab, wenn eine verfügte Ausweisung tatsächlich nicht vollstreckt wurde, der Ausländer also im Konventionsstaat verbleiben konnte.25 Diesen Grundsatz scheint der Gerichtshof nun zumindest unter bestimmten Umständen modifizieren zu wollen. Angesprochen sind die Rechtssachen Sisojeva, Shevanova, Kaftailova und Aristimuño Mendizabal.26

a) Die Rechtssache Sisojeva Ausgangspunkt ist die Rechtssache Sisojeva, in der das Verfahren allerdings inzwischen wie auch in den Rechtssachen Shevanova und Kaftailova durch die in zweiter Instanz angerufene Große Kammer eingestellt wurde.27 Der Fall betraf die Situation der russischsprachigen Minderheit in Lettland. Bei den Beschwerdeführern handelte es sich um einen ehemaligen Angehörigen des sowjetischen Armee, der von 1968 bis November 1989, also kurz vor der Demobilisierung der sowjetischen Truppen, in Lettland stationiert war, seine ihm 1969 nachgereiste Ehefrau und ihre 1978 in Lettland geborene, gemeinsame Tochter. Die Beschwerde einer weiteren Tochter hatte der Gerichtshof als unzulässig zurückgewiesen, da sie aufgrund ihrer Ehe mit einem lettischen Staatsangehörigen inzwischen eine Aufenthaltsgenehmigung als Familienangehörige erhalten hatte.28 Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der 1991 erfolgten Unabhängigkeit Lettlands wurden die Beschwerdeführer, die bislang die sowjetische Staatsbürgerschaft besaßen, staatenlos. Die ersten beiden Beschwerdeführer bemühten sich zunächst erfolgreich um eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und die Eintragung in das lettische Ein24

EGMR, Urt. vom 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), RJD 2003-IV, 291 (Ziff. 55) Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen oben unter D. II. 1. b). 26 Vgl. dazu auch Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (43); Thym, EuGRZ 2006, 541 ff.; ders., InfAuslR 2007, 133 ff. 27 EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00. Zu den Urteilen der Großen Kammer in den genannten Rechtssachen siehe sogleich unter d). 28 EGMR, Entsch. vom 28.02.2002, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00. 25

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

wohnerregister. 1995 entdeckten die lettischen Behörden, daß die Beschwerdeführer parallel auch einen (Schein-)Wohnsitz in Rußland begründet hatten, aufgrund dessen Vater und Tochter später die russische Staatsbürgerschaft erlangten. Die Behörden verhängten daraufhin wegen Verstoßes gegen paßrechtliche Bestimmungen ein Bußgeld und verfügten außerdem – in einer letztinstanzlich durch den Obersten Gerichtshof Lettlands bestätigten Auslegung des russisch-lettischen Übereinkommens zum sozialen Schutz der im Ruhestand befindlichen Angehörigen des russischen Militärs und ihrer auf lettischem Territorium lebenden Familien sowie des lettischen Ausländergesetzes – die Löschung der Beschwerdeführer aus dem Einwohnerregister. Seit dem lebten die Beschwerdeführer ohne Aufenthaltstitel in Lettland. Mit zwei Schreiben aus dem Jahr 2002 forderten die Behörden die Beschwerdeführer auf, das lettische Hoheitsgebiet unverzüglich zu verlassen. Im November 2003 erreichte die Beschwerdeführer ein weiteres Schreiben, in dem die Behörden darauf hinwiesen, daß man bislang aus Gründen der Verhältnismäßigkeit von der Einleitung eines Abschiebungsverfahrens abgesehen habe. Zugleich boten die Behörden an, den Aufenthalt der Beschwerdeführer durch die Erteilung zunächst befristeter Aufenthaltstitel zu legalisieren. Die Beschwerdeführer schlugen dieses Angebot aus, wohl auch mit Blick auf ihre bereits im August 2000 eingelegte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und das im Oktober 2003 ergangene Urteil des Gerichtshofs in der Sache Slivenko, in dem bei einem ähnlich gelagerten Sachverhalt eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt worden war.29 Das Urteil der erstinstanzlich zur Entscheidung berufenen Kammer weist gegenüber der bisherigen Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs einige Besonderheiten auf. So wies die Kammer die Beschwerde nicht als unzulässig zurück, obwohl spätestens mit dem Angebot der lettischen Behörden, den Aufenthalt der Beschwerdeführer zu legalisieren, nicht mehr mit einer Vollstreckung der Ausweisung zu rechnen war. Die Kammer setzte sich hier mit einer doppelten Begründung über den Einwand der lettischen Regierung, die Beschwerdeführer könnten nicht länger behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, hinweg. Zum einen entspreche das den Beschwerdeführen angebotene Verfahren nicht dem ursprünglichen Begehren auf Erteilung eines dauerhaften Aufenthaltstitels und auf Eintragung in das Einwohnerregister. Zum anderen hätten sie wegen ihres illegalen Aufenthalts in jahrelanger Unsicherheit leben müssen. Diese Beeinträchtigung könne auch durch das nunmehr vorliegende Angebot der lettischen Regierung nicht nachträglich beseitigt werden.30 Hinsichtlich der Begründetheit der Beschwerde gelangte die Kammer im Ergebnis zu einer Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK (der Schutzbereich des Familienlebens war nicht berührt, da die Beziehung der Beschwerdeführer zur zweiten, nicht ausgewiesenen Tochter wegen deren Volljährigkeit nicht als Familienleben 29 30

Vgl. EGMR, Urt. vom 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, RJD 2003-X, 229. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 54).

F. Komplementäre Verpflichtungen

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angesehen werden konnte und die Beschwerdeführer im übrigen gemeinsam ausgewiesen wurden, eine Trennung der Familie also nicht zu befürchten war31), obwohl ein Eingriff wegen der unterbliebenen Vollstreckung der Ausreisepflicht im Grundsatz nicht vorlag. Allerdings ergäben sich aus Art. 8 EMRK bei einer am Grundsatz der Effektivität des Grundrechtsschutzes orientierten Auslegung auch positive Verpflichtungen. Daran gemessen sei es nicht hinreichend, bloß von einer Vollstreckung der Ausweisung abzusehen. Vielmehr müßten die Konventionsstaaten, erforderlichenfalls durch positive Maßnahmen, eine von Beeinträchtigungen freie Verwirklichung der durch Art. 8 EMRK gewährten Rechte ermöglichen: „The Court further notes that no formal deportation order has been issued in respect of the applicants. It reiterates, however, that Article 8, like any other provision of the Convention or the Protocols thereto, must be interpreted in such a way that it guarantees not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective […]. Furthermore, while the chief object of Article 8, which deals with the right to respect for one’s private and family life, is to protect the individual against arbitrary interference by the public authorities, it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this negative undertaking, there may be positive obligations inherent in effective respect for private or family life […]. In other words, it is not enough for the host State to refrain from deporting the person concerned; it must also, by means of positive measures if necessary, afford him or her the opportunity to exercise the rights in question without interference.“32

Dieser Verpflichtung sei Lettland im vorliegenden Fall nicht nachgekommen, da die Beschwerdeführer jahrelang ohne gültigen Aufenthaltstitel leben mußten. Die Weigerung der lettischen Behörden, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu gewähren, stelle einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar, der einer Rechtfertigung nach Abs. 2 bedürfe.33 Nach einer umfassenden Angemessenheitsprüfung, in der sich die Kammer insbesondere auf die lange Dauer des Aufenthalts in Lettland stützte, gelangte sie schließlich zur Unverhältnismäßigkeit.34 Eine Zusammenschau der Entscheidungsgründe zur Zulässigkeit und zur Begründetheit der Beschwerde ergibt, daß die Kammer nicht in der Ausweisung selbst, sondern in dem anschließend ungeklärten aufenthaltsrechtlichen Status der 31

Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 103). EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 104). 33 EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 105): „Consequently, the Court considers that the prolonged refusal of the Latvian authorities to grant the applicants the right to reside in Latvia on a permanent basis constitutes an interference with the exercise of their right to respect for their private life. It remains to be considered whether that interference was compatible with the second paragraph of Article 8 of the Convention, that is, whether it was ‚in accordance with the law‘, pursued one or more of the legitimate aims listed in that paragraph and was ‚necessary in a democratic society‘ in order to achieve them.“ Daß die Kammer hier trotz der betroffenen positiven Verpflichtung am Eingriffsschema festhält, deutet – wie eingangs vermutet – daraufhin, daß sich das Prüfungsschema bei komplementären Verpflichtungen an der Hauptsache orientiert. 34 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 106– 111). 32

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Beschwerdeführer den entscheidenden Umstand für eine Verletzung von Art. 8 EMRK erblickte. Damit wird zunächst die bisherige Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof bestätigt, nach der eine nichtvollstreckte Ausreisepflicht keinen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellen kann, weil die Familieneinheit der Betroffenen bzw. die sonstigen sozialen Beziehungen in tatsächlicher Hinsicht nicht beeinträchtigt werden. Neuland betritt die Kammer dagegen mit der aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Verpflichtung, den Aufenthalt eines Ausländers, der wegen eines aus Art. 8 EMRK folgenden Anspruchs auf Aufenthalt nicht ausgewiesen werden darf, nicht nur faktisch zu gestatten, sondern durch Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu legalisieren. Der Grundsatz, daß aus Art. 8 EMRK zwar ein Anspruch auf Aufenthalt, nicht aber auf einen bestimmten Aufenthaltstitel folgen kann, wird dadurch modifiziert. Dies deutete sich bereits in der Zulässigkeitsentscheidung der Kammer an, in der die Beschwerde der zweiten Tochter als unzulässig abgewiesen wurde, weil sie inzwischen eine Aufenthaltsgenehmigung als Ehefrau eines lettischen Staatsangehörigen erhalten hatte. Hier wies die Kammer darauf hin, daß Art. 8 EMRK jedenfalls solange kein Recht auf einen bestimmten Aufenthaltstitel gewähre, wie der aufenthaltsrechtliche Status eines Ausländers eine ungestörte Ausübung seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erlaube.35 Diese Bedingung sah die Kammer bezüglich der zweiten Tochter erfüllt, hinsichtlich der übrigen Beschwerdeführer, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel in Lettland aufhielten und eine Vollstreckung der Ausreisepflicht fürchten mußten, dagegen nicht.

b) Die Rechtssachen Shevanova und Kaftailova In einer Linie mit dem erstinstanzlichen Urteil in der Rechtssache Sisojeva stehen zwei ebenfalls die Situation der russischsprachigen Minderheit in Lettland betreffende und rund ein Jahr später ergangene Kammerurteile. In der Sache Shevanova36 hatte sich die Beschwerdeführerin 1970 aus beruflichen Gründen in Lettland niedergelassen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Beschwerdeführerin zunächst staatenlos, war jedoch als dauerhaft ansässige Ausländerin in Lettland registriert und aufenthaltsberechtigt. Auf Drängen eines neuen Arbeitgebers, eines unter anderem in den russischen Kaukasusrepubliken tätigen 35 EGMR, Entsch. vom 28.02.2002, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00: „Au demeurant et pour autant que la troisième requérante se plaint du refus de la Direction de lui reconnaître le statut de ‚non-citoyen résident permanent‘, la Cour rappelle que la Convention ne prescrit pas aux Etats contractants une manière déterminée d’assurer dans leur droit interne l’application effective de cet instrument […]. Par conséquent, s’agissant de l’article 8 de la Convention, la Cour estime que cette disposition ne va pas jusqu’à garantir à l’intéressé le droit à un type particulier de titre de séjour, à condition que la solution proposée par les autorités lui permette d’exercer sans entrave ses droits au respect de la vie privée et familiale.“ 36 EGMR, Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00.

F. Komplementäre Verpflichtungen

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Brückenbauunternehmens, erwarb die Beschwerdeführerin unter Vorlage ihres alten sowjetischen Passes, der mittels eines gefälschten Eintrags ihre Löschung aus dem lettischen Melderegister bestätigte, die russische Staatsbürgerschaft. Die lettischen Behörden erlangten von diesem Vorgang Kenntnis und verfügten im April 1998 die Löschung aus dem Melderegister, die Ausweisung der Beschwerdeführerin und ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot. Im Februar 2001 wurde die Beschwerdeführerin in Abschiebehaft genommen. Nach einem Krankenhausaufenthalt setzten die Behörden die Vollstreckung der Ausweisung zunächst auf unbestimmte Zeit aus. Später war eine Abschiebung dann wegen einer gesetzlichen Vollstreckungsfrist dauerhaft ausgeschlossen. Die Sache Kaftailova37 betraf eine bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion sowjetische Staatsbürgerin georgischer Herkunft, die seit 1984 in Lettland lebte. Aus einer inzwischen wieder geschiedenen Ehe mit einem in Lettland beschäftigten Beamten des sowjetischen Innenministeriums stammte eine Tochter. 1993 widerriefen die lettischen Behörden die Eintragung der Beschwerdeführerin als dauerhaft ansässige Ausländerin im Einwohnerregister, da ihr Paß falsche Angaben enthielt. Im Januar 1995 erließen sie gegen die Beschwerdeführerin und ihre Tochter eine Ausweisungsverfügung, die jedoch nie vollstreckt wurde. Mit Ablauf einer gesetzlichen Vollstreckungsfrist war auch ihre Abschiebung später ausgeschlossen. In der Sache wiederholte der Gerichtshof seine zuvor im Kammerurteil in Sachen Sisojeva entwickelte Rechtsprechung, nach der Art. 8 EMRK nicht nur die Vollstreckung einer mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens unvereinbaren Ausweisung verbietet, sondern darüber hinaus positive Maßnahmen zu einer störungsfreien Verwirklichung der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte verlangt. Dieser Pflicht seien die lettischen Behörden durch die Verweigerung eines Aufenthaltstitels nicht hinreichend nachgekommen, so daß eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliege.38 Gegenüber dem Fall Sisojeva scheint sich zudem eine vorsichtige Erweiterung feststellen zu lassen. Hatten die Behörden dort bloß faktisch von einer Vollstreckung der Ausreisepflicht abgesehen, waren sie in den nun entschiedenen Fällen rechtlich wegen einer gesetzlichen Vollstreckungsfrist ab einem gewissen Zeitpunkt an einer Abschiebung gehindert. Die Beschwerdeführerinnen mußten daher mit Ablauf der Frist trotz ihres nach wie vor illegalen Aufenthalts nicht mit einer zwangsweisen Rückführung in ihr Herkunftsland rechnen.39 Gleichwohl wies der Gerichtshof die Beschwerden nicht wegen Wegfalls der Opfereigenschaft im Sinne von Art. 34 EMRK als unzulässig zurück: „Furthermore, in relation to Article 34, the Court has always held that, as a general rule, a decision or measure favourable to the applicant is not sufficient to deprive him of his status 37

EGMR, Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00. EGMR, Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 68 ff.); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 64 ff.). 39 EGMR, Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 69); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 50). 38

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as a ‚victim‘ unless the national authorities have acknowledged, either expressly or in substance, and then afforded redress for, the alleged breach of the Convention […]. Where the person concerned complains in particular of his or her deportation or illegal status within the country, the minimum steps required are firstly, the setting-aside of the deportation order and, secondly, the issuing or recognition of a residence permit […].“40

Dies wird man so verstehen können, daß aus Sicht der Kammer auch ein rechtlich gesicherter Abschiebungsschutz keine effektive Verwirklichung des Privatund Familienlebens ermöglicht. Dem Betroffenen soll vielmehr ein Aufenthaltstitel zugewähren sein, mit dem sein rechtmäßiger Aufenthalt förmlich anerkannt wird.

c) Die Rechtssache Aristimuño Mendizabal Noch weiter ging der Gerichtshof in einem kurz zuvor veröffentlichten, inzwischen rechtskräftigen Kammerurteil. Die Rechtssache Aristimuño Mendizabal41 betraf eine seit 1975 in Tarnos (Frankreich) lebende spanische Staatsangehörige, die mit einem später an die spanischen Behörden ausgelieferten ehemaligen Führungsmitglied der baskischen Terrororganisation ETA verheiratet war. Beide hatten eine gemeinsame Tochter, die die französische Staatsbürgerschaft besaß. Nach dem politischen Umbruch in Spanien wurde ihr 1979 der Status eines politischen Flüchtlings aberkannt. Von diesem Zeitpunkt an erhielt sie bis 1989 jeweils auf ein Jahr befristete Aufenthaltsgenehmigungen. Ihr dann auf Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung gerichteter Antrag aus dem Februar 1990 wurde nicht beschieden. Sie erhielt jedoch eine schriftliche Antragbestätigung, die sie für eine Dauer bis zu drei Monaten zum Aufenthalt in Frankreich berechtigte und die bis 1993 insgesamt fünfzehn Mal verlängert wurde. Die Beschwerdeführerin beantragte sodann eine fünfjährige Aufenthaltsgenehmigung als Wanderarbeitnehmerin nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft. Erneut erhielt sie jedoch lediglich eine schriftliche Antragsbestätigung, die sie zum Aufenthalt für weitere drei Monate und zur Aufnahme einer Beschäftigung berechtigte. Ihre gegen die Untätigkeit der französischen Behörden gerichteten Rechtsmittel blieben im Ergebnis erfolglos. Bis zum Dezember 2003 wurden der Beschwerdeführerin lediglich weitere Antragsbestätigungen zugestellt. Erst dann erhielt sie eine auf zehn Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung als freizügigkeitsberechtigte EG-Bürgerin. Der Fall unterscheidet sich von den soeben geschilderten Konstellationen dadurch, daß der Aufenthalt der Beschwerdeführerin während der gesamten Zeit niemals rechtswidrig war und auch eine Ausweisung zu keinem Zeitpunkt beab40

EGMR, Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 43 f.); nahezu wortgleich EGMR, Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 46 f.). 41 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99.

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sichtigt wurde. Der Sache nach sah sich die Beschwerdeführerin allein dadurch in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt, daß ihr ein bestimmter, nach französischem Recht bzw. nach Gemeinschaftsrecht zustehender Aufenthaltstitel vorenthalten worden war. Der Gerichtshof betonte daher zunächst, daß Art. 8 EMRK kein Recht auf einen bestimmten Aufenthaltstitel gewähre. Dies – und hier greift der Gerichtshof auf die oben dargestellten Gründe seiner Zulässigkeitsentscheidung in der Sache Sisojeva zurück – gelte aber nur, solange der aufenthaltsrechtliche Status eines Ausländers eine ungehinderte Verwirklichung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewähre: „Par ailleurs, l’article 8 de la Convention ne va pas jusqu’à garantir à l’intéressé le droit à un type particulier de titre de séjour (permanent, temporaire ou autre), à condition que la solution proposée par les autorités lui permette d’exercer sans entrave ses droits au respect de la vie privée et familiale […].“42

Im vorliegenden Fall hätten die französischen Behörden und Gerichte durch die Nichterteilung eines dauerhaften Aufenthaltstitels eine lang andauernde Situation der Ungewißheit und Unsicherheit geschaffen, die die Beschwerdeführerin materiell und psychologisch erheblich beeinträchtigt habe. Sie habe wegen des fehlenden dauerhaften Aufenthaltstitels nicht ihren erlernten Beruf ausüben können, habe unqualifizierte Beschäftigungen annehmen müssen und sei dadurch in soziale und finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die Nichterteilung der beantragten Aufenthaltsgenehmigung sei daher als Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu qualifizieren: „Ainsi qu’elle l’a relevé dans la décision sur la recevabilité, la Cour considère que la présente requête se distingue d’affaires telles que Maaouia c. France […] ou Mehemi c. France (no 2) […], en ce que la violation alléguée de l’article 8 provient, non pas de mesures d’éloignement ou d’expulsion, mais de la situation de précarité et d’incertitude que la requérante a connue pendant une longue période. La requérante expose en effet – et le Gouvernement ne l’a pas démentie sur ce point – que la précarité de son statut et l’incertitude sur son sort ont eu d’importantes conséquences pour elle sur le plan matériel et moral (emplois précaires et disqualifiés, difficultés sociales et financières, impossibilité faute d’un titre de séjour de louer un local et d’exercer l’activité professionnelle pour laquelle elle avait entrepris une formation). La Cour considère que, dans les circonstances de l’espèce, la non délivrance d’un titre de séjour à la requérante pendant une aussi longue période, alors qu’elle résidait déjà régulièrement en France depuis plus de quatorze ans, a incontestablement constitué une ingérence dans sa vie privée et familiale.“43

Im übrigen liege auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor, da die Vorenthaltung des der Beschwerdeführerin nach EG-Recht zustehenden Aufenthaltstitels sowohl mit französischem als auch mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar gewesen

42 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 66). 43 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 70–72).

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sei und damit keine gesetzliche Grundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gehabt habe.44

d) Beurteilung durch die Große Kammer Das so vorgezeichnete Bild einer Rechtsprechungsentwicklung hin zu gewissen Grundanforderungen an den aufenthaltsrechtlichen Status eines aus Art. 8 EMRK aufenthaltsberechtigten Ausländers wäre jedoch ohne eine Einbeziehung der in zweiter Instanz ergangenen Urteile der Großen Kammer unvollständig. Während das Kammerurteil in der Sache Aristimuño Mendizabal inzwischen rechtskräftig geworden ist, hatte die lettische Regierung in den sie betreffenden Verfahren die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen. In einem im Januar 2007 ergangenen Urteil wurde daraufhin zunächst das Verfahren in der Rechtssache Sisojeva eingestellt, so daß das erstinstanzliche Kammerurteil in einem prozessualen Sinne gegenstandslos geworden ist. Zur Begründung verwies die Große Kammer darauf, daß sie die geltend gemachte Beschwer wegen des Angebots der lettischen Behörden zur Legalisierung des Aufenthalts und der Säumnis der Beschwerdeführer, dieses Angebot anzunehmen, jedenfalls zum nunmehrigen Zeitpunkt für nicht mehr gegeben hielt. Den Ausführungen lassen sich zudem deutliche Zweifel am erstinstanzlichen Urteil insofern entnehmen, als dort trotz des Angebots der lettischen Behörden zur Legalisierung des Aufenthalts noch von einem Fortbestand der Beschwer ausgegangen worden war.45 In der Sache bestätigte die Große Kammer jedoch – jedenfalls negativ gewendet – den von der Kammer aufgestellten Grundsatz wonach der Gerichtshof den aufenthaltsrechtlichen Status eines Ausländers ungeachtet der Tatsache, daß sein Aufenthalt als solcher nicht in Frage steht, daraufhin überprüfen kann, ob er alles in allem eine ungestörte Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erlaubt: „Hence, as the Court has reaffirmed on several occasions, Article 8 cannot be construed as guaranteeing, as such, the right to a particular type of residence permit. Where the domestic legislation provides for several different types, the Court must analyse the legal and practical implications of issuing a particular permit. If it allows the holder to reside within the territory of the host country and to exercise freely there the right to respect for his or her private and family life, the granting of such a permit represents in principle a sufficient measure to meet the requirements of that provision. In such cases, the Court is not empowered to rule on whether the individual concerned should be granted one particular legal status rather than another, that choice being a matter for the domestic authorities alone […].“46

44 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 79). 45 Vgl. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 95 f., 102). 46 EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff.91).

F. Komplementäre Verpflichtungen

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Ob die faktische Duldung der Beschwerdeführer diesen Anforderungen genügte, mußte die Große Kammer letztendlich nicht mehr entscheiden. Sie betonte allerdings mit besonderem Nachdruck, daß ein Ausländer nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs dann keine Beeinträchtigung seiner Konventionsrechte behaupten könne, wenn die gegen ihn erlassene Ausweisungsverfügung nicht vollstreckbar, auf unbestimmte Zeit ausgesetzt oder auf sonstige Weise ihrer rechtlichen Wirkung verlustig gegangen sei.47 Auch wenn die Beschwerdeführer insofern eine lang andauernde Periode der Unsicherheit durchlebt hätten, bestünden vorliegend Zweifel an einer substanziellen Beeinträchtigung, da sie durch den Verstoß gegen paßrechtliche Bestimmungen selbst zu ihrer prekären Situation beigetragen hätten und ausweislich des in Rußland eingetragenen Wohnsitzes auf eine Ausreise eingestellt gewesen seien.48 Die Verfahren Shevanova und Kaftailova wurden inzwischen ebenfalls durch Urteile der Großen Kammer eingestellt. In ihrer Begründung verwies die Große Kammer mutatis mutandis darauf, daß die Beschwerdeführer zwar in Folge ihrer (nicht vollstreckten) Ausweisung eine lang andauernde Periode der Unsicherheit durchlebt hätten, jedoch durch das (bislang nicht angenommene) Angebot der lettischen Behörden zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in hinreichendem Maße Genugtuung widerfahren hätten und mithin nicht länger behaupten könnten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.49 Nähere Ausführungen zur Würdigung der erstinstanzlichen Urteile finden sich indes nicht.

e) Folgerungen Auch wenn die sich in den geschilderten Urteilen andeutende Rechtsprechungsentwicklung wohl noch am Anfang steht, lassen sich doch einige allgemeine Prinzipien erkennen, die die Konventionsstaaten bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen gegenüber Ausländern zu beachten haben. Festzustehen scheint bereits, da auch durch die Große Kammer bestätigt, daß aus Art. 8 EMRK nicht allein ein Anspruch auf Aufenthalt, sondern auch auf gewisse Mindeststandards hinsichtlich des einzuräumenden Aufenthaltstatus folgt. Dieser muß im Grundsatz so ausgestaltet sein, daß er einem Ausländer eine effektive Verwirklichung seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erlaubt. Welche Anforderungen damit im einzelnen verbunden sind, läßt sich – wenn überhaupt – jedenfalls auf der Ba47 EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 93): „the Court has consistently held that an applicant cannot claim to be the ‚victim‘ of a deportation measure if the measure is not enforceable […]. It has adopted the same stance in cases where execution of the deportation order has been stayed indefinitely or otherwise deprived of legal effect and where any decision by the authorities to proceed with deportation can be appealed against before the relevant courts […]. 48 Vgl. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 94). 49 Vgl. EGMR, Urt. vom 07.12.2007, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 44 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 47 ff.).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

sis der bisherigen Judikatur nicht abschließend beantworten, zumal die Urteile der Großen Kammer eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den wohl als eher forsch empfundenen Kammerurteilen erkennen lassen. Dabei wird davon ausgegangen werden dürfen, daß jedenfalls eine rein faktische Duldung des Aufenthalts wie in der Rechtssache Sisojeva den Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK nicht genügt. Ist ein Ausländer rechtlich nicht vor einer jederzeitigen Vollstreckung der Ausreisepflicht geschützt, kann sich ein ungestörtes Privat- und Familienleben kaum entfalten. Ob sich darüber hinaus aus Art. 8 EMRK eine Pflicht ableiten läßt, den Aufenthalt eines Ausländers förmlich durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu legalisieren (wie dies die Kammerurteile in den Rechtssachen Shevanova und Kaftailova nahelegen) oder ob es ausreichend ist, daß der Betroffene in rechtlich abgesicherter Weise bloß nicht mit einer jederzeitigen Vollstreckung der Ausreisepflicht rechnen muß (wie dies in der Urteilsbegründung der Großen Kammer in der Rechtssache Sisojeva anklingt), kann nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechungsentwicklung nicht als geklärt gelten. Welche Anforderungen sich darüber hinaus aus dem Urteil in der Sache Aristimuño Mendizabal ableiten leiten lassen, ist ebenfalls zweifelhaft. Zwar hat der Gerichtshof trotz rechtmäßigen Aufenthalts der Beschwerdeführerin im Ergebnis allein wegen der Vorenthaltung eines für sie günstigeren Aufenthaltstitels eine Verletzung von Art. 8 EMRK angenommen, jedoch lag der maßgebliche, zur Annahme einer Verletzung führende Umstand darin, daß die Vorenthaltung dieses Titels bereits nach französischem Recht bzw. nach Gemeinschaftsrecht rechtswidrig war, also nicht auf einer gesetzlichen Grundlage im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK beruhte. Über die Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung mußte damit gar nicht mehr entschieden werden. Fest steht aber, daß der Gerichtshof die praktischen Schwierigkeiten, die der Beschwerdeführerin durch die jahrelange Erteilung nur auf wenige Monate befristeter, wenn auch stets verlängerter Aufenthaltstitel, entstanden waren, als Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens qualifizierte. Verallgemeinernd dürfte daher davon auszugehen sein, daß jedenfalls annähernd restriktive Befristungsregelungen gegenüber Ausländern mit Daueraufenthalt wegen ihrer faktischen Konsequenzen für die persönliche Lebensgestaltung einer Rechtfertigung nach Maßgabe von Art. 8 Abs. 2 EMRK bedürfen. Ob sie sich im Ergebnis als verhältnismäßig erweisen, wird grundsätzlich von konkreten Umständen des Einzelfalls abhängen. Zumindest dann, wenn ein Ausländer auf Dauer in einem Konventionsstaat lebt und sich nichts hat zuschulden kommen lassen, was eine Aufenthaltsbeendigung angezeigt erscheinen läßt, wird ihm aber aus Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Gewährung eines gefestigten, freilich nicht notwendigerweise unbefristeten Aufenthaltstitels zustehen.

F. Komplementäre Verpflichtungen

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II. Das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK Neben den komplementären Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK ist weiterhin das in Art. 14 EMRK normierte Diskriminierungsverbot zu beachten. Danach ist der Genuß der in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.50

1. Anwendungsbereich Das Diskriminierungsverbot ist akzessorisch, da es nur in Verbindung mit einem Konventionsrecht anwendbar ist. Erforderlich ist aber nicht, daß ein Konventionsrecht verletzt ist oder zumindest ein Eingriff in ein Konventionsrecht vorliegt. Es genügt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, daß der einer Beschwerde zugrundeliegende Sachverhalt in den Geltungsbereich („ambit“) eines Konventionsrechts fällt.51 Die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK scheidet demnach nicht deswegen aus, weil ein Konventionsstaat im Regelungsbereich eines Konventionsrechts weitergehende Rechte gewährt, als dies nach der Konvention notwenig ist.52 Es ist also nicht erforderlich, daß ein Konventionsstaat gerade in Erfüllung seiner konventionsrechtlichen Verpflichtungen Rechte gewährleistet. Auch soweit er über das von der Konvention verlangte Maß hinaus Rechte gewährt, bleibt er an das Diskriminierungsverbot gebunden und ist damit gegebenenfalls zur Gewährung 50 Vgl. zu Art. 14 EMRK ausführlich Bernegger, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grundund Menschenrechte, S. 709 ff.; Peukert, in: Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 14; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rn. 1–19; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 14; Ovey / White, European Convention, S. 412 ff.; Partsch, in: Macdonald / Matscher / Petzold, Protection of Human Rights, S. 571 ff.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 213 ff.; Sachs, ÖZöRV 1984, 333 ff.; Trechsel, in: Wolfrum, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, S. 119 ff.; Wintemute, EHRLR 2004, 366 ff.; ders., EHRLR 2004, 484 ff. 51 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 71); Urt. vom 21.02.1997, van Raalte ./. Niederlande, 1997-I, 173 (Ziff. 33); Urt. vom 27.03.1998, Petrovic ./. Österreich, RJD 1998-II, 579 (Ziff. 22); Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 27); Urt. vom 20.06.2006, Zarb Adami ./. Malta, Nr. 17209/02 (Ziff. 42); Urt. vom 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02 (Ziff. 47). 52 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 82): „The notion of discrimination within the meaning of Article 14 (art. 14) includes in general cases where a person or group is treated, without proper justification, less favourably than another, even though the more favourable treatment is not called for by the Convention.“; ferner EGMR, Urt. vom 16.11.2004, Ünal Tekeli ./. Türkei, RJD 2004-X, 213 (Ziff. 51); Urt. vom 20.06.2006, Zarb Adami ./. Malta, Nr. 17209/02 (Ziff. 73); Urt. vom 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02 (Ziff. 48).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

weiterer Rechte verpflichtet.53 Für die hier zu untersuchende aufenthaltsrechtliche Problematik lassen sich daraus zwei Folgerungen ableiten. Zunächst haben aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten, soweit sie den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK berühren, auch vor Art. 14 EMRK standzuhalten. Dies gilt unabhängig davon, ob sie einen Eingriff darstellen oder als potentielle Verletzung einer positiven Verpflichtung einzuordnen sind. Außerdem sind die Konventionsstaaten auch dann zur Nichtdiskriminierung nach Art. 14 EMRK verpflichtet, wenn sie durch ihr nationales Aufenthaltsrecht über das von Art. 8 EMRK geforderte Maß hinaus Ausweisungsschutz oder Nachzugsrechte gewähren.

2. Prüfungsstruktur Eine Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK setzt zunächst voraus, daß Personen oder Personengruppen, die sich in einer vergleichbaren Situation („analogous situations“) befinden, ungleich behandelt werden.54 Auch eine mittelbare Diskriminierung durch neutral formulierte, aber faktisch eine bestimmte Personengruppe benachteiligende Regelungen fällt unter Art. 14 EMRK.55 Die Rechtsprechung legt bei der Feststellung der Vergleichbarkeit keinen allzu strengen Maßstab an, da geringfügige Unterschiede im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung berücksichtigt werden können.56 Neben der Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte soll Art. 14 EMRK trotz seiner Ausgestaltung als Diskriminierungsverbot nach den neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs auch die Fälle erfassen, in denen Personen oder Personengruppen gleichbehandelt werden, sich aber in signifikant unterschiedlichen Situationen befinden.57 Erforderlich ist weiterhin, daß der Grund der Ungleichbehandlung einem in Art. 14 EMRK genannten Differenzierungsverbot widerspricht. Die Aufzählung ist jedoch schon ausweislich des Wortlauts 53 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rn. 4; Villiger, Europäische Menschenrechtskonvention, Rn. 658. 54 EGMR, Urt. vom 23.11.1983, van der Mussele ./. Belgien, Serie A 70 (Ziff. 46); Urt. vom 28.11.1984, Rasmussen ./. Dänemark, Serie A 87 (Ziff. 35); Urt. vom 22.10.1996, Stubbings u. a. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1996-IV, 1487 (Ziff. 73); Urt. vom 06.04.2000, Thlimmenos ./. Griechenland, RJD 2000-IV, 263 (Ziff. 44); Urt. vom 12.01.2006, Mizzi ./. Malta, Nr. 26111/02 (Ziff.130). 55 So unter ausdrücklicher Anlehnung an die Diskriminierungsvorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts die Große Kammer in: EGMR, Urt. vom 13.11.2007, D. H. u. a. ./. Tschechien, Nr. 57325/00 (Ziff. 184). 56 EGMR, Urt. vom 28.11.1984, Rasmussen ./. Dänemark, Serie A 87 (Ziff. 37); vgl. auch EGMR Urt. vom 12.01.2006, Mizzi ./. Malta, Nr. 26111/02 (Ziff. 131). 57 Vgl. EGMR, Urt. vom 06.04.2000, Thlimmenos ./. Griechenland, RJD 2000-IV, 263 (Ziff. 44): „The right not to be discriminated against in the enjoyment of the rights guaranteed under the Convention is also violated when States without an objective and reasonable justification fail to treat differently persons whose situations are significantly different.“; ferner EGMR, Urt. vom 18.01.2001, Chapman ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2001-I, 41 (Ziff. 129); Urt. vom 29.04.2002, Pretty ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2002-III, 155 (Ziff. 88).

F. Komplementäre Verpflichtungen

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nicht abschließend und wird auch von der Rechtsprechung als lediglich beispielhaft verstanden.58 Über die genannten Differenzierungsverbote hinaus wird jede an eine persönliche Eigenschaft anknüpfende Maßnahme oder Regelung von Art. 14 EMRK erfaßt.59 Dem französischen Wortlaut der Norm („sans distinction aucune“) scheinbar widersprechend sollen nach der Rechtsprechung schließlich nur solche Ungleichbehandlungen eine unzulässige Diskriminierung darstellen, für die keine objektive und vernünftige Rechtfertigung ersichtlich ist. Nach Auffassung des Gerichtshofs folgt diese implizite Einschränkung aus der allgemeinen Bedeutung, die dem englischen Begriff „discrimination“ in der Rechtsordnung einer großen Zahl europäischer Staaten zukomme.60 Eine objektive und vernünftige Rechtfertigung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung einem legitimen Ziel dient und sich gemessen daran als verhältnismäßig erweist. Dabei billigt die Rechtsprechung den Konventionsstaaten grundsätzlich einen Beurteilungsspielraum zu.61

3. Aufenthaltsrechtliche Implikationen Als von vornherein nicht vergleichbar sieht die Rechtsprechung den aufenthaltsrechtlichen Statuts von Ausländern und Staatsangehörigen eines Konventionsstaates an. Die Unterscheidung ist hier bereits durch die Konvention selbst angelegt, da Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls die Ausweisung von eigenen Staatsangehörigen ausnahmslos untersagt und ihnen ergänzend ein unbeschränktes Recht auf Einreise gewährt, während eine auch nur im Ansatz vergleichbare Vorschrift für Ausländer fehlt.62 Auch unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Regelungen gegenüber Ausländern können bereits deshalb keine Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK darstellen, wenn es an der Vergleichbarkeit der Situation fehlt. Dies zeigt eine Kommissionsentscheidung zum niederländischen Einwanderungsrecht. 58 EGMR, Urt. vom 08.06.1976, Engel u. a. ./. Niederlande, Serie A 22 (Ziff. 72); Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 32). 59 Peukert, in: Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 14 Rn. 25; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rn. 7; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 221. 60 EGMR, Urt. vom 23.07.1968, Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ ./. Belgien, Serie A 6 (Ziff. 10); vgl. dazu Peukert, in: Frowein / Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 14 Rn. 17. 61 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 72): „For the purposes of Article 14 (art. 14), a difference of treatment is discriminatory if it ‚has no objective and reasonable justification‘, that is, if it does not pursue a ‚legitimate aim‘ or if there is not a ‚reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be realised‘ […]. The Contracting States enjoy a certain margin of appreciation in assessing whether and to what extent differences in otherwise similar situations justify a different treatment in law […]“; zuvor bereits EGMR, Urt. vom 23.07.1968, Case „Relating to Certain Aspects of the Laws on the Use of Languages in Education in Belgium“ ./. Belgien, Serie A 6 (Ziff. 10); Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Serie A 31 (Ziff. 33); Urt. vom 28.11.1984, Rasmussen ./. Dänemark, Serie A 87 (Ziff. 38). 62 EGMR, Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 49).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Streitgegenständlich war eine Regelung, nach der die auf den niederländischen Bohrinseln beschäftigten Ausländer hinsichtlich des Rechts auf Familiennachzug ungünstiger behandelt wurden, als die auf dem Festland beschäftigten. Die Kommission stellte fest, daß beide Personengruppen einem unterschiedlichen Rechtsregime unterlagen, da für eine Beschäftigung auf dem Festland eine nur einschränkt erhältliche Aufenthaltsgenehmigung erforderlich war, während die auf den Bohrinsel beschäftigen Ausländer von einem solchen Erfordernis gänzlich befreit waren. Die den Familiennachzug betreffende Regelung könne daher nicht isoliert betrachtet werden.63 Unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Regelungen für Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und Drittstaatsangehörige stellen nach der Auffassung des Gerichtshofs ebenfalls keine unzulässige Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK dar. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hätten eine von den Beziehungen zu Drittstaaten unterscheidbare, besondere Rechtsordnung geschaffen und ihren Bürgern neben der eigenen Staatsangehörigkeit eine Unionsbürgerschaft gewährt. Der daraus folgende gegenüber Drittstaatsangehörigen günstigere Aufenthaltsstatus von EU-Bürgern sei daher durch objektive und vernünftige Gründe gerechtfertigt.64 Sinngemäß muß dies auch für aufenthaltsrechtliche Vergünstigungen innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums und besondere aufenthaltsrechtliche Regelungen auf Grundlage der Assoziierungsabkommen der Europäischen Gemeinschaft gelten.65 Dagegen dürften Ungleichbehandlungen wegen der ethnischen Herkunft von vornherein nicht einer Rechtfertigung durch Art. 14 EMRK immanente Schranken zugänglich sein. In einem jüngst entschiedenen Fall hatte der Gerichtshof über die Aufnahme von Roma in Sonderschulen zu urteilen und in diesem Zusammenhang betont, daß eine Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft eine Form der Rassendiskriminierung darstelle, die besonders zu verurteilen sei. Eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich oder in entscheidendem Maße mit ethnischer Herkunft begründet werde, könne in einer demokratischen Gesellschaft niemals gerechtfertigt sein.66 Auch wenn sich die Ausführungen nicht auf eine aufenthaltsrechtliche Fallkonstellation bezogen, wird der der Konvention (auch) an 63

EKMR, Entsch. vom 21.10.1996, TY ./. Niederlande, Nr. 26669/95. EGMR Urt. vom 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Serie A 193 (Ziff. 49); Urt. vom 07.08.1996, C. ./. Belgien, RJD 1996-III, 915 (Ziff. 38); Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41). 65 Vgl. EGMR, Entsch. vom 04.05.2000, Aftab u. a. ./. Norwegen, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41): „Moreover, the fact that a Contracting State, in the exercise of its discretion in expulsion matters, gives nationals of certain countries with which it entertains particularly close relations, for instance within the EU and the EEA, more favourable treatment than nationals of other countries, does not of its own give rise to an issue under Article 14 […]. Although the expulsion in question in this case affected the applicant children’s enjoyment of their Article 8 rights, the Court is satisfied that the alleged difference in treatment could be regarded as having an objective and reasonable justification falling within the Contracting State’s margin of appreciation.“ 66 EGMR, Urt. vom 13.11.2007, D. H. u. a. ./. Tschechien, Nr. 57325/00 (Ziff. 176). 64

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dieser Stelle implizit entnommenen Schranken-Schranke der demokratischen Gesellschaft eine allgemeine Bedeutung zukommen, die einer entsprechenden Ungleichbehandlung im Aufenthaltsrecht zwingend entgegensteht.67 Ebenfalls streng beurteilt der Gerichtshof nach dem Geschlecht differenzierende aufenthaltsrechtliche Regelungen. Dies zeigt die Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali, die eine Regelung des britischen Einwanderungsrechts betraf, nach der verheirateten Frauen unter erleichterten Bedingungen ein Nachzugsrecht zu ihren im Vereinigten Königreich lebenden Ehemännern gewährt wurde, als dies für verheiratete Männer in der umgekehrten Situation galt. Die britische Regierung führte zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung an, daß Männer statistisch gesehen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Erwerbstätigkeit aufnehmen würden als Frauen. Der Gerichtshof erkannte zwar an, daß der Schutz des heimischen Arbeitsmarktes ein legitimes Ziel sei, äußerte jedoch schon erhebliche Zweifel an den tatsächlichen Auswirkungen einer nach dem Geschlecht differenzierenden Einwanderungspolitik auf den Arbeitsmarkt. Jedenfalls aber seien derartige Auswirkungen nicht ausreichend um eine Differenzierung zu rechtfertigen.68 Da die Gleichbehandlung von Männern und Frauen ein wichtiges Ziel aller Mitgliedstaaten des Europarates sei, könnten nur besonders schwerwiegende Gründe eine Ungleichbehandlung tragen.69 Der den Konventionsstaaten grundsätzlich zugebilligte Beurteilungsspielraum wird also bei einer Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts durch die Rechtsprechung eng ausgelegt. Eine zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Beziehungen unterscheidende aufenthaltsrechtliche Regelung soll zumindest nach der Rechtsprechung der Kommission aus den 1980er Jahren keine unzulässige Diskriminierung darstellen. Eine Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung, die als sonstiger Statuts im Sinne von Art. 14 EMRK anzuerkennen sei, könne wegen des besonderen Schutzes der Familie gerechtfertigt werden.70 Ob auch der Gerichtshof in diesem Sinne entscheiden wird, erscheint allerdings nicht gesichert. Nach anerkannter Rechtsprechung ist die Konvention als „living instrument“ im Lichte der zeitgenössischen Umstände zu interpretieren.71 Der den Konventionsstaaten 67 Vgl. zur Bedeutung dieser Schranken-Schranke im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK oben unter D. III. 1. 68 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 79). 69 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 78): „As to the present matter, it can be said that the advancement of the equality of the sexes is today a major goal in the member States of the Council of Europe. This means that very weighty reasons would have to be advanced before a difference of treatment on the ground of sex could be regarded as compatible with the Convention.“ 70 EKMR, Entsch. vom 14.05.1986, S. ./. Vereinigtes Königreich, DR 47, 274 (279); Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89. 71 Vgl. zu dieser als dynamisch oder evolutiv bezeichneten Auslegungsmethode ausführlich Frowein, in: Ress / Schreuer, Wechselwirkungen, S. 117; Grabenwarter, Europäische Men-

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im Rahmen von Art. 14 EMRK zukommende Beurteilungsspielraum hängt dabei maßgeblich davon ab, ob sich in einer bestimmten Frage unter den Konventionsstaaten ein weitgehender Konsens herausgebildet hat.72 Im Bereich des Strafrechts haben Kommission und Gerichtshof einen solchen gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel im Umgang mit Homosexualität bereits zum Anlaß kommen, um in mehreren Fällen abweichend von der früheren Rechtsprechung eine Verletzung von Art. 14 EMRK festzustellen, wenn für die Strafbarkeit des einverständlichen Sexualverkehrs zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern strengere Altersgrenzen vorgesehen waren, als bei heterosexuellen Partnern.73 Hinsichtlich der Adoptionsmöglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare konnte der Gerichtshof dagegen noch keinen hinreichenden Konsens unter den Konventionsstaaten feststellen, so daß er ihnen einen weiten Beurteilungsspielraum zubilligte und in der Verweigerung eines staatlichen Einverständnisses zur Adoption eines Kindes durch ein gleichgeschlechtliches Paar keine unzulässige Diskriminierung erblickte.74 Aber auch hier deutet sich möglicherweise ein schleichender Rechtsprechungswandel an. Anders urteilte der Gerichtshof nämlich in einer jüngsten Entscheidung, in der einer lesbischen Frau das staatliche Einverständnis zur Adoption mit Verweis auf die fehlende Vaterfigur verweigert worden war. Hierin sah die entscheidende Große Kammer – jedenfalls im konkreten Fall – unter Hinweis auf die Entwicklungsoffenheit der Konvention und die französische Rechtslage, die eine Adoption auch durch alleinstehende Personen ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung prinzipiell erlaubt, eine Verletzung von Art. 14 EMRK.75 Entscheidend ist damit, inwieweit sich künftig im nationalen Recht der Konventionsstaaten ein Konsens zur Gleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen und verschiedengeschlechtlichen Partnerschaften in aufenthaltsrechtlichen Fragen herausbilden wird.

schenrechtskonvention, § 5 Rn. 12 ff.; Korinek, in: FS-Walter, S. 363 (375); Ost, in: DelmasMarty, European Convention, S. 283 (302 f.); Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 18 f. 72 EGMR, Urt. vom 09.01.2003, L. und V. ./. Österreich, RJD 2003-I, 29 (Ziff. 49): „In this connection the Court reiterates that the scope of the margin of appreciation left to the Contracting State will vary according to the circumstances, the subject matter and the background; in this respect, one of the relevant factors may be the existence or non-existence of common ground between the laws of the Contracting States […].“; ferner EGMR, Urt. vom 28.11.1984, Rasmussen ./. Dänemark, Serie A 87 (Ziff. 40); Urt. vom 27.03.1998, Petrovic ./. Österreich, RJD 1998-II, 579 (Ziff. 38); Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 40). 73 Vgl. EKMR, Bericht vom 01.07.1997, Sutherland ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25186/94 (Ziff. 60 ff.); EGMR, Urt. vom 09.01.2003, L. und V. ./. Österreich, RJD 2003-I, 29 (Ziff. 47); Urt. vom 09.01.2003, S. L. ./. Österreich, RJD 2003-I, 71 (Ziff. 39); Urt. vom 10.02.2004, B. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 53760/00 (Ziff. 23 ff.); Urt. vom 21.01.2005, Woditschka und Wilfling ./. Österreich, Nr. 69756/01, 6306/02; Urt. 03.05.2005, Ladner ./. Österreich, Nr. 18297/03; Urt. vom 26.05.2005, Wolfmeyer ./. Österreich, Nr. 5263/03; Urt. vom 02.07.2005, H. G. und G. B. ./. Österreich, Nr. 11084/02, 15306/02. 74 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, RJD 2002-I, 303 (Ziff. 40 ff.). 75 EGMR, Urt. vom 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02 (Ziff. 91 ff.).

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Keine unzulässige Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK hat die Rechtsprechung schließlich in Nachzugsbeschränkungen für die aus einer Mehrehe stammenden Kinder gesehen. Die streitgegenständliche niederländische Regelung sah vor, daß lediglich einer Ehefrau und deren Kindern ein Nachzugsrecht zum Ehemann bzw. Vater zustand. Hinsichtlich der damit vom Familiennachzug ausgeschlossenen Kinder weiterer Ehefrauen nahm die Kommission eine Ungleichbehandlung aufgrund der Geburt an, hielt diese jedoch im Ergebnis für gerechtfertigt, da die Konventionsstaaten grundsätzlich nicht verpflichtet seien, eine ihrem nationalen ordre public widersprechende Mehrehe in vollem Umfang anzuerkennen.76 Die Entscheidungsgründe legen jedoch nahe, daß sich die Kommission auch davon leiten ließ, daß die leibliche Mutter weiterhin im Herkunftsland lebte und den Kindern somit ein Verbleib ebendort zugemutet werden konnte. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls in der Verweigerung eines Nachzugsrechts für die Kinder eine Verletzung von Art. 14 EMRK liegt. In diese Richtung deutet wohl auch eine vorausgegangene Entscheidung, in der die Kommission – im Rahmen ihrer Prüfung von Art. 14 EMRK – hervorhob, daß die Freiheit der Konventionsstaaten, Mehrehen nicht in vollem Umfang anerkennen zu müssen, nicht bedeute, daß die Beziehung eines in einer Mehrehe geborenen Kindes zu seinem in einem Konventionsstaat lebenden leiblichen Vater kein schützenswertes Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK darstelle.77 Eine weitere Prüfung erübrigte sich hier jedoch, da das nachzugbegehrende Kind volljährig war und somit kein Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK bestand. Bezüglich einer parallelen Regelung des britischen Einwanderungsrechts sah die Kommission auch keine Verletzung von Art. 14 EMRK hinsichtlich einer im Herkunftsland zurückgeblieben Ehefrau, der ein Familiennachzug durch die britischen Behörden verweigert wurde, da ihr Ehemann bereits mit einer zweiten Ehefrau im Vereinigten Königreich lebte. Die Kommission, die eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts prüfte, konnte keine dem Vereinigten Königreich zurechenbare Diskriminierung feststellen, da nach britischem Recht grundsätzlich ein Recht auf Familiennachzug für die Ehefrau eines im Vereinigten Königreich lebenden Ausländers bestand. Die Verweigerung des Nachzugs beruhe allein auf der polygamen Lebensführung der Betroffenen.78 Die Eigenschaft als zweite Ehefrau 76

EKMR, Entsch. vom 06.01.1992, E.A und A. A. ./. Niederlande, Nr. 14501/89. EKMR, Entsch. vom 05.10.1987, M. und O. M. ./. Niederlande, Nr. 12139/86: „When considering immigration on the basis of family ties, a Contracting State cannot be required under the Convention to give full recognition to polygamous marriages which are in conflict with their own ordre public. This does not mean, however, that there is no right to respect for the family life of a father and his children born by different wives in a polygamous marriage.“ 78 EKMR, Entsch. vom 29.06.1992, Bibi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 19628/92: „The relevant domestic immigration law permits, in principle, a British citizen or an alien settled in the United Kingdom, to be joined by his or her foreign spouse. The entitlement is granted to just the one spouse for the duration of the marriage. The discrimination of which the applicant complains flows essentially from the practice of polygamy by the applicant’s father for which the respondent Government is not answerable under the Convention.“ 77

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wurde damit nicht als sonstiger Status im Sinne von Art. 14 EMRK angesehen. Allerdings übersah die Kommission dabei, daß nicht die Ehefrau selbst Beschwerdeführerin war, sondern deren im Vereinigten Königreich bei ihrem Vater lebende Tochter. Diese sah sich in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens in Verbindung mit Art. 14 EMRK verletzt. Davon ausgehend hätte die Kommission eine Ungleichbehandlung aufgrund der Geburt feststellen müssen, da die Tochter verglichen mit Kindern aus monogamen Ehen hinsichtlich ihres Familienlebens benachteiligt wurde. Ob eine solche Ungleichbehandlung zugleich eine unzulässige Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK darstellt, hängt dabei von der Angemessenheitsprüfung und somit von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab.

III. Das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK 1. Grundsätzliches Nach Art. 13 EMRK hat jedermann, der in seinen in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer innerstaatlichen Instanz.79 Hinter dieser Vorschrift steht der insbesondere in Art. 1 und 19 EMRK zum Ausdruck kommende Gedanke, daß es in erster Linie Aufgabe der Konventionsstaaten selbst ist, die Rechte und Freiheiten der Konvention innerstaatlich zu garantieren. Dem Gerichtshof und dem Rechtsschutzsystem der Konvention kommt demgegenüber lediglich eine subsidiäre Funktion zu.80 Wie das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK ist das Recht auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK ein akzessorisches Recht. Eine Verletzung kann nur in Verbindung mit einem anderen Konventionsrecht geltend gemacht werden. Anders als der Wortlaut dem ersten Anschein nach nahelegt, setzt Art. 13 EMRK dabei nicht voraus, daß bereits eine Verletzung einer Konventionsgarantie feststeht. Sinn des garantierten Rechtsbehelfs ist es gerade, daß eine Konventionsverletzung überprüft wird.81 Voraussetzung ist allein, daß ein Beschwerdeführer plausibel behaupten kann („arguable claim“), Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.82 In der Rechtsprechungspraxis verneint der Gerichtshof 79

Vgl. zu Art. 13 EMRK ausführlich Bernegger, in: Machacek / Pahr / Stadler, Grund- und Menschenrechte II, S. 733 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 13; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 160–180; Holoubek, JBl. 1992, S. 137 ff; Matscher, in: FS-Seidl-Hohenveldern, S. 315 ff.; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13. 80 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 160; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 1. 81 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 170; Frowein, in: ders./ Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 13 Rn. 2; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 4. 82 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 171; Frowein, in: ders./ Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 13 Rn. 2; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 5.

F. Komplementäre Verpflichtungen

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die Plausibilität regelmäßig, wenn er die in der Hauptsache geltend gemachte Beschwerde bereits im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach Art. 35 Abs. 3 EMRK als offensichtlich unbegründet abweist.83 Unerheblich ist allerdings, ob die im Einzelfall einschlägige Konventionsgarantie in ihrer Funktion als Abwehrrecht oder als Grundlage einer positiven Verpflichtung betroffen ist. Auch eine plausibel behauptete Verletzung einer positiven Verpflichtung führt zur Anwendbarkeit von Art. 13 EMRK.84 Der Begriff der wirksamen Beschwerde wird durch den Gerichtshof autonom ausgelegt. Erforderlich ist ein innerstaatlicher Rechtsbehelf, auf dessen Grundlage über das Vorliegen einer Konventionsverletzung entschieden und entsprechende Abhilfe erlangt werden kann.85 Nicht notwendig ist, daß es sich bei der zur Entscheidung berufenen Stelle um ein Gericht handelt. Auch eine Entscheidung durch eine Behörde oder eine Kommission kann im Grundsatz genügen. Voraussetzung ist allerdings, daß es sich um eine unabhängige und unparteiische Instanz handelt.86 Nicht ausreichend ist es daher, wenn über den Rechtsbehelf dieselbe Behörde entscheidet, gegen die sich der Rechtsbehelf richtet.87

2. Bedeutung im aufenthaltsrechtlichen Kontext Im Grundsatz gilt, daß ein von einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme betroffener Ausländer, der eine Verletzung seines Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK plausibel behaupten kann, aus Art. 13 EMRK einen Anspruch auf eine wirksame Beschwerde hat. In der Rechtsprechung ist allenfalls eine gewisse Irritation bezüglich des Konkurrenzverhältnisses von Art. 13 EMRK zu Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls festzustellen. Diese Vorschrift gewährt Ausländern, die von einem Konventionsstaat ausgewiesen werden, unter 83

Vgl. bereits EGMR, Urt. vom 27.04.1988, Boyle und Rice ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 131 (Ziff. 57); jüngst etwa Entsch. vom 27.01.2005, Narcisio ./. Niederlande, Nr. 47810/99; Entsch. vom 11.09.2001, Clunis ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 45049/98; Entsch. vom 11.10.2005, Young ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 60682/00; Entsch. vom 12.02.2008, Samadi ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 22367/04; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 13 Rn. 6. 84 Vgl. zu Art. 3 und 8 EMRK EGMR, Urt. vom 10.10.2002, D. P. und J. C. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 38719/97 (Ziff. 136); siehe dazu auch die Ausführungen oben unter D. III. 3. d). 85 EGMR, Urt. vom 27.09.1999, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1999-VI, 45 (Ziff. 135); Urt. vom 12.05.2000, Khan ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2000-V, 279 (Ziff. 44); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 173. 86 EGMR, Urt. vom 25.03.1983, Silver u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 61 (Ziff. 113 ff.); Urt. vom 12.05.2000, Khan ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2000-V, 279 (Ziff. 44 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 173; Meyer-Ladewig, HKEMRK, Art. 13 Rn. 15. 87 EGMR, Urt. vom 15.11.1996, Calogero Diana ./. Italien, RJD 1996-V, 1765 (Ziff. 41); Urt. vom 27.07.1998, Güleç ./. Türkei, RJD 1998-IV (Ziff. 81 f.); Urt. vom 04.05.2001, Hugh Jordan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 24746/94 (Ziff. 120); Urt. vom 03.06.2004, Bati u. a. ./. Türkei, Nr. 33097/96 (Ziff. 135); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 173.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

anderem einen Anspruch auf Überprüfung der Ausweisungsentscheidung.88 Einige Annahmeentscheidungen des Gerichtshofs lassen sich nun so verstehen, daß dort ein Vorrang von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls als lex specialis gegenüber Art. 13 EMRK gesehen wird.89 Dieser Ansatz ist jedoch schon deshalb zweifelhaft, weil Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls entstehungsgeschichtlich allein als Ergänzung zu den bereits in der Konvention enthaltenen und Schutz vor Ausweisung bietenden Garantien verstanden worden ist. Die Kommentierung des Europarates verweist hier ausdrücklich auf Art. 3 und 8 EMRK jeweils in Verbindung mit dem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK. Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls soll demgegenüber die Rechtschutzmöglichkeiten erweitern und auch diejenigen Fälle erfassen, in denen eine Ausweisung kein materielle Konventionsgarantie berührt oder es dem Ausgewiesenen nicht gelingt, deren Verletzung hinreichend plausibel darzulegen.90 Auch würde eine vorrangige Anwendung von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls – abgesehen von den weiteren dort garantierten Verfahrensrechten, die über Art. 13 EMRK hinausreichen – zumindest partiell zu einer Verschlechterung der Rechtsschutzmöglichkeiten führen. Während Art. 13 EMRK unter anderem eine Entscheidung durch eine unabhängige und unparteiische Instanz gebietet, genügt im Rahmen von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls, daß die ausweisende Behörde selbst ihre Ausweisungsentscheidung unter Berücksichtigung der vom Ausgewiesenen vorgebrachten Gründe überprüft.91 Richtigerweise ist daher von einer kumulativen Anwendbarkeit beider Vorschriften auszugehen. Auch der Gerichtshof hat dies inzwischen jedenfalls in einem Urteil ausdrücklich bejaht.92 Abgesehen von dieser Konkurrenzfrage geht der Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK deutlich über den von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls hinaus. Das gilt zunächst für die Fälle des Familiennachzugs, die von vornherein keine Ausweisung im Sinne von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls betreffen, in denen gleichwohl aber wegen Art. 13 EMRK ein Recht auf eine wirksame Beschwerde gegen eine ablehnende Nachzugsentscheidung besteht. Außerdem ist zu bedenken, daß eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme – unabhängig davon, ob sie auf eine Aufenthaltsbeendigung oder eine Verweigerung des Familiennachzugs gerichtet ist – auch die Familienangehörigen des Adressaten in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens beeinträchtigt.93 Anders als im Rahmen von Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls haben daher auch sie aus Art. 13 EMRK ein Recht auf eine wirksame Beschwerde.

88

Vgl. zu Art. 1 ZP 7 ausführlich oben unter A. V. EGMR, Entsch. vom 23.01.2002, Slivenko u. a. ./. Lettland, RJD 2002-II, 467 (Ziff. 98); Entsch. vom 08.07.2004, Bolat ./. Rußland, Nr. 14139/03. 90 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 6 f. 91 Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 13.2. 92 Vgl. EGMR, Urt. vom 24.04.2008, C. G. u. a. ./. Bulgarien, Nr. 1365/07 (Ziff. 70). 93 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen oben unter D. II. 1. b) und 2. c). 89

G. Der Rechtmäßigkeitszeitpunkt

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G. Der Rechtmäßigkeitszeitpunkt G. Der Rechtmäßigkeitszeitpunkt

Gelangt eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme als Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde vor den Gerichtshof, stellt sich schließlich die Frage, von welchem Zeitpunkt der Gerichtshof bei der Beurteilung der Konventionskonformität auszugehen hat. Auf der Basis der bisherigen Judikatur läßt sich diese Frage nur mit Vorsicht beantworten. Klar ist, daß es für den Gerichtshof jedenfalls bei der Feststellung eines Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK in den Fällen der Aufenthaltsbeendigung auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der Ausweisungsentscheidung ankommt. Dies entspricht gefestigter Rechtsprechung: „The question whether the applicant had a private and family life within the meaning of Article 8 must be determined by the Court in the light of the position when the exclusion order became final […].“1

Der Zeitpunkt der Rechtskraft bestimmt sich dabei nach dem jeweils geltenden nationalen Recht.2 Letztlich ist damit vielfach der Zeitpunkt des letztinstanzlichen Urteils über die gegen die Ausweisung eingelegten und wegen der durch Art. 35 Abs. 1 EMRK prozessual vorgeschriebenen Rechtswegerschöpfung auch zwingend einzulegenden Rechtsmittel maßgeblich. Darüber hinaus ist vieles ungewiß. So bezieht sich die zitierte Rechtsprechung zum einen nur auf die Fälle der Aufenthaltsbeendigung. Im Rahmen des Familiennachzugs läßt sich bislang keine eindeutige Positionierung des Gerichtshofs feststellen. In der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali stellte er aber auf den Zeitpunkt der endgültigen Ablehnung der Einreise- und Aufenthaltsanträge ab, was der Betrachtungsweise bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entspricht.3 Zum anderen wird der so umschriebene Rechtmäßigkeitszeitpunkt üblicherweise nur auf die schutzbereichsrelevante Frage bezogen, ob ein Privat- und Familienleben besteht. Erst in einem jüngeren Urteil in der Rechtssache Chair wird der Rechtmäßigkeitszeitpunkt auf die gesamte Prüfung einschließlich der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK übertragen.4 1 EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); ebenso EGMR, Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 36); Urt. vom 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99 (Ziff. 25); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 34); Urt. vom 15.07.2003, Mokrani ./. Frankreich, Nr. 52206/99 (Ziff. 34); Urt. vom 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Nr. 50278/99 (Ziff. 88); Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 57); Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 61); unklar noch Urt. vom 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, RJD 1997-I, 47 (Ziff. 41). 2 Vgl. EGMR, Urt. 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 57): Eine gegen ein letztinstanzliches Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde zum BVerfG hindert dessen Rechtskraft nicht. Maßgeblicher Zeitpunkt ist daher der Erlaß des letztinstanzlichen Urteils. 3 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62). 4 Vgl. EGMR, Urt. vom 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 69735/01 (Ziff. 60).

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

Davon ausgehend dürfte jedenfalls im Grundsatz angenommen werden können, daß sich die Vereinbarkeit einer Aufenthaltsbeendigung oder einer Verweigerung des Familiennachzugs mit Art. 8 EMRK nach dem Zeitpunkt der Rechtskraft der zugrundeliegenden Entscheidung richtet. In dogmatischer Hinsicht spricht für eine solche Festlegung des Rechtmäßigkeitszeitpunkts die Überlegung, daß sich die Aufgabe des Gerichtshofs nach Art. 19 EMRK auf eine Kontrolle der Konventionsstaaten bei der in erster Linie ihnen obliegenden innerstaatlichen Gewährleistung der Konventionsgarantien beschränkt. Zugleich ist durch das in Art. 35 Abs. 1 EMRK enthaltene Prinzip der Rechtswegerschöpfung auch prozessual sichergestellt, daß der Gerichtshof erst nach einer abschließenden Befassung durch die innerstaatlichen Instanzen zu einer Kontrolle berufen ist. Aus dieser zurückgenommenen, subsidiären Rolle des Gerichtshofs ist einerseits zu schließen, daß sich für den Gerichtshof die Anknüpfung an einen Zeitpunkt vor der letzten nationalen Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung oder die Gestattung des Familiennachzugs verbietet, weil damit einer innerstaatlichen Korrekturmöglichkeit vorgegriffen würde. Andererseits wird der Gerichtshof wegen seiner auf die Kontrolle der Konventionsstaaten gerichteten Prüfung im Rahmen seiner eigenen Würdigung nur solche Umstände heranziehen können, die zumindest der letzten nationalen Instanz ebenfalls als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung standen. Ein besonderes Problem stellt sich hier freilich, wenn sich die für eine Beurteilung am Maßstab von Art. 8 EMRK relevanten Umstände nach Rechtskraft einer Ausweisungsentscheidung ändern, die Ausweisungsentscheidung aber bislang nicht vollstreckt worden ist. Können solche neuen Umstände nun in die Würdigung des Gerichtshofs einfließen? Bislang schien die Rechtsprechung hier äußerst restriktiv. So wurden nachträglich eintretende Umstände, etwa eine Eheschließung oder die Geburt eines Kindes, trotz noch ausstehender Vollstreckung durch den Gerichtshof für unbeachtlich erklärt.5 Mit dem jüngst durch eine Große Kammer ergangenen Urteil in der Sache Maslov scheint sich nun eine Weiterung des Prüfungsmaßstabs zumindest in den Fällen, in denen zwischen der Rechtskraft einer Ausweisungsentscheidung und deren tatsächlicher Vollstreckung ein längerer Zeitraum liegt, anzudeuten. Hier nahm der Gerichtshof für sich in Anspruch, die positive persönliche Entwicklung eines straffällig gewordenen Ausländers nach seiner Verurteilung – und zwar auch über den Zeitpunkt der Rechtskraft der bislang noch nicht vollstreckten Ausweisungsverfügung hinaus – im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Zur Begründung verwies der Gerichtshof in erster Linie darauf, daß er die Konventionskonformität der tatsächlichen Aufenthaltsbeendigung zu überprüfen habe, nicht die der Ausweisungsverfügung. Notfalls müsse der Konventionsstaat unter diesen Umständen ein Verfahren vorsehen, daß eine Berücksichtigung nachträglich eintretender Umstände erlaube: 5 Vgl. EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36).

H. Würdigung der Rechtsprechung

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„In this connection the Court would point out that its task is to assess the compatibility with the Convention of the applicant’s actual expulsion, not that of the final expulsion order. […] Consequently, in such cases it is for the State to organise its system in such a way as to be able to take account of new developments.“6

Außerdem stützte sich der Gerichtshof auf seine entsprechende Rechtsprechung bei der Überprüfung von Ausweisungen am Maßstab von Art. 3 EMRK7 sowie auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG in der Rechtssache Orfanopoulos und Oliveri, nach der die mitgliedstaatlichen Gerichte bei der Prüfung einer Ausweisung von Unionsbürgern die aktuelle und nicht die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung zugrundezulegen hätten.8 Es bleibt abzuwarten, ob nicht ähnliche Überlegungen den Gerichtshof im Rahmen des Familiennachzugs dazu veranlassen könnten, von einem späteren Rechtmäßigkeitszeitpunkt auszugehen, wenn nach Rechtskraft eines ablehnenden Bescheides, aber während des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens vor dem Gerichtshof neue, entscheidungserhebliche Umstände eintreten.

H. Würdigung der Rechtsprechung H. Würdigung der Rechtsprechung

Die Straßburger Rechtsprechungsorgane haben die aufenthaltsrechtliche Bedeutung des durch Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens bereits früh entdeckt und in nunmehr rund fünfzigjähriger Rechtsprechungstätigkeit stetig fortentwickelt. Inzwischen ist eine reichhaltige Kasuistik entstanden, die die Souveränität der Konventionsstaaten, über Einreise und Aufenthalt von Ausländern nach eigenem Ermessen zu entscheiden, in vielfacher Hinsicht Beschränkungen unterwirft. Dies gilt für die Beendigung des Aufenthalts ebenso wie für dessen erstmalige Gestattung zum Zweck des Familiennachzugs. Die Feststellung des früheren Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Luzius Wildhaber, bei Art. 8 EMRK handele es sich um eine 6

EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 93). Vgl. EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 91): „In this connection it is to be borne in mind that according to the Court’s established case-law under Article 3, where an expulsion has taken place before the Court gives judgment, the existence of the risk the applicant faced in the country to which he was expelled is to be assessed with reference to those facts which were known or ought to have been known to the Contracting State at the time of the expulsion. In cases in which the applicant has not yet been deported when the Court examines the case, the relevant time will be that of the proceedings before the Court […].“ 8 Vgl. EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 93): „Mutatis mutandis, this would also appear to be the approach followed by the European Court of Justice which stated in its Orfanopoulos and Oliveri judgment that Article 3 of Directive 64/221 precludes a national practice whereby the national courts may not take into consideration, in reviewing the lawfulness of the expulsion of a national of another Member State, factual matters which occurred after the final decision of the competent authorities […].“ Vgl. auch EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 Rn. 77 ff. – Orfanopoulos u. Oliveri ./. Land Baden-Württemberg, ausführlich dazu Gutmann, InfAuslR 2004, 265 ff. 7

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

jener Garantien, welchen man ein großes Potential für Wachstum, Entfaltung und auch zeitweise Überraschungen getrost voraussagen könne, scheint treffend.1 Dies zeigen nicht zuletzt jüngere Entwicklungstendenzen, wonach eine effektive Verwirklichung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens auch gewisse Mindeststandards hinsichtlich Art und Umfang eines zu gewährenden Aufenthaltsrechts verlangen soll. Die allem zugrunde liegende Frage freilich, nämlich die, ob Art. 8 EMRK legitimerweise im Sinne einer einen Anspruch auf Aufenthalt begründenden Garantie interpretiert werden kann, wurde von den Straßburger Rechtsprechungsorganen allenfalls gestreift. Als sich der Gerichtshof im Jahre 1985 in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales und Balkandali erstmals mit der aufenthaltsrechtlichen Bedeutung von Art. 8 EMRK befaßte, konnte er bereits auf eine dem Grunde nach gefestigte Rechtsprechung der Kommission zurückgreifen, die wiederum gleichsam selbstverständlich von der aufenthaltsschützenden Wirkung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens ausgegangen war.2 Innerhalb des Gerichtshofs waren nur vereinzelt kritische Stimmen zu vernehmen, die jedoch bald verstummten.3 Auch im Schrifttum wird die Rechtsprechung mehrheitlich nicht grundlegend in Frage gestellt.4 Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK zu bemühen, führt in diesem Zusammenhang nur im Ansatz weiter. Insoweit finden sich weder ausdrücklich für, noch ausdrücklich gegen die Annahme einer aufenthaltsschützenden Wirkung sprechende Hinweise. Wohl aber hat die Untersuchung der Motive, die der Aufnahme des Rechts auf Achtung des Familienlebens in den Konventionsbestand zugrunde liegen, ergeben, daß die Verfasser das entscheidende Schutzgut gerade in der Familie als Gemeinschaft erblickten. Die Familieneinheit wurde als integraler Bestandteil des garantierten Rechts verstanden.5 Davon ausgehend erweist es sich als konsequent, auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten am Maßstab von Art. 8 EMRK zu messen, soweit sie die Familienmitglieder trennen. Hinsichtlich des Rechts auf Achtung des Privatlebens muß entsprechendes gelten. Zwar zeigen sich die Materialien zur Entstehungsgeschichte hier weniger ergiebig. Der Wortlautunterschied zwischen Art. 8 EMRK („privat life“) und dem insoweit als Vorbild dienenden Art. 12 AEMR („privacy“) liefert aber ein taugliches Argument für den Auslegungsansatz von Kommission und Gerichtshof, wonach der Schutzbereich über den engen Bereich der Privatsphäre hinaus auch die Beziehungen einer Person zu anderen Menschen und zur Umwelt im allgemeinen 1

Wildhaber, Wechselspiel, S. 389. Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen oben unter D. I. 3 Vgl. Sondervotum Richter Pettiti, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234, 32 f.; Sondervotum Richter Valticos, in: EGMR, Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234, 36. 4 Kritisch Maaßen, Rechtsstellung des Asylbewerbers, S. 156; Warbrick, EHRLR 1998, 32 (43 f.). 5 Vgl. zusammenfassend oben unter B. III. 2

H. Würdigung der Rechtsprechung

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umfaßt und damit auch durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die zu einer Trennung vom persönlichen Lebensumfeld führen, berührt werden kann. Zudem entspricht dem Wesen eines Grund- oder Menschenrechts als umfassend formulierter Rechtsnorm ein prinzipieller Geltungsanspruch in allen Bereichen des Lebens. Weder der Formulierung des Schutzbereichs in Art. 8 Abs. 1 EMRK, noch der Schrankenregelung des Abs. 2 läßt sich entnehmen, daß das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gerade auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts keine Anwendung finden soll. Nicht, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen der Konventionsstaaten am Maßstab des Art. 8 EMRK zu überprüfen sind, sondern, daß sie es nicht sind, bedarf daher der Begründung. Die Regelungen des 4. und 7. Zusatzprotokolls stehen einem aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Anspruch auf Aufenthalt dabei nicht entgegen. Soweit sie unmittelbar den Aufenthalt betreffende Vorschriften enthalten, gewähren diese allein verfahrensrechtliche Rechte, die die Entscheidung der Konventionsstaaten über Einreise und Aufenthalt von Ausländern dem Grunde nach nicht beschränken. Vorschriften zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen, die Anlaß geben würden, eine gegenüber Art. 8 EMRK vorrangige Spezialregelung anzunehmen, enthalten sie nicht. Auch können die Zusatzprotokolle nicht als abschließende Regelung zum Aufenthaltsrecht verstanden werden. Der Zweck der Protokolle liegt in einer Erweiterung des bereits durch die Konvention garantierten Grundrechtsschutzes, nicht in dessen nachträglicher Beschränkung. Bereits bei Erarbeitung des 4. Zusatzprotokolls vom 16. September 1963 zeichnete sich jedoch in der Rechtsprechung der Kommission die aufenthaltsrechtliche Bedeutung von Art. 8 EMRK ab.6 Hätten die Verfasser diese Rechtsprechung revidieren wollen, wäre insoweit eine ausdrückliche Klarstellung erforderlich gewesen. Deutlicher gilt dies noch für das 7. Zusatzprotokoll vom 22. November 1984. Die Kommentierung des Europaparates nimmt hier ausdrücklich auf die von der Rechtsprechung entwickelte aufenthaltsschützende Wirkung von Art. 3 und Art. 8 EMRK Bezug. Die im Protokoll enthaltenen verfahrensrechtlichen Garantien zum Ausweisungsschutz werden lediglich als Ergänzung zum bereits bestehenden Grundrechtsschutz in Aufenthaltsfragen verstanden.7 Es verbleibt damit allein die angesichts der übrigen Vorschriften der Konvention wohl nicht ganz unplausible Vermutung, die Konventionsstaaten hätten bei Inkrafttreten der Konvention im Jahre 1953 niemals so weit gehen wollen, ihre Souveränität auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts zum Schutz des Privat- und Familienlebens der Betroffenen einzuschränken. Mit der Einrichtung eines Gerichtshofs haben die Konventionsstaaten jedoch letztlich nicht nur ein Organ geschaffen, das die Einhaltung der Konvention statisch überwacht, sondern zugleich eine Möglich6 Vgl. insoweit EKMR, Entsch. vom 09.01.1959, X. ./. Belgien, Yearbook II (1958–59), 352 (353); Entsch. vom 30.06.1959, X. ./. Schweden, Yearbook II (1958–1959), 354 (373); Entsch. vom 13.04.1961, X. ./. Belgien, CD 6, 5 ff. 7 Vgl. Europarat, Explanatory Report on Protocol No. 7, Straßburg 1985, Ziff. 6 f.

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Teil 1: Schutz des Aufenthalts in der Straßburger Rechtsprechung

keit zur richterlichen Rechtsfortbildung geschaffen. Die praktische Wirksamkeit der durch die Konvention garantierten Rechte und Freiheiten, die mal mehr, mal weniger präzise formuliert sind und sich teils – wie im Falle von Art. 8 EMRK – auf die Benennung der geschützten Rechtsgüter beschränken, baut gerade in nicht unerheblicher Weise auf richterlicher Auslegung, Konkretisierung und eben auch Fortentwicklung auf. Richterliche Rechtsfortbildung ist zudem eine in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformte und anerkannte Methode der Rechtsfindung, wovon nicht zuletzt auch das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Kompetenzen des EuGH ausgeht.8 Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Befugnis zur Rechtsfortbildung verwehren zu wollen, kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Hinzu kommt, daß sich auch entstehungsgeschichtlich nachweisen läßt, daß die Verfasser der Konvention von der Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung gerade im Hinblick auf das im Vergleich mit den übrigen Konventionsgarantien recht unbestimmte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens überzeugt waren.9 Dies bedeutet freilich nicht, daß die Rechtsprechung von Kommission und Gerichtshof zum aufenthaltsrechtlichen Schutz durch Art. 8 EMRK in allen Einzelheiten einer kritischen Betrachtung standhalten kann. Exemplarisch sei an dieser Stelle noch einmal auf die praktizierte Unterscheidung von negativen und positiven Verpflichtungen hingewiesen, die sich – mag sie auch hinsichtlich der Abgrenzungskriterien nicht so intransparent sein, wie dies manche Kommentierung im Schrifttum vermuten lassen – letztlich als grundlos und unnötig verkomplizierend erweist. Die Verweigerung des Familiennachzugs von Ausländern sollte ebenso wie aufenthaltsbeendende Maßnahmen als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK verstanden werden. Auch die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung herangezogenen Kriterien können nicht in Gänze überzeugen. Hier ist vor allem die verminderte Schutzwürdigkeit von Familien, die nach Absehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegründet werden, kritikwürdig. Erfreulich ist dem gegenüber, daß der Gerichtshof in jüngeren Urteilen aus Art. 8 EMRK über ein bloßes Aufenthaltsrecht hinaus auch Mindeststandards für Art und Umfang eines zu gewährenden Aufenthaltstitels entwickelt hat. In der Tat ist allein die Gestattung des Aufenthalts wenig hilfreich, wenn die konkreten aufenthaltsrechtlichen Bedingungen keine effektive Verwirklichung des Rechts 8 BVerfGE 75, 223 (243 f.): „Der Richter war in Europa niemals lediglich ‚la bouche qui prononce les paroles de la loi‘; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtsschöpfungen ebenso wie in jüngerer Zeit etwa in Frankreich die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts durch den Staatsrat oder in Deutschland das allgemeine Verwaltungsrecht, weite Teile des Arbeitsrechts oder die Sicherungsrechte im privatrechtlichen Geschäftsverkehr. Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof der Gemeinschaften wäre die Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt.“ 9 Vgl. dazu oben unter B. II. 2.; zusammenfassend oben unter B. III.

H. Würdigung der Rechtsprechung

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auf Achtung des Privat- und Familienlebens ermöglichen. Auch wäre vielfach eine noch stärkere Systematisierung und Konsolidierung der einzelfallsbezogenen und und nicht immer konsistenten Rechtsprechung wünschenswert. Im Ansatz ist hier ein entsprechendes Bemühen des Gerichtshofs bereits feststellbar. Alles in allem, so kann als Zwischenergebnis der vorliegenden Untersuchung formuliert werden, stellt sich die Straßburger Rechtsprechung als ausgewogen und keineswegs exzessiv dar. Kommission und Gerichtshof haben sich bemüht, die Souveränität der Konventionsstaaten auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts zu achten, ohne jedoch auf eine uneingeschränkte Geltung des durch Art. 8 EMRK gewährten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens auch im Aufenthaltsrecht zu verzichten.

Teil 2

Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

A. Grundlagen A. Grundlagen

Bevor nun die Regelungen des deutschen Aufenthaltsrechts darauf hin untersucht werden, ob sie das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 1 EMRK hinreichend sicherstellen, erscheinen einige grundlegende Vorüberlegungen angebracht, die den Zugang zur Problematik erleichtern. Dazu zählen eine überblickartige Darstellung der gesetzlichen Systematik, die Bedeutung der Grundrechte für den Schutz des Privat- und Familienlebens im Aufenthaltsrecht, namentlich die Bedeutung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG, sowie der Status von Art. 8 EMRK in der deutschen Rechtsordnung und die sich aus diesem Status ergebenden Konsequenzen.

I. Zur Systematik des Aufenthaltsrechts Das deutsche Aufenthaltsrecht hat im Laufe der Jahre stetig an Komplexität gewonnen. Zudem erweisen sich gesetzliche Regelungen als immer kurzlebiger. Gerade in jüngster Zeit ist eine zunehmende gesetzgeberische Tätigkeit auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts feststellbar, die nicht zuletzt der wachsenden Bedeutung des europäischen Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt, welches eine ständige Anpassung des deutschen Rechts verlangt. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes galt zunächst die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 fort, die erst durch das Ausländergesetz von 1965 abgelöst wurde. Es folgten das Ausländergesetz von 1990 und mit dem Zuwanderungsgesetz das heutige Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004, welches bereits mehrfach, zuletzt durch Gesetz vom 19. August 2007, Änderungen unterworfen war.1 Das Aufenthaltsgesetz bildet gleichsam das Kernelement des deutschen Aufenthaltsrechts. Sein Zweck liegt gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 AufenthG in der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik. § 4 AufenthG stellt Einreise und Aufenthalt von Ausländern grundsätzlich unter ein gesetzliches Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Ausländer bedürfen für Einreise und Aufenthalt eines Aufenthaltstitels, dessen Erteilungsvoraussetzungen im 1 Vgl. RGBl. I 1938 S. 1053; BGBl. I 1965 S. 353; I 1990 S. 1354; I 2004 S. 1950; I 2007 S. 1970.

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weiteren bestimmt werden und je nach Aufenthaltszweck variieren können. Spiegelbildlich begründet § 50 AufenthG eine gesetzliche Ausreisepflicht, wenn ein erforderlicher Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besteht. Zu beachten sind jedoch stets spezialgesetzliche Regelungen, die gegenüber dem Aufenthaltsgesetz vorrangig anwendbar sind. § 1 Abs. 2 AufenthG nimmt bestimmte Ausländergruppen von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes aus. Dazu zählen neben Personen des diplomatischen und konsularischen Verkehrs, die im folgenden vernachlässigt werden können, insbesondere freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und Staatsangehörige der EWR-Staaten sowie deren Familienangehörige, deren Status durch das Freizügigkeitsgesetz / EU geregelt wird. Hinzu kommen aufgrund der Vorrangklausel des § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG weitere spezialgesetzliche Regelungen etwa durch das Asylverfahrensgesetz und das Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet. Ausnahmevorschriften enthält zudem die zum Aufenthaltsgesetz erlassene Aufenthaltsverordnung, die bestimmte Ausländergruppen gegenüber den allgemeinen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes privilegiert, etwa gemäß §§ 15 bis 30 AufenthV vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. Überlagert wird das deutsche Aufenthaltsrecht durch zahlreiche aufenthaltsrelevante Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts, die teils Eingang in die gesetzlichen Regelungen des deutschen Aufenthaltsrechts gefunden haben, etwa durch das Freizügigkeitsgesetz / EU, teils allein aufgrund des sogenannten Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts den deutschen Regelungen vorgehen, soweit im Einzelfall eine Normenkollision besteht.2 Grundlegend sind hier in erster Linie die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, insbesondere die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, und die nicht an eine wirtschaftliche Betätigung anknüpfende, aber unter dem Vorbehalt sekundärrechtlicher Bedingungen und Beschränkungen stehende Unionsbürgerfreizügigkeit. Ein der Natur der Sache nach nur vorrübergehendes Aufenthaltsrecht kann sich zudem aus der Dienstleistungsfreiheit ergeben. Sekundärrechtlich ist das Aufenthaltsrecht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger in der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG3 ausgestaltet, welche die bislang existierenden, bereichsspezifischen Richtlinien und insoweit auch die Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG4 ersetzt. Mit dem im Jahre 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam hat die Gemeinschaft zudem umfangreiche Kompetenzen zur Regelungen des aufenthaltsrechtlichen Status von Drittstaatsangehörigen erhalten. Die noch im Vertrag von Maastricht der dritten Säule zugeordneten Themenkomplexe Visa, Asyl und Einwanderung wurden in die erste 2 Ein Überblick über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben findet sich etwa bei Harms, NordÖR 2002, 271 ff.; Kluth, ZAR 2006, 1 ff. Zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vgl. grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa ./. ENEL; von Bogdandy, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 191 ff; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 1 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2 ff. 3 ABl. EU 2004, Nr. L 229, S. 35. 4 ABl. EWG 1968, Nr. L 257, S. 2.

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Säule übertragen und sind nun dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Titel IV über die Politiken der Gemeinschaft zugeordnet. Art. 63 EG enthält einen entsprechenden Rechtssetzungsauftrag an die Gemeinschaft, der sich auf vier große Bereiche erstreckt, namentlich (1) die Rechtsstellung von Flüchtlingen und anderen Asylbewerbern, (2) weitere Maßnahmen in bezug auf Flüchtlinge und vertriebene Personen, insbesondere zur ausgewogenen Verteilung der Belastungen auf die Mitgliedstaaten, (3) einwanderungspolitische Maßnahmen unter Einbeziehung der Visaerteilung, der Regelung des langfristigen Aufenthalts und der Familienzusammenführung sowie (4) Maßnahmen zur Festlegung der Rechte und Bedingungen, aufgrund derer sich in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufhaltende Drittstaatsangehörige in anderen Mitgliedstaaten aufhalten dürfen. Die Gemeinschaft hat von diesen Kompetenzen inzwischen regen Gebrauch gemacht. Im vorliegenden Zusammenhang sind insbesondere die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG vom 22. September 20035 und die Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG vom 25. November 20056 zu nennen. Hinzukommen schließlich zahlreiche Abkommen der Europäischen Gemeinschaft mit Drittstaaten, die deren Staatsangehörigen ein den Unionsbürgern vergleichbares oder zumindest angenähertes Freizügigkeitsrecht gewähren. Dazu zählen zunächst das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992,7 das Freizügigkeitsabkommen EG / Schweiz vom 21. Juni 1999,8 sowie das Assoziierungsabkommen EWG / Türkei vom 12. September 1963,9 hier insbesondere der Beschluß Nr. 1/80 vom 19. September 198010 des auf der Grundlage des Abkommens eingerichteten Assoziationsrats. Außerdem ist auf die Europa-Mittelmeer-Abkommen zwischen der EG und den Staaten des südlichen und östlichen Mittelmeerraums hinzuweisen, wenngleich deren aufenthaltsrechtliche Bedeutung höchst umstritten ist.11

II. Zur Bedeutung der Grundrechte 1. Der Schutz von Ehe und Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG a) Dogmatische Konstruktion Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Ihrer Struktur nach erweist sich die Norm als überaus komplex; in ihr werden zugleich ein Freiheitsrecht, eine Institutsgarantie und eine wertent5 6 7 8 9 10 11

ABl. EU 2003, Nr. L 251, S. 12. ABl. EU 2004, Nr. L 16, S. 44. BGBl. II 1993 S. 266; Anpassungsprotokoll Schweiz BGBl. II 1993 S. 1294. BGBl. II 2001 S. 810. BGBl. II 1964 S. 509. Veröffentlicht in ANBA 1981, 4 ff. = InfAuslR 1982, 33 ff. Vgl. dazu ausführlich unten unter B. II. 1. e).

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scheidende Grundsatznorm gesehen.12 Als Freiheitsrecht dient Art. 6 Abs. 1 GG in klassischer Grundrechtsinterpretation als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Der Schutzbereich umfaßt, soweit es im aufenthaltsrechtlichen Kontext relevant ist, die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben.13 Als Institutsgarantie schützt Art. 6 Abs. 1 GG den Kern der Vorschriften des Ehe- und Familienrechts gegen Aufhebung oder wesentliche Umgestaltung. Sie kann außerdem verletzt sein, wenn bestimmende Merkmale des der Verfassung zugrunde liegenden Ehe- und Familienbildes mittelbar beeinträchtigt werden.14 Als wertentscheidende Grundsatznorm stellt Art. 6 Abs. 1 GG schließlich eine für das gesamte Ehe und Familie betreffende Recht verbindliche Wertentscheidung dar. Aus ihr folgt, wie es schon im Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 GG angelegt ist, die Verpflichtung des Staates, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern – ein Verfassungsauftrag, der in erster Linie den Gesetzgeber trifft, aber auch von vollziehender Gewalt und Rechtsprechung im Rahmen ihrer Gesetzesbindung zu beachten ist.15 Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, daß der spezifische Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG nicht mit der allgemeinen Schutzpflicht im Rahmen der objektiven Dimension der Grundrechte gleichgesetzt werden kann, da sich die Pflicht zum Schutz von Ehe und Familie gerade auch gegen eine Beeinträchtigung durch den Staat selbst richtet.16 Aufenthaltsschützende Wirkung soll Art. 6 Abs. 1 GG nach der – freilich nicht unumstrittenen – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allein als wertentscheidende Grundsatznorm entfalten.17 Grundlegend ist insofern der Beschluß 12 Grundlegend BVerfGE 6, 55 (71 ff.); vgl. dazu jeweils m.w.N. Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 67 ff.; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 1; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 30; Kingreen, Jura 1997, 401 ff.; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 1; Robbers, in: vMangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 8; Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 20 ff. 13 Grundlegend BVerfGE 76, 1 (42). 14 BVerfGE 76, 1 (49); 80, 81 (92); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 69 ff.; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 12 ff.; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 31; Kingreen, Jura 1997, 401 (404); Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 27 ff. 15 Grundlegend BVerfGE 6, 55 (71 ff.); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 67 f.; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 35 ff.; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 33 f.; Kingreen, Jura 1997, 401 (404 ff.); Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 3; Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 30 ff. 16 Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 35; Kingreen, Jura 1997, 401 (405). 17 Kritisch Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 64; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 93; Huber, NJW 1988, 609 (609); Kingreen, Jura 1997, 401 (404); Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 8; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 651; Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 64; Umbach, in: ders./Clemens, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 38; Zuleeg, DÖV 1988, 587 (588 f.). Soweit hier ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG angenommen wird, ist weiterhin umstritten, ob dies auch für die Versagung des Familiennachzugs gilt (bejahend Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 64; Kingreen, Jura 1997, 401 (404); Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz,

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zur baden-württembergischen Ehebestandszeitenregelung.18 Gegenstand der Verfassungsbeschwerden war (mittelbar) ein Erlaß des Landesinnenministeriums, der zur Begrenzung des Ehegattennachzugs zu in der Bundesrepublik lebenden Ausländern und insbesondere zur Bekämpfung von Scheinehen, mit denen ein Aufenthaltsrecht erschlichen werden könnte, eine nach der Eheschließung einzuhaltende dreijährige Wartefrist vor Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vorsah. Im Kern hielt das Bundesverfassungsgericht die Regelung für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG, da Scheinehen nur einen Ausnahmefall darstellten und sich die dreijährige Dauer der Wartezeit im übrigen als übermäßig erweise, selbst wenn eine generelle Bedenkzeit für die Betroffenen als legitim anzusehen sei.19 Im einzelnen sah das Bundesverfassungsgericht durch die Verweigerung des Nachzugs innerhalb der ersten drei Ehejahre zunächst den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG sowohl hinsichtlich der den Nachzug begehrenden Ausländer selbst, als auch bezüglich der bereits in der Bundesrepublik lebenden Angehörigen berührt. Im einzelnen lassen die Ausführungen hier eine deutliche Nähe zur Interpretation von Art. 8 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erkennen. Da Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie nicht nur im Interesse der individuellen Freiheit der Ehepartner und Familienangehörigen, sondern ebenso um der Freiheit des Einzelnen in der gelebten Gemeinschaft und um des Erhalts dieser Gemeinschaft willen schütze, erfasse dieser Schutz zugunsten der Gemeinschaft alle ihre Mitglieder, auch wenn die jeweilige Maßnahme der öffentlichen Gewalt nur an ein einzelnes Mitglied adressiert sei.20 Auch sei der Schutzbereich für die nachzugswilligen ausländischen Ehepartner und Familienangehörigen nicht deshalb verschlossen, weil sie noch nicht in den Hoheitsbereich der Bundesrepublik gelangt seien. Der fehlende Gebietskontakt eines Ausländers stehe der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 GG jedenfalls dann nicht entgegen, wenn er mit einer anderen Person, die ihrerseits im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik lebe, in Ehe und Familie, mithin in verfassungsrechtlich geschützter Weise verbunden sei.21 Im folgenden lehnte das Bundesverfassungsgericht einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Freiheitsrecht ab. Ein solcher könne nur dann angenommen werden, wenn Art. 6 Abs. 1 GG für ausländische Ehegatten und FaArt. 6 Rn. 8; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 651) und ob die Möglichkeit und Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland als qualitative Eingriffsvoraussetzung (so Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 64; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 8; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 651; Umbach, in: ders./Clemens, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 38) oder erst auf der Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen ist (so Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 93). 18 BVerfGE 76, 1 ff.; dazu etwa Huber, NJW 1988, 609 ff.; Hufen, JuS 1989, 488 ff.; Kimminich, JZ 1988, 355 ff.; Weides / Zimmermann, NJW 1988, 1414 ff.; Zuleeg, DÖV 1988, 587 ff. 19 BVerfGE 76, 1 (68 ff.). 20 BVerfGE 76, 1 (45). 21 BVerfGE 76, 1 (46). Mit dem Erfordernis des Gebietskontakts bezieht sich das BVerfG hier ausdrücklich auf Isensee, VVDStRL 32 (1974), 61 ff., wobei es sich dieser Auffassung nicht ausdrücklich anschließt.

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milienmitglieder einen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt begründe. Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm gäben für einen solchen Anspruch jedoch nichts her. Die gegenteilige Auffassung sei zudem mit Art. 11 GG, der ein Recht auf Zugang und Aufenthalt im Bundesgebiet nur deutschen Staatsangehörigen gewähre und Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG, der Schutz nur für politisch Verfolgte gebiete, nicht zu vereinbaren.22 Auch eine Beeinträchtigung von Ehe und Familie als verfassungsrechtlich anerkannte Institute sah das Bundesverfassungsgericht nicht, da die Bestandszeitenregelung nur einen begrenzten Personenkreis und überdies nur für eine überschaubare Zeit betreffe, so daß das Zusammenleben als prägendes Element des der Verfassung zugrundeliegenden Ehe- und Familienbildes nicht in Frage gestellt werde.23 Allerdings verstoße die dreijährige Wartezeit gegen die aus Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgende Pflicht zum Schutz und zur Förderung von Ehe und Familie. Dieser Pflicht entspreche ein Anspruch des Einzelnen darauf, daß die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen des Antragstellers an im Bundesgebiet lebende Personen hinreichend berücksichtigen.24 Die betroffenen Regelungen müßten namentlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Übermaßverbot entsprechen.25 Hinsichtlich des Prüfungsumfangs hob das Gericht hervor, daß es einerseits den Gestaltungsspielraum zu achten habe, der den zuständigen Organen bei der Erfüllung von Schutz- und Förderpflichten zukomme, andererseits aber wegen der besonderen Bedeutung des Grundrechtsguts nicht auf die Prüfung lediglich offensichtlicher Verletzungen beschränkt sei.26 Den so – zunächst allein für den Familiennachzug27 – vorgezeichneten Weg über eine staatliche Schutz- und Förderpflicht geht das Bundesverfassungsgericht inzwischen auch bei der Überprüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen am Maßstab von Art. 6 Abs. 1 GG. Während die ältere Rechtsprechung in der Formulierung vielfach nicht eindeutig ausfällt, aber zumindest teilweise im Sinne einer Schutzpflicht verstanden werden kann,28 findet sich im 80. Band die als allgemeingültig zu verstehende Aussage, daß Art. 6 Abs. 1 GG aufenthaltsrechtliche Schutzwir22

BVerfGE 76, 1 (47). BVerfGE 76, 1 (49). 24 BVerfGE 76, 1 (49). 25 BVerfGE 76, 1 (50); kritisch zur Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jenseits eines Grundrechtseingriffs Hailbronner, NJW 1983, 2105 (2109); ähnlich Gusy, DÖV 1986, 321 (327 f.). 26 BVerfGE 76, 1 (51). 27 Die Eingriffsqualität aufenthaltsbeendender Maßnahmen ließ das BVerfG ausdrücklich dahinstehen, vgl. BVerfGE 76, 1 (46). 28 Vgl. BVerfGE 19, 394 (396): Ausrichtung des behördlichen Ermessens an der „Wertordnung des Grundgesetzes“; unklar BVerfGE 35, 177 (178): Sofortiger Vollzug einer Ausweisung als „Eingriff in die persönliche Existenz“; BVerfGE 35, 382 (407 f.): Die Verfassungsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG gebietet den „Schutz der Ehe“ schon im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO „zu berücksichtigen“; BVerfGE 51, 386 (397): „staatliche Schutzpflicht“ zugunsten des Fortbestands der Ehe. 23

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kung nicht als Institutsgarantie oder Freiheitsrecht, sondern allein als wertentscheidende Grundsatznorm entfalte. Der zur Berücksichtigung familiärer Belange verpflichtende Schutzauftrag des Staates wirke auf die gesamte die Familie betreffende Rechtsordnung ein, möge sie zu Eingriffen ermächtigen, zu Leistungen und Teilhabe berechtigten oder zum Handeln, Dulden oder Unterlassen verpflichten.29 In diese Richtung weisen schließlich auch einzelne Kammerentscheidungen, in denen die Ausweisung eines Ausländers allein auf ihre Vereinbarkeit mit der aus Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgenden Schutzpflicht zugunsten von Ehe und Familie überprüft wird,30 wobei das Bundesverfassungsgericht dabei davon ausgeht, daß diese Schutzpflicht einwanderungspolitische Belange zumindest dann regelmäßig zurückdränge, wenn eine familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik gelebt werden könne.31

b) Das Ehe- und Familienbild Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, ohne selbst eine Definition von Ehe und Familie zu enthalten. Welche Strukturprinzipien diese Institute bestimmen, ergibt sich daher, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert, aus der vom Grundgesetz vorgefundenen, außerrechtlichen Lebensordnung in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen.32 Die Grundzüge lassen sich wie folgt skizzieren. Hinsichtlich der Ehe kann eine Art Wechselwirkung zwischen dem verfassungsrechtlichen Ehebegriff und der bürgerlich-rechtlichen Ehe konstatiert werden. Einerseits bedarf die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe einer einfachgesetzlichen Regelung, die ausgestaltet und abgrenzt, welche Lebensgemeinschaft als Ehe den Schutz der Verfassung genießt. Insoweit gewährleistet das Grundgesetz das Institut der Ehe nicht abstrakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu. Andererseits muß er jedoch die wesentlichen Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung von Art. 6 Abs. 1 GG an die vorgefundene Lebensform in Verbindung mit dessen Freiheitscharakter

29 30

BVerfGE 80, 81 (92 f.).

Wohl schon BVerfG (K), Beschluß vom 16.09.1992, Az. 2 BvR 1546/92 – Juris, unter Verweis auf BVerfGE 51, 386 (396 f.); ausdrücklich dann BVerfG (K), NVwZ 2000, 59 (59); 2002, 849 (849 f.); 2006, 682 (682 f.). 31 BVerfG (K), NVwZ 2000, 59 (59); 2002, 849 (849 f.); 2006, 682 (682 f.). 32 BVerfGE 10, 59 (66); BVerfGE 29, 166 (176); 31, 58 (69); 36, 146 (162); 62, 323 (330); 105, 313 (345); aus dem Schrifttum etwa Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 42; Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 17; Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 11.

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und anderen Verfassungsnormen ergeben.33 Zu diesen Strukturprinzipien des verfassungsrechtlichen Bildes der Ehe gehört, daß sie die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, die durch einen freien Willensentschluß unter Mitwirkung des Staates begründet wird und in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden.34 Nicht vom Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG erfaßt werden damit zunächst diejenigen Partnerschaften, die auf die konstitutive Mitwirkung des Staates bei der Eheschließung verzichten, also namentlich nichteheliche Lebensgemeinschaften35 und rein nach kulturellem oder religiösem Ritus geschlossene Ehen.36 Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind zudem durch das Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit aus dem Ehebegriff ausgeschlossen.37 Auch die Mehrehe ist keine Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG, sie kann jedoch unter dem Gesichtspunkt des Familienschutzes unter Art. 6 Abs. 1 GG fallen.38 Unter diesen Voraussetzungen erstreckt sich der Schutz des Grundrechts schließlich nicht allein auf die nach deutschem Recht geschlossenen Ehen. Auch eine nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehe muß nach dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG für die deutsche Rechtsordnung als Ehe behandelt werden; dies gilt jedenfalls solange, wie die Eheschließung nicht dem ordre public der deutschen Rechtsordnung widerspricht.39 Das Bundesverfassungsgericht hat im übrigen darauf hingewiesen, daß auch sogenannte hinkende Ehen, die zwar nach ausländischem Recht wirksam geschlossen, aber nach der deutschen Rechtsordnung wegen eines zwingenden Formerfordernisses nicht anerkannt werden, ebenfalls unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG fallen. Entschei33 Zum Ganzen zuletzt BVerfGE 105, 313 (345) – Lebenspartnerschaftsgesetz; vgl. außerdem BVerfGE 6, 55 (82); 9, 237 (242); 15, 328 (332); 28, 324 (361); 31, 58 (69 f., 82 f.); 36, 146 (162); 81, 1 (6 f.). 34 So zusammenfassend BVerfGE 105, 313 (345) unter Verweis auf BVerfGE 10, 59 (66); 29, 166 (176); 37, 217 (249 ff.); 39, 169 (183); 48, 327 (338); 62, 323 (330); 66, 84 (94); 103, 89 (101). 35 BVerfGE 112, 50 (65); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 55; CoesterWaltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 7; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 42; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2. 36 BVerfG (K), NJW 1993, 3316 (3317); Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2; zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Anerkennung kirchlicher Ehen vgl. einerseits Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 6 u. a.rseits SchmittKammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 14. 37 BVerfGE 105, 313 (345 f.); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 58 ff.; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 9; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 43 ff.; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2. 38 BVerfGE 29, 166 (167); 62, 323 (330); 76, 1 (41 f.); BVerwGE 71, 228 (231 f.); Antoni, in: Seifert / Hömig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 5; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 8; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2; Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 12; weitergehender Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 19; Robbers, in: vMangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 42. 39 BVerfGE 62, 323 (330 f.); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 44; CoesterWaltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 22.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

dend sei hier die Willensübereinstimmung, eine Ehe führen zu wollen.40 Ob auch eine (erweisliche) Scheinehe, die etwa zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts eingegangen wurde, vom Schutzbereich erfaßt wird, wird unterschiedlich beurteilt. Das Bundesverwaltungsgericht und wohl auch das Bundesverfassungsgericht lehnen mit der vorherrschenden Meinung im Schrifttum eine Einbeziehung in den Schutzbereich wegen des Gestaltungsmißbrauchs ab.41 Familie im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist nach der Lesart des Bundesverfassungsgerichts die umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern,42 wobei es insoweit unerheblich ist, ob es sich um eheliche oder nichteheliche,43 minderjährige oder volljährige,44 aus Ein- oder Mehrehe hervorgegangene45 oder um Adoptiv-, Stief- oder Pflegekinder46 handelt. Der verfassungsrechtliche Schutz ist jedoch auf die aus Eltern und Kindern bestehende Kleinfamilie begrenzt.47 Auch Geschwister untereinander sollen keine Familie darstellen.48 Die im Schrifttum vielfach vertretene Auffassung, auch die mehrere Generationen umfassende Großfamilie dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu unterstellen,49 hat sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzen können. Im Hintergrund der durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommen Beschränkung auf die Kleinfamilie dürfte zum einen 40 BVerfGE 31, 58 (83 ff.); 62, 323 (331); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 44; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 22; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 61. 41 BVerwGE 65, 174 (179 ff.); BVerfG (K), DVBl. 2003, 1260 (1260); Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 18 Fn. 72; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 6; Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 10; Umbach, in: ders./Clemens, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 41; a. A. wohl Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 638 f., wobei es hier vor allem um ein staatliches Ausforschungsverbot hinsichtlich der der Eheschließung zugrundeliegenden Motive zu gehen scheint. 42 Grundlegend BVerfGE 10, 55 (66); Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 60; Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 11; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 67; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 4; Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 15 f. 43 BVerfGE 18, 97 (106); 45, 104 (123); 79, 256 (267); 92, 158 (176 ff.). 44 BVerfGE 57, 170 (178). 45 BVerwGE 71, 228 (231 f.). 46 BVerfGE 18, 97 (106); 68, 176 (187); 79, 256 (267); 80, 81 (90). 47 BVerfGE 48, 327 (339); BVerfGE 59, 52 (63); unklar BVerfGE 49, 168 (184); für ein Beschränkung auf die Kleinfamilie auch Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 60; Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 20; G. Kirchhof, AöR 129 (2004), 542 (549 ff.); Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 16. 48 BVerwG, NVwZ 1994, 382 (385); Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 20; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 4; a. A. Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 11; Robbers, in: vMangoldt / Klein / Starck, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 20. 49 Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 11; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 77; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 4; Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 21; Robbers, in: vMangoldt / Klein / Starck, Art. 6 Rn. 88.

A. Grundlagen

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der sich aus dem normativen Kontext erschließende Sinn des Familienschutzes, namentlich der besondere Schutz der Entwicklung des Kindes und der Erziehungsgemeinschaft mit den Eltern, zu sehen sein; zum anderen dürften dort auch pragmatische Überlegung ihren Platz haben, wonach der besondere Schutz der Familie im Konkreten zu verflachen droht, wenn der Kreis der Grundrechtsberechtigten auf die Großfamilie erstreckt wird.50 Seit der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Aufenthaltsrecht bei Erwachsenenadoption im 80. Band wird zudem zwischen der Familie als „Lebens- und Erziehungsgemeinschaft“, der Familie als „Hausgemeinschaft“ und der Familie als bloßer „Begegnungsgemeinschaft“ unterschieden. Die Begriffe beschreiben letztlich in typisierender Form die verschiedenen Entwicklungsphasen einer aus Eltern und Kindern bestehenden Gemeinschaft und ordnen ihnen einen der Intensität nach abgestuften Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG zu. Dieser Schutz gilt zuvörderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, da die leibliche und seelische Entwicklung der heranwachsenden und schutzbedürftigen Kinder in der Familie und der elterlichen Erziehung eine wesentliche Grundlage findet. Mit wachsender Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Kindes tritt die Verantwortlichkeit und das Sorgerecht der Eltern zurück, so daß die Lebensgemeinschaft zur bloßen Hausgemeinschaft wird, die die Gemeinsamkeiten des Zusammenwohnens wahrt, jedem Mitglied der Familie im übrigen aber die unabhängige Gestaltung seines Lebens überläßt. Mit der Auflösung der Hausgemeinschaft kann sich die Familie schließlich zur bloßen Begegnungsgemeinschaft wandeln, bei der Eltern und Kinder nur den gelegentlichen Umgang pflegen, die Familie aber gleichwohl Raum für Ermutigung und Zuspruch bietet.51 In aufenthaltsrechtlicher Hinsicht folgt daraus, daß Art. 6 Abs. 1 GG regelmäßig nicht Gewährung eines Aufenthaltsrechts für einen Ausländer verlangt, wenn die angestrebte oder gelebte Gemeinschaft eine reine Begegnungsgemeinschaft darstellt, die durch wiederholte Besuche, durch Briefund Telefonkontakte sowie durch Zuwendungen aufrechterhalten werden kann.52 Besteht dagegen eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück.53 Es verbietet sich hier jedoch eine schematische Qualifizierung familiärer Beziehungen. Erforderlich ist, daß die familiären Bindungen eines Ausländers an eine in der Bundesrepublik lebende Person entsprechend 50 So zuletzt ausführlich G. Kirchhof, AöR 129 (2004), 542 (549 ff.); zur Interpretation von Art. 6 GG aus der Perspektive des Schutzes der Kinder vgl. auch Di Fabio, NJW 2003, 993 (994). 51 BVerfGE 80, 81 (90 f.); vgl. dazu auch Coester-Waltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 35; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 73; Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 15 ff.; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 5.; Wolff, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Anhang zu Art. 6 Rn. 30. 52 BVerfGE 80, 81 (94); Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 15 f.; Wolff, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Anhang zu Art. 6 GG Rn. 34. 53 BVerfG (K), InfAuslR 1993, 10 (11); NVwZ 2002, 849 (850); DVBl. 2006, 247 (247).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

dem tatsächlichen Gewicht dieser Bindungen berücksichtigt werden.54 So kann Art. 6 Abs. 1 GG im Verhältnis zwischen erwachsenen Familienmitgliedern aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung entfalten, wenn eines der Familienmitglieder auf die Lebenshilfe des anderen angewiesen ist, die Familie also im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt.55 Andererseits kann ein aufenthaltsrechtlicher Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG nicht erforderlich sein, wenn zwar zwischen erwachsenen Familienmitgliedern eine Lebensgemeinschaft geführt werden soll, aber keine Lebensverhältnisse bestehen, die einen über die Aufrechterhaltung der Begegnungsgemeinschaft hinausgehenden familienrechtlichen Schutz angezeigt erscheinen lassen.56

c) Die Bedeutung von Art. 6 Abs. 2 bis 4 GG Die unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie bereits unter Art. 6 Abs. 1 GG fallende Eltern-Kind-Beziehung wird auch durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützt, wonach die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht darstellt. Aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die eine Trennung vom Kind bewirken, lösen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine aufenthaltsrechtliche Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 2 GG aus. Diese soll jedoch nicht weiter reichen als der Schutz von Ehe und Familie durch Abs. 1.57 In der Rechtsprechungspraxis wird bei das Eltern-KindVerhältnis betreffenden Maßnahmen daher regelmäßig Art. 6 Abs. 1 und 2 GG zusammen zitiert.58 Abs. 3 und 4 entfalten grundsätzlich keine aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung, da aufenthaltsrechtliche Maßnahmen den Schutzbereich nicht berühren.59 Allenfalls wird Abs. 4 ein Abschiebungsverbot entnommen, wenn eine bevorstehende Geburt die Vollstreckung der Ausreisepflicht einer Schwangeren unmöglich macht.60

54 BVerfG (K), NVwZ 1997, 479 (479); 2000, 59 (59); 2002, 849 (850); DVBl. 2006, 247 (248); Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 16. 55 BVerfGE 80, 81 (95); Wolff, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Anhang zu Art. 6 GG Rn. 34. 56 BVerfGE 80, 81 (94). 57 BVerfGE 76, 1 (48). 58 Vgl. etwa BVerfG (K), NVwZ 2000, 59 (60); 2002, 849 (849); 2006, 682 (682). 59 BVerfGE 76, 1 (48). 60 So Wolff, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Anhang zu Art. 6 Rn. 14.

A. Grundlagen

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2. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG Auch dem durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts partiell aufenthaltsrechtsschützende Wirkung zu.61 Grundsätzlich ist zwischen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber bereits in der Bundesrepublik lebenden Ausländern und der Verweigerung von Einreise und Aufenthalt für einreisewillige Ausländer zu unterscheiden. Bereits im 35. Band sah das Bundesverfassungsgericht in der Ausweisung eines Ausländers, sowohl einen Eingriff als auch – im konkreten Fall – eine Verletzung der aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Handlungsfreiheit. Diese stehe als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern in der Bundesrepublik zu. Die Beschränkung des aus Art. 11 GG folgenden Freizügigkeitsrechts auf Deutsche und auf das Bundesgebiet stehe dem nicht entgegen. Der aus Art. 2 Abs. 1 GG folgende Schutz sei jedoch nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet, so daß der Gesetzgeber grundsätzlich zu Regelungen über den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern befugt sei. Dabei habe er selbstverständlich das Rechtsstaatsprinzip und daraus folgend insbesondere den Bestimmtheitsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten.62 Dieser Grundsatz wurde in der Folge mehrfach bestätigt63 und über den Fall der Ausweisung hinaus auch auf die Nichtverlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung gegenüber einem in der Bundesrepublik lebenden Ausländer erstreckt.64 Das Bundesverfassungsgericht rekurrierte hier ergänzend auf den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz des Vertrauensschutzes, der das ausländerbehördliche Ermessen beschränke, wenn ein Ausländer aufgrund einer wiederholt erteilten, nicht im engeren Sinne zweckgebundenen Aufenthaltserlaubnis berechtigterweise von einem auch künftigen Aufenthalt in der Bundesrepublik ausgehen könne.65 Anders gelagert sieht das Bundesverfassungsgericht die Konstellationen, in denen Ausländer (erstmalig) Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik begehren. Art. 2 Abs. 1 GG begründe keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt.66 Eine ausdrückliche Begründung für diese Annahme liefert das Gericht nicht, wohl

61 Einen Überblick bietet Wolff, in: Umbach / Clemens, Grundgesetz, Anhang zu Art. 6 Rn. 38 ff. 62 BVerfGE 35, 382 (399). Vor diesem Hintergrund erweist sich die Ablehnung eines Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG durch das BVerfG als widersprüchlich. Letztlich dürfte sich das BVerfG wohl auch mit Blick auf die vorbehaltslose Garantie des Art. 6 Abs. 1 GG zu einem Rekurs auf die wertentscheidende Grundsatznorm entschieden haben. 63 BVerfGE 50, 166 (175); 76, 1 (71); 80, 81 (96); zuletzt mit besonderem Nachdruck BVerfG (K), NVwZ 2007, 1300 (1300). 64 BVerfGE 49, 168 (184). 65 BVerfGE 49, 168 (185 f.). 66 BVerfGE 76, 1 (72), 80, 81 (96).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

aber könnte der Hinweis darauf, daß das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG bislang allein auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik angewandt habe,67 im Sinne der Schwellentheorie verstanden werden, nach der die Geltung von Grundrechten gegenüber Ausländern einen Gebietskontakt zum Hoheitsgebiet der Bundesrepublik voraussetzt.68 Im Fall des Familiennachzugs berühre die Verweigerung von Einreise und Aufenthalt auch nicht die aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Rechte der in der Bundesrepublik lebenden Ehegatten oder Familienangehörigen. Deren Aufenthaltsrecht sei ihnen als Einzelpersonen erteilt worden und werde durch die Verweigerung von Einreise und Aufenthalt gegenüber den nachzugswilligen Angehörigen nicht berührt.69 Allein tatsächliche Anreize, nun ihrerseits die Bundesrepublik zu verlassen, um im Ausland ein gemeinsames Ehe- und Familienleben zu führen, unterfielen als nichtrechtliche und nicht gezielte Einwirkungen nicht dem Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG.70 Bei der Abgrenzung zwischen in Art. 2 Abs. 1 GG eingreifenden aufenthaltsbeendenden Maßnahmen und der nicht vom Schutzbereich umfaßten Verweigerung von Einreise und Aufenthalt, ist behutsam vorzugehen. Wie schon die Qualifizierung einer Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis als aufenthaltsbeendende Maßnahme zeigt, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht nicht an der einfachgesetzlichen Rechtslage – also Eingriff bei Abwehr eines Hoheitsakts, kein Eingriff bei Begehren eines Hoheitsakts. Vielmehr kommt es darauf an, ob ein Ausländer bereits einen dem Grundsatz nach festen Aufenthaltstatus in der Bundesrepublik erlangt hat. Das ist unzweifelhaft nicht der Fall, wenn sich ein Ausländer noch im Ausland befindet, also noch keinen Gebietskontakt mit der Bundesrepublik hergestellt hat. Dem gleichgestellt werden aber auch Ausländer, die allein mit einem Besuchersichtvermerk eingereist sind und sich vom Boden der Bundesrepublik aus um eine Aufenthaltsrecht bemühen. Der begehrte Aufenthalt unterscheidet sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nach Zweck und Dauer von der bisherigen Anwesenheit.71

III. Zum Status von Art. 8 EMRK in der deutschen Rechtsordnung Die Europäische Menschenrechtskonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Als solcher bindet sie die Bundesrepublik gegenüber ihren Vertragspartnern. Gleichwohl ist die zentrale vertragliche Verpflichtung ihrer Schutzrichtung nach drittbezogen. Art. 1 EMRK bestimmt: „Die Hohen Vertragsparteien sichern allen Ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten 67 68 69 70 71

BVerfGE 76, 1 (72). Isensee, VVDStRL 32 (1974), 49 (80). BVerfGE 76, 1 (71). BVerfGE 76, 1 (72). BVerfGE 76, 1 (71).

A. Grundlagen

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Rechte und Freiheiten zu.“ Darin liegt nicht nur eine Verpflichtung, die durch die Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zu verschaffen; vielmehr gelten sie völkerrechtlich unmittelbar zugunsten der Berechtigten.72 Diese unmittelbare Wirkung ist jedoch grundsätzlich auf die Geltendmachung vor den Konventionsorganen beschränkt, sofern die Mitgliedstaaten die Garantien der Konvention nicht in ihr innerstaatliches Recht aufnehmen.73

1. Die Perspektive der Konvention Die Konvention selbst verhält sich zur Frage ihres innerstaatlichen Geltungsanspruchs indifferent. Sie überläßt es den Mitgliedstaaten, wie sie ihrer Verpflichtung aus Art. 1 EMRK nachkommen.74 Eine Inkorporation der Rechte und Freiheiten in das jeweilige nationale Recht ist dazu nicht erforderlich,75 auch wenn der Gerichtshof darin ein besonders treues Bekenntnis zur Konvention erblickt.76 Daraus folgt zugleich, daß die Konvention nicht gebietet, die durch sie garantierten Rechte und Freiheiten mit einem bestimmten Rang in das nationale Recht aufzunehmen. Den Mitgliedstaaten steht es somit frei die Konvention mit dem Rang eines einfachen Gesetzes, mit übergesetzlichem Rang oder gar mit Verfassungsrang in das nationale Recht zu inkorporieren oder ihren völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen allein durch eine entsprechende Ausgestaltung des nationalen Rechts zu entsprechen.77

72 EGMR, Urt. vom 29.04.1976, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 25 (Ziff. 239); Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 1 Rn. 2; Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Art. 1 Rn. 11. 73 Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 1 Rn. 2. 74 EGMR, Urt. vom 06.02.1976, Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden, Serie A 20 (Ziff. 50); zuletzt EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 90): „The Convention does not lay down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of the Convention.“ 75 EGMR, Urt. vom 25.03.1983, Silver u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 61 (Ziff. 113); Urt. vom 21.02.1986, James u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 98 (Ziff. 84); Urt. vom 08.07.1986; Lithgow u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 102 (Ziff. 205); Urt. vom 26.11.1991, Observer and Guardian ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 216 (Ziff. 76); Urt. vom 26.11.1991, Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Serie A 217 (Ziff. 61). 76 EGMR, Urt vom 29.04.1976, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 25 (Ziff. 239). 77 Vgl. Frowein, in: ders./Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 1 Rn. 2; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 405; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 1; ders., VVDStRL 60 (2000), 290 (307); Meyer-Ladewig, HK-EMRK, Einleitung Rn. 29; Ovey / White, European Convention, S. 14 ff.; Pache, EuR 2004, 393 (396 ff.); zu der frühen, durch das Inkrafttreten der Konvention ausgelösten Debatte vgl. Partsch, Rechte und Freiheiten, S. 37 ff. m.w.N.; kritisch zur Rechtsprechung jüngst Chryssogonos, EuR 2001, 49 (51 ff.).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

2. Die Perspektive des deutschen Rechts a) Die Konvention als Bundesgesetz Der Deutsche Bundestag hat der Europäischen Menschenrechtskonvention durch förmliches Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt.78 Damit hat er sie zugleich – wie es das Bundesverfassungsgericht im Görgülü-Beschluß ausdrückt – in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt.79 Wie andere über Art. 59 Abs. 2 GG transformierte völkerrechtliche Verträge auch gilt die Europäische Menschenrechtskonvention damit innerhalb der deutschen Rechtsordnung nach allgemeiner Auffassung im Range des Zustimmungsgesetzes als einfaches Bundesgesetz.80 Das Zustimmungsgesetz selbst bekräftigt dies ausdrücklich: „Die Konvention wird nachstehend mit Gesetzeskraft veröffentlicht.“81 Vereinzelte Versuche, einen übergesetzlichen Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention zu konstruieren, haben sich nicht durchsetzen können.82 Was folgt daraus nun für den Rechtsanwender? Durch die Rangzuweisung als einfaches Bundesgesetz ist die Konvention in den Vorrang des Gesetzes einbezogen.83 Behörden und Gerichte haben die Konvention daher wegen ihrer Bindung an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden.84 Was in dieser Formulierung des Bundesverfassungsgerichts selbstverständlich klingt, weist jedoch bei näherer Betrachtung konstruktive Schwierigkeiten auf. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo es die Grenzen des methodisch Vertretba78 Artikel I des Gesetzes vom 07.08.1952, BGBl. 1952 II S. 685. Nach Hinterlegung der erforderlichen Zahl von Ratifikationsurkunden ist die Konvention am 3. September 1953 für die Bundesrepublik in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 15.12.1953, BGBl. 1954 II S. 14; Neubekanntmachung in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl. 2002 II S. 1054). 79 BVerfGE 111, 307 (316 f.) – Görgülü. Zu dem dieser Aussage zugrundeliegenden dualistischen Verständnis von der Beziehung zwischen Völkerrecht und nationalem Recht, zu dem sich das BVerfG nun deutlich bekannt hat (ebenda S. 318), und zu der sich daran anschließenden rechtsdogmatischen Deutung des Zustimmungsgesetzes (Transformations- oder Vollzugstheorie) vgl. Klein, JZ 2004, 1176 (1176); Pernice, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 59 Rn. 47; allgemein: Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 12 f. und S. 171 ff.; Kunig, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, 2. Abschn. Rn. 28 ff.; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 23 ff., 418 ff. und 441 ff. 80 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317); aus dem Schrifttum etwa: Bernhardt, EuGRZ 1996, 339 (339); ders., in: HbStR VII, § 174 Rn. 29; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 6; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 6; ders., VVDStRL 60 (2000), 290 (305 f.); Langenfeld, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz, S. 95 (95); Pache, EuR 2004, 393 (398). 81 Artikel II des Gesetzes vom 07.08.1952, BGBl. II 1952 S. 685. 82 Vgl. überblicksartig Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 7. Insbesondere wird hier eine Einbeziehung der EMRK als zwischenstaatliche Einrichtung über Art. 24 GG vorgeschlagen, vgl. Everling, EuR 2005, 411 (416 ff.). 83 BVerfGE 111, 307 (325 f.) – Görgülü. 84 BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü.

A. Grundlagen

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ren zu ermitteln gilt. Als Bundesgesetz steht die Konvention normhierarchisch im selben Rang wie anderes Gesetzesrecht des Bundes auch, genießt also keine natürliche Vorrangstellung. Eine Normenkollision ist vielmehr anhand der anerkannten Kollisionsregeln „lex posterior derogat legi priori“ und „lex specialis derogat legi generali“ zu lösen.85 Das hat zur Konsequenz, daß – zumindest in der Theorie – ein später erlassenes Bundesgesetz die Konvention verdrängen oder aber ein früheres, dafür aber gegenüber der Konvention spezielleres Gesetz vorrangig anwendbar sein kann.86 Man mag von Glück sprechen, wenn die Praxis von diesen Konsequenzen der Rangzuweisung nur wenig Kenntnis nimmt,87 dogmatisch unbefriedigend ist dies gleichwohl. Auch die im Schrifttum vorgeschlagenen Lösungswege, in der Konvention ein für Menschenrechtsfragen spezielleres und damit im Regelfall nicht verdrängtes Gesetz zu sehen oder später erlassene Bundesgesetze nach Möglichkeit in dem Sinne auszulegen, daß die Konvention als älteres Gesetz nicht überschrieben werden soll,88 können dieses Dilemma nicht in Gänze beseitigen. Sie verlagern die Problematik auf den konkreten Einzelfall einer Normenkollision, wo das Vorrangverhältnis jeweils erneut und abhängig von der Ausgestaltung der betroffenen Regelungen mit den Mittel juristischer Auslegungsmethodik zu bestimmen ist. Auch das Bundesverfassungsgericht geht insofern davon aus, daß die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht genießt.89

b) Die Konvention als Auslegungsmaßstab Um so bedeutungsvoller ist damit eine zweite, wenn auch nur mittelbare Einwirkungsmöglichkeit der konventionsrechtlichen Garantien auf das deutsche Recht. Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Konvention einen Auslegungsmaßstab für die Interpretation des einfachen Rechts sowie des Grundgesetzes selbst, namentlich der Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien.90 In zwei Entscheidungen – dem Beschluß zur Unschuldsvermutung im Privatklageverfahren im 85 Vgl. zu diesen Kollisionsregeln Heckmann, Geltungskraft, S. 158 ff.; Konzelmann, Rechtsbereinigung, S. 211 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 6; Wolff / Bachof / Stober / Kluth, Verwaltungsrecht I, § 27 Rn. 9. 86 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa BVerwG 111, 200 (210), wo von einer Anwendung der Lex-Posterior-Regel auch zulasten völkerrechtlicher Verträge ausgegangen wird; aus dem Schrifttum vgl. Bernhardt, EuGRZ 1996, 339 (339); ders., in: HbStR VII, § 170 Rn. 29; Frowein, in: HbStR VII, § 180 Rn. 6; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 176; Klein, JZ 2004, 1176 (1176); Pache, EuR 2004, 393 (398); Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 447; Tomuschat, in: HbStR VII, § 172 Rn. 35. 87 So Bernhardt, EuGRZ 1996, 339 (339). 88 Vgl. Bernhardt, in: HbStR VII, § 174 Rn. 29; Frowein, in: HbStR VII, § 180 Rn. 6; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 177, 405; Tomuschat, in: HbStR VII, § 172 Rn. 35. 89 BVerfGE 111, 307 (329) – Görgülü. 90 Vgl. dazu auch Frowein, in: HbStR VII, § 180 Rn. 6; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 6; ders., VVDStRL 60 (2000), 290 (305 f.); Pache, EuR 2004, 393 (400 f.).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

74. Band und dem Beschluß zum Umgangsrechtsstreit Görgüglü im 111. Band – hat sich das Bundesverfassungsgericht grundlegend zu diesem Aspekt einer konventionskonformen Harmonisierung des nationalen Rechts geäußert, wobei allerdings beide Entscheidungen teils divergierende Begründungsansätze enthalten und einige ungeklärte Fragen hinterlassen. Zur konventionskonformen Auslegung einfacher Gesetze rekurriert das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 74, 358 maßgeblich auf eine grundsätzliche Vermutung dahingehend, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet habe, nicht von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wolle. Daher seien einfache Gesetze, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden seien als ein geltender völkerrechtlich Vertrag, im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik auszulegen und anzuwenden.91 In BVerfGE 111, 307 findet sich ein solcher Rekurs auf eine allgemeine Vermutungsregel zugunsten der Konventionskonformität einfachen Gesetzesrechts nicht, auch wenn das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf seinen Beschluß zur Unschuldungsvermutung im Privatklageverfahren noch einmal betont, daß das nationale Recht unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen sei. Zur Begründung stützt sich das Bundesverfassungsgericht hier offenbar auf eine durch das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht aller staatlichen Organe und damit auch der zur Gesetzesauslegung berufenen Gerichte, die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Entscheidungen des Gerichtshofs zu berücksichtigen.92 Die durch das Zustimmungsgesetz in das Bundesrecht übernommene Verpflichtung der Vertragsparteien, gemäß Art. 13 EMRK eine innerstaatliche Instanz zu schaffen, bei der die betroffene Person eine wirksame Beschwerde gegen ein bestimmtes staatliches Handeln einlegen kann, reiche bereits in die institutionelle Gliederung der Staatlichkeit hinab und sei damit nicht auf die zum auswärtigen Handeln berufene Exekutive begrenzt. Auch eine nach Art. 52 EMRK gebotene wirksame Anwendung aller Bestimmungen der Konvention im innerstaatlichen Recht sei in einem durch den Grundsatz der Gewaltenteilung geprägten Rechtsstaat nur dann möglich, wenn alle Träger hoheitlicher Gewalt an die Gewährleistungen der Konvention gebunden werden.93 Im einzelnen hänge die Bindungswirkung vom jeweiligen Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab. Verwaltungsbehörden und Gerichte könnten sich einerseits nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Gerichtshofs von ihrer Bin91

BVerfGE 74, 358 (370).

92

BVerfGE 111, 307 (324): „Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, daß die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozeß des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen (vgl. BVerfGE 74, 358 [370])“. 93

BVerfGE 111, 307 (323).

A. Grundlagen

223

dung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG lösen, andererseits gehöre aber zur Bindung an Recht und Gesetz die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung.94 Beide Begründungsansätze sind nicht unproblematisch. Das gilt insbesondere für die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Vermutungsregel. Zum einen kann diese eine konventionskonforme Auslegung einfachen Gesetzesrechts, wenn überhaupt dann allein hinsichtlich nach Inkrafttreten der Konvention erlassener Gesetze rechtfertigen. Bei Gesetzen, die vor Inkrafttreten der Konvention erlassen wurden, kann kaum unterstellt werden, daß der Gesetzgeber bereits erst später eingegangene völkervertragsrechtliche Verpflichtungen antizipiert hat. Zum anderen begegnet die Vermutungsregel als solche denselben Bedenken, die gegen eine entsprechende Begründung der sogenannten verfassungskonformen Auslegung geäußert wurden. Auch hier hatte das Bundesverfassungsgericht ursprünglich vermutet, daß der Gesetzgeber im Zweifel kein verfassungswidriges Gesetzesrecht schaffen wolle.95 Angesichts der in der Praxis auftretenden Fälle verfassungswidriger Gesetze und dem in der Einrichtung des Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck kommenden Mißtrauen des Grundgesetzes gegenüber dem Gesetzgeber, ist eine solche Vermutung aber sowohl rechtlich als auch faktisch weitgehend entkräftet.96 Sinngemäß kann dasselbe sicher auch für die Treue des Gesetzgebers gegenüber seinen völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen behauptet werden. Schon eher überzeugen kann da die vom Bundesverfassungsgericht im Görgülü-Beschluß entwickelte Bindung aller Staatsgewalten an die Europäische Menschenrechtskonvention, die eine Inpflichtnahme der Rechtsprechung beinhaltet, einfaches Gesetzesrecht nach Möglichkeit so auszulegen, daß ein Konventionsverstoß vermieden wird. Unklar bleibt allerdings, worin das Bundesverfassungsgericht die rechtliche Grundlage für eine solche Pflicht zur konventionskonformen Auslegung sieht.97 Der Textzusammenhang legt nahe, daß hier an das Zustimmungsgesetz zur Konvention gedacht wird,98 ein Lösungsweg, 94

BVerfGE 111, 307 (323). BVerfGE 2, 266 (282). 96 Vgl. zur Kritik am Ansatz des BVerfG Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24 f.; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 21 f.; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 92 ff; Haak, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 184 ff.; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 97 f.; jüngst Lüdemann, JuS 2004, 27 (29) und Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (182). 97 Die Bezugnahme auf die sog. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes bezieht sich entgegen Meyer-Ladewig / Petzold, NJW 2005, 15 (15) allein auf die Auslegung des Grundgesetzes selbst. 98 Vgl. BVerfGE 111, 307 (325): „Da die Europäische Menschenrechtskonvention – in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – im Range eines förmlichen Bundesgesetzes gilt, ist sie in den Vorrang des Gesetzes einbezogen und muß insoweit von der rechtsprechenden Gewalt beachtet werden.“; vgl. auch ebenda S. 331: „Alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind […] an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden.“ (Hervorhebungen durch den Verf.). 95

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

dem zumindest für die Auslegung gleichrangigen Bundesrechts durch die LexPosterior-Regel Grenzen gesetzt sind. Wie bei der unmittelbaren Anwendung der Konvention als Bundesgesetz müßte auch hier in jedem Einzelfall dargelegt werden, daß ein später erlassenes Bundesgesetz die Konvention nicht überschreibt. Auch eine konventionskonforme Auslegung später geschaffenen Gesetzesrechts in dem Sinne, daß die Konvention nicht verdrängt werden soll, ist denklogisch ausgeschlossen, würde damit doch eine Pflicht zur konventionskonformen Auslegung unterstellt, deren Geltung gerade nachzuweisen ist. Von der Normenhierarchie aus gedacht wird eine taugliche Grundlage für eine generelle Pflicht zur konventionskonformen Auslegung einfachen Gesetzesrechts daher allein übergesetzlich gefunden werden können. Hinsichtlich der konventionskonformen Auslegung des Grundgesetzes sei angemerkt, daß das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 74, 358 zunächst ohne nähere Begründung entschied, daß bei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen seien, sofern dies nicht zu einer von der Konvention selbst nicht gewollten Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führe.99 In BVerfGE 111, 307 rechtfertigt es so dann die Heranziehung des Konventionstextes und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien des Grundgesetzes mit einem Verweis auf die sogenannte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.100 Diese entnimmt das Bundesverfassungsgericht einer Gesamtschau der das Völkerrecht betreffenden Vorschriften des Grundgesetzes, wonach die deutsche Verfassung darauf ziele, die Bundesrepublik als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen und daher nach Möglichkeit so auszulegen sei, daß ein Konflikt mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik nicht entstehe.101 99

BVerfGE 74, 358 (370). BVerfGE 111, 307 (317 f.) – Görgülü. Zur sog. Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes vgl. bereits BVerfGE 6, 309 (362 f.); aus dem Schrifttum etwa Bleckmann, DÖV 1979, 308 ff.; ders., DÖV 1996, 137 ff.; Sommermann, AöR 114 (1989), 391 (414 ff.); Tomuschat, in: HbStR VII, § 172, insbesondere Rn. 27 ff. 101 BVerfGE 111, 307 (318). Wörtlich heißt es: „Das Grundgesetz hat die deutsche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 S. 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Es hat zudem die Möglichkeit der Einfügung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit eröffnet (Art. 24 Abs. 2 GG), den Auftrag zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit erteilt (Art. 24 Abs. 3 GG) und die Friedensstörung, insbesondere den Angriffskrieg, für verfassungswidrig erklärt (Art. 26 GG). Mit diesem Normenkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die Bundesrepublik Deutschland als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen […].“ 100

A. Grundlagen

225

Auch wenn damit offenbar ein verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für eine Pflicht zur konventionskonformen Auslegung gesucht wird, bleibt doch deren eigentliche rechtliche Grundlage hinter dem Wort von der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes undeutlich. Die Ausrichtung der Bundesrepublik auf die völkerrechtliche Staatengemeinschaft vermag für sich genommen noch nicht hinreichend zu begründen, warum die Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien des Grundgesetzes im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegen sind. Bemerkenswert ist insoweit, daß das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle präziser formuliert und insbesondere in Art. 1 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für eine verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen, erblickt.102 Art. 1 Abs. 2 GG weist dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zu; Art. 59 Abs. 2 GG ist die verfassungsrechtliche Grundlage zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Das Bundesverfassungsgericht scheint damit an den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Menschenrechtskonvention selbst anzuknüpfen, um daraus innerstaatlich eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Berücksichtigung der Konvention bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes abzuleiten. Dieser Ansatz könnte sich auch hinsichtlich der konventionskonformen Auslegung einfachen Rechts als weiterführend erweisen.

c) Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch kurz auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der innerstaatlichen Verwirklichung der Konventionsgarantien eingegangen. Aus der Rangzuweisung als Bundesgesetz folgt, daß die Konvention keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab darstellt, ein Beschwerdeführer insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Konvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen kann.103 Gleichwohl können die Konventionsgarantien auf verschiedenen Wegen zumindest mittelbar auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde relevant werden. Zu denken ist hier zunächst an eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch eine die Bedeutung der Konventionsgarantien verkennende fachgerichtliche Entscheidung. Auch wenn die Auslegung eines einfachen Gesetzes und seine Anwendung 102 BVerfGE 111, 307 (329): „Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen […].“ 103 BVerfGE 10, 271 (274); 34, 384 (395); 41, 126 (149); 74, 102 (128); 111, 307 (317).

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auf den einzelnen Fall grundsätzlich Sache der Fachgerichte und damit einer auf die Prüfung sogenannten spezifischen Verfassungsrechts beschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist, behält sich das Bundesverfassungsgericht vor, fachgerichtliche Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt des in Art. 3 Abs. 1 GG verorteten Willkürverbots zu überprüfen.104 Auch für eine fehlerhafte Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch ein Fachgericht hat das Bundesverfassungsgericht den Rechtsweg über eine auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützte Urteilsverfassungsbeschwerde vorgezeichnet.105 Daß einer Beachtung der Konvention durch die Fachgerichte schon einfachgesetzlich der Lex-Posterior-Grundsatz entgegenstehen kann, muß hier nicht zu einer Einschränkung der Willkürkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht führen, wenn sich (unabhängig vom Zustimmungsgesetz zur Konvention) eine generelle Pflicht der Fachgerichte zur konventionskonformen Auslegung einfachen Gesetzesrechts begründen ließe.106 Allerdings liegen die Hürden für einen Verstoß gegen das Willkürverbot hoch. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Vielmehr verlangt das Bundesverfassungsgericht, daß ein Richterspruch unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß er auf sachfremden Erwägungen beruht.107 Ein prozessualer Anknüpfungspunkt zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde kann weiterhin darin gesehen werden, daß eine gegen Bundesrecht – nämlich das über Art. 59 Abs. 2 GG in den Vorrang des Gesetzes einbezogene Völkervertragsrecht – verstoßende fachgerichtliche Entscheidung den Beschwerdeführer zwangsläufig auch in seinen jeweils einschlägigen Grundrechten, zumindest aber in Art. 2 Abs. 1 GG, verletzt.108 Zwar ist das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich auf eine Prüfung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt; es nimmt jedoch seit der Eurocontrol-Entscheidung hinsichtlich der richtigen Auslegung und Anwendung von Völkervertragsrecht durch die Fachgerichte einen erweiterten Prüfungsmaßstab

104 Vgl. etwa BVerfGE 4, 1 (7); 11, 343 (349); 81, 132 (137); 82, 159 (194); 86, 59 (62 f.); 87, 273 (278 f.); aus dem Schrifttum statt vieler Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Rn. 396 f.; Düwel, Kontrollbefugnisse, S. 160 ff.; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 3 Rn. 61; Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 186 ff.; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 299 ff. 105 Wohl erstmals BVerfGE 64, 135 (157); dazu Frowein, in: FS-Zeidler II, S. 1763 (1766 ff.); vgl. aus der folgenden Rspr. BVerfGE 74, 102 (128); BVerfG (K), Beschluß vom 19.02.1998, Az. 2 BvR 1888/97, Juris (Ziff. 9); BVerfG (K), NVwZ 2004, 852 (853); BVerfGE 111, 307 (328). 106 In diese Richtung auch Frowein, in: FS-Zeidler II, S. 1763 (1768). 107 So die Formulierung in BVerfGE 87, 273 (278); vgl. dazu jeweils m.w.N. Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 186; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 1185 f.; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 299. 108 Zu dieser Konstruktion bereits BVerfG, ZaöRV 46 (1986), 287 ff. mit Anm. Frowein; vgl. außerdem Frowein, in: FS-Zeidler II, S. 1763 (1770 f.); Grabenwarter, VVDStRL 60 (2000), 290 (306 f.).

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an.109 Das Bundesverfassungsgericht sieht sich zu dieser erweiterten Prüfung berufen, um Verletzungen des Völkerrechts, die in einer fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen.110 Dieser Ansatz zur Einbeziehung der Konventionsgarantien in die verfassungsgerichtliche Prüfung klingt auch im Görgülü-Beschluß an, wenn das Bundesverfassungsgericht in teils kryptisch anmutender Formulierung feststellt, daß ein Beschwerdeführer gestützt auf das einschlägige Grundrecht, die Mißachtung oder Nichtberücksichtigung einer Entscheidung des Gerichtshofs in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht rügen könne, wobei das Grundrecht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips verankerten Vorrang des Gesetzes stehe.111 Diese Konstruktion kann schließlich durch eine dritte, hinsichtlich des dogmatischen Ansatzes zu unterscheidende Einwirkungsmöglichkeit der Konvention auf die Prüfung einer Verfassungsbeschwerde überlagert werden. Spezifisches und damit im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde überprüfbares Verfassungsrecht verletzt ein Fachgericht auch, wenn es bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts den Einfluß der Grundrechte grundlegend verkennt, also das einschlägige Grundrecht übersieht oder grundsätzlich falsch anwendet.112 Geht man nun mit dem Bundesverfassungsgericht davon aus, daß die Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte dient, ist der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht mittels einer Verfassungsbeschwerde eröffnet, wenn ein Fachgericht bei der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts den Einfluß der – im Lichte der Konvention zu interpretierenden – Grundrechte grundlegend verkennt. In der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts läßt sich diese mittelbare Geltendmachung der Konventionsrechte vielfach nachweisen.113 Auch im Görgülü-Beschluß selbst scheint sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der konkreten Prüfung maßgeblich dieser Argumentation zu bedienen, wenn es fest109 BVerfGE 58, 1 (34) – Eurocontrol. Zur Bedeutung der Eurocontrol-Entscheidung für die Prüfung der EMRK durch das BVerfG bereits Frowein, in: FS-Zeidler II, S. 1763 (1766, 1771); ders., EuGRZ 1982, 179 (180). 110 So die Begründung seit BVerfGE 58, 1 (34) – Eurocontrol; vgl. auch BVerfGE 59, 63 (89); 109, 13 (23) und nun 111, 307 (328) – Görgülü. 111 112

BVerfGE 111, 307 (329 f.) – Görgülü.

BVerfGE 89, 276 (285); Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 188 f.; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 1182; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 294 ff. jeweils m.w.N. 113 Vgl. etwa BVerfGE 74, 358 (370): Auslegung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung im Lichte von Art. 6 Abs. 2 EMRK; BVerGE 83, 119 (128): Auslegung des Verbots der Zwangsarbeit aus Art. 12 Abs. 2 und 3 GG im Lichte von Art. 4 Abs. 2 und 3 EMRK; BVerfG (K), NJW 2001, 2245 (2246): Auslegung des aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Rechts auf ein faires Verfahren im Lichte von Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK; BVerfG (K), NVwZ 2004, 852 (852 f.): Auslegung von Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG im Lichte von Art. 8 EMRK.

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stellt, daß die angegriffene Entscheidung nicht erkennen lasse, „ob und in welchem Umfang sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt hat, daß das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Umgangsrecht grundsätzlich unter dem Schutz des Art. 6 GG steht.“ Vielmehr hätte sich das Oberlandesgericht „in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander setzen müssen, wie Art. 6 GG in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können.“114 Tatsächlich erweist sich diese indirekte, über die Auslegung der Grundrechte bewirkte Einbeziehung der Konventionsgarantien gegenüber einer Erweiterung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs auf die fehlerfreie Anwendung (einfachgesetzlichen) Völkervertragsrechts durch die Fachgerichte vorzugswürdig. Die Eurocontrol-Rechtsprechung scheint eher pragmatisch bedingt als dogmatisch abgesichert.115 Wenn das Grundgesetz völkerrechtlichen Verträgen den Rang eines einfachen Bundesgesetzes zuweist, folgt daraus hinsichtlich der Aufgabenverteilung zwischen Fachund Verfassungsgerichtsbarkeit, daß für die Auslegung und Anwendung allein die Fachgerichte zuständig sind. Auch die Existenz des Normenverifikationsverfahrens nach Art. 100 Abs. 2 GG bei Zweifeln über das Bestehen und die Wirkung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zeigt im Umkehrschluß, daß das Grundgesetz bezüglich der Auslegung und Anwendung von Völkervertragsrecht eine höchstrichterliche Klärung durch das Bundesverfassungsgericht nicht für erforderlich hält.

d) Ein Vorschlag zur Konsolidierung Die bisherige Betrachtung hat gezeigt, daß dem Grundsatz der konventionskonformen Auslegung des nationalen Rechts, sei es einfachgesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur, angesichts des verhältnismäßig schwachen Ranges der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfachem Bundesgesetz eine entscheidende Bedeutung bei der innerstaatlichen Verwirklichung der Konventionsgarantien zukommt. Während der Grundsatz der konventionskonformen Auslegung an sich gefestigter Rechtsprechung entspricht und auch im Schrifttum nicht in Frage gestellt wird, ist es bislang jedoch nicht gelungen, seine maßgebliche rechtliche Grundlage zu identifizieren. Eine allgemeine Vermutungsregel zugunsten der Konventionskonformität einfachen Gesetzesrechts kann ebenso wenig überzeugen, wie eine Anknüpfung an das Zustimmungsgesetz zur Konvention, da dessen Rang als Bundesgesetz dieselben Grenzen setzt, an denen auch eine unmit-

114

BVerfGE 111, 307 (330) – Görgülü; in diesem Sinne auch Klein, JZ 2004, 1176 (1176). So auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Rn. 13 Fn. 45; aus völkerrechtlicher Sicht allerdings positiv aufgenommen von Frowein, EuGRZ 1982, 179 (180); Seidel-Hohenveldern, ZLW 1982, 111 (115); Stein, ZaöRV 42 (1982), 596 (598); zu diesem Aspekt des Görgülü-Beschlusses wohlwollend Breuer, NVwZ 2005, 412 (412 f.); Meyer-Ladewig / Petzold, NJW 2005, 15 (19 f.). 115

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telbare Anwendung der Konvention scheitern kann. Vielleicht können sich hier die folgenden Überlegungen als weiterführend erweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Görgülü-Beschluß zumindest hinsichtlich der konventionskonformen Auslegung des Grundgesetzes mit seinem Verweis auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Verfassung bzw. konkreter auf Art. 1 Abs. 2 und 59 Abs. 2 GG den Versuch einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung unternommen. In der Tat lassen die durch das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der Völkerrechtsfreundlichkeit herangezogenen Bestimmungen erkennen, daß das Grundgesetz nicht in einen völkerrechtslosen Raum hineingeboren wurde, sondern eine bestehende Völkerrechtsordnung voraussetzt. Bestandteil dieser Völkerrechtsordnung ist auch der völkerrechtliche Vertrag als anerkannte und mit Rechtsverbindlichkeit – pacta sunt servanda – ausgestattete Rechtsquelle.116 Wenn nun das Grundgesetz der Bundesrepublik ermöglicht, selbst völkerrechtliche Verträge zu schließen und damit als Rechtssubjekt an der vorgefundenen Völkerrechtsordnung teilzunehmen, wie dies insbesondere in Art. 59 GG zum Ausdruck kommt, erscheint die Annahme naheliegend, daß auch dem Grundgesetz dabei unausgesprochen die Vorstellung zu Grunde liegt, die Bundesrepublik werde durch den Vertragsschluß gebunden. Diese Weichenstellung ist auf der Grundlage eines dualistischen Verständnisses vom Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht wichtig: Nicht nur nach Völkerrecht, sondern auch nach Verfassungsrecht ist die Bundesrepublik verpflichtet, ihre völkervertragsrechtlich begründeten Verbindlichkeiten einzuhalten. Diese verfassungsrechtliche Pflicht trifft – den vom Grundgesetz vorgesehenen Autorisierungsakt des Zustimmungsgesetzes vorausgesetzt – die gesamte deutsche Staatsgewalt, da die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen, wie es das Bundesverfassungsgericht zu Recht betont, in einem durch den Grundsatz der Gewaltenteilung geprägten Rechtsstaat nur durch eine Bindung aller Staatsorgane gewährleistet werden kann.117 Freilich durchbricht diese verfassungsrechtliche Bindung nicht die innerstaatliche Kompetenzordnung. Die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt sind demnach jeweils in den Grenzen ihrer Zuständigkeiten gehalten, eine Verletzung der völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik zu vermeiden. Was folgt daraus nun im einzelnen? Die verfassungsrechtliche Bindung an den völkerrechtlichen Vertrag trifft zunächst den Gesetzgeber. Er ist – soweit erforderlich – verpflichtet, die innerstaatliche Rechtsordnung den völkerrechtlichen Verpflichtungen entsprechend auszugestalten. Mit der Transformation eines Vertrags über das Zustimmungsgesetz bzw. dem mit dem Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehl ist es dabei nicht getan. Vielmehr muß auch später erlassenes Gesetzesrecht entweder aus sich heraus oder durch eine Öffnungsklausel zugunsten des Vertrages den völkerrechtlichen Anforderungen entsprechen. Daß 116

Vgl. Herdegen, Völkerrecht, § 15, insb. Rn. 4; Graf Vitzthum, in: ders., Völkerrecht, 1. Abschn. Rn. 113 ff., insb. Rn. 118. 117 BVerfGE 111, 307 (323) – Görgülü.

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das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, es widerspreche nicht dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachte, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden sei,118 muß keinen Widerspruch bedeuten. Vielmehr wird man annehmen können, daß im Fall eines inhaltlich gegen zwingendes Verfassungsrecht verstoßenden Vertrages schon der Vertragsabschluß unzulässig und mithin das Zustimmungsgesetz verfassungswidrig und nichtig ist. Ist dem so, kann auch eine verfassungsrechtliche Umsetzungspflicht nicht bestehen. Bei einem gegen tragende Grundsätze des Verfassungsrechts verstoßenden völkerrechtlichen Sekundärakt wird man entsprechend der Rechtsprechung zum europäischen Gemeinschaftsrecht durch eine restriktive Interpretation des Zustimmungsgesetzes zu einer Unanwendbarkeit allein dieses Sekundärakts gelangen können. Neben dem Gesetzgeber sind schließlich Verwaltungsbehörden und Gerichte in die verfassungsrechtlich begründete Bindung an das Völkervertragsrecht einbezogen. Hinsichtlich des Gesetzesvollzugs obliegt es der Verwaltung im Rahmen ihrer Bindung an Recht und Gesetz, den völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen zu entsprechen. Die gilt hinsichtlich der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ebenso wie für die Ausübung gesetzlich eingeräumten Ermessens. Die Rechtsprechung hat schließlich im Rahmen der Gesetzesauslegung von mehreren methodisch vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten derjenigen den Vorzug zu geben, die eine Vertragsverletzung vermeidet. Dies gilt für die Fachgerichtsbarkeit bei der Auslegung einfachen Rechts, muß aber ebenso für das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Auslegung des Grundgesetzes, insbesondere der Grundrechte und rechtsstaatlichen Prinzipien, gelten.

3. Die Perspektive des Gemeinschaftsrechts a) Die Konvention als Rechtserkenntnisquelle Der Status von Art. 8 EMRK in der deutschen Rechtsordnung kann nicht mehr abschließend umrissen werden, ohne das europäische Gemeinschaftsrecht und in concreto die Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte einzubeziehen. Die Europäische Gemeinschaft verfügt über keinen geschriebenen Grundrechtskatalog. Der auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 feierlich proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union,119 die in weitgehender Anlehnung an die Europäische Menschenrechtskonvention entwickelt wurde120 und mit ihrem Art. 7 ein nahezu identisch formuliertes Recht auf Achtung des Privat- und 118

BVerfGE 111, 307 (319) – Görgülü. Zum ursprünglichen Text vgl. ABl. EG 2000, Nr. C 364, S. 1; zur im Zusammenhang mit dem Reformvertrag von Lissabon überarbeiteten Fassung der Charta vgl. ABl. EU 2007, Nr. C 303, S. 1. 120 Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 20 Rn. 7; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rn. 12 f.; ausführlich ders., in: FS-Steinberger, S. 1129 (1135 ff.). 119

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Familienlebens enthält,121 kommt keine Rechtsverbindlichkeit zu.122 Auch ist die Gemeinschaft anders als ihre Mitglieder bislang nicht unmittelbar an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Einem Beitritt stehen bis zum Inkraftreten des 14. Zusatzprotokolls sowohl die Konvention, als auch der EG-Vertrag entgegen, der der Gemeinschaft keine diesbezügliche Beitrittskompetenz einräumt.123 Gleichwohl hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsfortbildung einen ungeschriebenen Grundrechtskatalog entwickelt.124 Als sogenannte allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nehmen die Gemeinschaftsgrundrechte am Vorrang des Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht teil und zügeln so – zumindest in der Theorie – die Hoheitsgewalt der Gemeinschaft.125 Eine vertrag121

Art 7 GRCh lautet: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ Vgl. außerdem Art. 52 Abs. 3 GRCh: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“ 122 Beutler, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 6 EU Rn. 104; Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 20 Rn. 33 ff.; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 30; Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 88; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 593; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 39. Allerdings wird die Charta zunehmend zur Bekräftigung der Gemeinschaftsgrundrechte herangezogen, vgl. zur Rspr. des EuG und den Schlußanträgen der Generalanwälte Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EU Rn. 25 m.w.N. Dieser Linie scheint nun auch der EuGH zu folgen. Argumentativ stützt er sich dabei einerseits auf die Präambel der Charta, andererseits auf eine Art Selbstbindung des Gemeischaftsgesetzgebers durch Bezugnahme auf die Charta in Sekundärrechtsakten, vgl. EuGH, Urt. vom 27.06.2006, Slg. 2006 I-5769 Rs. C-540/03 Rn. 38 – Familienzusammenführungsrichtlinie. 123 Art. 59 Abs. 1 EMRK koppelt einen Beitritt an eine Mitgliedschaft im Europarat, die wiederum nach Art. 4 der Europaratssatzung Staaten vorbehalten ist. Das 14. Zusatzprotokoll (CETS-Nr. 194) sieht diesbezüglich eine Ergänzung von Art. 59 Abs. 1 EMRK um eine Beitrittsoption für die Europäische Union vor. Zur Negation einer Beitrittskompetenz der Gemeinschaft vgl. EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-664; Bernhardt, in: FS-Everling, S. 103 ff.; Grabenwarter, in: FS-Steinberger, S. 1129 (1149 ff.); Krüger / Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (101 ff.). Sowohl der Entwurf des Verfassungsvertrages als auch der Entwurf des Reformvertrages von Lissabon sehen jedoch eine entsprechende Beitrittskompetenz vor, so daß jedenfalls auf lange Sicht wohl von einem Beitritt auszugehen sein wird. 124 Erstmals anerkannt wurde die Existenz von Gemeinschaftsgrundrechten in EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 Rn. 7 – Stauder; sodann EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft und Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 Rn. 13 – Nold. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 19 ff.; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 586 f. Ein Überblick über die bislang entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte findet sich etwa bei Beutler, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 6 EU Rn. 76 ff.; Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 91 f. 125 Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 14 Rn. 32; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 15 ff.; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 6 EU Rn. 46 und 58; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 588 f.; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 38.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

liche Grundlage für diese Rechtsprechung findet sich spätestens seit dem Inkrafttreten des Maastrichter Unionsvertrags am 1. November 1993.126 Der heutige Art. 6 Abs. 2 EU bestimmt, daß die Union die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, achtet. Die Konventionsgarantien stellen damit neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten eine sogenannte Rechtserkenntnisquelle zur Generierung der Gemeinschaftsgrundrechte dar.127 Die in der Praxis feststellbare zunehmende Ableitung von Grundrechtsgehalten aus der Konvention dürfte dabei, wie Grabenwarter festgestellt hat, vor allem einen pragmatischen Grund haben. Der einheitliche Normtext der Konvention und die Existenz eines zur verbindlichen Auslegung berufenen Gerichtshofs ersparen dem EuGH vielfach eine aufwendige Rechtsvergleichung hinsichtlich der Verfassungsdokumente von inzwischen 27 Mitgliedstaaten.128 Teilweise legen die Urteile des EuGH ihrer Formulierung nach gar eine unmittelbare Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention nahe, was aber allein einer sprachlichen Vereinfachung geschuldet sein wird und nicht die dogmatischen Grundlagen in Frage stellen soll.129 Zu den aus der Konvention entwickelten Gemeinschaftsgrundrechten gehört auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wie es durch Art. 8 EMRK garantiert wird. Gerade in letzter Zeit hatte sich die EuGH mehrfach mit der Frage zu befassen, ob und inwieweit sich aus diesem Gemeinschaftsgrundrecht eine aufenthaltsschützende Wirkung ableiten läßt. Genannt seien an dieser Stelle nur die Rechtssachen Carpenter, Akrich, Orfanopoulos und Oliveri sowie jüngst das Urteil zur Familienzusammenführungsrichtlinie.130 Dabei kann zusammenfassend konstatiert werden, daß der EuGH die zur Auslegung von Art. 8 EMRK 126 Vor Inkrafttreten des Unionsvertrags konnte sich der EuGH allenfalls auf die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission über die Geltung von Grundrechten von 1977 (ABl. EWG 1977, Nr. C 103, S. 1) und die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 (ABl. EWG 1987, Nr. L 169, S. 1) stützen. 127 Calliess / Kingreen, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 6 EU Rn. 33; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 14 Rn. 8 f.; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 6 EU Rn. 46; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 589. 128 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rn. 3; ders., VVDStRL 60 (2000), 290 (327). 129 Vgl. exemplarisch EuGH, Urt. vom 27.06.2006, Slg. 2006 I-5769 Rs. C-540/03 – Familienzusammenführungsrichtlinie: einerseits Rn. 85: „Es ist nicht ersichtlich, dass die angefochtene Bestimmung gegen das in Artikel 8 EMRK niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verstößt.“; anderseits Rn. 35: Bedeutung der EMRK allein als Rechtserkenntnisquelle. 130 EuGH, Rs. C-60/00, Slg, 2002, I-6279 Rn. 38 ff. – Carpenter; Rs. C-109/01, Slg. 2003, I-9607 Rn. 58 f. – Akrich; Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 Rn. 98 – Orfanopoulos u. Oliveri ./. Land Baden-Württemberg; Urt. vom 27.06.2006, Rs. 540/03, Slg. 2006 I-5769 Rn. 52 ff. – Familienzusammenführungsrichtlinie.

A. Grundlagen

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ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht nur beachtet, sondern weitgehend ohne weitere eigene Ausführungen übernimmt.131 Insoweit können also die im ersten Teil dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse auch bei der inhaltlichen Ausfüllung des Gemeinschaftsgrundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens hilfreich sein.

b) Die Wirkung der Gemeinschaftsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten Die Gemeinschaftsgrundrechte binden in erster Linie die Gemeinschaftsgewalt, d. h. die Europäische Gemeinschaft mit ihren Organen und Einrichtungen.132 Sie sind damit sowohl Gültigkeits- als auch Auslegungsmaßstab für das durch die Gemeinschaft geschaffene (Sekundär-)Recht. Für Letzteres sei exemplarisch auf die Wanderarbeitnehmer-Entscheidung der EuGH verwiesen, in der er das Art. 8 EMRK entsprechende Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens zur Auslegung der Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG heranzog,133 für Ersteres mag die jüngst ergangene Entscheidung zur Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG als Beispiel dienen, in der der EuGH die Richtlinienbestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit eben diesem Gemeinschaftsgrundrecht überprüfte.134 Über diese Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers wirken sich die Gemeinschaftsgrundrechte zugleich mittelbar, nämlich in Gestalt des grundrechtskonform ausgestalteten Sekundärrechts, innerhalb der an das Gemeinschaftsrecht gebundenen Mitgliedstaaten aus. Das gilt sowohl hinsichtlich der Verordnungen, die aus sich heraus unmittelbare Wirkung im nationalen Recht entfalten, als auch bezüglich der in das nationale Recht umzusetzenden Richtlinien, soweit sie den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen.135 Verstärkend tritt der sogenannte Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts hinzu, so daß entgegenstehendes nationales Recht nicht angewandt werden darf.136 Neben der Gemeinschaft sind aber auch die Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen unmittelbar an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. In der Formulierung des EuGH soll dies dann der Fall sein, wenn eine nationale Rege131

Vgl. ausführlich Alber, in: FS-Ress, S. 371 ff., zusammenfassend auf S. 388. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 6 EU Rn. 67; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 14 Rn. 32; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 6 EU Rn. 58; Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 95; Kühling, in: von Bodandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 606; vgl. zu neueren Entwicklungen Epiney, ZAR 2007, 61 ff.; Lindner, EuZW 2007, 71 (72 f.). 133 EuGH, Rs. 249/86, Slg. 1989, S. 1263 Rn. 10 – Wanderarbeitnehmer. 134 EuGH, Urt. vom 27.06.2006, Rs. C-540/03, Slg. 2006 I-5769 Rn. 52 ff., 84 ff., 97 ff. – Familienzusammenführungsrichtlinie. 135 Vgl. dazu ausführlich Cirkel, Gemeinschaftsgrundrechte, S. 73 ff. 136 Grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa ./. ENEL; vgl. auch von Bogdandy, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 191 ff; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 1 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2 ff. 132

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

lung in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fällt.137 Im einzelnen ist hier vieles umstritten; auch die Rechtsprechung des EuGH scheint wohl noch nicht an ihren Endpunkt gelangt zu sein.138 Gleichwohl haben sich bereits zwei Fallgruppen herauskristallisiert, in denen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte zu bejahen ist. Die erste und zugleich älteste, bereits in der Rechtssache Wachauf anerkannte Fallgruppe betrifft die Durchführung von sekundärem Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten.139 Im Schrifttum wird hier gelegentlich auch von einer „agency situation“ gesprochen.140 Dahinter steht der Gedanke, daß die Mitgliedstaaten ebenso wie die Gemeinschaft selbst zur Achtung der Gemeinschaftsgrundrechte verpflichtet sind, wenn sie aufgrund der ihnen durch das Gemeinschaftsrecht übertragenen Befugnisse handeln.141 Dies betrifft den Vollzug von Verordnungen oder die Unterstützung des Verwaltungsvollzugs der Europäischen Kommission ebenso wie die Umsetzung von Richtlinien in das nationale Recht.142 Mit der zweiten Fallgruppe sind diejenigen Konstellationen umschrieben, in denen die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten des EG-Vertrags beschränken. Die Grundfreiheiten und ihre Schranken sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auszulegen, so daß nationale, die Grundfreiheiten einschränkende Maßnahmen auch gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten zu bestehen haben.143 Diese bilden hier gleichsam eine Art Schranken-Schranke der Grundfreiheiten.144 137

Erstmals in EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 42 – ERT; bestätigt durch Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 Rn. 31 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland und Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 Rn. 16 – Bostock. 138 So Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 606; ausführlich zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten: Cirkel, Gemeinschaftsgrundrechte, passim; Craig / de Búrca, EU Law, S. 395 ff.; Bienert, Gemeinschaftsgrundrechte, passim; Jürgensen / Schlünder, AöR 121 (1996), 200 ff.; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff.; Schaller, JZ 2005, 193 ff.; Wallrab, Gemeinschaftsgrundrechte, passim. 139 EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 – Wachauf; bestätigt durch Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 Rn. 16 – Bostock und Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 Rn. 37 – Karlsson. 140 Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 607 unter Verweis auf Weiler, in: Neuwahl / Rosas, European Union, S. 51 (67 ff.); ähnlich auch Craig / de Búrca, EU Law, S. 395. 141 So die Schlußanträge des GA Jacobs in Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 22 – Wachauf. 142 Vgl. Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 14 Rn. 33; Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 95; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 607; Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EU Rn. 32; ausführlich Cirkel, Gemeinschaftsgrundrechte, S. 78 ff. Zur teils umstrittenen Bindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien vgl. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 6 EU Rn. 68 f.; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 608; Lindner, EuZW 2007, 71 (72 f.). 143 Erstmals EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 – ERT; bestätigt u. a. in: Rs. C-23/93, Slg. 1994, I-4795 Rn. 22 ff. – TV 10; Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 Rn. 24 – Familiapress; Rs. C-60/00, Slg, 2002, I-6279 Rn. 38 ff. – Carpenter; Rs. C-370/05, Slg. I-1129 Rn. 35 ff. – Festersen. 144 Vgl. dazu Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 14 Rn. 34; Koenig / Haratsch, Europarecht, Rn. 95; Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 607;

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

Das Aufenthaltsgesetz regelt die Ausweisung als zentrale aufenthaltsbeendende Maßnahme in seinem 5. Kapitel, genauer in den §§ 53 ff. AufenthG. Steht die Konformität des Ausweisungsrechts mit Art. 8 EMRK zur Diskussion, konzentriert sich die Aufmerksamkeit – dies zeigt schon eine flüchtige Lektüre der einschlägigen Kommentarliteratur – rasch auf die sogenannte zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG. Die Norm verpflichtet, ohne der Ausländerbehörde insoweit ein Ermessen einzuräumen, zur Ausweisung eines Ausländers, sobald dieser zumindest einen der dort abschließend genannten Ausweisungsgründe verwirklicht. Weder die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zunächst fortgeltende Ausländerpolizeiverordnung von 1938, noch das Ausländergesetz von 1965 kannten eine vergleichbare Vorschrift.1 Erst mit § 47 Abs. 1 AuslG 1990 wurde sie in das Aufenthaltsrecht eingeführt.

I. Einführung in die Problematik Die zwingende Ausweisung stellt die schärfste Ausweisungsart innerhalb des nach Tatbestand und Rechtsfolgen gestuften Ausweisungssystems dar.2 Als Generalklausel dient die Ermessensausweisung gemäß § 55 AufenthG, die die Ausweisung eines Ausländers gestattet, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt, wobei der Tatbestand durch die beispielhafte Aufzählung einzelner Ausweisungsgründe in Abs. 2 konkretisiert wird. Auf der Rechtsfolgenseite verlangt § 55 AufenthG eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, bei der die durch Abs. 3 näher bestimmten persönlichen Interessen des Ausländers an einem Verbleib in der Bundesrepublik gegen das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung abzuwägen sind.3 Die Ausweisung im Regelfall nach § 54 AufenthG verpflichtet grundsätzlich zur Ausweisung, erlaubt der Ausländerbehörde jedoch, von einer Ausweisung abzusehen, wenn ein atypischer Geschehensablauf vorliegt.4 Tatbestandlich knüpft die Norm an eine gegenüber § 55 Pernice / Mayer, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EU Rn. 32; ausführlich zum ganzen Cirkel, Gemeinschaftsgrundrechte, S. 98 ff. 1 Zur Ausweisung nach der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 und nach dem AuslG 1965 vgl. Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 54 ff. und 60 ff.; Renner, in: Barwig u. a., Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, S. 23 (36 f.). 2 Zur weitgehend identischen Systematik nach dem AuslG 1990 vgl. ausführlich Hailbronner, in: ders./Klein, Einwanderungskontrolle, S. 169 ff.; Otte, ZAR 1994, 67 ff.; Wegner, DÖV 1993, 1031 ff.; Wollenschläger / Schraml, ZAR 1992, 66 ff.; zum AufenthG vgl. Jakober, In-

fAuslR 2005, 97 ff. 3 Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 95 ff.; Renner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 59 ff.; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 1, 14 ff. 4 Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 49 ff.; Renner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 2 ff.; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 4.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

AufenthG erhöhte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung an, die nach der gesetzgeberischen Wertung bei Verwirklichung der dort im einzelnen aufgeführten Ausweisungsgründe vorliegen soll.5 § 53 AufenthG verpflichtet demgegenüber zwingend zur Ausweisung eines Ausländers. Voraussetzung für eine Ausweisung nach § 53 AufenthG ist, daß sich der weitere Aufenthalt des betroffenen Ausländers als besonders gefährlich erweist, wobei der Gesetzgeber diese Gefahrenprognose typisierend bei Verwirklichung mindestens eines der in § 53 AufenthG genannten Ausweisungsgründe bejaht.6 Diese setzen durchgängig eine rechtskräftige Verurteilung wegen Straftaten voraus, die entweder aufgrund ihrer Schwere oder Besonderheit die öffentliche Sicherheit und Ordnung in besonderem Maße berühren oder durch den Ausländer wiederholt begangen werden.7 Durchbrochen wird dieses Stufenprinzip allein durch § 56 AufenthG, der bestimmten Ausländern besonderen Ausweisungsschutz gewährt, indem er die tatbestandlichen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Ausweisung erhöht und auf der Rechtsfolgenseite eine Herabstufung zu einer Regel- bzw. Ermessensausweisung bewirkt. Folge einer Ausweisung ist gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG bzw. im Einzelfall gemäß Abs. 5 oder Abs. 9 das Erlöschen des Aufenthaltstitels oder der Wegfall einer Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels und damit nach § 50 Abs. 1 AufenthG die Begründung einer gesetzlichen Ausreisepflicht. Kommt ein Ausländer seiner Ausreisepflicht nicht durch eine freiwillige Ausreise nach, ist sie gemäß § 58 AufenthG grundsätzlich durch Abschiebung zu vollstrecken, soweit einer Abschiebung nicht ausnahmsweise ein gesetzliches Abschiebungshindernis gemäß §§ 60, 60a AufenthG entgegensteht. Als weitere Folge einer Ausweisung ordnet § 11 Abs. 1 AufenthG schließlich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das auch die Erteilung eines (neuen) Aufenthaltstitels, auf den ein durch das Aufenthaltsgesetz begründeter Anspruch besteht, ausschließt. Einigkeit dürfte in Rechtsprechung und Schrifttum nun insoweit bestehen, daß das ausdifferenzierte Regelwerk der Ausweisungsvorschriften neben den verfassungsrechtlichen Anforderungen auch den völkerrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK, der wie dargelegt eine Ausweisung nicht schlechthin untersagt, sondern lediglich einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem schutzwürdigen Interesse eines Ausländers an der Wahrung seines Privat- und Familienlebens und dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verlangt, jedenfalls im Grundsatz gerecht wird.8 Weiterhin dürfte als unbestritten gelten, daß 5

Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 35 f.; Renner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 2. 6 Discher, in: GK-AufenthG, § 53 AufenthG Rn. 18; Renner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 3. 7 Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 2. 8 Vgl. mutatis mutandis BVerfG (K), NVwZ 2007, 946 (948) und 1300 (1300); BVerwGE 106, 13 (22); 107, 58 (73); BVerwG, Buchholz 140 Art. 8 EMRK Nr. 14; Albrecht, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 53 AufenthG Rn. 4; Barth, NVwZ 1998, 1031 (1035); Eckertz-

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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sowohl eine Ermessensausweisung als auch eine Regelausweisung im Einzelfall zu unterbleiben haben, wenn sich eine Aufenthaltsbeendigung als unverhältnismäßige Beeinträchtigung des durch Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienlebens erweist.9 Im Rahmen der Ermessensausweisung fällt eine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK in konstruktiver Hinsicht nicht schwer. Als maßgeblicher Anknüpfungspunkt für eine Einwirkung des völkerrechtlich garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens auf die Ausweisungsentscheidung einer Ausländerbehörde kommt § 55 Abs. 3 AufenthG in Betracht, der die bei der Ausübung des Ermessens in die Abwägung einzustellenden Aspekte benennt. Dazu gehören die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet (Nr. 1) sowie die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner eines Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben (Nr. 2). Insbesondere das interpretationsfähige Tatbestandsmerkmal der „persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen“ erlaubt dabei im Wege konventionskonformer Auslegung die Einbeziehung derjenigen Beziehungen, die zwar vom Schutzbereich des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK erfaßt werden, nicht aber unter den eng im Sinne von Art. 6 GG auszulegenden Familienbegriff der Nr. 2 subsumiert werden können.10 Das gilt namentlich für die nichteheliche Lebensgemeinschaft, verwandtschaftliche Beziehungen jenseits der aus Eltern und Kindern bestehenden Kernfamilie sowie die unter das Privatleben im Sinne von Art. 8 EMRK fallenden weiteren Bindungen eines Ausländers.11 Im übrigen wird die Aufzählung in § 55 Abs. 3 AufenthG nicht als abschließend verstanden,12 so daß eine zur Entscheidung berufene Ausländerbehörde ihr Ermessen stets gemäß Art. 8 EMRK ausüben kann und nach der hier vertretenen AuffasHöfer, ZAR 2008, 41 (42 f.); Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 42; Renner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 5. 9 Zur Ermessensausweisung vgl. etwa BVerwG, NVwZ 1997, 1119 (1122); VGH Mannheim, NVwZ-RR 2003, 307 (308 f.); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 885; Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 111; Renner, Ausländerrecht, § 55 AuenthG Rn. 61. Zur Regelausweisung vgl. etwa BVerwG, NVwZ 1999, 303 (304); VGH Mannheim, InfAuslR 2001, 119 (120 f.); VGH Kassel, NVwZ-RR 2004. 379 (379); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 886; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 55 f. 10 Zu dem durch § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG geschützten Personenkreis vgl. ausführlich Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 112 f.; Renner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 65 ff.; zum Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG vgl. ausführlich die Ausführungen und Nachweise oben unter A. I. 1. b). 11 Hailbronner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 114; Renner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 63. 12 BVerwG, EZAR 033 Nr. 10; NVwZ 1997, 1119 (1122); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 1314; Renner, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 62; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 55 AufenthG Rn. 81.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

sung schon wegen ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung, einen Verstoß der Bundesrepublik gegen ihre völkervertragsrechtlichen Bindungen so weit wie möglich zu vermeiden, ausüben muß. Auch die Regelausweisung läßt eine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK zu. Zwar räumt § 54 AufenthG den Ausländerbehörden grundsätzlich kein Ermessen ein, eine Ausweisung kann jedoch im Ausnahmefall unterbleiben. Die Worte „in der Regel“ beziehen sich nach den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministers auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichgelagerter Fälle unterscheiden; Ausnahmefälle sollen durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sein, der so bedeutsam ist, daß er das sonst für die Ausweisung im Regelfall ausschlaggebende Gewicht beseitigt.13 Bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, d. h. insbesondere die Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die persönlichen Verhältnisse des Ausländers, wie sie in § 55 Abs. 3 AufenthG näher umschrieben sind.14 Liegt ein Ausnahmefall vor, steht die Ausweisung im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Diese kann, muß aber nicht von einer Ausweisung absehen.15 In Rechtsprechung und Schrifttum ist indes grundsätzlich anerkannt, daß einer Ausweisung nach § 54 AufenthG neben den tatbezogenen und persönlichen Umständen auch verfassungs- und völkerrechtliche Gründe entgegenstehen können und eine Ausweisung damit abweichend vom Regelfall zu unterbleiben hat.16 Auch wenn der Ausländerbehörde in diesen Fällen keine ergebnisoffene Ermessensentscheidung verbleibt, weil eine gemessen an Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK unverhältnismäßige Ausweisung auch nicht nach Ermessen verfügt werden darf, läßt sich eine drohende Grundrechtsverletzung – notfalls im Wege der verfassungs- bzw. konventionskonformen Auslegung – gut als ein von der Regel, nämlich von der vom Gesetzgeber unterstellten Verhältnismäßigkeit der Ausweisung, abweichender Ausnahmefall begreifen.17 Davon scheint letztlich auch die Gesetzesbegründung auszugehen. So soll die entscheidende Behörde von einer Ausweisung nach § 54 AufenthG absehen können, wenn im Einzelfall besondere Umstände gegeben sind, die den Ausländer entlasten oder aufgrund de13

Nr. 54.0.2 AH-BMI. Nr. 54.0.4 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 50; Renner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 4; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 18. 15 Nr. 54.0.3 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 50; Renner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 3; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 27. 16 BVerfG (K), NVwZ 2007, 946 (947); BVerwG, NVwZ 1999, 303 (304); VGH Mannheim, InfAuslR 2001, 119 (120 f.); EZAR-NF 042 Nr. 1; BayVGH, Urt. vom 03.05.2005, Az. 24 B 04.2037, Juris; VGH Kassel, NVwZ-RR 2004, 379 (379); Beschluß vom 21.02.2006, Az. 7 TG 279/06, Juris; OVG Bremen, InfAuslR 2008, 163 (164); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 Rn. 412 und 886; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 55 f. 17 Kritisch insoweit VGH Mannheim, EZAR-NF 042 Nr. 1; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 56. 14

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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rer die Ausweisung als unangemessene Härte erscheint.18 Wenn aber eine Ausweisung als solche eine unangemessene Härte darstellt, ändert sich daran nichts, wenn sie statt als gebundene Entscheidung nach Ermessen verfügt wird. Ergibt daher eine Prüfung am Maßstab von Art. 8 EMRK, daß eine Ausweisung unverhältnismäßig ist, hat die Ausländerbehörde von der Regel des § 54 AufenthG abzuweichen. Das ihr grundsätzlich zustehende Ermessen ist zugleich auf null reduziert, so daß eine Ausweisung zu unterbleiben hat. In seiner neueren Judikatur geht das Bundesverwaltungsgericht über diese Grundsätze sogar noch hinaus. Danach soll ein Ausnahmefall von der Regelausweisung – und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung – bereits dann vorliegen, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten.19 Im Hintergrund dieser Rechtsprechungsentwicklung steht nicht zuletzt auch die in jüngster Zeit deutlichere Betonung der Notwendigkeit einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Ausweisungsentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht.20 § 53 AufenthG räumt nun der Ausländerbehörde weder ein Ermessen ein, noch erlaubt er ein Absehen von der Ausweisung in Ausnahmefällen. Seine zwingende Rechtsfolge setzt einer Berücksichtigung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens Grenzen. Die Straßburger Rechtsprechungsinstanzen haben sich bislang nicht ausdrücklich mit der Konventionskonformität der zwingenden Ausweisung befaßt. Bekannt sind lediglich einige wenige Fälle, die zwar eine zwingende Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990 betrafen, in denen aber ohne nähere Ausführungen zur Problematik im Ergebnis eine Verletzung von Art. 8 EMRK verneint wurde. Zu verweisen ist hier zunächst auf die Kommissionsentscheidung in der Sache Tosun, die die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen betraf, der wegen bewaffneten Raubes rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von über fünf Jahren verurteilt worden war. Obwohl der Beschwerdeführer ausdrücklich das fehlende Ermessen der Ausländerbehörden gerügt hatte, stellte die Kommission fest, daß die deutschen Behörden und Gerichte das Privat- und Familienleben hinreichend berücksichtigt hätten.21 Sinngemäß entschied die Kommission in der Sache Küçük.22 Der Gerichtshof selbst war in der Sache Adam mit einer zwingenden Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990 konfrontiert, gelangte jedoch im Ergebnis ebenfalls zu einer Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, weil das öffentliche Interesse an der Ausweisung aufgrund der kriminellen Karriere des Beschwerdeführers die familiären Belange 18 BT-Drs. 11/6321, S. 73, zu § 47 Abs. 2 AuslG 1990, der nach BT-Drs. 15/420, S. 90, inhaltlich § 54 AufenthG entspricht. 19 BVerwG, NVwZ 2008, 326 (328). Vgl. dazu Kurzidem, ZAR 2008, 142 ff. 20 Kurzidem, ZAR 2008, 142 (143). Vgl. dazu BVerfG (K), NVwZ 2007, 946 (948) und 1300 (1300); Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (45 f.); Thym, ZAR 2008, 245 ff. 21 EKMR, Entsch. vom 11.01.1995, Tosun ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 19710/92. 22 EKMR, Entsch. vom 12.10.1994, Küçük ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 19544/92.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

überwog.23 Auf der Grundlage dieser Judikate ist davon auszugehen, daß die zwingende Ausweisung als solche keinen konventionsrechtlichen Bedenken begegnet. Wohl aber kann – auch wenn der Anwendungsbereich von § 53 AufenthG von vornherein auf Fälle mittlerer und schwerer Kriminalität beschränkt ist – nicht ausgeschlossen werden, daß eine gemäß § 53 AufenthG zwingend zu verfügende Ausweisung im Einzelfall zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führt. Dies dürfte insbesondere für die Konstellationen gelten, in denen der Betroffene etwa als Einwanderer der zweiten Generation fest in der Bundesrepublik integriert ist und über keine nennenswerten Bindungen an sein Herkunftsland verfügt oder eine Fortführung des Familienlebens im Ausland aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Die bisherige Untersuchung zur Straßburger Rechtsprechung hat insoweit ergeben, daß eine Aufenthaltsbeendigung unter diesen Umständen auch bei schweren, strafrechtlich geahndeten Verfehlungen eines Ausländers als unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens anzusehen sein kann.24 Im folgenden soll nun das Konfliktpotential von § 53 AufenthG einerseits und Art. 8 EMRK andererseits näher beleuchtet und unter Einbeziehung der in Rechtsprechung und Schrifttum diskutierten Lösungsansätze nach Möglichkeiten gesucht werden, eine Kollision mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik zu vermeiden.

II. Eingrenzung des Problems Eine Untersuchung des Konfliktspotentials zwischen der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG einerseits und den aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK andererseits setzt zunächst eine präzise Bestimmung des Anwendungsbereichs von § 53 AufenthG voraus. Bereits eingangs wurde auf den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG hingewiesen, wonach bestimmte Ausländer von der zwingenden Rechtsfolge des § 53 AufenthG ausgenommen sind. Hinzu kommen weitere Einschränkungen, die sich aus den Vorgaben des europäischen Gemeinschaftsrechts ergeben. Teilweise sind diese bereits auf unterschiedliche Weise durch das Aufenthaltsgesetz berücksichtigt, teilweise gehen sie allein aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes vor.25 Das wahre Ausmaß der gemeinschaftsrechtlichen Überlagerungen des § 53 AufenthG scheint dabei erst allmählich Eingang in das Bewußtsein von Rechtsprechung und Schrifttum zu finden.

23

EGMR, Entsch. vom 04.10.2001, Adam ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 43359/98. Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in Teil 1 unter E. III. 2. h) und j). 25 Ein Überblick über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben findet sich etwa bei Harms, NordÖR 2002, 271 ff., Kluth, ZAR 2006, 1 ff. Zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vgl. grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa ./. ENEL; von Bogdandy, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 191 ff; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 1 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2 ff. 24

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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1. Gemeinschaftsrechtlicher Ausweisungsschutz a) Unionsbürger Nicht der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG unterliegen Unionsbürger und deren Familienangehörige, deren aufenthaltsrechtlicher Status im Freizügigkeitsgesetz / EU geregelt ist und die daher gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vom Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes ausgenommen sind.26 Die Neuregelung, die nach der Gesetzesbegründung aufgrund „geänderter europäischer Rahmenbedingungen“ erfolgte,27 erübrigt eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Ausweisungsrechts, wie sie noch unter Geltung des Ausländergesetzes von 1990 mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH notwendig geworden war. Dieser hatte in der Rechtssache Orfanopoulos und Oliveri sowohl die zwingende Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990, als auch die Ausweisung im Regelfall gemäß § 47 Abs. 2 AuslG 1990 bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärt.28 Konkret sah der EuGH einen Verstoß gegen Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG, der gleichlautend mit dem nun geltenden Art. 27 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an Maßnahmen der Mitgliedstaaten präzisiert, mit denen diese die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit oder die Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken.29 Danach darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein, wobei strafrechtliche Verurteilungen allein diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen können. Dem Wortlaut nach mußte in dieser Vorschrift nicht zwingend ein Gegensatz zu § 47 AuslG 1990 gesehen werden, da ein Ausländer hier gerade aufgrund seines persönlichen Verhaltens, nämlich einer durch ihn begangenen Straftat, ausgewiesen wurde und es sich dabei auch nicht um irgendeine Straftat handelte, sondern um Rechtsverstöße, die entweder wegen ihrer besonderen Schwere oder einer wiederholten Tatbegehung nach der Wertung des Gesetzgebers eine erhöhte Gefährlichkeit indizierten. Der EuGH wählte jedoch, gestützt auf die besondere Bedeutung des Freizügigkeitsrechts in der Gemeinschaftsrechtsordnung, eine engere Auslegung, nach der eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen könne, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle.30 Weder die zwingende Ausweisung noch die in der Regelausweisung liegende 26

Vgl. Jakober, InfAuslR 2005, 97 (100 f.); Groß, ZAR 2006, 61 ff.; Welte, InfAuslR 2005,

8 ff. 27

BT-Drs. 15/420, S. 65. EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 – Orfanopoulos u. Oliveri ./. Land Baden-Württemberg, ausführlich dazu Gutmann, InfAuslR 2004, 265 ff. 29 RL 64/221/EWG (ABl. EG 1964, Nr. 56, S. 850) ist mit Wirkung zum 30.04.2006 durch RL 2004/38/EG (ABl. EU Nr. L 229, S. 35 – bereinigte Fassung) aufgehoben worden. 30 EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 Rn. 64 und 67. 28

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

grundsätzliche Vermutung zugunsten einer Ausweisung ließen eine Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens des Täters oder der von ihm künftig ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung in hinreichendem Maße zu.31 Im Kern lehnte der EuGH damit die durch den deutschen Gesetzgeber vorgenommene typisierende Einschätzung der Gefährlichkeit eines wegen bestimmter Delikte verurteilten Ausländers ab und verlangte eine in jedem Einzelfall zu erfolgende individuelle Prüfung. Im Rahmen dieser Prüfung hätten die nationalen Behörden zudem einen angemessenen Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen herzustellen, bei dem die besondere Stellung der Gemeinschaftsangehörigen, die entscheidende Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit und die Gemeinschaftsgrundrechte zu berücksichtigen seien, zu denen in diesem Zusammenhang insbesondere der Schutz der Familie zähle, wie er durch Art. 8 EMRK garantiert werde.32 In der Konsequenz dieser Entscheidung nahm das Bundesverwaltungsgericht daraufhin eine gemeinschaftskonforme Auslegung des Ausländergesetzes von 1990 vor, nach der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger nur noch nach Maßgabe von §§ 45, 46 AuslG 1990 auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden durften.33 § 6 FreizügG / EU sieht nun zur Beendigung des Aufenthalts von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen eine im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörden liegende Feststellung über den Verlust des gemeinschaftsrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsrechts vor, bei der somit auch das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens berücksichtigt werden kann und schon aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen ist.

b) Staatsangehörige der EWR-Staaten Gemäß § 12 FreizügG / EU ist die Rechtsstellung von Staatsangehörigen der EWR-Staaten und deren Familienangehörigen derjenigen von Unionsbürgern gleichgestellt. Auch sie sind somit nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vom Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes ausgenommen und unterliegen nicht dem Ausweisungsrecht. Die Regelung trägt dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Rechnung, das eine Gleichstellung von Unionsbürgern und Staatsangehörigen der EWR-Staaten vorsieht.34 Nach dem Beitritt der EWR-Staaten Finnland, Österreich und Schweden zur Europäischen Union hat § 12 FreizügG / EU nur noch Bedeutung für die Staatsangehörigen von Island, Liechtenstein und Norwegen sowie für deren Familienangehörige.35 31

EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 Rn. 70 und 92 ff. EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 Rn. 95 ff. 33 BVerwGE 121, 297 (300 ff.). 34 Vgl. zum Text BGBl. 1993 II S. 266; Anpassungsprotokoll Schweiz BGBl. 1993 II S. 1294; zum Inhalt vgl. ausführlich Streit, NJW 1994, 555 ff.; Welte, ZAR 1994, 80 ff. 35 Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 1 AufenthG Rn. 28; Renner, Ausländerrecht, § 12 FreizügG / EU Rn. 2. 32

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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c) Freizügigkeitsberechtigte Schweizer Da die Schweizerische Eidgenossenschaft einen Beitritt zum EWR-Abkommen durch eine Volksabstimmung im Dezember 1992 abgelehnt hat, findet § 12 FreizügG / EU auf ihre Staatsangehörigen keine Anwendung. Damit unterliegen sie grundsätzlich den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes.36 Auch hier ist jedoch der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Durch das Freizügigkeitsabkommen EG / Schweiz vom 21. Juni 1999 genießen schweizerische Staatsangehörige in einem mit Unionsbürgern im wesentlichen vergleichbaren Umfang Freizügigkeit in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft.37 Art. 3 und 4 des Freizügigkeitsabkommens gewähren insoweit unmittelbar ein Recht auf Einreise und Aufenthalt.38 § 28 AufenthV stellt daher bloß deklaratorisch klar, daß freizügigkeitsberechtigte Schweizer für einen rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik keines Aufenthaltstitels bedürfen. Ebenso kann eine Ausweisung nur dann zur Entstehung einer Ausreisepflicht nach §§ 51 Abs. 5, 50 Abs. 1 AufenthG führen, wenn das Aufenthaltsrecht nach Maßgabe des Freizügigkeitsabkommens entfallen ist.39 Art. 5 Abs. 1 Anhang I zum Freizügigkeitsabkommen gestattet diesbezüglich Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. In der Literatur wird zu Recht angenommen, daß die durch den EuGH zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ergangene Rechtsprechung auf einschränkende Maßnahmen nach dem Freizügigkeitsabkommen zu übertragen ist, so daß auch freizügigkeitsberechtigte Schweizer nur gemäß § 55 AufenthG nach Ermessen ausgewiesen werden dürfen.40 Zum einen verweist Art. 16 Abs. 2 des Freizügigkeitsabkommens zur Auslegung der im Abkommen herangezogenen Begriffe des Gemeinschaftsrechts auf die jeweils einschlägige Rechtsprechung des EuGH. Zum anderen nimmt Art. 5 Abs. 2 Anhang I zur Konkretisierung der Begriffe „öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ ausdrücklich auf die Richtlinie 64/221/EWG Bezug, deren Art. 3 dem EuGH Anlaß gab, die zwingende Ausweisung und die Ausweisung im Regelfall für gemeinschaftsrechtswidrig zu erklären.

d) Assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige Nicht durch das Freizügigkeitsgesetz / EU geregelt ist ferner die Rechtsstellung der assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen. Auch sie unterliegen damit grundsätzlich den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes. Al36

Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 1 AufenthG Rn. 29; Renner, Ausländerrecht, § 12 FreizügG / EU Rn. 3. 37 Vgl. zum Text BGBl. 2001 II S. 810; zum Inhalt vgl. ausführlich Fehrenbacher, ZAR 2002, 278 ff.; Westphal, InfAuslR 2002, 329 ff. 38 Fehrenbacher, ZAR 2002, 278 (282); Westphal, InfAuslR 2002, 329 (330 f.). 39 § 50 Abs. 1 AufenthG enthält insoweit allerdings keine dem Hinweis auf das Assoziierungsabkommen EWG / Türkei entsprechende Klarstellung; dazu siehe sogleich. 40 So ausdrücklich Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 24.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

lerdings sind insoweit die Privilegierungen zu beachten, die sich aus dem Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG / Türkei vom 19.09.1980 (ARB 1/80) ergeben.41 Art. 6 ARB 1/80 gewährt türkischen Arbeitnehmern, die dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung ein begrenztes Zugangsrecht zum nationalen Arbeitsmarkt, das mit fortschreitender Dauer der ordnungsgemäßen Beschäftigung nach vier Jahren in einem freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohnoder Gehaltverhältnis mündet. Art. 7 ARB 1/80 erweitert das Zugangsrecht auf die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, denen der Familiennachzug durch den jeweiligen Mitgliedstaat gestattet worden ist. Seit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Sevince ist anerkannt, daß diese Bestimmungen über ihren Wortlaut hinaus nicht nur die beschäftigungsrechtliche, sondern auch die aufenthaltsrechtliche Stellung eines Ausländers betreffen. Gewähre der Assoziationsratsbeschluß 1/80 einen Beschäftigungsanspruch, impliziere dies zwangsläufig, daß den türkischen Arbeitnehmern zumindest zu diesem Zeitpunkt auch ein Aufenthaltsrecht zustehe.42 Dieses Aufenthaltsrecht folgt unmittelbar aus Art. 6 und 7 ARB 1/80,43 die als Sekundärrechtsakte aufgrund eines von der Gemeinschaft abgeschlossenen Abkommens einen integralen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts darstellen44 und damit an dessen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht partizipieren. Klarstellend weisen § 4 Abs. 5 und § 50 Abs. 1 AufenthG daher darauf hin, daß die den assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen nach deutschem Recht erteilte Aufenthaltserlaubnis nur deklaratorischer Art und für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ohne Bedeutung ist. Die durch den Assoziationsratsbeschluß 1/80 gewährten Rechte gelten jedoch nicht unbegrenzt. Nach Art. 14 ARB 1/80 sind den Mitgliedstaaten Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gestattet, so daß auch eine Ausweisung grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist.45 Lange Zeit war umstritten, ob auch die zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG bzw. § 47 Abs. 1 AuslG 1990 auf diese Personengruppe anwendbar ist.46 Mit Urteil vom 3. August 2004 entschied das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf die Entscheidung des EuGH in der Sache Orfanopoulos und Oliveri zur Ausweisung freizügigkeitsberechtigter 41 Veröffentlicht in ANBA 1981, 4 ff. = InfAuslR 1982, 33 ff.; zur Rechtsprechungsentwicklung vgl. ausführlich Gutmann, Assoziationsfreizügigkeit, passim; außerdem Benassi, InfAuslR 1998, 473 ff.; Dörig, DVBl. 2005, 1221 ff.; Mallmann, NVwZ 1998, 1025 ff.; ders., ZAR 2006, 50 ff. 42 EuGH, Rs. C-192/89, Slg. 1990 I-3461 Rn. 28 f. – Sevince. 43 EuGH, Rs. C-192/89, Slg. 1990 I-3461 Rn. 21 ff. – Sevince; Rs. C-237/91, Slg. 1992 I-6781 Rn. 28 ff. – Kus; Rs. C-355/93, Slg. 1994 I-5113 Rn. 11 und 17 – Eroglu; Rs. C-351/95, Slg. 1997 I-2133 Rn. 28 – Kadiman. 44 Zum Assoziierungsabkommen EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719 Rn. 7 – Demirel; zum ARB 1/80 EuGH, Rs. C-192/89, Slg. 1990 I-3461 Rn. 9 – Sevince. 45 Vgl. zu den Schranken des Aufenthaltsrechts Gutmann, in: Barwig u. a., Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, S. 207 (213 ff.); Zuleeg, in: Barwig u. a., Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, S. 193 (199 ff.). 46 Vgl. BVerwGE 116, 55 (59 ff.); Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 23.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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Unionsbürger und in Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung, daß eine Ausweisung türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluß 1/80 besitzen, nur noch auf Grundlage einer Ermessensentscheidung erfolgen dürfe.47 Zur Begründung stützte es sich dabei maßgeblich auf die durch den EuGH entwickelten Auslegungsgrundsätze, wonach aus Art. 12 des Assoziierungsabkommens EWG / Türkei vom 12. September 196348 und Art. 36 des Zusatzprotokolls vom 19. Mai 197249 hervorgehe, daß türkischen Arbeitnehmern soweit wie möglich die gleichen Rechte gewährt werden sollen, wie sie freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern zustehen.50

e) Europa-Mittelmeer-Abkommen Umstritten ist, inwieweit sich aus den Europa-Mittelmeer-Abkommen (EMA) zwischen der EG, ihren Mitgliedstaaten und den Staaten des südlichen und östlichen Mittelmeerraums Aufenthaltsrechte für die jeweiligen Staatsangehörigen ergeben.51 Drei dieser im Rahmen des „Barcelona-Prozesses“ geschlossenen Abkommen, nämlich die mit Marokko, Tunesien und Algerien, enthalten ein identisch formuliertes Diskriminierungsverbot zugunsten von Arbeitnehmern, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates der Gemeinschaft aufhalten und dort beschäftigt sind. So bestimmt beispielhaft Art. 64 Abs. 1 EMA / Marokko, daß jeder Mitgliedstaat den Arbeitnehmern marokkanischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung gewährt, die hinsichtlich der Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen Staatsangehörigen bewirkt. Nach Abs. 2 gilt dies hinsichtlich der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen auch für alle marokkanischen Staatsangehörigen, die dazu berechtigt sind, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine befristete, nicht selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.52 Hinsichtlich der im wesentlichen gleichlautenden Vorschrift des Vorgängerabkommens mit Marokko hatte der EuGH in der Sache El-Yassini eine unmittelbare Wirkung angenommen,53 darüber hinaus aber eine aufenthaltsrechtliche Bedeutung des Diskriminierungsverbots im Grundsatz abgelehnt. Einem marokkanischen Arbeitnehmer, dem der Aufenthalt und die Aufnahme einer Beschäftigung 47 48 49 50 51

BVerwGE 121, 315 (321). BGBl. 1964 II S. 509. BGBl. 1972 II S. 385. BVerwGE 121, 315 (320). Zum Hintergrund der Europa-Mittelmeer-Abkommen vgl. Dienelt, InfAuslR 2004, 45

(45). 52 Art. 64 EMA / Marokko (BGBl. 1998 II S. 1810) und Art. 64 EMA / Tunesien (BGBl. 1997 II S. 343) sind insoweit identisch. Ein gleichlautendes Diskriminierungsverbot sieht Art. 67 EMA / Algerien vor (BGBl. 2003 II S. 1138). 53 EuGH, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 25 ff. – El-Yassini.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

gestattet worden war, sollte nicht allein deshalb ein Anspruch auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels zustehen, weil er im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einer Beschäftigung nachging und durch die Versagung einer Verlängerung zur vorzeitigen Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses gezwungen wurde.54 Zur Begründung hatte sich der EuGH maßgeblich darauf gestützt, daß die Lage ausländischer Arbeitnehmer nicht mit derjenigen der inländischen Arbeitnehmer vergleichbar sei, da die Mitgliedstaaten aufenthaltsrechtliche Maßnahmen gegen eigene Staatsangehörige von vornherein nicht anwenden dürften.55 Auch sollte eine Übertragung der Rechtsprechung zum Assoziierungsabkommen EWG / Türkei, nach der die beschäftigungsrechtlichen Vorschriften des Assoziationsratsbeschlusses 1/80 ein implizites Aufenthaltsrecht enthalten, insbesondere angesichts der unterschiedlichen Zielrichtung beider Abkommen – das Abkommen mit Marokko diente nicht der schrittweisen Verwirklichung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Vorbereitung eines auf längere Sicht zu prüfenden Beitritts zur Gemeinschaft – nicht in Betracht kommen.56 Anderes – und hier hatte der EuGH eine folgenschwere Einschränkung vorgenommen – sollte nur dann gelten, wenn ein Mitgliedstaat einem marokkanischen Arbeitnehmer in bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in bezug auf den Aufenthalt verliehen hatte, also die Aufenthaltserlaubnis ihrer Geltungsdauer nach kürzer war als die Arbeitserlaubnis. Das dem Betroffenen gewährte Recht zur Ausübung einer Beschäftigung wäre in diesem Fall ohne eine Verlängerung des Aufenthaltstitels praktisch wirkungslos. Deren Versagung müsse daher durch berechtigte Interessen des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, gerechtfertigt werden können.57 In der ausländerrechtlichen Rechtsprechung wurde daraufhin teilweise aus Art. 64 EMA / Marokko ein Rechtsanspruch auf Aufenthalt abgeleitet, wenn die Betroffenen im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung waren und keine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorlag.58 Dem trat das Bundesverwaltungsgericht mit dem Argument entgegen, daß auch eine unbefristete Arbeitsgenehmigung nach deutschem Recht kein von der Aufenthaltserlaubnis unabhängiges, gleichsam überschießendes Recht auf Fortsetzung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit vermittle. Vielmehr hingen die Erteilung und die Fortgeltung einer Arbeitsgenehmigung grundsätzlich vom Bestehen einer Aufenthaltsgenehmigung ab. Damit aber bestehe bei Erlöschen des Aufenthaltstitels auch keine weitergehende Arbeitsgenehmigung mehr, aus der sich nach der Rechtsprechung des EuGH ein Aufenthaltsrecht ableiten lasse.59

54

EuGH, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 62 f. – El-Yassini. EuGH, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 45 f. – El-Yassini. 56 EuGH, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 48 ff. – El-Yassini. 57 EuGH, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 64 ff. – El-Yassini. 58 Vgl. BayVGH, InfAuslR 2002, 381 (381 f.); InfAuslR 2003, 2 (2 f.). 59 BVerwGE 118, 249 (258 f.) mit Verweis auf § 284 Abs. 5 SGB III a. F. und § 8 Abs. 1 Nr. 1 ArGV a. F., wonach Voraussetzung für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ein Aufenthaltstitel war und die Arbeitserlaubnis mit Wegfall des Aufenthaltstitels erlosch. 55

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

247

Die Rechtslage, die mit der höchstrichterlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt schien,60 wird nun allerdings durch ein neuerliches Urteil des EuGH, diesmal zum gleichlautenden Art. 64 EMA / Tunesien in der Rechtssache Gattoussi, in Frage gestellt.61 Dem Vorabentscheidungsersuchen des VG Darmstadt lag der Fall eines tunesischen Staatsangehörigen zugrunde, dem nach seiner Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen eine auf zunächst drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis und eine unbefristete Arbeitsgenehmigung erteilt worden war und der seitdem einer nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit nachging. Nach der Trennung der Ehepartner befristete die zuständige Ausländerbehörde die Aufenthaltserlaubnis nachträglich auf den Tag der Zustellung der Verfügung und forderte den Kläger des Ausgangsverfahrens auf, Deutschland bei Meidung der Abschiebung unverzüglich zu verlassen. Der EuGH übertrug zunächst seine zum Kooperationsabkommen mit Marokko entwickelten Grundsätze zur unmittelbaren Wirkung und zur (partiellen) aufenthaltsrechtlichen Bedeutung des Diskriminierungsverbots auf Art. 64 EMA / Tunesien62 und führte sodann aus, daß ein Mitgliedstaat, wenn er einem Arbeitnehmer ursprünglich in bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in bezug auf den Aufenthalt verliehen habe, die Situation dieses Arbeitnehmers nicht aus Gründen in Frage stellen dürfe, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, dienten. In Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit gelte das erst recht, wenn der Mitgliedstaat die Aufenthaltserlaubnis nachträglich befriste.63 Wie sich insbesondere aus den Schlußanträgen des Generalanwalts ergibt, trat der EuGH damit in der Sache der Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts entgegen. Der Gene60 Vgl. VGH Kassel, DÖV 2005, 481 (481 f.); BayVGH, Beschluß vom 14.06.2005, Az. 24 ZB 05.242, Juris; Beschluß vom 06.10.2005, Az. 24 CS 05.2375, Juris; Beschluß vom 23.03.2006, Az. 24 CS 06.514, Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 25; kritisch allerdings Dienelt, InfAuslR 2004, 45 (49 f.). 61 Vgl. VGH Mannheim, InfAuslR 2008, 3 (5); OVG Hamburg, Urt. vom 29.05.2008, Az. 4 Bf 232/07, Juris; a. A. offenbar OVG Münster, Beschluß vom 22.06.2007, Az. 18 B 722/07, Juris und Beschluß vom 14.09.2007, Az. 18 E 881/07, Juris. 62 EuGH, Urt. vom 14.12.2006, Rs. C-97/05, Slg. 2006 I-11917 Rn. 24 ff. und 29 ff. – Gattoussi. Vgl. dazu kritisch Hailbronner, NVwZ, 2007, 415 (416 ff.), mit Verweis auf die Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien zum EMA / Tunesien, nach der das Diskriminierungsverbot nicht in Anspruch genommen werden können soll, um die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Allerdings erscheint insoweit die Begründung des GA Colomer, Schlußanträge vom 06.04.2006, Rs. C-97/05, Slg. 2006 I-11917 Rn. 46 ff. nicht unplausibel, nach der mit der Gemeinsamen Erklärung lediglich die EuGH-Rechtsprechung in der Sache El-Yassini nachvollzogen werden sollte, nach der allein aus der Existenz eines Arbeitsverhältnisses kein Anspruch auf Aufenthalt folgen kann. Für diesen Begründungsansatz spricht insbesondere, daß sich die Gemeinsame Erklärung auf die Konstellation beschränkt, in der die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung begehrt wird, nicht aber deren Entzug betrifft. Im übrigen enthält neben dem EMA / Tunesien nur das EMA / Marokko eine entsprechende Auslegungsbestimmung. Zumindest für eine Auslegung von Art. 67 EMA / Algerien bestünde daher keine vergleichbare Einschränkung. 63 EuGH, Urt. vom 14.12.2006, Rs. C-97/05, Slg. 2006 I-11917 Rn. 40 und 42 – Gattoussi.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ralanwalt betonte, daß das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten grundsätzlich weder den Widerruf, die Befristung oder die Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, noch die Verknüpfung dieser Erlaubnis mit der Arbeitserlaubnis verbiete. Die Verknüpfung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis dürfe jedoch nicht zur Verkürzung einer als unbefristet konzipierten Arbeitserlaubnis führen. Das hier entstehende Aufenthaltsrecht sei letztlich nur die Konsequenz aus der Erteilung einer unbefristeten Arbeitserlaubnis, zu der die Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtlich nicht verpflichtet seien.64 Was folgt nun daraus für die Anwendbarkeit von § 53 AufenthG auf die durch die Europa-Mittelmeer-Abkommen mit Marokko, Tunesien und Algerien privilegierten Arbeitnehmer? Anders als noch unter Geltung des Ausländergesetzes von 1990, das der Sache Gattoussi zugrunde lag, hat das Zuwanderungsgesetz die Arbeitsgenehmigung als selbstständige Genehmigung neben der Aufenthaltsgenehmigung abgeschafft. Stattdessen folgt die Erlaubnis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach § 4 Abs. 2 AufenthG unmittelbar aus dem erteilten Aufenthaltstitel. Die Arbeitsverwaltung ist über eine verwaltungsinterne Mitwirkung in das Entscheidungsverfahren eingebunden.65 Damit müßte auch vom Standpunkt des EuGH aus hinsichtlich der zeitlichen Geltung von vornherein ein Gleichklang zwischen Aufenthaltsrecht und Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestehen. Letztere kann jedenfalls nicht über die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels hinausgehen. Für den Fall der Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels kann daher kein „überschießendes“ Recht zur Aufnahme einer Beschäftigung entstehen, aus dem sich ein Anspruch auf Verlängerung des Aufenthaltstitels ergeben könnte.66 Anderes muß jedoch für den Fall gelten, daß ein Aufenthaltstitel durch nachträgliche Befristung, Rücknahme, Widerruf oder eben durch Ausweisung vorzeitig erlischt. Hier wird zugleich die ursprünglich für einen längeren Zeitraum vorgesehene Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nachträglich beschränkt. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist dies nun nur noch insoweit zulässig, wie es aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erforderlich ist. Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß eine zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG nach den in der Rechtssache Orfanopoulos und Oliveri entwickelten Grundsätzen für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ausscheiden muß, weil sie keine hinreichende Berücksichtigung des persönlichen Verhaltens des Täters oder der von ihm künftig ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung zuläßt.67 In der Gattoussi-Entscheidung mußte sich der EuGH mit dieser Frage nicht befassen, da der Fall eine im Ermessen der Ausländerbehörde liegende nachträgliche Befristung eines Aufenthaltstitels betraf. Ihre Beantwortung 64 Schlußanträge GA Colomer vom 06.04.2006, Rs. C-97/05, Slg. 2006 I-11917 Rn. 53 ff, insbesondere 59 f. 65 Vgl. die Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 2 AufenthG in BT-Drs. 15/420 S. 69. 66 So nun auch VGH Mannheim, Beschluß vom 24.01.2008, Az. 11 S 2765/07, Juris. 67 EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 – Orfanopoulos u. Oliveri ./. Land Baden-Württemberg; vgl. dazu ausführlich oben unter II. 1. a).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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wird davon abhängen, ob sich der EuGH künftig bei der näheren Ausfüllung des Begriffs der öffentlichen Ordnung von seiner Rechtsprechung zu Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG bzw. nun Art. 27 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG leiten lassen wird. In der Sache dürfte eine solche Übertragung schon deshalb nicht gerechtfertigt sein, weil die Europa-Mittelmeer-Abkommen nicht die Freizügigkeit von Arbeitnehmern zum Gegenstand haben. Auch zielen sie nicht wie das Assoziierungsabkommen EWG / Türkei auf eine Angleichung der Aufenthaltsbedingungen für Arbeitnehmer an den Freizügigkeitsstatus der Unionsbürger, was eine Übertragbarkeit der dort geltenden Grundsätze begründen würde. Andererseits entspringt die Schrankentrias der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, auf die der EuGH in der Sache El-Yassini rekurriert, seiner Rechtsprechung zur Freizügigkeit von Unionsbürgern und assoziationsrechtlich privilegierten Türken.68 Daran anknüpfend legte er speziell den Begriff der öffentlichen Ordnung in der Sache Gattoussi unter ausdrücklichem Verweis auf seine zur Unionsbürgerfreizügigkeit ergangene Rechtsprechung dahingehend aus, daß er eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraussetze, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berühre.69 Davon ausgehend dürfte es für den EuGH nur einen kleinen Schritt bedeuten, auch die in der Sache Orfanopoulos und Oliveri entwickelten Grundsätze zu übertragen. In der Konsequenz könnten dann auch Staatsangehörige von Algerien, Marokko und Tunesien, soweit ihnen aus dem Diskriminierungsverbot des jeweiligen Europa-Mittelmeer-Abkommens ein Aufenthaltsrecht zusteht, nur aufgrund einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausgewiesen werden.

f) Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige Auch aus der Richtlinie zur Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen 2003/109/EG vom 25. November 2005 läßt sich ein Ausweisungsschutz ableiten, der einer Ausweisung nach § 53 AufenthG prinzipiell entgegensteht.70 Mit der Richtlinie soll die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen, die sich dauerhaft in einem Mitgliedstaat aufhalten, verbessert und an diejenige der Unionsbürger angenähert werden.71 Zu diesem Zweck führt die Richtlinie den mit einem besonderen Aufenthaltstitel (langfristige Aufenthaltsberechtigung – EG) verbundenen Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ein. Anspruchberechtigte Drittstaatsangehörige genießen insbesondere im wirtschaftlichen und sozialen Bereich eine weitgehende Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates und ein den freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern angenähertes Wanderungsrecht für sich und ihre Familienangehörigen innerhalb der 68 Vgl. Schlußanträge GA Léger, Rs. C-416/96, Slg. 1999 I-1209 Rn. 65 – El-Yassini mit ausdrücklichem Verweis auf EuGH, Rs. C-292/89, Slg. 1991 I-745 – Antonissen und EuGH, Rs. C-237/91, Slg. 1992 I-6781 Rn. 34 – Kus. 69 EuGH, Urt. vom 14.12.2006, Rs. C-97/05, Slg. 2006 I-11917 Rn. 41 – Gattoussi. 70 Zum Text vgl. ABl. EU 2004, Nr. L 16, S. 44. 71 Vgl. 1. und 2. Erwägungsgrund.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Gemeinschaft.72 Voraussetzung für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung ist ein mindestens fünfjähriger ununterbrochener und rechtmäßiger Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, sowie der Nachweis darüber, daß ein Drittstaatsangehöriger über feste und regelmäßige Einkünfte, die ihm die Bestreitung des Lebensunterhalts für sich und seine Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen ermöglichen und über eine hinreichende Krankenversicherung verfügt. Die Mitgliedstaaten können außerdem die Erfüllung von Integrationsanforderungen nach nationalem Recht zur Voraussetzung erheben und die Rechtsstellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder öffentlichen Sicherheit versagen. Von vornherein vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind insbesondere Ausländer, die sich allein zwecks Studiums oder Berufsausbildung in einem Mitgliedstaat aufhalten, deren Aufenthalt zum vorübergehenden Schutz oder aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationaler Verpflichtungen, nationaler Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt worden ist, sowie Flüchtlinge.73 Hinsichtlich der Aufenthaltsbeendigung gewährt Art. 12 der Richtlinie besonderen Ausweisungsschutz. Ein langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger kann gemäß Abs. 1 nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, wobei eine Ausweisung nach Abs. 2 nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen darf. Ob mit dieser Regelung derselbe Ausweisungsschutz beabsichtigt ist, wie ihn Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG bzw. nun Art. 27 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG Unionsbürgern gewährt, ist entstehungsgeschichtlich zweifelhaft. So sah der ursprüngliche Kommissionsentwurf eine deutlicher an die für Unionsbürger geltenden Bestimmungen angelehnte Regelung vor.74 Diese enthielt insbesondere den Passus, daß die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein keine automatische Ausweisungsentscheidung tragen kann, auf den sich der EuGH bei der Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG stützte, um die im deutschem Recht vorgesehene zwingende Ausweisung, aber auch die Ausweisung im Regelfall für gemeinschaftsrechtswidrig zu erklären.75 Der Kommissionsvorschlag, der insoweit ausweislich seiner Begründung eine Gleichstellung langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger mit Unionsbürgern bezweckte,76 wurde jedoch nicht in die endgültige Richtlinienfassung übernommen. Vielmehr läßt sich nun dem 8. Erwägungsgrund entnehmen, daß der Begriff der öffentlichen Ordnung die Verurteilung wegen der Begehung einer schwerwie72 Vgl. zur Daueraufenthaltsrichtlinie ausführlich Hailbronner, ZAR 2004, 163 ff.; Hauschild, ZAR 2003, 380 ff.; Thiele, EuR 2007, 419 (437 f.); Welte, InfAuslR 2007, 45 ff. 73 Vgl. im einzelnen dazu Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 und Art. 6 der RL 2003/109/ EG. 74 Vgl. Art. 13 KOM (2001) 127 endg., in: ABl. EG 2001, Nr. C 240 E, S. 79. 75 EuGH, Rs. C-482/01 u. C-493/01, Slg. 2004 I-5257 – Orfanopoulos u. Oliveri ./. Land Baden-Württemberg; vgl. dazu ausführlich oben unter II. 1. a). 76 Vgl. Begründung Nr. 3 zu Art. 13 KOM (2001) 127 endg., in: ABl. EG 2001, Nr. C 240 E, S. 79.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

251

genden Straftat umfaßt. Daraus muß richtigerweise der Schluß gezogen werden, daß der Vorbehalt zugunsten der öffentlichen Ordnung und Sicherheit trotz der von der Richtlinie bezweckten Annäherung an den Status der Unionsbürger nicht eng im Sinne des Unionsbürgerfreizügigkeitsrechts zu verstehen ist, sondern einen weiteren Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten eröffnet, der auch eine stärkere Berücksichtigung der durch den deutschen Gesetzgeber mit § 53 AufenthG vorgenommenen typisierenden Gefahrenprognose erlaubt.77 Anders könnte der EuGH nur dann entscheiden, wenn er schon den Begriff der „gegenwärtigen Gefahr“ so eng auslegt, daß er eine in jedem Einzelfall vorzunehmende individuelle Gefahrenprognose verlangt. Unabhängig von der richtigen Auslegung des Ordre-Public-Vorbehalts, der bis zu einer Befassung durch den EuGH wohl mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sein wird, ergibt sich jedoch eine Unvereinbarkeit jedenfalls der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG aus Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie. Danach haben die Mitgliedstaaten vor Erlaß einer Ausweisungsverfügung die Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet, das Alter des Betroffenen, die Folgen für ihn und seine Familienangehörigen und die Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder die fehlenden Bindungen zum Herkunftsland zu berücksichtigen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat sich hierbei an den Kriterien orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK entwickelt hat und die nun schon von Gemeinschaftsrechts wegen vor Erlaß einer Ausweisungsverfügung gegen langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige durch die Mitgliedstaaten zu beachten sind.78 In seiner ursprünglichen, mit dem Zuwanderungsgesetz 2004 in Kraft getretenen Fassung ließ das Aufenthaltsgesetz keine hinreichende Berücksichtigung dieser Kriterien zu. § 53 AufenthG schloß – auch in Verbindung mit dem besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG – eine Prüfung im Sinne von Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie aus. Besonders deutlich wird dies hinsichtlich der zu beachtenden Folgen für die Familienangehörigen. § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG sieht zwar eine Rückstufung der zwingenden Ausweisung zur Regelausweisung vor, wenn der auszuweisende Ausländer mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner zusammenlebt; außen vor bleiben aber ausländische Familienangehörige, deren Beeinträchtigung ebenfalls zu beachten ist. Entsprechendes gilt auch für das Alter des Auszuweisenden. Die Richtlinienbegründung der Kommission verweist diesbezüglich darauf, daß die Folgen einer Ausweisung für einen Minderjährigen oder eine ältere Person nicht mit denen vergleichbar seien, die eine andere Person zu tragen habe.79 Davon aus77 In diese Richtung auch Hailbronner, ZAR 2004, 163 (166); a. A. Lüdke, InfAuslR 2007, 177 (177); kritisch auch Welte, InfAuslR 2007, 45 (48 f.), der in Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/ EG einen mit § 56 Abs. 1 AufenthG vergleichbaren Ausweisungsschutz sieht. 78 Vgl. 16. Erwägungsgrund und Begründung Nr. 4 zu Art. 13 KOM (2001) 127 endg., in: ABl. EG 2001, Nr. C 240 E, S. 79. 79 Vgl. Begründung Nr. 4 zu Art. 13 KOM (2001) 127 endg., in: ABl. EG 2001, Nr. C 240 E, S. 79.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

gehend trifft die Mitgliedstaaten die Pflicht, die besondere Härte zu berücksichtigen, die mit einer Ausweisung für Minderjährige oder ältere Personen verbunden ist oder zumindest verbunden sein kann. § 56 Abs. 2 AufenthG sieht aber nur besonderen Ausweisungsschutz für Heranwachsende vor; eine entsprechende Regelung für ältere Personen fehlt. Was schließlich die Dauer des Aufenthalts und – eng damit verknüpft – die Bindungen des Ausländers an den Aufenthaltsstaat und das Herkunftsland angeht, genügte § 56 AufenthG den Anforderungen der Richtlinie nur im Grundsatz. So wird die zwingende Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG bei einem Ausländer, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, zur Regelausweisung herabgestuft. Gleiches gilt nach Nr. 2 für in der Bundesrepublik geborene oder als Minderjährige eingereiste Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten. Der besondere Ausweisungsschutz trägt hier dem langen Aufenthalt und den daraus entstehenden starken Bindungen Rechnung, die aufgrund der gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen mit einer Niederlassungserlaubnis oder der besonderen Lebenssituation eines Einwanderers der zweiten Generation typischerweise verbunden sind. Ein Konflikt mit den Richtlinienbestimmungen war aber dann denkbar, wenn im Einzelfall Aufenthaltszeiten entscheidungsrelevant waren, in denen sich ein Ausländer nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten, gleichwohl aber starke soziale oder kulturelle Bindungen entwickelt hatte. Der Gesetzgeber hat diese Problematik nun – wenn auch gemessen an der Umsetzungsfrist der Daueraufenthaltsrichtlinie verspätet – erkannt und durch eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes, konkret durch Einführung von § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a AufenthG, entschärft.80 Danach wird die zwingende Ausweisung bei langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen stets zur Regelausweisung herabgestuft. Die Ausländerbehörden können (und müssen) damit die in Art. 12 Abs. 3 der Daueraufenthaltsrichtlinie genannten Kriterien berücksichtigen, wenn sie über das Vorliegen eines Ausnahmefalls entscheiden. Da diese Kriterien letztlich der Verwirklichung des durch Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens dienen, haben sich die Ausländerbehörden weiterhin bei der Auslegung und Anwendung von Art. 12 Abs. 3 schon von Gemeinschaftsrechts wegen an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK zu orientieren. Vom ganzen unberührt bleibt freilich der aufenthaltsrechtliche Schutz von Drittstaatsangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt haben, sich aber aufgrund ihres Wanderungsrechts in der Bundesrepublik aufhalten. Für deren Aufenthaltsbeendigung sieht Art. 17 der Daueraufenthaltsrichtlinie lediglich eine von der Person ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit vor, ohne daß eine Art. 12 Abs. 3 entsprechende Prüfung 80

Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, BGBl. I S. 1970; vgl. Einzelbegründung zu Nr. 44, Buchstabe a, in: BT-Drs. 16/5065, S. 184.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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vorzunehmen ist. In diesen Fällen bleibt es daher – soweit der hier vertretenen Auffassung zur Nichtübertragbarkeit der für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitschranken gefolgt wird – bei einer Anwendbarkeit von § 53 AufenthG.

g) Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen Die Überlegungen zum Ausweisungsschutz nach der Daueraufenthaltsrichtlinie lassen sich sinngemäß auf die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 übertragen.81 Auch diese enthält in Art. 6 einen Vorbehalt zugunsten der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, einem Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen Einreise und Aufenthalt zum Zweck des Familiennachzugs zu verwehren und – was im vorliegenden Zusammenhang von Relevanz ist – dessen Aufenthaltstitel nachträglich zu entziehen. Der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Kommission enthielt insofern eine weitergehende Regelung, nach der die Gründe der öffentlichen Ordnung und – wie es im Entwurf noch hieß – der „inneren“ Sicherheit ausschließlich auf der persönlichen Verhaltensweise des Familienangehörigen beruhen mußten.82 Dieses Konkretisierungsmerkmal hatte die Kommission den für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitsschranken aus Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG entnommen.83 Der Passus wurde jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aus Gründen der Kohärenz mit den mitgliedstaatlichen Vorschriften über die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufgegeben.84 Außerdem wurde der 14. Erwägungsgrund der Richtlinie eingefügt, nach dem der Begriff der öffentlichen Ordnung auch die Verurteilung wegen der Begehung einer schwerwiegenden Straftat umfassen kann. Damit setzt sich die Familienzusammenführungsrichtlinie wie schon die Daueraufenthaltsrichtlinie deutlich von den für Unionsbürger geltenden Vorschriften ab, wonach strafrechtliche Verurteilungen allein Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht begründen können. Entstehungsgeschichtlich ist damit klar, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber mit dem Ordre-Public-Vorbehalt des Art. 6 nicht die für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger geltenden, strengeren Voraussetzungen übernehmen wollte. Demgemäß ist den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein weiterer Beurteilungsspielraum einzuräumen, der anders als bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern grundsätzlich auch Raum für eine zwingenden Ausweisung läßt. 81

Zum Text vgl. ABl. EU 2003, Nr. L 251, S. 12; überblicksartige Darstellungen finden sich etwa bei Dienelt, InfAuslR 2005, 445 ff.; Groenendijk, ZAR 2006, 191 ff.; Langenfeld / Mohsen, ZAR 2003, 398 ff.; Thiele, EuR 2007, 419 (431 ff.); Weber / Walter, RdJB 2004, 108 ff. 82 Vgl. Art. 8 Abs. 2 KOM (1999) 638 endg., abgedruckt in: ABl. EG 2000, Nr. C 116 E, S. 66. 83 Vgl. Begründung Nr. 2 zu Art. 8 KOM (1999) 638 endg., abgedruckt in: ABl. EG 2000, Nr. C 116 E, S. 66. 84 Dienelt, InfAuslR 2005, 445 (448).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Allerdings verlangt Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie ähnlich wie Art. 12 Abs. 3 der Daueraufenthaltsrichtlinie, daß bei Entzug des Aufenthaltsrechts in gebührender Weise die Art und Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen sind. Damit sollen ausweislich der Kommissionsbegründung die Anforderungen von Art. 8 EMRK, wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelt wurden, beim Entzug des Aufenthaltsrechts berücksichtigt werden.85 Auch wenn Art. 17 nicht das Alter des Betroffenen als weiteres Kriterium nennt und eine Berücksichtigung der übrigen Kriterien nur „in gebührender Weise“ verlangt, also etwas hinter den Vorgaben des Art. 12 Abs. 3 der Daueraufenthaltsrichtlinie zurückbleibt, kann eine Ausweisungsentscheidung nach §§ 53, 56 AufenthG insoweit auch den Anforderungen der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht hinreichend Rechnung tragen.86 Das gilt namentlich für die familiären Bindungen im Mitgliedstaat, die nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG nur hinsichtlich deutscher Familienangehöriger zu einer Herabstufung zur Regelausweisung führen, im übrigen aber, d. h. gerade für den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie, die allein die Rechte der Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen betrifft, unberücksichtigt bleiben. Außerdem gehen die Dauer des Aufenthalts und die familiären, kulturellen und sozialen Bindungen eines Ausländers zum Herkunftsland allenfalls schematisch und letztere auch nur inzident durch § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1und 2 AufenthG in die Ausweisungsentscheidung ein, sofern nämlich bei entsprechend verfestigtem Aufenthaltstitel oder bei Einwanderern der zweiten Generation eine Herabstufung zur Regelausweisung erfolgt. Gänzlich unberücksichtigt bleibt etwa eine Entfremdung vom Herkunftsland, wenn ein Ausländer trotz langen, aber nur partiell rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht über die für eine Herabstufung mindestens erforderliche Dauer von fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts verfügt. Anders als hinsichtlich der Daueraufenthaltsrichtlinie hat der Gesetzgeber die jüngsten Änderungen des Aufenthaltsgesetzes nicht genutzt, um diesen Konflikt zwischen § 53 AufenthG und Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie zu bereinigen. Zur Rechtfertigung kann er sich auch nicht auf den in Art. 63 Abs. 2 EG enthaltenen Vorbehalt berufen, wonach auf Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 und 4 EG gestützte Sekundärrechtsakte wie die Familienzusammenführungsrichtlinie die Mitgliedstaaten nicht hindern, innerstaatliche Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen, die mit dem Vertrag und mit internationalen Übereinkünften vereinbar sind. In Ablehnung einer teilweise im Schrifttum vertretenen Auffassung hat die Generalanwältin Kokott in ihren Schlußanträgen zum Urteil über die Familienzusammenführungsrichtlinie überzeugend dargelegt, daß diese auf Wunsch Deutschlands eingefügte Klausel nicht als Einschränkung der rechtlichen Wirkung von Sekundär85

Vgl. Begründung zu Art. 15 KOM (1999) 638 endg., abgedruckt in: ABl. EG 2000, Nr. C 116 E, S. 66. 86 So auch Dienelt, InfAuslR 2005, 445 (449 f.).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

255

rechtsakten verstanden werden kann.87 Mit dem Hinweis auf den Vertrag ist wie im übrigen Gemeinschaftsrecht gerade auch das Sekundärrecht gemeint. Ein anderes Verständnis würde der gleichzeitig mit der Einführung von Abs. 2 erfolgten Übertragung der in Abs. 1 Nr. 3 und 4 enthaltenen Regelungskompetenzen auf die Gemeinschaft die Wirksamkeit nehmen. Abs. 2 ist vielmehr einschränkend auszulegen und lediglich als Auftrag an den Gemeinschaftsgesetzgeber zu verstehen, den Mitgliedstaaten bei Erlaß von Sekundärrechtsakten einen ausreichenden Gestaltungsspielraum zu belassen.88 Da Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie im Sinne der EuGH-Rechtsprechung als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau bezeichnet werden kann, ist mithin seit Ablauf der Umsetzungsfrist vom 3. Oktober 2005 nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen von einer unmittelbaren Wirkung und einer gegenüber § 53 AufenthG vorrangigen Anwendbarkeit der Vorschrift auszugehen. Für die Ausländerbehörden bedeutet dies, daß sie bei einer Ausweisung nach § 53 AufenthG eine ergänzende Prüfung der durch Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie genannten und im Lichte von Art. 8 EMRK auszulegenden Kriterien vorzunehmen und gegebenenfalls von einer Ausweisung abzusehen haben.89 In praktischer Hinsicht wird diese Prüfung freilich dadurch erschwert, daß die Ausländerbehörden in jedem Einzelfall zunächst zu ermitteln haben, ob ein auszuweisender Ausländer nach der Familienzusammenführungsrichtlinie überhaupt aufenthaltsberechtigt ist. Anders als nach der Daueraufenthaltsrichtlinie verfügen nachzugsberechtigte Ausländer nicht über einen besonderen Aufenthaltstitel, der sie von ausschließlich nach den Familiennachzugsregelungen des Aufenthaltsgesetzes aufenthaltsberechtigten Ausländern unterscheidet.

2. Besonderer Ausweisungsschutz gemäß § 56 AufenthG Soweit sich nicht bereits aus vorrangigem Gemeinschaftsrecht bzw. Gemeinschaftsrecht umsetzenden Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes eine Nichtanwendbarkeit oder zumindest eine Modifizierung von § 53 AufenthG ergibt, ist schließlich der bereits mehrfach angesprochene Ausweisungsschutz nach § 56 AufenthG zu beachten, der bestimmten, durch den Gesetzgeber als besonders schutzwürdig eingestuften Personengruppen zuteil wird. Für den Zweck dieser Arbeit können dabei die Regelungen für zum vorrübergehenden Schutz aufgenommene Vertriebene, für Asylbewerber und für heimatlose Ausländer vernachlässigt werden, deren Ausweisung nach § 56 Abs. 4 und 5 AufenthG bzw. § 23 Abs. 1 87

So aber etwa Rossi, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 63 EG Rn. 47 f.; Weiß, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 63 EG Rn. 68; a. A. bereits Hailbronner, CMLRev. 1998, 1047 (1051); Weber, ZAR 1998, 147 (151). 88 GA Kokott, Schlußanträge in der Rs. C-540/03, Slg. 2006 I-5769 Rn. 38 ff. – Familienzusammenführungsrichtlinie. 89 Vgl. grundlegend EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1861 Rn. 28 ff. – Costanzo; zur dogmatischen Begründung einer Nichtanwendung europarechtswidriger Gesetze durch die Verwaltung ausführlich Pietzcker, in: FS-Everling, S. 1095 (1098 ff.).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

HAG nur unter erschwerten Voraussetzungen zulässig ist, die aber bei Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht von der zwingenden Rechtsfolge des § 53 AufenthG ausgenommen werden. Anderes gilt jedoch für den besonderen Ausweisungsschutz gemäß § 56 Abs. 1 und 2 AufenthG. § 56 Abs. 1 AufenthG privilegiert – neben den nach der Daueraufenthaltslinie 2003/109/EG aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Ausländer, die eine Niederlassungserlaubnis besitzen und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten (Nr. 1) und in der Bundesrepublik geborene oder als Minderjährige eingereiste Ausländer, also im weiteren Sinne Einwanderer der zweiten Generation, soweit sie eine Aufenthaltserlaubnis besitzen und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten (Nr. 2). Erstreckt wird der besondere Ausweisungsschutz weiterhin auf deren Ehe- oder Lebenspartner, wenn dieser selbst eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält (Nr. 3). Außerdem gilt die Privilegierung des Abs. 1 für Ausländer, die mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft leben (Nr. 4) und für Ausländer, die als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG anerkannt sind, die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach § 60 Abs. 1 AufenthG genießen oder einen von der Bundesrepublik ausgestellten Reiseausweis für Flüchtlinge im Sinne von § 1 Abs. 3 AufenthV besitzen (Nr. 5). § 56 Abs. 1 AufenthG verlangt in diesen Fällen für die Ausweisung schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und stuft die zwingende Ausweisungsfolge nach § 53 AufenthG zur Regelausweisung herab. Da nach Satz 3 schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel bei Verwirklichung eines Ausweisungsgrundes nach § 53 AufenthG als gegeben gelten, wird die eigentliche Erleichterung hier vielfach allein in der Modifizierung der Rechtsfolge liegen. Die Herabstufung zur Regelausweisung eröffnet den Ausländerbehörden die Möglichkeit, von einer Ausweisung abzusehen, wenn andernfalls ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK droht. § 56 Abs. 2 AufenthG privilegiert minderjährige und heranwachsende Ausländer. Damit wird der besonderen Vertrautheit mit den deutschen Lebensverhältnissen und spiegelbildlich der Entfremdung vom eigenen Herkunftsland bzw. vom Herkunftsland der Eltern, aber auch der besonderen Schutzwürdigkeit der ElternKind-Beziehung Rechnung getragen.90 Der Begriff des Minderjährigen und Heranwachsenden orientiert sich an der Kategorisierung des Jugendstrafrechts, nach der ein Heranwachsender ein junger Erwachsener ist, der schon das 18. nicht aber das 21. Lebensjahr vollendet hat.91 Heranwachsende Ausländer, die im Bundesgebiet aufgewachsen sind und eine Niederlassungserlaubnis besitzen und minderjährige Ausländer, die eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis besitzen, dürfen – vorbehaltlich des neu eingefügten Satzes 3 – nur nach Ermessen ausgewiesen wer90 91

Hailbronner, Ausländerrecht, § 56 AufenthG Rn. 62. Hailbronner, Ausländerrecht, § 56 AufenthG Rn. 61.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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den, so daß auch hier eine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK im Rahmen der Ermessenentscheidung möglich ist.

3. Zwischenergebnis Zusammenfassend, so kann bereits an dieser Stelle festgehalten werden, lassen die zahlreichen Einschränkungen des § 53 AufenthG kaum noch Raum für eine Ausweisungsentscheidung, bei der nicht die Vereinbarkeit der Aufenthaltsbeendigung mit dem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu prüfen ist. Dies gilt für Familienangehörige Deutscher, die nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießen, wie für Unionsbürger und deren Familienangehörige, deren Rechtsstellung durch das Freizügigkeitsgesetz / EU geregelt ist. Drittstaatsangehörige schließlich, die weder mit einem Deutschen, noch mit einem Unionsbürger in familiärer Lebensgemeinschaft leben und auch keinen dem Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern angenäherten Aufenthaltsstatus besitzen, wird vielfach nach der Daueraufenthaltsrichtlinie oder der Familienzusammenführungsrichtlinie Ausweisungsschutz zukommen. Allenfalls in Ausnahmefällen scheint damit eine unmodifizierte Anwendung von § 53 AufenthG möglich. Hinsichtlich der Familienangehörigen von Deutschen und Unionsbürgern ist dabei an Personen zu denken, die zwar vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK umfaßt sind, nicht aber unter den im Lichte von Art. 6 GG auszulegenden Familienbegriff des § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG fallen bzw. keine Familienangehörigen im Sinne von § 3 Abs. 2 FreizügG / EU sind. Für Drittstaatsangehörige bleibt es bei einer unmodifizierten Geltung von § 53 AufenthG, wenn sie weder nach der Familienzusammenführungsrichtlinie aufenthaltsberechtigt sind, noch die Voraussetzungen für einen Daueraufenthaltsrecht erfüllen – was auch bei einem längeren Aufenthalt der Fall sein kann, etwa weil sie lediglich über einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen oder nicht über hinreichende Einkünfte zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügen – und auch kein besonderer Ausweisungsschutz, insbesondere nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 3 oder § 56 Abs. 2 AufenthG, in Betracht kommt.

III. Lösungsansätze Auch wenn sich das Konfliktpotential zwischen § 53 AufenthG einerseits und den konventionsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK andererseits bei einer sorgfältigen Berücksichtigung der zahlreichen, insbesondere gemeinschaftsrechtlich begründeten Einschränkungen als weitaus weniger gravierend erweist, als dies zumindest auf den ersten Blick zu vermuten ist, bleibt die Frage aufgeworfen, ob und gegebenenfalls wie eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatund Familienlebens vermieden werden kann, wenn es im Einzelfall bei einer unmodifizierten Anwendbarkeit von § 53 AufenthG verbleibt.

258

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

1. Art. 8 EMRK als völkerrechtlich vermittelter Ausweisungsschutz Als Ausweg wird in Rechtsprechung und Schrifttum verbreitet ein ergänzend zu den Vorschriften der §§ 53 ff. AufenthG zu prüfender völkerrechtlich vermittelter Ausweisungsschutz aus Art. 8 EMRK in Betracht gezogen, der im Einzelfall ein Absehen von einer an sich zwingend vorgeschriebenen Ausweisung gebieten kann.92 In methodischer Hinsicht lassen sich dabei zwei Begründungsansätze unterscheiden.

a) Inkorporation von Art. 8 EMRK auf verfassungsrechtlicher Ebene Die Einführung der zwingenden Ausweisung durch das Ausländergesetz von 1990 hat eine insbesondere im ausländerrechtlichen Schrifttum geführte Debatte um die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung ausgelöst. Im Zentrum der Kritik stand dabei die fehlende Flexibilität von § 47 Abs. 1 AuslG 1990, der es den Ausländerbehörden verwehrte, zur Vermeidung unbilliger Härten im Einzelfall von einer Ausweisung abzusehen. Vielfach wurde darin ein Konflikt mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gesehen.93 Dem ist das Bundesverwaltungsgericht mit zwei Beschlüssen aus dem Dezember 1993 entgegen getreten. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung des § 47 Abs. 1 AuslG 1990 müßten die Ausweisungsvorschriften in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Mit dem an der Schwere des Ausweisungsgrundes orientierten abgestuften System der Ermessensausweisung, der Ausweisung im Regelfall und der zwingenden Ausweisung sowie dem besonderen Ausweisungsschutz für bestimmte Ausländergruppen, deren Verbleib in der Bundesrepublik ein hohes Gewicht zukomme, trage das Gesetz grundsätzlich den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinreichend Rechnung.94 Daß es darüber hinaus Fälle geben könne, in denen eine Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990 unverhältnismäßig sei, bezweifelte das Bundesverwaltungsgericht. Jedenfalls könne 92

Grundlegend VGH Mannheim, InfAuslR 2001, 286 (287), InfAuslR 2002, 2 ff.; anerkennend BVerwG, Buchholz 140 Art. 8 EMRK Nr. 14. Vgl. außerdem VG Freiburg, Urt. vom 05.12.2001, Az. 1 K 627/00, Juris; VG Freiburg, Beschluß vom 06.02.2002, Az. 1 K 64/02, Juris; VG Freiburg, Urt. vom 18.09.2002, Az. 1 K 1488/01, Juris; VGH Mannheim, NVwZ-RR 2003, 304 (306); VG Bayreuth, Beschluß vom 27.08.2003, Az. B 1 S 03.915, Juris; OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (330); VG Stuttgart, Urt. vom 30.08.2005, Az. 16 K 1379/05, Juris; VG Saarland, Urt. vom 18.01.2006, Az. 5 K 62/04, Juris; VG Braunschweig, Beschluß vom 14.05.2007, Az. 6 B 259/06, Juris; VG Darmstadt, Beschluß vom 13.02.2008, Az. 8 G 1906/07; Cremer, ZAR 2006, 341 (352 ff.); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 890; Grupp / Stelkens, DVBl. 2005, 133 (135 ff.); Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 47. 93 Heldmann / Franz / Weichert, Ausländergesetz (2. Auflg.), § 47 AuslG Rn. 1; Funke-Kaiser / Müller, in: Barwig u. a., Das neue Ausländerrecht, S. 135 (140); Kanein / Renner, Ausländerrecht (5. Auflg.), § 47 AuslG Rn. 7; Wollenschläger / Schraml, ZAR 1992, 66 (70). 94 BVerwG, NVwZ 1994, 505 (506) und DVBl. 1994, 527 (528 f.).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

259

es sich dabei nur um höchst seltene, außergewöhnliche Fälle handeln, bei denen Kraft vorrangigen Rechts die Ausweisung zu unterbleiben habe, die aber die Gültigkeit der Norm sonst nicht in Frage stellten.95 Diese letzte Aussage wurde vielfach in dem Sinne verstanden, daß auch bei einer zwingenden Ausweisung der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten sei und unter außergewöhnlichen Umständen zu einem Absehen von der eigentlich zwingenden Rechtsfolge führen müsse.96 Einen Schritt weiter geht nun das Verwaltungsgericht des Saarlandes in einem Urteil aus dem Januar 2006, mit dem es eine gegen den Kläger erlassene Ausweisungsverfügung wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK aufhob.97 Der Fall betraf einen libanesischen Staatsangehörigen, der wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt worden war und sich durch die Ausweisung in seinem Umgangsrecht mit seinen 11 bzw. 13 Jahre alten Töchtern beeinträchtigt sah, die sowohl die libanesische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Die entscheidende Kammer hielt den Ausweisungsgrund des § 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AuslG 1990, aber auch den Tatbestand des § 48 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990 für erfüllt, so daß die an sich zwingende Ausweisung im Wege besonderen Ausweisungsschutzes für Familienangehörige Deutscher zu einer Regelausweisung herabgestuft war. Auf die Frage, ob ein unter dem Gesichtspunkt des Familienschutzes atypischer, vom Regelfall abweichender Geschehensablauf anzunehmen sei, ging die Kammer jedoch nicht weiter ein. Selbst wenn man nämlich davon ausgehe, daß der Kläger zwingend auszuweisen sei, erweise sich die Ausweisung im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig. Zur Begründung rekurrierte die Kammer auf die soeben dargestellte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der auch bei einer zwingenden Ausweisung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. In diesem Rahmen, so die Kammer, müsse auch das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berücksichtigt werden. Die Urteilsbegründung kann wohl nur so verstanden werden, daß das Verwaltungsgericht hier zwei Argumentationsstränge zusammenführt – eben den des Bundesverwaltungsgerichts zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der zwingenden Ausweisung und jenen des Bundesverfassungsgerichts, das die Europäische Menschenrechtskonvention als Auslegungsmaßstab für die Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes versteht.98

95

BVerwG, NVwZ 1994, 505 (506) und DVBl. 1994, 527 (529). Vgl. BayVGH, InfAuslR 1994, 257 (258 f.); BVerwG, Beschluß vom 21.08.1997, Az. 1 B 163/97, Juris; OVG Koblenz, NVwZ-RR 1999, 205 (205); VGH Mannheim, NVwZ-RR 2003, 304 (306); VG München, Urt. vom 01.10.2003, Az. M 7 K 02.4242, Juris; BayVGH, Beschluß vom 23.02.2005, Az. 24 ZB 04.2197, Juris. 97 VG Saarland, Urt. vom 18.01.2006, Az. 5 K 62/04, Juris. 98 BVerfGE 111, 307 (317) – Görgülü; vgl. dazu ausführlich oben unter A. III. 2. b). 96

260

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

b) Inkorporation von Art. 8 EMRK auf einfachgesetzlicher Ebene Die Europäische Menschenrechtskonvention wirkt jedoch nicht nur auf die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes ein, sondern gilt, vermittelt über das Zustimmungsgesetz zur Europäischen Menschenrechtskonvention, als einfaches Bundesgesetz.99 Diese Rangzuweisung hat der 13. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zum Anlaß genommen, aus Art. 8 EMRK ein einfachgesetzliches Ausweisungsverbot abzuleiten, daß auch bei einer zwingenden Ausweisung ergänzend zu beachten sei. In einem Beschluß aus dem Februar 2001 führte er nach umfassender Untersuchung zur Stellung der Konvention in der deutschen Rechtsordnung aus, daß Art. 8 EMRK zwar wie das Ausländergesetz im Range eines einfachen Bundesgesetzes gelte, aber in Durchbrechung des allgemeinen Grundsatzes „lex posterior derogat legi priori“ neben dem später erlassenen Ausländergesetz anwendbar sei. Zwar sei zweifelhaft, ob der in § 1 Abs. 1 AuslG 1990 (wie heute in § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG) enthaltende Vorbehalt zugunsten anderer Gesetze nach dem Willen des Gesetzgebers auch auf das Zustimmungsgesetz zur Europäischen Menschenrechtskonvention ziele, jedenfalls ergebe sich aber aus den Grundsätzen über den Rang von durch Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG in das innerstaatliche Recht transformierten völkerrechtlichen Verträgen und dem Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, daß die Konvention, soweit sie einen weitergehenden Schutz als das später erlassene Ausländergesetz vermittelt, nicht von diesem verdrängt werde. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers hätte ausdrücklich formuliert werden müssen.100 An diese Begründung anknüpfend hob der 13. Senat wenige Monate später in einem rechtskräftigen Urteil eine auf § 47 Abs. 1 AuslG 1990 gestützte Ausweisungsverfügung wegen Verstoßes gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK auf.101 Inzwischen wurde dieser Art. 8 EMRK auf einfachgesetzlicher Ebene inkorporierende Ansatz auch in der Rechtsprechung anderer Gerichte102 und im Schrifttum103 positiv aufgenommen.

99 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (317); ausführlich dazu oben unter A. III. 2. a). 100 VGH Mannheim, InfAuslR 2001, 286 (287). 101 VGH Mannheim, InfAuslR 2002, 2 ff. 102 VG Freiburg, Urt. vom 05.12.2001, Az. 1 K 627/00, Juris; VG Freiburg, Beschluß vom 06.02.2002, Az. 1 K 64/02, Juris; VG Freiburg, Urt. vom 18.09.2002, Az. 1 K 1488/01, Juris; VGH Mannheim (11. Senat), NVwZ-RR 2003, 304 (306); VG Bayreuth, Beschluß vom 27.08.2003, Az. B 1 S 03.915, Juris; OVG Bremen, InfAuslR 2004, 328 (330); VG Stuttgart, Urt. vom 30.08.2005, Az. 16 K 1379/05, Juris; VG Braunschweig, Beschluß vom 14.05.2007, Az. 6 B 259/06, Juris; wohl auch BVerwG, Urt. vom 11.07.2003, Az. 1 B 252/02, Buchholz 140 Art. 8 EMRK Nr. 14. 103 Cremer, ZAR 2006, 341 (350 ff.); Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 890; Grupp / Stelkens, DVBl. 2005, 133 (135 ff.); Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 47.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

261

c) Legitimität der Methode Kann nun ein zu § 53 AufenthG ergänzend herangezogener, völkerrechtlich vermittelter Ausweisungsschutz aus Art. 8 EMRK in methodischer Hinsicht überzeugen?

aa) Verfassungskonforme Auslegung von § 53 AufenthG Höchst zweifelhaft erscheint zunächst der durch das Bundesverwaltungsgericht vorgezeichnete und vom Verwaltungsgericht des Saarlandes fortgeführte Weg über eine gleichsam übergesetzliche Verhältnismäßigkeitskontrolle. Ein solcher Weg setzt voraus, daß § 53 AufenthG einer Ergebniskorrektur durch den im Lichte von Art. 8 EMRK ausgefüllten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit überhaupt zugänglich ist. Das Bundesverwaltungsgericht scheint davon offenbar mittels einer verfassungskonformen Auslegung – andernfalls hätte es gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen müssen – auszugehen; im Schrifttum werden Zweifel geäußert.104 Die Figur der verfassungskonformen Auslegung findet sich bereits in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts105 und gilt seitdem als allgemein anerkanntes, wenn auch nicht gänzlich unumstrittenes Instrument, um eine Rechtsnorm vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu verschonen.106 Sieht man von vereinzelt geäußerten, kompetenzrechtlich begründeten Einwänden gegen eine verfassungskonforme Auslegung durch die Fachgerichtsbarkeit107 und den divergierenden Auffassungen über die richtige Begründung einer verfassungskonformen Auslegung – genannt werden eine grundsätzliche Vermutung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes,108 der Gedanke der Einheit der

104 Funke-Kaiser / Müller, in: Barwig u. a., Das neue Ausländerrecht, S. 135 (140); Grupp / Stelkens, DVBl. 2005, 133 (137); Heldmann / Franz / Weichert, Ausländergesetz (2. Auflg.), § 47 AuslG Rn. 1; Renner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 5. 105 BVerfGE 2, 266 (282). 106 Vgl. etwa Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 536 f.; Löwer, in: HbStR III, § 70 Rn. 126; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 440 f.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 20 Rn. 9; grundlegend: Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung; Burmeister, Verfassungsorientierung; Eckhardt, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (74 ff.); Haak, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 96 ff; Spanner, AöR 91 (1966), 503 ff.; zuletzt: Lüdemann, JuS 2004, 27 ff.; Rieger, NVwZ 2003, 17 ff; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 ff. 107 Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 31 f.; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 124 f.; Ossenbühl, Richterrecht, S. 18; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 112; Stern, Staatsrecht I, S. 136; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (185 ff.). 108 BVerfGE 2, 266 (282); kritisch dazu bereits Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24 f.; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 21 f.; Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 92 ff.; Haak, Verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 184 ff.

262

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Rechtsordnung,109 der verfassungsrechtlich gebotene Respekt vor dem Gesetzgeber110 oder das Interesse an der Normerhaltung111 – ab, die im Rahmen dieser Arbeit keiner weiteren Untersuchung bedürfen, besteht der Kerngedanke der verfassungskonformen Auslegung darin, von mehreren Interpretationsmöglichkeiten einer Norm, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige zu wählen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht.112 Damit ist zugleich die Grenze einer verfassungskonformen Auslegung, nämlich die Interpretationsfähigkeit der Norm, benannt. Das Bundesverfassungsgericht betont daher regelmäßig, daß eine verfassungskonforme Auslegung weder dem Wortlaut und Sinn der Norm widersprechen,113 noch das gesetzgeberische Ziel verfälschen darf.114 Betrachtet man nun die Regelung des § 53 AufenthG, läßt diese bereits ihrem Wortlaut nach eine Ergebniskorrektur in Härtefällen nicht zu. Ein Ausländer „wird ausgewiesen, wenn“ er einen der dort genannten Ausweisungsgründe erfüllt. Eine generelle Härtefallklausel sieht § 53 AufenthG nicht vor. Allein in den abschließend genannten Fällen des § 56 AufenthG wird besonderer Ausweisungsschutz gewährt, der im Einzelfall zu einem Absehen von der Ausweisung führen kann. Auch der Gesetzgeber ist ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990 davon ausgegangen, daß bei Verwirklichung eines Ausweisungsgrundes eine Ausweisung stets zu erfolgen hat. So heißt es: „Die Vorschrift sieht für Fälle besonders schwerer Kriminalität als zwingende Rechtsfolge die Aufenthaltsbeendigung vor. Lediglich die in § 48 bezeichneten Ausländer sind davon ausgenommen.“115 Eine davon abweichende Regelung ist mit § 53 AufenthG ausdrücklich nicht beabsichtigt. „Die Vorschriften entsprechen inhaltlich den gegenwärtig in den §§ 45 bis 47 AuslG normierten Ausweisungstatbeständen. Die Ausweisungstatbestände werden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit neu strukturiert.“116 Mehr noch spricht eine Gesamtbetrachtung des gesetzlichen Ausweisungsrechts gegen eine Härtefallprüfung im Rahmen von § 53 AufenthG. Der Gesetzgeber hat sich in Abkehr von der früher allein vorgesehenen Ermessensausweisung für ein dreistufiges System aus Ermessensausweisung, Ausweisung im Regelfall und zwingender Ausweisung entschieden. Die Ermessensausweisung, die schon bei einer einfachen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erfolgen kann, ist ergebnisoffen; sie kann, muß aber nicht verfügt werden. 109

BayVerfGHE 5, 19 (29); 5, 41 (45); 10, 101 (113); Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 22 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 81; kritisch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25 f.; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 100 f. 110 BVerfGE 100, 226 (267); Lüdemann, JuS 2005, 27 (29); Zippelius, Recht und Gerechtigkeit, S. 397. 111 Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (183). 112 BVerfGE 32, 272 (383 f.); 51, 304 (323); 64, 229 (242); 69, 1 (55); 88, 203 (331); 100, 226 (267). 113 BVerfGE 2, 380 (398); 18, 97 (110); 67, 382 (390); 86, 288 (320); 90, 263 (275); 100, 226 (267). 114 BVerfGE 8, 28 (34); 8, 71 (78 f.); 9, 109 (118); 18, 97 (111); 54, 277 (299 f.). 115 BT-Drs. 11/6321, S. 73 (Hervorhebungen durch den Verf.). 116 BT-Drs. 15/420, S. 90.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

263

Die Regelausweisung für die Fälle einer erhöhten Gefährlichkeit des Ausländers indiziert die Notwendigkeit einer Ausweisung, erlaubt den Ausländerbehörden jedoch davon abzusehen, „wenn im Einzelfall besondere Umstände gegeben sind, die den Ausländer entlasten oder aufgrund derer die Ausweisung als unangemessene Härte erscheint“.117 Bei den besonders schwerwiegenden Ausweisungsgründen des § 53 AufenthG muß schließlich eine Ausweisung erfolgen, ohne daß den Ausländerbehörden ein Ermessen (wie bei § 55 AufenthG) oder eine Prüfung besonderer Härten (wie bei § 54 AufenthG) erlaubt ist. Dieses Regelungssystem ist, von der Durchbrechung durch § 56 AufenthG abgesehen, abschließend und in sich geschlossen. Eine auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestützte Härtefallprüfung im Rahmen von § 53 AufenthG würde insbesondere den Unterschied zur Regelausweisung nivellieren und damit die mit § 53 AufenthG angestrebte gesetzgeberische Zielsetzung aushebeln. Folgerichtig würde eine entsprechende Interpretation die anerkannten Grenzen der verfassungskonformen Auslegung überschreiten. Der durch das Verwaltungsgericht des Saarlandes entwickelte Lösungsansatz zur Berücksichtigung von Art. 8 EMRK scheitert damit an seinen Voraussetzungen.

bb) Qualitative Teilnichtigkeit von § 53 AufenthG Nur ergänzend seien an dieser Stelle noch folgende Überlegungen angestellt: Die Aussage des Bundesverwaltungsgerichts, daß die Existenz der höchst außergewöhnlichen Fälle, in denen eine zwingende Ausweisung gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, nicht die Gültigkeit der Norm sonst in Frage stelle, läßt sich auch im Sinne einer geteilten Wirksamkeit von § 53 AufenthG verstehen. Zu Recht wird insofern darauf aufmerksam gemacht, daß das deutsche Recht keine relativ nichtigen Normen kenne, eine Norm also nur gegenüber jedermann wirksam oder gegenüber jedermann nichtig sein könne.118 Die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts, die von einer grundsätzlichen Gültigkeit von § 53 AufenthG ausgeht, gleichwohl aber in besonderen Härtefällen unter Rückgriff auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einer Ausweisung absehen will, erinnert an den sogenannten Anwendungsvorrang des Europäischen Gemeinschaftsrechts gegenüber widersprechenden nationalen Rechtsvorschriften. Diese Konstruktion trägt aber allein dem besonderen Verhältnis zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht Rechnung und läßt sich daher nicht auf die innerstaatliche Normenhierarchie übertragen.119 Dennoch greift der pauschale Einwand gegen eine geteilte Wirksamkeit von § 53 AufenthG zu kurz. In der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsge117

BT-Drs. 11/6321, S. 73. Grupp / Stelkens, DVBl. 2005, 133 (137). 119 Vgl. zur Begründung etwa Heckmann, Geltungskraft, S. 332 ff. m.w.N.; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 3. 118

264

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

richts finden sich zahlreiche Beispiele dafür, daß einfachgesetzliche Normen nur teilweise für nichtig erklärt werden.120 Dabei handelt es sich freilich nicht um eine relative Nichtigkeit. Der für nichtig erklärte Normteil ist gegenüber jedermann nichtig, der wirksame Teil gegenüber jedermann wirksam. Bei einer Teilnichtigkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht lassen sich zwei Formen der Nichtigkeitserklärung unterscheiden. Denkbar ist zunächst eine Reduzierung des Normtextes um einen Satz, einen Satzteil oder nur ein Wort, sofern darin eine eigenständige und damit teilbare Regelung, die gegen das Grundgesetz verstößt, zum Ausdruck kommt.121 Im Hinblick auf § 53 AufenthG hilft diese Form der Teilnichtigkeit jedoch nicht weiter, da nicht allein einer der dort genannten Ausweisungsgründe für sich genommen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, sondern nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung – zumindest in höchst außergewöhnlichen Fällen – bei jeder Tatbestandsvariante des § 53 AufenthG eintreten kann. Demgegenüber stehen nun Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht die Norm bloß hinsichtlich eines bestimmten Anwendungsfalls für verfassungswidrig und nichtig erklärt, den Normtext selbst aber unberührt läßt. Nach Skouris wird hier von einer qualitativen Teilnichtigkeit gesprochen.122 Ein typisches Beispiel liefert die Entscheidung zur steuerlichen Absetzbarkeit von Parteispenden. § 10b EStG und § 11 Ziff. 5 KStG in der Fassung von 1954123 erlaubten Ausgaben zu „staatspolitischen Zwecken“ bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Einkommens vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen. Weil davon auch Zuwendungen an politische Parteien erfaßt wurden, sah das Bundesverfassungsgericht unter anderem einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit gemäß Art. 21 Abs. 1 GG, da aufgrund der progressiven Steuersätze bestimmte Parteien mit einer einkommensstarken Wählerschaft faktisch bevorteilt waren.124 In seiner Entscheidungsformel stellte es die Nichtigkeit der streitbefangenen Regelungen fest, „soweit nach diesen Bestimmungen unmittelbare oder mittelbare Zuwendungen an politische Parteien als Ausgaben zur Förderung staatspolitischer Zwecke“ von den zu versteuernden Einkünften abgezogen werden konnten.125 Eine solche qualifizierte Teilnichtigkeit, die den Normtext von § 53 AufenthG erhält, ihm aber bestimmte Anwendungsfälle 120 Vgl. nur Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 534; Löwer, in: HbStR III, § 70 Rn. 115; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 8 Rn. 15; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384 ff. 121 Ipsen, Rechtsfolgen, S. 99; Löwer, in: HbStR III, § 70 Rn. 115; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 384; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 90 ff. 122 Skouris, Teilnichtigkeit, S. 92 f.; vgl. auch Ipsen, Rechtsfolgen, S. 100 f.; Löwer, in: HbStR III, § 70 Rn. 115; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 386 ff. Zur umstrittenen Frage der Abgrenzung von qualitativer Teilnichtigkeit und verfassungskonformer Auslegung siehe einerseits Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 387 u. a.rseits Skouris, Teilnichtigkeit, S. 106 ff.; ein praktisches Beispiel zur Abgrenzung findet sich in BVerfGE 11, 168 (190 ff.). 123 Vgl. BGBl I S. 441 bzw. BGBl I S. 467. 124 BVerfGE 8, 51 (63 ff.). 125 BVerfGE 8, 51 (52) (Hervorhebung durch den Verf.).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

265

entzieht, in denen eine Ausweisung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, setzt jedoch mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts voraus, daß sich für die Nichtigkeitserklärung eine Formulierung finden läßt, die den nichtigen Teil von dem gültigen justiziablen abgrenzt.126 In den bislang entschiedenen Fällen der qualitativen Teilnichtigkeit ließ sich eine solche hinreichend klare Formulierung stets ohne nennenswerten sprachlichen Aufwand finden.127 Hinsichtlich § 53 AufenthG ergibt sich aber eine Unverhältnismäßigkeit aus einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls, die sich weder durch eine gesetzgeberische, noch durch eine verfassungsgerichtliche Formulierung mit hinreichender Klarheit antizipieren lassen. Relevant sind etwa die spezifische Gefahr, die von einem Ausländer für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht, die individuellen familiären und sonstigen persönlichen Umstände, die Dauer des Aufenthalts und das Ausmaß der Integration in der Bundesrepublik oder die Situation im Herkunftsland eines Ausländers. Demnach kommt auch eine qualitative Teilnichtigkeit von § 53 AufenthG nicht in Betracht.

cc) Einfachgesetzliches Konkurrenzverhältnis zugunsten von Art. 8 EMRK Demgegenüber kann der ursprünglich durch den baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof entwickelte Lösungsweg über eine auf einfachgesetzlicher Ebene vorrangige Anwendung von Art. 8 EMRK gegenüber dem Aufenthaltsgesetz nicht von vornherein von der Hand gewiesen werden. Die gegen eine Ergebniskorrektur des § 53 AufenthG über eine verfassungskonforme Auslegung sprechenden Überlegungen – namentlich der auch bei erschöpfender Auslegung zwingende Wortlaut der Norm – greifen hier nicht durch, da es eben nicht um eine verfassungskonforme Auslegung von § 53 AufenthG selbst geht, sondern um die Bestimmung des Konkurrenzverhältnisses zwischen dem Aufenthaltsgesetz einerseits und der ebenfalls im Range eines einfachen Bundesgesetzes geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention andererseits.128 Gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention dabei kein automatischer Anwendungsvorrang vor dem Aufenthaltsgesetz zu, ebensowenig wie allerdings ein Anwendungsvorrang des Aufenthaltsgesetzes vor 126

BVerfGE 21, 12 (39 f.); dazu Löwer, in: HbStR III, § 70 Rn. 115. Vgl. etwa BVerfGE 8, 51 (52): Zuwendungen an politische Parteien als Unterfall von Ausgaben zur Förderung staatspolitischer Zwecke; BVerfGE 11, 168 (169): Gelegenheitsverkehr mit Mietwagen und Droschken als Unterfall des öffentlichen Verkehrs; BVerfGE 19, 330 (331): Einzelhandel mit Waren aller Art in Abgrenzung zum Einzelhandel mit Lebens- oder Arzneimitteln; BVerfGE 61, 291 (291 f.): Inbesitznahme, Bearbeitung und Veräußerung tot aufgefundener Vögel zu Forschungs- Unterrichts oder Lehrzwecken in Abgrenzung zu sonstigen Zwecken; BVerfGE 62, 117 (118 f.): Aufnahme eines Zweitstudiums vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung; BVerfGE 68, 272 (273): Geschäftsmäßige Anfertigung von Bauvorlagen vor Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung. 128 In diesem Sinne auch Grupp / Stelkens, DVBl. 2005, 133 (139). 127

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

der Europäischen Menschenrechtskonvention allein deshalb angenommen werden kann, weil ersteres zeitlich nach dem Zustimmungsgesetz zur Konvention erlassen wurde. Vielmehr ist die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden.129 Eine methodisch vertretbare Auslegung muß dabei an der Regelung des § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG ansetzen, hat der Gesetzgeber hier doch selbst das Rangverhältnis zwischen dem Aufenthaltsgesetz und sonstigem Gesetzesrecht bestimmt. Danach bleiben Regelungen in anderen Gesetzen durch das Aufenthaltsgesetz unberührt. Da nun einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention über das Zustimmungsgesetz in den Vorrang des Gesetzes einbezogen ist und sich dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG andererseits keine Einschränkung dergestalt entnehmen läßt, daß sich die Vorrangklausel gerade nicht auf die Europäische Menschenrechtskonvention beziehen soll, müßte – allein am Wortlaut orientiert – von einer vorrangigen Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK gegenüber dem Aufenthaltsgesetz ausgegangen werden, soweit sich aus Art. 8 EMRK im Einzelfall ein weitergehender Schutz als der durch das Aufenthaltsgesetz vermittelte ergibt.130 Zieht man freilich den subjektiv-historischen Willen des Gesetzgebers ergänzend zum Wortlaut als Auslegungshilfe heran, erscheint eine Einbeziehung der Konvention in die Vorrangklausel des § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG mehr als zweifelhaft. Der Gesetzesbegründung läßt sich entnehmen, daß der Gesetzgeber bei anderen Gesetzen im Sinne der Norm an gegenüber dem Aufenthaltsgesetz speziellere Vorschriften z. B. das Asylverfahrensgesetz, das Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer oder das Streitkräfteaufenthaltsgesetz gedacht hat.131 Auch wenn die Benennung anderer Gesetze in diesem Zusammenhang nur beispielhaft erfolgt, also eine Einbeziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht ausschließt, folgt aus der Gesetzesbegründung, daß ein anderes Gesetz im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG gegenüber dem Aufenthaltsgesetz jedenfalls eine speziellere Regelung darstellen muß. Dies wird nicht zuletzt durch die Gesetzesbegründung zur sinngemäß gleichlautenden Vorgängervorschrift in § 1 Abs. 1 AuslG 1990 erhärtet, wonach der Vorrangklausel allein eine klarstellende Funktion zukommen, mithin nur das gelten soll, was sich auch ohne ihre Einfügung in das Gesetz bereits aus allgemeinen Vorrangregeln, namentlich dem lexspecialis-Grundsatz, ergibt.132 Unter dem Gesichtspunkt der Spezialität kann die Europäische Menschenrechtskonvention jedoch kaum als gegenüber dem Aufenthaltsgesetz vorrangig angesehen werden. Von vornherein ausgeschlossen ist ein Spezialitätsverhältnis, wenn maßgeblich auf das Thema der Ausweisung abzustellen sein sollte. Dieses wird ausdrücklich nur durch das Aufenthaltsgesetz ge129 BVerfGE 111, 307 (passim) – Görgülü; vgl. im einzelnen dazu oben unter A. III. 2. a) und b). 130 So auch Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 728. 131 Vgl. BT-Drs. 15/420, S. 68. 132 Vgl. den Abschlußbericht des Innenausschusses, in: BT-Drs. 11/6960, S. 21.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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regelt, während Art. 8 EMRK im umfassenden Sinne ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gewährt, das lediglich im Einzelfall aufenthaltsrechtliche Wirkungen entfalten kann. Aber auch soweit in der Europäischen Menschenrechtskonvention ein für Menschenrechtsfragen spezielleres Gesetz und damit im Regelfall nicht durch spätere Bundesgesetze verdrängtes Gesetz zu sehen sein sollte,133 erweist sich dieser Ansatz zumindest mit Blick auf das Aufenthaltsgesetz als problematisch. Keineswegs klammert das Aufenthaltsgesetz menschenrechtliche Fragen inhaltlich aus und überläßt diese der Europäischen Menschenrechtskonvention. Anders als das Ausländergesetz von 1965, das im Rahmen seiner Schlußbestimmungen in § 55 Abs. 3 AuslG 1965 einen Vorbehalt zugunsten abweichender Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen enthielt, kennen weder das Ausländergesetz von 1990 noch das geltende Aufenthaltsgesetz eine vergleichbare Klausel. Vielmehr ist der Gesetzesbegründung zum Ausländergesetz von 1990, das in seiner Grundstruktur durch das Aufenthaltsgesetz fortgeschrieben wird, eine ausführliche Darstellung der grundrechtlichen und auch völkerrechtlichen Rahmenbedingungen vorangestellt, die der Gesetzgeber bei der Konzeption des Ausländergesetzes von 1990 berücksichtigen wollte. Insbesondere heißt es dort, daß die ausländergesetzliche Regelung eine uneingeschränkte Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen sicherstellen muß.134 Daraus wird man schließen müssen, daß der Gesetzgeber die völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts bereits durch die Vorschriften des Ausländergesetzes selbst umsetzen wollte. Objektiv manifestiert hat sich dieses gesetzgeberische Anliegen in zahlreichen Vorschriften des Ausländergesetzes bzw. nun des Aufenthaltsgesetzes, die grundrechtlichen wie menschenrechtlichen Vorgaben Rechnung tragen. Im vorliegenden Zusammenhang sei nur auf die Berücksichtigung familiärer Belange in § 55 Abs. 3 AufenthG, auf den besonderen Ausweisungsschutz des § 56 AufenthG und die Vorschrift des § 60 Abs. 5 AufenthG hingewiesen, nach der unter ausdrücklichem Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention ein Abschiebungsverbot besteht, wenn eine Abschiebung den Verpflichtungen der Konvention widerspricht. Menschenrechtliche Aspekte werden damit durch das Aufenthaltsgesetz – und zwar gerade im Zusammenhang mit der Ausweisung – selbst geregelt. Eine andere Frage ist freilich, ob der im Aufenthaltsgesetz objektiv manifestierte subjektiv-historische Wille des Gesetzgebers einer Einbeziehung der Konvention in die Vorrangsklausel des § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG zwingend entgegensteht, obwohl eine Wortlautauslegung bei unbefangener Betrachtung für deren Einbeziehung spricht. Geht man mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, daß einfaches Gesetzesrecht schon aufgrund einer verfassungsrechtlich begründeten Pflicht nach Möglichkeit so auszulegen ist, daß eine Verletzung der völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik vermieden wird, so kann 133

So etwa Bernhardt, in: HbStR VII, § 174 Rn. 29; Frowein, in: HbStR VII, § 180 Rn. 6; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 177, 405; Tomuschat, in: HbStR VII, § 172 Rn. 35. 134 Vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 41 ff., insbesondere S. 43.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

und muß hier einer Wortlautauslegung von § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG der Vorzug gegenüber einer am subjektiv-historischen Willen des Gesetzgebers orientierten Interpretation gegeben werden. Dies gilt allerdings nur dann, wenn eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch eine andernfalls gemäß § 53 AufenthG zwingend zu verfügende Ausweisung auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.

2. Lösung auf der Vollstreckungsebene Neben einem Rückgriff auf Art. 8 EMRK schon bei der Ausweisungsentscheidung könnte aber ein Ausweg aus einer drohenden Verletzung der Konvention auch – gleichsam gesetzesimmanent – auf der Vollstreckungsebene gesucht werden. Entsprechende Ansätze finden sich sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum. Das Instrumentarium des Aufenthaltsgesetzes, angefangen mit der Möglichkeit zur Befristung der Ausweisungswirkung gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG bis hin zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG, sei vollkommen ausreichend, um das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens zu wahren.135 Kann ein solcher Lösungsweg überzeugen?

a) Gesetzlicher Rahmen Der durch das Aufenthaltsgesetz vorgegebene Rahmen für eine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK auf der Vollstreckungsebene erweist sich bei näherer Betrachtung als eng gesteckt – wenn auch nicht als so eng, daß das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens unter keinem Gesichtspunkt aufenthaltsschützende Wirkung entfalten kann.

aa) Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots Unproblematisch möglich ist zunächst eine Befristung der Ausweisungsfolgen. Gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG bewirkt die Ausweisung ein grundsätzlich unbegrenztes Einreise- und Aufenthaltsverbot, schließt einen Ausgewiesenen also dauerhaft vom Bundesgebiet aus. Die Ausländerbehörde hat jedoch – von den seltenen Fällen des Satzes 5 abgesehen – die Sperrwirkung der Ausweisung auf Antrag in der Regel zu befristen und dem Betroffenen damit vorbehaltlich der für die Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels bestehenden Voraussetzungen die Rückkehr in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Die Befristungsmöglichkeit wurde konzipiert, 135 In diesem Sinne VGH Kassel, NVwZ-RR 2004, 379 (379); VG Karlsruhe, Urt. vom 29.11.2004, Az. 10 K 891/03, Juris; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 1; Renner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 5; Sennekamp, ZAR 2002, 136 (143 f.); wohl auch Albrecht, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 53 AufenthG Rn. 4.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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um die einschneidenden Folgen einer Ausweisung für die persönliche Lebensführung des Ausländers zu entschärfen und bei generalpräventiv motivierten Ausweisungsgründen zu verhindern, daß sich die Ausweisung im Verhältnis zur beabsichtigten Abschreckung anderer Ausländer als unangemessen erweist.136 Auch wenn – wie in der hier untersuchten Fallkonstellation – die Verwirklichung eines Ausweisungsgrundes nach § 53 AufenthG wegen der Schwere der Verfehlung auf einen von der Regel abweichenden Ausnahmefall, in dem keine Befristung erfolgen darf, hindeutet137 und sich auch bei der Bemessung der Frist zuungunsten des Antragstellers auswirkt,138 schließt dies eine Befristung der Ausweisungswirkung, unter Umständen auch auf eine nur kurze Dauer, nicht aus, wenn nur so eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens vermieden werden kann. Die Ausländerbehörde hat sich bei der Entscheidung über das Vorliegen einer Ausnahme vom Regelfall und bei der Bemessung der Frist von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK leiten zu lassen.139 Erforderlich ist allerdings stets ein entsprechender Antrag des Betroffenen.140 Eine Befristung der Ausweisungswirkungen von Amts wegen ist angesichts des klaren Wortlauts von § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG ausgeschlossen und im übrigen auch zur Vermeidung einer ansonsten rechtswidrigen Ausweisung nicht erforderlich. Dem Aufenthaltsgesetz liegt eine Trennung zwischen der Ausweisungsentscheidung und der Entscheidung über die Befristung der Ausweisungsfolgen zugrunde. Eine rechtsfehlerhaft bemessene oder ganz unterlassene Befristung führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Ausweisung selbst, sondern zu einem bei Vorliegen der weiteren verfahrensrechtlichen Voraussetzungen mit der Verpflichtungsklage durchsetzbaren (Regel-)Anspruch des Betroffenen auf Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbots.141 Anderes läßt sich auch nicht aus der Gesetzgebungsgeschichte ableiten.142 Richtig ist zwar, daß sich das Antragserfordernis historisch 136 Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 18; grundlegend zur Bedeutung der Befristung für die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung BVerfGE 51, 386 (398 f.). 137 Nr. 11.1.4.4.1 AH-BMI; so auch Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 22; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 14; Renner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 10. 138 Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 32 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 22 ff. 139 Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 29, 34; Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 16, 26; vgl. auch zu Art. 6 GG BVerfGE 51, 386 (398 f.) und zu Art. 8 EMRK BVerwGE 121, 297 (314). 140 Nr. 11.1.3.5 AH-BMI; VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 153 (154); Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 18; wohl auch Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 18 ff.; a. A. Renner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 5. 141 Grundlegend BVerwG, NJW 1981, 1919 (1919); BVerwG, NVwZ 1994, 505 (506); NVwZ 2008, 326 (327); VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 153 (153 f.); Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 16; unklar insoweit BVerwGE 121, 297 (314). 142 So aber Renner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rn. 5.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

auf eine Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf des Ausländergesetzes von 1990 zurückführen läßt, in der ein Antrag des Ausgewiesenen vor allem aus praktischen Gründen für erforderlich gehalten wurde, weil der Ausländerbehörde nach der Ausreise des Ausländers dessen Aufenthaltsort typischerweise unbekannt sei. Entsprechend sah der Formulierungsvorschlag des Bundesrates ein Antragserfordernis auch nur für die Fälle einer nach der Ausreise vorzunehmenden Befristung vor.143 Der Innenausschuß des Bundestages griff diese Überlegung auf, erhob das Antragserfordernis aber zur generellen Befristungsvoraussetzung ohne zwischen einer Befristung vor und nach der Ausreise zu differenzieren.144 Daß es sich dabei um ein gesetzgeberisches Versehen gehandelt haben soll, kann kaum unterstellt werden. Dies gilt um so mehr, als der Gesetzgeber die Befristungsregelung in das Aufenthaltsgesetz unverändert übernommen, aber um die Pflicht der Ausländerbehörde ergänzt hat, den Betroffenen auf das Antragserfordernis gemäß § 82 Abs. 3 AufenthG hinzuweisen.145 Zu beachten ist schließlich, daß eine Befristung der Ausweisungsfolgen gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG nicht automatisch bedeutet, daß dem betroffenen Ausländer nach Ablauf der Frist eine Wiedereinreise in die Bundesrepublik gestattet ist. Außerdem sind die Vorschriften über die Wiederkehr von Ausländern in § 37 AufenthG als so enge Ausnahmeregelungen gefaßt, daß sie vielfach nicht einschlägig sein werden.146 Es verbleibt allerdings die Möglichkeit, nach den allgemeinen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes die Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis zu prüfen. Diese lassen – wie noch zu zeigen sein wird – jedenfalls bei einer an Art. 8 EMRK orientierten Auslegung und Anwendung mehr Raum für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, als dies bislang in Rechtsprechung und Schrifttum wahrgenommen wird.147

bb) Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG Durchgreifende Einwände bestehen allerdings gegen eine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK als rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG, sofern eine Konventionsverletzung auch durch eine Befristung der Ausweisungsfolgen nicht abgewendet werden kann. Zwar wird in der Rechtsprechungspraxis der Verwaltungsgerichte vielfach – die Kommentarliteratur spricht gar

143 Vgl. Nr. 4 des Bundesratsbeschlusses vom 16.02.1990, in: BR-Drs. 11/90, zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 7 und Einzelbegründung zu § 8 AuslG, S. 57. 144 Vgl. Beschlußempfehlung des Innenausschusses, in: BT-Drs. 11/6955, S. 12; Bericht des Innenausschusses, in: BT-Drs. 11/6960, S. 21. 145 Vgl. wörtlich BT-Drs. 15/420, S. 73: „Auf das Antragserfordernis bei der Befristung der Einreisesperre nach Absatz 1 soll künftig […] hingewiesen werden.“ 146 Vgl. Tryjanowski, InfAuslR 2007, 268 ff.; skeptisch zur Bedeutung der Befristungsmöglichkeit insofern auch BVerfG, NVwZ 2007, 946 (947). 147 Vgl. dazu unter C. III.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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von einer eigenständigen Fallgruppe148 – ein Duldungsanspruch aus § 60a Abs. 2 AufenthG zur Wahrung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK149 oder zumindest zur Überbrückung bis zur Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis150 anerkannt. Dies steht jedoch im Widerspruch zur gesetzlichen Konzeption der Duldung als einem grundsätzlich auf die Abschiebung gerichteten Instrument der Verwaltungsvollstreckung, das lediglich eine zeitlich befristete Aussetzung der Abschiebung ermöglicht und nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise erteilten Aufenthaltsrechts besitzt, wie bereits das Bundesverwaltungsgericht zur Duldung nach § 55 AuslG 1990 festgestellt hat.151 Schon die amtliche Überschrift von § 60a AufenthG definiert die Duldung als nur „vorrübergehende“ Aussetzung der Abschiebung. Entsprechend ist die durch eine oberste Landesbehörde anzuordnende Duldung bestimmter Ausländergruppen aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik nach Abs. 1 auf einen Zeitraum von höchstens sechs Monaten begrenzt. Auch die hier in Rede stehende individuelle Duldung nach Abs. 2 darf nur erfolgen, „solange“ die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist, unterstellt also eine zeitliche Begrenzung der Aussetzung, auf die grundsätzlich eine Vollstreckung der Ausreisepflicht folgen soll. Im übrigen läßt eine Duldung gemäß Abs. 3 die gesetzliche Ausreisepflicht eines Ausländers unberührt. Ein auf Dauer angelegter unrechtmäßiger Aufenthalt zur Wahrung des Privat- und Familielebens in der Bundesrepublik kann aber in einer als in sich geschlossen gedachten Rechtsordnung nicht gewollt sein. Bereits mit dem Ausländergesetz von 1990 hat der Gesetzgeber seinen klaren Willen zum Ausdruck gebracht, daß eine Duldung nicht zur dauerhaften Ermöglichung des Aufenthalts diene und eine entsprechende Klausel in § 55 Abs. 3 AuslG 1990, der damals noch vorgesehenen Ermessensduldung, aufgenommen. Ausweislich der Gesetzesbegründung lag darin eine Reaktion auf die ausländerrechtliche Praxis, in der die Duldung vielfach zwecks langfristiger Aufenthaltsgewährung und als 148

Hailbronner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 23. So zuletzt etwa VG Düsseldorf, Beschluß vom 11.03.2005, Az. 24 L 486/05, Juris; VG Sigmaringen, Beschluß vom 15.06.2005, Az. 2 K 826/05, Juris; VG Stuttgart, Urt. vom 30.08.2005, Az. 16 K 1379/05, Juris; BayVGH, Beschluß vom 14.07.2005, Az. 24 CE 05.1357, Juris; VG Karlsruhe, Beschluß vom 23.11.2005, Az. 2 K 2475/05, Juris; VGH Kassel, NVwZ-RR, 2006, 826 (826); OVG Lüneburg, InfAuslR 2006, 329 (330 f.); VGH Mannheim, InfAuslR 2006, 359 (359 f.); OVG Münster, Beschluß vom 04.12.2006, Az. 18 B 2522/06, Juris; OVG Saarlouis, Beschluß vom 14.12.2006, Az. 2 W 26/06, Juris; implizit auch OVG Münster, Beschluß vom 30.01.2008, Az. 18 B 1252/07, Juris. 150 OVG Brandenburg, Beschluß vom 03.11.1998, Az. 4 B 124/98, Juris; VGH Mannheim, EZAR 045 Nr. 21; BayVGH, Beschluß vom 19.11.2002, Az. 10 CE 02.2909, Juris; OVG Münster, Beschluß vom 01.08.2006, Az. 18 B 1539/06, Juris; OVG Magdeburg, Beschluß vom 25.08.2006, Az. 2 M 228/06, Juris; VGH Mannheim, InfAuslR 2008, 29 (29). 151 BVerwGE 105, 35 (43); dem folgend etwa OVG Lüneburg, Beschluß vom 11.12.2000, Az. 11 M 3943/00, Juris; BayVGH, Beschluß vom 28.02.2001, Az. 10 CE 01.54, Juris; VG Augsburg, Beschluß vom 06.04.2004, Az. Au 1 E 04.538, Juris; Beschluß vom 07.04.2005, Az. Au 1 E 05.280, Juris; Beschluß vom 13.04.2006, Az. Au 1 E 06.462, Juris. 149

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Vorstufe zur Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, obwohl bereits § 17 Abs. 1 S. 1 AuslG 1965 lediglich eine zeitweise Duldung erlaubte.152 Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz sah sogar eine vollständige Abschaffung der Duldung vor, um der weit verbreiteten Praxis, die Duldung nicht als Instrument der Verwaltungsvollstreckung, sondern als „zweitklassigen Aufenthaltstitel“ einzusetzen, endgültig zu beenden.153 Erst auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses wurde sie wieder in den endgültigen Gesetzentwurf aufgenommen, da die Ausländerbehörden die Duldung als Instrument eines flexiblen Verwaltungsvollzugs für unentbehrlich hielten.154 Steht nun aber Art. 8 EMRK der Abschiebung eines Ausländers entgegen, weil das individuelle Interesse an der Fortführung des Privat- und Familienlebens in der Bundesrepublik das öffentliche Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet überwiegt, ist typischerweise ein dauerhafter Aufenthalt geboten und nicht bloß ein befristeter Aufschub bei der Vollstreckung der Ausreisepflicht. Als berechtigte Anwendungsfälle von § 60a Abs. 2 AufenthG können etwa eine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit, ein bestehendes Flugverbot oder eine Passlosigkeit des Ausländers gelten.155 In den Fällen längerfristiger Abschiebungshindernisse kann jedoch eine Lösung allein über die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis gesucht werden, die dem Ausländer einen prinzipiell dauerhaften und rechtmäßigen Aufenthalt gestattet. Schon das Bundesverwaltungsgericht hatte unter Geltung des Ausländergesetzes von 1990 für ein aus Art. 8 EMRK folgendes Abschiebungshindernis die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen nach § 30 Abs. 3 AuslG 1990 favorisiert.156 Eine solche Lösung drängt sich umsomehr unter der Geltung des Aufenthaltsgesetzes auf, das eine wesentliche Funktionsverschiebung zwischen Aufenthaltserlaubnis und Duldung bewirkt hat.157 Die Ermessensduldung wurde abgeschafft und die Duldung wegen tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit durch eine Erweiterung der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach den §§ 22 ff. AufenthG auf ihren ursprünglichen Zweck als Vollstreckungsmaßnahme zurückgeführt. So gilt nun für die Fälle einer gruppenspezifischen Duldung nach § 60a Abs. 1 AufenthG abweichend von der früheren Regelung, daß bei einem über sechs Monate hinausgehenden Abschiebungshindernis keine Verlängerung der Duldung erfolgen darf, sondern al152

Vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 76. Vgl. BT-Drs. 15/420, S. 64. 154 Vgl. BT-Drs. 15/3479, S. 10; dazu Hailbronner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 1. 155 Hailbronner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 23; Renner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 26. 156 BVerwGE 105, 35 (43). Darin lag auch kein Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das zwar grundsätzlich einen Duldungsanspruch wegen eines (aus Art. 6 GG abgeleiteten) inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses zum Schutz der Familie anerkannt, dabei jedoch nicht zwischen der Erteilung einer Duldung und der einfachgesetzlich ebenfalls möglichen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis differenziert hatte, vgl. BVerfG (K), NVwZ 1997, 479 (479); Beschluß vom 13.11.1998, Az. 2 BvR 140/97, Juris. 157 Vgl. BT-Drs. 15/420, S. 64; Hailbonner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 1. 153

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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lenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AufenthG in Betracht kommt. Auch § 60a Abs. 2 AufenthG ordnet einen grundsätzlichen Vorrang der Aufenthaltserlaubnis gegenüber der Duldung an. Hinsichtlich der zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG, die in der Praxis einen Hauptanwendungsfall des § 60a Abs. 2 AufenthG darstellten, weil eine Abschiebung in einen Drittstaat regelmäßig als Option ausschied,158 sieht nun § 25 Abs. 2 und 3 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor. Für die übrigen Fälle, in denen eine Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG unmöglich ist, ist vorrangig eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht zuziehen. Allenfalls dann, wenn Art. 8 EMRK lediglich den vorrübergehenden Verbleib eines Ausländers in der Bundesrepublik, etwa bis zum Abschluß eines familiengerichtlichen Sorgeoder Umgangsrechtsstreits verlangt und die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 der Erteilung einer vorrübergehenden Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG entgegensteht, ist damit ein aus Art. 8 EMRK folgender Duldungsanspruch gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG denkbar.

cc) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, daß auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht in Betracht kommt, obwohl sich die Vorschrift bei unbefangener Betrachtung als einschlägig aufdrängt. Seinem Wortlaut nach verweist § 60 Abs. 5 AufenthG zwar unbegrenzt auf die Europäische Menschenrechtskonvention, richtigerweise bezieht sich der Verweis aber allein auf sogenannte zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, also Konstellationen, in denen im Zielstaat einer Abschiebung eine Verletzung konventionsrechtlicher Garantien droht, die als solche nicht der Bundesrepublik zugerechnet werden kann, wohl aber einer Abschiebung in diesen Staat durch die Bundesrepublik entgegensteht.159 Die Zielstaatsbezogenheit von § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich bereits aus dem unmittelbaren Regelungszusammenhang, da sich alle übrigen in § 60 AufenthG genannten Abschiebungsverbote ausdrücklich auf die Umstände im Zielstaat der Abschiebung be158 Hailbronner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 24; Renner, Ausländerrecht, § 60a AufenthG Rn. 20. 159 So zum gleichlautenden § 53 Abs. 4 AuslG 1990 mit ausführlicher Begründung BVerwGE 105, 322 (324 ff.); bestätigt durch BVerwGE 109, 305 (309 f.) und 122, 271 (283). Zu § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. in demselben Sinne etwa OVG Berlin, Urt. vom 11.03.2005, Az. 6 B 6.04, Juris; OVG Koblenz, InfAuslR 2006, 274 (276); VGH Kassel, NVwZ-RR 2006, 826 (826); OVG Lüneburg, NordÖR 2006, 472 (472); Benassi, InfAuslR 2005, 357 (360 f.); Groß, ZAR 2005, 61 (64); Hailbronner, § 60 AufenthG Rn. 117. Zur Gegenansicht vgl. VG Braunschweig, Beschluß vom 21.02.2005, Az. 6 B 56/05, Juris und Beschluß vom 27.04.2005, Az. 6 B 8/05, Juris; VG Darmstadt, Beschluß vom 21.12.2005, Az. 8 G 2120/05, Juris; VG München, Urt. vom 25.01.2006, Az. 21 K 04.52104, Juris; VG Ansbach, Beschluß vom 01.03.2006, Az. AN 19 E 06.00554, Juris. Offenlassend VG Karlsruhe, Urt. vom 07.09.2005, Az. 4 K 4704/02, Juris; VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (413 f.); VG Bayreuth, Urt. vom 19.10.2007, Az. B 5 K 06.30042 und Az. B 5 K 06.30045, Juris.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ziehen. Konsequenterweise stehen Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG auch dem Erlaß einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Dies stellt § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG unter Bezugnahme auf die amtliche Überschrift des § 60 AufenthG ausdrücklich klar.160 In der Abschiebungsandrohung ist gemäß § 59 Abs. 2 S. 2 AufenthG lediglich der Staat zu benennen, in den eine Abschiebung nicht erfolgen darf. Der Gesetzgebungsgeschichte läßt sich entnehmen, daß § 60 Abs. 5 AufenthG insbesondere auf Abschiebungsverbote aus Art. 3 EMRK zielt, also die sogenannte Soering-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgreift, nach der aus dem Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ein Abschiebungsverbot für die Konventionsstaaten folgt, wenn ein Ausländer im Zielstaat der Abschiebung Opfer einer derartigen Behandlung zu werden droht.161 Die gesetzgeberische Unterscheidung zwischen zielstaatsbezogenen und sonstigen Abschiebungshindernissen spiegelt sich schließlich auch in der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Ausländerbehörden und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wider. Letzteres ist gemäß § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG bzw. § 24 Abs. 2 AsylVfG für die Prüfung der Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG verantwortlich, während die Entscheidung über die Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei den Ausländerbehörden verbleibt. Dahinter steht letztlich die Überlegung, daß eine zentrale Bundesbehörde das Vorliegen asylverfahrensnaher, zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse besser beurteilen kann, als dies die lokalen Ausländerbehörden aufgrund ihrer personellen und fachlichen Ausstattung leisten könnten.162 Da nun eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch die ausweisungs- bzw. abschiebungsbedingte Trennung eines Ausländers von seinen in der Bundesrepublik lebenden Familienangehörigen oder von seinem kulturellen, wirtschaftlichen und persönlichen Lebensumfeld nicht auf zielstaatsbezogenen Umständen beruht, mag die Beeinträchtigung auch hinsichtlich seiner Person im Zielstaat der Abschiebung fortwirken, sondern in seinen persönlichen Lebensumständen begründet ist, muß ein auf Art. 8 EMRK gestütztes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG folgerichtig ausscheiden.163 Im übrigen würde – eine Anwendbarkeit von § 60 Abs. 5 AufenthG unterstellt – in der hier betrachteten Fallkon160

Vgl. insoweit auch die Gesetzesbegründung zu § 59 Abs. 3 S. 1, in: BT-Drs. 15/420 S. 91 und die Gesetzesbegründung zum gleichlautenden § 50 Abs. 3 S. 1 AuslG 1990, in: BT-Drs. 12/2062, S. 44. 161 Vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 49, 75; zur Soering-Rechtsprechung vgl. ausführlich Teil 1 unter A. VI. 162 Vgl. BVerwGE 105, 322 (326 f.); VGH Kassel, NVwZ-RR, 2006, 826 (826). 163 BVerwGE 105, 322 (323 f.); 122, 271 (283); OVG Berlin, Urt. vom 11.03.2005, Az. 6 B 6.04, Juris (Ziff. 14 ff.); OVG Koblenz, InfAuslR 2006, 274 (276); VGH Kassel, NVwZ-RR 2006, 826 (826); OVG Lüneburg, NordÖR 2006, 472 (472). Das schließt freilich nicht aus, daß im Einzelfall auch aus Art. 8 EMRK ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis folgen kann, vgl. VG Trier, Urt. vom 11.07.2005, Az. 6 K 351/05.TR, Juris: gesetzliche Sorgerechtszuweisung zugunsten des Vaters im Iran; VG Cottbus, Urt. vom 28.06.2006, Az. 1 K 813/02.A, Juris: Wohnsitzwahl für gemischte Ehepaare bei ethnischen Mehrheitsgebieten in Bosnien; VG Ansbach, Urt. vom 17.07.2006, Az. 14 K 06.30093, Juris: staatliche Entziehung der entgegen den familienplanungsrechtlichen Vorschriften gezeugten Kinder in China.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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stellation wegen der ausweisungsbedingten Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG ohnehin keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt werden können. In Betracht käme, wie schon im Rahmen von § 60a Abs. 2 AufenthG festgestellt, allein eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.

dd) Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG Gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Unumstritten ist, daß der Begriff der Ausreise in § 25 Abs. 5 AufenthG sowohl die Abschiebung, als auch die sogenannte freiwillige Ausreise eines Ausländers erfaßt. Nur wenn beides unmöglich ist, kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht.164 Eine (rechtliche) Unmöglichkeit der Abschiebung kann sich neben den Vorgaben des Grundgesetzes, zu denken ist hier insbesondere an Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 6 GG und den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auch aus Art. 8 EMRK ergeben. In der Rechtsprechung scheint insoweit eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der methodisch richtigen Einbindung von Art. 8 EMRK vorzuherrschen. Neben vereinzelt geäußerten, richtigerweise abzulehnenden Ansätzen, wie einer Einbeziehung von Art. 8 EMRK über § 60 Abs. 5 AufenthG,165 der wie bereits ausgeführt lediglich auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse verweist, oder Art. 25 GG,166 der nicht die Inkorporation von Völkervertragsrecht betrifft, finden sich im wesentlichen zwei gut begründbare Ansätze. Zum einen kann der Begriff der „rechtlichen Gründe“ im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung so interpretiert werden, daß nicht allein innerstaatliche Rechtsvorschriften, sondern auch völkervertragsrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik einen der Abschiebung entgegenstehenden rechtlichen Grund darstellen.167 Wegen der 164

BVerwG, DVBl. 2006, 1509 (1510) mit Verweis auf BT-Drs. 15/420, S. 80 und S. 79 sowie Nr. 25.5.1.2 iVm. Nr. 25.3.2.1 AH-BMI; vgl. ferner VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (414); OVG Münster, NVwZ-RR 2006, 576 (576); OVG Lüneburg, Beschluß vom 01.11.2007, Az. B 10 PA 96/07, Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 117; Renner, Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 32. 165 VG Braunschweig, Beschluß vom 21.02.2005, Az. 6 B 56/05, Juris und Beschluß vom 27.04.2005, Az. 6 B 8/05, Juris; VG Darmstadt, Beschluß vom 21.12.2005, Az. 8 G 2120/05, Juris; VG München, Urt. vom 25.01.2006, Az. 21 K 04.52104, Juris; VG Ansbach, Beschluß vom 01.03.2006, Az. AN 19 E 06.00554, Juris; offenlassend VG Karlsruhe, Urt. vom 07.09.2005, Az. 4 K 4704/02, Juris. 166 VG Gießen, Urt. vom 11.05.2006, Az. 7 E 1492/05, Juris. 167 Vgl. OVG Lüneburg, Urt. vom 29.11.2005, Az. 10 LB 84/05, Juris; Beschluß vom 17.11. 2006, Az. 10 ME 222/06, Juris; BayVGH, Beschluß vom 28.11.2007, Az. B 24 C 07.1108, Juris.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

dem Grundgesetz zugrundeliegenden dualistischen Vorstellung vom Verhältnis zwischen nationalem Recht und Völkerrecht sind hier wohl auch die Entscheidungen einzuordnen, die unmittelbar auf ein völkervertragsrechtlich begründetes Abschiebungsverbot aus Art. 8 EMRK abstellen.168 Daneben wird schließlich eine im Sinne von Art. 8 EMRK vorzunehmende Ausfüllung des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgeschlagen, die die völkerrechtsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts von der Ebene des einfachen Rechts auf die des Verfassungsrechts verlagert.169 Als problematischer stellt sich zumindest dem ersten Anschein nach die zweite Voraussetzung, die Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise, dar. Wörtlich genommen schließt § 25 Abs. 5 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis immer dann aus, wenn zwar die Vollstreckung der Ausreisepflicht unmöglich, ein Ausländer aber nicht an einer freiwilligen Ausreise gehindert ist. Raum für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bliebe allenfalls insofern, wie ein Ausländer tatsächlich (etwa durch eine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit) oder rechtlich (etwa wegen einer Einreiseverweigerung durch die in Betracht kommenden Zielstaaten) zum Verbleib in der Bundesrepublik gezwungen wird. Eine Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung des Privat- und Familienlebens würde hingegen regelmäßig ausscheiden, weil Art. 8 EMRK zwar den Staat an einer Abschiebung hindert, einem Ausländer aber nicht die Ausreise in Eigeninitiative verbietet. In Rechtsprechung und Schrifttum findet sich demgegenüber vielfach die Aussage, daß die von § 25 Abs. 5 AufenthG geforderte Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise nicht eng im technischen Sinne zu verstehen sei, sondern auch die individuelle Zumutbarkeit einer Ausreise voraussetze.170 Zur Begründung werden im wesentlichen zwei Argumente vorgebracht. Zum einen drohe § 25 Abs. 5 AufenthG bei einem allein auf die technische Möglichkeit einer Ausreise abstellenden Verständnis nahezu leerzulaufen, da eine freiwillige Ausreise von wenigen Ausnahmekonstel-

168 Vgl. VG Stuttgart, InfAuslR 2006, 72 (73): „spezifisch europarechtliches Recht auf Verbleib“; VG Karlsruhe, Urt. vom 19.12.2005, Az. 6 K 5/04, Juris: „auf […] Europarecht gegründete Rechtsstellungen“; BVerwG, DVBl. 2006, 1509 (1510): „Verbote […] aus Völkervertragsrecht“; VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (414): „Unmöglichkeit […] aus verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Gründen“, „aus Art. 8 EMRK in unmittelbarer Anwendung“; OVG Saarlouis, Urt. vom 15.09.2006, Az. 2 R 1/06, Juris: „Verbote […] aus Völkervertragsrecht“; OVG Lüneburg, Beschluß vom 01.11.2007, Az. B 10 PA 96/07, Juris: „Hindernisse […] aus Abschiebungsverboten […] aus Völkervertragsrecht“; VG Lüneburg, Beschluß vom 15.01.2008, Az. 1 B 36/07, Juris: „Hindernisse […] aus Völkervertragsrecht“. 169 VG Lüneburg, Urt. vom 28.03.2006, Az. 4 A 130/04, Juris; Benassi, InfAuslR 2006, 397 (400 f.). 170 VGH Mannheim, ZAR 2006, 142 (143); VG Stuttgart, Urt. vom 05.10.2005, Az. 11 K 3065/04, Juris; VG Braunschweig, Beschluß vom 10.01.2006, Az. 6 B 432/05, Juris; VG München, Urt. vom 11.01.2006, Az. M 23 K 05.2837, Juris; VG Braunschweig, Urt. vom 19.09.2006, Az. 6 A 474 /04, Juris; Benassi, InfAuslR 2005, 357 (360 ff.); Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275 (278); Hoppe, ZAR 2006, 125 (126).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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lationen abgesehen in den weitaus meisten Fällen theoretisch möglich sei.171 Der Gesetzgeber habe aber mit der Neufassung des Aufenthaltsgesetzes und den dabei erweiterten Möglichkeiten zur Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel nach den §§ 22 ff. AufenthG die bisherige ausländerrechtliche Praxis der sogenannten Kettenduldungen gerade beseitigen wollen. Dieses Ziel werde durch eine zu enge Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG konterkariert, da die Betroffenen vielfach auf eine dauerhafte Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zurückfielen. Zum anderen ergebe sich die Relevanz des Zumutbarkeitskriteriums aus der Gesetzesbegründung zu § 25 Abs. 5 AufenthG.172 In der Tat findet sich dort die Anmerkung, daß hinsichtlich der Ausreisemöglichkeit, „auch die subjektive Möglichkeit – und damit implizit auch die Zumutbarkeit – der Ausreise zu prüfen“ ist.173 Die Gegenauffassung lehnt eine generelle Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG mit Verweis auf den klaren Wortlaut der Norm, die eben die Unmöglichkeit und nicht die Unzumutbarkeit der Ausreise voraussetzt, ab.174 Außerdem kann sie sich auf einen systematischen Vergleich mit § 25 Abs. 3 AufenthG stützen, der neben der Möglichkeit einer Ausreise ausdrücklich auch deren Zumutbarkeit als Ausschlußkriterium für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nennt. Indes unterscheiden sich beide Auffassungen im Ergebnis kaum. Soweit nämlich die Gesetzesbegründung auf eine Prüfung der subjektiven Möglichkeit und damit implizit der Zumutbarkeit einer Ausreise verweise, beziehe sie sich, so die Gegenauffassung, auf die frühere Rechtsprechung zu § 30 Abs. 3 und 4 AuslG 1990.175 Danach war anerkannt, daß sich eine Ausreise aus Rechtsgründen als unmöglich erweisen konnte, wenn sich aus höherrangigem Recht, namentlich den Grundrechten des Ausländers oder aus Art. 8 EMRK, ein Anspruch auf Verbleib in der Bundesrepublik ergab. Die Prüfung eines solchen Anspruchs setzt jedoch inzident eine Auseinandersetzung mit der Zumutbarkeit einer Ausreise voraus. Insoweit ergibt auch die Gesetzesbegründung zu § 25 Abs. 5 AufenthG Sinn, nach der auch die subjektive Möglichkeit (also im Unterschied zu objektiven Ausreisehindernissen, wie etwa einem generellen Flugembargo, in der Person des Ausländers begründete Ausreisehindernisse) und damit implizit die Zumutbarkeit der Ausreise zu prüfen

171 VG München, Urt. vom 11.01.2006, Az. M 23 K 05.2837, Juris; VG Braunschweig, Urt. vom 19.09.2006, Az. 6 A 474 /04, Juris; Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275 (277 f.). 172 VGH Mannheim, ZAR 2006, 142 (143); VG Stuttgart, Urt. vom 05.10.2005, Az. 11 K 3065/04, Juris; VG München, Urt. vom 11.01.2006, Az. M 23 K 05.2837, Juris; VG Braunschweig, Urt. vom 19.09.2006, Az. 6 A 474 /04, Juris; Benassi, InfAuslR 2005, 357 (362); Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275 (278). 173 BT-Drs. 15/420, S. 80. 174 VG Oldenburg, Urt. vom 11.05.2005, Az. 11 A 2574/03, Juris; OVG Lüneburg, Urt. vom 29.11.2005, Az. 10 LB 84/05, Juris; OVG Münster, NVwZ-RR 2006, 576 (577); VG Lüneburg, Urt. vom 28.03.2006, Az. 4 A 130/04, Juris; VG Frankfurt, Urt. vom 13.04.2006, Az. 1 E 5037/05, Juris; VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (414); VG Lüneburg, InfAuslR 2006, 407 (408); OVG Münster, Beschluß vom 08.12.2006, Az. 18 A 2644/06, Juris; OVG Saarlouis, Beschluß vom 08.02.2008, Az. 2 A 16/07, Juris; Marx, ZAR 2006, 261 (262). 175 So ausführlich Marx, ZAR 2006, 261 (262).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ist. Auch eine freiwillige Ausreise ist damit nach § 25 Abs. 5 AufenthG rechtlich unmöglich, wenn sie im Hinblick auf Art. 8 EMRK als unzumutbar erscheint.176 Die sonstigen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK ebenfalls nicht entgegen. Das gilt zunächst für die Dauer der Unmöglichkeit einer Ausreise, da im Fall eines aus Art. 8 EMRK folgenden Aufenthaltsrechts mit einem Wegfall des Ausreisehindernisses auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist. Gleiches gilt für die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG, die im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG ebenfalls zu beachten sind. Zu diesen zählt zwar insbesondere das Fehlen von Ausweisungsgründen – ein Kriterium das in der hier untersuchten Fallkonstellation gerade nicht erfüllt ist. Jedoch kann die Ausländerbehörde gemäß § 5 Abs. 3 AufenthG bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen von der Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen absehen. Das insoweit eingeräumte Ermessen ist, fordert Art. 8 EMRK einen Verbleib des Ausländers in der Bundesrepublik, folgerichtig auf Null reduziert.177 Entsprechendes gilt für das der Ausländerbehörde auf der Rechtsfolgenseite des § 25 Abs. 5 AufenthG eingeräumte Erteilungsermessen.

b) Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK Stellt nun das Aufenthaltsgesetz mit der Befristung der Ausweisungswirkungen nach § 11 Abs. 1 AufenthG und der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zumindest dem Grundsatz nach zwei Instrumente zum Schutz eines in der Bundesrepublik geführten Privat- und Familienlebens nach erfolgter Ausweisung zur Verfügung, ist die Frage nach der Konformität dieses Lösungsweges mit Art. 8 EMRK aufgeworfen.

176 So nun auch BVerwG, DVBl. 2006, 1509 (1510 f.) unter Verweis auf die Rspr. zu § 30 Abs. 3, 4 AuslG 1990 in BVerwGE 105, 35 (43 f.). 177 VG Stuttgart, Urt. vom 05.10.2005, Az. 11 K 3065/04, Juris; VG Stuttgart, InfAuslR 2006, 14 (16). Allerdings entfällt das Kriterium der fehlenden Ausweisungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht bereits deshalb, weil die die Ausweisung tragenden Ausweisungsgründe bereits durch die Ausweisung verbraucht wurden. § 25 Abs. 5 AufenthG mag zwar typischerweise all diejenigen Fälle erfassen, in denen wegen einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keine andere Aufenthaltserlaubnis in Betracht kommt. Er setzt jedoch nicht zwingend eine vorangegangene Ausweisung voraus. Auch für Ausländer, die etwa wegen eines fehlenden Aufenthaltstitels vollziehbar ausreisepflichtig sind, deren Ausreisepflicht aber aufgrund inlandsbezogener Abschiebungshindernisse nicht vollstreckt werden kann, kommt allein eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht, vgl. OVG Hamburg, Beschluß vom 31.05.2006, Az. 1 Bs 5/06, Juris.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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aa) Zur Befristung der Ausweisungswirkung Aus konventionsrechtlicher Perspektive ist die Befristung des durch die Ausweisung bewirkten Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein grundsätzlich geeignetes Mittel zur Abmilderung der Ausweisungsfolgen für das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird dieser Umstand als ein Aspekt unter vielen berücksichtigt, wobei ihm bei der Abwägung ein nicht zu unterschätzendes Gewicht zukommt.178 Der Gerichtshof hat aufenthaltsbeendende Maßnahmen mehrfach gerade unter Bezugsnahme auf die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für verhältnismäßig gehalten, da der Ausgewiesene nicht dauerhaft von seinen Familienangehörigen getrennt wurde.179 Umgekehrt lassen sich Entscheidungen finden, in denen zwar die Ausweisung eines Ausländers im Grundsatz für mit Art. 8 EMRK vereinbar erachtet, aber aufgrund der unbegrenzten Dauer des Einreiseund Aufenthaltsverbots letztlich doch eine übermäßige Beeinträchtigung angenommen wurde.180 Als problematisch könnte sich jedoch erweisen, daß eine Befristung gemäß § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG einen Antrag des Betroffenen voraussetzt, die Ausländerbehörde also bei fehlendem Antrag gehindert ist, von Amts wegen eine Befristung der Ausweisungsfolgen vorzunehmen, wenn dies im Einzelfall aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erforderlich ist. In Rechtsprechung und Schrifttum wird Art. 8 EMRK teilweise unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Yilmaz die Verpflichtung der Ausländerbehörde entnommen, schon bei Erlaß der Ausweisungsverfügung eine Befristung der Ausweisungswirkungen vorzunehmen und dies notfalls auch von Amts wegen zu tun.181 Der Fall betraf einen in der Bundesrepublik geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsangehörigen, der nach Begehung mehrer Straftaten durch das Landratsamt Ostallgäu ausgewiesen wurde. Während das Landratsamt das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen auf sieben Jahre befristet hatte, hob die Regierung von Schwaben als Widerspruchsbehörde unter Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung im übrigen die Befristung mit Verweis auf den fehlenden Antrag des Beschwerdeführers auf. Der Gerichtshof gelangte in seinem Urteil zu der Überzeugung, daß die Aus178 Grundlegend nun EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 98). 179 Vgl. EGMR, Entsch. vom 01.06.1999, Torunbar ./. Schweden, Nr. 41216/98; Entsch. vom 24.08.1999, Cartagena Olmos ./. Schweden, Nr. 47485/99; Urt. vom 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, RJD 1999-VIII, 169 (Ziff. 49); Entsch. vom 04.07.2000, Butovac ./. Schweden, Nr. 40746/98; Urt. vom 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99 (Ziff. 35). 180 Vgl. EGMR, Urt. vom 17.04.2003, Yilmaz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 52853/99 (Ziff. 48); Urt. vom 22.04.2004, Radovanovic ./. Österreich, Nr. 42703/98 (Ziff. 37); Urt. vom 27.10.2006, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 65 f.); Urt. vom 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04 (Ziff. 84 ff.). 181 VG Karlsruhe, InfAuslR 2007, 73 (74); Gutmann, InfAuslR 2007, 156 (156); wohl auch BVerwGE 121, 297 (314); a. A. VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 153 (154).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

weisung in bezug auf die mit ihr verfolgten legitimen Ziele an sich verhältnismäßig wäre, aber aufgrund der Tatsache, daß sie ohne Befristung verfügt worden war, angesichts der Umstände des Falls eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstelle.182 Es erscheint jedoch mehr als zweifelhaft, ob aus diesem Urteil tatsächlich derartige Folgerungen ableitbar sind. Sinnvollerweise sind hier zwei Problemkomplexe von einander zu unterscheiden. Der eine betrifft die Annahme, daß eine im Einzelfall erforderliche Befristung der Ausweisungswirkungen schon bei Erlaß der Ausweisungsverfügung erfolgen muß, der andere die Unvereinbarkeit des Antragserfordernisses mit den Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK. Für die erste Annahme geben weder das Urteil in der Sache Yilmaz noch die übrige Rechtsprechung des Gerichtshofs Anlaß. Auch wenn der Gerichtshof mehrfach eine Verletzung von Art. 8 EMRK gerade deshalb angenommen hat, weil die Dauer eines Aufenthaltsverbots bzw. der Ausweisungsfolgen nicht befristet worden war, findet sich dort nicht die Aussage, daß eine solche Befristung zwingend bereits mit dem Ausspruch eines Aufenthaltsverbots bzw. einer Ausweisung verbunden werden mußte. Vielmehr läßt sich den ebenfalls die deutsche Rechtslage betreffenden Urteilen in den Rechtssachen Keles und Kaya entnehmen, daß auch eine nachträgliche Befristung grundsätzlich geeignet ist, zur Verhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung beizutragen. Im Fall Keles stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, weil über die nach der Ausweisung gestellten Befristungsanträge des Beschwerdeführers bis zum Abschluß des Verfahrens vor dem Gerichtshof noch nicht entschieden worden und daher von einer unbefristeten Ausweisung auszugehen war.183 Implizit liegt in dieser Begründung die Aussage, daß auch eine nachträgliche Befristung bis zur Entscheidung des Gerichtshofs ausreichend gewesen wäre. Im Fall Kaya hatte der Beschwerdeführer nach seiner unbefristeten Ausweisung und anschließenden Abschiebung in die Türkei einen Antrag auf Befristung der Ausweisungsfolgen gestellt, da er inzwischen eine deutsche Staatsbürgerin geheiratet hatte. Der Gerichtshof stellte in seiner Urteilsbegründung fest, daß zwar die ursprüngliche Ausweisung ohne eine Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgt war, jedoch nach deutschem Recht ein (Regel-)Anspruch auf Befristung bestehe und im konkreten Fall auch tatsächlich eine nachträgliche Befristung erfolgt sei. Unter diesen Umständen könne nicht angenommen werden, daß der Beschwerdeführer ohne eine Perspektive auf Rückkehr ausgewiesen worden sei.184 Auch der Sache nach kann eine Verbindung beider Entscheidungen zum Schutz des Privat- und Familienlebens nicht geboten sein. Grundsätzlich ist es den Konventionsstaaten selbst überlassen, wie sie innerstaatlich einen hinreichenden Schutz der durch die Konvention garantierten Rechte und 182 EGMR, Urt. vom 17.04.2003, Yilmaz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 52853/99 (Ziff. 48). 183 EGMR, Urt. vom 27.10.2006, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 65). 184 EGMR, Urt. vom 28.06.2007, Kaya ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 31753/02 (Ziff. 68 f.).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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Freiheiten sicherstellen. Dieser Grundsatz ist Ausdruck der Subsidiarität des konventionsrechtlichen Rechtsschutzsystems gegenüber demjenigen der Konventionsstaaten. Der Gerichtshof hat die Bedeutung dieses Grundsatzes erst jüngst durch das Urteil der Großen Kammer in der Sache Sisojeva noch einmal mit besonderem Nachdruck hervorgehoben.185 Angesichts dessen kann es keinen Unterschied bedeuten, ob von vornherein über die Erteilung einer in ihren Wirkungen befristeten Ausweisung entschieden wird oder ob diese Entscheidung, wie vom Aufenthaltsgesetz vorgesehen, einem eigenständigen Verwaltungsverfahren vorbehalten bleibt, so daß beide Entscheidungen nicht nur rechtlich, sondern auch zeitlich auseinanderfallen können. Entscheidend ist allein, daß die Dauer der Trennung im Ergebnis gemessen an Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig ist. Was nun die Problematik des Antragserfordernisses anbelangt, wird man zunächst anerkennen müssen, daß – in einer Fallkonstellation, in der die Verhältnismäßigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme entscheidend von der Dauer des Ausschlusses vom Bundesgebiet abhängt – eine Verletzung von Art. 8 EMRK nicht allein deshalb angenommen werden kann, weil es der Ausgewiesene unterläßt, einen Befristungsantrag zu stellen und es damit bei einer unbefristeten Wirkung der Ausweisungsfolgen bleibt. Hierzu sei noch einmal auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Sisojeva verwiesen, in der die Beschwerdeführer es unterlassen hatten, einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen, nach dem die zuständigen Behörden mit Blick auf das drohende Beschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof ein entsprechendes Angebot unterbreitet hatten. Die Große Kammer hielt die Beschwerde angesichts dieses Angebots für unzulässig, da die Beschwerdeführer nicht länger behaupten könnten, Opfer einer Konventionsverletzung im Sinne von Art. 34 EMRK zu sein.186 Sinngemäße Ausführungen finden sich ebenfalls in den Urteilen der Großen Kammer zu den Verfahren Shevanova und Kaftailova.187 Da im vorliegenden Zusammenhang gemäß § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG ein (Regel-)Anspruch des Ausgewiesenen auf Befristung der Ausweisungsfolgen besteht, reduziert sich die Frage nach einer Konventionsverletzung durch ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot folgerichtig darauf, ob das Antragserfordernis als solches eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK darstellt, weil es eine effektive Verwirklichung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens unzulässig erschwert und damit den 185 EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 90): „The Court further reiterates that the machinery for the protection of fundamental rights established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights. The Convention does not lay down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of the Convention. The choice as to the most appropriate means of achieving this is in principle a matter for the domestic authorities, who are in continuous contact with the vital forces of their countries and are better placed to assess the possibilities and resources afforded by their respective domestic legal systems […].“ 186 EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 92 ff.). 187 Vgl. EGMR, Urt. vom 07.12.2007, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 46 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 49 ff.).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Gestaltungsspielraum der Bundesrepublik bei der innerstaatlichen Gewährleistung von Art. 8 EMRK überschreitet. Dies kann jedoch kaum angenommen werden, zumal die Ausländerbehörden den Betroffenen gemäß § 82 Abs. 3 AufenthG auf die Möglichkeit eines Antrags hinzuweisen haben. Diesen Überlegungen steht letztlich auch das eingangs zitierte Urteil in der Sache Yilmaz nicht entgegen. Eine nähere Untersuchung der Entscheidungsgründe legt hier die Vermutung nahe, daß der Gerichtshof allein aufgrund der besonderen Umstände des Falls zum Verdikt der Unverhältnismäßigkeit gelangte. So hatte die Regierung von Schwaben in ihrer Widerspruchsentscheidung, in der sie die Befristung der Ausweisungswirkung wegen des fehlenden Antrags aufgehoben hatte, unter anderem ausgeführt, daß eine Befristung unabhängig vom fehlenden Antrag zum damaligen Zeitpunkt ohnehin nicht angezeigt gewesen wäre. Auch das anschließend angerufene Verwaltungsgericht schloß sich dieser Auffassung an.188 In seiner rechtlichen Würdigung nahm der Gerichtshof ausdrücklich auf diese Einschätzung Bezug.189 Das Urteil scheint damit davon auszugehen, daß dem Beschwerdeführer auch materiellrechtlich kein Anspruch auf Befristung zustand. Im Ergebnis verbleiben zwei Konstellationen, in denen die Vermeidung einer Konventionsverletzung durch eine Befristung der Ausweisungsfolgen gemäß § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG problematisch erscheint. Zu bedenken ist erstens, daß ein erfolgreicher Befristungsantrag nicht zugleich bedeutet, daß einem Ausländer nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots die Wiedereinreise gestattet ist. Dies hängt vielmehr davon ab, ob er zum Zeitpunkt der Wiedereinreise die Voraussetzungen für die Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis erfüllt. Derartige Unklarheiten haben den Gerichtshof bereits veranlaßt, trotz einer Befristung von einer Unverhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung auszugehen.190 Wie noch im einzelnen darzulegen sein wird, läßt das Aufenthaltsgesetz jedoch hinreichend Spielraum, um einem Ausländer Einreise- und Aufenthalt zu gestatten, wenn dies gemäß Art. 8 EMRK erforderlich ist.191 Etwaigen Unsicherheiten können die Ausländerbehörden zudem mit Hilfe einer Zusicherung im Sinne von § 38 VwVfG begegnen. Gänzlich unvermeidbar ist eine Konventionsverletzung aber zweitens, wenn sich im Einzelfall auch ein nur vorrübergehender Ausschluß vom Bundesgebiet als unverhältnismäßige Beeinträchtigung erweist. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betroffene in besonderem Maße in der Bundesrepublik verwurzelt ist und die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht als hinreichend schwer anzusehen sind,192 oder wenn das Einreise- und Aufenthaltsverbot gerade eine für 188

EGMR, Urt. vom 17.04.2003, Yilmaz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 52853/99 (Ziff. 19, 21). 189 EGMR, Urt. vom 17.04.2003, Yilmaz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 52853/99 (Ziff. 47). 190 Vgl. EGMR, Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 27, 46); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 19 f.). 191 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen unten unter C. III. 192 Vgl. EGMR, Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österrreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 27, 32).

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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die Entwicklung der minderjährigen Kinder des Ausgewiesenen entscheidende Lebensphase betrifft, während der sie nun – wenn auch nicht endgültig – von einem Elternteil getrennt werden sollen.

bb) Zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (1) Der Eingriffsbegriff Einer Lösung durch Erteilung einer Duldung oder – wie hier angenommen – durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG wird im Schrifttum entgegengehalten, daß schon die Ausweisung selbst einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle und daher eine Korrektur der Ausweisungsfolgen auf der Vollstreckungsebene vereinfacht ausgedrückt zu spät erfolge. Eine solche These wird insbesondere von Cremer unter Bezugnahme auf einige jüngere Judikate des Gerichtshofs vertreten.193 Das von Cremer gleichsam als erstes Indiz herangezogene Urteil in der Sache Boultif betraf die Weigerung der zuständigen Behörden des Schweizer Kantons Zürich, die Aufenthaltsbewilligung eines rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilten algerischen Staatsangehörigen zu verlängern. Obwohl der Versagung nach erfolglosem Rechtsmittelverfahren noch der Erlaß eines Einreiseverbots und eine behördliche Ausreiseaufforderung folgten, welcher der Beschwerdeführer schließlich durch eine freiwillige Ausreise nachkam, stellte der Gerichtshof fest, daß (schon) die Versagung der Verlängerung des Aufenthaltstitels einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzenden Ehefrau darstelle.194 Sinngemäße Aussagen finden sich auch in zwei gegen Österreich ergangenen Urteilen. In der Sache Jakupovic sah sich der Beschwerdeführer durch den Erlaß eines auf zehn Jahre befristeten Aufenthaltsverbots in seinem Recht aus Art. 8 EMRK verletzt. Trotz anschließender Vollstreckung der Ausreisepflicht durch Abschiebung des Beschwerdeführers sah der Gerichtshof in der Verhängung des Aufenthaltsverbots und eben nicht in der Abschiebung einen Eingriff in Art. 8 EMRK. Allerdings konnte er sich insoweit mit einem Hinweis auf die übereinstimmenden Parteierklärungen begnügen, nach denen ein Eingriff durch das Aufenthaltsverbot nicht bestritten wurde.195 Entsprechend entschied der Gerichtshof in der Sache Yildiz, der die Verhängung eines fünfjähriges Aufenthaltsverbots und einer im Anschluß an 193

Cremer, ZAR 2006, 341 (345 f.). EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 40): „Thus, the refusal to renew the applicant’s residence permit in Switzerland interfered with the applicant’s right to respect for his family life within the meaning of Article 8 § 1 of the Convention.“ 195 EGMR, Urt. vom 06.02.2003, Jakupovic ./. Österreich, Nr. 36757/97 (Ziff. 22): „The Court notes that it was common ground between the parties that the residence prohibition constituted an interference with the applicant’s right to respect for his private and family life, as guaranteed by Article 8 § 1 of the Convention.“ 194

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

das erfolglose Rechtsmittelverfahren erlassenen Ausreiseaufforderung betraf, der der Beschwerdeführer durch eine freiwillige Ausreise Folge leistete. Der Eingriff in Art. 8 EMRK liege in der Verhängung des Aufenthaltsverbots.196 Schließlich bezieht sich Cremer auf den Fall Keles, der die Ausweisung eines türkischen Staatsbürgers aus der Bundesrepublik betraf und damit unmittelbare Rückschlüsse auf die konventionsrechtliche Bewertung des deutschen Ausländerrechts mit seiner Unterscheidung zwischen Ausweisung und Abschiebung erlaubt. Der Beschwerdeführer wurde wegen einer Reihe verschiedener Straftaten im Januar 1999 durch das Regierungspräsidium Freiburg auf der Grundlage von §§ 47 Abs. 2, 48 AuslG 1990 ausgewiesen und wenige Monate später in die Türkei abgeschoben. Auch hier stützte sich der Gerichtshof nicht auf die Abschiebung als aufenthaltsbeendende Maßnahme, sondern sah – allerdings wiederum unter Verweis auf insoweit übereinstimmende Parteierklärungen – in der Ausweisungsverfügung selbst einen Eingriff in Art. 8 EMRK.197 Den zitierten Urteilen ließen sich zahlreiche weitere mit entsprechender oder sinngemäßer Formulierung hinzufügen. Ob sich ihnen allerdings wirklich, wie von Cremer angenommen, die Aussage entnehmen läßt, daß bereits die Ausweisung als solche, d. h. ungeachtet einer tatsächlichen Trennung eines Ausländers von seinen Familienangehörigen bzw. von seinem sonstigen Lebensumfeld, einen Eingriff in Art. 8 EMRK darstellt, ist trotz der augenscheinlich eindeutigen Formulierungen des Gerichtshofs zweifelhaft. So läßt sich in den zitierten Urteilen zunächst ein Verweis des Gerichtshofs auf die faktischen Auswirkungen der Ausweisung bzw. der sonstigen streitgegenständlichen Maßnahmen auf die Fortführung des Privat- und Familienlebens finden.198 Dies legt nahe, daß die Frage nach einem Grundrechtseingriff durch eine Ausweisung eben nicht losgelöst von den tatsächlichen Folgen für das Privat- und Familienleben beantwortet werden kann. Außerdem besteht die Gemeinsamkeit der Fälle darin, daß die betroffenen Ausländer letztendlich, sei es nun durch eine freiwillige Ausreise oder durch eine zwangsweise Vollstreckung der Ausreisepflicht, das 196 EGMR, Urt. vom 31.01.2003, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 36): „Thus, the residence ban […] constituted an interference with their right to respect for their private and family life.“ 197 EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 53): „The Court notes that it was common ground between the parties that the expulsion order against the applicant constituted an interference with his right to respect for his family life, as guaranteed by Article 8 § 1 of the Convention.“ 198 So ausdrücklich zum Eingriff EGMR, Urt. vom 31.01.2003, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/ 97 (Ziff. 36): „Thus the residence ban, which had the effect of separating the first applicant from his life-companion and their child, constituted an interference […].“; sinngemäß an anderer Stelle auch EGMR, Urt. vom 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, RJD 2001-IX, 119 (Ziff. 31): „The applicant complained that the Swiss authorities had not renewed his residence permit. As a result, he had been separated from his wife […].“; EGMR, Urt. vom 27.10.2005, Keles ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 32231/02 (Ziff. 46): „The applicant complained under Article 8 of the Convention that his expulsion led to a separation from his wife and children.“ Lediglich im Fall Jakupovic fehlt ein entsprechender Hinweis, der jedoch implizit mitgedacht sein dürfte.

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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Hoheitsgebiet des jeweiligen Konventionsstaates verlassen hatten. Das in Frage stehende Privat- und Familienleben wurde also (jedenfalls auch) in tatsächlicher Hinsicht beeinträchtigt. Die Gegenprobe – Eingriff bei Verbleib im Hoheitsgebiet trotz Ausweisung – ist damit nicht erbracht. Daß der Gerichtshof schließlich auf die Ausweisung bzw. die sonstigen die Ausreisepflicht begründenden Rechtsakte und nicht auf die anschließenden Vollstreckungsmaßnahmen als in Art. 8 EMRK eingreifende Hoheitsakte abstellte, mag allein dem Umstand geschuldet sein, daß mit diesen Maßnahmen letztlich die Ursache für die Vollstreckungsmaßnahmen und die tatsächliche Aufenthaltsbeendigung gesetzt wurde. Die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung der Straßburger Rechtsprechung hat vielmehr ergeben, daß Kommission und Gerichtshof bei der Prüfung eines Eingriffs in Art. 8 EMRK durch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen eine zurückhaltende Position einnehmen, die auch als Ausdruck eines den Konventionsstaaten bei der Verwirklichung der Konventionsgarantien zustehenden Gestaltungsspielraums verstanden werden kann. So haben Kommission und Gerichtshof einen Eingriff in Art. 8 EMRK immer dann abgelehnt, wenn trotz Entzug des Aufenthaltsrechts, etwa durch Ausweisung oder Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, nicht mit einer Vollstreckung der Ausreispflicht und damit einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Privat- und Familienlebens für die Betroffenen zu rechnen war.199 Beispielhaft seien drei Fälle herausgegriffen. Der Fall Okonkwo betraf einen vormals nigerianischen Staatsangehörigen, gegen den die österreichische Bundespolizeidirektion ein zeitlich unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen hatte, nach dem er wegen mehrer Betäubungsmitteldelikte zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Obwohl sämtliche gegen das Aufenthaltsverbot eingelegten Rechtsmittel erfolglos blieben, scheiterte letztlich eine Abschiebung des Beschwerdeführers, da er seine nigerianische Staatsbürgerschaft im Rahmen eines in Österreich geführten Einbürgerungsverfahrens aufgegeben hatte und damit als staatenlos galt. Der Gerichtshof hielt die gegen das Aufenthaltsverbot erhobene Menschenrechtsbeschwerde für unzulässig, da der Beschwerdeführer trotz des bestandskräftigen Aufenthaltsverbots nicht von einer Abschiebung und damit einer Trennung von seiner in Österreich lebenden Familie bedroht sei. Der Beschwerdeführer könne mithin nicht darlegen, Opfer einer Konventionsverletzung nach Art. 34 EMRK zu sein.200 Die Sache Yildiz betraf die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen aus der Bundesrepublik, dem während des bereits vor dem Gerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahrens eine Duldung erteilt worden war, weil die zuständigen Behörden von einer Suizidgefahr ausgingen und die Teilnahme an einer Entzugstherapie für Betäubungsmittelabhängige in der Bundesrepublik ermöglichen wollten. Der Gerichtshof wies die zunächst angenommene Beschwerde nachträglich als unzulässig zurück, da der Beschwerdeführer aufgrund seiner Duldung vorerst keine Abschiebung befürchten müsse und daher nicht be199 200

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter D. II. 1. b). EGMR, Entsch. vom 22.05.2001, Okonkwo ./. Österreich, Nr. 35117/97.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

haupten könne, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.201 Der vorliegend untersuchten Konstellation am nächsten kommen schließlich die Urteile der Großen Kammer in der Sachen Sisojeva, Shevanova und Kaftailova. Hier verneinte der Gerichtshof eine fortbestehende Opfereigenschaft im Sinne von Art. 34 EMRK mit Hinweis darauf, daß die lettischen Behörden, wohl aus Sorge vor einer Verurteilung durch den Gerichtshof, den zuvor ausgewiesenen Beschwerdeführern die Erteilung (neuer) Aufenthaltsgenehmigungen angeboten hatten.202

(2) Relevanz des Rechtmäßigkeitszeitpunkts Gegen eine Lösung auf der Vollstreckungsebene wird von Cremer außerdem der von der Straßburger Rechtsprechung gewählte Rechtmäßigkeitszeitpunkt bei der Überprüfung nationaler Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung angeführt.203 Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, knüpft der Gerichtshof bei der Frage der Vereinbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen mit dem durch Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienleben regelmäßig an den Zeitpunkt der Rechtskraft der nationalen Entscheidung über die Aufenthaltsbeendigung an.204 In den Fällen, in denen diese Entscheidung in der Form einer Ausweisung oder im Erlaß eines Aufenthaltsverbots erfolgt, ist damit der Zeitpunkt des letztinstanzlichen Urteils über die gegen die Ausweisung oder das Aufenthaltsverbot eingelegten und wegen der durch Art. 35 Abs. 1 EMRK verlangten Rechtswegerschöpfung auch zwingend einzulegenden Rechtsmittel maßgeblich. Dies hatte in der bisherigen Rechtsprechungspraxis teilweise zur Folge, daß nach Rechtskraft des letztinstanzlichen Urteils, aber vor der Abschiebung eintretende Umstände, etwa eine Eheschließung oder die Geburt eines Kindes, nicht mehr berücksichtigt wurden.205 Seit dem Urteil der Großen Kammer im Fall Maslov steht indes fest, daß der Gerichtshof bereit ist, auch nach der Rechtskraft der Ausweisung, aber vor der Abschiebung eintretende Umstände in seine Prüfung einzubeziehen. Dies gilt zumindest dann, wenn zwischen der Rechtskraft der Ausweisung und der Abschiebung ein längerer Zeitraum liegt.206 Aber auch auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung hält der Einwand Cremers einer näheren Betrachtung nicht stand. Hinter der jedenfalls für den Regelfall erfolgenden Festlegung des Rechtmäßigkeitszeitpunkts auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der Ausweisungsentscheidung dürfte die Überlegung stehen, daß es in erster Linie Aufgabe der Konventionsstaaten selbst 201

EGMR, Entsch. vom 13.10.2005, Yildiz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 40932/02. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 92 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 46 ff.); Urt. vom 07.12.2007, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 49 ff.). 203 Cremer, ZAR 2006, 341 (346). 204 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen in Teil 1 unter G. 205 Vgl. etwa EGMR, Urt. vom 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 1980 (Ziff. 33); Urt. vom 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, RJD 1997-VI, 2254 (Ziff. 36). 206 Vgl. EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 87 ff.). 202

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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ist, die durch die Konvention verbrieften Rechte und Freiheiten innerstaatlich zu gewährleisten. Die Funktion des Gerichtshofs ist es dabei allein, die Gewährleistung der Konventionsgarantien durch die Konventionsstaaten zu überwachen. Ob ein Konventionsstaat im Fall einer Aufenthaltsbeendigung seine Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK verletzt hat, läßt sich typischerweise erst anhand der letztinstanzlichen Entscheidung über die Gewichtung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung und der persönlichen Interessen des Betroffenen an der Fortführung seines Privat- und Familienlebens im Aufenthaltsstaat abschließend beurteilen. Ein früherer Anknüpfungspunkt würde der zurückgenommenen Kontrollfunktion des Gerichtshofs bzw. spiegelbildlich der primären Verantwortung der Konventionstaaten für die Gewährleistung der Konventionsgarantien nicht gerecht. Ebensowenig ist aber – jedenfalls im Grundsatz – ein späterer Rechtmäßigkeitszeitpunkt, etwa der Zeitpunkt der Vollstreckungsmaßnahmen, angezeigt. Der Vollzug der Ausreisepflicht ist, sofern er überhaupt durch eine staatliche Maßnahme wie die Abschiebung und nicht durch eine freiwillige Ausreise des Betroffenen erfolgt, typischerweise nicht mehr mit einer erneuten Entscheidung in der Sache verbunden. Die so beschriebene Konstellation unterscheidet sich jedoch von dem Fall einer nach der Ausweisung erteilten Duldung oder – richtigerweise – Aufenthaltserlaubnis. Hier wird erneut über den Verbleib eines Ausländers in der Bundesrepublik zum Schutz seines durch Art. 8 EMRK garantierten Privat- und Familienlebens entschieden. Wird eine entsprechende Versagungsentscheidung Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde, wird der Gerichtshof hinsichtlich des Rechtmäßigkeitszeitpunkts nicht auf das letztinstanzliche Urteil über die Ausweisung abzustellen haben, sondern auf das letztinstanzliche Urteil zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis. Das veranschaulicht der Fall Dalia. Er betraf eine algerische Staatsangehörige, die durch ein französisches Gericht zu einer Haftstrafe und einem unbefristeten Aufenthaltsverbot verurteilt worden war. Nachdem sie die gegen dieses Urteil einlegten Rechtsmittel zurückgezogen und ihre Haftstrafe abgebüßt hatte, kehrte sie zunächst in ihre Heimat zurück. Ihre später gestellten Anträge auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots lehnten die zuständigen Behörden ab, obwohl aus ihrer Ehe mit einem französischen Staatsangehörigen zwischenzeitlich ein Kind hervorgegangen war. Der nun angerufene Gerichtshof stellte in seinem Urteil hinsichtlich des Rechtmäßigkeitszeitpunkts auf die streitgegenständliche Ablehnung ihrer Anträge ab und entschied folgerichtig, daß sich die Beschwerdeführerin insoweit auch auf die Geburt ihres Kindes berufen könne.207

207 EGMR, Urt. vom 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, RJD 1998-I, 76 (Ziff. 45): „The Court notes that while the exclusion order became final on 11 July 1985, the applicant’s complaint relates not to that but to the Versailles Court of Appeal’s refusal on 4 October 1994 to lift it. In order to consider the question whether the applicant had a private and family life, the Court will consequently take the latter date as the relevant one. […] Mrs Dalia can therefore rely on the birth of her son Karim in 1990.“

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

(3) Komplementäre Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK Eine Lösung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG muß auch den komplementären Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK hinreichend Rechnung tragen. Hier sind die in der neueren Judikatur entwickelten Mindeststandards von Bedeutung, die der aufenthaltsrechtliche Status eines aus Art. 8 EMRK aufenthaltsberechtigten Ausländers erfüllen muß.208 Danach bleibt es zwar bei dem Grundsatz, daß sich aus Art. 8 EMRK lediglich ein Anspruch auf Aufenthalt, nicht aber auf einen bestimmten Aufenthaltstitel ergeben kann. Dies soll jedoch nur solange gelten, wie der aufenthaltsrechtliche Status eines Ausländers tatsächlich eine ungehinderte Verwirklichung des Privat- und Familienlebens ermöglicht.209 Wie bereits ausgeführt läßt sich die künftige Rechtsprechungsentwicklung auf diesem Gebiet noch nicht vollständig absehen. Bei einer extensiven Auslegung der vorliegenden Kammerjudikate ist davon auszugehen, daß es zur Vermeidung einer Verletzung von Art. 8 EMRK nicht ausreichend ist, allein die Vollstreckung der Ausreisepflicht eines ausgewiesenen Ausländers zu unterlassen, also den illegalen Aufenthalt eines Ausländers faktisch zu gestatten, ein darüber hinaus gehendes Aufenthaltsrecht aber zu verweigern.210 Außerdem muß sich der Aufenthaltsstatus durch ein hinreichendes Maß an Beständigkeit auszeichnen, das einem Ausländer eine langfristige Perspektive für den Verbleib im Konventionsstaat eröffnet. Muß der Aufenthaltstitel auch auf lange Sicht in jeweils kurzen Abständen verlängert werden, so können die damit einhergehenden sozialen und materiellen Belastungen, etwa bei der Suche nach einer der beruflichen Qualifikation entsprechenden Beschäftigung, zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen.211 Vor diesem Hintergrund mag es zweifelhaft sein, ob eine im Anschluß an die Ausweisung erteilte Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG, die nach der hier vertretenen Auffassung ohnehin nicht in Betracht kommt, den konventionsrechtlichen Anforderungen genügt,212 jedenfalls hinsichtlich einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG dürften jedoch keine ernsthaften Bedenken bestehen. Sie erlaubt dem Betroffenen einen rechtmäßigen und auch auf Dauer angelegten Aufenthalt in der Bundesrepublik. Zwar darf auch sie nur befristet erteilt werden. § 26 Abs. 1 AufenthG sieht jedoch, falls sich der Ausländer bereits seit 18 Monaten rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, eine Geltungsdauer von maximal drei Jahren vor, die dem Betroffenen ein hinreichendes Maß an Planungssicherheit geben dürfte, zumal das Ermessen der Ausländerbehörden bei einer Entscheidung 208

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter F. I. 2. EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 66). 210 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 104 f. und 110); Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 69); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 64 f. und 69). 211 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 70 ff.). 212 Vgl. zu dieser Frage ausführlich die Ausführungen unten unter D. 209

B. Folgerungen für das Ausweisungsrecht

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über eine Verlängerung auf Null reduziert ist, wenn das nach Art. 8 EMRK schützenswerte Privat- und Familienleben fortbesteht. Außerdem erlaubt § 26 Abs. 4 AufenthG nach sieben Jahren die Erteilung einer grundsätzlich unbefristeten und nicht zweckgebundenen Niederlassungserlaubnis, so daß sich der aufenthaltsrechtliche Status des Ausländers auf mittlere Sicht wieder verfestigen kann. Darüber hinaus berechtigt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG wie eine Aufenthaltserlaubnis zu anderen Zwecken auch, vorbehaltlich der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zur Aufnahme einer Beschäftigung.

(4) Antragserfordernis Aus der Perspektive des Betroffenen verbleibt damit bei einer Auflösung der Kollisionslage auf der Vollstreckungsebene als einzige Erschwerung das mit der Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis verbundene Antragserfordernis. Wie schon zum Antragserfordernis bei der Befristung der Ausweisungsfolgen nach § 11 Abs. 1 AufenthG ausgeführt, wird man hierin jedoch keine gemessen an Art. 8 EMRK unzumutbare Mitwirkungshandlung des Betroffenen erblicken können.213 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Ausländerbehörde bei der Ausweisung auf die Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG hinweist. Eine solche Hinweispflicht dürfte für die Ausländerbehörde aus § 82 Abs. 3 AufenthG folgen, da die Möglichkeit zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als „wesentliches Recht“ im Sinne der Vorschrift anzusehen ist.

3. Ergebnis Die bisherige Untersuchung hat ergeben, daß das Aufenthaltsgesetz bei isolierter Auslegung und Anwendung nicht auf einen Vorrang der Europäischen Menschenrechtskonvention, konkret auf einen Vorrang von Art. 8 EMRK gegenüber der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG, angelegt ist. Gleichwohl ließe sich ein solcher Vorrang über eine konventionskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG begründen, wenn allein auf diesem Wege eine Verletzung der völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik aus der Konvention vermieden werden kann. Wie die Untersuchung weiterhin ergeben hat, bietet das Aufenthaltsgesetz jedoch eine gesetzesimmanente Lösung mit der sich eine Verletzung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens ebenso vermeiden läßt. Zwar ist der gesetzliche Rahmen hierfür bei näherer Betrachtung eng gesteckt. Insbesondere kommen weder ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG, der sich nur auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bezieht, noch eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in Betracht, die allein eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlaubt. 213

Vgl. dazu die Ausführungen oben unter C. III. 2. b) aa).

290

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Möglich ist es aber, die Ausweisungswirkungen gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG zu befristen und so die Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK abzumildern. Sollte auch dies im Einzelfall nicht ausreichend sein, ist ein humanitäres Bleiberecht gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu gewähren – eine Möglichkeit auf die die Ausländerbehörde gemäß § 82 Abs. 3 AufenthG hinzuweisen hat. Für einen Rekurs auf eine den im Gesetz objektiv zum Ausdruck kommenden subjektiv-historischen Willen des Gesetzgebers verdrängende konventionskonforme Auslegung der Vorrangklausel in § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG besteht damit kein Anlaß. Man wird diesem Lösungsansatz letztlich auch nicht entgegenhalten können, daß die Berücksichtigung eines aus Art. 8 EMRK folgenden Aufenthaltsrechts aus gesetzessystematischen Gründen besser schon im Rahmen der Ausweisung zu verorten sei.214 Dieses Argument ist zwar im Ansatz richtig, weil sich aus einer Zusammenschau der Vorschriften über die Ausweisung und derjenigen über den Abschiebungsschutz unzweifelhaft ergibt, daß die Entscheidung über den weiteren Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet bereits mit der Ausweisung getroffen werden soll. Entsprechend sehen dann auch die Ermessensausweisung und die Ausweisung im Regelfall Möglichkeiten vor, solche Umstände, die entgegen den Ausweisungstatbeständen zu einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik führen können, schon im Rahmen der Ausweisungsentscheidung zu berücksichtigen. Anders ist hingegen der Fall der zwingenden Ausweisung zu beurteilen. Der Gesetzgeber hat hier – von dem besonderen Ausweisungsschutz des § 56 AufenthG abgesehen – ausdrücklich keine Berücksichtigung weiterer Umstände zulassen wollen. Es liegt in der Konsequenz dieser Entscheidung, daß auch ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung nach § 53 AufenthG nicht berücksichtigt werden kann. Im übrigen verliert die zwingende Ausweisung auch durch die anschließende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht völlig ihren Sinn. Richtig ist zwar, daß die Aufenthaltserlaubnis die durch die Ausweisung bewirkte Ausreisepflicht gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG und das aus § 11 Abs. 1 AufenthG folgende Einreise- und Aufenthaltsverbot umgehend wieder aufhebt und letztlich entgegen dem gesetzlichen Zweck der Ausweisung den weiteren, auf Dauer angelegten Aufenthalt des Ausgewiesenen ermöglicht. Zumindest aber wird der Betroffene, da der ursprüngliche Aufenthaltstitel gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erlischt, auf ein humanitäres Bleiberecht zurückgeworfen. Dadurch wird ihm eindringlich vor Augen geführt, daß sein weiterer Aufenthalt in der Bundesrepublik nur noch aus völkerrechtlichen Gründen zum Schutz des Privat- und Familienlebens gestattet wird und bei weiteren strafrechtlichen Verfehlungen mit einer endgültigen Aufenthaltsbeendigung gerechnet werden muß. Eine gewisse Sanktionswirkung der Ausweisung bleibt somit erhalten.215

214 215

So in diesem Zusammenhang aber Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 47. In diese Richtung, allerdings zur Duldung, bereits Sennekamp ZAR 2002, 136 (143).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

291

Schließlich wird es sich – auch dies hat die vorliegende Untersuchung ergeben – ohnehin nur um Ausnahmefälle handeln, in denen es bei einer unmodifizierten Anwendung von § 53 AufenthG verbleibt und in denen daher die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zur Vermeidung einer Konventionsverletzung erforderlich sein kann. Insbesondere aus Gemeinschaftsrecht wird sich nämlich vielfach bereits ein besonderer Ausweisungsschutz ergeben, der eine Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens schon bei der Entscheidung über eine Ausweisung ermöglicht und kraft Gemeinschaftsrechts auch verlangt. Neben den zahlreichen Einschränkungen, die der Gesetzgeber bereits einfachgesetzlich berücksichtigt hat und die daher auch in der Praxis ohne weiteres Beachtung finden, muß in besonderer Weise auf den durch Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG begründeten Ausweisungsschutz hingewiesen werden, der im Rahmen von § 53 AufenthG allein wegen der vorrangigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens erfordert.

C. Folgerungen für den Familiennachzug C. Folgerungen für den Familiennachzug

Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens setzt im Aufenthaltsrecht nicht allein aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Grenzen, es kann vielmehr auch die Gestattung des Nachzugs zu in der Bundesrepublik lebenden Familienangehörigen gebieten. Freilich reicht die Bedeutung von Art. 8 EMRK für den Familiennachzug in der Straßburger Rechtsprechungspraxis zumindest bislang nicht an diejenige für die Beendigung des Aufenthalts heran. Obwohl Nachzugsbeschränkungen bereits in der frühen Kommissionsrechtsprechung auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK überprüft wurden, finden sich erst in der jüngeren Judikatur des Gerichtshofs einige vereinzelte Urteile, die in diesem Kontext eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens feststellen. Ausschlagend für die rechtliche Beurteilung war insoweit stets, daß sich die Führung eines Familienlebens im Herkunftsland des Ausländers als unmöglich bzw. unzumutbar erwies.1 Bei der Beurteilung der Konventionskonformität der den Familiennachzug regelnden Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes gilt es jedoch zu berücksichtigen, daß diese Vorschriften nicht allein den erstmaligen Nachzug eines Familienangehörigen betreffen, sondern auch dann Anwendung finden, wenn eine familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet besteht, etwa wenn einem Ausländer bereits aus anderen, inzwischen nicht mehr bestehenden Gründen ein Aufenthalts1 Vgl. als wohl erste Entscheidungen zum Familiennachzug EKMR, Entsch. vom 15.07.1967, Alam und Khan, Singh ./. Vereinigtes Königreich, CD 24, 166 ff.; Entsch. vom 10.10.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians I“), CD 36, 92 ff.; Entsch. vom 18.12.1970, Patel u. a. ./. Vereinigtes Königreich („East African Asians II“), CD 26, 127 ff. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK wurde festgestellt in EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96; Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle ./. Niederlande, Nr. 60665/00; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99.

292

Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

recht zustand und er nun zur Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen bedarf. In dieser Konstellation, in der die Straßburger Rechtsprechung in der Verweigerung eines Aufenthaltstitels wie im Falle einer Ausweisung auch, einen Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK und nicht lediglich eine (potentielle) Verletzung einer aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgenden positiven Verpflichtung sieht,2 kommt dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens aufgrund der in der Bundesrepublik gewachsenen Bindungen erheblich größeres Gewicht zu.

I. Der Aufenthalt aus familiären Gründen nach dem Aufenthaltsgesetz Das Aufenthaltsgesetz regelt den „Aufenthalt aus familiären Gründen“ im 6. Abschnitt des 2. Kapitels, in den §§ 27 bis 36 AufenthG. Im Kern folgt die Systematik den bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes geltenden Regelungen des Ausländergesetzes von 1990, das in Abkehr von der früheren Rechtslage erstmals detaillierte Leitlinien zur Steuerung des Familiennachzugs beinhaltete.3 Danach ist grundsätzlich zwischen dem Familiennachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG) und dem Familiennachzug zu Ausländern (§§ 29 bis 36 AufenthG) zu unterscheiden, wobei erste gegenüber letzteren sowohl hinsichtlich des nachzugsberechtigten Personenkreises als auch bezüglich der einzelnen Nachzugsvoraussetzungen privilegiert behandelt werden.4 Ausweislich der mit § 27 Abs. 1 AufenthG dem 6. Abschnitt vorangestellten Zweckbestimmung kommt der Gesetzgeber mit der Regelung des Familiennachzugs der aus Art. 6 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgenden Schutzpflicht zugunsten von Ehe und Familie im Aufenthaltsrecht nach.5 Dem entsprechend wird ein Nachzugsrecht im Grundsatz allein den Ehegatten und den Angehörigen der Kernfamilie, also Eltern und Kindern gewährt (§§ 28 bis 35 AufenthG), während sonstige Familienangehörige allenfalls zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können (§ 36 AufenthG).

2

Vgl. zu Abgrenzung eingehend die Ausführungen in Teil 1 unter D. II. und III. Zur Entwicklungsgeschichte des Familiennachzugs von einer im wesentlichen erlaßrechtlich geprägten Rechtslage unter Geltung der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 und des AuslG 1965 bis zur Neuausrichtung durch das AuslG 1990 vgl. Renner, in: Hailbronner / Klein, Einwanderungskontrolle und Menschenrechte, S. 97 ff.; zur Rechtslage unter dem AuslG 1990 ausführlich Scheer, Ehegatten- und Familiennachzug, S. 239 ff., zuletzt Renner, NVwZ 2004, 792 (795 ff.); ein Überblick über das geltende Recht findet sich etwa bei Marx, FamRBint 2005, 18 ff. 4 Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 1; Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 9 ff.; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 3, 5. 5 Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 13; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 12; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 5. 3

C. Folgerungen für den Familiennachzug

293

1. Ehegattennachzug Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs steht zunächst dem ausländischen Ehegatten zu. Dies gilt gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG sowohl für den Ehegatten eines Deutschen, als auch nach § 30 AufenthG für den Ehegatten eines in der Bundesrepublik lebenden Ausländers. Erforderlich ist in jedem Fall eine bestehende und wirksam geschlossene Ehe. Ein Anspruch besteht demnach nicht, wenn eine Ehe durch Scheidung, Aufhebung oder in anderer Weise beendet wurde6 oder erst in der Bundesrepublik geschlossen werden soll.7 Im letzteren Fall kommt allerdings die Erteilung eines Visums in Betracht.8 Die Wirksamkeit einer Ehe richtet sich nach dem jeweils am Ort der Eheschließung geltenden Recht; geschützt wird damit sowohl die nach deutschem, als auch die nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehe.9 Auch eine im Ausland nach religiösem Ritus geschlossene Ehe gilt als Ehe, wenn sie durch das jeweilige Ortsrecht einer vor einer staatlichen Stelle geschlossenen Ehe gleichgestellt wird.10 Im Grunde ist hier jedoch schon die Bezeichnung als religiöse Ehe irreführend, da es sich ebenfalls um eine nach staatlichem Recht geschlossene Ehe handelt, nur daß das staatliche Recht eben auch einen religiösen Ritus genügen läßt. Unerheblich ist, ob die Ehe mit Mängeln behaftet ist, die einer Eheschließung entgegengestanden hätten oder ihre nachträgliche Auflösung rechtfertigen würden, sofern die Wirksamkeit der bestehenden Ehe dadurch nicht beeinträchtigt wird und die Ehepartner tatsächlich eine eheliche Lebensgemeinschaft führen wollen.11 Der Ehe gleichgestellt ist gemäß § 27 Abs. 2 AufenthG – insoweit unabhängig vom Schutzgebot des Art. 6 GG, auf den § 27 Abs. 1 AufenthG verweist – die eingetragene Lebenspartnerschaft im Sinne von § 1 LPartG.

2. Kindernachzug Der Familiennachzug von Kindern wird bei einem Nachzug zu einem deutschen Elternteil durch § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG und bei einem Nachzug zu einem in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Elternteil durch §§ 32 und 33 6

Hailbronner, Ausländerrecht, § 30 AufenthG Rn. 8; Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 48; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 24. 7 Hailbronner, Ausländerrecht, § 30 AufenthG Rn. 9 f.; Marx, in: GK-AufenthG, § 27 AufenthG Rn. 111; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 26. 8 Hailbronner, Ausländerrecht, § 30 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 30 AufenthG Rn. 5. 9 Nr. 28.1.2 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 5; Marx, in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 50; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 19 f. 10 Nr. 28.1.2 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 5; Marx, in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 51; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 30. 11 BVerwG, Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 110; Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 6.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

AufenthG ermöglicht, wobei die letztere Vorschrift einschlägig ist, wenn das Kind im Bundesgebiet geboren wurde. Hinsichtlich des Nachzugs zu Deutschen gilt, daß vorrangig ein Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zu prüfen ist. Praktische Bedeutung hat § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG damit nur, wenn die deutsche Staatsangehörigkeit nicht schon durch Geburt, Legitimation oder Adoption nach §§ 4 bis 6 StAG erworben worden oder wenn sie nachträglich, etwa durch Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit, verloren gegangen ist.12 Die Vorschriften über den Kindernachzug erfassen nicht allein die leiblichen Kinder. Angesichts der Schutzwirkung von Art. 6 GG ist die Nachzugsmöglichkeit im Grundsatz auch für Adoptiv-, Pflege- und Stiefkinder eröffnet.13 Allerdings beziehen sich §§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 32, 33 AufenthG allein auf minderjährige und ledige Kinder. Für den Begriff der Minderjährigkeit ist gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 AufenthG die Regelung in § 2 BGB entscheidend, so daß nur solche Kinder nachzugsberechtigt sind, die noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben. Maßgeblich ist insoweit der Zeitpunkt, in dem das ausländische Kind die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis beantragt.14 Ledig ist ein Kind nur dann, wenn es unverheiratet ist und auch noch nicht verheiratet war.15 Ein Nachzug volljähriger bzw. verheirateter, geschiedener oder verwitweter Kinder ist indes nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern kann, wenn auch nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte, im Rahmen von § 36 AufenthG erfolgen.16 Für den Familiennachzug zu Deutschen folgt die Anwendbarkeit von § 36 AufenthG insoweit aus § 28 Abs. 4 AufenthG.

3. Elternnachzug Umgekehrt eröffnet das Aufenthaltsgesetz auch den ausländischen Eltern eines in der Bundesrepublik lebenden minderjährigen und ledigen Kindes eine Möglichkeit zum Familiennachzug. Für den Familiennachzug zu einem deutschen Kind gewährt § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge. Der Begriff der Personensorge ist

12 Nr. 28.1.3 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 7; Marx, in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 55 f.; Renner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 7; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 37. 13 Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 59; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 15; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 38 ff., der jedoch Pflegekinder unter den Begriff des sonstigen Familienangehörigen im Sinne von § 36 AufenthG subsumiert. 14 BVerwG, InfAuslR 1998, 161 (162); NVwZ-RR 1998, 677 (677); OVG Münster InfAuslR 1999, 75 (75); im einzelnen vgl. Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 61 f. 15 Hailbronner, Ausländerrecht, § 32 AufenthG Rn. 6; Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 64 ff.; Renner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 7. 16 Nr. 32.4.2, Nr. 36.1.1.3 AH-BMI; Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 5.

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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dabei im Sinne des Familienrechts gemäß § 1626 Abs. 1 BGB zu verstehen.17 Besitzt der ausländische Elternteil kein Sorgerecht oder strebt er, wie es das Gesetz formuliert, dessen Ausübung nicht an, kann eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 S. 4 AufenthG nach Ermessen erteilt werden, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet besteht. Praktische Relevanz besitzt diese Vorschrift für die Ausübung eines Umgangsrechts.18 Keine spezielle Nachzugsregelung besteht für den Nachzug zu einem volljährigen oder nicht mehr ledigen Deutschen, für den Nachzug des nichtsorgeberechtigten Elternteils eines Deutschen, sofern die familiäre Lebensgemeinschaft erst im Bundesgebiet hergestellt werden soll, sowie – vorbehaltlich der Sonderregelung des § 36 Abs. 1 AufenthG – für den Nachzug von Eltern eines ausländischen Kindes. In diesen Fällen kann jedoch zumindest im Einzelfall eine Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer besonderen Härte nach § 36 Abs. 2 AufenthG erteilt werden. Dies folgt für den Elternnachzug zu ausländischen bzw. zu volljährigen oder nicht mehr ledigen deutschen Kindern daraus, daß insoweit keine speziellen Nachzugsvorschriften bestehen und die betroffenen Personen daher als sonstige Familienangehörige im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG gelten.19 Auch für einen nichtsorgerechtsberechtigten Elternteil, der (bislang) nicht in familiärer Gemeinschaft mit seinem Kind im Bundesgebiet lebt und damit nicht unter die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 S. 4 AufenthG fällt, wird ein Rückgriff auf §§ 28 Abs. 4, 36 Abs. 2 AufenthG vertreten.20 Dem ist richtigerweise zu folgen, auch wenn die Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG in diesem Fall nicht völlig unproblematisch ist. Die Vorschrift stellt nach vorherrschender Auffassung keinen allgemeinen Auffangtatbestand dar. Ausweislich seines Wortlauts („sonstige Familienangehörige“) erfaßt sie diejenigen Fälle, in denen keine speziellen Nachzugsregelungen für bestimmte Familienangehörige bestehen; seine Anwendung ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lediglich an einzelnen Nachzugsvoraussetzungen scheitert.21 Da nun § 28 Abs. 1 S. 4 AufenthG den Nachzug des nichtsorgeberechtigten Elternteils regelt und dabei streng genommen das Bestehen der familiären 17 BVerwG, NVwZ-RR 1997, 657 (657); Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 9; ausführlich zu den Einzelheiten Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 77 ff. 18 Vgl. Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 99; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 61. 19 Nr. 36.1.1.3 AH-BMI; Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 5. 20 VG Regensburg, Beschluß vom 04.10.1999, Az. RO 2 S 99.2069, Juris, allerdings unter irrtümlicher Zitierung von OVG Hamburg, Beschluß vom 12.07.1991, Az. Bs VII 53/91 – Juris (Leitsätze in NVwZ-RR 1992, 162 (162)); Marx, in: GK-AufenthG, § 28 AufenthG Rn. 100, 159; so auch Nr. 28.4.1 AH-BMI; a. A. Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 71. 21 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 5. Vgl. auch Nr. 36.1.1.0 AH-BMI.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Gemeinschaft im Bundesgebiet als Erteilungsvoraussetzung nennt, wäre ein Rückgriff auf §§ 28 Abs. 4, 36 Abs. 2 AufenthG an sich ausgeschlossen. Daß dies jedoch im Ergebnis nicht gewollt sein kann, zeigt schon ein Vergleich mit dem Elternachzug zu ausländischen Kindern, der – von der neuen Sonderregelung des § 36 Abs. 1 AufenthG abgesehen – überhaupt nicht geregelt ist und daher die Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG auch für den Nachzug nichtsorgerechtsberechtigter Eltern zur Herstellung der familiären Gemeinschaft im Bundesgebiet nicht versperrt. Eine Schlechterstellung des Nachzugs zu Deutschen gegenüber dem Nachzug zu Ausländern entspricht nicht der gesetzlichen Systematik, die gerade von einer Privilegierung des Nachzugs zu Deutschen ausgeht. Historisch ist die heutige Regelung des § 28 Abs. 1 S. 4 AufenthG erst nachträglich durch das Gesetz zur Änderung ausländischer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 29. Juli 1997 in das Ausländergesetz von 1990 eingeführt worden, dessen § 23 bis dahin allein einen Nachzugsanspruch für den sorgerechtsberechtigten Elternteil kannte.22 Bis zur Gesetzesänderung war damit für den nichtsorgerechtsberechtigten Elternteil ein Rückgriff auf die Härteklausel möglich. Ausweislich der Begründung des Innenausschusses des Bundesrates, auf dessen Empfehlung hin die heutige Ermessensvorschrift für den nichtsorgerechtsberechtigten Elternteil vom Vermittlungsausschuß in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde, sollte § 23 AuslG 1990 vor dem Hintergrund von Art. 6 GG und integrationspolitischer Überlegungen angemessen erweitert, keinesfalls aber verschärft werden.23

4. Nachzug sonstiger Familienangehöriger Zu den sonstigen Familienangehörigen im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG zählen neben den Mitgliedern der Kernfamilie, für die nach den §§ 28 bis 35 AufenthG keine Nachzugsmöglichkeit vorgesehen ist, auch die Mitglieder der sogenannten Großfamilie.24 Dies betrifft etwa den Nachzug von Enkelkindern zu ihren in Bundesrepublik lebenden Großeltern,25 den Nachzug von Nichten und Neffen26 oder den Nachzug von Geschwistern.27

22

BGBl. I 1997 S. 2584. Zum Gesetzentwurf des Vermittlungsausschusses vgl. BT-Drs. 13/7956, Anlage S. 2; zur Empfehlung des Innenausschusses des Bundesrates siehe BR-Drs. 870/1/96, Ziff. 3 c. 24 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 5. 25 BVerwG, NVwZ-RR 1997, 739 (740); VGH Kassel, FamRZ 1999, 994 (994); BayVGH, Beschluß vom 24.02.1999, Az. 10 ZS 99.382, Juris; OVG Hamburg, EZAR 020 Nr. 12; OVG Berlin, InfAuslR 2003, 275 (276). 26 VGH Kassel, EZAR 622 Nr. 16; OVG Hamburg, Beschluß vom 28.06.1993, Az. Bs V 55/93, Juris; VG München, Beschluß vom 30.08.1999, Az. M 7 S 99.1237, Juris; VG Ansbach, Beschluß vom 27.01.2006, Az. AN 19 S 06.00107, Juris. 27 VG Hamburg, Beschluß vom 08.09.2006, Az. 17 E 2495/06, Juris. 23

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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5. Erteilungsvoraussetzungen Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen sind ihrer Systematik nach überaus komplex und hängen letztlich vom konkreten Einzelfall ab. Anders als unter Geltung des Ausländergesetzes von 1990 regeln die Vorschriften über den Familiennachzug die Erteilungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nicht abschließend. Diese setzen sich vielmehr stufenartig aus den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG), den für den Familiennachzug (§ 27 AufenthG), den ergänzend für den Nachzug zu Ausländern (§ 29 AufenthG) sowie schließlich den für den jeweiligen Personenkreis, also Ehegatten, Kinder, Eltern und sonstige Angehörige, geltenden Voraussetzungen zusammen. Zu beachten ist außerdem, daß den Erteilungsvoraussetzungen vielfach kein zwingender Charakter zukommt, die Ausländerbehörden also im Einzelfall von deren Erfüllung absehen können. Dies gilt namentlich für die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG, bei denen es sich – von den seltenen Fällen eines Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 5 und Nr. 5a AufenthG abgesehen – schon von vornherein nur um Regelvoraussetzungen handelt, die eine andere Entscheidung in Ausnahmefällen zulassen und die nach Maßgabe der §§ 27 ff. AufenthG weiteren, teils fakultativen, teils obligatorischen Erleichterungen unterliegen. Auch hinsichtlich der sonstigen, sich erst aus den einzelnen Vorschriften über den Familiennachzug ergebenden Voraussetzungen sieht das Gesetz zahlreiche Härtefallklauseln vor, die eine abweichende Entscheidung der Ausländerbehörde verlangen oder zumindest nach pflichtgemäßem Ermessen ermöglichen.

II. Kollisionspotential 1. Grundsätzliches Was nun die Vereinbarkeit der Regelungen des Familiennachzugs mit den konventionsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK anbelangt, ist eine Kollision jedenfalls im Grundsatz kaum vorstellbar, soweit sich der persönliche Schutzbereich von Art. 8 EMRK mit dem des Art. 6 GG deckt. Hier sieht das Aufenthaltsgesetz schon der aus Art. 6 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgenden Schutzpflicht entsprechend weitgehende Nachzugsmöglichkeiten für die Mitglieder der Kernfamilie, also Ehegatten, Eltern und Kinder, vor. Daß die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dabei von der Erfüllung weiterer Voraussetzungen, etwa dem Nichtvorliegen von Ausweisungsgründen, der Sicherung des Lebensunterhalts oder ausreichendem Wohnraum, abhängig gemacht wird, stellt auch gemessen an Art. 8 EMRK keine per se unzulässige Beschränkung dar, weil hinter diesen Voraussetzungen letztlich legitime öffentliche Interessen im Zusammenhang mit der Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung stehen. Diese sind grundsätzlich geeignet, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien-

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

lebens gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK zu rechtfertigen bzw. das Ausmaß einer aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgenden positiven Verpflichtung zu begrenzen. Namentlich sei auf die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten und das wirtschaftliche Wohl des Landes als zulässige Eingriffsziele verwiesen. Soweit im Einzelfall der Schutz des Familienlebens diese öffentlichen Interessen überwiegen und die Gestattung des Aufenthalts verlangen sollte, kann (und muß) die Ausländerbehörde zudem die ihr gesetzlich eingeräumten Ermessensspielräume und Härtefallklauseln ausschöpfen, um eine Verletzung von Art. 8 EMRK zu vermeiden. Kollisionspotential kann damit nur insoweit bestehen, wie das Aufenthaltsgesetz unabdingbare Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorsieht bzw., negativ gewendet, unter bestimmten Umständen einen Familiennachzug kategorisch ausschließt. Gleiches gilt schließlich, soweit der persönliche Schutzbereich von Art. 8 EMRK über den des Art. 6 GG bzw. den durch die §§ 27 bis 36 AufenthG begünstigten Personenkreis hinausgeht. Im einzelnen sollen hier die folgenden Konstellationen näher betrachtet werden.

2. Aufenthaltsrecht für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft Bei einem Vergleich der Nachzugsvorschriften mit dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK drängt sich zunächst die Frage nach einem Aufenthaltsrecht für nichteheliche Lebenspartner auf. Der konventionsrechtliche Familienbegriff erfaßt nach inzwischen ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs neben der Ehe auch eheähnliche Beziehungen, in denen die Partner ohne eine rechtliche Bindung zusammenleben.28 Für die Annahme eines Familienlebens genügt hier, daß die Zusammengehörigkeit der Partner etwa in der Dauer ihrer Beziehung, in der Führung eines gemeinsamen Haushalts, in Verantwortung für gemeinsame Kinder oder in anderen außerrechtlichen Umständen zum Ausdruck kommt.29 Der Schutz des Art. 8 EMRK gilt damit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft als solcher und ist im Grundsatz nicht von der Frage gemeinsamer Kinder abhängig, auch wenn gegenteiliges auch heute noch vereinzelt behauptet wird.30 Gleichgeschlechtliche Partner werden ebenfalls durch Art. 8 EMRK geschützt. Allerdings ist insoweit nicht der Schutzbereich des Familienlebens, sondern der des Privatlebens eröffnet. Die Gleichgeschlechtlichkeit steht jedenfalls nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechungsentwicklung einer Subsumtion unter den konventionsrechtlichen

28 Grundlegend EGMR, Urt. vom 24.01.1986, Johnston u. a. ./. Irland, Serie A 112 (Ziff. 56); zuletzt Urt. vom 22.12.2004, Merger und Cros ./. Frankreich, Nr. 68864/01 (Ziff. 44). Zu den Einzelheiten und weiteren Nachweisen vgl. Teil 1 unter C. I. 1. d). 29 EGMR, Urt. vom 23.04.1997, X. Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1997-II, 620 (Ziff. 36); Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 112); Urt. vom 22.12.2004, Merger und Cros ./. Frankreich, Nr. 68864/01 (Ziff. 44). 30 So etwa Langenfeld / Mohsen, ZAR 2003, 398 (403 f.).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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Familienbegriff entgegen.31 Auch das Recht auf Achtung des Privatlebens kann jedoch sowohl den weiteren Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates, als auch die Gestattung des Nachzugs aus dem Ausland gebieten.32

a) Kein Aufenthaltsrecht gemäß §§ 28 und 30 AufenthG Das Aufenthaltsgesetz gewährt durch § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bzw. im Fall des Nachzugs zu Ausländern durch § 30 allein Ehegatten einen Anspruch auf Familiennachzug. Schon dem Wortlaut nach werden damit Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vom Familiennachzug ausgeschlossen. Auch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschriften scheitert an der in § 27 Abs. 1 AufenthG dem 6. Abschnitt vorangestellten Zweckbestimmung. Danach dienen die folgenden Vorschriften der einfachgesetzlichen Verwirklichung der aus Art. 6 GG als wertentscheidender Grundsatznorm folgenden Schutzpflicht zugunsten von Ehe und Familie. Dem Verweis auf Art. 6 GG kommt dabei auch eine begrenzende Funktion zu, indem die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags auch die Grenzen des durch Aufenthaltsgesetz gewährten Familiennachzugs determiniert.33 Da die Beziehung zwischen Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft wegen des für den Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG konstitutiven staatlichen Mitwirkungsakts und im Fall homosexueller Beziehungen ergänzend wegen der von Art. 6 Abs. 1 GG ebenfalls vorausgesetzten Verschiedengeschlechtlichkeit nicht vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG erfaßt wird,34 liegt der Familiennachzug von Partnern einer nichtehelichen Gemeinschaft außerhalb des Gesetzeszwecks.35 Allein für die Partner einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft ist durch das Lebenspartnerschaftsgesetz eine zumindest partielle Nachzugsmöglichkeit geschaffen worden. § 27 Abs. 2 AufenthG stellt – insofern systematisch unabhängig von der an Art. 6 GG anknüpfenden Zweckbestimmung des § 27 Abs. 1 AufenthG – die Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft im Sinne von 31 Vgl. zu den Einzelheiten und weiteren Nachweisen die Darstellung in Teil 1 unter C. I. 1. f). 32 Vgl. EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221) unter Verweis auf EGMR, Urt. vom 30.01.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 45 (Ziff. 41); Entsch. vom 13.07.1987, W. J. und D. P. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12513/86; Entsch. vom 09.10.1989, C. und L. M. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14753/89; Entsch. vom 10.02.1990, Z. B. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 16106/90. 33 Zu dieser beschränkenden Funktion von § 27 Abs. 1 AufenthG siehe allgemein Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 48 und BVerwGE 100, 287 (293) unter Verweis auf die Gesetzesbegründung des insoweit gleichlautenden § 17 Abs. 1 AuslG 1990 in BT-Drs. 11/6321, S. 60. 34 Vgl. dazu die Ausführungen und Nachweise oben unter A. II. 1. b). 35 BVerwGE 100, 287 (293 f.); Göbel-Zimmermann, ZAR 1995, 170 (173); Marx, in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 49; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 14; Schöbener, BayVBl. 1999, 129 (130); Schumacher, FamRZ 1994, 857 (862); Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 134 ff.; ders., FamRZ 1996, 587 (588).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

§ 1 LPartG den Ehegatten gleich, so daß die für sie geltenden Nachzugsregelungen hier entsprechende Anwendung finden. Im Umkehrschluß bestätigt diese Regelung jedoch letztlich, daß für Partner, die sich nicht zur Ehe bzw. eingetragenen Lebenspartnerschaft entschließen, keine Nachzugsmöglichkeit eröffnet ist.

b) Kein Aufenthaltsrecht gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG Eine unmittelbare oder entsprechende Anwendung der Härteklausel des § 36 Abs. 2 AufenthG kommt für die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft nach übereinstimmender Ansicht von Rechtsprechung und Schrifttum ebenfalls nicht in Betracht.36 Unklar ist jedoch, ob dies bereits wie im Fall der §§ 28, 30 AufenthG aus dem Verweis des § 27 Abs. 1 AufenthG auf den Ehe- und Familienbegriff des Art. 6 GG folgt. Anerkannt ist einerseits, daß zu den sonstigen Familienangehörigen im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG neben den Mitgliedern der Kernfamilie, soweit für sie in den §§ 28 bis 35 AufenthG keine Nachzugsmöglichkeiten vorgesehen sind, auch Angehörige der Großfamilie zählen. Dies betrifft etwa Enkelkinder, Nichten und Neffen, Geschwister oder Schwager und Schwägerinnen.37 Andererseits erfaßt der Familienbegriff des Art. 6 GG jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allein die aus Eltern und Kindern bestehende Gemeinschaft.38 Zur Lösung dieses Widerspruchs finden sich zwei unterschiedliche Deutungen des § 36 Abs. 2 AufenthG. Teils wird – insoweit entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts – ein auch in der verfassungsrechtlichen Kommentarliteratur vertretener weiterer Familienbegriff des Art. 6 GG unterstellt, der über Eltern und Kinder hinaus auch andere

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BVerwGE 100, 287 (293 f.); NVwZ-RR 2001, 132 (132); OVG Hamburg, DÖV 1993, 1058 (1058); VGH Kassel, NVwZ-RR 1994, 55 (56); OVG Münster, Beschluß vom 26.11.1996, Az. 17 B 2110/96, Juris; Beschluß vom 21.04.1997, Az. 17 B 1588/96, Juris; Duderstadt, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 54; Schöbener, BayVBl. 1999, 129 (130); Schumacher, FamRZ 1994, 857 (862); Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 138 ff.; ders., FamRZ 1996, 587 (589 ff.). 37 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 4; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 5; zum Nachzug von Großeltern vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1997, 739 (740); VGH Kassel, FamRZ 1999, 994 (994); BayVGH, Beschluß vom 24.02.1999, Az. 10 ZS 99.382, Juris; OVG Hamburg, EZAR 020 Nr. 12; OVG Berlin, InfAuslR 2003, 275 (276); zum Nachzug von Nichten und Neffen vgl. VGH Kassel, EZAR 622 Nr. 16; OVG Hamburg, Beschluß vom 28.06.1993, Az. Bs V 55/93, Juris; VG München, Beschluß vom 30.08.1999, Az. M 7 S 99.1237, Juris; VG Ansbach, Beschluß vom 27.01.2006, Az. AN 19 S 06.00107, Juris; zum Nachzug eines Schwagers vgl. OVG Hamburg, Beschluß vom 23.08.1994, Az. Bs IV 150/94, Juris; zum Nachzug von Geschwistern zuletzt VG Hamburg, InfAuslR 2006, 459 (460). 38 BVerfGE 48, 327 (339); BVerfGE 59, 52 (63); vgl. auch Badura, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 60; Burgi, in: Friauf / Höfling, Berliner Kommentar, Art. 6 Rn. 20; G. Kirchhof, AöR 129 (2004), 542 (549 ff.); Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 16.

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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verwandtschaftlich verbundene Personen erfaßt.39 Der Verweis des § 27 Abs. 1 AufenthG auf den (erweiterten) Art. 6 GG behält danach seine Funktion als Auslegungsmaßstab auch für § 36 Abs. 2 AufenthG und schließt konsequenterweise die nichteheliche Lebensgemeinschaft von dessen Anwendungsbereich aus. Demgegenüber geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, daß § 36 Abs. 2 AufenthG über den durch Art. 6 GG und die §§ 27 bis 35 AufenthG geschützten Personenkreis hinaus Nachzugsmöglichkeiten zur Vermeidung außergewöhnlicher Härten eröffnen soll.40 Der Begriff des Familienangehörigen im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG ist demnach unabhängig vom engen Familienbegriff des Art. 6 GG zu verstehen. Aber auch in diesem Fall sollen die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft keine sonstigen Familienangehörigen darstellen. Als Argument – von allerdings geringer Durchschlagskraft – wird hier zunächst auf den allgemeinen Sprachgebrauch verwiesen, wonach sich der Begriff der Familie (auch) heute noch nicht losgelöst von einer ehelichen oder verwandtschaftlichen Bindung verstehen lasse und § 36 Abs. 2 AufenthG demnach, soweit er über Eltern und Kinder hinausreiche, allein auf Verwandte ziele.41 Schon angesichts der entgegenstehenden, bis in die frühe Rechtsprechung der Kommission zurückreichenden Interpretation des Familienbegriffs in Art. 8 EMRK mag die These von einem Verwandtschaft voraussetzenden Familienverständnis zweifelhaft erscheinen. Jedenfalls ließe sich über eine an Art. 8 EMRK orientierte konventionskonforme Auslegung von § 36 AufenthG zumindest für die verschiedengeschlechtliche nichteheliche Lebensgemeinschaft eine Anwendung von § 36 AufenthG gut begründen. Überzeugender ist bereits der Hinweis auf die gesetzgeberische Intention. Zwar lassen sich der Gesetzesbegründung zu § 36 Abs. 2 AufenthG bzw. § 22 AuslG 1990 weder Anhaltspunkte für eine Interpretation des Familienbegriffs entnehmen, noch wird deutlich, ob sich der Gesetzgeber mit der Problematik der nichtehelichen Lebensgemeinschaft befaßt hat.42 Wohl aber hat der Gesetzgeber seinen Willen zum Ausdruck gebracht, daß ein Nachzug sonstiger Familienangehöriger zur Begrenzung der Zuwanderung in die Bundesrepublik nur unter den engen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht kommen soll.43 Dem Ziel einer Zuwanderungsbe39

Nr. 36.1.1.2 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 10; OVG Hamburg, Beschluß vom 23.08.1994, Az. Bs IV 150/94, Juris; VG Hamburg, Beschluß vom 08.09.2006, Az. 17 E 2495/06, Juris; aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum vgl. CoesterWaltjen, in: vMünch / Kunig, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 11; Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 77; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 4; Pirson, in: Dolzer / Vogel / Graßhof, Bonner Kommentar, Art. 6 Rn. 21; Robbers, in: vMangoldt / Klein / Starck, Art. 6 Rn. 88. 40 BVerwGE 100, 287 (293 f.); NVwZ-RR 2001, 132 (132); vgl. auch Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 138. 41 So Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 138 ff.; ders., FamRZ 1996, 587 (589 f.). 42 Vgl. zur Gesetzesbegründung zu § 22 AuslG 1990 BT-Drs. 11/6321, S. 46, 63 und zu § 36 AufenthG BT-Drs. 15/420, S. 84. 43 Vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 63 und gleichlautend BT-Drs. 15/420, S. 84.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

grenzung würde es jedoch widersprechen, eine Nachzugsmöglichkeit für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vorzusehen, für deren Feststellung kein der Ehe oder Verwandtschaft vergleichbares Publizitätskriterium zur Verfügung steht. Die Annahme, der Gesetzgeber hätte, falls er eine Nachzugsmöglichkeit auch für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hätte schaffen wollen, eine ausdrückliche Regelung vorgesehen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht unplausibel.44 Entscheidend kommt der Ausschluß nichtehelicher Lebensgemeinschaften schließlich in der Stellung des § 36 Abs. 2 AufenthG im System der Nachzugsvorschriften zum Ausdruck. Anders als die §§ 27 bis 35 AufenthG ermöglicht § 36 Abs. 2 AufenthG den Nachzug allein zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte. Ein Nachzug sonstiger Familienangehöriger soll die Ausnahme, keinesfalls die Regel sein. Soweit die Vorschrift Verwandte außerhalb der Kernfamilie erfaßt, erweist sich diese Beschränkung als plausibel, da eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne von § 27 Abs. 1 GG, deren Herstellung und Wahrung auch das Ziel der Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG ist, in der Regel allein zwischen Ehegatten und zwischen Eltern und ihren (minderjährigen und ledigen) Kindern geführt wird. Nur in Ausnahmefällen, etwa dann, wenn die Eltern in ihrer Erziehungs- und Beistandsfunktion für ihre Kinder ausfallen, mag es daher angezeigt erscheinen, entfernteren Verwandten den Nachzug zu gestatten. Bei nichtverheirateten Paaren ist die Lebensgemeinschaft jedoch ebenso wie bei Ehepaaren die Regel. Auf sie ist § 36 Abs. 2 AufenthG mit seinen engen Nachzugsvoraussetzungen ersichtlich nicht zugeschnitten.45

c) Die Bedeutung der Unionsbürgerrichtlinie Soweit es sich bei dem nachzugbegehrenden Ausländer um den nichtehelichen Lebenspartner eines in der Bundesrepublik lebenden Unionsbürgers handelt, sind ergänzend die Bestimmungen der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG bzw. die ihrer Umsetzung dienenden Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes / EU zu beachten, die dem Aufenthaltsgesetz vorgehen und gegenüber der alten Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG einige hier relevante Neuerungen enthalten. Die Richtlinie erstreckt das Freizügigkeitsrecht auch auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, um diesem eine effektive Verwirklichung seines Freizügigkeitsrechts zu ermöglichen.46

44 So mit ausführlicher Begründung Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 143; ders., FamRZ 1996, 587 (591); vgl. auch BVerwGE 100, 287 (293 f.); NVwZ-RR 2001, 132 (132); VGH Kassel, NVwZ-RR 1994, 55 (56); Schöbener, BayVBl. 1999, 129 (130). 45 Ebenso Wegner, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, S. 145; wohl auch BVerwGE 100, 287 (293 f.); BVerwG, NVwZ-RR 2001, 132 (132). 46 Vgl. 5. Erwägungsgrund der RL 2004/38/EG (ABl. EU 2004, Nr. L 229, S. 35).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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aa) Der Begriff des Ehegatten Zu den in diesem Sinne begünstigten Familienangehörigen zählt gemäß Art. 2 Nr. 2 lit. a der Richtlinie zunächst der Ehegatte eines Unionsbürgers. Der Begriff des Ehegatten wird dabei nach bisheriger Rechtsprechung des EuGH in einem formalen Sinne verstanden. Eine rein tatsächliche Lebensgemeinschaft zwischen nicht verheirateten Partnern soll, jedenfalls solange nicht eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in der gesamten Gemeinschaft eine andere Auslegung rechtfertigt, nicht genügen.47 Ob auch gleichgeschlechtliche Paare, die eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaates wirksame Ehe eingegangen sind, als Ehegatten im Sinne der Richtlinie gelten, ist bislang nicht abschließend geklärt.48 Der Rat hat einen entsprechenden Änderungsvorschlag des Europäischen Parlaments, der eine ausdrückliche Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Ehepaare vorsah, angesichts des bisherigen Standes der Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten nicht übernommen.49 Daraus wird man schließen können, daß zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gleichgeschlechtlichen Ehepaare erfaßt werden. Andererseits wandte sich der Rat hier lediglich gegen eine ausdrückliche Einbeziehung von Ehegatten des gleichen Geschlechts. Eine sich an die künftige Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten anpassende Auslegung des Richtlinientexts sollte damit offenbar nicht ausgeschlossen werden.

bb) Die eingetragene Lebenspartnerschaft Den Ehegatten werden aufenthaltsrechtlich die Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gleichgestellt. Gemäß Art. 2 Nr. 2 lit. b der Unionsbürgerrichtlinie gilt dies jedoch nur, wenn die eingetragene Lebenspartnerschaft nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind. Mit dieser Einschränkung soll nach dem Willen des Rates eine Inländerdiskriminierung vermieden werden, die dadurch entstehen könnte, daß der Aufnahmemitgliedstaat eingetragene Lebenspartner von Unionsbürgern begünstigen müßte, obwohl er für Lebenspartner seiner eigenen Staatsangehörigen insoweit keine Gleichstellung mit der Ehe vorsieht.50 Für die Bundesrepublik bedeutet dies, daß dem gleichgeschlechtlichen Lebenspartner eines 47 Grundlegend EuGH, Rs. 59/85, Slg. 1986, 1283 Rn. 15 f. – Reed; vgl. auch EuGH, Rs. C-122/99, Slg. 2001, I-4319 Rn. 34 ff.; Brechmann, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 39 EG Rn. 23; Randelzhofer / Forsthoff, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 39 EG Rn. 75; Wölker / Grill, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 39 EG Rn. 96. 48 Dafür Randelzhofer / Forsthoff, in: Grabitz / Hilf, Recht der Europäischen Union, Art. 39 EG Rn. 76. 49 Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, ABl. EU 2004, Nr. C 54 E, S. 12 (28). 50 Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, ABl. EU 2004, Nr. C 54 E, S. 12 (28).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht im Sinne der Unionsbürgerrichtlinie gewähren muß, da für diese Personengruppe gemäß § 27 Abs. 2 AufenthG eine Gleichstellung mit der Ehe gegeben ist. Das Freizügigkeitsgesetz / EU kommt dieser Konsequenz jedoch bislang nicht hinreichend nach.51 Zwar erklärt § 3 Abs. 6 FreizügG / EU für den eingetragenen Lebenspartner eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers die für den Lebenspartner eines Deutschen geltenden Vorschriften der §§ 27 Abs. 2, 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG für anwendbar. Diese Regelung setzt die Rechtsprechung des EuGH um, der schon aus Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG ein entsprechendes Diskriminierungsverbot zugunsten der Lebenspartner eines Unionsbürgers abgeleitet hatte, obwohl die Freizügigkeitsverordnung diese Personengruppe nicht als Familienangehörige anerkannte.52 Die Unionsbürgerrichtlinie stuft den eingetragenen Lebenspartner nun aber als Familienangehörigen ein, so daß er nicht nur den Lebenspartnern Deutscher gleich zu behandeln ist, sondern ein Aufenthaltsrecht nach der Unionsbürgerrichtlinie besitzt. Da auch die jüngste Reform des Freizügigkeitsgesetzes / EU hier keine Abhilfe geleistet hat, ist auch künftig von einer unmittelbaren Anwendbarkeit der insoweit inhaltlich unbedingten und hinreichend genauen Unionsbürgerrichtlinie auszugehen, die § 3 Abs. 6 FreizügG / EU verdrängt.

cc) Die nichteheliche Lebensgemeinschaft Nichteingetragene nichteheliche Lebenspartner, seien sie verschiedenen oder gleichen Geschlechts, zählen nicht zu den Familienangehörigen, denen die Mitgliedstaaten Einreise und Aufenthalt gestatten müssen. Damit weicht die Unionsbürgerrichtlinie vom ursprünglichen Kommissionsentwurf ab, der auch den ledigen Lebenspartner als Familienangehörigen definierte, sofern die Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die Gleichstellung unverheirateter und verheirateter Paare vorsahen.53 Der Rat beschränkte die Regelung jedoch allein auf die eingetragene Lebenspartnerschaft. Für nicht eingetragene Lebenspartner, die gleichwohl in einer dauerhaften Beziehung leben, erweiterte er allerdings die Vorschrift des Art. 3 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie um lit. b, wonach der Aufnahmemitgliedstaat unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit, Einreise und Aufenthalt des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist, nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu erleichtern hat.54 In

51 So auch Kloesel / Christ / Häußer, Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 3 FreizügG / EU Rn. 51. 52 EuGH, Rs. 59/85, Slg. 1986, 1283 Rn. 28 f. – Reed. 53 Art. 2 Nr. 2 lit. b des Kommissionsentwurfs, ABl. EG 2001, Nr. C 270 E, S. 152; zur Begründung, die maßgeblich auf einen gesellschaftlichen Wandel in den Mitgliedstaaten abstellt, vgl. KOM 2001/0257 endg. 54 Vgl. Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, ABl. EU 2004, Nr. C 54 E, S. 12 (30).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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zweifacher Hinsicht wirft diese Vorschrift bislang nicht gänzlich geklärte Fragen auf. Unklar ist zunächst, welche konkreten Anforderungen das Konzept der „Erleichterung“ an die Mitgliedstaaten stellt. Bereits der nun mit der Unionsbürgerrichtlinie außerkraftgetretene Art. 10 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EG enthielt hinsichtlich sonstiger Familienangehöriger, die nicht aufenthaltsberechtigt waren, aber gleichwohl in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Unionsbürger standen, die Vorgabe, den Zugang zum Aufnahmemitgliedstaat „zu begünstigen“. Der EuGH hat, soweit ersichtlich, nicht zur Auslegung dieser Vorschrift, die mit Art. 3 Abs. 2 lit. a auch Eingang in die Unionsbürgerrichtlinie gefunden hat, Stellung genommen. Auch das Schrifttum hat sich nicht zu einer einheitlichen Auffassung entschließen können.55 Der deutsche Gesetzgeber hat es bei einem Hinweis in der Gesetzesbegründung zu § 7 AufenthG / EWG 1980 belassen, wonach entsprechende Anträge „besonders wohlwollend zu behandeln“ seien.56 Anhaltspunkte bietet jedoch nun der 6. Erwägungsgrund der Unionsbürgerrichtlinie, mit dem der Gemeinschaftsgesetzgeber den Begriff der Erleichterung präzisiert hat. Danach sollte um der Einheit der Familie willen die Lage derjenigen Personen, die nicht Familienangehörige im Sinne der Richtlinie sind und die daher kein automatisches Einreise- und Aufenthaltsrecht genießen, von dem Aufnahmestaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihrer finanziellen oder physischen Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist. Zwei Aussagen scheinen hier klar. Einerseits besitzen Lebenspartner freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Andererseits dürfen ihnen die Mitgliedstaaten nicht kategorisch Einreise und Aufenthalt verweigern. Sie müssen vielmehr in jedem Einzelfall auf der Grundlage ihrer eigenen Rechtsvorschriften prüfen, ob im Interesse der Familieneinheit die Gestattung von Einreise und Aufenthalt geboten ist. Weniger klar läßt sich die Frage beantworten, in welchem Umfang ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist. Die Formulierung des 6. Erwägungsgrundes, nach der den in Art. 3 Abs. 2 genannten Personen lediglich kein „automatisches“ Einreise- und Aufenthaltsrecht zusteht, scheint nahezulegen, daß das Aufenthaltsrecht in der durch die Unionsbürgerrichtlinie vorgegeben Form zu erteilen ist, so daß der Status des Lebenspartners dem der übrigen Familienangehörigen gleichgestellt ist, wenn sich der Aufnahmemitgliedstaat zur Gestattung des Aufenthalts entschließt.57 Richtigerweise dürfte aber mit dem Verweis auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften im 6. Erwägungsgrund deutlich gemacht worden sein, daß nicht nur die Frage des 55 Vgl etwa Wölker / Grill, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 39 EG Rn. 101. 56 Vgl. BT-Drs. 5/4125, S. 12. 57 In diesem Sinne zu Art. 10 Abs. 2 VO 1612/68/EWG Wölker / Grill, in: von der Groeben / Schwarze, EU-/EG-Vertrag, Art. 39 EG Rn. 101.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

„ob“ einer Aufenthaltsgestattung, sondern auch der aufenthaltsrechtliche Status selbst im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt. Eine weitere Unklarheit besteht in dem Erfordernis einer ordnungsgemäßen Bescheinigung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Fraglich ist hier, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ein entsprechendes Verfahren zur Feststellung einer dauerhaften Beziehung einzuführen oder ob eine Erleichterung im Sinne dieser Vorschrift davon abhängig ist, daß das Recht des Aufnahmemitgliedstaats ein entsprechendes Verfahren vorsieht. Für letzteres könnte zumindest dem ersten Anschein nach die Entstehungsgeschichte der Norm angeführt werden. So sah auch der ursprüngliche Kommissionsentwurf lediglich dann ein Aufenthaltsrecht für nichteheliche Lebenspartner vor, falls die nichteheliche Lebensgemeinschaft nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats der Ehe gleichgestellt war.58 Den Änderungsvorschlag des Parlaments, der alternativ auch eine Gleichstellung im Herkunftsland genügen ließ, lehnte der Rat mit Verweis auf die Problematik der Inländerdiskriminierung ab. Sowohl für eingetragene als auch für ledige Lebenspartner sei eine Gleichstellung mit der Ehe im Recht des Aufnahmestaates erforderlich.59 Daß der Rat die ledigen Lebenspartner schließlich ganz aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten herausnahm und ihnen lediglich eine Erleichterung bei Einreise und Aufenthalt zubilligte, spricht in der Tendenz für eine noch weitergehende Einschränkung, nicht aber für einen Verzicht auf das Gleichstellungserfordernis.60 Allerdings findet sich das Gleichstellungserfordernis – anders als bei eingetragenen Lebenspartnerschaften – nicht im Richtlinientext wieder. Auch aus systematischen Gründen kann es kaum in den Text hineingelesen werden, da Art. 3 Abs. 2 Erleichterungen auch für sonstige, nicht aufenthaltsberechtigte Familienangehörige vorsieht, für die ein entsprechendes Gleichstellungserfordernis schon nach alter Rechtslage unter Geltung von Art. 10 Abs. 2 der Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG nicht bestand. Schließlich verdeutlicht der 6. Erwägungsgrund der Unionsbürgerrichtlinie, daß ein Gleichstellungserfordernis nicht vorausgesetzt wird. Danach sind Einreise und Aufenthalt unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu erleichtern. Die Regelung des Art. 3 Abs. 2 soll damit über ein reines Diskriminierungsverbot hinausgehen. Dies zugrundegelegt ist richtigerweise davon auszugehen, daß die Mitgliedstaaten ver58

Art. 2 Nr. 2 lit. b des Kommissionsentwurfs, ABl. EG 2001, Nr. C 270 E, S. 152. Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, ABl. EU 2004, Nr. C 54 E, S. 12 (28): „Was die Partnerschaft – unabhängig davon, ob es sich um eingetragene oder ledige Partner handelt – anbelangt, so vertritt der Rat die Auffassung, daß die Anerkennung dieses Sachverhalts ausschließlich auf das Recht des Aufnahmemitgliedstaats gestützt sein muß. Die Anerkennung nicht verheirateter Paare gemäß den Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten könnte dem Aufnahmemitgliedstaat Schwierigkeiten bereiten, wenn diese Möglichkeit in seinem Familienrecht nicht eingeräumt wird. Wenn Paaren aus anderen Mitgliedstaaten Rechte eingeräumt würden, die den eigenen Staatsangehörigen nicht eingeräumt werden, könnte dies nämlich zu einer umgekehrten Diskriminierung führen, die vermieden werden muß.“ 60 Vgl. zur Begründung des Rates Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 6/2004, ABl. EU 2004, Nr. C 54 E, S. 12 (30). 59

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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pflichtet werden, ein Verfahren zur ordnungsgemäßen Bescheinigung einer dauerhaften nichtehelichen Lebensgemeinschaft vorzusehen.61 Der Gesetzgeber ist dem nun aus der Unionsbürgerrichtlinie folgenden Rechtssetzungsauftrag mit Blick auf die Einreise und den Aufenthalt von Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft bislang nicht nachgekommen. Anders als im Fall der eingetragenen Lebenspartner wird aber auch eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie nicht greifen können, da diese wegen der den Mitgliedstaaten zustehenden Gestaltungsspielräume hinsichtlich der erforderlichen Bescheinigung, vor allem aber hinsichtlich Art und Umfang der zu gewährenden Erleichterungen, nicht als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH bezeichnet werden kann, um im Einzelfall angewendet zu werden.62 Obwohl der Gesetzgeber das Freizügigkeitsgesetz / EU erst jüngst zur Anpassung an die Unionsbürgerrichtlinie reformiert hat, besteht somit weiterer Umsetzungsbedarf.

d) Die Bedeutung der Familienzusammenführungsrichtlinie Kein Aufenthaltsrecht und auch keine aufenthaltsrechtlichen Erleichterungen lassen sich für nichteheliche Lebenspartner aus der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG ableiten.63 Deren Art. 4 Abs. 1 benennt diejenigen Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen, denen die die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der weiteren Richtlinienbestimmungen ein Aufenthaltsrecht zum Familiennachzug zu gewähren haben. Dazu zählen zwar die Ehegatten, nicht aber die nichtehelichen Lebenspartner. Statt dessen überläßt es Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie den Mitgliedstaaten, ob sie auch dem nichtehelichen Lebenspartner eines Drittstaatsangehörigen, der nachweislich mit dem Zusammenführenden in einer auf Dauer angelegten Beziehung lebt oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft führt, den Aufenthalt gestatten wollen. Eine Unvereinbarkeit mit dem auch im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens kann in dieser Regelung nicht gesehen werden, da die Richtlinie insoweit lediglich Mindestvoraussetzungen für den Familiennachzug schafft, den Mitgliedstaaten also erlaubt, weitergehende Aufenthaltsrechte zu gewähren. Anderes läßt sich auch nicht aus dem Urteil des EuGH zur Familienzusammenführungsrichtlinie ableiten, in dem der Gerichtshof die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Einräumung von Gestaltungsspielräumen in Richtlinien präzisiert hat. Das Europäische Parlament hatte unter Verweis auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens einzelne Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie beanstandet, die es den Mitgliedstaaten erlauben, durch die Richtlinie gewährte Aufenthaltsrechte durch Einführung bzw. Beibehal61 62 63

So auch Hailbronner, ZAR 2004, 259 (263). Vgl. grundlegend EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 21 ff. – Becker. ABl. EU 2003, Nr. L 251, S. 12.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

tung von Integrationskriterien, Altersgrenzen und Ehebestandszeiten einzuschränken.64 Dem Einwand des Rates, eine Überprüfung dieser Vorschriften sei in einem gegen den Gemeinschaftsgesetzgeber gerichteten Verfahren unzulässig, weil sie letztlich auf eine Überprüfung der Umsetzungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten hinauslaufe, hielt der EuGH entgegen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber den Mitgliedstaaten schon durch Einräumung von Gestaltungsspielräumen weder ausdrücklich noch implizit gestatten dürfe, gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstoßende nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten.65 Allerdings ist schon zweifelhaft, ob sich dieser Grundsatz auch auf die Regelung des Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie übertragen läßt, da er den Mitgliedstaaten keinen mit den streitgegenständlichen Vorschriften vergleichbaren Gestaltungsspielraum einräumt, von einer durch die Richtlinie getroffenen Regelung abzuweichen. Art. 4 Abs. 3 bringt lediglich zum Ausdruck, daß ein Aufenthaltsrecht für nichteheliche Lebenspartner von vornherein nicht Regelungsgegenstand der Richtlinie ist.66 Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist aber nicht verpflichtet, bei Erlaß eines Rechtsakts alle denkbaren grundrechtlichen Vorgaben ausdrücklich zu regeln.67 Jedenfalls werden die Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 3 nicht im Sinne der EuGH-Rechtsprechung ermächtigt, gegen das Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu verstoßen. Art. 8 EMRK gewährt kein generelles Aufenthaltsrecht. Lediglich im Einzelfall kann die Verweigerung des Aufenthalts eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen.68 Macht ein Mitgliedstaat daher von der Möglichkeit, Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ein über Art. 8 EMRK hinausgehendes Aufenthaltsrecht im Sinne von Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie einzuräumen, keinen Gebrauch, verstößt dies nicht per se gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

64 Im Einzelnen richtete sich die Klage gegen Art. 4 Abs. 1 letzter Unterabsatz, Art. 4 Abs. 6 und Art. 8 der Richtlinie. Im Ergebnis sah der EuGH keine Verletzung des Gemeinschaftsgrundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, vgl. dazu aus dem Schrifttum etwa Beschorne / Petrowsky, ZAR 2007, 87 ff; Szczekalla, NVwZ 2006, 1019 ff.; Thym, NJW 2006, 3249 ff. 65 EuGH, Urt. vom 27.06.2006, Rs. C-540/03, Slg. 2006 I-5769 Rn. 23 – Familienzusammenführungsrichtlinie. 66 Daß die nichteheliche Lebensgemeinschaft im Richtlinientext überhaupt Erwähnung findet, ist vor dem Hintergrund der Gesetzgebungsgeschichte zu verstehen. Der ursprüngliche Entwurf der Europäischen Kommission sah auch für nichteheliche Lebenspartner u. a. Familienangehörige ein (begrenztes) Aufenthaltsrecht vor, vgl. ABl. EG 2000, Nr. C 116 E, S. 66. Da sich dieser Vorschlag als nicht mehrheitsfähig erwies, wurde das Aufenthaltsrecht nachträglich auf Ehegatten und Kinder beschränkt. Die Vorschriften über sonstige Familienangehörige wurden in (wegen Art. 3 Abs. 5 deklaratorische) Ermessensvorschriften umgewandelt, vgl. Weber / Walter, RdJB 2004, 108 (110 ff.). 67

Vgl. dazu ausführlich Epiney, ZAR 2007, 61 (63); Lindner, EuZW 2007, 71 (72). EuGH, Urt. vom 27.06.2006, Rs. C-540/03, Slg. 2006 I-5769 Rn. 53 ff. – Familienzusammenführungsrichtlinie. 68

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3. Familiennachzug im Fall der Mehrehe Ein weiteres – freilich auch auf der Grundlage der insoweit wenig aussagekräftigen Straßburger Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK – nicht leicht behandelbares Problem betrifft die aufenthaltsrechtlichen Restriktionen für den Familiennachzug im Fall einer Mehrehe. Da das deutsche Recht gemäß § 1306 BGB die Eheschließung mit einem Dritten verbietet und Verstöße durch § 172 StGB auch strafrechtlich sanktioniert, wird die Frage nach den aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen einer Mehrehe vor allem bei Eheschließungen nach ausländischem Recht relevant.69

a) Die Mehrehe im Lichte von Art. 8 EMRK Inwieweit Art. 8 EMRK familiäre Bindungen im Zusammenhang mit einer Mehrehe schützt, läßt sich nicht mit letzter Gewißheit sagen. Das liegt zum einen daran, daß die Straßburger Rechtsprechungsorgane bislang nicht ausdrücklich zu der Frage Stellung genommen haben, ob eine nach dem Recht des Herkunftsstaates rechtmäßig geschlossene Mehrehe überhaupt eine Familie im Sinne von Art. 8 EMRK darstellt. Zum anderen handelt es sich bei den wenigen einschlägigen Entscheidungen, die vor allem den Kinder- bzw. Elternnachzug bei polygamen Familienstrukturen betrafen, um Entscheidungen der Kommission, so daß abzuwarten bleibt, ob der Gerichtshof die insoweit begründete Rechtsprechungslinie fortsetzten wird.70 Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung läßt sich jedenfalls sagen, daß zumindest das Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern eine Familie im Sinne von Art. 8 EMRK darstellt, mithin auch ein schützenswertes Familienleben begründen kann. Daraus folgt, daß auch bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsrecht für die gemeinsamen Kinder des Zusammenführenden und eines zweiten Ehegatten das Recht auf Achtung des Familienlebens zu berücksichtigen ist. Gleiches gilt, wenn der zweite Ehegatte ein Aufenthaltsrecht begehrt und die Kinder dieses zweiten Ehegatten bereits in einem Konventionsstaat leben. Dies bedeutet freilich nicht, daß Art. 8 EMRK in jedem Fall die Gestattung des Aufenthalts gebietet. Eine Nachzugsbeschränkung kann vielmehr durch das in einem Konventionsstaat bestehende Verbot der Mehrehe gerechtfertigt sein. Die Kommission hat insoweit auf den Schutz der Moral und der Rechte und Freiheiten anderer verwiesen, die Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtfertigen bzw. auch im Rahmen der bei einer positiven Verpflichtung vorzunehmenden Gesamtabwägung berücksichtigt werden können. Soweit ersichtlich hat die Kommission bislang in allen auf Art. 8 EMRK gestützten Beschwerden eine der69 Auch eine nach deutschem Recht unter Verstoß gegen § 1306 BGB geschlossene Ehe ist grundsätzlich rechtswirksam. Allerdings kann die Ehe auf staatlichen Antrag hin gemäß §§ 1313, 1314, 1316 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufgehoben werden, so daß aufenthaltsrechtliche Konsequenzen in der Regel von vornherein vermieden werden können. 70 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter C. I. 1. c).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

artige Rechtfertigung von aufenthaltsbeschränkenden Regelungen angenommen. Daraus kann jedoch, soll der durch Art. 8 EMRK gewährte Achtungsanspruch nicht völlig leerlaufen, kein Automatismus abgeleitet werden. Das Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, so daß jedenfalls in Ausnahmefällen der Schutz der Moral und der Rechte und Freiheiten anderer hinter den Schutz des Familienlebens zurücktreten muß. Dies gilt namentlich dann, wenn die Interessen der Kinder, die keine Verantwortung für die polygame Lebensführung der Eltern trifft, die Herstellung oder Wahrung der Familieneinheit mit den jeweiligen (biologischen) Elternteilen gebieten.

b) Rechtslage nach dem Aufenthaltsgesetz Im Grundsatz gewähren § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 30 AufenthG dem Ehegatten eines Deutschen oder eines in der Bundesrepublik lebenden Ausländers einen Anspruch auf Aufenthalt zur Wahrung bzw. Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet. Dabei differenziert der Ehebegriff des Aufenthaltsgesetzes nicht zwischen nach deutschem Recht und nach ausländischem Recht geschlossenen Ehen. Entscheidend ist allein, daß die Ehe nach dem jeweils geltenden Ortsrecht rechtswirksam besteht.71 Wie schon hinsichtlich der nichtehelichen Lebensgemeinschaft entnimmt die vorherrschende Auffassung jedoch der auf Art. 6 GG verweisenden Zweckbestimmung des § 27 Abs. 1 AufenthG eine implizite Nachzugsbeschränkung. Da Art. 6 Abs. 1 GG von der aus einem Mann und einer Frau bestehenden Einehe ausgehe, stehe einem mit einem Deutschen oder einem Ausländer in einer Mehrehe verbundenen Ehegatten jedenfalls dann kein Nachzugsanspruch aus § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG bzw. § 30 AufenthG zu, wenn sich bereits ein weiterer Ehegatte bei dem Deutschen oder Ausländer im Bundesgebiet aufhalte.72 Diese Auffassung steht auch mit der Gesetzesbegründung zum gleichlautenden § 17 Abs. 1 AuslG 1990 in Einklang, die bezüglich der Mehrehe ausdrücklich von einer begrenzenden Funktion der an Art. 6 Abs. 1 GG anknüpfenden Zweckbindung der Aufenthaltserlaubnis ausgeht.73 Durch die Neu71 Nr. 28.1.2 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 5; Marx, in: GKAufenthG, § 28 AufenthG Rn. 50 f.; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 19 f. 72 Nr. 27.1.6 AH-BMI; OVG Lüneburg, Urt. vom 06.07.1992, Az. 7 L 3634/91, Juris (Leitsatz in InfAuslR 1992, 364 (364)); OVG Koblenz, InfAuslR 2004, 294 (295); VGH Mannheim, STAZ 2006, 298 (298 f.); Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 27 AufenthG Rn. 8; Hailbronner, Ausländerrecht, § 30 AufenthG Rn. 16; Marx, in: GK-AufenthG, § 27 AufenthG Rn. 24; Renner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 16; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 28 AufenthG Rn. 27. 73 BT-Drs. 11/6321 S. 60: „Der ausdrückliche Hinweis auf Art. 6 GG hat aber auch eine begrenzende Funktion. Familienangehörige aus einer Mehrehe von Deutschen oder Ausländern sollen nicht nachzugsberechtigt sein. […] Maßgebend ist die Institution von Ehe und Familie, wie sie sich im abendländischen Rechts- und Kulturkreis herausgebildet hat. Das Prinzip der Einehe gehört zu den grundlegenden kulturellen Wertvorstellungen in der Bundesrepublik und damit zu den der ausländergesetzlichen Regelung vorgegebenen Wertsetzungen.“

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regelung des § 30 Abs. 4 AufenthG, die der Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG geschuldet ist, hat der Gesetzgeber diese bislang schon vorherrschende Auffassung nun ausdrücklich übernommen. Die Vorschrift stellt klar, daß dem Ehegatten eines Ausländers keine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG erteilt werden darf, wenn der Ausländer mit mehreren Ehegatten verheiratet ist und bereits mit einem seiner Ehegatten gemeinsam im Bundesgebiet lebt. Daß eine entsprechende Klarstellung für den Ehegattennachzug zu Deutschen unterblieben ist, wird allein darauf zurückzuführen sein, daß die Familienzusammenführungsrichtlinie den Nachzug ausländischer Familienangehöriger zu Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates von vornherein nicht erfaßt und sich der Gesetzgeber daher auch nicht zu einer ausdrücklichen Klarstellung entsprechend § 30 Abs. 4 AufenthG veranlaßt sah. Insoweit wird aber von der Fortgeltung der aus Art. 6 GG abgeleiteten Nachzugsbeschränkungen auszugehen sein. Unabhängig vom Schutz der ehelichen Beziehung als solcher und insoweit abweichend von der sehr pauschalen Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 1 AuslG 1990 soll jedoch zumindest das Verhältnis zwischen Kindern und in ihren in Mehrehe verbundenen Eltern unter dem Gesichtspunkt der Familie in den Schutzbereich von Art. 6 GG fallen.74 Davon ausgehend ergibt sich für einen zweiten Ehegatten zwar kein Anspruch auf Ehegattennachzug, wohl aber kann es zum Schutz der Eltern-Kind-Beziehung geboten sein, ein Aufenthaltsrecht im Wege des Elternnachzugs zu gewähren. In Betracht kommen hier § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, S. 4 AufenthG bzw. bei einem Nachzug zu einem ausländischen Kind § 36 Abs. 2 AufenthG. Weder die begrenzende Funktion von Art. 6 GG noch die Regelung des § 30 Abs. 4 AufenthG stehen dem entgegen. Jedenfalls auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 8 EMRK, nach der eine Mehrehe als solche noch nicht als Familie anerkannt ist, scheint das Aufenthaltsgesetz somit den konventionsrechtlichen Anforderungen zu genügen.

c) Einschränkende Auslegung kraft Gemeinschaftsrechts? Fraglich ist allerdings, ob die Regelungen über den Familiennachzug kraft Gemeinschaftsrechts für den Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen einer einschränkenden Auslegung bedürfen. Anlaß dieser Überlegung ist die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG. Diese gewährt einerseits dem Ehegatten eines in einem Mitgliedstaat lebenden Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht, schließt aber andererseits hinsichtlich der Mehrehe ein Aufenthaltsrecht für einen zweiten Ehegatten aus. Gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie gestattet ein Mitgliedstaat die Familienzusammenführung eines weiteren Ehegatten nicht, wenn im Fall einer Mehrehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates lebt. Ausweislich des 11. Erwägungsgrundes dient diese Einschränkung der Achtung der von den Mitgliedstaa74

BVerwGE 71, 228 (231 f.).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ten anerkannten Werte und Grundsätze und dem Schutz der Rechte von Frauen und Kindern. Da Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie anders als deren sonstige Vorschriften nicht Mindestvoraussetzungen für den Familiennachzug schafft, die den Mitgliedstaaten günstigere nationale Regelungen erlauben, sondern ein verbindliches Nachzugsverbot ausspricht, ist die Frage aufgeworfen, ob der deutsche Gesetzgeber die daraus folgenden Konsequenzen mit der Neuregelung des § 30 Abs. 4 AufenthG hinreichend umgesetzt hat. Ein potentieller Konflikt könnte darin liegen, daß hier dem zweiten Ehegatten zwar nicht im Wege des Ehegattennachzugs, wohl aber im Wege des Elternachzugs ein Aufenthaltsrecht gewährt werden kann, wenn seine Kinder in der Bundesrepublik leben. Entscheidend kommt es auf die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie an. Das Nachzugsverbot ließe sich einerseits eng (im Sinne des deutschen Aufenthaltsrechts) verstehen, so daß lediglich ein auf der Ehe als solcher beruhender Nachzuganspruch ausgeschlossen sein soll. Andererseits könnte das Nachzugsverbot dem weiteren Ehegatten als Person gelten, unabhängig davon, ob weitere Familienangehörige, insbesondere seine leiblichen Kinder, im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats leben. Zwingend ist der Richtlinientext weder in dem einen, noch in dem anderen Sinne zu verstehen. Allerdings legt der zweite Unterabsatz von Art. 4 Abs. 4 die letztere, weite Auslegungsalternative nahe. Danach werden die Mitgliedstaaten im Fall einer Mehrehe ermächtigt, ergänzend zum Nachzugsverbot für einen zweiten Ehegatten auch den Nachzug der minderjährigen Kinder eines zweiten Ehegatten einzuschränken. Da eine entsprechende Ermächtigung für die umgekehrte Situation, nämlich den Elternnachzug fehlt, spricht vieles dafür, daß dieser bereits durch die obligatorische Beschränkung des ersten Unterabsatzes miterfaßt wird. Wenn schon Beschränkungen des Kindernachzugs ermöglicht werden, müßte dies erst recht für den Elternnachzug gelten. Schließlich würde in diesem Fall sogar (mittelbar) die Führung einer Mehrehe im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zugelassen. Dem kann – zumindest entstehungsgeschichtlich – auch nicht entgegengehalten werden, daß es für Beschränkungen des Elternnachzugs gar keiner Ermächtigung der Mitgliedstaaten bedarf, weil die Richtlinie den Eltern im Hoheitsgebiet lebender minderjähriger Kinder ohnehin kein Aufenthaltsrecht gewährt. Dies ist nach Art. 4 Abs. 2 lit. a vielmehr in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Der ursprüngliche Richtlinienentwurf der Kommission, der für die Mehrehe gleichermaßen ein Nachzugsverbot für einen zweiten Ehegatten vorsah und den Nachzug der Kinder eines zweiten Ehegatten nur unter engen Voraussetzungen erlaubte, beinhaltete aber in Art. 5 Abs. 1 lit. d auch einen Nachzugsanspruch der Eltern.75 Daß dieser sich zu einer Ermessensvorschrift wandelte, ist allein darauf zurückzuführen, daß sich der weite Kreis der Anspruchsberechtigten nicht als mehrheitsfähig erwies. Ein dem zweiten Ehegatten als Person geltendes Nachzugsverbot unterstellt, bedarf das Aufenthaltsgesetz für den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie, das heißt hinsichtlich des Nach75 Vgl. zum Text des Entwurfs ABl. EG 2000, Nr. C 116 E, S. 66; zur Begründung der Kommission vgl. KOM 1999/638 endg.

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zugs zu einem Drittstaatsangehörigen, einer Korrektur. So wird Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie kraft unmittelbarer und vorrangiger Anwendung die einschlägigen Vorschriften über den Elternnachzug, also hier § 36 Abs. 2 AufenthG, verdrängen. In der Konsequenz bedeutet dies freilich, daß eine Kollision mit Art. 8 EMRK im Einzelfall nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

4. Familiennachzug zu Flüchtlingen Gänzlich oder zumindest weitgehend vom Familiennachzug ausgeschlossen sind Angehörige von in der Bundesrepublik lebenden Ausländern, deren Aufenthalt lediglich aus humanitären Gründen nach den §§ 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 3 bis 5, 104a Abs. 1 S. 1 und 104b AufenthG gestattet worden ist. Dies ergibt sich aus der Regelung des § 29 Abs. 3 AufenthG.

a) Bedeutung von § 29 Abs. 3 AufenthG Im einzelnen ist im Rahmen von § 29 Abs. 3 AufenthG zwischen der Regelung des S. 1 und des S. 3 zu unterscheiden. § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG erschwert den Familiennachzug zu Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß §§ 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 3 AufenthG besitzen. Betroffen sind Ausländer, die aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen aus dem Ausland aufgenommen worden sind, deren Aufenthaltserlaubnis auf einer Anordnung der obersten Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik beruht oder deren Abschiebung wegen eines Abschiebungsverbots ausgesetzt wurde. Eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach den §§ 27 ff. AufenthG darf hier nur dann erteilt werden, wenn die Gestattung des Aufenthalts für den nachzugbegehrenden Angehörigen selbst aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erforderlich ist. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis liegt im Ermessen der Ausländerbehörden.76 Hinter dieser Regelung steht die gesetzgeberische Überlegung, daß ein genereller Anspruch auf Familiennachzug zu Flüchtlingen die Möglichkeiten der Bundesrepublik zur Aufnahme von Ausländern aus humanitären oder ähnlichen Gründen unvertretbar festlegen und einschränken würde. Nicht die familiäre Bindung allein, sondern alle Umstände, die eine humanitäre Dringlichkeit begründen, sollen für die Aufnahmeentscheidung maßgeblich sein.77 Völlig ausgeschlossen ist gemäß § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG ein Familiennachzug zu Ausländern, die sich mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG in der Bundesrepu76 Zu den Einzelheiten vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 14 ff.; Marx, in: GK-AufenthG, § 29 AufenthG Rn. 146 ff.; Renner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 10 ff.; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 33 ff. 77 Vgl. Einzelbegründung zu § 29 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 81.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

blik aufhalten bzw. die unter die Altfallregelungen der §§ 104a Abs. 1 S. 1, 104b AufenthG fallen. § 25 Abs. 4 AufenthG regelt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum vorrübergehenden Aufenthalt, solange dieser aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder aufgrund erheblicher öffentlicher Interessen erforderlich ist. § 25 Abs. 5 AufenthG betrifft die Fälle, in denen die Ausreise eines Ausländers aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auf nicht absehbare Zeit unmöglich ist, die Erteilung eines sonstigen Aufenthaltstitels jedoch an der vollziehbaren Ausreisepflicht gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG scheitert. Ausweislich der Begründung des Gesetzgebers ist der Ausschluß des Familiennachzugs hier im Hinblick auf den nur vorrübergehenden Aufenthalt bzw. die bestehende Ausreisepflicht gerechtfertigt.78 Die mit Wirkung zum 19. August 2007 neu eingefügten §§ 104a und 104b AufenthG gestatten im Wege einer einmaligen Stichtagsregelung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen für Ausländer, die sich bereits seit langer Zeit illegal, aber geduldet in der Bundesrepublik aufhalten.79 Aus Gemeinschaftsrecht läßt sich für den Anwendungsbereich des § 29 Abs. 3 AufenthG keine günstigere Rechtsposition der vom Familiennachzug ausgeschlossenen Ausländer ableiten. Die Familienzusammenführungsrichtlinie gilt gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. c nicht für den Nachzug zu Ausländern, deren Aufenthalt in einem Mitgliedstaat allein aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde.

b) Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK Aus der Perspektive von Art. 8 EMRK erweisen sich die aufenthaltsrechtlichen Restriktionen des § 29 Abs. 3 AufenthG allerdings als nicht unproblematisch. Die hier vorgenommene Untersuchung zur aufenthaltsschützenden Wirkung von Art. 8 EMRK hat für die Fälle des Familiennachzugs ergeben, daß die Ableitung eines Nachzugsrechts maßgeblich von der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Familienzusammenführung im Herkunftsland oder – was in den meisten Fällen freilich nicht in Betracht kommt – in einem Drittstaat abhängt.80 Dies ist vor dem Hintergrund verständlich, daß die Führung eines durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens, kann dieses nur im Aufenthaltsstaat der Bezugsperson verwirklicht werden, mit der Entscheidung über den Familiennachzug steht oder fällt. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit eines Familienlebens im Ausland läßt sich der Gerichtshof von mehreren Faktoren leiten. Relevant sind sowohl das Ausmaß der Integration der Bezugsperson im Konventionsstaat, insbesondere die Dauer sei78

Vgl. Einzelbegründung zu § 29 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 81. Vgl. zu den Einzelheiten der Problematik unten unter D. 80 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96 (Ziff. 40); Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 47); Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 41); vgl. ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter D. III. 3. b) cc). 79

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nes Aufenthalts und die Etablierung eines auf Dauer angelegten Familienlebens in dessen Hoheitsgebiet, als auch der Aufenthaltsstatus, den die Bezugsperson im Konventionsstaat erlangt hat. Gerade der letztere Aspekt bietet zunächst einen grundsätzlich tauglichen Anknüpfungspunkt, um die Nachzugsbeschränkungen des § 29 Abs. 3 AufenthG zu rechtfertigen. Der gesetzgeberischen Intention nach dienen die Vorschriften der §§ 22 ff. AufenthG primär humanitären Zwecken. Sie sollen einen dem Prinzip nach nur vorrübergehenden Aufenthalt ermöglichen, nicht jedoch den dauerhaften Verbleib in der Bundesrepublik gestatten. Dies gilt für §§ 22, 23 Abs. 1 AufenthG, die insbesondere die Aufnahme von Ausländern aus Bürgerkriegsregionen ermöglichen, ebenso aber auch für § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG, der den Aufenthalt eines Ausländern solange erlaubt, wie Abschiebungshindernisse oder andere einer Ausreise entgegenstehende Gründe vorliegen. Eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 104a, 104b AufenthG wird gesetzessystematisch den §§ 22 ff. AufenthG zugeordnet. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist anerkannt, daß ein solcher aufenthaltsrechtlicher Status nicht mit der regulären Gestattung eines dauerhaften Aufenthalts vergleichbar ist und im Ergebnis trotz einer mitunter schon langen Aufenthaltsdauer gegen eine Familienzusammenführung im Aufenthaltsstaat spricht. Exemplarisch sei auf die Entscheidung in der Sache Useinov verwiesen, in der der Gerichtshof ein Nachzugsrecht ablehnte, obwohl sich der Beschwerdeführer bereits seit mehr als fünf Jahren in den Niederlanden aufhielt. Der Aufenthalt war ihm jedoch nur für die Dauer des Asylverfahrens bzw. des Verfahrens zur Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis erlaubt.81 Auch in der Sache Gül lehnte der Gerichtshof ein Nachzugsrecht ab, obwohl der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau bereits seit mehreren Jahren in der Schweiz lebte, dies allerdings nur auf der Grundlage einer humanitären Aufenthaltserlaubnis, die ihm im Anschluß an sein erfolgloses Asylverfahren mit Rücksicht auf seine lange Aufenthaltsdauer erteilt worden war.82 Allerdings handelt es sich bei dem Aufenthaltstatus der Bezugsperson nur um einen Faktor unter mehreren, die zur Bestimmung der Zumutbarkeit heranzuziehen sind. Bezeichnend ist insoweit, daß sich der Gerichtshof bei der Ablehnung eines Nachzugsrechts im Fall Gül entscheidend davon leiten ließ, daß eine Rück81 EGMR, Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00: „Turning to the circumstances of the present case, the Court notes that it is the applicant’s submission that he was allowed to live in the Netherlands pending the proceedings on his asylum application and his subsequent application for a residence permit for compelling reasons of a humanitarian nature, i.e. a total period of just over five years. However, the Court is of the view that this cannot be equated with lawful stay where the authorities explicitly grant an alien permission to settle in their country.“ 82 EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 41): „Furthermore, although Mr and Mrs Gül are lawfully resident in Switzerland, they do not have a permanent right of abode, as they do not have a settlement permit but merely a residence permit on humanitarian grounds, which could be withdrawn, and which under Swiss law does not give them a right to family reunion.“

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

kehrmöglichkeit in die Türkei, das Herkunftsland der Beschwerdeführer, nicht ausgeschlossen war.83 Gerade im Anwendungsbereich von § 29 Abs. 3 AufenthG wird nun aber typischerweise von der Unmöglichkeit, zumindest aber von der Unzumutbarkeit einer Rückkehr auszugehen sein. Dies gilt zunächst für die Aufnahme von Ausländern aus Krisenregionen gemäß §§ 22, 23 Abs. 1 AufenthG. Hier machen humanitäre Erwägungen gerade die Aufnahme aus dem Ausland erforderlich. Sinngemäß gilt dies auch in den Fällen einer gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis. Deren Erteilung setzt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 AufenthG, etwa eine Verfolgung im Herkunftsland, voraus, sowie die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit einer freiwilligen Ausreise in einen Drittstaat. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG verlangt schließlich, daß die Ausreise des Betroffenen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist, wobei sich die Unmöglichkeit nicht allein auf die Abschiebung des Ausländers, sondern auch auf dessen freiwillige Ausreise bezieht.84 Lediglich in den Fällen der §§ 104a, 104b AufenthG wird stärker zu differenzieren sein, da die Gründe für eine langjährige Duldung je nach Einzelfall variieren können. Hinzu kommt, daß die Vorschriften der §§ 22 ff. AufenthG zwar nur zur vorübergehenden Gestattung des Aufenthalts konzipiert sind, dies jedoch nicht ausschließt, daß sich ein Ausländer tatsächlich dauerhaft in der Bundesrepublik aufhält, weil die einer Rückkehr entgegenstehen Umstände auf absehbare Zeit nicht entfallen. Unter diesen Umständen bewirkt § 29 Abs. 3 AufenthG eine letztlich auf nicht absehbare Zeit bestehende Trennung der Familienangehörigen. Berücksichtigt man ergänzend, daß diese Trennung im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs vielfach nicht in die Verantwortlichkeitssphäre der Betroffenen fällt, weil diese ihr Herkunftsland und ihre Familienangehörigen aus Not verlassen haben,85 so spricht vieles dafür, daß sich die aus Art. 8 EMRK folgende Verpflichtung zum Schutz des Familienlebens unter Berücksichtigung der konkreten Umstände jedes Einzelfalls zu einem Nachzugsrecht verdichtet. Was folgt daraus nun für § 29 Abs. 3 AufenthG? Da § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG einen Familiennachzug nicht schlechthin untersagt, bietet es sich an, ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht über die von § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG verlangten völkerrechtlichen oder humanitären Gründe zu berücksichtigen. Schon der Gesetzgeber ist ausweislich der Gesetzesbegründung davon ausgegangen, daß ein humanitärer Grund, der die Gestattung des Nachzugs auch für die Familienangehörigen eines mit einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 3 AufenthG in der Bundesrepublik lebenden Ausländers ermöglicht, insbesondere 83 EGMR, Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 42): „In view of the length of time Mr and Mrs Gül have lived in Switzerland, it would admittedly not be easy for them to return to Turkey, but there are, strictly speaking, no obstacles preventing them from developing family life in Turkey. 84 BVerwG, DVBl. 2006, 1509 (1510). 85 Vgl. dazu insbesondere EGMR, Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle u. a. ./. Niederlande, Nr. 60665/00 (Ziff. 47); im übrigen Teil 1 unter D. III. 3. b) dd).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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dann vorliegt, wenn die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet hergestellt werden kann.86 Allenfalls dann, wenn die Herstellung der Familieneinheit in einem Drittstaat möglich ist, wobei auch zu prüfen ist, ob die Betroffenen dort eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, kann das Vorliegen humanitärer Gründe verneint werden.87 Außerdem hat der Gesetzgeber durch die Herabstufung der „dringenden humanitären“ Gründe, die noch durch die alte Regelung des § 30 Abs. 1 AuslG 1990 verlangt wurden, zu bloß „humanitären“ Gründen deutlicht gemacht, daß nicht erst Ausnahmesituationen den Familiennachzug gestatten sollen.88 Soweit Art. 8 EMRK im Einzelfall weitergehende Nachzugsrechte fordert, bietet sich im übrigen ein Rückgriff auf die völkerrechtlichen Gründe an, die alternativ zu den humanitären Gründen zur Gestattung des Familiennachzugs führen können.89 Soweit § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG den Familiennachzug gänzlich ausschließt, ist wiederum zu unterscheiden. Der Ausschluß des Familiennachzugs in den Fällen, in denen der Zusammenführende lediglich eine Aufenthaltserlaubnis zum vorrübergehenden Aufenthalt gemäß § 25 Abs. 4 AufenthG besitzt, stößt nicht auf Bedenken. Da hier auch für den Zusammenführenden kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besteht, bedeutet der Ausschluß des Familiennachzugs hier keine dauerhafte Trennung der Familienangehörigen. Anders verhält es sich jedoch mit dem Ausschluß des Familiennachzugs, wenn der Zusammenführende eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG besitzt, da hier einerseits eine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, eine Familienzusammenführung also nur in der Bundesrepublik erfolgen kann, und andererseits mit einem Wegfall der Ausreisehindernisse den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechend auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist. Zwar ermöglicht § 26 Abs. 4 AufenthG nach frühestens sieben Jahren die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, die dann auch einen Familiennachzug zuläßt. Gemessen an Art. 8 EMRK wird diese Wartezeit jedoch im Einzelfall eine nicht zumutbare Beeinträchtigung bedeuten.90 Entsprechendes gilt für die Fälle einer Aufenthaltsgestattung nach §§ 104a, 104b AufenthG, soweit von einer Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rückkehr auszugehen ist.

5. Elternnachzug gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG Im Grundsatz ermöglicht das Aufenthaltsgesetz auch den Nachzug der Eltern eines in der Bundesrepublik lebenden Kindes. Für den Familiennachzug zu einem deutschen Kind gewährt § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 dem ausländischen Elternteil einen 86

Einzelbegründung zu § 29 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 81. Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 17; Marx, in: GK-AufenthG, § 29 AufenthG Rn. 166; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 35. 88 Marx, in: GK-AufenthG, § 29 AufenthG Rn. 164 f. 89 Marx, in: GK-AufenthG, § 29 AufenthG Rn. 162. 90 Kritisch auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 22; Marx, in: GK-AufenthG, § 29 AufenthG Rn. 182 ff. 87

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge. Steht einem Elternteil nicht das Personensorgerecht zu, kann eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 S. 4 AufenthG nach Ermessen erteilt werden, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits im Bundesgebiet besteht. In den übrigen Fällen richtet sich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Elternnachzugs – sollten nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG vorliegen – nach § 36 Abs. 2 AufenthG, der die Erteilung an das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte knüpft.

a) Konkretisierung des Anwendungsbereichs Der Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 AufenthG bedarf zunächst der weiteren Konkretisierung. Vielfach wird ein Elternteil schon deshalb nicht auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 36 AufenthG angewiesen sein, weil ihm bereits als Ehegatte ein Aufenthaltsrecht zusteht. Auch wenn die Ehe inzwischen geschieden ist, gilt es vorrangig zu prüfen, ob der Ehegatte die Voraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 31 AufenthG bzw. §§ 28 Abs. 3, 31 AufenthG erfüllt. Das ist grundsätzlich dann der Fall, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat, wobei von dieser Voraussetzung abzusehen ist, soweit es unter den Bedingungen des § 31 Abs. 2 AufenthG zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Dabei ist nach § 31 Abs. 2 S. 2 AufenthG auch das Wohl eines mit dem Ehegatten in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Kindes zu berücksichtigen. Ein Rückgriff auf § 36 Abs. 2 AufenthG ist hier nur insoweit notwendig, wie der geschiedene Ehegatte nicht die Voraussetzungen des § 31 AufenthG erfüllt. Denkbar sind hier insbesondere Konstellationen, in denen der Ehegatte vor der Ehescheidung keine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Ehegattennachzugs besessen hat, die gemäß § 31 AufenthG als eigenständige Aufenthaltserlaubnis verlängert werden könnte. Dies ist etwa dann der Fall, wenn er sich auf der Grundlage eines anderen, inzwischen ebenfalls entfallenen Aufenthaltsgrundes oder unrechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten hat. Entsprechendes gilt, wenn er erst aufgrund der Geburt des Kindes Einreise und Aufenthalt in die Bundesrepublik begehrt. Im übrigen greift § 36 Abs. 2 AufenthG in den Fällen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, da die Vorschriften der §§ 27 ff. AufenthG insoweit kein eigenständiges, allein auf der nichtehelichen Lebensgemeinschaft beruhendes Aufenthaltsrecht vorsehen. Ein gemeinschaftsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht, das einer Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG vorginge, besteht grundsätzlich nicht. Zwar berechtigt § 3 Abs. 2 FreizügG / EU bzw. die Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/ EG auch Verwandte in aufsteigender Linie, sofern Unterhalt gewährt wird; minderjährige Kinder werden aber regelmäßig nicht selbst freizügigkeitsberechtigt sein. Die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG stellt die Gewährung eines Nachzugsrechts für Eltern in das Ermessen der Mitgliedstaaten. Eine Aus-

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nahme gilt gemäß Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie lediglich für die Eltern unbegleiteter minderjähriger Konventionsflüchtlinge. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie insoweit durch § 36 Abs. 1 AufenthG umgesetzt. Fraglich ist mithin, ob § 36 Abs. 2 AufenthG mit seinen engen tatbestandlichen Voraussetzungen eine hinreichende Berücksichtung der durch Art. 8 EMRK geschützten Eltern-Kind-Beziehung ermöglicht.

b) Das Erfordernis einer außergewöhnlichen Härte Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG kommt nur in Betracht, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Der Begriff der außergewöhnlichen Härte wird durch das Gesetz nicht näher konkretisiert. Gewisse Anhaltspunkte für eine Auslegung lassen sich gleichwohl dem Gesetz entnehmen. So spricht § 36 Abs. 2 AufenthG, anders als etwa die §§ 31 Abs. 2 S. 1, 37 Abs. 2 S. 1 AufenthG, nicht von einer „besonderen“, sondern einer „außergewöhnlichen“ Härte. Auch wenn hier eine klare Zuordnung des jeweiligen Einzelfalls in der Praxis sicher schwer fallen wird, läßt sich zumindest eine Tendenz dergestalt feststellen, daß die Anforderungen des § 36 Abs. 2 AufenthG gegenüber einer lediglich besonderen Härte verschärft sind.91 Weiterhin dient auch die Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft. Eine außergewöhnliche Härte muß sich also gerade im Hinblick auf die familiäre Lebensgemeinschaft ergeben, während außerhalb des Schutzzwecks liegende Umstände, etwa die allgemeinen politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland, unberücksichtigt bleiben.92 Die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums gehen davon aus, daß die Schwierigkeiten, die für den Erhalt der familiären Lebensgemeinschaft drohen, nach Art und Schwere so erheblich sein müssen, daß die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis ausnahmsweise als unvertretbar anzusehen sind.93 Härtefallbegründet sollen danach solche Umstände sein, aus denen sich ergibt, daß entweder der im Bundesgebiet lebende oder der nachzugswillige Familienangehörige auf eine familiäre Lebenshilfe angewiesen ist, die sich nur im Bundesgebiet erbringen läßt.94 Umstände, die ein familiäres Angewiesensein begründen, sollen sich nur aus individuellen Besonderheiten des Einzelfalls ergeben können, wie Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit oder physische Not.95 91 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 6; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 12; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 20. 92 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 36 AufenthG Rn. 7; Renner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 7; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 43. 93 Nr. 36.1.2.1 AH-BMI; vgl. in diesem Sinne zu § 22 AuslG 1990 BVerwG, Buchholz 402.240 Nr. 4 S. 3; Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 12. 94 Nr. 36.1.2.2 AH-BMI. 95 Nr. 36.1.2.3 AH-BMI.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Für den Elternnachzug führen die Anwendungshinweise ergänzend aus, daß eine Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG regelmäßig ausscheiden soll, wenn die Eltern eines im Bundesgebiet lebenden Kindes geschieden sind und dem nachzugswilligen Elternteil kein Personensorgerecht zusteht. Zwar bestehe auch in diesen Fällen eine nach Art. 6 GG schutzwürdige familiäre Beziehung. Dem Umgangsrecht könne jedoch grundsätzlich durch Besuchsaufenthalte und Telefonate ausreichend Rechnung getragen werden. Eine andere Beurteilung könne im Einzelfall nur dann gerechtfertigt sein, wenn auch ohne häusliche Gemeinschaft eine familiäre Beistands- und Betreuungsgemeinschaft dergestalt vorliege, daß der nur umgangsberechtigte Elternteil in erheblichem Maße Verantwortung für die Betreuung und Erziehung des Kindes tatsächlich übernehme und seinen Unterhaltsverpflichtungen regelmäßig nachkomme.96 Im Kern folgen die Anwendungshinweise damit der Rechtsprechung zu § 22 AuslG 1990.97

c) Konventionsrechtliche Anforderungen In der Rechtsprechung des Gerichtshofs genießt die Eltern-Kind-Beziehung einen hohen Stellenwert. Nahezu habituell betont der Gerichtshof, daß die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern einen fundamentalen Bestandteil des durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens darstellt.98 Wohl nicht von ungefähr betrafen dann auch die Fälle, in denen der Gerichtshof in der Verweigerung des Familiennachzugs eine Verletzung von Art. 8 EMRK erblickte, jedenfalls im Kern die Familienzusammenführung zwischen Eltern und Kindern. Namentlich sind hier die Rechtssachen Sen, Tuquabo-Tekle sowie Rodrigues da Silva und Hoogkamer angesprochen.99 Insbesondere letztere bietet sich in diesem Zusammenhang als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines konventionsrechtlichen Maßstabs an, da hier das Aufenthaltsrecht eines Elternteils selbst in Frage stand, während die anderen Fälle den Nachzug der Kinder betrafen. Bei der Beschwerdeführerin handelte es sich um eine unrechtmäßig in den Niederlanden lebende Brasilianerin. Nach der Scheidung ihrer Ehe mit einem Niederländer und einem sich anschließenden Sorgerechtsstreit hinsichtlich der gemeinsamen Tochter wurde das alleinige Sorgerecht dem Vater übertragen. Die Ausländerbehörden verweigerten ihr daraufhin eine Aufenthaltserlaubnis. Der ge96

Nr. 36.1.2.6 AH-BMI. Vgl. BVerwG, InfAuslR 1990, 56 (56 f.); Hailbronner, Ausländerrecht, § 36 AufenthG Rn. 13 ff. 98 Vgl. etwa EGMR, Urt. vom 24.02.1995, McMichael ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 307-B (Ziff. 86); Urt. vom 20.12.2001, Buchberger ./. Österreich, Nr. 32899/96 (Ziff. 35); Urt. vom 05.12.2002, Hoppe ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 28422/95 (Ziff. 44); Urt. vom 27.07.2006, Iosub Caras ./. Rumänien, Nr. 7198/04 (Ziff. 29). 99 Vgl. EGMR, Urt. vom 21.12.2001, Sen ./. Niederlande, Nr. 31465/96; Urt. vom 01.12.2005, Tuquabo-Tekle ./. Niederlande, Nr. 60665/00; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99. 97

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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gen diese Entscheidung angerufene Gerichtshof ließ sich maßgebend von den folgenden Gesichtspunkten leiten. Auch wenn das alleinige Sorgerecht dem Vater zustehe, lägen Betreuung und Erziehung der gemeinsamen Tochter nach den Feststellungen des Gerichtshofs im wesentlichen in den Händen der Beschwerdeführerin und der Großeltern. So habe die Beschwerdeführerin regelmäßigen Umgang mit ihrer Tochter und verbringe mit ihr drei bis vier Tage pro Woche. Angesichts des Alters der erst dreijährigen Tochter sei ein weiterer regelmäßiger Kontakt zur Mutter im Interesse des Kindeswohls im besonderen Maße geboten.100 Ein gemeinsames Familienleben in der brasilianischen Heimat war nach Auffassung des Gerichtshofs unmöglich, da das alleinige Sorgerecht beim Vater liege, die Beschwerdeführerin also nicht ohne dessen Zustimmung mit ihrer Tochter nach Brasilien zurückkehren könne. Den Einwand der niederländischen Regierung, der Vater hätte seine Zustimmung unter Umständen erteilt, ließ der Gerichtshof mit Blick auf die Sorgerechtsentscheidungen der niederländischen Behörden und Gerichte nicht gelten, nach denen ein Verbleib in den Niederlanden im Interesse des Kindeswohls liege.101 Daß die Beschwerdeführerin bislang nicht rechtmäßig in den Niederlanden lebte, stand einer Verletzung von Art. 8 EMRK ebenfalls nicht entgegen. Zwar könnten Ausländer, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates aufhielten, in der Regel nicht die Gestattung des Aufenthalts erwarten. Der vorliegende Fall liege jedoch anders, da nach dem Vortrag der niederländischen Regierung zumindest zwischenzeitlich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ehegattennachzugs möglich gewesen wäre.102 Aus der Urteilsbegründung lassen sich folgende verallgemeinerungsfähige Aussagen extrahieren. Zunächst kommt es für die Annahme eines im Sinne von Art. 8 EMRK schutzwürdigen Familienlebens zwischen Eltern und Kindern allein auf die tatsächlich gelebte Beziehung an. Nicht entscheidend ist, ob dem Elternteil ein förmliches Sorgerecht zusteht.103 Auch scheint es unerheblich zu sein, ob die Anwesenheit des nichtsorgeberechtigten Elternteils wegen einer über das normale familiäre Maß hinausgehenden Hilfsbedürftigkeit des Kindes erforderlich ist. So war im vorliegenden Fall nichts dafür ersichtlich, daß der Vater bzw. die Großeltern nicht auch ohne Hilfe der Mutter für die Sorge um das Kind hätten aufkommen können. Die Angewiesenheit auf den Umgang mit der Mutter folgt schlicht aus dem natürlichen Bedürfnis eines minderjährigen Kindes bei seinen Eltern aufzuwachsen, auch wenn deren Ehe inzwischen geschieden ist. Weiterhin zeigt der Fall, daß gerade dann, wenn dem nachzugbegehrenden Elternteil kein Sorgerecht zusteht, eine familiäre Lebensgemeinschaft regelmäßig nur im Aufenthaltsland 100 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50453/99 (Ziff. 42). 101 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50453/99 (Ziff. 41). 102 EGMR, Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50453/99 (Ziff. 43). 103 Vgl. dazu bereits die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter C. I. 2. a).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

des Kindes verwirklicht werden kann. Die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts stellt mithin einen schweren Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens dar, der durch einwanderungspolitische oder wirtschaftliche Gründe regelmäßig nicht gerechtfertigt werden kann. Dieses Bild läßt sich durch weitere Rechtsprechungsgrundsätze vervollständigen. So ist anerkannt, daß nicht allein ein bestehendes Familienleben unter den Schutz des Art. 8 EMRK fällt. Auch die Absicht, ein Familienleben begründen zu wollen, kann genügen. Ursprünglich hatte der Gerichtshof diesen Grundsatz in Fallkonstellationen entwickelt, in denen sich der ausländische Ehegatte nach der Eheschließung um ein Aufenthaltsrecht für das Herkunftsland seines Partners bemühte, wegen der bislang verweigerten Einreise aber noch kein gemeinsames Familienleben herstellen konnte. Sinngemäß gilt dieser Grundsatz jedoch auch in anderen Personenkonstellationen.104 Davon ausgehend wird man auch dann einen Aufenthaltsanspruch aus Art. 8 EMRK ableiten können, wenn sich ein Elternteil noch im Ausland befindet und erst die Ausübung seines Umgangsrechts beabsichtigt. Allerdings wird es hier nur ein schmales Zeitfenster für einen Aufenthaltsanspruch geben. Lebt der betroffene Elternteil während der ersten Lebensjahre getrennt von seinem Kind und beschränkt sich sein Umgang auf gelegentliche Kontakte, etwa während der Ferien, brieflich oder telefonisch, ist die Gestattung des Aufenthalts regelmäßig nicht geboten, weil sie über das hinausgehen würde, was zur Aufrechterhaltung des bisherigen Maßes an Familienleben erforderlich ist.105 Schließlich ergibt sich aus den aus Art. 8 EMRK folgenden komplementären Verpflichtungen der Grundsatz, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nicht die aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens folgende positive Pflicht zur Gewährung eines Umgangsrechts nach der Ehescheidung vereiteln dürfen. Der Umfang des Umgangs hat sich allein am Kindeswohl zu orientieren. Dem folgt der Umfang des Aufenthaltsrechts nach. Dies ergibt sich als Kernaussage aus dem bereits an anderer Stelle besprochenen Urteil in der Sache Ciliz.106 Konkret bedeutet dies, daß der Umgang des nichtsorgeberechtigten Elternteils mit seinem Kind nicht allein deshalb auf telefonische oder briefliche Kontakte oder gelegentliches Zusammensein während der Ferien beschränkt werden darf, weil ihm kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zusteht. Liegt es im Interesse des Kindeswohl, daß der nichtsorgeberechtigte Elternteil regelmäßigen Kontakt zu seinem Kind hat und läßt sich dieser Umgang praktisch nur durch eine dauerhafte Anwesenheit des nichtsorgerechtsberechtigten Elternteils realisieren, ist diese dauerhafte Anwesenheit durch eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis zu ermöglichen. 104 Grundlegend EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 62); außerdem EGMR, Entsch. vom 29.06.1999, Nylund ./. Finnland, RJD 1999-VI, 361 (376); Urt. vom 22.06.2004, Pini u. a. ./. Rumänien, RJD 2004-V, 237 (Ziff. 143, 146); vgl. auch die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter C. I. 4. 105 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Teil 1 unter D. III. 3. b) dd). 106 Vgl. EGMR, Urt. vom 13.07.2000, Ciliz ./. Niederlande, RJD 2000-VIII, 265 ff.; ausführlich dazu in Teil 1 unter F. I. 1. a).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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d) Divergenzen Bei einem Vergleich der Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG für einen Elternachzug mit den konventionsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK gilt es zunächst zu berücksichtigen, daß ein Rückgriff auf die Härteklausel vielfach schon nicht erforderlich sein wird, da bei einem Nachzug zu einem deutschen Kind bereits ein Aufenthaltsrecht aus § 28 Abs. 1 AufenthG und bei einem Nachzug zu einem ausländischen Kind zumindest aufgrund des Ehegattenstatus in Betracht kommt. Gleichwohl verbleiben Konstellationen, in denen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein nach § 36 AufenthG erfolgen kann. Dies gilt hinsichtlich des Nachzugs zu einem deutschen Kind, wenn dem nachzugbegehrenden Elternteil kein Sorgerecht zusteht und eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erst hergestellt werden soll. Zumindest dann, wenn der nachzugbegehrende Elternteil nicht schon über längere Zeit auf den Umgang mit seinem Kind verzichtet hat, ist hier ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht denkbar. Bei einem Nachzug zu einem ausländischen Kind ist ein Rückgriff auf § 36 Abs. 2 AufenthG darüber hinaus notwendig, wenn der nachzugbegehrende Elternteil nicht die Voraussetzungen der §§ 30, 31 AufenthG erfüllt, vor allem aber wenn es sich um ein Kind aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft handelt. Soweit hier nun die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte möglich ist, die nur bei einer über das normale familiäre Maß hinausgehenden Abhängigkeit vorliegen soll, kann darin je nach den Umständen des Einzelfalls eine gemessen an Art. 8 EMRK unzulässige Beschränkung des Rechts auf Achtung des Familienlebens liegen. Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn eine familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik verwirklicht werden kann und keine besonderen Gründe, wie etwa die Verwirklichung eines Ausweisungsgrundes durch den nachzugsbegehrenden Elternteil, hinzutreten. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland wird dabei auch nicht schon deshalb unterstellt werden können, weil das Kind nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt – eine Überlegung die der gesetzlichen Privilegierung des Elternachzugs zu einem deutschen Kind zugrunde zu liegen scheint. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt vielmehr, daß ein Familienleben im Ausland auch bei einem Kind mit ausländischer Staatsangehörigkeit daran scheitern kann, daß die Ehe der Eltern geschieden ist und dem nachzugbegehrenden Elternteil kein oder nur eine geteiltes Sorgerecht zusteht. Unter diesen Umständen kann typischerweise weder dem in der Bundesrepublik aufenthaltsberechtigten Elternteil eine gemeinsame Rückkehr mit dem geschiedenen Ehepartner in das Herkunftsland zugemutet werden, insbesondere wenn er wieder in einer neuen Partnerschaft lebt, noch kann der nachzugbegehrende Elternteil allein über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen. Darauf, daß ein Umgang mit dem Kind auch über eine Fernbeziehung möglich ist, wird sich der nachzugbegehrende Elternteil regelmäßig nicht verweisen lassen müssen, da sich der Umfang des Umgangs allein am Kindeswohl auszurichten hat. Da gerade im verbleibenden Anwendungsbereich von § 36 Abs. 2 AufenthG, aus dem eine intakte Ehe wegen § 30 AufenthG von vornherein her-

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ausfällt, häufig von derartigen Umständen auszugehen sein wird, stößt schließlich auch eine konventionskonforme Auslegung von § 36 Abs. 2 AufenthG in dem Sinne, daß eine außergewöhnliche Härte immer schon bei einer drohenden Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt, an ihre Grenzen. Zudem hat der Gesetzgeber durch seine Wortwahl deutlich gemacht, daß der Aufenthalt nur in absoluten Notsituationen gestattet werden darf. Solche sind aber nicht erforderlich, um ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht zur Führung einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern zu begründen.

6. Verschärfung des Ehegattennachzugs Abschließend sollen nun noch die Verschärfungen des Ehegattennachzugs in die Betrachtung einbezogen werden, die durch die jüngste Änderung des Aufenthaltsgesetzes mit Wirkung zum 19. August 2007 Eingang in die Vorschriften über den Familiennachzug gefunden haben107 und in verfassungsrechtlicher Hinsicht auf ein unterschiedliches Echo gestoßen sind.108 Sie finden sich einerseits in § 27 Abs. 1a AufenthG, wonach ein Ehegattennachzug ausgeschlossen ist, wenn die Ehe ausschließlich aus aufenthaltsrechtlichen Gründen geschlossen wurde oder ein Ehegatte zur Eingehung der Ehe genötigt wurde, andererseits in § 30 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG, der ein Mindestalter von 18 Jahren und einfache Kenntnisse der deutschen Sprache voraussetzt.

a) Die „Zweckehe“ Gemäß § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG wird ein Familiennachzug nicht zugelassen, wenn feststeht, daß die Ehe (oder das Verwandtschaftsverhältnis im übrigen) ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Die Bedeutung der Vorschrift scheint dabei nicht gänzlich geklärt. Schon nach alter Rechtslage war ein Ehegattennachzug im Fall der Scheinehe, also einer zwar formal geschlossenen, tatsächlich aber nicht gelebten Ehe, ausgeschlossen.109 Dies folgt unmittelbar aus § 27 Abs. 1 AufenthG, wonach eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erteilt wird – eine Lebensgemeinschaft, die im Fall der Scheinehe 107

BGBl. I S. 1970. Motiviert sind die Verschärfungen durch die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG, die entsprechende Einschränkungen erlaubt, diese jedoch keineswegs vorschreibt. 108 Vgl. ausführlich einerseits Hillgruber, ZAR 2006, 305 ff., andererseits Kingreen, ZAR 2007, 13 ff. und Markard / Truchseß, NVwZ 2007, 1025 ff. 109 Eberle, in: Storr u. a., Zuwanderungsgesetz, § 30 AufenthG Rn. 19; Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 52, 56, § 28 AufenthG Rn. 7; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, vor § 27 AufenthG Rn. 8, § 28 AufenthG Rn. 33.

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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aber gerade nicht besteht oder angestrebt wird.110 Soweit das Nachzugverbot des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG allein diese Fälle einer erweislichen Scheinehe ausschließen soll, ist seine Einführung gemessen an Art. 8 EMRK gänzlich unproblematisch. Dessen Schutzbereich setzt neben einer wirksamen Eheschließung ein tatsächlich gelebtes, zumindest aber beabsichtigtes Familienleben voraus, so daß eine Scheinehe keinen konventionsrechtlichen Schutz genießt.111 Demgegenüber ließe sich das Nachzugsverbot aber auch weiter, nämlich in dem Sinne verstehen, daß ein Aufenthaltsrecht trotz eines tatsächlichen oder beabsichtigten Familienlebens ausgeschlossen ist, wenn dieses nur geführt wird oder werden soll, um dem Ehepartner den Aufenthalt zu ermöglichen.112 Eine solche Motivausforschung dürfte jedoch schon mit Art. 6 GG unvereinbar sein,113 jedenfalls aber gegen Art. 8 EMRK verstoßen. Die zur Problematik der Scheinehe vorgenommene Untersuchung hat ergeben, daß eine Ehe ungeachtet der Motive der Eheschließung in den Schutzbereich des Familienlebens fällt, solange weder ihre Wirksamkeit noch das Führen einer ehelichen Lebensgemeinschaft bzw. eine entsprechende Absicht widerlegt sind.114 Dementsprechend ist § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG im engen Sinne als allein auf die erweisliche Scheinehe bezogen auszulegen.115 In der Praxis dürfte sich das Problem freilich ohnehin nicht stellen, da der behördlicherseits zu erbringende Nachweis über die Motive der Ehepartner kaum gelingen kann.

b) Die Zwangsehe § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG untersagt den Familiennachzug, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme begründen, daß einer der Ehegatten zur Eingehung der Ehe genötigt wurde.116 Zwar hat sich die Straßburger Rechtsprechung – so110

BVerwGE 107, 58 (64); Marx, in: GK-AufenthG, § 27 AufenthG Rn. 64. Caroni, Privat- und Familienleben, S. 27 (Fn. 92); Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 349; Villinger, in: FS-Wiarda, S. 657 (658); Zeichen, ZÖR 2002, 413 (430); vgl. dazu ausführlich Teil 1 unter C. I. 1. b). 112 In diese Richtung finden sich Anhaltspunkte in der Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 170: „Eine Zweckadoption liegt nicht vor, wenn das Ziel der Adoption das Zusammenleben mit der adoptierenden Familie in einer Eltern-Kind-Beziehung ist und der Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet günstiger sind als im Herkunftsland eines der Motive, aber nicht das alleinige Motiv der Adoption darstellt [Hervorhebung durch Verf.].“ 113 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, Art. 6 Rn. 2; Pieroth / Schlink, Staatsrecht II, Rn. 638 f. 114 Vgl. dazu und zur insoweit widersprüchlichen und abzulehnenden frühen Kommissionsrechtsprechung Teil 1 unter C. I. 1. b). 115 Im Ergebnis ähnlich auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 27 AufenthG Rn. 55, der die zur Scheinehe entwickelten Grundsätze weitgehend für übertragbar hält. 116 Die Gesetzesbegründung stellt ausdrücklich klar, daß diese Vorschrift einer arrangierten Ehe nicht entgegensteht, die auf der freien Willensentscheidung beider Ehepartner beruht, vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 170. 111

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

weit ersichtlich – noch nicht mit dem Problem der Zwangsehe befaßt. Wie schon im Rahmen von Art. 6 GG anerkannt,117 ist aber davon auszugehen, daß Art. 8 EMRK der Gesamtintention der Europäischen Menschenrechtskonvention nach eine auf einer freien Willensentscheidung beruhende Ehe voraussetzt, also eine Ehe, die nicht ihrerseits unter Umständen zustande gekommen ist, die der materiellen Substanz menschenrechtlicher Gewährleistungen, namentlich dem Selbstbestimmungsrecht, zuwiderläuft.118 Daß § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG ergänzend eine Beweiserleichterung vorsieht, wonach tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme einer Zwangsehe genügen, stellt zumindest im Grundsatz ebenfalls keine unzulässige Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK dar. Die Rechtsprechung gesteht den Konventionsstaaten bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit einer Ehe einen weitgehenden Beurteilungsspielraum zu.119 Erforderlich ist allerdings, daß die in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens potentiell verletzten Ehepartner die Möglichkeit haben, das Bestehen einer schutzwürdigen Partnerschaft darzulegen und gegen eine ablehnende Entscheidung wirksame Rechtsmittel einzulegen. Dies folgt bereits im Ansatz aus den verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 8 EMRK, im übrigen aus Art. 13 EMRK.120

c) Mindestalter von 18 Jahren In einem engen Zusammenhang mit dem Nachzugsverbot im Fall der Zwangsehe steht die Einführung eines Mindestalters von 18 Jahren für den Ehegattennachzug durch § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.121 Der Gesetzgeber geht ausweislich der Gesetzesbegründung davon aus, daß Zwangsverheiratungen bei einem Verheiratungsalter von mehr als 18 Jahren seltener sind, als bei einem jüngeren Verheiratungsalter. Hier falle nun der Anreiz für eine Zwangsverheiratung geringer aus, wenn das Aufenthaltsrecht und die Kontrollmöglichkeit durch den Ehemann bzw. die den Zwang ausübende Familie erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres entstünden.122 Die Beurteilung der Konventionskonformität der Neuregelung fällt nicht leicht, da sich weder die Kommission noch der Gerichtshof bislang mit einer vergleichbaren Problematik befaßt haben – anders als etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß zur Ehebestandszeitenregelung.123 Geht man davon aus, daß sich der Ge117 Grundlegend BVerfGE 10, 59 (66); vgl. auch ausführlich Hillgruber, ZAR 2007, 304 (305). 118 So auch Palm-Risse, Ehe und Familie, S. 200 f. 119 Vgl. insoweit die Untersuchungsergebnisse zur Scheinehe in Teil 1 unter C. I. 1. b) 120 Vgl. insoweit die Untersuchungsergebnisse in Teil 1 unter F. I. 1. a) und F. III. 121 Skeptisch zur Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK insoweit Markard / Truchseß, NVwZ 2007, 1025 (1027). 122 Vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 172 f. 123 Vgl. BVerfGE 76, 1 ff. und die Ausführungen oben unter A. II. 1. a).; zur aktuellen Problematik im Lichte dieser Entscheidung Hillgruber, ZAR 2006, 403 (308 ff.); Kingreen, ZAR 2007, 13 (14 ff.).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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richtshof in seiner Prüfungskompetenz auf die Feststellung einer Konventionsverletzung im Einzelfall beschränkt und nicht die Konventionskonformität von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als solche überprüft, und berücksichtigt man weiterhin, daß die bisher restriktiv ausfallende Rechtsprechungspraxis ein Nachzugsrecht regelmäßig erst dann anerkennt, wenn eine Familienzusammenführung nur im Aufenthaltsstaat der Bezugsperson möglich und zumutbar ist, so wird schon deshalb in der Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis vielfach keine Verletzung von Art. 8 EMRK liegen. Hinzukommt, daß sich der gesetzliche Zweck des Mindestalters unter die Schranke des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer fassen läßt, die auch eine aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende positive Verpflichtung zur Gestattung des Nachzugs einzuschränken vermag. Bei der Verwirklichung eines legitimen Ziels im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK billigt der Gerichtshof den Konventionsstaaten zudem einen weiten Beurteilungsspielraum zu.124 Schließlich wird ein Ehegattennachzug nicht dauerhaft, sondern nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ausgeschlossen, was die Beeinträchtigung weiter abmildert. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK scheint damit nur unter außergewöhnlichen Umständen denkbar, etwa dann wenn der Ehegatte auf die Lebenshilfe des nachziehenden angewiesen ist oder der Nachzug auch zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit einem gemeinsamen Kind erfolgt. Ist zugleich eine Familienzusammenführung im Ausland unmöglich oder unzumutbar, wird es hier gemessen an Art. 8 EMRK unverhältnismäßig sein, den nachzugsbegehrenden Ehegatten auf ein späteres Nachzugsrecht nach Vollendung des 18. Lebensjahres zu verweisen. Da allerdings § 30 Abs. 2 AufenthG ein Absehen vom Mindestalter zur Vermeidung einer besonderen Härte erlaubt, gibt das Gesetz der Ausländerbehörde ein taugliches Instrument in die Hand, diese atypischen Fallkonstellationen aufzufangen. Bei einer an Art. 8 EMRK orientierten Auslegung und Anwendung der Härteklausel ist daher eine im Einzelfall drohenden Verletzung der Konvention vermeidbar.

d) Nachweis einfacher Sprachkenntnisse Sinngemäß lassen sich die Ausführungen zum Mindestalter auf die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG übertragen, wonach der Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können muß. Durch die Neuregelung wird die schon nach altem Recht gemäß § 44a Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bestehende Pflicht zur Teilnahme an Integrationskursen zum Erwerb deutscher Sprachkenntnisse der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorgelagert. Der Ehegatte muß sich nun grundsätzlich schon im Ausland einfache Sprachkenntnisse aneignen. Auch im Hintergrund dieser Vorschrift steht letztlich die Vermeidung von Zwangsehen. Nach Auffassung des Gesetzgebers soll durch die sprachlichen Vorkenntnisse die Führung eines eigenständiges Soziallebens nach der Ankunft erleichtert 124

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter E. II.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

und zugleich die Kontrollierbarkeit der nachziehenden Ehefrau durch eine Zwang ausübende Schwiegerfamilie verringert werden.125 Wie schon die Erfüllung des Mindestalters von 18 Jahren kann auch das Erfordernis einfacher Sprachkenntnisse allenfalls unter außergewöhnlichen Umständen zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK führen, zumal es der nachzugbegehrende Ehegatte grundsätzlich selbst in der Hand hat, sich entsprechende Kenntnisse anzueignen. Fraglich ist allerdings, ob das Gesetz hier hinreichenden Spielraum zur Berücksichtigung von Härtefällen läßt. Angesichts der Tatsache, daß der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse auch nach der Ankunft in der Bundesrepublik möglich und gemäß § 44a Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sogar verpflichtend ist, dürfte etwa dann von einem solchen Härtefall auszugehen sein, wenn der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse im Ausland unmöglich oder unzumutbar ist126 oder angesichts einer allein im Bundesgebiet herstellbaren familiären Lebensgemeinschaft mit einem minderjährigen Kind eine zu lange Zeitdauer in Anspruch nehmen würde. Die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmetatbestände in § 30 Abs. 1 S. 2 und 3 AufenthG betreffen nun ihrem Anwendungsbereich nach Sonderfälle, die teils gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben geschuldet sind, enthalten aber keine allgemeine Härteklausel, wie sie für das Erfordernis des Mindestalters vorgesehen ist. Insbesondere die Vorschrift des § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AufenthG, die einen Verzicht auf einfache Sprachkenntnisse allein dann erlaubt, wenn der Ehegatte wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht die deutsche Sprache erlernen kann, wird gemessen an den denkbaren Härtefällen zu eng gefaßt sein, um das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens in jedem Fall hinreichend zu berücksichtigen.

7. Zwischenergebnis Auch wenn das Aufenthaltsgesetz mit den Vorschriften über den Familiennachzug weitgehend den Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK genügt, verbleiben Fälle, in denen nach den §§ 27 ff. AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden, gleichwohl aber konventionsrechtlich geboten sein kann. Betroffen sind hiervon generell die Partner einer nichtehelichen bzw. nichteingetragenen Lebenspartnerschaft. Die Vorschriften über den Familiennachzug regeln deren aufenthaltsrechtlichen Status nicht und verstoßen damit insoweit sowohl gegen Art. 8 EMRK als auch gegen Art. 3 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie, der für den nichtehelichen Lebenspartner aufenthaltsrechtliche Erleichterungen verlangt. Kollisionspotential besteht außerdem zumindest im Einzelfall hinsichtlich des Nachzugs zu Flüchtlingen, des Elternnachzugs, soweit diese für den Nachzug zu ihren Kindern einer Auf125

BT-Drs. 16/5065, S. 173. In diesem Sinne auch Kingreen, ZAR 2007, 13 (18), Markard / Truchseß, NVwZ 2007, 1025 (1027) mit Blick auf Art. 6 GG; a. A. Hillgruber, ZAR 2006, 204 (316), der von einem weltweit verfügbaren Netz an Bildungseinrichtungen auszugehen scheint. 126

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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enthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG bedürfen, aber keine außergewöhnliche Härte vorliegt, sowie hinsichtlich des Ehegattennachzugs, soweit der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse vor der Einreise nicht zugemutet werden kann. Ein besonderes Problem besteht hinsichtlich des Elternnachzugs im Fall einer Mehrehe, der nach dem Aufenthaltsgesetz grundsätzlich möglich, aber je nach Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie gemeinschaftsrechtlich unzulässig ist, soweit sich schon ein weiterer Ehegatte in der Bundesrepublik aufhält.

III. Lösungsmöglichkeiten Daß die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach den §§ 27 ff. AufenthG ausgeschlossen ist, muß jedoch nicht zwangsläufig eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten. Vielmehr gilt es angesichts der nach der hier vertretenen Auffassung schon verfassungsrechtlichen Verpflichtung, einfaches Gesetzesrecht nach Möglichkeit so auszulegen, daß ein Verstoß gegen die völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik vermieden wird, alle Möglichkeiten des Aufenthaltsgesetzes auszuschöpfen.

1. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG Denkbar ist zunächst ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG, wonach eine Aufenthaltserlaubnis in begründeten Fällen auch für einen vom Aufenthaltsgesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden darf. Mit der sprachlichen Neufassung durch das Zuwanderungsgesetz hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich der schon zu § 7 Abs. 1 AuslG 1990 vorherrschend vertretenen, aber wegen dessen Wortlauts nicht unumstrittenen Auffassung angeschlossen, daß diese Vorschrift eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis darstellt.127

a) Anwendungsbereich § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG stellt keinen allgemeinen Auffangtatbestand dar, der immer dann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach pflichtgemäßem Ermessen der Ausländerbehörde ermöglicht, wenn die Erteilungsvoraussetzungen für einen speziellen Aufenthaltstitel nicht erfüllt sind. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm, wonach die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur insoweit in Betracht kommt, wie sie einem nicht durch das Aufenthaltsgesetz geregelten Aufenthaltszweck dient, darüber hinaus aber auch aus der Entwicklungsgeschichte des Aufenthaltsrechts. Anders als das Ausländergesetz von 1965, das lediglich eine 127

Vgl. Einzelbegründung zu § 7 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 71.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

Generalklausel vorsah, ohne nach verschiedenen Aufenthaltszwecken zu unterscheiden, wurde mit dem Ausländergesetz von 1990 und dem nun geltenden Aufenthaltsgesetz ein nach unterschiedlichen Aufenthaltszwecken differenzierendes Regelwerk geschaffen, das unterlaufen zu werden droht, wenn bei Nichtvorliegen einzelner Erteilungsvoraussetzungen gleichwohl eine Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen erteilt werden könnte. Eine Anwendung von § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG ist daher immer dann ausgeschlossen, wenn die speziellen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes einen bestimmten Aufenthaltszweck abschließend regeln.128 Für den Gegenstand dieser Untersuchung folgt daraus, daß ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG nicht in Betracht kommt, wenn die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen an einzelnen Erteilungsvoraussetzungen scheitert, da der Aufenthalt aus familiären Gründen insoweit speziell und abschließend geregelt wird. Fraglich ist aber, ob dies auch für die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gilt, für die die Vorschriften der §§ 27 ff. AufenthG keine oder jedenfalls keine ausdrücklichen Regelungen enthalten. Schon zur alten Rechtslage unter dem Ausländergesetz von 1990 war in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, daß die Vorschriften über den Aufenthalt aus familiären Gründen jedenfalls für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft keine abschließende Regelung darstellten, so daß die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 7 Abs. 1, 15 AuslG 1990 im Wege des Ermessens möglich war.129 Durch die Einführung von § 27 Abs. 2 AufenthG, der nun die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe aufenthaltsrechtlich gleichstellt, ist diese Rechtsprechung zumindest teilweise obsolet. Allerdings könnte der Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts auch für die nichteheliche Lebensgemeinschaft zwischen heterosexuellen Partnern fruchtbar gemacht werden. Diese Frage wird in Rechtsprechung und Schrifttum kontrovers diskutiert.130

b) Negativer Ausschluß der nichtehelichen Lebensgemeinschaft? Da die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch die Vorschriften über den Aufenthalt aus familiären Gründen nicht expressis verbis von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen werden, kann ein Rückgriff 128 Hailbronner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 17; Renner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 12. Die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums nennen hier als beispielhaften Anwendungsfall, daß sich ein vermögender Ausländer in der Bundesrepublik niederlassen möchte, um hier von seinem Vermögen zu leben, vgl. Nr. 7.1.3 AH-BMI. 129 Grundlegend BVerwG 100, 287 (298 f.); vgl. außerdem BVerwG, NVwZ-RR 2001, 132 (133); Hailbronner, NVwZ 1997, 460 ff.; Siegfried, NVwZ 1998, 151 ff. 130 Grundsätzlich befürwortend OVG Münster, Beschluß vom 26.11.1996, Az. 17 B 2110/96, Juris; OVG Münster, Beschluß vom 21.04.1997, Az. 17 B 1588/96, Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 21; Schöbener, BayVBl. 1999, 129 (131 f.); grundsätzlich ablehnend OVG Hamburg, Beschluß vom 02.07.1992, Az. Bs V 59/92, Juris (Leitsatz in DÖV 1993, 1058); VGH Kassel, NVwZ-RR 1994, 55 (56); BayVGH, Beschluß vom 28.10.1998, Az. 10 ZS 98.2959, Juris; Renner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 14.

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG letztlich nur mit dem Argument verneint werden, daß sich der positiven Regelung des Familiennachzugs für Ehegatten und sonstige Familienangehörigen zugleich eine negative Regelung zulasten der Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft entnehmen läßt. In der Tat wird als Hauptargument gegen eine Anwendung von § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG vorgebracht, daß die Vorschriften der §§ 27 ff. AufenthG eine auch hinsichtlich der nichtehelichen Lebensgemeinschaft abschließende Regelung des Familiennachzugs bildeten.131 Zwingend ist diese Sichtweise allerdings nicht. Unbestritten dürfte dabei sein, daß die Vorschriften über den Aufenthalt aus familiären Gründen eine in sich geschlossene Regelung darstellen. Die entscheidende Frage ist aber nicht ihr abschließender Charakter, sondern ihr Regelungsgegenstand. Eine negative Regelung zulasten der nichtehelichen Lebensgemeinschaft läßt sich nur dann konstruieren, wenn zunächst ein weiter, gleichsam übergesetzlicher Familienbegriff herangezogen wird, um dann in der unterlassenen Regelungen für einzelne unter diesen Familienbegriff fallende Beziehungen eine durch den Gesetzgeber intendierte Nichtregelung zu sehen. Ausweislich der Zweckbestimmung des § 27 Abs. 1 AufenthG soll mit den Vorschriften über den Aufenthalt aus familiären Gründen jedoch allein der aus Art. 6 GG folgende verfassungsrechtliche Schutzauftrag zugunsten von Ehe und Familie umgesetzt werden. Der Regelungsgegenstand der §§ 27 ff. AufenthG ist damit auf die durch Art. 6 GG geschützten familiären Beziehungen begrenzt und erfaßt von vornherein nicht die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die an diesem Schutz nicht partizipiert. Mit dieser formal am gesetzlichen Familienbegriff orientierten Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht auch einen negativen Ausschluß der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft abgelehnt.132

c) Besserstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft? Auch eine Besserstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft gegenüber den durch die §§ 27 ff. AufenthG getroffenen Regelungen für Ehepartner, die aus systematischen Überlegungen heraus für einen negativen Ausschluß der nichtehelichen Lebensgemeinschaft sprechen könnte, ist bei einem Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG nicht zu befürchten.133 Dies gilt sowohl hinsichtlich der Rechts131 OVG Hamburg, Beschluß vom 02.07.1992, Az. Bs V 59/92, Juris (Leitsatz in DÖV 1993, 1058); VGH Kassel, NVwZ-RR 1994, 55 (56). 132 Schon die dort verwendete Formulierung erlaubt dabei auch eine Einbeziehung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft unter verschiedengeschlechtlichen Partnern, vgl. BVerwGE 100, 287 (298): „Die Vorschriften der §§ 17 ff. AuslG regeln den Zuzug von Familienangehörigen. Dagegen regeln sie nicht den Zuzug des Partners einer sonstigen Lebensgemeinschaft.“ 133 So aber unter Verweis auf die tatbestandlich ohne Einschränkung mögliche Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 7 Abs. 1, 15 AuslG 1990 OVG Hamburg, Beschluß vom 02.07.1992, Az. Bs V 59/92, Juris (Leitsatz in DÖV 1993, 1058).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

folgen, als auch der tatbestandlichen Voraussetzungen.134 Im Unterschied zu den Vorschriften über den Ehegattennachzug in § 28 Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 30 Abs. 1 AufenthG, die dem nachzugbegehrenden Ehegatten einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geben, steht deren Erteilung im Fall des § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG lediglich im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Darüber hinaus ist eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 27 ff. AufenthG durch zahlreiche Privilegierungen gekennzeichnet. Diese betreffen etwa wie im Fall des § 28 Abs. 2 AufenthG die Verkürzung der Wartezeit auf eine Niederlassungserlaubnis, die automatische Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in § 28 Abs. 5 bzw. § 30 Abs. 5 AufenthG, oder die durch § 31 AufenthG eröffnete Möglichkeit zum Erhalt eines eigenständigen Aufenthaltsrechts, wenn die Ehe seit mindestens zwei Jahren besteht. Auch tatbestandlich sieht das Aufenthaltsgesetz für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ehegattennachzugs erleichterte Voraussetzungen vor. Dies gilt namentlich für die zahlreichen teils fakultativen, teils obligatorischen Ausnahmevorschriften von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG. Daß die §§ 27 ff. AufenthG im übrigen eine gesetzliche Zweckbindung der Aufenthaltserlaubnis an die Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft vorsehen und darüber hinaus etwa mit dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums Voraussetzungen benennen, die sich dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG so nicht entnehmen lassen, spricht ebenfalls nicht gegen eine prinzipielle Besserstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Vielmehr handelt es sich dabei um Voraussetzungen, die von der Ausländerbehörde auch im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung nach § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG entsprechend zu berücksichtigen sein werden und deren Einhaltung gegebenenfalls durch Auflagen oder Bedingungen gemäß § 12 Abs. 2 AufenthG auch nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sichergestellt werden kann.135

d) Qualitativer Unterschied zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft? Gegen eine Anwendung von § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern könnte schließlich eingewandt werden, daß ihre Situation nicht mit derjenigen der Partner einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft vergleichbar ist. Diese These wird durch den bayrischen Verwaltungsgerichtshof vertreten, der damit zugleich einer Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen tritt.136 Den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage einer auch für die 134

So bereits ausführlich Siegfried, NVwZ 1998, 151 (152). Vgl. in diesem Sinne zur Rechtslage nach §§ 7 Abs. 1, 15 AuslG 1990 ausführlich Schöbener, BayVBl. 1999, 129 (132 ff., 135 ff.) 136 BayVGH, Beschluß vom 28.10.1998, Az. 10 ZS 98.2959, Juris; kritisch auch Renner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 14. 135

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft abschließenden Regelung des Familiennachzugs lasse sich eine gewisse, durch das Bundesverwaltungsgericht gezogene Parallele zwischen der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft einerseits und der Ehe andererseits entnehmen. Diese Parallele bestehe aber bei einem Vergleich der Ehe mit den verschiedengeschlechtlichen, in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft verbundenen Partnern nicht. Da letztere die Möglichkeit hätten, eine Ehe zu schließen und damit in den Genuß einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ehegattennachzugs zu kommen, bestehe für einen Rückgriff auf die Ermessensklausel keine Notwendigkeit. Bei näherer Betrachtung erweist sich dieses Argument allerdings als wenig überzeugend. Zum einen dürfte sich der bayrische Verwaltungsgerichtshof mit seiner Auffassung schon der sozialen Wirklichkeit verschließen, in der die nichteheliche Lebensgemeinschaft keineswegs als eine unvollkommene, letztlich allein auf die Eheschließung gerichtete Verbindung gilt, sondern vielfach als eine von der Institution der Ehe unabhängige, dieser vielmehr gesellschaftlich gleichgestellte Lebensform verstanden und praktiziert wird. Aber auch rechtlich kann der Einwand fehlender Vergleichbarkeit letztlich nicht relevant sein. Geht man von dem formalen Anknüpfungspunkt des Bundesverwaltungsgerichts aus, wonach die Vorschriften über den Familiennachzug keine negative Regelung zulasten der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft enthalten können, weil diese von vornherein vom Schutzbereich des Art. 6 GG und damit auch vom Anwendungsbereich der §§ 27 ff. AufenthG ausgeschlossen ist, muß Gleiches auch für die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft verbundenen verschiedengeschlechtlichen Partner gelten, da diese aufgrund des für den Ehebegriff des Art. 6 GG konstitutiven staatlichen Mitwirkungsakts ebenfalls nicht von dem für die Auslegung der §§ 27 ff. AufenthG maßgeblichen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag erfaßt sind. Dies allein genügt für die Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG.

e) Pflicht zur konventionskonformen Auslegung Erweist sich somit eine Anwendbarkeit von § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG auf die Partner einer heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaft als gut begründbar, wenn nicht schon aus der Systematik des Aufenthaltsgesetzes heraus als folgerichtig, sind die Voraussetzungen für eine an Art. 8 EMRK orientierte konventionskonforme Auslegung gegeben. Da das Recht auf Achtung des Familienlebens einerseits auch den Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusteht und damit unter den im Rahmen dieser Untersuchung herausgearbeiteten Bedingungen ein Recht auf Aufenthalt vermitteln kann, andererseits aber die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nicht in Betracht kommt, dürfen die Vorschriften der §§ 27 ff. AufenthG im Zweifel nicht so ausgelegt werden, daß sie den Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft in einem abschließenden Sinne jede Möglichkeit des Nachzugs nehmen. Diese Auslegung hat nach der hier vertretenen Auffassung schon aus verfassungsrechtlichen Gründen zu

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

erfolgen, um eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesrepublik zu vermeiden.137

f) Folgerungen Begehrt der ausländische Partner einer in der Bundesrepublik lebenden Bezugsperson, mit der er in nichtehelicher Lebensgemeinschaft verbunden ist, ein Aufenthaltsrecht, hat die Ausländerbehörde gemäß § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG nach pflichtgemäßem Ermessen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden. Im einzelnen hat sie sich dabei neben den schon nach deutscher Rechtslage zu berücksichtigenden Aspekten an den konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 8 EMRK zu orientieren. Verdichtet sich der danach bestehende Anspruch auf Achtung des Familienlebens im Einzelfall zu einem Anspruch auf Aufenthalt, ist das durch § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG eingeräumte Ermessen auf Null reduziert, so daß eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. Zugleich läßt sich auf diesem Wege bereits ein Teil der Konflikte von vornherein vermeiden, die durch die gemessen an Art. 8 EMRK zu engen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG für den Elternnachzug bestehen.138 Wie schon die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug vielfach einen Rückgriff auf die Härteklausel des § 36 Abs. 2 AufenthG entbehrlich macht, weil zugleich die familiäre Lebensgemeinschaft mit einem gemeinsamen Kind ermöglicht wird, läßt sich auch über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG eine Anwendung von § 36 Abs. 2 AufenthG vermeiden. Weiterhin eignet sich dieser Weg, um den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zur Erleichterung des Familiennachzugs für nichteheliche Lebenspartner aus der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG zu genügen.139 Da gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG / EU eine Anwendung günstigerer Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes möglich bleibt, können auch nichteheliche Lebenspartner von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern eine Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG erhalten. Daß Art. 3 Abs. 2 lit. a der Unionsbürgerrichtlinie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nur bei einer ordnungsgemäßen Bescheinigung der Lebensgemeinschaft verlangt, ist nach Sinn und Zweck nicht als im negativen Sinne abschließende Voraussetzung aufzufassen, die eine großzügigere Handhabung durch die Mitgliedstaaten ausschließt. Eine Aufenthaltserlaubnis kann daher auch ohne eine derartige Bescheinigung erteilt werden. Aus Art. 8 EMRK ergibt sich eine entsprechende Verpflichtung ohnehin jedenfalls solange, wie ein entsprechendes Bescheinigungsverfahren nicht zur Verfügung steht.

137 138 139

Vgl. dazu die Ausführungen oben unter A. III. 2. d). Vgl. dazu oben unter C. II. 5. Vgl. dazu oben unter C. II. 1. c).

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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Die vorstehenden Ausführungen beziehen sich schließlich zunächst allein auf die nichteheliche Lebensgemeinschaft zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern. Ob sie auch auf die nicht eingetragene Lebenspartnerschaft zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern übertragbar ist, hängt davon ab, ob die mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz eingeführte Vorschrift des § 27 Abs. 2 AufenthG nun als abschließende Nachzugsregelung für gleichgeschlechtliche Paare verstanden wird, die einen Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG konsequenterweise sperrt. Aus systematischen Gründen erscheint diese Annahme naheliegend.140 Andererseits würde dies letztlich zu einer Schlechterstellung gleichgeschlechtlicher Paare gegenüber der Rechtslage vor Einführung des § 27 Abs. 2 AufenthG führen, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis schlechthin möglich war. Dieses Ergebnis dürfte kaum der gesetzgeberischen Intention gerecht werden. Es spricht daher vieles dafür, die nichteheliche bzw. „nichtlebenspartnerschaftliche“ Lebensgemeinschaft ungeachtet der sexuellen Orientierung der Lebenspartner als eine durch die §§ 27 ff. AufenthG nicht erfaßte, rein faktische Lebensgemeinschaft aufzufassen, die unzweifelhaft den Schutz des Art. 8 EMRK genießt und durch § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG aufenthaltsrechtlich berücksichtigt werden kann.

2. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG Soweit die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen an einzelnen Voraussetzungen der §§ 27 ff. AufenthG scheitert und ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG verwehrt ist, kann an eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG gedacht werden.

a) Anwendungsbereich Gemäß § 22 S. 1 AufenthG kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die Vorschrift geht auf § 30 Abs. 1 AuslG 1990 zurück und hat ausweislich der Gesetzesbegründung die Funktion einer allgemeinen Härteklausel.141 Vorrangig ist daher die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen zu prüfen. Seinem Anwendungsbereich nach bezieht sich § 22 AufenthG allein auf Personen, die sich zum Zeitpunkt der Gestattung des Aufenthalts noch nicht im Bundesgebiet aufhalten.142 § 22 AufenthG erlaubt der Ausländerbehörde diesen Personen den Aufenthalt nach pflichtgemäßem Ermessen zu gestatten, begründet aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Erteilung einer Auf140 141 142

In diesem Sinne Hailbronner, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 20. Vgl. Einzelbegründung zu § 30 AuslG 1990, in: BT-Drs. 11/6321, S. 66. Vgl. Einzelbegründung zu § 22 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 77.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

enthaltserlaubnis. Dies schließt freilich einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung nicht aus.143 Voraussetzung für die Erteilung sind völkerrechtliche oder dringende humanitäre Gründe. Weder der Gesetzesbegründung noch den vorläufigen Anwendungshinweisen läßt sich eine präzise Definition völkerrechtlicher oder dringender humanitärer Gründe bzw. der damit ins Auge gefaßten Fallkonstellationen abgewinnen. Eine solche dürfte sich aber ohnehin angesichts der Funktion von § 22 AufenthG als allgemeine Härteklausel verbieten. Was die dringenden humanitären Gründe anbelangt, läßt sich zumindest der Gesetzgebungsgeschichte entnehmen, daß keine generalklauselartige Befugnis zur Aufnahme von Ausländern geschaffen werden sollte, sondern lediglich in Ausnahmefällen eine Aufnahme in Betracht kommt.144 So wurde, anders als im ursprünglichen Regierungsentwurf vorgesehen, im Vermittlungsausschuß die Formulierung „aus […] humanitären Gründen“ durch die Wendung „aus […] dringenden humanitären Gründen“ ersetzt. Diese Änderung wurde insbesondere damit begründet, daß andernfalls mit einem verstärkten Ersuchen nach § 22 AufenthG zu rechnen sei, wenn insbesondere die Voraussetzungen für einen Familiennachzug nach den §§ 27 ff. AufenthG nicht erfüllt sind.145 Daraus ist zu folgern, daß dringende humanitäre Gründe nicht schon dann vorliegen, wenn ein Ausländer den Nachzug zu seinen Familienangehörigen anstrebt, aber eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nicht erteilt werden kann. In Frage kommt die Aufnahme eines Ausländers, der sich in einer lebensgefährlichen oder schicksalhaften Notsituation befindet, in der sich die Bundesrepublik letztlich aus moralischen Gründen einer Aufnahme nicht verschließen kann.146 Der Begriff der völkerrechtlichen Gründe ist gänzlich undefiniert. In der Gesetzesbegründung zu § 30 AuslG 1990 finden sich keine erläuternden Hinweise.147 Der Gesetzesbegründung zu § 22 AufenthG läßt sich lediglich entnehmen, daß völkerrechtliche Gründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis insbesondere dann vorliegen, wenn die Aufnahme aufgrund internationaler Verpflichtungen erfolgt.148 Vom Anwendungsbereich des § 22 AufenthG ausgenommen ist lediglich die Aufnahme von Ausländern aufgrund eines zwischenstaatlichen Übernahmeabkommens.149 Praktische Bedeutung wird dem Tatbestandsmerkmal der völkerrechtlichen Gründe bislang für völkerrechtliche Vereinbarungen über die Aufnahme von Personen aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten zugesprochen, während sich aus allgemeinem Völkerrecht, der Genfer Flüchtlingskonvention oder 143

Vgl. Einzelbegründung zu § 30 AuslG 1990, in: BT-Drs. 11/6321, S. 66. Hailbronner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 6; Renner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 4. 145 Vgl. BT-Drs. 15/1955, S. 13; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 1. 146 So mutatis mutandis Nr. 22.0.1.1 AH-BMI; Hailbronner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 8; Storr, in: ders. u. a., Zuwanderungsgesetz, § 22 AufenthG Rn. 4; Welte, in: Jakober / Welte, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 9. 147 Vgl. Einzelbegründung zu § 30 AuslG 1990, in: BT-Drs. 11/6321, S. 66. 148 Einzelbegründung zu § 22 AufenthG, in: BT-Drs. 15/420, S. 77. 149 Vgl. dazu Nr. 22.0.1.1 AH-BMI; Renner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 3. 144

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Pflicht zur Aufnahme von sich im Ausland aufhaltenden Ausländern, sondern allenfalls ein Ausweisungs- bzw. Abschiebungsverbot ergebe.150

b) Art. 8 EMRK als völkerrechtlicher Grund Da die vorliegende Untersuchung ergeben hat, daß das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens nicht allein einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehen, sondern auch den Nachzug eines Ausländers zu seinen in der Bundesrepublik lebenden Familienangehörigen gebieten kann, stellt sich die Frage, ob § 22 AufenthG mit seinen tatbestandlich vorausgesetzten völkerrechtlichen Gründen für die Aufnahme eines Ausländers nicht auch zur Vermeidung einer Verletzung von Art. 8 EMRK fruchtbar gemacht werden kann. Seinem Wortlaut nach ist eine Anwendung unproblematisch möglich, da es sich bei einem im Einzelfall aus Art. 8 EMRK folgenden Nachzugsrecht neben der innerstaatlichen Geltung der Konvention als einfaches Bundesgesetz auch um eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber dem Betroffenen und gegenüber ihren Vertragspartnern handelt. Auch Sinn und Zweck des § 22 AufenthG stehen einer Anerkennung von Art. 8 EMRK als völkerrechtlichen Grund nicht zwingend entgegen. So mag es zutreffend sein, daß der Gesetzgeber bei der Einführung von § 22 AufenthG bzw. § 30 Abs. 1 AuslG 1990 nicht die Aufnahme von Ausländern aus familiären Gründen im Auge hatte. Wohl aber hat er die Vorschriften als allgemeine Härteklauseln verstanden, in deren Natur es liegt, daß nicht alle denkbaren Anwendungsfälle im Vorfeld antizipiert werden können. Aus der Gegenüberstellung der völkerrechtlichen Gründe einerseits und der dringenden humanitären Gründe andererseits wird zudem deutlich, daß § 22 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht nur erlaubt, um einer individuelle Notlage zu begegnen, sondern auch, um denkbaren völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten oder internationalen Organisation gerecht werden zu können und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesrepublik zu vermeiden. Unter diesem Gesichtspunkt muß in einer Anwendung von § 22 AufenthG auf Art. 8 EMRK auch keine Umgehung der eigens für den Familiennachzug geschaffenen Regelungen in den §§ 27 ff. AufenthG gesehen werden. Nicht die Familienzusammenführung wäre der Rechtsgrund für die Aufnahme eines aus Art. 8 EMRK berechtigten Ausländers gemäß § 22 AufenthG, sondern – streng formal – die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik. Zieht man ergänzend die Pflicht zur konventionskonformen Auslegung des Aufenthaltsgesetzes heran, läßt sich Art. 8 EMRK gut als völkerrechtlicher Grund im Sinne von § 22 AufenthG auffassen, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebietet, wenn dem Betroffenen nach anderen Vorschriften, insbesondere denen über den Familiennachzug,

150

So Hailbronner, Ausländerrecht, § 22 AufenthG Rn. 7.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, aus Art. 8 EMRK aber gleichwohl ein Anspruch auf Aufenthalt folgt.

c) Folgerungen Soweit nicht, wie etwa im Fall der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG zulässig ist, kann eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen Gründen gemäß § 22 AufenthG abgewendet werden. Dies gilt namentlich für Eltern, die den Nachzug zu ihren in der Bundesrepublik lebenden Kindern anstreben, aber nicht die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG erfüllen, und für Ehegatten, denen Einreise und Aufenthalt auch ohne einfache Vorkenntnisse der deutschen Sprache zu gestatten sind. Entsprechendes gilt schließlich für Familienangehörige von Flüchtlingen, bei denen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG scheitert. Richtig ist zwar, daß § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nur dann gestattet, wenn der nachzugbegehrende Angehörige selbst völkerrechtliche oder humanitäre Gründe verwirklicht, während § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG selbst bei Verwirklichung völkerrechtlicher oder humanitärer Gründe die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausschließt. Daraus wird man aber nicht folgern können, daß § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG sperrt. Dies hätte zur Folge, daß ein Ausländer allein deshalb von einer Aufnahme nach § 22 AufenthG ausgeschlossen wäre, weil bereits seine Familienangehörigen in der Bundesrepublik leben. Eine derartige Benachteiligung aus familiären Gründen kann jedoch weder der gesetzgeberischen Intention, noch den verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK entsprechen. § 29 Abs. 3 S. 3 AufenthG ist daher in dem Sinne zu verstehen, daß er lediglich die Erteilung einer nach den §§ 27 ff. AufenthG in mehrfacher Hinsicht privilegierten Aufenthaltserlaubnis ausschließt. Eine generelle Einschränkung ergibt sich allerdings daraus, daß § 22 AufenthG allein die Aufnahme von Ausländern betrifft, die sich zum Zeitpunkt der Aufenthaltsgestattung noch nicht in der Bundesrepublik aufhalten. Soweit sich der Ausländer bereits in der Bundesrepublik befindet, hilft die Vorschrift nicht weiter. Zu denken ist hier insbesondere an den Fall, daß ein bislang bestehender Aufenthaltstitel, etwa zu Studien- oder Ausbildungszwecken, weggefallen ist und zugleich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen wegen der Voraussetzungen der §§ 27 ff. AufenthG scheitert. Ob dem Betroffenen hier zum Zweck der Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG eine kurzfristige Ausreise zumutbar ist, erscheint jedenfalls dann zweifelhaft, wenn er die Voraussetzungen für deren Erteilung im übrigen erfüllt. Unter diesen Umständen ist ein schutzwürdiges staatliches Interesse daran, daß ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich aus dem Ausland heraus gestellt werden soll, um die Aufnahme im Ergebnis nicht aufenthaltsberechtigter und damit nach Ablehnung einer Auf-

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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enthaltserlaubnis wieder rückzuführender Ausländer von vornherein zu vermeiden, nicht erkennbar. Der Gerichtshof hat zu dieser Problematik bislang noch nicht Stellung genommen, wohl aber einige auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK gestützte Beschwerden gegen die Niederlande zur Entscheidung angenommen.151

3. Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG Als Alternative zu einer kurzfristigen Ausreise und anschließenden Wiederaufnahme gemäß § 22 AufenthG, kommt eine Anwendung von § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Diese bereits im Zusammenhang mit der Ausweisung behandelte Vorschrift erlaubt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wenn einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 25 AufenthG dürften in den hier untersuchten Fallkonstellationen regelmäßig erfüllt sein. Erforderlich ist zunächst, daß die Ausreise, das heißt sowohl die zwangsweise Durchsetzung einer Ausreisepflicht durch Abschiebung, als auch die freiwillige Ausreise aus der Bundesrepublik, unmöglich sind.152 Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung folgt hier aus Art. 8 EMRK, der die Bundesrepublik an einer Aufenthaltsbeendigung zum Schutz der Familieneinheit hindert. Aus dem gleichen Grund ist zugleich auch eine freiwillige Ausreise im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG unzumutbar, weil sie den Betroffenen letztlich dazu zwingt, seine Familienangehörigen zurückzulassen und das durch Art. 8 EMRK gewährte Aufenthaltsrecht aufzugeben.153 Da die Führung einer familiären Lebensgemeinschaft ihrer Natur nach auf Dauer angelegt ist, kann zudem mit einem Wegfall der Ausreisehindernisse auf absehbare Zeit nicht gerechnet werden. Ist somit ein Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig, weil sein bisheriger Aufenthaltstitel weggefallen ist und zugleich eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen versagt wird, hat die Ausländerbehörde gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zur Wahrung der durch Art. 8 EMRK geschützten familiären Lebensgemeinschaft zu erteilen. Da § 25 Abs. 5 AufenthG anders als § 30 Abs. 3 und 4 AuslG 1990 lediglich eine im Sinne von § 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbare und nicht mehr unanfechtbare Ausreisepflicht verlangt, muß bis zur Erteilung einer Aufenthaltser151 Vgl. EGMR, Entsch. vom 12.05.2005, Said Botan ./. Niederlande, Nr. 1872/04; Entsch. vom 12.05.2005, Ibrahim Mohamed ./. Niederlande, Nr. 1869/04. Ein weiteres Verfahren wurde inzwischen eingestellt, vgl. EGMR, Entsch. vom 27.09.2007, Yang ./. Niederlande, Nr. 30303/06. 152 BVerwG, DVBl. 2006, 1509 (1510) mit Verweis auf BT-Drs. 15/420, S. 80 und S. 79 sowie Nr. 25.5.1.2 iVm. Nr. 25.3.2.1 AH-BMI; vgl. ferner VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (414); OVG Münster, NVwZ-RR 2006, 576 (576); OVG Lüneburg, Beschluß vom 01.11.2007, Az. B 10 PA 96/07, Juris; Hailbronner, Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 117; Renner, Ausländerrecht, § 25 AufenthG Rn. 32. 153 Vgl. zu den Einzelheiten ausführlich oben unter B. III. 2. a) dd).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

laubnis im übrigen nicht mehr die Bestandskraft der eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen versagenden Entscheidung abgewartet werden.

4. Konventionskonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts Was schließlich die besondere Problematik der Mehrehe anbelangt, bieten sich folgende Lösungsmöglichkeiten an. Die hier vorgenommene Untersuchung hat ergeben, daß eine im Lichte von Art. 8 EMRK gebotene Nachzugsmöglichkeit für einen in einer Mehrehe verbundenen Ehegatten zu seinem in der Bundesrepublik lebenden Kind bei isolierter Betrachtung des Aufenthaltsgesetzes nicht ausgeschlossen ist. In Betracht kommt hier die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG bzw., soweit sich diese Vorschrift als zu eng erweist, nach den vorstehenden Überlegungen auch gemäß § 22 AufenthG. Demgegenüber kann sich je nach Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG ein weitergehendes Aufenthaltsverbot ergeben, das nicht nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ehegattennachzugs hindert, sondern der Person des Ehegatten als solcher gilt.154 Sollte sich diese strenge Auslegung als richtig erweisen, ist für die Bundesrepublik das Problem kollidierender Verpflichtungen aus Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht aufgeworfen. Einerseits ist sie an die zwingenden Vorgaben des Gemeinschaftsrechts gebunden, andererseits entbindet der Beitritt zur Gemeinschaft nicht von den völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention. Da die Gemeinschaft nicht selbst der Konvention beigetreten ist und ihre Rechtsakte, wie die Familienzusammenführungsrichtlinie, daher nicht der Kontrolle durch das Konventionsregime unterliegen, behilft sich der Straßburger Gerichtshof alternativ mit einem Rückgriff auf den nationalen Rechtsakt, mit dem entsprechende Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen wurden oder – soweit vorhanden – auf die nationalen Ausführungsakte, mit denen das Gemeinschaftsrecht im Einzelfall vollzogen wird.155 Im vorliegenden Fall kommt insoweit der auf der Familienzusammenführungsrichtlinie beruhende Versagungsbescheid der Ausländerbehörde als Anknüpfungspunkt für eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik in Betracht. Das so beschriebene Dilemma läßt sich gegenwärtig nur mit Hilfe einer einschränkenden Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie lösen. Diese kann zunächst an Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie selbst ansetzen, so daß das Aufenthaltsverbot als nicht auf die Zusammenführung eines zweiten Ehegatten mit seinem Kind bezogen verstanden wird. Wie gezeigt ist eine solche Interpretation mit dem Wortlaut der Vorschrift durchaus zu vereinbaren, auch wenn die Regelungssystematik 154

Vgl. dazu ausführlich oben unter C. II. 3. Zur ersten Konstellation vgl. EGMR, Urt. vom 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, RJD 1999-I, 251 (Ziff. 32 ff.); zur zweiten Konstellation vgl. EGMR, Urt. vom 30.06.2005, Bosphorus ./. Irland, Nr. 45036/98 (Ziff. 151 ff.). Zum ganzen vgl. ausführlich Bernhardt, in: FS-Everling, 103 (105); Bröhmer, EuZW 2006, 71 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtsrechtskonvention, § 4 Rn. 5 f.; Heer-Reißmann, NJW 2006, 192 ff. 155

C. Folgerungen für den Familiennachzug

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vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte eine andere Auslegung nahelegt. Dies ließe sich jedoch durch eine am Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens orientierte, grundrechtskonforme Auslegung der Richtlinie überwinden. Freilich setzt dies voraus, daß sich der EuGH dabei an den durch den Straßburger Gerichtshof zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen orientiert. Solange die Gemeinschaft nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention betritt und damit auch den Straßburger Gerichtshof als verbindliche Entscheidungsinstanz in Grundrechtsfragen anerkennt, bleibt nur zu hoffen, daß der EuGH seiner – ihm auch durch den Straßburger Gerichtshof zugewiesenen156 – Verantwortung gerecht wird und einen Gleichklang zwischen Art. 8 EMRK und dem Gemeinschaftsgrundrecht auf Achtung des Familienlebens sicherstellt. Alternativ zu einer einschränkenden Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie dürfte jedenfalls die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG bei einer einschränkenden Auslegung des Geltungsbereichs der Richtlinie nicht ausgeschlossen sein. Da die Richtlinie allein die Familienzusammenführung regelt, kann die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus anderen, das bedeutet im Fall des § 22 AufenthG aus völkerrechtlichen Gründen, nicht von dem Verbot des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie erfaßt sein.

5. Ergebnis Die Vorschriften über den Aufenthalt aus familiären Gründen werden den konventionsrechtlichen Verpflichtungen im Grundsatz gerecht. Kollisionspotential besteht jedoch hinsichtlich der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, sowie in Ausnahmefällen beim Familiennachzug zu Flüchtlingen, beim Elternnachzug, sowie aufgrund der jüngsten Verschärfungen des Aufenthaltsgesetzes beim Ehegattennachzug. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK ist jedoch vermeidbar, wenn bei konventionskonformer Auslegung alle Möglichkeiten des Aufenthaltsgesetzes zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschöpft werden. Für die nichteheliche Lebensgemeinschaft bietet sich – nach der hier vertretenen Auffassung unabhängig von der geschlechtlichen Orientierung der Partner – ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG an. Zugleich wird damit, soweit ein nichtehelicher Lebenspartner eines Unionsbürgers betroffen ist, den Anforderungen von Art. 3 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG Rechnung getragen. In den übrigen Fällen kann zur Aufnahme aus dem Ausland eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG bzw., falls sich der Betroffene bereits in der Bundesrepublik aufhält, gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden. Auch die Familienzusammenführung zwischen einem in Mehrehe lebenden Ehegatten und seinem in der Bundesrepublik lebenden Kind ist bei grundrechtskonformer Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG nicht ausgeschlossen.

156

Vgl. EGMR, Urt. vom 30.06.2005, Bosphorus ./. Irland, Nr. 45036/98 (Ziff. 155).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

Bislang wurden die aus dem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens folgenden Konsequenzen für die Aufenthaltsbeendigung und die Begründung des Aufenthalts behandelt. Ein weiteres, in jüngster Zeit diskutiertes Problem scheint – bildlich gesprochen – genau an der Schnittstelle beider Themenkomplexe zu verorten zu sein. Es betrifft die aus Art. 8 EMRK folgenden Konsequenzen für langjährig geduldete Ausländer, also Personen, denen einerseits wegen ihrer Duldung keine Aufenthaltsbeendigung droht, die aber andererseits auch keine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

I. Ausgangslage Die Relevanz der Problematik erschließt sich aus einigen statistischen Angaben. Zum Stichtag des 31. Dezember 2007 lebten nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes rund 6,7 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik. Davon besaßen über 127.000 Ausländer lediglich eine Duldung im Sinne von § 60a AufenthG, waren also nach wie vor ausreisepflichtig.1 Im Jahr zuvor waren es bei in etwa gleichbleibender Zahl der Ausländer insgesamt sogar über 165.000 Ausländer mit Duldungsstatus.2 Die Bundesregierung ging bei Einführung der sogenannten Altfallregelung in den §§ 104a, 104b AufenthG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz aus dem August 2007 davon aus, daß sich von dieser Personengruppe zum Stichtag des 31. Dezember 2006 über 99.000 Ausländer schon seit mindestens 6 Jahren und über 67.000 Ausländer seit mindestens 8 Jahren in Deutschland aufhielten. Zum großen Teil handele es sich um abgelehnte Asylbewerber, die aus verschiedenen Gründen nicht abgeschoben werden könnten.3 Aus der verwaltungsgerichtlichen Praxis ist darauf hingewiesen worden, daß sich die Lebenssituation dieser langzeitgeduldeten Ausländer in vielfältiger Weise unterscheidet. Das Spektrum reicht von den Kindern abgelehnter Asylbewerber, die im frühen Kindesalter gemeinsam mit ihren Eltern einreisten oder gar in der Bundesrepublik geboren wurden und inzwischen durch Schulbesuch und Berufsausbildung fest in die deutsche Gesellschaft integriert sind, über volljährig eingereiste Ausländer, denen es 1 Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Ausländische Bevölkerung und Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (Fachserie 1 Reihe 2), Wiesbaden 2008, Tabelle 11, S. 70. 2 Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Ausländische Bevölkerung und Ergebnisse des Ausländerzentralregisters (Fachserie 1 Reihe 2), Wiesbaden 2007, Tabelle 11, S. 81. 3 Vgl. insoweit die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, in: BT-Drs. 16/5065, S. 384 f. Die Begründung geht allerdings von einer Gesamtzahl von über 174.000 geduldeten Ausländern zum 31.12.2006 aus und beruht damit noch auf den unkorrigierten Zahlen des Statistischen Bundesamts.

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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gelungen ist, durch Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sicherzustellen, bis hin zu Ausländern, die durch Identitätstäuschung oder Passlosigkeit eine Vollstreckung der Ausreisepflicht stets verhindert und auch sonst keine nennenswerten Integrationsleistungen vorzuweisen haben.4 Bei der langjährigen Duldung von Ausländern handelt es sich strenggenommen um ein Phänomen, das es eigentlich nicht geben dürfte. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist die nach § 60a AufenthG erteilte Duldung ein grundsätzlich auf die Abschiebung gerichtetes Instrument der Verwaltungsvollstreckung, das lediglich eine zeitlich befristete Aussetzung der Abschiebung erlaubt, falls eine Vollstreckung der Ausreisepflicht vorrübergehend unmöglich ist, das aber nicht die Funktion eines vorbereitenden oder ersatzweise erteilten Aufenthaltsrechts besitzt.5 Mag also die Erteilung einer Duldung ursprünglich legitim gewesen sein, weil nach negativem Ausgang des Asylverfahrens eine umgehende Abschiebung der Betroffenen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich war, entfernt sie sich mit zunehmender Dauer des Aufenthalts vom Sinn und Zweck ihrer gesetzlichen Grundlage. Dabei sind die Möglichkeiten zum Erwerb eines den Aufenthalt legalisierenden Aufenthaltstitels für die Betroffenen begrenzt. Insbesondere wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen – unabhängig von der erschwerenden Regelung des § 10 Abs. 3 AufenthG6 – vielfach schon deswegen nicht in Betracht kommen, weil § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG den rechtmäßigen Aufenthalt des zusammenführenden Ausländers voraussetzt. So scheidet etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die in der Bundesrepublik geborenen oder in den frühen Lebensjahren eingereisten Kinder von abgelehnten Asylbewerbern aus, weil die Eltern selbst nur geduldet sind, also keine Aufenthalterlaubnis besitzen. Sinngemäß gilt dies auch für die Regelungen der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG und die der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG. Der Gesetzgeber hat die Praxis sogenannter Kettenduldungen mehrfach mißbilligend zur Kenntnis genommen, sich jedoch nicht zu einer klaren gesetzlichen Lösung durchringen können. Bei der Fassung des Ausländergesetzes von 1990 beließ er es bei einem lediglich klarstellenden Hinweis in § 55 Abs. 3 AuslG 1990, wonach die damals noch vorgesehene Duldung nach Ermessen nicht zur dauerhaften Ermöglichung des Aufenthalts dienen solle.7 Der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz sah gar eine vollständige Abschaffung der Duldung vor, um – so die Gesetzesbegründung – die weit verbreitete Praxis, die Duldung als „zweitklassigen Aufenthaltstitel“ einzusetzen, endgültig zu beenden.8 Im Vermittlungsausschuß wurde die Duldung dann aber doch wie4

Vgl. Benassi, InfAuslR 2006, 397 (397). BVerwGE 105, 35 (43); vgl. ausführlich zum ganzen die Darstellung oben unter B. III 2. a) bb). 6 Vgl. dazu ausführlich Zühlcke, ZAR 2006, 280 ff. 7 BT-Drs. 11/6321, S. 76. 8 BT-Drs. 15/420, S. 64. 5

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

der in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen, da die Ausländerbehörden sie als Instrument eines flexiblen Verwaltungsvollzugs für unentbehrlich hielten.9 Durch die Neuregelung des § 25 Abs. 3 AufenthG wurden allerdings zumindest für die Fälle zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse die Möglichkeiten zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis erweitert. Eine partielle Abhilfe verspricht zudem die jüngste Änderung des Aufenthaltsgesetzes, die mit der Einführung der bereits angesprochenen §§ 104a und 104b AufenthG eine freilich im einzelnen von vielen Voraussetzungen abhängige Bleiberechtsmöglichkeit für langjährig geduldete Ausländer vorsieht.10 Allerdings handelt es sich um eine reine Stichtagsregelung für Altfälle, so daß die Problematik dadurch auf lange Sicht nicht entschärft werden wird. Darüber hinaus bleiben schließlich auch weiterhin Härtefallentscheidungen der Landesinnenminister gemäß § 23a AufenthG möglich, deren Effektivität jedoch, zumindest soweit es die Vergangenheit betrifft, vielfach angezweifelt wird.11 Angestoßen durch einige neuere Urteile des Gerichtshofs wird in Rechtsprechung und Schrifttum nun vielfach ein für langjährig geduldete Ausländer aus Art. 8 EMRK folgender Anspruch auf Legalisierung des Aufenthalts diskutiert, der – soweit nicht eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG bzw. nun ergänzend nach §§ 104a, 104b AufenthG in Betracht kommt – zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG verpflichte.12 Konkret wird diese These auf die durch den Gerichtshof in den Rechtssachen Sisojeva, Shevanova, Kaftailova und Aristimuño Mendizabal entwickelte komplementäre Verpflichtung gestützt, den Aufenthaltsstatus eines aus Art. 8 EMRK aufenthaltsberechtigten Ausländers so auszugestalten, daß eine ungehinderte Verwirklichung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens möglich ist13 – eine Voraussetzung, die im Fall einer bloßen Duldung nach verbreiteter Auffassung nicht erfüllt sein soll. Im einzelnen ist hier vieles umstritten, auch weil die konventionsrechtliche Rechtslage vielfach undurchsichtig scheint. Das Bundesverwaltungsgericht hatte eine Revision zugelassen, um in diesem Zusammenhang 9

BT-Drs. 15/3479, S. 10. Vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 59 ff.; zur Einzelbegründung vgl. ebenda S. 384 ff. 11 Vgl. dazu Bergmann, ZAR 2007, 128 (129). 12 Vgl. etwa VG Stuttgart, Urt. vom 05.10.2005, Az. 11 K 3065/04, Juris; VG Stuttgart, InfAuslR 2006, 14 ff.; VG Stuttgart, InfAuslR 2006, 72 ff.; VG Karlsruhe, Urt. vom 19.12.2005, Az. 6 K 5/04, Juris; OVG Koblenz InfAuslR 2006, 274 ff.; VG Lüneburg, Urt. vom 28.03.2006, Az. 4 A 130/04, Juris; VG Oldenburg, Urt. vom 03.05.2006, Az. 11 A 2646/05, Juris; VG Saarland, Urt. vom 03.05.2006, Az. 10 K 94/05, Juris; VG Würzburg, Urt. vom 08.05.2006, Az. W 7 K 05.809, Juris; VG Braunschweig, Urt. vom 19.09.2006, Az. 6 A 474/04, Juris; VG Stuttgart, Urt. vom 26.10.2006, Az. 4 K 1753/06, Juris; Benassi, InfAuslR 2006, 397 ff.; Bergmann, ZAR 2007, 128 ff.; Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (41–45); Hoppe, ZAR 2006, 125 ff.; Marx, ZAR 2006, 261 ff.; Schild, ANA-ZAR 2006, 29 ff.; Thym, EuGRZ 2006, 541 ff.; nun differenzierend ders., InfAuslR 2007, 133 ff. 13 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00; Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00; Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00; Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99; zum ganzen ausführlich in Teil 1 unter F. I. 2. 10

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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grundlegende Fragen zu klären.14 Inzwischen ist dieses Verfahren jedoch eingestellt, da der Kläger seine Revision zurückgenommen hat.15 Vielleicht können hier die folgenden Überlegungen hilfreich sein.

II. Präzisierung der Fragestellung Um die Problematik aus konventionsrechtlicher wie aufenthaltsrechtlicher Perspektive handhabbar zu machen, scheint eine Zweiteilung der Fragestellung sinnvoll. Konventionsrechtlich ergibt sich dies daraus, daß die durch den Gerichtshof entwickelten komplementären Verpflichtungen zur Ausgestaltung des Aufenthaltsstatus einen aus Art. 8 EMRK folgenden Anspruch auf Aufenthalt voraussetzen. Ob ein langjährig geduldeter Ausländer einen Anspruch auf Legalisierung seines Aufenthalts hat, hängt danach zunächst davon ab, ob ihm aus Art. 8 EMRK überhaupt ein Aufenthaltsrecht zusteht. Erst in einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob der Duldungsstatus den aus Art. 8 EMRK folgenden komplementären Verpflichtungen entspricht. Aufenthaltsrechtlich folgt diese Zweiteilung aus den Anspruchsvoraussetzungen der ins Auge gefaßten gesetzlichen Grundlage für eine Legalisierung des Aufenthalts. Da § 25 Abs. 5 AufenthG tatbestandlich eine Unmöglichkeit der Ausreise voraussetzt, kommt seine Anwendung nur dann in Betracht, wenn dem Betroffenen aus Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Aufenthalt zusteht, der sowohl eine Abschiebung rechtlich unmöglich, als auch eine freiwillige Ausreise unzumutbar macht.16 Erst unter dieser Voraussetzung ist der Ausländerbehörde eine in ihrem pflichtgemäßen Ermessen liegende Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis möglich, wobei dieses Ermessen auf null reduziert sein dürfte, wenn einem Ausländer aus Art. 8 EMRK ein Anspruch auf förmliche Legalisierung seines Aufenthalts zusteht.

III. Zum Anspruch auf Aufenthalt 1. Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK Ein Anspruch auf Aufenthalt kann sich für langjährig geduldete Ausländer grundsätzlich sowohl unter dem Gesichtspunkt des Familienlebens als auch unter dem des Privatlebens ergeben. Der Schutzbereich des Familienlebens ist eröffnet, wenn sich weitere Familienangehörige, etwa Ehegatten, Eltern oder Kinder, in der Bundesrepublik aufhalten; der Schutzbereich des Privatlebens jedenfalls dann, wenn ein Ausländer seit vielen Jahren in der Bundesrepublik lebt und sich in sozialer, 14

BVerwG, Beschluß vom 25.10.2006, Az. 1 C 32.06, Juris. BVerwG, Beschluß vom 24.05.2007, Az. 1 C 32.06, Juris. 16 Vgl. zu Art. 8 EMRK als Ausreisehindernis im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG ausführlich oben unter B. III. 2. a) dd). 15

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht fest integriert hat. Soweit der Gerichtshof bei der Überprüfung aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen auf den Schutzbereich des Privatlebens zurückgegriffen hat, lagen den Entscheidungen Aufenthaltszeiten von über 10 Jahren zugrunde.17 In der verwaltungsgerichtlichen Praxis scheinen allerdings zumindest partiell Unsicherheiten hinsichtlich der Frage zu bestehen, ob der Schutzbereich von Art. 8 EMRK einen bereits rechtmäßigen Aufenthalt des betroffenen Ausländers voraussetzt. So haben Verwaltungsgerichte einen Anspruch aus Art. 8 EMRK bereits deswegen verneint, weil sich die Betroffenen wegen ihres Duldungsstatus nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhielten und daher kein im Sinne von Art. 8 EMRK schützenswertes Privatleben vorliegen könne.18 Dies ist mit der Auslegung von Art. 8 EMRK durch die Straßburger Rechtsprechungsorgane nicht vereinbar. Die im Rahmen dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung hat vielmehr ergeben, daß es für das Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens allein auf die tatsächlichen Umstände ankommt. Entscheidend ist das Bestehen familiärer Bindungen an den Konventionsstaat oder – soweit es das Privatleben betrifft – eine soziale, wirtschaftliche und im weiteren Sinne familiäre Verwurzelung ebendort.19

2. Art. 8 EMRK als Grundlage einer positiven Verpflichtung Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ist allerdings für die Frage relevant, ob in der Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK oder lediglich eine potentielle Verletzung einer aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgenden positiven Verpflichtung zu sehen ist. Hier gelten nach den im Rahmen dieser Arbeit gewonnenen Untersuchungsergebnissen folgende Grundsätze. Hält sich ein Ausländer bereits rechtmäßig in einem Konventionsstaat auf, wertet der Gerichtshof aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die das Privat- und Familienleben beeinträchtigen, als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK. Begehrt ein Ausländer dagegen erst den Zugang zum Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates kann durch die Verweigerung von Einreise und Aufenthalt allenfalls eine aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende 17

Zum Schutzbereich des Familienlebens vgl. ausführlich in Teil 1 unter C. I.; zum Schutzbereich des Privatlebens ebendort unter C. II. 18 So etwa VG Oldenburg, Urt. vom 11.05.2005, Az. 11 A 2574/03, Juris; VG Karlsruhe, Urt. vom 07.09.2005, Az. 4 K 1390/03, Juris; VG Frankfurt, Urt. vom. 13.04.2006, Az. 1 E 5037/05, Juris; VG Oldenburg, Urt. vom 03.05.2006, Az. 11 A 2646/05, Juris; VGH Kassel, ZAR 2006, 413 (414). 19 Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen zum Schutzbereich in Teil 1 unter C I und II. In diesem Sinne auch VG Stuttgart, Urt. vom 05.10.2005, Az. 11 K 3065/04, Juris; VG Stuttgart, InfAuslR 2006, 72 (74); VG Karlsruhe, Urt. vom 19.12.2005, Az. 6 K 5/04, Juris; VGH Mannheim, ZAR 2006, 142 (144), anders aber für das Familienleben; VG Braunschweig, Urt. vom 19.09.2006, Az. 6 A 474/04, Juris; VG Stuttgart, Urt. vom 26.10.2006, Az. 4 K 1753/06, Juris; Benassi, InfAuslR 2006, 397 (403); Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (44 f.); Marx, ZAR 2006, 261 (265); Schild, ANA-ZAR 2006, 29 (29 f.).

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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positive Verpflichtung verletzt sein.20 Hinsichtlich der Behandlung bereits im Hoheitsgebiet eines Konventionsstaats lebender, aber sich dort ohne Aufenthaltsrecht aufhaltender Ausländer ist zu differenzieren. Einerseits stellt der Gerichtshof Ausländer, die vom Boden eines Konventionsstaates aus erstmalig einen Aufenthaltstitel beantragen, denjenigen gleich, die einen entsprechenden Antrag aus dem Ausland heraus stellen.21 Andererseits können aufenthaltsrechtliche Maßnahmen als Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK zu behandeln sein, wenn die Betroffenen ursprünglich ein Aufenthaltsrecht besaßen, das jedoch nachträglich verloren gegangen ist.22 Im einzelnen kommt es hier darauf an, ob der jeweilige Konventionsstaat einem Ausländer mit der Gestattung des Aufenthalts ein grundsätzlich auf Dauer angelegtes Aufenthaltsrecht einräumen wollte oder nicht. Dies wird man nicht annehmen können, wenn der zugestandene Aufenthaltstitel seinem Zweck nach auf einen befristeten Aufenthalt ausgerichtet ist, etwa bei einer Aufenthaltserlaubnis zur Durchführung eines Asylverfahrens, zu Studienzwecken oder für einen Besuch bei Verwandten.23 Für das Begehren eines langjährig geduldeten Ausländers dürfte danach folgendes gelten. Soweit der Betroffene ursprünglich zur Durchführung eines Asylverfahrens in die Bundesrepublik eingereist war und sein Aufenthalt während dieser Zeit wegen Erteilung einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG rechtmäßig war, kann darin noch nicht die Gestattung eines im Grundsatz auf Dauer angelegten Aufenthalts erblickt werden. Das Asylverfahren ist ergebnisoffen, so daß der Betroffene nicht davon ausgehen konnte, in der Bundesrepublik verbleiben zu dürfen. Sinngemäß gilt das auch für die erst in der Bundesrepublik geborenen Kinder eines Asylbewerbers, deren aufenthaltsrechtliches Schicksal an das der Eltern gekoppelt ist. Auch die nach erfolgslosem Abschluß des Asylverfahrens erteilte Duldung ändert daran nichts, da sie lediglich die Abschiebung aussetzt, aber die gesetzliche Ausreisepflicht unberührt läßt. Die Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis ist demnach nicht als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu behandeln, sondern als potentielle Verletzung einer aus Art. 8 EMRK folgenden positiven Verpflichtung. Auch hier ist jedoch nach ständiger Rechtsprechung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor20

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen zur Abgrenzung von negativen und positiven Verpflichtungen in Teil 1 unter D. III. 2. 21 Vgl. EGMR, Urt. vom 20.03.1991, Cruz Varas u. a. ./. Schweden, Serie A 201 (Ziff. 89); Entsch. vom 19.01.1999, Cincil ./. Niederlande, Nr. 39322/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96; Entsch. vom 08.07.2003, Afonso und Antonio, Nr. 11005/03; Entsch. vom 05.04.2004, Benamar u. a. ./. Niederlande, Nr. 43786/04; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer. /. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 38). 22 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 105); Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 70); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 65). 23 Vgl. EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 69); Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00; der Prüfung nach auch Entsch. vom 06.07.2006, Priya ./. Dänemark, Nr. 13594/03.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

zunehmen, bei der das Interesse an der Fortführung des Privat- und Familienlebens in der Bundesrepublik gegen die öffentlichen Interessen abzuwägen ist.

3. Verhältnismäßigkeitsprüfung Ob eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zugunsten eines Aufenthaltsrechts ausfällt, entzieht sich letztlich einer abstrakten Bewertung. Insoweit können auch die folgenden Ausführungen die Ausländerbehörden nicht von einer Prüfung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls befreien. Grundsätzlich sind eine Reihe unterschiedlicher Kriterien heranzuziehen, deren Inhalt und Bedeutung im Rahmen dieser Arbeit bereits herausgearbeitet wurde. Dazu zählen insbesondere das Ausmaß, in dem familiäre Bindungen durch eine Trennung beeinträchtigt würden, die sonstigen Bindungen zum Konventionsstaat, die Möglichkeit und Zumutbarkeit eines gemeinsamen Familienlebens im Ausland, Verstöße gegen Einwanderungsvorschriften und die aufenthaltsrechtliche Situation zum Zeitpunkt der Familiengründung.24 Erschwerend kommen natürlich strafrechtliche Verfehlungen hinzu.25 Gleichwohl lassen sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs einige allgemeine Grundsätze entnehmen, die gerade für die hier untersuchten Fallkonstellationen von Bedeutung sind und die Möglichkeiten für die Entstehung eines Aufenthaltsrechts bei näherer Betrachtung erheblich einschränken.

a) Ausschluß originärer Mißbrauchsfälle Ein Anspruch auf Aufenthalt scheidet grundsätzlich aus, wenn ein Ausländer unter Verstoß gegen nationale Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen in einen Konventionsstaat einreist. Unter diesen Umständen kann er nicht mit der nachträglichen Gestattung seines Aufenthalts rechnen.26 Der Schutzzweck dieser Rechtsprechung liegt in der Wahrung einer effektiven Einwanderungskontrolle durch die Konventionsstaaten, die zu unterlaufen werden droht, falls Ausländer ungeachtet der Einhaltung nationaler Einreise- und Aufenthaltsvorschriften aus der Europäischen Menschenrechtskonvention einen Anspruch auf Aufenthalt ableiten könnten. Hinsichtlich langjährig geduldeter, abgelehnter Asylbewerber wird hier zu differenzieren sein. Entscheidend muß es auf die Gründe der langjährigen Duldung ankommen. Konnte ein Ausländer etwa allein deshalb nicht abgeschoben werden, weil er sich durch Identitätstäuschung, Vernichtung seiner persönlichen Dokumente, insbesondere seines Passes, oder zeitweiliges Untertauchen einer Abschie24

Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter D. III. 2. Vgl. dazu ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter E. III. 2. a). 26 EGMR, Entsch. vom 13.05.2003, Chandra u. a. ./. Niederlande, Nr. 53102/99; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 43). Vgl. auch die Ausführungen in Teil 1 unter D. III. 3. b) ff.). 25

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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bung entzog, wird ein Anspruch auf Aufenthalt regelmäßig ausscheiden. Insoweit läßt sich seine Situation mit der derjenigen Ausländer vergleichen, die von vornherein illegal in die Bundesrepublik eingereist sind und durch ihre Anwesenheit vollendete Tatsachen geschaffen haben.

b) Kenntnis vom unsicheren Aufenthaltsstatus Von Bedeutung ist außerdem der unsichere Aufenthaltsstatus des sich auf ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht berufenden Ausländers oder eines seiner Angehörigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Ausländer, dem zum Zeitpunkt der Familiengründung der unsichere aufenthaltsrechtliche Status eines der Familienmitglieder bekannt ist, nicht darauf vertrauen, das Familienleben im Konventionsstaat auf Dauer fortsetzen zu können. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis soll hier nur unter außergewöhnlichen Umständen in Betracht kommen.27 Diese Grundsätze hat der Gerichtshof in der Rechtssache Useinov ausdrücklich auch auf die Fallkonstellation übertragen, in der einem Ausländer der Aufenthalt zunächst nur zur Durchführung eines später erfolglos abgeschlossenen Asylverfahrens gestattet worden war. Die Gestattung des Aufenthalts sei hier nicht mit der Gewährung eines dauerhaften Aufenthaltsrechts vergleichbar, das eine entsprechende Erwartungshaltung rechtfertigen könnte. Dies gelte selbst dann, wenn sich der Betroffene wie im vorliegenden Fall bereits seit 5 Jahren im Konventionsstaat aufhalte.28 Sinngemäß dürften sich die Grundsätze auch auf den Schutzbereich des Privatlebens übertragen lassen. Entsprechende Hinweise lassen sich ebenfalls der Entscheidung im Fall Useinov entnehmen. Auch wenn ein Konventionsstaat einem Ausländer die vorrübergehende Anwesenheit erlaubt und diesem damit zugleich die Möglichkeit eröffnet habe, am gesellschaftlichen Leben des Aufenthaltsstaates teilzunehmen, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen oder gar eine Familie zu gründen, könne der Konventionsstaat 27 EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 68); Entsch. vom 26.01.1999, Sarumi ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 43279/98; Entsch. vom 23.03.1999, Pejcinoski ./. Österreich, Nr. 33500/96; Entsch. vom 04.05.1999, Alidjah-Anyame ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 39633/98; Entsch. vom 22.06.1999, Ajayi u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27633/98; Entsch. vom 09.10.2001, Mensah ./. Niederlande, Nr. 47042/99; Entsch. vom 06.11.2001, Kaya ./. Niederlande, Nr. 44947/98; Entsch. vom 05.10.2004, Amara ./. Niederlande, Nr. 6914/02; Entsch. vom 05.04.2005, Benamar ./. Niederlande, Nr. 43786/04; Urt. vom 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Nr. 50435/99 (Ziff. 39). Vgl. auch Teil 1 unter D. III. 3. b) bb). 28 EGMR, Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00: „Turning to the circumstances of the present case, the Court notes that it is the applicant’s submission that he was allowed to live in the Netherlands pending the proceedings on his asylum application and his subsequent application for a residence permit for compelling reasons of a humanitarian nature, i.e. a total period of just over five years. However, the Court is of the view that this cannot be equated with lawful stay where the authorities explicitly grant an alien permission to settle in their country.“

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

aus diesem Zugeständnis heraus nicht verpflichtet werden, den dauerhaften Aufenthalt zu gestatten. Der Gerichtshof sieht hier in gewisser Hinsicht eine Parallele zu den originären Mißbrauchsfällen, in denen Ausländer unter Verstoß gegen nationale Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen einreisen und durch ihre Anwesenheit vollendete Tatsachen schaffen.29 Davon ausgehend dürften abgelehnte Asylbewerber, selbst wenn sie über viele Jahre in der Bundesrepublik geduldet wurden, regelmäßig keinen Anspruch auf Aufenthalt aus Art. 8 EMRK ableiten können. Eine Ausnahme wird insoweit allein für ihre in der Bundesrepublik geborenen Kinder gelten, denen ihr aufenthaltsrechtlicher Status nicht zurechenbar ist. Darüber hinaus dürfte, auch dies hat der Gerichtshof in der Rechtssache Useinov klargestellt, ein Aufenthaltsrecht nur unter außergewöhnlichen Umständen in Frage kommen.30

c) Zumutbarkeit einer Ausreise Ist ein Aufenthaltsrecht nicht bereits nach den voranstehend genannten Gründen ausgeschlossen, wird es entscheidend auf die Frage ankommen, ob dem Betroffenen bzw. seinen Familienangehörigen ein Leben im Ausland möglich und zumutbar ist. Im einzelnen sind hier unterschiedliche Konstellationen denkbar. Umstände, die gegen ein Leben im Ausland sprechen, können sich einmal aus den Lebensumständen im Herkunftsland eines Ausländers, etwa einer dort drohenden Verfolgung, ergeben. In diesem Fall wird allerdings wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses vielfach bereits eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen sein. Zu denken ist aber auch daran, daß sich eine Unzumutbarkeit der Ausreise auch daraus ergeben kann, daß ein Ausländer seit seiner Geburt oder zumindest seit seinen frühen Lebensjahren in der Bundesrepublik lebt und mit Ausnahme seiner Staatsangehörigkeit über keinerlei Bindungen an das Herkunftsland der Eltern verfügt. Unter diesen Umständen hat die Rechtsprechung selbst bei schweren strafrechtlichen Verfehlungen in einer Ausweisung eine Verletzung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens gesehen.31 Daraus folgt, daß jedenfalls den in der Bundesrepublik 29

EGMR, Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00: „The Court is aware that, where Contracting States tolerate the presence of aliens in their territory while the latter await a decision on an application for a residence permit, this enables the persons concerned to take part in the host country’s society and to form relationships and to create a family there. However, as set out above, this does not entail that the authorities of the Contracting State involved are, as a result, under an obligation pursuant to Article 8 of the Convention to allow the alien concerned to settle in their country. In this context a parallel may be drawn with the situation where a person who, without complying with the regulations in force, confronts the authorities of a Contracting State with his or her presence in the country as a fait accompli.“ 30 EGMR, Entsch. vom 11.04.2006, Useinov ./. Niederlande, Nr. 61292/00: „Furthermore, the Court considers that the present case discloses no exceptional circumstances.“ 31 Vgl. zu den einzelnen Nachweisen in Teil 1 unter E. III. 2. j).

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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geborenen Kindern von langjährig geduldeten Ausländern gemäß Art. 8 EMRK ein Aufenthaltsrecht zum Schutz ihres Privatlebens zusteht, wenn sie nach den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls faktisch zu Inländern geworden sind. Im Einzelnen wird hier zu berücksichtigten sein, ob sie die deutsche Sprache beherrschen, hier ihre Schul- oder Berufsausbildung erhalten haben, inwieweit sie in die deutsche Gesellschaft integriert sind und ob sie noch über Kontakt zum Herkunftsland ihrer Eltern verfügen. Auch begangene Straftaten werden einem Aufenthaltsrecht unter diesen Voraussetzungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vielfach nicht entgegenstehen. Über die so aufenthaltsberechtigten Kinder hinaus wird sich das ihnen unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zustehende Aufenthaltsrecht zum Schutz des Familienlebens auch auf die Eltern übertragen lassen. Aufgrund der Verwurzelung der Kinder in der deutschen Gesellschaft wird sich ein nach Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben in zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik führen lassen.

IV. Zum Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis Steht fest, daß ein langjährig geduldeter Ausländer zum Schutz seines Privatoder Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Aufenthalt in der Bundesrepublik besitzt, ist nach der eingangs präzisierten Fragestellung weiter zu prüfen, ob dieser Anspruch bereits durch den faktischen, mit der Duldung ermöglichten Aufenthalt in der Bundesrepublik erfüllt ist oder ob es darüber hinaus erforderlich ist, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, die den Aufenthalt förmlich legalisiert. Nach ständiger, zuletzt auch durch die Große Kammer in der Rechtssache Sisojeva bestätigter Rechtsprechung des Gerichtshofs kann Art. 8 EMRK – jedenfalls im Grundsatz – lediglich einen Anspruch auf Aufenthalt, nicht aber auf einen bestimmten Aufenthaltstitel gewähren. Dies folgt daraus, daß Art. 8 EMRK nur insoweit aufenthaltsschützende Wirkung entfalten kann, wie dies zur Verwirklichung des allein geschützten Privat- und Familienlebens erforderlich ist. Regelmäßig genügt hier der Aufenthalt als solcher, um die Familieneinheit bzw. die sonstigen unter das Privatleben zu subsummierenden Bindungen nicht zu beeinträchtigen.32 Gleichwohl – und auch dies hat die Große Kammer in der Rechtssache Sisojeva bestätigt – hat der Gerichtshof die rechtlichen und praktischen Folgen eines einem Ausländer zugestandenen Aufenthaltstitels daraufhin zu überprüfen, ob sie eine freie, ungehinderte Verwirklichung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens ermöglichen.33 Damit greift die Große Kammer eine neu32

Vgl. zuletzt EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 91). EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 91): „Where the domestic legislation provides for several different types, the Court must analyse the legal and practical implications of issuing a particular permit. If it allows the holder to reside within the territory of the host country and to exercise freely there the right to respect for his or her private and family life, the granting of such a permit represents in principle a sufficient measure to meet the requirements of that provision.“ 33

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

ere Rechtsprechungsentwicklung auf, die der Gerichtshof in den Kammerurteilen Sisojeva, Shevanova, Kaftailova und Aristimuño Mendizabal begründet hat.34 Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, sind jedoch die genauen Anforderungen, die Art. 8 EMRK in diesem Zusammenhang stellt, nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechungsentwicklung nicht völlig absehbar.35 Die folgenden Ausführungen können daher nur eine Momentaufnahme darstellen.

1. Folgerungen aus dem Fall Sisojeva In der Rechtssache Sisojeva hatte der Gerichtshof durch ein Kammerurteil zunächst eine Verletzung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens angenommen, weil den Beschwerdeführern über viele Jahre hinweg eine Aufenthaltserlaubnis vorenthalten worden war und sie illegal in Lettland leben mußten. Die Beschwerdeführer waren zwar behördlicherseits zur Ausreise aufgefordert worden, jedoch wurden nie Abschiebemaßnahmen eingeleitet. Der Gerichtshof begründete die Beeinträchtigung des Privatlebens damit, daß die Beschwerdeführer über Jahre mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus leben mußten.36 Den Ausführungen der in zweiter Instanz angerufenen Großen Kammer, die das Verfahren letztendlich einstellte, weil die lettischen Behörden die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis angeboten hatten, läßt sich keine prinzipiell andere Auffassung entnehmen, auch wenn die Große Kammer insoweit Zweifel äußerte, ob unter den konkreten Umständen des Falls, insbesondere angesichts des Verhaltens der Beschwerdeführer, tatsächlich von einer übermäßigen Beeinträchtigung ausgegangen werden konnte.37 Unabhängig von den Zweifeln der Großen Kammer lassen sich allerdings auch aus dem Kammerurteil keine unmittelbaren Folgerungen für den aufenthaltsrechtlichen Status langjährig geduldeter Ausländer ableiten. Zwar läßt die Erteilung einer Duldung im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenhG die gesetzliche Ausreisepflicht des § 50 Abs. 1 AufenthG unberührt, so daß sich die Betroffenen wie die Beschwerdeführer im Fall Sisojeva rechtswidrig in der Bundesrepublik aufhalten. Es handelt sich aber im Unterschied zur dortigen Situation um ein rechtlich formalisiertes Verfahren, das eine zwangsweise Vollstreckung der Ausreisepflicht verbindlich aussetzt. Gegen den Widerruf der Duldung oder deren Nichtverlängerung stehen dem Betroffenen zudem Rechtsmittel zur Verfügung, mit denen unter anderem auch ein aus Art. 8 EMRK folgender Anspruch auf einen weiteren Verbleib in der Bundesrepublik geltend gemacht werden kann. Schon deshalb läßt sich die Duldung im Sinne von § 60a 34 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00; Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00; Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00; Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99. 35 Vgl. ausführlich die Ausführungen und Nachweise in Teil 1 unter F. I. 2. 36 Vgl. EGMR, Urt. vom 16.06.2005, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 105); zum Urteil vgl. ausführlich in Teil 1 unter F. I. 2. a). 37 Vgl. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 94).

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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AufenthG nicht mit einer rein faktischen Duldung gleichsetzen. Dies wurde auch durch den Gerichtshof in der Sache Yildiz anerkannt, die eine Duldung nach deutschem Aufenthaltsrecht betraf. Hier hatte der Gerichtshof eine gegen eine Ausweisung eingelegte Beschwerde für unbegründet erklärt, da der Beschwerdeführer nach erteilter Duldung nicht länger behaupten könne, Opfer einer Verletzung von Art. 8 EMRK zu sein. Nicht unproblematisch ist allerdings, daß mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz aus dem August 2007 das bislang in § 60a Abs. 5 S. 4 AufenthG vorgesehene Erfordernis weggefallen ist, eine geplante Abschiebung – stets – mindestens einen Monat im voraus anzukündigen. Insbesondere diese Regelung hatte den Gerichtshof nämlich veranlaßt, von einer Konventionskonformität der Duldung auszugehen, weil sie den Betroffenen vor einer gleichsam über Nacht erfolgenden Abschiebung schützte.38 Die geltende Regelung ist dem gegenüber deutlicher reduzierter. Sie sieht eine Ankündigung nur für den Fall des Widerrufs einer Duldung und auch hier nur bei einer zeitlich auf über ein Jahr befristeten Duldung vor. Was bedeutet dies nun für eine konventionsrechtliche Würdigung? Jedenfalls in den Fällen, in denen einem Ausländer eine über ein Jahr gültige Duldung erteilt worden ist, dürfte weiterhin von einer Vereinbarkeit des Duldungsstatus mit Art. 8 EMRK auszugehen sein. Einerseits hat der Betroffene die Möglichkeit, bei einem bevorstehenden Ablauf der Duldung rechtzeitig eine Verlängerung zu beantragen und gegebenenfalls entsprechende Rechtsmittel gegen eine Versagung einzulegen; andererseits wird er bei einem nicht absehbaren vorzeitigen Widerruf der Duldung durch eine hier fortbestehende Androhungsfrist geschützt. In den übrigen Fällen wird eine konventions- bzw. auch verfassungskonforme Auslegung von § 60a Abs. 5 AufenthG vorgeschlagen, nach der die Ausländerbehörden generell gehalten sein sollen, eine Vollstreckung der Ausreisepflicht rechtzeitig anzudrohen.39 Vorzugswürdig dürfte es demgegenüber sein, langjährig geduldeten Ausländern von vornherein eine auf deutlich über ein Jahr befristete Duldung zu erteilen. Auf diese Weise würde zugleich den aus dem Urteil in der Rechtssache Aristimuño Mendizabal folgenden Anforderungen Rechnung getragen.40 38

Vgl. EGMR, Entsch. vom 13.10.2005, Yildiz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 40932/ 02: „La Cour note en l’espèce que le requérant bénéficie d’une tolérance de séjour depuis février 2003. Il est vrai que ce titre ne supprime pas l’obligation pour celui-ci de quitter le territoire allemand, mais ne fait que suspendre l’exécution de la mesure d’expulsion […], si bien que les autorités allemandes peuvent, en principe, procéder à la reconduite à la frontière du requérant aussitôt que l’obstacle à l’éloignement ayant justifié l’octroi de la tolérance de séjour, c’est-à-dire le risque de suicide chez le requérant, ne se trouve plus établi. Cependant, du fait que le requérant est désormais toléré depuis plus de deux ans et demi, les autorités administratives seront tenues, en vertu de l’article 56 § 6 de la loi sur les étrangers et l’article 60a § 5 de la nouvelle loi sur le séjour d’étrangers respectivement, d’annoncer au requérant son éventuelle reconduite à la frontière que celui-ci pourra attaquer devant les juridictions administratives. Dans ces conditions, la Cour considère que l’exception d’irrecevabilité soulevée par le Gouvernement doit être accueillie.“ 39 In diesem Sinne etwa Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (43). 40 Dazu sogleich unter 3.

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

2. Folgerungen aus den Fällen Shevanova und Kaftailova Eine vorsichtige Erweiterung läßt sich den Kammerurteilen in den Rechtssachen Shevanova und Kaftailova entnehmen. Die entscheidende Kammer gelangte hier zur Feststellung einer Konventionsverletzung, weil sich die lettischen Behörden nach einer förmlichen Ausweisung der jeweiligen Beschwerdeführerinnen über mehrere Jahre geweigert hätten, eine neue Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und die Beschwerdeführerinnen somit trotz nie vollstreckter Ausreisepflicht in ständiger Unsicherheit ob ihres weiteren Schicksals leben mußten.41 Im Unterschied zum Fall Sisojeva war hier jedoch eine Vollstreckung der Ausweisung wegen Ablaufs einer gesetzlichen Vollstreckungsfrist ab einem gewissen Zeitpunkt ausgeschlossen. Der Kammer genügte dies jedoch nicht, um von einem Wegfall der Opfereigenschaft gemäß Art. 34 EMRK auszugehen. Vielmehr verlangte sie ausdrücklich die Anerkennung eines Aufenthaltsrechts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.42 Davon ausgehend wird der bloße Duldungsstatus im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG als nicht hinreichend qualifiziert werden müssen, da er zwar die Abschiebung aussetzt, aber gemäß § 60a Abs. 3 AufenthG die Ausreisepflicht eines Ausländers unberührt läßt. Damit wird staatlicherseits gerade kein Aufenthaltsrecht anerkannt. Im Lichte der Ausführungen der Großen Kammer in der Rechtssache Sisojeva erscheint jedoch mehr als zweifelhaft, ob der Gerichtshof insoweit an seiner Positionierung festhalten wird. So betonte die Große Kammer mit besonderem Nachdruck, daß ein Beschwerdeführer schon dann nicht mehr behaupten könne, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, wenn eine gegen ihn gerichtete aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht länger vollstreckbar sei und gegen den Versuch der nationalen Behörden, mit der Vollstreckung fortzufahren, Rechtsmittel eingelegt werden könnten.43 Mit dieser Formulierung zielt die Große Kammer ausweislich der zitierten Rechtsprechung auch auf die soeben dargestellte Entscheidung in der Rechtssache Yildiz, die eine Duldung nach deutschem Aufenthaltsrecht betraf.44 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsauffassung und angesichts der förmlichen Ausgestaltung des Duldungsstatus wird daher entgegen den Kammerurteilen in den Rechtssachen Shevanova und Kaftailova kein Anspruch auf Erteilung einer regulären Aufenthaltserlaubnis angenommen werden können.

41 Zu den Einzelheiten des Sachverhalts und zum Inhalt der Kammerurteile vgl. Teil 1 unter F. I. 2. b). 42 EGMR, Urt. vom 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00 (Ziff. 43 f.); Urt. vom 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00 (Ziff. 46 f.). 43 Vgl. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 93): „the Court has consistently held that an applicant cannot claim to be the ‚victim‘ of a deportation measure if the measure is not enforceable […]. It has adopted the same stance in cases where execution of the deportation order has been stayed indefinitely or otherwise deprived of legal effect and where any decision by the authorities to proceed with deportation can be appealed against before the relevant courts […].“ 44 EGMR, Entsch. vom 13.10.2005, Yildiz ./. Bundesrepublik Deutschland, Nr. 40932/02. Vgl. dazu auch Thym, InfAuslR 2007, 133 (134).

D. Folgerungen für langjährig geduldete Ausländer

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3. Folgerungen aus dem Fall Aristimuño Mendizabal In der Rechtssache Aristimuño Mendizabal hat der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt, weil die Beschwerdeführerin wegen der Vorenthaltung eines ihr gemeinschaftsrechtlich zustehenden Aufenthaltstitels gezwungen war, über einen Zeitraum von zehn Jahren mit jeweils nur für wenige Monate, teils nur für einige Wochen gültigen, aber stets verlängerten bzw. neu erteilten Aufenthaltstiteln zu leben. Die damit einhergehenden sozialen und materiellen Belastungen, etwa bei der Suche nach einer ihrer beruflichen Qualifikation entsprechenden Beschäftigung, hatten den Gerichtshof zunächst veranlaßt, von einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienleben auszugehen.45 Zugleich folgte daraus im Ergebnis eine Verletzung von Art. 8 EMRK, weil die Vorenthaltung des Freizügigkeitsstatus sowohl nach französischem Recht wie nach Gemeinschaftsrecht rechtswidrig war und es daher an einer gesetzlichen Grundlage für die Beeinträchtigung fehlte.46 Allerdings ist bei der Übertragung des Urteils auf andere Fallkonstellationen in zweifacher Hinsicht Vorsicht geboten. Zum einen handelte es um einen durch außergewöhnliche Umstände, namentlich die teils nur für wenige Wochen gültigen Aufenthaltstitel und die über 10 Jahre andauernde Beeinträchtigung, geprägten Sonderfall. Zum anderen mußte sich der Gerichtshof nicht mehr mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Beeinträchtigung auseinandersetzen, da es bereits an einer rechtlichen Grundlage für die Vorenthaltung des begehrten Aufenthaltstitels fehlte. Was nun den Duldungsstatus anbelangt, wird im Einzelnen zu differenzieren sein. Das Aufenthaltsgesetz sieht neben der ohnehin bestehenden Ausreisepflicht weitere aufenthaltsrechtliche Beschränkungen vor, die allerdings nicht obligatorisch sind. So berechtigt eine Duldung grundsätzlich nicht zur Ausübung einer Beschäftigung; diese kann aber nach Maßgabe von §§ 10, 11 BeschVerfV gestattet werden, wenn sich ein Ausländer seit mehr als einem Jahr erlaubt oder geduldet im Bundesgebiet aufgehalten hat. Weiterhin ist die Freizügigkeit eines geduldeten Ausländers gemäß § 61 AufenthG auf das Gebiet des jeweiligen Landes begrenzt; auch für diese Beschränkung sieht jedoch § 12 Abs. 5 AufenthG – wenn auch unter engen Voraussetzungen – Ausnahmen vor. Die gemäß § 61 Abs. 1 AufenthG mögliche Unterbringung in einer Ausreiseeinrichtung ist ohnehin nicht zwingend vorgeschrieben. Außerdem enthält § 60a Abs. 2 AufenthG keine Vorgaben für die Geltungsdauer einer Duldung. Um die Betroffenen vor allzu großen Belastungen zu bewahren, können die Ausländerbehörden gerade bei langzeitgeduldeten Ausländern auf eine entsprechend lange Geltungsdauer der Duldung zurückgreifen. Die Betroffenen erhalten so ein hinreichendes Maß an Planungs45 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 70 ff.). Zu den Einzelheiten vgl. Teil 1 unter F. I. 2. c). Im Übrigen zeigt dieses Urteil, daß sich komplementäre Verpflichtungen selbstverständlich auch aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens ergeben können, a. A. offenbar Thym, InfAuslR 2007, 133 (135). 46 EGMR, Urt. vom 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99 (Ziff. 79).

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

sicherheit und Voraussehbarkeit behördlichen Handelns. Die gesetzlichen Regelungen ermöglichen es mithin – zumindest in einer an Art. 8 EMRK orientierten Auslegung und Anwendung – die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Aufenthalt eines geduldeten Ausländers weitgehend an die für einen rechtmäßigen Aufenthalt geltenden anzunähern. Jedenfalls dann, wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft werden, dürfte auf der Basis der bisherigen Rechtsprechungsentwicklung regelmäßig noch von einer Vereinbarkeit des Duldungsstatus mit Art. 8 EMRK auszugehen sein. Daß sich die Bundesrepublik auf die Gewährung eines aufenthaltsrechtlichen Minimums beschränkt, wird durch das berechtigte Anliegen, selbst über die Einreise und den Aufenthalt eines Ausländers zu entscheiden, grundsätzlich gerechtfertigt sein. Allerdings wird es hier letztlich wie immer auch auf den Einzelfall ankommen. Die mit einem Duldungsstatus mittelbar verbundenen Belastungen und Benachteiligungen im Alltag können nicht verallgemeinernd antizipiert werden. Im Einzelfall erscheint es damit nicht ausgeschlossen, daß diese Beeinträchtigungen die Schwelle der Unverhältnismäßigkeit übersteigen.

V. Ergebnis Nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechungsentwicklung läßt sich eine prinzipielle Unvereinbarkeit des Duldungsstatus gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG mit der aus Art. 8 EMRK folgenden komplementären Verpflichtung zur Gewährung eines die ungehinderte, effektive Verwirklichung des Privat- und Familienlebens ermöglichenden Aufenthaltsrechts nicht feststellen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die zuständigen Ausländerbehörden die gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen und die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen weitgehend an den Status eines rechtmäßig in der Bundesrepublik lebenden Ausländers annähern. Unter diesen Umständen kann es allenfalls im Einzelfall, das heißt bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte, zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK kommen. Daraus folgt zugleich, daß auch einem langjährig geduldeten und aus Art. 8 EMRK grundsätzlich aufenthaltsberechtigten Ausländer zum Schutz seines Privat- und Familienlebens regelmäßig kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zusteht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das durch § 25 Abs. 5 AufenthG vorgesehene humanitäre Bleiberecht keinen Beitrag zur Lösung des Problems sogenannter Kettenduldungen leisten kann. Jedenfalls den in der Bundesrepublik geborenen Kindern von abgelehnten Asylbewerbern wird aus dem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Privatlebens ein Anspruch auf Aufenthalt zu stehen, wenn sie faktisch zu Inländern geworden sind. Gleiches gilt dann vielfach – gleichsam als Annex – für deren Eltern, die zur Wahrung ihres Rechts auf Achtung des Familienlebens ein Aufenthaltsrecht aus Art. 8 EMRK haben. Damit sind in dieser Fallkonstellation zumindest die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 AufenthG erfüllt. Es steht somit im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörden, über die Er-

E. Prozessuale Folgerungen

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teilung einer Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden. Hierbei werden sie insbesondere die gesetzliche Funktion der Duldung zu berücksichtigen haben, die nicht zur dauerhaften Gestattung des Aufenthalts dienen soll. Wenn einem langjährig geduldeten Ausländer aber aus Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Aufenthalt zusteht, wird damit zumindest aus der Systematik des Aufenthaltsgesetzes die Verpflichtung folgen, dieses Aufenthaltsrecht durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die zum rechtmäßigen und grundsätzlich auf Dauer angelegten Aufenthalt berechtigt, anzuerkennen.

E. Prozessuale Folgerungen E. Prozessuale Folgerungen

Schließlich gilt es, die sich aus einer Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens ergebenden verfahrensrechtlichen Folgen zu beachten.

I. Folgerungen für die Widerspruchs- und Klagebefugnis Wird ein Ausländer durch eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens beeinträchtigt, steht ihm gemäß Art. 13 EMRK ein Recht auf eine wirksame Beschwerde zu.1 Auch wenn daraus kein Anspruch auf eine Entscheidung durch ein Gericht oder gar auf eine zweite Instanz folgt, so ist doch erforderlich, daß eine unabhängige und unparteiische Stelle angerufen werden kann.2 Der nach deutschem Verwaltungsprozeßrecht bestehende Rechtsschutz gegen aufenthaltsrechtliche Maßnahmen geht – jedenfalls im Grundsatz – mit dem Widerspruchsverfahren und dem sich anschließenden gerichtlichen Instanzenzug deutlich über das durch Art. 13 EMRK geforderte Maß hinaus. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß nicht allein der Adressat einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme, etwa einer Ausweisungsverfügung oder eines Versagungsbescheids über eine Aufenthaltserlaubnis, in seinem durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betroffen ist und entsprechend ein Recht auf eine wirksame Beschwerde hat. Gleiches gilt auch für dessen Angehörige, soweit sie mit ihm durch ein im Sinne von Art. 8 EMRK geschütztes Familienleben verbunden sind. Dies folgt daraus, daß eine Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK nicht schon im Entzug oder der Vorenthaltung eines Aufenthaltsrechts liegt, sondern in der dadurch bedingten faktischen Trennung der Familienangehörigen, die beide Seiten gleichermaßen 1

Vgl. dazu ausführlich in Teil 1 unter F. III. EGMR, Urt. vom 25.03.1983, Silver u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 61 (Ziff. 113 ff.); Urt. vom 12.05.2000, Khan ./. Vereinigtes Königreich, RJD 2000-V, 279 (Ziff. 44 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 173; Meyer-Ladewig, HKEMRK, Art. 13 Rn. 15. 2

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

betrifft.3 Hinsichtlich des durch Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens wird hier auf der Grundlage der Straßburger Rechtsprechung zu differenzieren sein. Soweit eine einer familiären Verbindung vergleichbare Beziehung besteht, die jedoch mangels eines für den Familienbegriff konstitutiven Merkmals lediglich in den Schutzbereich des Privatlebens fällt, sind die Überlegungen zum Schutzbereich des Familienlebens entsprechend übertragbar. Praktische Bedeutung hat dies insbesondere für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft.4 Auch hier wird dem Partner eines von einer Ausweisung oder einer Versagung eines Aufenthaltsrechts betroffenen Ausländers ein Beschwerderecht nach Art. 13 EMRK zustehen. Soweit allerdings der Schutzbereich des Privatlebens allein wegen der Verwurzelung eines Ausländers in der Bundesrepublik betroffen ist, besteht der Schutzzweck nicht in dem Erhalt einzelner Beziehungen zu anderen Menschen, sondern in der Wahrung des sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Umfelds als Gesamtheit, so daß neben dem Adressaten einer Ausweisung keine weiteren in ihren Rechten aus Art. 8 EMRK betroffenen Personen individualisierbar sein dürften.5 Für das gegen eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme gerichtete Widerspruchsund Klageverfahren bedeutet dies, daß nicht nur dem Adressaten des Verwaltungsakts, sondern auch den weiteren in ihren Rechten aus Art. 8 EMRK beeinträchtigten Personen – aus eigenem Recht – eine Widerspruchs- und Klagebefugnis einzuräumen ist. Dies entspricht bereits weitgehend der bisherigen Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte, nach der auch die durch eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme in ihrem Recht aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG beeinträchtigten Familienangehörigen widerspruchs- und klagebefugt sind.6 Mitunter hat dies zur Konsequenz, daß ein nicht gegenüber den belasteten Familienangehörigen bekanntgegebener Verwaltungsakt trotz eingetretener Bestandskraft gegenüber dem Adressaten für dessen Ehefrau oder Kinder nach wie vor anfechtbar ist.7 Soweit allerdings der durch Art. 8 EMRK geschützte Personenkreis über den des durch Art. 6 GG geschützten hinausgeht, besteht weiterer Anpassungsbedarf, um den aus Art. 13 EMRK folgenden Verpflichtungen zu genügen. Namentlich ist hier insbe3

Vgl. zur Aufenthaltsbeendigung etwa EGMR, Urt. vom 21.06.1988, Berrehab ./. Niederlande, Serie A 138 (Ziff. 1, 23); Urt. vom 26.03.1992, Beldjoudi ./. Frankreich, Serie A 234 (Ziff. 67); Urt. vom 20.06.2002, Al-Nashif ./. Bulgarien, Nr. 50963/99 (Ziff. 115); Urt. vom 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (Ziff. 36); Urt. vom 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99 (Ziff. 40); zum Familiennachzug etwa EGMR, Urt. vom 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 94 (Ziff. 83); Urt. vom 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, RJD 1996-I, 159 (Ziff. 43); zu weiteren Nachweisen siehe Teil 1 unter D. II. 1. b) bzw. D. II. 2. c). 4 Vgl. EKMR, Entsch. 03.05.1983, X. und Y. ./. Vereinigtes Königreich, DR 32, 220 (221). 5 Vgl. auch die Ausführungen in Teil 1 unter D. II. 1. b). 6 Vgl. BVerwGE 42, 141 (142); 102, 12 (15); VGH Mannheim, InfAuslR 1999, 419 (419); OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 791 (791); OVG Berlin, Urt. vom 16.12.2003, Az. 8 B 26.02, Juris; VG Ansbach, InfAuslR 1998, 497 (498); Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AufenthG Rn. 53. 7 Vgl. BVerwGE 102, 12 (15).

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sondere an die nichteheliche Lebensgemeinschaft, aber auch im Einzelfall an Angehörige der Großfamilie zu denken. Im einzelnen sei an dieser Stelle auf die Untersuchung zum Schutzbereich im ersten Teil dieser Arbeit verwiesen.8 Da nun Art. 8 EMRK vermittelt über eine verfassungsrechtliche Pflicht zur konventionskonformen Auslegung einfachen Gesetzesrechts auf die Auslegung des Aufenthaltsgesetzes einwirkt, bietet es sich zur Begründung einer Widerspruchs- und Klagebefugnis an, die jeweils maßgeblichen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, soweit sie eine Berücksichtigung familiärer und sonstiger Bindungen vorsehen oder im Rahmen einer Ermessensentscheidung erlauben, im Lichte von Art. 8 EMRK als drittschützend auszulegen.

II. Folgerungen für den Rechtmäßigkeitszeitpunkt? Ob sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 8 EMRK auch Folgerungen für den durch die Verwaltungsgerichte heranzuziehenden Rechtmäßigkeitszeitpunkt bei der Beurteilung einer aufenthaltsrechtlichen Maßnahme ergeben, wird unterschiedlich beurteilt. In der Rechtsprechung ist diese Annahme weit verbreitet. So haben Verwaltungsgerichte in den letzten Jahren in zunehmendem Maße bei der Überprüfung von Ausweisungsverfügungen einen doppelten Rechtmäßigkeitszeitpunkt herangezogen.9 Danach sollte sich die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung nach allgemeinen Regeln grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, was jedoch die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK anbelangt nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts richten.10 Auf diese Weise sollten auch nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens eintretende Umstände in die gerichtliche Würdigung einbezogen werden. Zur Begründung wurde dabei auf die Erkenntnis verwiesen, daß auch der Straßburger Gerichtshof im Rahmen seiner Prüfung nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung, sondern auf den Zeitpunkt ihrer Rechtskraft, mithin auf den Zeitpunkt des letztinstanzlichen Urteils abstellt.11 Auch das Bundesverwaltungsgericht scheint dies nun ähnlich zu sehen und hat in einem Grundsatzurteil aus dem November 2007 seine generelle Rechtsprechung zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der Überprüfung von Ausweisungen geändert. Mit Blick auf die bereits seit längerem bekannte Rechtsprechung des EuGH zur Ausweisung im Freizügig8

Vgl. Teil 1 unter C. I. und II. So auch die Beobachtung von Discher, in: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG Rn. 900. 10 So etwa VGH Mannheim, InfAuslR 2004, 189 (193); BayVGH, Beschluß vom 23.02. 2005, Az. 24 ZB 04.2197, Juris; Urt. vom 15.03.2005, Az. 24 B 04.2005, Juris (Leitsatz in NVwZ-RR 2007, 63); VGH Mannheim, Urt. vom 16.03.2005, Az. 11 S 2599/04, Juris; BayVGH, Urt. vom 03.05.2005, Az. 24 B 04.2037, Juris; VG Saarland, Urt. vom 18.01.2006, Az. 5 K 62/04, Juris; VG Ansbach, Urt. vom 14.02.2006, Az. AN 19 K 05.02919, Juris; VG München, Urt. vom 27.04.2006, Az. M 10 K 05.2168, Juris; VG Freiburg, Urt. vom 28.09.2006, Az. 3 K 2689/04, Juris; a. A. OVG Lüneburg, NVwZ 2005, 968 (968). 11 Vgl. dazu ausführlich in Teil 1 unter G. 9

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Teil 2: Folgerungen für das deutsche Aufenthaltsrecht

keitsrecht, mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedeutung der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Ausweisungsrecht sowie auch mit Blick auf die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zu Art. 8 EMRK soll nun für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sein.12 Soweit sich das Bundesverwaltungsgericht sowie die vorausgegangene Rechtsprechung der unteren Instanzen in diesem Zusammenhang auf Art. 8 EMRK stützen, dürfte darin allerdings eine Überinterpretation der Straßburger Rechtsprechung liegen. Der Gerichtshof verlangt zunächst nicht mehr, als daß eine Aufenthaltsbeendigung im Ergebnis nicht gegen das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstößt. Insofern ist auch die grundsätzliche Festlegung des Rechtmäßigkeitszeitpunkts auf die Rechtskraft der nationalen Entscheidung für die durch den Gerichtshof vorzunehmende Prüfung sinnvoll gewählt, weil sich erst nach der letztinstanzlichen Entscheidung über die Gewichtung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung und der persönlichen Interessen des Betroffenen an der Fortführung seines Privat- und Familienlebens im Aufenthaltsstaat abschließend beurteilen läßt, ob die Bedeutung von Art. 8 EMRK hinreichend berücksichtigt wurde. Auch würde es einer effektiven Verwirklichung von Art. 8 EMRK widersprechen, wenn nach Erlaß der ursprünglichen Ausweisungsverfügung eintretende Umstände, die im Lichte von Art. 8 EMRK zu einer anderen Entscheidung führen, nicht mehr berücksichtigt werden könnten und ein Ausländer nach Rechtskraft der Ausweisung den Konventionsstaat verlassen müßte. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß ein gegen eine Ausweisung angerufenes Verwaltungsgericht derartige, nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens eintretende Umstände zwingend berücksichtigen muß. Nach Art. 1 EMRK ist es in erster Linie Aufgabe der Konventionsstaaten selbst, die durch die Konvention gewährten Rechte und Freiheiten innerstaatlich sicherzustellen. Der Gerichtshof ist gemäß Art. 19 EMRK lediglich auf eine subsidiäre Kontrolle dergestalt beschränkt, die Einhaltung dieser Verpflichtung zu überwachen. Aus dieser Aufgabenverteilung ergibt sich ein Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten. Wie sie innerstaatlich einen hinreichenden Schutz des durch Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sicherstellen, ist aus konventionsrechtlicher Perspektive solange unerheblich, wie im Ergebnis keine Verletzung von Art. 8 EMRK erfolgt.13 Das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht trägt nun der Mög12

BVerwG, NVwZ 2007, 434 ff. EGMR, Urt. vom 15.01.2007, Sisojeva u. a. ./. Lettland, Nr. 60654/00 (Ziff. 90): „The Court further reiterates that the machinery for the protection of fundamental rights established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights. The Convention does not lay down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of the Convention. The choice as to the most appro13

E. Prozessuale Folgerungen

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lichkeit, daß nach Abschluß eines Verwaltungsverfahrens neue Umstände eintreten können, durchaus Rechnung. So kann der Betroffene gemäß § 51 VwVfG das Wiederaufgreifen des Verfahrens und nach § 49 VwVfG den Widerruf eines Verwaltungsakts beantragen, falls nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens eintretende Umstände eine andere Sachentscheidung erfordern. Auch kann die Behörde unter diesen Umständen von Amts wegen tätigwerden. Für eine Modifizierung des Rechtmäßigkeitszeitpunkts im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Prüfung besteht damit aus konventionsrechtlicher Sicht kein Bedürfnis. Eine gewisse Bestätigung erfährt diese These zudem durch die Ausführungen des Gerichtshofs in dem erst jüngst in zweiter Instanz durch die Große Kammer entschiedenen Fall Maslov. Hier hatte der Gerichtshof eine vorsichtige Erweiterung seiner bisherigen Rechtsprechung vorgenommen und auch nach Rechtskraft der Ausweisungsentscheidung, aber vor Vollstreckung der Ausreisepflicht eintretende Umstände bei der Prüfung der Konventionskonformität der Aufenthaltsbeendigung herangezogen. Zugleich hatte er die Konventionsstaaten in der Pflicht gesehen, ihr Rechtssystem so auszugestalten, daß auch nach Rechtskraft der Ausweisung eintretende Umstände berücksichtigt werden und zu einem Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen führen können.14 Für die Art und Weise der Ausgestaltung machte der Gerichtshof den Konventionsstaaten indes keine Vorgaben. Mehr noch ließ er die nach österreichischem Recht bestehende Möglichkeit der Aufhebung einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung bei nachträglicher Änderung der sie tragenden Gründe entweder auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen durch die Behörde genügen.15

priate means of achieving this is in principle a matter for the domestic authorities, who are in continuous contact with the vital forces of their countries and are better placed to assess the possibilities and resources afforded by their respective domestic legal systems […].“ 14 EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 93). 15 EGMR, Urt. vom 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03 (Ziff. 59, 94).

Zusammenfassung in Thesen Die vorliegende Arbeit hat den Schutz des Aufenthalts durch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK zum Gegenstand. Ihr Ziel ist es, die umfangreiche Kasuistik der Straßburger Rechtsprechungsinstanzen aufzuarbeiten, eine für Wissenschaft und Praxis möglichst hilfreiche Systematik zu entwerfen und die Vereinbarkeit des deutschen Aufenthaltsrechts mit den konventionsrechtlichen Verpflichtungen zu überprüfen. Hinsichtlich der Vereinbarkeit des deutschen Aufenthaltsrechts liegt dieser Arbeit ein problembezogener Ansatz zugrunde, der gezielt die wesentlichen Fragestellungen herausgreift, dabei aber naturgemäß keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Die Straßburger Rechtsprechungsorgane – der Gerichtshof und bis zu ihrer Auflösung die Kommission – haben bereits wenige Jahre nach Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention begonnen, aus Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Aufenthalt abzuleiten. Dieser wurde zunächst auf das Recht auf Achtung des Familienlebens gestützt; später kam das Recht auf Achtung des Privatlebens hinzu. Art. 8 EMRK kann sowohl aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entgegenstehen, als auch den Nachzug weiterer Familienangehöriger gebieten. Mit seiner aufenthaltsschützenden Wirkung ragt Art. 8 EMRK aus dem Kreis der übrigen Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention heraus. Weder der Konventionstext selbst noch die nachträglich entstandenen Zusatzprotokolle gewähren Ausländern ein Recht auf Aufenthalt in einem Konventionsstaat. Entstehungsgeschichtlich läßt sich für einen aus Art. 8 EMRK folgenden Anspruch auf Aufenthalt keine unmittelbare Stütze finden. Ein entsprechender Wille der Verfasser ist nicht feststellbar. Wohl aber lassen sich den Materialien deutliche Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß der mit Art. 8 EMRK bezweckte Schutz des Familienlebens gerade der Familie als Gemeinschaft zugute kommen soll. Davon ausgehend ist eine taugliche Grundlage für die durch die Rechtsprechung gewählte Auslegung gefunden, wonach aufenthaltsrechtliche Maßnahmen eine Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK darstellen, wenn sie die Familieneinheit verletzen. Im übrigen war den Verfassern die Interpretationsoffenheit und Interpretationsbedürftigkeit von Art. 8 EMRK bewußt. Die von der Rechtsprechung entwickelte Auslegung bewegt sich in den zulässigen Bahnen methodisch vertretbarer Rechtsfortbildung. Der Schutzbereich des Familienlebens erfordert eine zweistufige Prüfung. Er setzt zunächst eine bestehende Familie voraus und verlangt darüber hinaus eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung zwischen den Familienmitgliedern. Der Familienbegriff ist weit und geht über jenen des Art. 6 GG hinaus. Er umfaßt die Ver-

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wandtschaft kraft biologischer Abstammung ohne eine Begrenzung auf die aus Eltern und Kindern bestehende Kernfamilie, die Verwandtschaft kraft Rechtsakts, also insbesondere die Ehe oder die Adoption und schließlich analoge Personenkonstellationen wie die nichteheliche Lebensgemeinschaft. Ob eine tatsächlich gelebte, enge Beziehung zwischen den Familienmitgliedern besteht, hängt von einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls ab. Als Grundregel gilt, daß die Anforderungen an den Nachweis eines Familienlebens strenger werden, je weiter sich die familiäre Beziehung von der Kernfamilie entfernt. Im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern besteht ipso iure ein Familienleben. Auch im Verhältnis zwischen Ehegatten oder Lebenspartnern wird ein Familienleben regelmäßig vermutet. Dagegen kommt eine als Familienleben zu qualifizierende Beziehung zu volljährigen Kindern und weiteren Angehörigen der Großfamilie nur bei einer über das normale familiäre Maß hinausgehenden Abhängigkeit in Betracht. Auch ein noch nicht vollständig begründetes, wohl aber beabsichtigtes Familienleben fällt in den Schutzbereich. Der Schutzbereich des Privatlebens entzieht sich einer abschließenden Definition. Er reicht von der Intimsphäre des Einzelnen über die seelische und körperliche Integrität bis hin zu den Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umwelt im allgemeinen. Im aufenthaltsrechtlichen Kontext hat er im wesentlichen eine komplementäre Funktion. Besondere Bedeutung erlangt er im Zusammenhang mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber fest integrierten Ausländern, insbesondere sogenannten Einwanderern der zweiten Generation. Aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die zu einer Trennung der Familie oder, soweit es den Schutzbereich des Privatlebens betrifft, zu einer Trennung vom sonstigen Lebensumfeld führen, stellen eine Beeinträchtigung des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar. Im einzelnen differenziert die Rechtsprechung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen. Eine negative Verpflichtung verlangt das Unterlassen staatlicher Maßnahmen, die zu einer Beeinträchtigung des Privat- und Familienlebens führen. Erfolgt eine Beeinträchtigung gleichwohl, liegt ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK vor. Eine positive Verpflichtung verlangt ein staatliches Handeln gerade zum Schutz des Privat- und Familienlebens. Ein Unterlassen, das zu einer Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter führt, unterliegt jedoch nicht der Schrankenregelung aus Art. 8 Abs. 2 EMRK. Statt dessen ist eine Gesamtabwägung zur Bestimmung der Reichweite einer positiven Verpflichtung vorzunehmen. Für die Abgrenzung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen gilt im Grundsatz, daß aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die eine bestehende Familieneinheit bzw. ein etabliertes Privatleben beeinträchtigen, als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gewertet werden, während Fälle, in denen eine Familieneinheit erst durch den Nachzug von Familienangehörigen hergestellt werden soll, die Frage nach einer positiven Verpflichtung

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zur Gestattung des Aufenthalts aufwerfen. Im einzelnen ist zu differenzieren. Ist die Familieneinheit faktisch bereits hergestellt, erfolgt dennoch eine Gleichstellung mit den originären Nachzugsfällen, wenn der Aufenthalt des Betroffenen von Anfang an rechtswidrig war oder der jeweilige Konventionsstaat noch nicht endgültig über die Gestattung eines auf Dauer angelegten Aufenthalts entschieden hat. Auswirkungen des je nach Qualifizierung der Verpflichtung unterschiedlichen Prüfungsprogramms auf die Erfolgsaussichten einer Beschwerde sind nicht feststellbar. Die im Fall einer positiven Verpflichtung in die Gesamtabwägung einzustellenden Aspekte entsprechen sinngemäß den Kriterien, die auch im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant sind. Da sich zudem die von der Rechtsprechung als Anwendungsfälle einer positiven Verpflichtung ausgemachten Konstellationen dogmatisch auch als Eingriffskonstellationen begreifen lassen, sollte die Differenzierung zwischen positiven und negativen Verpflichtungen hier aufgegeben werden. Die Prüfung der Grundrechtsschranken gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK reduziert sich aufgrund der thematischen Weite der einzelnen Eingriffsziele und dem den Konventionsstaaten zugebilligten Beurteilungsspielraum im wesentlichen auf eine Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zu den im Zusammenhang mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen relevanten Kriterien gehören (1) die Natur und Schwere einer begangenen Straftat, (2) die Dauer des Aufenthalts, (3) die seit Begehung des Delikts vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers währenddessen, (4) die Staatsangehörigkeit der Betroffenen, (5) die familiäre Situation des Ausländers, insbesondere die Dauer seiner Ehe und andere Faktoren, die auf ein tatsächliches und echtes Familienleben schließen lassen, (6) eine eventuell vorhandene Kenntnis des Ehepartners von der Straffälligkeit zum Zeitpunkt der Eheschließung, (7) gemeinsame Kinder und deren Lebensalter, (8) das Ausmaß der Schwierigkeiten, mit denen der Ehepartner im Herkunftsland des Ausgewiesenen konfrontiert wäre, (9) das Wohlergehen der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen diese im Herkunftsland des ausgewiesenen Elternteils ausgesetzt wären und (10) die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausgewiesenen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland. Neben einem aus Art. 8 EMRK primär abgeleiteten Anspruch auf Aufenthalt sind sogenannte komplementäre Verpflichtungen zu beachten. Diese ergeben sich teils aus akzessorischen Grundrechten, wie dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK oder dem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK, teils aus Art. 8 EMRK selbst. Hier sind zunächst verfahrensrechtliche Garantien angesprochen, die eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens bereits im Vorfeld verhindern sollen oder zur Folgenbeseitigung verpflichten. In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof zudem unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des Grundrechtsschutzes qualitative Mindeststandards für Art und

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Umfang eines wegen Art. 8 EMRK zu gewährenden Aufenthaltsrechts entwickelt. Hier steht die Rechtsprechungsentwicklung jedoch erst am Anfang. Neben der völkervertragsrechtlichen Bindung, die Art. 8 EMRK für die Bundesrepublik entfaltet, wirkt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auf vielfältige Weise auf das innerstaatliche Recht ein. Neben seiner Geltung im Range eines einfachen Bundesgesetzes, die aus dem Zustimmungsgesetz zur Konvention abgeleitet wird, im einzelnen aber zu schwierigen Rangfragen im Verhältnis zu anderem Bundesrecht führt, folgt nach der hier vertretenen Ansicht aus einer implizit dem Grundgesetz zu entnehmenden Verpflichtung aller Staatsgewalt, die völkervertragsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik einzuhalten, unter anderem auch die Verpflichtung von Behörden und Gerichten, einfaches Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung im Lichte von Art. 8 EMRK zu interpretieren und anzuwenden. Schließlich wirkt Art. 8 EMRK als Gemeinschaftsgrundrecht über die Grundsätze der unmittelbaren und vorrangigen Anwendung von Gemeinschaftsrecht auf das deutsche Recht ein. Unter Berücksichtigung dieser Einwirkungsmöglichkeiten von Art. 8 EMRK wird das deutsche Aufenthaltsrecht den konventionsrechtlichen Verpflichtungen im Ergebnis gerecht. Das zunächst einer Untersuchung unterzogene Ausweisungsrecht erlaubt, soweit es die Ermessensausweisung und die Ausweisung im Regelfall anbelangt, eine Berücksichtung von Art. 8 EMRK als Ausweisungsschutz im Rahmen der Ermessensausübung bzw. der Prüfung eines von der Regel abweichenden besonderen Härtefalls. Allein die zwingende Ausweisung gemäß § 53 AufenthG setzt einer Berücksichtigung von Art. 8 EMRK Grenzen. Dennoch ist eine Kollision mit den konventionsrechtlichen Verpflichtungen kaum denkbar, da insbesondere aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen wenig Spielraum für eine unmodifizierte Anwendung von § 53 AufenthG verbleibt. Vielfach hat der Gesetzgeber diese Einschränkungen bereits umgesetzt, teilweise besteht Handlungsbedarf. So geht bis zu einer Umsetzung Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/ EG der zwingenden Ausweisung vor. Soweit im Einzelfall kein besonderer Ausweisungsschutz greift, können verbleibende Härten über eine Befristung der Ausweisungswirkungen und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG aufgefangen werden. Eine gegenüber § 53 AufenthG vorrangige Anwendung von Art. 8 EMRK ist weder mit einer übergesetzlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung noch einem einfachgesetzlichen Anwendungsvorrang der Konvention vor dem Aufenthaltsgesetz begründbar. Letzteres wäre allein mit einer konventionskonformen Auslegung der Vorrangklausel des § 1 Abs. 1 S. 5 AufenthG zu rechtfertigen, für die aufgrund der gesetzesimmanent zur Verfügung stehenden Lösungsmöglichkeiten keine Veranlassung besteht. Die Regelungen über den Familiennachzug werden den konventionsrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Grundsatz gerecht. Kollisionspotential besteht jedoch hinsichtlich der nichtehelichen Lebens-

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gemeinschaft, sowie in Ausnahmefällen beim Familiennachzug zu Flüchtlingen, beim Elternnachzug, sowie aufgrund der jüngsten Verschärfungen des Aufenthaltsgesetzes beim Ehegattennachzug. Ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK ist jedoch vermeidbar, wenn bei konventionskonformer Auslegung alle Möglichkeiten des Aufenthaltsgesetzes zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschöpft werden. Für die nichteheliche Lebensgemeinschaft bietet sich unabhängig von der geschlechtlichen Orientierung der Partner ein Rückgriff auf § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG an. Zugleich wird damit, soweit ein nichtehelicher Lebenspartner eines Unionsbürgers betroffen ist, den Anforderungen von Art. 3 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG Rechnung getragen. In den übrigen Fällen kann zur Aufnahme aus dem Ausland eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 22 AufenthG bzw., falls sich der Betroffene bereits in der Bundesrepublik aufhält, gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt werden. Auch die Familienzusammenführung zwischen einem in Mehrehe lebenden Ehegatten und seinem in der Bundesrepublik lebenden Kind ist bei (gemeinschafts-)grundrechtskonformer Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG nicht ausgeschlossen. Entgegen einer vielfach in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenden Auffassung läßt sich aus einigen neueren Urteilen des Gerichtshofs zu Art und Umfang eines wegen Art. 8 EMRK zu erteilenden Aufenthaltsrechts keine Unvereinbarkeit der weit verbreiteten Praxis sogenannter Kettenduldungen ableiten. Langjährig geduldete Ausländer können zwar unter engen Voraussetzungen ein aus Art. 8 EMRK folgendes Aufenthaltsrecht erwerben, jedoch steht dessen Verwirklichung der Duldungsstatus gemäß § 60a AufenthG jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechungsentwicklung nicht entgegen. Eine andere Bewertung dürfte nur in besonderen Härtefällen angezeigt sein. Unabhängig von konventionsrechtlichen Verpflichtungen widerspricht eine langjährige Duldung jedoch der ratio von § 60a Abs. 2 AufenthG, so daß die Möglichkeiten zur Erteilung eines humanitären Aufenthaltsrechts, insbesondere nach § 25 Abs. 5 AufenthG, auszuschöpfen sind. In verfahrensrechtlicher Hinsicht folgt aus Art. 8 EMRK in Verbindung mit dem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK, daß die Widerspruchs- und Klagebefugnis über den Adressaten des jeweiligen Verwaltungsakts hinaus auf die ebenfalls in ihrem Recht aus Art. 8 EMRK beeinträchtigten Angehörigen zu erstrecken ist. Dies folgt daraus, daß eine Beeinträchtigung von Art. 8 EMRK nicht schon im Entzug oder der Vorenthaltung eines Aufenthaltsrechts liegt, sondern in der dadurch bedingten faktischen Trennung der Familienangehörigen, die beide Seiten gleichermaßen betrifft. Soweit sich schon aus Art. 6 GG eine entsprechende Rechtsposition der Angehörigen ergibt, fordert Art. 8 EMRK nicht mehr, als nach gegenwärtiger Rechtslage bereits anerkannt wird. Soweit der Schutzbereich von Art. 8 EMRK über den des Art. 6 GG hinausgeht, besteht weiterer Anpassungsbedarf. Zu favorisieren ist eine konventionskonforme Auslegung der jeweils streitgegenständlichen Rechtsnormen als drittschützend.

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Art. 8 EMRK verlangt schließlich nicht, daß der Rechtmäßigkeitspunkt für die gerichtliche Überprüfung einer Ausweisungsverfügung – soweit es die Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK betrifft – auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verlagert wird. Sofern in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung eine entsprechende Tendenz feststellbar ist, beruht sie auf einer Fehlinterpretation der Straßburger Rechtsprechung. In Anbetracht des Gestaltungsspielraums, der den Konventionsstaaten bei der innerstaatlichen Gewährleistung der Konventionsgarantien zusteht, reichen die verwaltungsverfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Berücksichtigung nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens eintretender Umstände aus.

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Sachverzeichnis Abhängigkeitsverhältnis 70 f., 76 ff., 80, 84, 85 ff., 305, 321, 323, 327 Abschiebehaft 24 Abschiebung 24, 30 f., 34 f., 35 ff., 83, 96 f., 98, 115, 180 ff., 183 f., 187, 188, 200, 216, 236, 270 ff., 273 f., 275, 283 ff., 287, 288, 339, 343, 344, 345, 347, 352 f., 354, 361 Abschiebungshindernis 35 ff., 83, 216, 236, 267, 270 ff., 273 f., 275 f., 289, 313, 315, 316, 337, 339, 343, 344, 345, 350 Abwägung siehe Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Abwehrrecht 44, 94, 95 ff., 110, 209, 217 Adoption siehe Eltern-Kind-Beziehung Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 40 f., 43 f., 48 f. Angemessenheit 149, 151 ff. Anhörungsrecht 34, 175 Antragserfordernis 269 f., 279 ff., 289 Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts 234 Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 207, 233, 240, 243, 244, 255, 263, 291, 313 Arbeitnehmerfreizügigkeit 207, 241, 246 Assoziierungsabkommen EWG/Türkei 139, 192, 208, 243 ff., 246, 249 Asyl 118, 121, 207 f., 211, 255, 256, 266, 274, 342, 346 aufenthaltsbeendende Maßnahmen 22, 24, 26 ff., 28 ff., 31 ff., 95 ff., 211 f., 217, 235 ff. Aufenthaltserlaubnis/-titel – § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG 329 ff. – § 22 AufenthG 335 ff., 341 – § 25 Abs. 3 AufenthG 273, 275, 277, 313 ff., 344 – § 25 Abs. 5 AufenthG 273, 275 ff., 283 ff., 290, 313 ff., 339 ff., 344, 345, 356 – §§ 27 ff. AufenthG 291 ff. – Anspruch auf einen bestimmten Aufenthaltstitel 179 ff., 288, 351

– Auflagen, Bedingungen, Beschränkungen 25 f., 332 – aus familiären Gründen 291 ff. – aus humanitären Gründen 250, 257, 275 ff., 283 ff., 290, 313 ff., 339 ff., 344, 345, 356 – langfristige Aufenthaltserlaubnis/EG 249 – Mindeststandards aus Art. 8 EMRK 174, 179 ff., 202, 204, 288, 351 ff. – Niederlassungserlaubnis 252, 256, 317, 332 – zu einem vorübergehenden Zweck 118, 121, 250, 314, 315, 317, 347 – zum Zweck der Berufsausübung 250 – zum Zweck des Besuchs 118, 121, 218, 347 – zum Zweck des Studiums 118, 121, 250, 338, 347 – zur Durchführung eines Asylverfahrens 346 Aufenthaltsrecht/gesetzliche Systematik 206 ff. aufenthaltsschützende Wirkung siehe Schutz des Aufenthalts Aufrechterhaltung der Ordnung 144 f., 298 aufschiebende Wirkung 34 f. Ausländerrecht siehe Aufenthaltsrecht Auslieferung 24, 26, 35 Ausreise – Ausreisefreiheit 24 ff. – freiwillige Ausreise 100, 101, 236, 275, 284, 287, 316, 339, 345 – Möglichkeit und Zumutbarkeit eines Familienlebens im Ausland 101, 112 f., 128 ff., 133 f., 152, 160, 163 ff., 167, 240, 265, 291, 314 ff., 327, 350 f. – Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG 275 ff., 314, 316, 317, 339, 345 außergewöhnliche Härte 292, 294, 302, 318, 319 f., 323 f., 329, 334 Aussetzung der Abschiebung siehe Duldung

Sachverzeichnis Ausweisung – Art. 8 EMRK als Ausweisungshindernis 258 ff. – Ausweisung im Regelfall im Sinne von § 54 AufenthG 235 ff., 241, 256, 262 f. – Ausweisungsfolgen im Sinne von § 11 AufenthG 149, 173, 268 ff., 275, 279 ff., 290, 314 – Ausweisungsrecht/gesetzliche Systematik 23, 235 ff. – Ausweisungsverbot für eigene Staatsangehörige 26 ff., 159 f., 191 – besonderer Ausweisungsschutz im Sinne von § 56 AufenthG 236, 240, 251 ff., 255 ff., 257, 262 f., 267, 290 – Ermessensausweisung im Sinne von § 55 AufenthG 235 ff., 243, 245, 262 f. – gemeinsame Ausweisung 97 f. – zwingende Ausweisung im Sinne von § 53 AufenthG 23, 235 ff., 240 ff., 257 ff. autonome Auslegung 51, 137, 197 Barcelona-Prozeß 245 Befristung der Ausweisungsfolgen 149, 173, 268 ff., 279 ff., 290 Beschwerderecht siehe Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK besonderer Ausweisungsschutz im Sinne von § 56 AufenthG siehe Ausweisung Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage 33, 141 ff. Betäubungsmittelkriminalität 145, 146, 154 f., 157, 172, 173 Beurteilungsspielraum 55, 57 f., 65, 104, 111, 134, 147 f., 150 f., 159, 163, 191, 193 f., 251, 253, 326, 327 Bewährung 152, 158 f., 200 Bewährungsstrafe 155 Bewegungsfreiheit 24 ff. Beweis- und Darlegungslast 55, 110, 133 f. Bindung an das Herkunftsland 131 f., 133, 153, 158, 167, 168 ff., 240, 251, 253, 256, 351 Bindung an Recht und Gesetz 220, 223, 230 biologische Abstammung 59, 70, 78 f. Charta der Grundrechte der Europäischen Union 230 f.

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Cousin 77, 79 Cousine 77, 79 Dauer des Aufenthalts 37 f., 85 ff., 89 ff., 152, 157 f., 169, 188, 237, 251, 254, 265, 314 f., 343 Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/119/EG 208, 249 ff., 254, 256, 257, 343 Demokratie 40 ff., 45 ff., 48 ff., 150, 192 Dienstleistungsfreiheit 207, 241 Diskriminierung – aufgrund der ethnischen Herkunft 192 – aufgrund der Geburt 196 – aufgrund des Geschlechts 193, 195 – aufgrund der Hauptfarbe 29 – aufgrund der Rasse 29 – aufgrund der sexuellen Orientierung 64 ff., 193 f. – aufgrund der Staatsangehörigkeit 29, 191 f., 245 ff. – Inländerdiskriminierung 306 – Mehrehe 59 f., 195 – mittelbare Diskriminierung 190 Diskriminierungsverbot – Art. 14 EMRK 23, 59, 64 ff., 189 ff. – Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls 29 – Europa-Mittelmeer-Abkommen 245 ff. dringendes soziales Bedürfnis siehe Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft Drittstaatsangehörige 207 f., 249 ff., 253 ff., 257, 311 Drogenkriminalität siehe Betäubungsmittelkriminalität Dualismus 220, 229, 276 Duldung – Aussetzung der Abschiebung im Sinne von § 60a AufenthG 270 ff., 283, 285, 287, 288, 289, 314, 342 ff. – Altfallregelung 314, 315, 316, 317, 342, 344 – Kettenduldung 271, 343 f., 356 – langjährig geduldete Ausländer 23, 342 ff. effektivitätssichernde Auslegung 34, 174, 176, 181, 184, 188, 202, 204, 281, 356, 360 Ehe – arrangierte Ehe 325

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– beabsichtigte eheliche Lebensgemeinschaft 53, 56, 63, 81, 325 – Begriff der EMRK 51 ff. – Begriff des Gemeinschaftsrechts 303 ff. – Begriff des Grundgesetzes 209, 212 ff., 310 f., 333 – Beweis- und Darlegungslast 55 – eheliche Lebensgemeinschaft 52 ff., 56, 293, 325 – hinkende Ehe 213 – im Ausland geschlossene Ehe 54, 66, 79 – Mehrehe 58 ff., 147, 213, 309 ff., 329, 340 f. – Recht auf Eheschließung siehe Recht auf Heirat – rechtmäßige Eheschließung 52, 54 f., 213, 293, 303, 325 – religiöse Ehe 54 f., 213, 293 – Scheinehe 55 ff., 162, 210, 214, 324 f. – traditionelle Ehe 54 f., 213 – vorübergehende Trennung 55, 161 – zivile Ehe 54 f. – Zwangsehe 131, 324, 325 f. – Zweckehe 324 f., 327 Ehebestandszeitenregelung 210, 308, 326 Ehegattennachzug 210, 293, 311, 324 ff., 329, 333, 338, 340 f. Eigenverantwortlichkeit 128, 131, 316 eingetragene Lebenspartnerschaft 65, 237, 293, 299 f., 303 f. Eingriff – Begriff im Sinne von Art. 8 EMRK 94, 95 ff., 112 ff., 123, 136 f., 164, 174, 204, 283 ff., 292 – Begriff im Sinne von Art. 2 GG 217 – Begriff im Sinne von Art. 6 GG 208 ff. – mittelbar-faktischer Eingriff 27 f., 99 ff., 160, 218 Eingriffsziele siehe Grundrechtsschranken Einreise zur Eheschließung 54 Einreisefreiheit 25, 26 ff., 159, 191, 211 Einwanderer der zweiten Generation 37 f., 70, 85 ff., 167, 168 ff., 240, 252, 254, 256 elterliches Erziehungsrecht 47, 48, 216 Eltern-Kind-Beziehung – Adoptivkinder 72, 79, 81, 214, 294 – Begegnungsgemeinschaft 215 – Hausgemeinschaft 71, 215

– im Schutzbereich von Art. 8 EMRK 67 ff., 78 f., 320 – im Schutzbereich von Art. 6 GG 214 ff., 292, 311, 324 – Lebens- und Erziehungsgemeinschaft 215, 302 – ledige Kinder 294, 302 – minderjährige Kinder 67 ff., 81, 163, 214, 256, 294, 302 – nichteheliche Kinder 69 f., 81, 214 – Pflegekinder 68, 74 f., 80, 214, 294 – Scheidung der Eltern 68 f., 163, 320, 321, 323 – Stiefkinder 74, 75, 79, 214, 294 – volljährige Kinder 70 ff., 84 ff., 214, 294 Elternnachzug 294 ff., 312, 317 ff., 328, 338, 341 Empfehlungen des Europarates 37 f., 170 Enkelkinder 76, 79, 296, 300 Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK 23, 39 ff., 91, 94, 108, 109, 202, 204 Erforderlichkeit 149 Ermächtigungsgrundlage siehe gesetzliche Grundlage Erziehungsmaßnahmen 155 Europäische Bewegung 39 ff., 46 Europäische Gemeinschaft siehe Gemeinschaftsrecht Europäische Konvention zur Adoption von Kindern 73 f. Europäischer Wirtschaftsraum 192, 207, 208, 242 Europäisches Niederlassungsabkommen 28 Europa-Mittelmeer-Abkommen 208, 245 ff. extraterritoriale Wirkung siehe territorialer Anwendungsbereich Familie – Begriff der EMRK 51 ff., 237, 257, 297 f., 309 f. – Begriff des Grundgesetzes 209, 214 ff., 237, 257, 294, 297 f., 300 f., 311, 331 – familiäre Lebensgemeinschaft 212, 215, 237, 295, 319, 323 f., 324, 325 – Gedanke der Familieneinheit, der Familie als Gemeinschaft 42, 48 ff., 92, 96, 97, 98, 99, 108, 117 f., 120 ff., 133, 136, 157, 179, 202, 210, 305, 317

Sachverzeichnis

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Familienleben – autonome Auslegung 51 – Begriff der EMRK 78 ff. – beabsichtigtes Familienleben 53 f., 63, 70, 73, 81, 295, 322, 323, 325 – Entstehung des Begriffs 39 ff., 43 ff., 48 ff. – Intensität 130 f., 133, 152, 161, 254 – Schutzbereich von Art. 8 EMRK 51 ff., 199, 297 f., 309 f., 345 f. Familiennachzug 22, 102, 105, 114 ff., 123 ff., 210 f., 217 f., 253 ff., 291 ff. Familienstatus zum Zeitpunkt der Einwanderung 126 ff. Familienzusammenführung siehe Familiennachzug Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/ 86/EG 208, 233, 253 ff., 257, 291, 307 ff., 311, 311 ff., 314, 318 f., 329, 340 f., 343 Festnahme siehe Freiheitsentziehung Flüchtlinge 131 f., 208, 250, 256, 313 ff., 319, 328, 336, 338, 341 Folgenbeseitigungsanspruch 177 f. Folterverbot siehe Verbot der Folter Freiheit der Person 24, 36 Freiheitsentziehung 24, 36, 68 Freiheitsrecht 40 ff., 45 ff., 48 ff., 94, 208 ff. Freiheitsstrafe 155, 172 freiwillige Ausreise siehe Ausreise Freizügigkeitsabkommen EG/Schweiz 208, 243 Freizügigkeitsrecht – Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls 24 ff. – Art. 11 GG 211, 217 – Staatsangehörige der EWR-Staaten siehe Europäischer Wirtschaftsraum – Staatsangehörige der Schweiz siehe Freizügigkeitsabkommen EG/Schweiz – Staatsangehörige der Türkei siehe Assoziierungsabkommen EWG/Türkei – Unionsbürger 139 f., 184 ff., 201, 207, 241 f., 249, 302, 318 f., 334, 355, 359 f. Freizügigkeitsverordnung 1612/68/EG 207, 233, 302, 305

Gefahrenabwehr 144 f., 158 f., 236, 241 f., 248, 250, 265 Gefahrenprognose 145, 158 f., 236, 241 f., 251 Geldstrafe 155 Gemeinschaftsgrundrechte 22, 230 ff., 307 f., 340 f. gemeinschaftsgrundsrechtskonforme Auslegung 233 f., 340 f. Gemeinschaftsrecht 23, 139, 184 ff., 206 ff., 230 ff., 240, 241 ff., 290, 302 ff., 311 ff., 318, 334, 340 f., 355 gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 241 Geschlechtsumwandlung siehe Transsexualität Geschwister 75, 214, 296, 300 gesetzliche Grundlage 33, 136, 137 ff., 186, 355 Gestaltungsspielraum 211, 212, 255, 282, 285, 307 f., 360 Gesundheit siehe Schutz der Gesundheit Gewaltenteilung 222, 229 gleichgeschlechtliche Partnerschaft 63 ff., 79 f., 83 f., 102, 213, 298 ff., 328, 330, 331, 332 f., 335, 341, 358 Großeltern 76, 79, 296 Großfamilie 214, 296, 300, 302, 359 Grundfreiheiten 207, 234 Grundrechte siehe Schutz des Aufenthalts Grundrechtsschranken des Art. 8 EMRK 23, 59, 66, 104, 109, 124, 132 f., 136 f., 137 ff. Grundrechtsträger 98 f., 105, 198, 218, 357 ff.

Gebietskontakt siehe territorialer Anwendungsbereich Geeignetheit 149

illegale Einreise siehe unerlaubte Einreise illegaler Aufenthalt siehe unerlaubter Aufenthalt

Haager Kongreß 40 Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption 73 Hausgemeinschaft 52, 61, 63, 70, 71, 76, 80, 161 heimatlose Ausländer 207, 255, 266 Homosexualität siehe gleichgeschlechtliche Partnerschaft humanitäre Gründe 271, 313 f., 316 f., 335 f.

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Sachverzeichnis

immanente Grundrechtsschranken 109, 143 f. Inkorporation von Art. 8 EMRK 219, 258 ff. innerstaatliche Geltung der EMRK 218 ff., 258 f., 260 Institutsgarantie 208 ff. integrierte Ausländer 85 ff., 89 f., 93 f., 95, 96, 98, 99, 129, 153, 167 f., 168 ff., 240, 265, 342, 345 f., 350 f., 358 Jugendkriminalität 155 f., 168, 172, 173 Kenntnis vom unsicheren Aufenthaltsstatus 126 ff., 161 ff., 349 f. Kenntnis von der Straffälligkeit 152, 161 ff. Kernfamilie 76, 77, 81, 214, 237, 292, 296, 297, 300, 302 Kinder siehe Eltern-Kind-Beziehung Kindernachzug 293 f., 312 Kindeswohl 153, 167 f., 321, 322, 323 Klagebefugnis 357 ff. Kleinfamilie siehe Kernfamilie Kollektivausweisung 28 ff., 38 komplementäre Verpflichtungen 23, 174 ff., 288 f., 322, 344 f. Konferenz von Brüssel 40 konventionskonforme Auslegung 221 ff., 226 ff., 228 ff., 237, 238, 259, 267 f., 270, 289 f., 301, 324, 327, 333 f., 337, 353, 356, 359 konventionskonforme Ermessensausübung 230, 237, 278, 288 f., 298, 334, 345 künstliche Befruchtung 70 Lebenspartnerschaft siehe eingetragene Lebenspartnerschaft Lebensunterhalt 250, 257 Legalisierung des Aufenthalts 180, 182, 186, 188, 344 f., 351 ff. Lex-Posterior-Grundsatz 221, 224, 226, 260 Lex-Specialis-Grundsatz 198, 221, 266 f. living instrument 65, 193 Massenausweisung siehe Kollektivausweisung Mehrehe siehe Ehe methodisch-vertretbare Auslegung 220, 223, 266 milderes Mittel 149 Mindestalter für Ehegattennachzug 324, 326 f., 328

Nachzug siehe Familiennachzug nationale Sicherheit 142 f., 146 natürliche Rechte der Familie 41, 43, 45, 47 Neffen 76, 296, 300 negative Verpflichtungen 23, 91, 94, 109 ff., 111 ff. nichteheliche Lebensgemeinschaft 60 ff., 75, 79, 213, 237, 298 ff., 310, 318, 323, 328, 329 ff., 341, 359 Nichten 76, 296, 300 Niederlassungsfreiheit – Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls 24 ff. – Art. 43 EG 207, 241 Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft 148 ff. öffentliche Ordnung 236, 241 f., 243, 244, 246 ff., 250 ff., 253, 256, 265 öffentliche Sicherheit 147, 236, 241, 243, 244, 246 ff., 250 ff., 253, 256, 265 Onkel 76 Opfer im Sinne von Art. 34 EMRK 96, 135, 180, 187, 196, 281, 285 f., 353, 354 Ordre Public 60, 195, 213, 251, 253 Ortsrecht 54, 293, 310 persönliche Lebensgestaltung 82 Pflegefamilie siehe Eltern-Kind-Beziehung physische Integrität 82, 83, 90 politisches Asyl siehe Asyl Polygamie siehe Ehe positive Verpflichtungen – Abgrenzung zu negativen Verpflichtungen 23, 91, 94, 111 ff., 136 ff., 204, 292, 346 ff. – Abwägungskriterien 125 ff. – Beweis- und Darlegungslast 110, 133 f. – komplementäre Verpflichtungen 174 ff., 322 – Herleitung 94, 102 f. – Prüfungsstruktur 103 f., 109 ff., 123, 135, 136, 174 – Schutzpflicht 136 – Verhältnis zu Art. 13 EMRK 111, 134 f., 197 – Verhältnis zu Art. 14 EMRK 134 f., 190 Privatleben – Begriff 82 ff., 202 – Entstehung des Begriffs 43 ff., 48 ff., 202

Sachverzeichnis – gleichgeschlechtliche Partnerschaft 66, 358 – nichteheliche Kinder 70 – Schutzbereich 82 ff., 168 ff., 199, 345 f. – volljährige Kinder 84 Privatsphäre 41, 43 f., 49 f., 82, 99, 202 Prüfungsumfang 33, 140, 143, 225 ff., 327 psychische Integrität 82, 83, 90 qualitative Teilnichtigkeit 263 ff. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 208 Recht auf Aufenthalt siehe Schutz des Aufenthalts Recht auf Beschäftigung/Erwerbstätigkeit 244, 248, 332, 355 Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK 23, 111, 134 f., 196 ff., 222, 357 ff. Recht auf Einreise siehe Einreisefreiheit Recht auf Familiengründung 47, 54, 79, 209 Recht auf Heirat 47, 48, 54, 209 Recht auf Leben 36 Recht auf Überprüfung gemäß Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls 31 ff., 197 f. Rechtfertigung eines Eingriffs siehe Grundrechtsschranken Rechtmäßigkeitszeitpunkt 54, 199 ff., 286 ff., 359 ff. Rechtsanwendungsbefehl 220, 229 Rechtserkenntnisquelle 230 ff. Rechtsfortbildung 204 Rechtsschutz bei Konventionsverletzungen siehe Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK Rechtsschutz durch das BVerfG bei Konventionsverletzungen 225 ff. Rechtsschutz gegen willkürliches Behördenhandeln gemäß Art. 8 EMRK 142 f. Rechtsstaatsprinzip 217, 221, 222, 224, 227, 229, 258 f., 275 f. Rechtswegerschöpfung 199 f., 286 Religionsfreiheit 37 Resozialisierung 145, 158 Scheidung 55, 68 f., 163, 293, 320, 321, 323 Schranken siehe Grundrechtsschranken

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Schutz der Gesundheit 145, 243, 244, 246 ff., 253 Schutz der Moral 59, 66, 147, 309 f. Schutz der Rechte und Freiheiten anderer 59, 66, 147, 309 f., 327 Schutz der Sozialsysteme siehe wirtschaftliches Wohl des Landes Schutz des Arbeitsmarkts siehe wirtschaftliches Wohl des Landes Schutz des Aufenthalts – Art. 3 EMRK 35 ff., 83, 90, 170, 203, 274 – Art. 8 EMRK 21 ff., 48, 90 ff., 95 ff., 201 ff. – Art. 3 ENA 28 – Art. 2 GG 217 ff., 275 – Art. 6 GG 208 ff., 275, 292, 331, 333, 358 – Art. 11 GG 211, 217 – Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls 24 ff., 203 – Art. 3 des 4. Zusatzprotokolls 26 ff., 159 ff., 203 – Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls 28 ff., 203 – Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls 31 ff., 175, 203 – Gemeinschaftsrecht 241 ff., 291, 302 ff., 307 f., 314, 318 f., 334, 340 f., 355 Schutzpflicht 136, 209, 211, 292, 297, 299, 331, 333 Schwager 77, 300 Schwägerin 77, 300 Schwangerschaft 216 Schwellentheorie 210, 218 sexuelle Selbstbestimmung 82 Soering-Rechtsprechung 35 ff., 83, 90, 274 Sorgerecht 69, 129, 163, 177, 215, 294 ff., 318, 320, 320 f., 323 Souveränität der Konventionsstaaten 21, 91 f., 125 f., 128, 201, 203, 205 soziale Rechte 41, 45 Sperrwirkung siehe Ausweisung / Ausweisungsfolgen im Sinne von § 11 AufenthG Sprachkenntnisse 171, 324, 327 f., 329, 338, 351 Staatsangehörigkeit – Entzug 26 f., 159 – Erwerb 26 f., 159, 294 – im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung 152, 159 ff., 166 f., 171

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Sachverzeichnis

Stiefeltern siehe Eltern-Kind-Beziehung Stiefkinder siehe Eltern-Kind-Beziehung Straftaten 144 f., 152, 153 ff., 172 f., 236, 241, 250, 253, 298, 350 Subsidiarität des konventionsrechtlichen Rechtsschutzsystems 151, 196, 200, 281, 360 Tante 76 territorialer Anwendungsbereich – der EMRK 105 ff. – der Grundrechte 210, 218 Todesstrafe 35, 36 Todeszellensyndrom 35 Transformationstheorie 220, 229, 260 Transsexualität 66 f. Übereinkommen über die Rechte des Kindes 72 Umgangsrecht 69, 163, 177, 215, 295, 320, 320 f., 323 unerlaubte Einreise 24, 32, 117, 119, 122, 129, 132, 133, 346 unerlaubter Aufenthalt 31, 117, 119, 122, 129, 132, 180, 252, 314, 318, 320 f., 346 f., 348, 351 ff. Unionsbürger 192, 201, 207, 241 f., 249, 250, 257, 302 ff., 318, 328, 334, 341 Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG 207, 241, 249, 250, 302 ff., 318, 328, 334, 341 unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts 233, 244, 245, 247, 255, 304, 307, 313 Unmöglichkeit der Ausreise siehe Ausreise Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung gemäß Art. 3 EMRK 35 ff., 83, 90, 108, 274 Verfahrensdauer 176 Verfahrensrechte – Art. 6 EMRK 31 f., 36, 175 – Art. 8 EMRK 174, 175 ff., 322 – Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls 29, 203 – Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls 31 ff., 197 f., 203 verfassungskonforme Auslegung 223, 238, 261 f., 353

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – Art. 6 GG 211 – Art. 8 EMRK 104, 112 ff., 136, 148 ff., 151 ff., 279, 281, 282 f., 309 f., 348 ff. – Rechtsstaatsprinzip 258 f., 263 f., 275 f. Verhütung von Straftaten 144 f., 298 Verlobung 62 f. Verstoß gegen ausländerrechtliche Vorschriften 154 Vertrauensschutz 162, 217, 247, 349 f. Verwandtschaft 75 ff, 78 ff., 237, 302 Verwurzelung siehe integrierte Ausländer, Einwanderer der zweiten Generation Vielehe siehe Ehe völkerrechtliche Gründe 238, 271, 313 f., 316 f., 335 f., 337 f., 341 völkerrechtsfreundliche Auslegung 224 f., 260, 275 Völkerrechtsfreundlichkeit 224 f., 229 f. Volljährigkeit 70 ff., 76 ff., 80, 85 ff. Vollstreckung der Ausreisepflicht siehe Abschiebung Vollzugstheorie siehe Rechtsanwendungsbefehl Vorbehalt des Gesetzes siehe gesetzliche Grundlage wertende Rechtsvergleichung 72, 73 wertentscheidende Grundsatznorm 208 ff., 292, 297, 299 Widerspruchsbefugnis 357 ff. Wiedereinreise 177 f., 270, 282 wiederholte Straffälligkeit 156, 158, 172, 236, 241 Wiederkehr siehe Wiedereinreise wirtschaftliches Wohl des Landes 59, 104, 124, 145 f., 156, 250, 298, 322 zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse 35 ff., 83, 267, 273 ff., 275, 289, 316, 344, 350 Zugänglichkeit der gesetzlichen Grundlage 33, 141 Zumutbarkeit eines Familienlebens im Ausland siehe Ausreise Zustimmungsgesetz 220, 223, 228, 229, 230, 260, 266 Zweckadoption 325