192 75 2MB
German Pages 32 Year 1992
Udo Steiner
Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz
Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 125
w DE
G
1992
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz
Von U d o Steiner
Erweiterte Fassung eines Vortrags gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 26. Juni 1991
w DE
G 1992
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Universitätsprofessor Dr. Udo Steiner, Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Regensburg
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche
Bibliothek
-
CIP-Einheitsaufnähme
Steiner, Udo: Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz : erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 26. Juni 1991 / von Udo Steiner. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin ; H. 125) ISBN 311 013712 7 NE: Juristische Gesellschaft (Berlin): Schriftenreihe der Juristischen
© C o p y r i g h t 1992 by Walter de Gruyter & C o . , D-1000 Berlin 30 Dieses W e r k einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Buchbinderische Verarbeitung: Dieter Mikolai, Berlin 10
Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz"' I. Der Schutzbedarf des menschlichen Lebens in der Gegenwart 1. Aktuelle
Gefährdungslagen
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das ich auf seine Antworten zum Schutz des menschlichen Lebens abzufragen habe, macht es kurz und entschieden. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 hat jeder das Recht auf Leben. Es sind - in der Verfassungsrechtslehre insoweit unstreitig - sechs Wörter. Nimmt man Art. 2 Abs. 2 Satz 3 G G - „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden" - hinzu, erhöht sich die Zahl auf siebzehn. Freilich hat die Kürze des Textes auch hier die professionelle Verfassungsinterpretation eher herausgefordert als entmutigt, umfangreiche Antworten auf Rechtsfragen des Lebensschutzes zu geben. Die Einfügung eines Grundrechts auf Leben in das Grundgesetz war 1949 gewiß kein juristischer Urknall. Es gab schon international und national Beispiele.1 Gleichwohl darf man die Aufnahme eines Lebensgrundrechts in die Verfassung eines deutschen Gesamtstaates als konstitutionelle Premiere bewerten. Natürlich war sie aus der Sicht des Parlamentarischen Rates die Antwort auf die Erfahrung einer unbeschränkten Verfügung des nationalsozialistischen Staates über das Leben eines großen Teils seiner Bürger2 und - nimmt man die Kriegsführung hinzu - im Grunde über das Leben eines ganzen Volkes, also ein Grundrecht der Defensive, gegen den Staat gerichtet und gegen die Wiederholungsgefahr. In dieser Abwehrfunktion hat der Schutzbereich des Grundrechts bis * Die folgende Fassung ist gegenüber dem Vortrag an wenigen Stellen erweitert. Der Vortragsstil ist beibehalten. ' D a z u näher Karl Doehring, Zum „Recht auf Leben" aus nationaler und internationaler Sicht, in: Völkerrecht als Rechtsordnung - Internationale Gerichtsbarkeit - Menschenrechte, Festschrift für Hermann Mosler, hrsg. von Bernhardt/ Geck/Jaenicke/Steinberger, 1983, S. 145 ff. Allgemein zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G Christian Starck, in: Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Abs. 2 Rdn. 127 ff.; Dieter Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), H d b S t R , Bd. VI, 1989, §128. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Monographisch: Georg Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 2 Siehe dazu v. Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, J ö R n . F . Bd. 1 (1951), S. 54 ff.
6
heute dank einer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung verhältnismäßig wenig Eingriffspfeile auf sich gezogen: Finaler Rettungsschuß 3 , zweifelhaft schon: Ausweisung von Ausländern bei Lebensbedrohung im Heimat- oder Drittland 4 , vielleicht auch die Beschäftigung von Bürgern in potentiell lebensbedrohenden öffentlichen Diensten, wie Feuerwehr, Polizei oder Streitkräften. Der wirklich wichtige, 1949 noch ganz unsichtbare Wirkungsbereich des Lebensgrundrechts erschließt sich heute vor allem durch die vom Bundesverfassungsgericht in zahlreichen „prominenten" Entscheidungen formulierte, grundrechtsdogmatisch vielleicht noch nicht abgeklärte, aber verfassungsrechtlich gesicherte Schutzpflichtkomponente des Art. 2 Abs. 2 Satzl GG: Das Grundgesetz gibt dem Staat Mandat und Pflicht zum Schutz des Lebens jedes einzelnen vor den Gefährdungen und Verletzungen durch Dritte,5 Wie kaum in einem anderen Grundrecht spiegeln sich im Streit gerade um diese normative Wirkung des Art. 2 Abs. 2 GG die großen inneren Konflikte in der Geschichte der Bundesrepublik wider: Terrorismus und Schleyer-Entführung - friedliche Nutzung der Kernenergie - Aufstellung von Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen - Lagerung chemischer Waffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Das Stichwort „Nutzung der Kernenergie" steht dabei schlechthin und spektakulär für die Zulassung technischer Risiken durch den Staat. 6 Anderen Sachverhalten der Technikselbstgefährdung unserer Gesellschaft - von soziologischer Seite gerne als „Risikogesellschaft" bezeichnet 7 kommt „schadensstatistisch" größere praktische Bedeutung zu, an erster Stelle die wahrscheinlich gefährlichste Techniklizenz, die der Staat vergibt: die Fahrerlaubnis, ein Bereich des Lebensschutzes, in dem er sich bekanntlich mit dem Versuch einer Begrenzung des Schadens begnügt. Wegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist der Staat des Grundgesetzes mehr als
3 Statt vieler: Lorenz (Fn. 1), Rdn. 42; Drews/Wacke/Vogcl/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, §28 u. 8 b/S. 546ff. mit Nachweisen aus der Literatur. 4 Lorenz (Fn. 1), Rdn. 27; BVerfG, Beschl. vom 30.6.1964, BVerfGE 18, 112ff.; vom 4.5.1982, BVerfGE 60, 348ff.; BVerwG, Urt. vom 1.12.1987, NJW 1988, S. 660 ff. 5 Siehe aus der Rechtsprechung vor allem BVerfGE 39, 1 (41 ff.); 45, 187 (254 f.); 46, 160 (164); 49, 24 (53); 56, 54 (73); 57, 250 (284); 77, 170 (214); 77, 381 (402 f.); 79, 174 (201 f.). Vgl. auch BVerfGE 49, 89 (132). 6 Aus der umfangreichen Literatur: Klaus-R. Luckow, Nukleare Brennstoffkreisläufe im Spiegel des Atomrechts, 1988, S.79ff., 283 ff. 7 Siehe Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Referate von Jörn Ipsen, Dieter Murswiek und Bernhard Schlink über „Die Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht", in: W D S t R L 48 (1989), S. 177 ff.
7
nur ein sicherheitsrechtlicher „Gelegenheits- und Anlaßtäter". Seine Bürger übertragen ihm nicht nur politisch die Aufgabe einer umfassenden Gefahrenabwehr und ggf. auch Gefahrenvorsorge im Bereich der technischen Risiken mit den besten Wünschen für den Erfolg. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G macht den Staat zum sicherheitsrechtlichen „Uberzeugungstäter". Das technische Sicherheitsrecht, seine Anwendung und die Kontrolle seiner Anwendung müssen ihren Beitrag zur Akzeptanz technischer Risiken in einer Gesellschaft leisten, die weithin Toleranz nur gegenüber solchen Gefahren für Leben und Gesundheit aufbringt, denen sie sich selbst durch risikofreudige Lebensführung - Extremsportarten, Genußmittel, „Erlebnismobilität" - aussetzt; Risiko muß Spaß machen. 8 Adressat der Schutzverpflichtung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G ist die Bundesrepublik Deutschland; die politische und rechtliche Verantwortung für die technische Sicherheit ist freilich inzwischen schon teilweise auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaft hochgezont. 1969 hat der Rat das Signal für die Schaffung einer EG-einheitlichen Produktnormierung gegeben, 1985 hat er eine „Neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung" akzeptiert, die - ohne daß hier Einzelheiten interessieren - auf einer engen Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten sowie bestimmten Normungsstellen beruht. Die Richtlinie des Rates vom 25.Juni 1987 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter - gewiß auf den ersten Blick marginal und doch von grundsätzlicher Bedeutung - ist das Ergebnis dieses Verfahrens. 9 Der einzelne Mitgliedstaat ist also nicht mehr „Herr seiner Normen" 1 0 , sondern nur mitverantwortlich für deren Inhalt. Damit sind die Möglichkeiten jedes Mitgliedstaates eingeschränkt, diejenigen Schutzvorschriften allgemein für sein Gebiet zu erlassen und durchzusetzen, welche er für erforderlich hält. Zwar steht dieser staatliche Souveränitätsverlust wohl im Einklang mit der grundgesetzlichen Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 8 Zu den schwierigen Fragen des Verhältnisses eines „Grundrechts auf risikobehaftete Lebensführung" (Art. 2 Abs. 1 GG) und der staatlichen Schutzverantwortung gegenüber dem einzelnen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einschließlich seiner Konsequenzen (Verpflichtung des Bürgers zu gesundheitsgemäßer Lebensführung?) siehe grundsätzlich Karl Doehring, Die Gesunderhaltung des Menschen im Spannungsfeld zwischen Staatsfürsorge und Individualentscheidung, in: Festschrift für Wolfgang Zeitler, hrsg. von Fürst/Herzog/Umbach, Bd. 2, 1987, S. 1553 ff. und Udo Steiner, Verfassungsfragen des Sports, NJW 1991, S.2729 (2734). ' Richtlinie des Rates vom 2 5 . 6 . 1 9 8 7 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für einfache Druckbehälter ( 8 7 / 4 0 4 / E W G ) , AB1.EG vom 8.8.1987, Nr. L 2 2 0 / 4 8 . 10 Ingolf Pernice, Umwelt- und Technikrecht in den Europäischen Gemeinschaften - Antrieb oder Hemmnis?, in: U T R Bd. 7, 1989, S. 9 (60).
8
Satz 1 G G , weil die Richtlinie sog. Schutzklauseln zugunsten der nationalen Sicherheitsverantwortung enthält.11 Aber das Kernproblem bleibt: Nationale und insbesondere deutsche Sicherheitsphilosophie „gegen" gesamteuropäische Sicherheitsstandards. Um in unserer neudeutschen Volkssprache zu formulieren: Der Matchball in dieser Auseinandersetzung steht noch aus. Eine ähnliche Situation findet sich im Bereich der Organisation der technischen Überwachung, in der sich Deutschland bekanntlich teilweise für das Prinzip von Alleinzuständigkeiten entschieden hat. 12 Solche Regelungen wurzeln ihrem Grundgedanken nach in der verfassungsrechtlichen Sicherheitsverantwortung des Staates, die ihm das Recht gibt, Lösungen der technischen Überwachung zu wählen, die ihn sicherheitspolitisch beruhigen. Auch im „Wertesystem" des EWG-Vertrages ist der öffentlichen Sicherheit sowie dem Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen durchaus gedacht (Art. 36, 56 Abs. 1, Art.66 i . V . m . 56 Abs. 1). Allerdings trägt die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat gegenüber der E G die Beweislast, daß das solchen Zuständigkeitsregelungen zugrunde liegende Sicherheitsinteresse - es geht eben um die verfassungsrechtlichen Rechtsgüter Leben und Gesundheit der Bürger - in Abwägung mit dem Liberalisierungsinteresse vor dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Bestand hat.13 Man darf wünschen, daß die Bundesrepublik diese Beweislast gegenüber den Gemeinschaftsorganen und dem Europäischen Gerichtshof im Bedarfsfall mit Erfolg auf sich nimmt.
2. Medizinische
„Gefäbrdungssachverhalte"
Der grundgesetzliche Schutz des Lebens ist allerdings in besonderem Maße an einer Stelle gefragt, an der man die Nachfrage nach ihm zunächst nicht erwartet, weil für den Lebensschutz hier nicht primär die Juristen, sondern die Ärzte berufsmäßig verantwortlich sind: bei den Sachverhalten 11 Vgl. auch Art. 100 a Abs. 5 EWG-Vertrag. Beispiel: Art. 7 der Richtlinie (Fn. 9) sieht die Möglichkeit vor, Druckbehälter aus dem Markt zu nehmen, ihr Inverkehrbringen oder ihren freien Verkehr zu verbieten oder einzuschränken, wenn diese mit EG-Zeichen versehenen und ihrer Bestimmung gemäß verwendeten Behälter die Sicherheit von Personen, Haustieren oder Gütern zu gefährden drohen. 12 Beispiel: Organisation der technischen Überwachung auf der Grundlage des § 24 c GewO. Siehe zu deren Verfassungsmäßigkeit BVerwG, Urt. vom 20.9.1985, BVerwGE 71, 126ff.; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschl. vom 11.12.1986, NJW 1988, S. 143; vgl. auch Udo Steiner, Staatliche Gefahrenvorsorge und Technische Überwachung, 1984. 13 EuGH, Urt. vom 3.12.1974, Slg. 1974, S. 1299 (1309 f.).
9
der modernen Medizin und Medizintechnik. Gewiß gehören zwei Problemstichworte traditionell zur medizinrechtlichen Diskussion um den Schutz des Lebens: Abtreibung und Euthanasie. Diese Stichworte haben lange Zeit das Problemfeld auch abgesteckt; denn der Zeitpunkt für den Beginn und der Zeitpunkt für das Ende des Lebens waren gleichsam natürlich vorgegeben. 1 4 Diese Situation hat sich jedoch grundlegend verändert. Menschliches Leben entsteht seit einiger Zeit durch die In-VitroBefruchtung extrakorporal nach künstlich geschaffenen Bedingungen. A m E n d e des Lebens stehen heute die Möglichkeiten der Lebensverlängerung durch die Intensivmedizin. Beide Entwicklungen haben wiederum ihre spezifischen Folgen; andere Entwicklungen sind hinzugekommen. Daher ist eine aktualisierte Problemliste im Zusammenhang des Themas „Leben, Lebensschutz und Medizin" in der Rechtsordnung auch ansehnlich lang: -
Abtreibung 1 5
- In-Vitro-Fertilisation, E m b r y o - und Gametentransfer (Reproduktionsmedizin) sowie wissenschaftliche N u t z u n g von
Embryonen
(sog. verbrauchende Forschung) 1 6 -
Früheuthanasie 1 7
- Genomanalyse, Gentherapie, Genmanipulation 1 8 14 Siehe Hans-Ludwig Schreiber, Der Schutz des Lebens durch das Recht an seinem Beginn und an seinem Ende, in: Medizinrecht, Psychopathologie, Rechtsmedizin diesseits und jenseits der Grenzen von Recht und Medizin, Festschrift für Günter Schewe, hrsg. v. Schütz/Kaatsch/Thomsen, 1991, S. 121 f. Zu den folgenden „Sachverhalten" siehe auch Adolf Laufs, Die Entwicklung des Arztrechts, NJW 1991, S. 1516ff. 15 Als Folge der Normenkontrollklage der Bayerischen Staatsregierung vom Februar 1990 zur Uberprüfung der Verfassungsmäßigkeit der §§218 b, 219 StGB und §§ 200 f und g RVO durch das BVerfG und als Folge der Verpflichtung des Gesetzgebers zur Neuordnung des Abtreibungsrechts durch §31 Abs. 4 des Einigungsvertrages ist der Schwangerschaftsabbruch wieder zu einem Großthema der rechtswissenschaftlichen Literatur geworden. Siehe statt vieler (mit Nachweisen) die Sammelbände Hoffacker/Steinschulte/Fietz/Brinsa (Hrsg.), Auf Leben und Tod. Abtreibung in der Diskussion, 5. Aufl. 1991 und Reiter/Keller (Hrsg.), Herausforderung Schwangerschaftsabbruch, 1992. Rechtshistorisch und doch aktuell: Michael Gante, §218 in der Diskussion. Meinungs- und Willensbildung 1945-1976, Düsseldorf 1991. 16 Der folgende Vortrag hat hier seinen Schwerpunkt. 17 Siehe vor allem Ralf Peters, Der Schutz des neugeborenen, insbesondere des mißgebildeten Kindes, 1988. 18 Siehe statt vieler Hasso Hofmann, Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation - Wissenschaft im rechtsfreien Raum?, J Z 1986, S. 253 ff.; Fritz Nicklisch, Rechtsfragen der modernen Bio- und Gentechnologie, BB 1989, S. 1 ff.; Silke Vollmer, Genomanalyse und Gentherapie. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verwendung und Erforschung gentherapeutischer Verfahren am noch nicht
10
- Mehrlingsreduktion durch Fetozid 19 - Organtransplantation20 - aktive und passive Sterbehilfe.21 Sie haben mir dankenswerterweise nicht genügend Zeit eingeräumt, diese Problemliste zu erschöpfen. Dies würde in der Vortragsvorbereitung ein Lesevolumen voraussetzen, das wir heute nur noch unseren Habilitanden zumuten. Die rechtswissenschaftliche und vor allem die verfassungsrechtliche Behandlung unseres Themas leidet gewiß nicht an einem Pflegenotstand. Grund dafür ist auch, daß die Grundrechte heute allen gehören. Längst sind die Verfassungsrechtler enteignet, die Grundrechtsinterpretation zugunsten aller juristischen Fachrichtungen sozialisiert - ein erster Schritt auf dem Weg zum Volk von Verfassungsinterpreten nach der Vision Peter Häberles22 und zur Selbstauflösung der Staatsrechtslehrervereinigung. Im Augenblick erscheinen die Fragen des Lebensschutzes am Anfang des Lebens schwieriger zu beantworten als jene an dessen Ende. 23 Dabei zeigt sich immer wieder, daß die Probleme an den Grenzen des Lebens zugleich auch den Juristen an die Grenzen einer konsensfähigen Verfassungsinterpretation heranführen. Auf die Verfassungsfragen des beginnenden Lebens will ich mich im folgenden konzentrieren und hier vor allem auf den Problemkreis der künstlichen Befruchtung, freilich einige Querverbindungen der Fortpflanzungsmedizin und des am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) 24 zu anderen Proerzeugten und ungeborenen menschlichen Leben, 1989; Beckmann/Istel/Leipoldt/ Reichert (Hrsg.), Humangenetik - Segen für die Menschheit oder unkalkulierbares Risiko, 1991; Stephan Cramer, Genom- und Genanalyse. Rechtliche Implikationen einer „Prädiktiven Medizin", 1991; weitere Nachweise in Fn. 41, 42, 55 und 57. 19 Siehe im folgenden unter III. 5. 20 Dazu Hiersche/Hirsch/Graf-Baumann (Hrsg.), Rechtliche Fragen der Organtransplantation, 3. Einbecker Workshop der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, 1990; Michael Lemke, Stand der Diskussion zum Entwurf eines Transplantationsgesetzes - Eine rechtspolitische Bestandsaufnahme, MedR 1991, S. 281 ff. und Michael Borchmann, Die Bundesgesetzgebung zum Gesundheitsrecht im Jahre 1990 (II.), MedR 1991, S. 109 (115f.). 21 Auch hier gibt die öffentliche Diskussion, nicht nur in Deutschland, der Rechtswissenschaft kontinuierlich Impulse. Siehe aus jüngerer Zeit Herbert Tröndle, Strafrechtlicher Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in: H.-J. Kerner / G. Kaiser (Hrsg.), Kriminalität, Festschrift für H. Göppinger zum 70. Geburtstag, 1990, S. 595 ff. Vgl. jetzt auch B G H , Urt. vom 8 . 5 . 1 9 9 1 , BGHSt. 37, 376 ff. 22 Peter Häberle, Die öffentliche Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, J Z 1975, S. 297 ff.; ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978. 23 Adolf Laufs, Diskussionsbemerkung, in: Essener Gespräche zum Thema „Staat und Kirche", Bd. 22, 1988, S. 159. 24 ESchG vom 13.12.1990, B G B l . I S. 2746.
11
blemzonen des Lebensschutzes nach Bedarf und Anlaß herstellen. Zunächst schulde ich Ihnen aber einige grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen.
II. Grundrechtsdogmatische Vorbemerkungen 1. Das Verhältnis des grundgesetzlichen Lebensschutzes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG) zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) a) Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G ist Bestandteil eines ethischen Minimalkonsenses, den das Grundgesetz aus der Wertediskussion in Staat und Gesellschaft herausgehoben hat. Er ist - neben Art. 1 Abs. 1 G G - der zentrale Baustein einer Staatsethik im Verfassungsrang, verselbständigt gegenüber seinen metaphysisch-religiösen Grundlagen und freigestellt vom Erfordernis gesellschaftlicher Akzeptanz. Ich spreche dabei bewußt von „Ethik" und vermeide den Begriff der „Moral", weil dieser teils meint, was an überkommenen und üblichen Verhaltensregeln in der Gesellschaft existiert, teils durch den vermeintlichen oder wirklichen Unterschied zwischen St. Pauli und Paderborn „besetzt" ist. In bezug auf die Bestimmung des Beginns und des Endes des Lebens als einer zentralen Frage des Schutzbereichs dieses Grundrechts scheint die Schaffung einer solchen „wertautarken Zone" wohl auch gelungen zu sein. Das „Lebens-Bild" des Grundgesetzes ist textlich nicht präzisiert; deshalb sind die Ränder des Schutzbereiches auch naturgemäß weich. Das Bundesverfassungsgericht hat die Reichweite des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G auf das ungeborene Leben im Mutterleib ab Nidation erstreckt. 25 Die heute wohl h. M. - in der Gesetzgebung durch das Embryonenschutzgesetz bestätigt 26 - will den Lebensschutz des Grundgesetzes auch für den extrakorporal erzeugten Embryo anerkennen, Leben dabei im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G mit der Verschmelzung von Ei und Samen beginnen lassen. Das Ende des Lebens soll nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis durch den sog. Hirntod markiert sein. 27 Gleichwohl wird das Grundrecht auf Leben spätestens wegen des in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 G G enthaltenen Gesetzesvorbehalts von den ethischen Kontroversen in Politik und Gesellschaft eingeholt, ein Gesetzesvorbehalt, der gewiß primär auf die Abwehrwirkung des Grundrechtes zugeschnitten ist, aber auch die Reichweite des dargestellten Schutzmandates des Staates nicht unberührt lassen kann. Absoluten Lebensschutz gibt es demnach, wie immer man diesen Gesetzesvorbehalt zuschneidet, nach 25 26 27
BVerfG, Urt. v o m 25.2.1975, BVerfGE 39, 1 (36 ff.). Siehe näher u. III. Siehe Schreiber (Fn. 14), S. 130.
12
dem Grundgesetz nicht, auch nicht in Verbindung mit der Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG. Diese „offene Flanke" des grundgesetzlichen Lebensschutzes hat immer wieder Bemühungen hervorgerufen, dessen größere verfassungsrechtliche „Stabilität" durch „Anreicherung" des Lebensgrundrechtes in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit der Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG herbeizuführen. Die Versuchung liegt nahe, auch die Sachverhalte der Fortpflanzungsmedizin in die Schutzzone der Menschenwürde zu „verbringen". Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wäre damit nicht das einzige Grundrecht des Grundgesetzes, an dem Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtslehre - um ein medizinnahes Bild zu wählen - einen schönheitschirurgischen Eingriff vorgenommen haben, um die von Gesetzes- oder Regelungsvorbehalten herrührenden Schutzfalten zu glätten. 28 Der juristische Gewinn einer solchen Maßnahme ist verlockend: Verstößt ein Verhalten oder eine Handlung gegen die Menschenwürde, so verpflichtet Art. 1 Abs. 1 GG den Staat zur bedingungslosen Intervention (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG). Eine Beeinträchtigung der menschlichen Würde ist verfassungsrechtlich niemals akzeptabel. Nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber kann hier Wege des Dispenses öffnen. Erreicht also die eigene ethische Anschauung über das, was die Würde des Menschen ausmacht, erst einmal den Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG, so befindet sie sich gleichsam in der verfassungsrechtlichen Hochsicherheitszone des Art. 79 Abs. 3 GG. Die eigene Vorstellung dessen, was menschenwürdig ist, wird selbst rechtlich unantastbar. Wir können im Vergleich mit dem Ausland hier angeblich typisch Deutsches vorweisen: Es sieht so aus, daß nirgends auf der Welt die Auseinandersetzung um die rechtsethische Beurteilung des Sachverhalts „Fortpflanzungsmedizin und Folgen" so intensiv unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten und insbesondere dem der Menschenwürde diskutiert wird wie in Deutschland 29 - wir sind ein verfassungs-rechtlich denkendes Volk; jedenfalls liest es sich so. Die Argumentation mit dem Topos „Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG" ist im übrigen offenbar in der Rechtspraxis des Versuches wert: Die Menschenwürde soll verletzt sein, wenn begünstigende rechtswidrige Verwaltungsakte von der Verwaltung korrigiert30, Empfänger von Sozialhilfe auf Sachleistungen verwiesen 31 , Beam-
28 Zur Figur der Schranken-Schranken in der Rechtsprechung des BVerfG siehe Jarras/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1992, Vorb.26 vor Art. 1 GG. 29 Albin Eser, Neuartige Bedrohungen ungeborenen Lebens, 1990, S. 28 ff. 30 Siehe zu dieser Argumentation Ulrich Knoke, Rechtsfragen der Rücknahme von Verwaltungsakten, 1989, S. 189 f. 31 Ablehnend BVerwG, Urt. vom 14.3.1991, NJW 1991, S.2305 (2306).
13
ten im Rahmen von Trennungsgeldangelegenheiten unangemessene Wohnungen zugewiesen werden32, der Spitzensportler unter der Härte von Training und Wettkampf leidet.33 Art. 1 Abs. 1 GG - die „Goldreserve" unserer Verfassung - macht begehrlich. b) Lassen Sie mich meine Position umreißen: Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der verfassungsrechtliche Lebensschutz - ist im Verhältnis zur Menschenwürde ein selbständiger Maßstab.34 Lebensbeendigung ist nicht notwendig Menschenverachtung, Lebensbedrohung nicht notwendig ein Angriff auf die Menschenwürde.35 Dies gilt natürlich auch umgekehrt: Das Grundrecht des Lebensschutzes greift nicht erst dann, wenn zugleich die Menschenwürde tangiert ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich eine Formel geprägt, die den Eindruck erweckt, als ginge das Lebensrecht in der Menschenwürde auf: Leben sei die vitale Basis der Menschenwürde.36 Ich verstehe das Bundesverfassungsgericht allerdings so: Die Tötung menschlichen Lebens - extrakorporal, pränatal und postnatal bewirkt nicht per se einen Verstoß gegen die Würde des Menschen. Zulässigkeit und Grenzen sind vielmehr zunächst nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG zu bestimmen.37 Das Leben ist freilich die Grundlage der Wahrnehmung aller Grundrechte und natürlich auch die „vitale Basis" der Menschenwürde. Diese Verknüpfung - Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und seine Auslegung auf der Linie der bekannten „in-Verbindung-mit-Dogmatik" des Bundesverfassungsgerichts38 - bestimmt den Rang des grundrechtlichen Rechtsgutes „Leben", das dadurch zu einem Höchstwert innerhalb des Grundgesetzes wird. Dies hat Folgen für die Möglichkeiten des Gesetzgebers, das Lebensrecht einzuschränken. Das Leben ist auf der 32 Siehe dazu BVerwG, Urt. vom 8.7.1965, ZBR 1966, S.220 (221); zur Prüfung der Verhängung eines öffentlich-rechtlichen Hausverbots am Maßstab der Menschenwürde siehe BVerwG, Beschl. vom 15.11.1979, Buchholz 310 § 1 1 3 V w G O Nr. 92. Ernsthaft, aber sicher ein Einzelfall: BVerwG, Urt. vom 20.3.1991, NVwZ-RR 1992, S. 33 (Demütigung eines Soldaten durch Vorgesetzten). 33 Siehe vor allem Joachim Burmeister, Sportverbandswesen und Verfassungsrecht, DOV 1978, S. 1 ff.; ders., Sport als Aufgabe kommunaler Selbstverwaltung?, in: Burmeister (Hrsg.), Sport im kommunalen Wirkungskreis, Heft 9 der Reihe „Recht und Sport", 1988, S.37 (66). 34 So vor allem Peter Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: Rechtsfragen der Gentechnologie, hrsg. von Lukes/Scholz, 1986, S. 88 (104). 35 So auch Lorenz (Fn. 1), Rdn.40. 36 BVerfG, Urt. vom 25.2.1975, BVerfGE 39, 1 (42). 37 Zum Rang des Lebensgrundrechts eingehender Doehring (Fn. 1), S. 149 ff. 38 Diese dogmatische Brücke trägt bekanntlich die Ausformung des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes in der Rechtsprechung des BVerfG. Siehe z.B. BVerfG, Beschl. vom 3 1 . 1 . 1 9 7 3 , BVerfGE 34, 238 (245); Beschl. vom 8.2.1983, BVerfGE 63, 131 (142); Urt. vom 15.12.1983, BVerfGE 65, 1 (41).
14
Waagschale einer gesetzgeberischen
Güterabwägung
ein
Schwerstge-
wicht. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 G G erfährt dadurch eine Differenzierung, die man dem Verfassungstext nicht ansieht: Der Gesetzgeber kann, soweit es um das Grundrecht auf Leben geht, diesen Gesetzesvorbehalt nur äußerst restriktiv nutzen. Leben ist eben - zugespitzt formuliert - ein Grundrecht des Alles- oder Nichts-Schutzes, im Prinzip kein Feld für Konkordanzlehren. 39
2. FolgerungenTM Recht haben Autoren, die dem Lebensschutz nachlesbar höchste Priorität einräumen, vor einer Uberbeanspruchung des Maßstabes der Menschenwürde
im
Zusammenhang
mit
der
modernen
Medizin
gewarnt. 40 Ich darf dies an Beispielen verdeutlichen. 41 a) Es gibt Sachverhalte der Fortpflanzungsmedizin und ihrer Folgemöglichkeiten, die unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht hinzunehmen sind. Ich würde dazu das Klonen rechnen sowie die Chimären- und Hybridenbildung, die in § § 6 und 7 des schon genannten Embryonenschutzgesetzes
unter
Androhung erheblicher Strafe verboten sind. Freilich ist auch diese Position verfassungsrechtlich nicht unbestritten. So wird die Chimären- und 39 Siehe im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch B V e r f G , U r t . vom 2 5 . 2 . 1 9 7 5 , B V e r f G E 39, 1 (43). 40 Eser (Fn. 29), S . 3 7 ; Schreiber (Fn. 14), S. 127 und Reinhold Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Rdn. 68, 76 (Drittbearbeitung 1989); vgl. auch C h r i stian Starck, Die künstliche Befruchtung beim Menschen - Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen. Gutachten, in: Verhandlungen des 56. D J T , 1986, B d . I , A 16 ff. 41 Die folgenden Ausführungen können sich weder nach Quantität noch nach Qualität mit den eingehenden verfassungsrechtlichen Untersuchungen zur Bedeutung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 G G für die Sachverhalte der Fortpflanzungsmedizin und der Humangenetik messen. Siehe aus der schon kaum mehr überschaubaren Literatur Ernst Benda, Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 3, 1985, S. 18 ff.; Dieter Birnbach, Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde?, in: U m Leben und T o d , hrsg. von A n t o n Leist, 1990, S. 2 6 6 f f . ; Erich Fechner, Menschenwürde und generative Forschung und Technik, J Z 1986, S. 653 ff.; Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990; Adolf Laufs, D e r Arzt - H e r r über Leben und T o d ? Antworten aus der Sicht eines Juristen, in: D e r Schutz des menschlichen Lebens, Essener Gespräche zum T h e m a „Staat und K i r c h e " , Bd. 22, 1988, S. 114 (118 ff.); ders., Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, 1992; Wolfgang G r a f Vitzthum, Das Verfassungsrecht vor der Herausforderung durch Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, in: Braun/Mieth/Steigleder (Hrsg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, 1987, S. 263 ff.
15
Hybridenbildung unter Verwendung mindestens eines menschlichen Embryos teilweise in der Literatur als Verstoß gegen die Würde der Menschheit und nicht des einzelnen konkreten Menschen angesehen. Dies ist gewiß keine rabulistische Unterscheidung. Gleichwohl würde ich sie so nicht treffen. Zwar bezieht sich die Unantastbarkeitsgarantie des Art. 1 Abs. 1 G G auf den konkreten Menschen. Aber die naturwissenschaftliche Möglichkeit zur Chimären- und Hybridenbildung bedeutet doch die Gefahr einer Erosion für die anthropologische Substanz des Art. 1 Abs. 1 G G schlechthin.42 Sie rechtfertigt daher m. E. die verfassungsrechtliche „Verurteilung" dieser Sachverhalte durch Art. 1 Abs. 1 G G . b) Es gibt aber auch Sachverhalte, die allenfalls im Weichbild der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 1 Abs. 1 G G angesiedelt sind, die Menschenwürde selbst also noch nicht „antasten". Ich will ein Beispiel geben: Die Fähigkeit zur Befruchtung außerhalb des weiblichen Körpers - InVitro-Fertilisation - hat die Möglichkeit eröffnet, die durch die Befruchtung entstandenen Embryonen einer anderen Frau als der Eispenderin einzupflanzen und somit die genetische Mutter von der tragenden und gebärenden Mutter zu trennen (sog. gespaltene Mutterschaft). Ist diese andere Frau bereit, ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu überlassen, so spricht das Gesetz von „Ersatzmutter" (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG). Die Entscheidung einer Frau, sich als „Ersatzmutter" zur Verfügung zu stellen, wird rechtsethisch allgemein mißbilligt. Dies leuchtet jedenfalls dann ein, wenn sie nicht auf altruistischen, sondern auf wirtschaftlichen Motiven beruht.43 Der Gesetzgeber kann an diese ethische Wertung anknüpfen und den bestrafen - wie er es auch getan hat - , der bei der Ersatzmutter eine künstliche Befruchtung durchführt oder auf sie einen menschlichen Embryo überträgt (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 ESchG). Zu einem solchen Verbot berechtigt ihn die Sorge um das Wohl des Kindes. Man kann aber nicht urteilen: Die Würde der Frau, die das Kind freiwillig austrägt, wird angetastet, weil sie als „Gebärmaschine" benutzt wird. Hier gilt der Satz, der m. E. für eine freiheitliche Gesellschaft unverzichtbar ist: Zunächst einmal soll jedes Individuum grundsätzlich autonom darüber entscheiden, was seiner Menschenwürde entspricht.44 Erfolgt die Zustimmung des Betroffenen zu ethisch fragwürdigen Maßnahmen oder Hand42 Siehe dazu auch Peter Häberle, in: H d b S t R , hrsg. von Isensee/Kirchhof, Bd. 1, 1987, §20. Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Rdn. 84 ff. / S . 854 ff. und Zippelius (Fn.40), R d n . 7 6 f f . 43 Ein Fall aus den U S A , der in diesen Tagen durch die deutsche Presse „ging": Leihmutter bringt für ihre Tochter die eigenen Enkelkinder zur Welt (SZ N r . 181 vom 7.8.1991, S.48). 44 Klaus Stern, Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, in: Öffentliches Recht und Politik, Festschrift für Scupin, 1983, S. 627 (636); zu
16
lungen wirklich frei und nicht nur fiktiv freiwillig, so beseitigt dies unter dem Aspekt der Menschenwürde den Mangel, zum Objekt fremder Interessen und fremden Einflusses zu werden. 45 Dies gilt für die Verwandlung von Sportlern in Litfaßsäulen der Werbewirtschaft gleichermaßen wie für die Indienstnahme von Frauen für die Austragung einer Schwangerschaft für Dritte, wobei im übrigen bei der ersten Gruppe hohe Entgelte für solche Leistungen die sozial-ethische Bewertung in unserer Gesellschaft eher positiv als negativ beeinflussen.46 Dabei wird nicht etwa die Menschenwürde zur Disposition des einzelnen gestellt, sondern durch die Zustimmung bewirkt, daß er nicht mehr als Objekt fremden Handelns anzusehen ist. Der Staat kann nicht zwangsweise den Menschen nach dem Bilde formen, das dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht, also nicht „positive Würde" fordern (zumal das Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 47 Züge eines richterlichen Selbstbildnisses erkennen läßt, eine Art Fortsetzung der Selbstporträttradition der europäischen Malerei mit juristisch-textlichen Mitteln). Der Staat hat durch Art. 1 Abs. 1 G G kein Mandat, von seinen Bürgern gegen deren Willen „würdiges Verhalten" zu erzwingen. Bitte mißverstehen Sie mich nicht: Die gesetzgeberische Mißbilligung der Ersatz- oder Leih- oder Tragemutterschaft in § 1 des Embryonenschutzgesetzes halte ich für rechtsethisch richtig. Es ist eine - verfassungskonforme - Einschränkung der freien Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 G G ; denn dieses Grundrecht schließt auch den Wunsch zum Kinde, die Vornahme der dazu notwendigen Schritte und auch die Bereitschaft einer Frau ein, sich als Trage- oder Ersatzmutter zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber kann aber dieses Recht beschränken, wenn das Kindeswohl dies verlangt.48 Er kann nur eben nicht seinen Auftrag zu einer solchen Beschränkung aus seiner Verpflichtung herleiten, die Würde des Menschen zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Würde des Mannes und mehr noch die Würde der Frau im Sinne des Grundgesetzes - nicht aus der Sicht der Kirchen und ihres Menschenbileinem konkreten Beispiel U d o Steiner, Verfassungsrechtliche Aspekte des Kinderhochleistungssports, in: Steiner (Hrsg.), Kinderhochleistungssport, Bd. 1 der Schriftenreihe „Recht und Sport", 1984, S.41 (44 ff.). 45 Mit Hilfe dieser „Objekt"-Formel erschließen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft heute wohl im Grundsatz übereinstimmend einen wesentlichen Teil des normativen Gehalts des Art. 1 Abs. 1 G G . Andere Elemente (Respektierung der Individual- und Intimsphäre; Garantie der menschengerechten Existenzgrundlage) kommen hinzu. Siehe dazu Lerche (Fn. 34), S. 102 f. 46 Siehe Steiner (Fn. 8), S.2734. 47 Zusammenfassend Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 1 1 6 / S . 51 f. 48 BVerfG, Urt. vom 14. 7.1981, B V e r f G E 57, 361 (382).
17
des und ihrer weit anspruchsvolleren Vorstellung von der Menschenwürde49 - scheinen mir im Falle wirklicher Freiwilligkeit durch die künstliche Insemination nicht berührt, mag dieses medizinische Verfahren auch mit Opfern und Risiken verschiedenster Art verbunden sein50 und ethisch schwierigste Fragen aufwerfen. Diese ethischen Bedenken gegen die künstliche Befruchtung finden sich im übrigen auch im Embryonenschutzgesetz in der Weise wieder, daß nach dessen § 10 niemand gegen seinen Willen an einer solchen medizinischen Maßnahme mitwirken muß. Auch dies ist interessant: Die kirchlichen Bedenken sind nicht - oder noch nicht - zum allgemeinen staatlichen Gesetz erhoben; deren Respektierung aber hat der Staat - mit Rücksicht auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG - angeordnet. Eine ganz andere Frage ist es, ob das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung soweit als möglich gesichert sein muß. Dies wird man nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bejahen müssen, und zwar wegen der Verbindung der Schutzprinzipien des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht), aus dem das Gericht das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung abgeleitet hat.51 Ob die heterologe Samenübertragung, die der Gesetzgeber im Embryonenschutzgesetz ebenfalls nicht untersagt hat, die Menschenwürde verletzt, ist umstritten. Ich würde dies im Falle eindeutiger Freiwilligkeit nach entsprechender ärztlicher Aufklärung eher verneinen.52 Die Problematik der heterologen Samenübertragung gleich welcher Variante liegt unterhalb der Schwelle des Angriffs auf die Menschenwürde der Beteiligten. Sie ist primär wohl ein Problem des Schutzes des Kindes und des Schutzes seiner Entwicklung, der zu den verfassungsrechtlichen Pflichten des Staates 49 Siehe dazu die Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz „Gott ist ein Freund des Lebens", 2.Aufl. 1990, S. 39ff.; Josef Seifert, Menschenwürde und unbedingte Achtung menschlichen Lebens: Einige Fragen der Bioethik und die Grundlagen der Moral, in: Essener Gespräche zum Thema „Staat und Kirche", Bd. 22, 1988, S.57ff.; Martin Honecker, Diskussionsbeitrag, a . a . O . , S.92ff.; Eberhard Schokkenhoff, Im Laboratorium der Schöpfung. Gentechnologie, Fortpflanzungsbiologie und Menschenwürde, 1991, S. 51 ff. 50 Siehe zum Stand Bettina Merz, Die medizinische, ethische und juristische Problematik artifizieller menschlicher Fortpflanzung, 1991, S. 6 ff. Zu den Fortschritten siehe Mitteilung des Zentrums für Frauenheilkunde der Universität Münster, SZ Nr. 298 vom 2 8 . / 2 9 . 1 2 . 1 9 9 1 , S. 11. 51 Stichwort: Anonymisierung der Herkunftsdaten; siehe BVerfG, Urt. vom 31.1.1989, BVerfGE 79, 256 (269). 52 So auch Starck (Fn.40), A 2 2 f . - Die Kosten einer heterologen In-vitroFertilisation werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen ( § 2 7 a SGBV i . d . F . KOV-AnpG vom 26.6.1990, BGB1.I S. 1211); siehe schon BSG, Urt. vom 8.3.1990, NJW 1990, S.2059.
18
gehört (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i. V . m . Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG). 5 3 Im Falle der Ersatzmutterschaft bleiben im übrigen - dies ist noch interessant hervorzuheben - die Ersatzmutter und die sonstigen unmittelbar Beteiligten unbestraft. Es ist also - wie auch sonst im Embryonenschutzgesetz ein Strafrecht für Arzte geschaffen worden - ähnlich wie im geltenden Abtreibungsstrafrecht. 54 Selbstverständlich ist dies nur akzeptabel, weil dies wurde bereits hervorgehoben - nach § 1 0 des Embryonenschutzgesetzes niemand - weder der A r z t noch sein Hilfspersonal - verpflichtet ist, eine künstliche Befruchtung vorzunehmen oder einen menschlichen Embryo auf eine Frau zu übertragen.
III. Embryonenschutzgesetz und wissenschaftliche Forschung
1. Das Forschungsinteresse
am menschlichen
Embryo
Aus der Fülle der Straftatbestände des Embryonenschutzgesetzes 55 - es sind dies in dem sehr strafseligen Gesetz immerhin mehr als zwei Dutzend 5 6 - greife ich heraus, was aus verfassungsrechtlicher Sicht interessant erscheint. Schon mangelnde Fachkompetenz verbietet es mir, mit Ihnen eine A r t große Strafrechtsübung im Embryonenschutzgesetz für weit Fortgeschrittene zu veranstalten. Ein solcher verfassungsrechtlicher Schwerpunkt ist - möglicherweise mit einer noch offenen Zukunft - die
" Vgl. BVerfG, Urt. vom 14.7.1981, BVerfGE 57, 361 (382); vgl. auch BVerfG, Urt. vom 24.3.1981, BVerfGE 56, 363 (384). 54 Die Privilegierung der Frau ergibt sich aus den Bestimmungen der §§218 Abs. 3 Satz 2 und 3, Abs. 4 Satz 2; 218 b Abs. 1 Satz 2; 219 Abs. 1 Satz 2; 219 a Abs. 2 und 219c Abs. 2 StGB. Hinzu kommt noch die besondere Vorschrift über den Strafrahmen in §218 Abs. 3 Satzl StGB. 55 Gesamtdarstellungen: Erwin Deutsch, Embryonenschutz in Deutschland, NJW 1991, S. 721 ff.; Heike Jung, Gesetz zum Schutz von Embryonen, JuS 1991, S. 431 ff.; Gabriele Wurzel/Birgit Born, Embryonenschutzgesetz, BayVBl. 1991, S. 705 ff.; Johannes Reiter, Zu vieles offen geblieben?, Herder Korrespondenz 1990, S. 571 ff. - Schon vorher Hans-Ludwig Günther, Strafrechtliche Verbote der Embryonenforschung?, MedR 1990, S. 161 ff. Hans-Ludwig Günther/Rolf Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - strafrechtliche Schranken?, 2. Aufl. 1991 mit zahlreichen Beiträgen. 56 Siehe zu diesem Aspekt die Kontroverse zwischen Friedrich-Christian Schroeder (FAZ Nr. 156 vom 9. 7.1991, S. 12: „Vor-Eiliges" Strafrecht) und Günter Hirsch (FAZ Nr. 168 vom 23.7.1991, S. 6). Kritisch aus strafrechtlicher Sicht Gerd Geilen, Zum Strafrechtsschutz an der Anfangsgrenze des Lebens, ZStW 103 (1991), Heft 4, S. 829 (837 ff.). Aus einem anderen Blickwinkel pointiert Josef Isensee: Das „Mitleid mit den Abfall-Embryonen" „entlädt sich zu Lasten der Forschung und der Industrie. So kann der Moralismus zum Nulltarif mit dem Anti-Forschungs- und dem Anti-Industrie-Affekt zeitgeistkonform koalieren" (Diskussionsbemerkung in: Der Schutz des menschlichen Lebens/Fn. 41, S. 107).
19
Konzeption des Gesetzes in bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Forschung. 57 Die Befruchtung in vitro kann derart ablaufen, daß alle aus der Befruchtung mit männlichen Samen hervorgegangenen Embryonen in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Werden mehr Embryonen hergestellt, als später zur Einpflanzung gebraucht werden, so gibt es dafür zwei Gründe. Die „überzähligen" Embryonen werden in eingefrorenem Zustand aufbewahrt, um sie dann zu verwenden, wenn die erste Einpflanzung nicht zu einer Schwangerschaft führt. Der Vorzug einer solchen Verfahrensweise liegt darin, daß der belastende Eingriff zur Gewinnung befruchtungsfähiger Eizellen nicht noch einmal durchgeführt werden muß. Es kann aber auch ein Interesse daran bestehen, daß die übrig gebliebenen Embryonen zu Forschungszwecken benutzt werden. Man spricht dann von „embryonenverbrauchender Forschung". Inzwischen sind weltweit Bemühungen sichtbar, adäquate Neuregelungen für die Fortpflanzungsmedizin und deren Folgemöglichkeiten einschließlich der Gentechnik zu finden, weil die Rechtsordnungen ganz allgemein nicht auf diese Sachverhalte vorbereitet sind.58 Rechtspolitisch steht dabei die Einsicht im Vordergrund, daß menschliches Leben, das außerhalb des Mutterleibes entsteht, „unmittelbar verfügbar" und deshalb auch leichter „verletzbar" ist. 59 In der Bundesrepublik Deutschland ist dem Embryonenschutzgesetz eine intensive Diskussion vorausgegangen, die eine Reihe von Konzepten und Gesetzesentwürfen hervorgebracht hat. Ich nenne nur den Entwurf des Bundesjustizministeriums, die Arbeiten der Benda-Kommission und den Rohentwurf eines „FortpflanzungsMedizingesetzes" der Bund-Länder-Arbeitsgruppe. 60 Dabei stand im Zentrum der Diskussion die Frage, inwieweit man Forschung an Embryonen erlaubt. Ein Teil der Rechtswissenschaft 61 hat mit der Freiheit der
57 Zu den verfassungsrechtlichen Aspekten der Forschung mit Embryonen zusätzlich zu den Nachweisen in Fn.41, 42 und 55 Claus Dieter Classen, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Forschung mit Embryonen, WissR 1989, S. 235 ff.; Christoph Fuchs (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Forschung an Embryonen. Symposium der Akademie der Ethik in der Medizin, Göttingen, i.V.m. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, 1990; Rolf Keller, Die verbrauchende Forschung an Embryonen in verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Sicht, in: H.-B. Wuermeling (Hrsg.), Leben als Labormaterial?, 1988, S. 54ff.; Moni Lanz-Zumstein, Embryonenschutz und Befruchtungstechnik, in: Gentechnologie. Chancen und Risiken, Bd. 9, 1986. Allgemein: Thomas Dikkert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991. 58 Siehe Eser (Fn. 29), S. 2 und Wurzel/Born (Fn. 55), S. 706 Fn. 9 a. 59 Eser (Fn. 29), Umschlagseite. 60 Siehe dazu die Nachweise bei Deutsch und Junge (Fn. 55). 61 Zur Diskussion siehe Peter Lerche (Fn. 34), S. 89 ff.
20
Forschung in Art. 5 Abs. 3 GG argumentiert und dabei eine Ausnahme vom Forschungsverbot für sog. hochrangige Forschungsziele an Embryonen - Ausnahmen von Rang also - gefordert. Als solche Ziele wurden insbesondere genannt: - Weiterentwicklung der Reagenzglasbefruchtung und des Embryotransfers - Verbesserung der Präimplantations-Diagnostik - der Diagnostik also vor der Übertragung des Embryos in die Gebärmutter - mit dem Ziel, bereits in dieser Phase genetische Defekte zu erkennen und möglicherweise sogar zu beheben - Gewinnung von Einblicken in die Mechanismen der Zelldifferenzierung als denkbarer Beitrag zur Gewinnung von Wissen über die Krebsentstehung. Die zentrale Frage war also: Der menschliche Embryo als erlaubter Proband bei einem Humanexperiment 62 , mit mittelbar therapeutischem Bezug der Forschung, also mit Nutzenerwartung zugunsten anderer Embryonen, Menschen oder gar Generationen? Zugunsten der Forschung wurde vor allem argumentiert: Der Lebensschutz werde nicht in Frage gestellt, weil „überzählige" Embryonen ohnehin keine realistische Entwicklungschance hätten und daher dem Tode preisgegeben seien. Es ist klar, daß eine solche „pragmatische" Sicht schnell auf das Argument stößt, damit eröffne man der Forschung auch Wege an solchen schon geborenen Menschen, deren Leben unaufhaltsam zu Ende gehe. Gewiß hat der Gegenstand des Gentechnikgesetzes vom 20. Juni 1990 (BGBl. I S. 1080) mit der Fortpflanzungsmedizin nichts zu tun. 63 Verfassungsrechtliche Konflikte vergleichbar mit der Embryonenforschung stellen sich aber freilich auch hier. Vorsorge und Abwehr in bezug auf die Gefahren aus gentechnisch veränderten Organismen sind Pflicht des Gesetzgebers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Thematisch gehört aber die Sicherung eines rechtlichen Rahmens für die gentechnische Forschung auch zu dieser Verfassungsnorm und nicht nur zu Art. 5 Abs. 3 GG, weil ein durchaus vitales Interesse des Menschen an der „Nutzung des Chancenpotentials" 64 der Gentechnik nicht zu bestreiten ist. Wie schwierig die Balance in diesem Konflikt zwischen Sicherheit vor Forschung und Sicherung der Forschung zu finden ist, zeigt der gegenwärtige Versuch einer ersten Bewertung der gesetzlichen Regelungen. 65 Eser (Fn. 29), S.7, 45. Hirsch/Schmidt-Didczuhn, Gentechnikgesetz (GenTG), Kommentar, 1991, Einl. R d n . l . 64 Siehe dazu Hirsch/Schmidt-Didczuhn (Fn. 63), Einl. Rdn. 2-A; § 1 Rdn. 7. 65 Siehe zur entsprechenden Anhörung des Deutschen Bundestages FAZ Nr.42 vom 19.2.1992, S.7; SZ Nr.42 vom 20.2.1992, S.47. Vgl. auch Rupert 62
63
21
2. Die Antwort des
Embryonenschutzgesetzes
Das Embryonenschutzgesetz hat auf die gestellte Frage - so kann man allgemein bilanzieren - zugunsten des Embryonenschutzes als Teil des Lebensschutzes und gegen die Forschung geantwortet. Grundrechtsdogmatisch muß diese Entscheidung nicht notwendig mit der Lehre von den sog. immanenten Schranken von Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt gerechtfertigt werden. Das Grundgesetz schützt in Art. 5 Abs. 3 G G die Forschung im Sinne einer planmäßigen und zielgerichteten Vermehrung von Wissen nach nachprüfbaren und anerkannten Methoden durch den Schutz der Freiheit der Fragestellung und der Freiheit der Methode sowie der Freiheit der Bewertung und Verbreitung der Ergebnisse. 66 Keineswegs ist in die Forschungsfreiheit die prinzipielle Befugnis eingeschlossen - und ich wage jetzt einmal standeswidrig diese These - Gegenstände einer fremden Rechtssphäre zum Gegenstand der Forschung zu machen 67 (so wenig wie der Sprayer, der fremdes Eigentum für seine Kunstausübung nutzt, das Grundrecht der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 G G in Anspruch nehmen kann 68 ). Fremde Rechtsgüter werden nicht mit Hilfe einer Art Schutzbereichsmagneten vom Forscher in seinen „Wirkbereich" hineingezogen mit der Folge, daß sie ihm von der allgemeinen Rechtsordnung nur mit Hilfe der Lehre von den immanenten Schranken wieder abgetrotzt werden können. Ist Forschung mit einem unmittelbaren Eingriff in fremde Rechtsgüter verbunden, so ist es Sache der Rechtsordnung, diesen Zugriff zu gestatten, indem sie dem Träger des Rechtsgutes entsprechende Verpflichtungen auferlegt. Die detaillierten Entscheidungen des Embryonenschutzgesetzes im Konflikt von Lebensschutz und Forschungsförderung liegen Ihnen textScholz, Verfassungsfragen zur Gentechnik. Kritische Anmerkungen zum Gentechnik-Gesetz, in: Bürger - Richter - Staat, Festschrift für Horst Sendler, hrsg. von Franßen/Redeker/Schlichter/Wilke, 1991, S. 93 ff. - Es ist klar, daß die deutsche Diskussion nicht gerade durch Meldungen aus anderen Ländern wie insbesondere den USA entspannt wird, man erleichtere dort den Umgang mit der Gentechnik. Siehe FAZ N r . 6 5 vom 17.3.1992, S. 15; N r . 6 6 vom 18.3.1992, S N 1 . 66 Zur Wissenschaftsdefinition siehe Thomas Oppermann, in: HdbStR, hrsg. v. Isensee/Kirchhof, Bd. VI, 1989, §145. Freiheit von Forschung und Lehre, Rdn. 1 0 / S . 8 1 5 . 67 In diesem Sinne bereits Lerche (Fn. 34), S. 91; siehe auch Rupert Scholz, Instrumentale Beherrschung der Biotechnologie durch die Rechtsordnung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1986/1, 1986, S. 68 ff. und Rainer Wahl, Limits to the freedom of science, in: Human Embryos and Research, hrsg. v. Paolo Fasella u.a., 1990, S.201 ff. 68 Siehe dazu BVerfG, Vorpriifungsausschuß, Beschl. vom 19.3.1984, NJW 1984, S. 1293 ff. und dazu Henschel, Die Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1990, S. 1937 (1942).
22
lieh nicht vor. Lassen Sie mich daher im folgenden nur einige Grundlinien herausarbeiten. a) Das Gesetz hat zunächst die Grundsatzentscheidung getroffen, extrakorporale Embryonen als menschliches Leben im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G anzusehen.69 Sie haben demnach nicht nur einen moralischen, sondern einen verfassungsrechtlichen Status. 70 Dabei gibt § 8 Abs. 1 des Gesetzes eine weite Definition des Embryos: Embryo ist die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, aber auch jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag. Dies dürfte auch mit der verfassungsrechtlichen Rechtslage in Einklang stehen. Es sieht so aus, daß das verfassungsrechtliche Lebensschutzrecht heute mit dem Zeitpunkt der Chromosomenverschmelzung der elterlichen Keimzellen einsetzt. Medizinisch-biologische Zweifel - sofern vorhanden - müssen zugunsten des Lebensschutzes zurücktreten. Es wird auch hier die grundrechtsdogmatische Standardformel zur Anwendung gebracht, der verfassungsrechtliche Lebensbegriff sei um der Wirksamkeit des Schutzes willen weit zu fassen. 71 Das Embryonenschutzgesetz kennt also interessanterweise keinen Zeitraum nach der Verschmelzung ohne strafrechtlichen Lebensschutz nach Art einer Fristenlösung, also keine Phase, in der der strafrechtliche Schutz ausgesetzt wird; er beginnt mit dem frühesten, der Vereinigung von Ei- und Samenzelle unmittelbar folgenden Entwicklungsstadium. b) Das Embryonenschutzgesetz enthält zunächst ein Verbot des wissenschaftlichen Experiments mit dem Embryo. Als Grundvorschrift ist §2 des Gesetzes anzusehen. Hier wird ein Verbot jeglicher Verwendung menschlicher Embryonen zu fremdnützigen Zwecken ausgesprochen, d. h. zu allen Zwecken, die nicht der Erhaltung des Embryos dienen. Der Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums aus dem Jahre 1986 hatte hier noch mehr Raum für die Forschung gelassen.72 § 2 Abs. 2 dieses Entwurfs sah Straflosigkeit der Verwendung von extrakorporal erzeugten
" Siehe B R - D r u c k s . 417/89 vom 11.8.1989, S . 8 . 70 Siehe insoweit die Kontroverse von Lenzen ( M D R 1990, S . 9 6 9 f f . ) und Eser ( M D R 1991, S . 2 1 2 f . ) . 71 Siehe Dickert (Fn. 57), S. 372 mit Nachweisen. 72 Zur Vorgeschichte der Gesetzgebung siehe näher die Angaben bei Jung und Deutsch (Fn. 55); Abdruck wichtiger Texte einschließlich des Diskussionsentwurfs des Bundesjustizministers im Anhang (S. 93 ff.) von: Leben als Labormaterial?, hrsg. von Hans-Bernhard Wuermeling, 1988. Siehe auch „Richtlinien zur Forschung an frühen menschlichen Embryonen". Bekanntgabe des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, DÄB1. 82, 1985, B - 3757 ff.
23
menschlichen Embryonen „für Experimente oder einen anderen Zweck als den seiner Übertragung" vor, wenn diese Verwendung von der zuständigen obersten Landesbehörde genehmigt wird (sog. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Der Verbotsgrund bei § 2 des geltenden Rechts ist einsichtig: Wer die Forschung an überzähligen Embryonen erlaubt, kann kaum vermeiden, daß überzählige Embryonen gezielt produziert werden. Dies wird aber international als unzulässige „Vergegenständlichung der Erzeugung von Menschen" gewertet.73 c) Weitere Vorschriften unterstützen dieses strafrechtliche Grundverbot in seiner Wirksamkeit. Hierher gehört z. B. die Bestimmung des § 1 Nr. 2: Danach ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe zu bestrafen, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Hier würde - so argumentiert der Gesetzgeber - menschliches Leben erzeugt werden, um es alsbald wieder zu vernichten.74 Freilich zieht man in den Fällen, in denen Leben erzeugt und verlängert wird, um es zu wissenschaftlichen Experimenten zu nutzen, auch den Schutzgedanken der Menschenwürde heran. Er kann greifen, bevor das Leben und der verfassungsrechtliche Lebensschutz beginnt.75 Die Menschenwürde erweist sich hier und an anderen Stellen als eine weitreichende Forschungssperre; dies gilt z. B. im Zuge der Neonatologie bei Experimenten an nichtlebensfähigen Kindern auf der Grundlage einer künstlichen Lebensverlängerung, aber auch für Todkranke, deren Leben der Arzt zum Zwecke der experimentellen Forschung verlängert. §1 Abs. 1 Nr. 2 umfaßt auch den Fall, daß eine menschliche Eizelle im Körper der Frau befruchtet wird, der dadurch erzeugte Embryo aber noch vor Eintritt der Schwangerschaft - also vor Einnistung in die Gebärmutter (§ 219 d StGB) - zu wissenschaftlichen oder sonstigen Zwecken aus dem Eileiter oder aus der Gebärmutter wieder herausgenommen wird. Andere Bestimmungen kommen hinzu. So will § 1 Abs. 1 Nr. 6 die Verwendung menschlicher Embryonen zu fremdnützigen Zwecken hindern. § 1 Abs. 2 verlängert die Verbotsliste und trifft ergänzende strafrechtliche Regelungen für den Fall, daß die Handlung nicht auf die Befruchtung - d.h. Kernverschmelzung - , sondern lediglich auf die Erzeugung der entsprechenden Vorkerne gerichtet ist. Durch Kyrokonservierung - d. h. durch Tiefgefrieren - kann nämlich der Befruchtungsvorgang jederzeit unterbrochen werden, und er kann nach dem Auftauen wieder aufgenommen werden. 73 74 75
Schreiber (Fn. 14), S. 127. BR-Drucks. 417/89 vom 11. 8.1989, S. 15. Starck (Fn. 40), A 17; Eser (Fn. 29), S. 46.
24
d) Den Raum erlaubter Forschung steckt im wesentlichen § 5 des Embryonenschutzgesetzes ab. Freilich beginnt auch diese Bestimmung mit einem Verbot, das die Möglichkeit künstlicher Veränderungen menschlicher Keimbahnzellen vorwegnimmt. Hintergrund ist die Erwartung, künftiges Ziel der Wissenschaft könne es sein, bei sog. monogenen d. h. auf ein einzelnes defektes Gen zurückzuführendes - Erbleiden das jeweils defekte Gen bereits in der befruchteten Eizelle gegen ein intaktes Gen mit der Folge auszutauschen, daß nach den anschließenden Zellteilungen alle weiteren Zellen des Individuums das intakte Gen erhalten. Diese Methode des Gentransfers in menschliche Keimbahnzellen werde sich - so befürchtet der Gesetzgeber 76 - nicht ohne vorherige Versuche am Menschen entwickeln lassen. Die gesetzliche Regelung knüpft an diese Befürchtung an. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, derartige Experimente seien wegen der irreversiblen Folgen der in der Experimentierphase zu erwartenden Fehlschläge - etwa: nicht auszuschließende schwerste Mißbildungen oder sonstige Schädigungen - nicht zu verantworten. Der Gesetzgeber führt also die verfassungsrechtliche Grundentscheidung Schutz des menschlichen Lebens und Schutz der menschlichen Würde bereits gegen das Experiment ins Feld. Er läßt es ausdrücklich offen, ob er es überhaupt - etwa zur Verhinderung schwerster Erbleiden - verantworten könnte, eine künstliche Veränderung menschlicher Erbanlage auf dem Wege des Gentransfers in Keimbahnzellen zuzulassen. 77 e) So verbleibt der Forschung allein das, was der Gesetzgeber unter ausdrücklicher Berufung auf Art. 5 Abs. 3 GG 7 8 in der Bestimmung des § 5 Abs. 4 eröffnet. Dazu gehört u. a. die künstliche Veränderung der Erbinformation einer außerhalb des Körpers befindlichen Keimzelle, wenn ausgeschlossen ist, daß diese zur Befruchtung verwendet wird (§ 5 Abs. 4 Nr. 1). Weiter ist mit Strafe nicht bedroht die künstliche Veränderung der Erbinformation einer sonstigen körpereigenen Keimbahnzelle, die einer toten Leibesfrucht, einem Menschen oder einem Verstorbenen entnommen wurde, wenn auszuschließen ist, daß diese auf den Embryo, Fetus oder Menschen übertragen wird oder aus ihr eine Keimzelle entsteht (§5 Abs. 4 Nr. 2). Im internationalen Vergleich scheint damit die Bundesrepublik der Forschung bis auf weiteres den geringsten Arbeitsraum zuzugestehen. 79
BR-Drucks. 417/89 vom 11.8.1989, S.24. A. a. O. 78 A . a . O . , S.25. 79 Schreiber (Fn. 14), S. 125. Siehe zum internationalen Stand der Forschung Albin Eser / Hans-Georg Koch/Thomas Wiesenbart (Hrsg.), Regelungen der Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik. Eine internationale Dokumentation 76
77
25
Der Eintritt des Embryonenschutzgesetzes mit seinen umfassenden Strafdrohungen in die Rechtsordnung der Bundesrepublik ist international wohl ein Frühstart, aber kein unerlaubter. Der Gesetzgeber mußte handeln, wollte er noch Einfluß nehmen. Das Embryonenschutzgesetz trägt kein Verfallsdatum; seine Geltung ist nicht befristet. Gleichwohl wird man nicht ausschließen können, daß seine Regelungen mit der Entwicklung der Fortpflanzungsmedizin und Gentechnik überdacht und überarbeitet werden. „Ende teilweise offen" heißt der ungeschriebene Untertitel dieses Gesetzes. Dabei werden die Entwicklungen im Ausland nicht ohne Einfluß bleiben. Ob sie zu einer Erweiterung der Möglichkeiten mikrobiologisch-genetischer Forschung gegenüber dem rechtlichen status quo in Deutschland führen werden, läßt sich freilich noch nicht beurteilen. Der Wissenschaftler Buchborn hat argumentiert, in der Europäischen Gemeinschaft dürfe dieselbe Forschung nicht in einem Land zum Nobelpreis und in einem anderen Land ins Gefängnis führen. Er hat sich belehren lassen müssen, daß Nobelpreiswürde und Kriminalität keineswegs einander ausschließende Qualifikationen voraussetzen würden. 80 Stehen Forschungsinteresse und Schutz des embryonalen Lebens im Konflikt, wird sich der deutsche Gesetzgeber freilich immer schwer tun; es ist keine Gewinn- und Verlustrechnung üblicher Art. Er muß mit dem Vorwurf rechnen, daß eine Abstufung des strafrechtlichen Schutzes Unterscheidungen in der Wertigkeit des Lebens ausdrückt. Differenzierungen des strafrechtlichen Lebensschutzes haben ihre besondere Rechtfertigungslast. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird von der Grundvorstellung einer prinzipiellen Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens in bezug auf seine Herbeiführung wie in bezug auf seine Beendigung geprägt. Daher spricht manches für die Formel, der Schutz des Lebens sei unteilbar. Wer an einer Stelle - ob beim Embryonenschutz, bei der Behandlung geschädigter Neugeborener oder bei der aktiven Sterbehilfe - eine Wand des strafrechtlichen Schutzgebäudes „Lebensschutz" beseitigt oder ihre Errichtung für verzichtbar ansieht, kann nie ganz sicher sein, ob es nicht eine tragende Wand ist. 3. Vision
„Menschenzüchtung"
Ich kann mich noch nicht ganz vom Embryonenschutzgesetz lösen. Der Gesetzgeber hat sich hellhörig bis mißtrauisch gegenüber allen Tendenzen der modernen Fortpflanzungsmedizin gezeigt, die seiner Auffasgesetzlicher und berufsständischer Rechtsquellen, Bd. 1 und 2, 1990; vgl. auch Wurzel/Born (Fn. 55), S. 706 Fn. 9 a. 80 FAZ Nr. 290 vom 14.12.1989, S.33.
26
sung nach die Grundwerte des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG gefährden. So ist es heute - um einen vorletzten Tatbestand herauszugreifen - mit einem erheblichen Grad an Sicherheit möglich, Samenzellen mit dem weiblichen Geschlechtschromosom von denen mit dem männlichen Geschlechtschromosom zu trennen. In Fällen der künstlichen Befruchtung kann das Geschlecht des künftigen Kindes weitgehend festgelegt werden. Einer derartigen „Manipulation" tritt § 3 des Gesetzes entgegen, weil der Gesetzgeber meint 81 , er müsse hier „Züchtungstendenzen" vorbeugen. Das Gesetz sagt, wer es unternimmt, eine menschliche Eizelle mit einer Samenzelle künstlich zu befruchten, die nach den in ihr enthaltenen Geschlechtschromosomen ausgewählt worden ist, werde bestraft. Vom strafrechtlichen Verbot sind ausgenommen lediglich die Fälle, in denen die Auswahl der Samenzellen durch den Arzt dazu dient, eine schwerwiegende geschlechtsgebundene erbliche Erkrankung des zu erzeugenden Kindes zu vermeiden. 82 Die Nutzung gentechnischer Methoden zum Zwecke der Menschenzüchtung ist eine Sorge des Gesetzgebers auch an anderen Stellen, vor allem beim Gentransfer. Es ist klar, daß hier die Chancen der Präimplantationsdiagnostik - Diagnostik also nach der InVitro-Fertilisation, aber vor der Einführung des Embryos in die Gebärmutter - schwierige Probleme aufwerfen. Denn diese Technik ist in der Lage, die Erkennung und Aussonderung kranker Embryonen in einem weit früheren Zustand vorzunehmen als die herkömmlichen Methoden der pränatalen Diagnostik, wie Amniocentese und Chorionbiopsie. 4. Die „Bezüge"
zur Diskussion um die Neuordnung des Schwangerschaftsabbruchs
des Rechts
Die Diskussion um die Verfügbarkeit von überzähligen Embryonen für die wissenschaftliche Forschung ist natürlich offen oder verdeckt von der Diskussion um das „richtige" Abtreibungsstrafrecht bestimmt und von ihr auch belastet. Wer an dieser Diskussion teilnimmt, ist schnell - so hat es Eser beklagt83 - als Extremist klassifiziert: als Utilarist oder als Fundamentalist. Ich will mich hier von Befangenheit 84 nicht freisprechen und darf aus meiner Sicht deshalb so bilanzieren: Ein konsequenter Lebensschutz mit den Mitteln des Strafrechts nach Art des Embryonenschutzgesetzes ist in der gegenwärtigen Situation des Lebensschutzes in Deutschland ein Stück fester Grund. Das Embryonenschutzgesetz wird von der Tendenz eines flächendeckenden strafrechtlichen Schutzes des ungebore81 82 83 84
BR-Drucks. 417/89 vom 11.8.1989, S.23. A . a . O . , S.23. Eser (Fn. 29), S.2. Siehe meinen Beitrag in Hoffacker u.a. (Fn. 15), S. 156ff.
27
nen Lebens bestimmt. Es erscheint schon fast als ein Stück „neuer Beweglichkeit" der Politik, wenn für das deutsche Abtreibungsrecht 85 gleichzeitig auf breiter Linie die Losung „weg vom Strafrecht" ausgegeben wird. 8 6 Gewiß rechtfertigen Unterschiede zwischen beiden Sachverhalten auch Unterschiede in den Modalitäten der strafrechtlichen Reaktion. Aber es wäre fatal, würde der Eindruck entstehen, die strafrechtliche Reaktion könnte hier mit der gleichen - scheinbaren oder wirklichen - Behendigkeit verschoben werden wie bei den sog. Promillegrenzen im Verkehrsstrafrecht. Dabei liegt mir der Vorwurf fern - die stark „abseitsverdächtigen" Positionen in der Diskussion einmal ausgenommen 87 - , daß der Wechsel von Strafdrohung und Strafdrohungsverzicht den Wechsel von schützenswertem und nicht schützenswertem Leben markieren soll. Eine zeitlich begrenzte oder zeitlich unbegrenzte strafrechtliche Freistellung der Abtreibung würde aber zu dem Widerspruch führen, daß der extrakorporal erzeugte Embryo vor dem Transfer in die Gebärmutter strafrechtlich geschützt ist, danach aber zumindest für einige Zeit nicht. Jede Fristenlösung ist ein gesetzlicher Wertungswiderspruch 88 nach zwei Seiten hin: gegenüber dem strafrechtlichen Schutz des extrakorporalen Embryos und gegenüber dem strafrechtlichen Schutz des intrakorporalen Embryos, der nach Ablauf der (3-Monats-)„Frist" eintritt. Es entstehen Zonen unterschiedlichen strafrechtlichen Schutzes, deren Abgrenzung nicht begründbar ist. 85 Siehe die gegenwärtig im Deutschen Bundestag beratenen Gesetzentwürfe der FDP-Fraktion (BT-Drucks. 12/551 vom 16.5.1991), der SPD-Fraktion (BTDrucks. 12/841 vom 21.6.1991), der Abgeordneten Petra Bläss u.a. und der Gruppe der PDS/Linke Liste (BT-Drucks. 12/898 vom 1.7.1991) sowie der Abgeordneten Christina Schenke u.a. und der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drucks. 12/696 vom 6.6.1991). Näher dazu Udo Steiner, Das Abtreibungsstrafrecht zwischen Mängelbeseitigung und Neuordnung, in: Reiter/Keller (Fn. 15), S. 94 ff. 86 Den Gegentrend wollen einige Beobachter für das Abtreibungsstrafrecht in den USA ausmachen. Möglicherweise korrigiert der Supreme Court seine Entscheidung Roe v. Wade vom 22. Januar 1973 (410 U.S. 113/1973), in der er die Freiheit der Frau zur Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate aus dem "right of privacy" abgeleitet hat. Siehe zur Einschätzung der Situation in den USA die jüngeren Arbeiten von Heike Kaup, Der Schwangerschaftsabbruch aus verfassungsrechtlicher Sicht, 1991, S. 233 ff. und Michael Piazolo, Das Recht auf Abtreibung als Teilaspekt des Right of Privacy, Diss. Regensburg 1992 (in Druck). 87 Siehe vor allem die Arbeiten von Norbert Hoerster, Strafwürdigkeit der Abtreibung?, in: Universitas, 46. Jahrgang 1991/1, S. 19 (21); ders., Abtreibung im säkularen Staat, 1991, S.50ff. 88 So auch Eser (Fn.29), S.58; Günther (Fn.55), S. 167 und Schreiber (Fn. 14), S. 126 f. - Zur Frage der „Systemverträglichkeit" bei gesetzlichen Neuordnungsvorhaben siehe jetzt Reinhold Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1991, Nr. 4, S. 23 ff.
28
Mehr noch als für den Schwangerschaftsabbruch wird im übrigen für die strafrechtlichen Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes gelten: Das Leben gewährt sich seine Ausnahmen selbst. Denn es ist klar, daß die Einhaltung der Verbote dieses Gesetzes schwierig zu kontrollieren ist. Wegen der Winzigkeit der Eizellen, Zygoten und Embryonen in ihrer frühesten Entwicklungsphase läßt sich praktisch nur schwer überprüfen, wie viele Eizellen künstlich befruchtet werden und was mit den überzähligen Embryonen geschieht. 89 Manche sagen, der Arzt und Wissenschaftler werde sich durch seine Publikationen verraten oder durch die Konkurrenz verraten werden; einer „Laborpolizei" wird man nur geringe Chancen einräumen können.
5. Die strafrechtliche Behandlung der sog. Mehrlingsreduktion durch Fetozid Lassen Sie mich Ihre Geduld noch für eine wichtige letzte gesetzgeberische Entscheidung erbitten. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Embryonenschutzgesetzes wird auch bestraft, „wer es unternimmt, innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen". Hier hat der Gesetzgeber den ganz wichtigen Versuch unternommen, einem Vorgang vorzubeugen, der in der Fachsprache sachlich-nüchtern als „Mehrlingsreduktion durch Fetozid" bezeichnet wird. Im Gesamtspektrum der Folgen der Reproduktionsmedizin gilt die strafrechtliche Beurteilung dieses Sachverhalts noch als terra incognita. Durch den Einsatz der modernen Fertilisierungsverfahren, also In-Vitro-Fertilisation und Embryotransfer, aber auch durch die hormonelle Ovulationsauslösung kommt es vermehrt zu höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften, insbesondere auch zu Drillingen oder Vierlingen. 90 Dies kann sowohl für die Mutter als auch für die Kinder eine erhebliche Gefährdung mit sich bringen. Die Zahlen waren bisher etwa so: Bei natürlich herbeigeführter Schwangerschaft kommt auf 85 Geburtsfälle ein Zwilling, während die Häufigkeit bei bestimmten ovulationsauslösenden Hormonen auf 1 0 : 1 ansteigt. Bei natürlicher Zeugung kommt auf 7000 Geburten ein Drilling, bei künstlicher Befruchtung ist das Verhältnis 1 : 1 0 0 . Um diese Fruchtbarkeitsfolge zu korrigieren, wird derzeit die Frage diskutiert, ob man einen Teil der Feten abtötet, und zwar - so ist der Vorschlag - in der Regel zwischen der 8. und 12. Schwangerschaftswoche durch eine ultraschallgeführte Punktion des fetalen Herzens oder durch Injektion von Kaliumchlorid ins Herz oder in den Brustraum der Feten. Diese Methode - so sagt man Starck (Fn.40), A 3 2 . Zum folgenden eingehend Günter E. Hirsch, „Reduktion" von Mehrlingen - Aufriß der rechtlichen Probleme, MedR 1988, S. 292 ff. und Eser (Fn. 29), S. 60 ff. 89
90
29
wurde bereits bisher bei Zwillingsschwangerschaften angewandt, wenn einer der beiden Feten wegen einer schweren Schädigung „ausgeschaltet" werden sollte. Eser ist zu Recht der Auffassung, daß es sich - um jetzt zur rechtlichen Beurteilung überzugehen - bei der Mehrlingsreduktion nicht mehr um einen Teil der Sterilitätstherapie handelt, sondern daß ein „partieller Schwangerschaftsabbruch" vorliegt, der nach §§218 ff. des StGB zu beurteilen ist. Der Tatbestand des §218 StGB wird eben nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der Schwangerschaftszustand im übrigen, d. h. nach Abtötung eines oder eines Teils der Feten noch fortbesteht. Denn das Schutzgut der §§218 ff. StGB ist - mit Eser 91 - nicht der Schwangerschaftszustand als solcher, sondern das auszutragende ungeborene Leben. Das Lebensrecht im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G kommt grundsätzlich jedem einzelnen Fetus zu, auch wenn er sich gleichsam in einer Gefahrengemeinschaft mit der Mutter und den übrigen Feten befindet. Dies hat zur Folge, daß der Fetozid zum Zwecke der Mehrlingsreduktion nur nach Maßgabe der Indikationstatbestände des §218 a StGB straflos bleiben kann und zudem Straflosigkeit die Durchführung eines Beratungs- und Indikationsfeststellungsverfahrens nach den §§218 b, 219 StGB voraussetzt. Auch diese Feststellung ist leichter dem Grundsatz nach getroffen als im Einzelfall vollzogen. Dabei mag die sog. medizinische Indikation in vielen Fällen ein legaler Ansatz sein (§218a Abs. 1 N r . 2 StGB). Aber schon die sog. allgemeine Notlagenindikation (§218 a Abs. 2 Nr. 2 StGB) greift nicht schon deshalb, weil es wider Erwarten oder sogar als Folge einer medizinischen Fehlbehandlung zu einer Mehrlingsschwangerschaft gekommen ist.92 Die grundsätzliche Problematik ist hier, daß zur Rettung einzelner Feten andere gezielt geopfert werden, eine Problematik, die die Strafrechtslehre bisher im postnatalen Bereich beschäftigt hat. Es liegt nahe, hier auf die Entwicklung der Medizin zu setzen. Dabei sind es vor allem zwei Beobachtungen, die möglicherweise - unbeschadet der Strafvorschriften des Embryonenschutzgesetzes - zu einer „Entschärfung" der Situation beitragen. Es wird „mancherorts" auf die übliche hormonelle Stimulation der Frau verzichtet. Dies bedeutet, daß bei jedem Behandlungszyklus nur eine einzige Eizelle gewonnen und ein einziger Embryo in die Gebärmutter verpflanzt wird. Damit besteht das Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft nicht. Eine andere Möglichkeit besteht offenbar darin, daß beim sog. Gametentransfer die gewonnenen Eizellen nicht im Reagenzglas befruchtet, sondern zusammen mit dem Sperma in 91 92
A.a.O., S.65. Eser, a.a.O.
30
die Gebärmutter gebracht werden. Eine Luftblase zwischen Ei und Samen sorgt dafür, daß es nicht schon in der Kanüle zur Befruchtung kommt. Zu Recht macht man am Beispiel selektiven Fetozids die Ambivalenz bestimmter reproduktionsmedizinischer „Fortschritte" sichtbar. Von Seiten der deutschen Ärzteschaft liegt seit 1989 eine Äußerung vor. 93 Zu deren berufsethischen Kernsätzen gehört die Feststellung, daß bei einer Sterilitätsberatung und Sterilitätsbehandlung die Möglichkeit einer späteren Korrektur des Fruchtbarkeitsübermaßes durch Mehrlingsreduktion mittels Fetozid nicht zum „Bestandteil einer Behandlungsstrategie" gemacht werden darf.
IV. Nichtabschließende Bemerkungen Obgleich sich - gemessen an der anfangs aufgestellten Themenliste - die Fortsetzung aufdrängt, bin ich mit meinem Vortrag am Schluß. Die im Embryonenschutzgesetz geregelten Sachverhalte und die Sachverhalte im Wartestand der Gesetzgebung - aus hoffentlich gutem Grunde in den Mittelpunkt meiner Ausführungen gerückt - stehen als naturwissenschaftlich-medizinisch komplizierte Sachverhalte eher am Rande der allgemeinen Lebens- und Werterfahrung und damit auch des allgemeinpublizistischen Interesses, repräsentieren aber rechtsethisch beispielhaft die Verfassungsfragen des Lebensschutzes in Deutschland. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G weist das menschliche Leben in den Rang eines Wertes, dessen normative Geltung nach dem Konstruktionsprinzip des Verfassungsstaates prinzipiell unabhängig von der Fähigkeit des Gesetzgebers zur rechtsethischen Mehrheitsbildung und prinzipiell unabhängig von der Fähigkeit gesellschaftlicher Gruppen - Kirchen, Wissenschaft, Ärzteschaft - zur Entwicklung ethisch evidenter Postulate gestellt ist. Seint"wirkliche Geltung wird freilich ganz wesentlich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestimmt, die auch hier die Rolle eines verfassungsrechtlichen „Wertschrittmachers" übernimmt und im Bedarfsfall den Gesetzgeber anhalten muß, gegenüber einer wertlabilen und wertdiffusen Gesellschaft nach Art des Gegenstromprinzips das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß an allgemeinverbindlicher Lebensethik durchzusetzen. 94 Zugleich zeigt sich aber am Beispiel der sogenannten Fortpflan93 Mehrlingsreduktion mittels Fetozid. Stellungnahme der „Zentralen Kommission der Bundesärztekammer zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Reproduktionsmedizin, Forschung an menschlichen Embryonen und Gentherapie", Bekanntmachung der Bundesärztekammer, DÄB1. 86, 1989, B - 1575 (1577). Zum Ganzen noch mit Nachweisen Dreher/Tröndle, StGB und Nebengesetze, 45. Aufl. 1991, Erl. 6-e vor §218. 94 Dazu eindrucksvoll BVerfG, Urt. vom 25.2.1975, BVerfGE 39, 1 (66).
31
zungsmedizin, daß trotz der starken verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Vorgabe im Bereich des Lebensschutzes der Gesetzgeber über erhebliche Entscheidungsspielräume verfügt. Sicher begünstigt die „Besetzung" des Grundgesetzes mit ethischen Positionen im W e g e der Verfassungsinterpretation die Durchsetzbarkeit von Wertvorstellungen in einem Gemeinwesen wie dem der Bundesrepublik mit weit gestreuter W e r t e - und Wertungsvielfalt, aber beachtlichem Verfassungsrespekt. Auf Dauer erübrigt aber die verfassungsrechtliche Argumentation nicht die rechtspolitische Auseinandersetzung, weil selbst das verfassungsethische Minimum des Grundgesetzes
nicht unbegrenzt unabhängig von
der
W e r t e - und Wertebewußtseinsbildung in der Gesellschaft gehalten werden kann. 9 5 Thomas Morus läßt in seiner „ U t o p i a " durch die Kunstfigur des Raphael Hythlodeus die Situation der Todeskranken im Staate „Utopia" im 2. Buch wie folgt beschreiben: 9 6 „Ist aber die Krankheit nicht nur aussichtslos, sondern dazu noch dauernd schmerzhaft und qualvoll, dann geben die Priester und die Behörden dem Manne zu bedenken, daß er zu allen Verrichtungen unfähig, den Mitmenschen beschwerlich, sich selber lästig, nachgerade ein lebender Leichnam sei, und ermahnen ihn, nicht länger den Todeswurm in seinem Leibe zu füttern... Wer sich dazu überreden läßt, endigt sein Leben entweder durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung oder wird eingeschläfert oder geht so von hinnen, ohne es zu merken; lehnt aber einer ab, so schaffen sie ihn nicht etwa aus der Welt oder behandeln ihn darum weniger aufmerksam. Auf einen solchen Rat hin [ergänze: der Priester] seinem Leben ein Ende zu machen, gilt als ehrenvoll.. ," 9 7 95 Im Falle des Schwangerschaftsabbruchs genügt die Erstreckung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G auf das ungeborene Leben nicht mehr als „Schutzmantel des Rechts" (Paul Mikat). Der Staat würde sich mit einer befristeten oder unbefristeten strafrechtlichen Freigabe in der zentralen Frage des Lebensschutzes aus der allgemeinverbindlichen Staatsethik verabschieden. Er würde sich nur noch die Rolle des wertneutralen Sozialstaates zutrauen: Entscheidet sich die Frau für die Fortsetzung der Schwangerschaft, so fördert er diese Entscheidung mit monetären und praktischen Hilfen; entscheidet sich die Frau gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft, so wird der Schwangerschaftsabbruch als Kassenleistung abgerechnet. Zu diesen und anderen Aspekten der sog. Fristenlösung siehe Steiner (Fn. 85), S. 105 ff. 96 Zit. nach Thomas Morus, Utopia, Ausgabe Diogenes Verlag 1981, S. 130 f. - Siehe auch Reclamausgabe Nr. 513, 1984, S. 106. 97 In der deutschsprachigen Morus-Literatur ist die Euthanasie-Äußerung nicht besonders aufmerksam interpretiert. Immerhin arbeitet Hans Süssmuth (Studien zur Utopia des Thomas Morus, 1967, S. 65) heraus, daß diese Stelle in besonders auffallender Übereinstimmung mit Jambulos Schilderung eines phantastischen Staates stehe. Diese Schilderung ist als Ausschnitt bei Diodor erhalten (Süssmuth, a. a. O., S. 61 ff.). Hytholodaeus entwickelt bekanntlich in der utopischen Staatsschilderung eine Theorie des Gemeinschaftslebens. Eine Privatsphäre gibt es in Utopia nicht. Alle Lebensbereiche sind für jeden nach dem Grundsatz der
32
Im Rahmengespräch (l.Buch der „Utopia") 98 läßt Morus Hythlodeus dagegen p e r s ö n l i c h sagen: „Gott hat uns nicht nur das Recht auf das fremde, sondern sogar auf das eigene Leben genommen."
Die prinzipielle Trennung von Staats- und Gruppen- bzw. Privatethik wird sicher auch durch das Lebensgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G nicht aufgehoben. Die Frage aber, wo gegenwärtig und in Zukunft die Trennlinie beider „Ethiksphären" in Deutschland verläuft, darf man auch in dem nüchtern-professionellen Milieu der Berliner Juristischen Gesellschaft als „spannend" bezeichnen.
Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit verbindlich geregelt (Süssmuth, S. 131). Diesem Grundsatz wird auch die Behandlung der Euthanasie-Frage unterworfen. Da die Vernunft den Ausschlag gibt, so ist es eben unvernünftig, mit dem Sterben zu zögern, wenn das Leben eine Qual ist (Süssmuth, S. 131). 98 Diogenes-Ausgabe (Fn. 96), S. 36; Reclamausgabe (Fn. 96), S.32. Zur persönlichen Einstellung des Thomas Morus siehe näher Karl Heinz Göller, Thomas Morus „Utopia", in: Hauptwerke der Literatur, Schriftenreihe der Universität Regensburg, Bd. 17, 1990, S.97 (114 f.).