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German Pages 263 Year 2015
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 328
Grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in der Europäischen Union Patientenmobilität unter Geltung der Richtlinie 2011/24/EU
Von
Martin Assenmacher
Duncker & Humblot · Berlin
MARTIN ASSENMACHER
Grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in der Europäischen Union
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Krause, Göttingen Prof. Dr. Sebastian Krebber, Freiburg Prof. Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg Prof. Dr. Raimund Waltermann, Bonn
Band 328
Grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in der Europäischen Union Patientenmobilität unter Geltung der Richtlinie 2011/24/EU
Von
Martin Assenmacher
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2014/2015 als Dissertation angenommen.
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© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-14697-0 (Print) ISBN 978-3-428-54697-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84697-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern Brunhilde und Wolfgang und meinem Bruder Michael
Vorwort Europa ist viel mehr als nur eine Wirtschaftsunion – aber Europa ist eben auch genau das. So ist die Rechtsentwicklung im Bereich der Patientenmobilität, die mit den grundlegenden Urteilen des EuGH in den Rechtssachen Decker und Kohll im Jahr 1998 ihren Anfang nahm und in dem Erlass der Richtlinie 2011/ 24/EU im Jahr 2011 ihren vorläufigen Höhepunkt fand, auch weniger Ausdruck eines politischen Strebens nach einem sozialen Europa als vielmehr Konsequenz der europäischen Binnenmarktfreiheiten. Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, diese europäische Rechtsentwicklung auf ihre rechtliche Legitimität hin zu überprüfen, das entstandene unionsrechtliche Regelungsgefüge zu ordnen und die Implementierung dieser Regeln in das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung zu untersuchen. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei denjenigen grundfreiheits- und kompetenzdogmatischen Fragen des Primärrechts gewidmet, die der Thematik zugrunde liegen und in ihr besonders deutlich zu Tage treten. Die Arbeit ist – unter abweichendem Titel – im Wintersemester 2014/2015 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen worden. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Dezember 2014 Berücksichtigung finden. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Raimund Waltermann, möchte ich herzlich für die mir eingeräumten wissenschaftlichen Freiheiten und für die lehrreichen Jahre an seinem Lehrstuhl danken – sein Verständnis von Rechtswissenschaft war für mich stets vorbildlich. Herrn Professor Dr. Gregor Thüsing, LL.M., danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Dank schulde ich auch Herrn Dr. Stephan Pötters, LL.M., der mich zur Bearbeitung dieses spannenden Themas ermutigt hat. In meiner Doktorandenzeit haben mich viele wichtige Menschen begleitet: Lea war immer an meiner Seite und hat mich liebevoll unterstützt – dafür danke ich ihr von Herzen. Frau Antonia Reitter und Herrn Dr. Daniel Krämer danke ich für den starken Zusammenhalt und für das Korrekturlesen der Arbeit. Dem übrigen Lehrstuhlteam, insbesondere Herrn Dr. Sebastian Neumann, Herrn Dr. Klaus Olschewski, Herrn Stephan Seiwerth, Herrn Angar Verma und Herrn Joachim Wenning, sage ich Dank für alle Unterstützung und die unvergessliche gemeinsame Zeit am Lehrstuhl. Auch meine langjährigen Wegbegleiter Herr Dr. Alexander Koof und Herr Dr. Benjamin Momberger waren mir stets eine große Hilfe. Schließlich bedanke ich mich bei unserer Bonner Doktorandenrunde für spannende und bereichernde Abende bei Pizza und Wein.
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Vorwort
Ohne meine Familie wäre all das nicht möglich gewesen – ihnen ist diese Arbeit gewidmet, in Liebe und in Dankbarkeit. Bonn, im Februar 2015
Martin Assenmacher
Inhaltsübersicht Einleitung
25
A. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
B. Anlass für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
Kapitel 1 Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
31
A. Die entschiedenen Rechtssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . .
44
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
F. Rechtsfolge des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 G. Fazit zur Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Kapitel 2 Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
117
A. Der Weg zum Erlass der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 B. Der Regelungsgehalt der Richtlinie im Lichte der EuGH-Rechtsprechung . . . . 123 C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 D. Fazit zur Richtlinie 2011/24/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
10
Inhaltsübersicht Kapitel 3 Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
189
A. Die Hintergründe der Sozialrechtskoordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit der VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . 191 C. Das Regelungsgefüge aus Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch . . . 204 D. Fazit zum unionsrechtlichen Regelungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Kapitel 4 Die Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
220
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung im Lichte des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 B. Konflikte des Kostenerstattungsanspruchs mit den Strukturprinzipien . . . . . . . . . 228 C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 D. Fazit zu den Auswirkungen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Kapitel 5 Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
239
A. Tatsächlicher Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 B. Ökonomische Potentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Inhaltsverzeichnis Einleitung
25
A. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Hintergründe eines besonderen Spannungsverhältnisses . . . . . . . . . . . . 1. Strukturvielfalt mitgliedstaatlicher Gesundheitssysteme . . . . . . . . . . . . . 2. Begrenzte Befugnisse der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialversicherungsabkommen und GATS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 26 26 27 28 28 28 29 29
B. Anlass für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
Kapitel 1 Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
31
A. Die entschiedenen Rechtssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die gemeinsame Struktur der Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhalten am Binnenmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Beeinträchtigung durch das mitgliedstaatliche Recht . . . . . . . . . . . .
31 31 33 34 34 34
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausnahme des Regelungsbereichs der sozialen Sicherheit? . . . . . . . . . . . . . 1. Ausnahme des Regelungsbereichs der sozialen Sicherheit im Allgemeinen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahme des Gesundheitswesens im Besonderen? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausnahme mangels Kompetenzrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahme aufgrund Art. 168 Abs. 7 AEUV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unanwendbarkeit aufgrund Zugehörigkeit zu einem solidarischen System? 1. Parallele zum europäischen Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 35 35 36 36 37 37 37
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Inhaltsverzeichnis 2. Übertragung auf die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausnahme aufgrund Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grund für die Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts . . . . . . . . . . 2. Die Auffassung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis zur Anwendbarkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 39 40 40 42 42 44
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . I. Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtssache Luisi und Carbone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Untersuchung der Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die nachfolgenden Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Deutsches Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Stellungnahme zur passiven Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . aa) Präzisierung der Auslegungsfrage anhand des Wortlauts . . . . . . . bb) Argumente für eine wortlauterweiternde Auslegung . . . . . . . . . . . f) Ergebnis zur passiven Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesundheitsleistungen als Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzüberschreitung des Dienstleistungsverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 45 45 45 47 49 49 50 50 53 56 56 59 59
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabgenehmigungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beurteilung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einordnung der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare Diskriminierung bei Vertragssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beurteilung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einordnung der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Fälle der Diskriminierung durch Vorabgenehmigungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonstige diskriminierende mitgliedstaatliche Bestimmungen . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Keine Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Festlegung eines nationalen Leistungskatalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begrenzung auf nationale Erstattungsbeträge und tatsächliche Kosten . . 3. Ausschluss der Erstattungsfähigkeit von Nebenkosten . . . . . . . . . . . . . . . 4. Allgemeine Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 61 62 62 62 63 65 65 65 66 67 67 68 68 69 70 71
Inhaltsverzeichnis
13
a) Allgemeine tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorherige Konsultation eines Allgemeinarztes und vorheriges Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Keine Beeinträchtigung bei medizinisch notwendigen Behandlungen . .
71
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlegendes für die Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen der Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitgliedstaatliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europäisches Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Europäisches Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . a) Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zwingender Grund des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dogmatische Verortung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Heranziehung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe bei Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unzulässige Rechtfertigungserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rein wirtschaftliche Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kontrolle der Qualität der im Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonstiges kollidierendes Vertragsrecht als Rechtfertigungsgrund . . . . . . a) Art. 35 S. 1 GR-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systematische Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse . . ee) Verhinderung der Aufgabenerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kompetenzordnung der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kompetenzverteilung als Rechtfertigungsgrund? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompetenzverteilung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . c) Kompetenzwahrendes kollidierendes Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . .
73 73 73 73 74 74 74
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76 76 76 77 77 79 79 79 81 81 82 82 82 83 84 84 85 85 85 86 87 88
14
Inhaltsverzeichnis d) Art. 168 Abs. 7 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abwägung der Schutzgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zielkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwägung bei Betroffenheit von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgen für die Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung eines Vorabgenehmigungserfordernisses . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ambulante Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Untersuchung der Rechtsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts . . . . . . . bb) Art. 168 Abs. 7 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stationäre Behandlungen und Einsatz medizinischer Großgeräte . . . . . . a) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik durch das Schrifttum und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnismäßigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses . . . . . . . . . a) Zulässige Gründe für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung . . aa) Gesundheitsleistung gehört nicht zum nationalen Leistungskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorhandenes Behandlungsangebot im nationalen Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kritik durch das Schrifttum und Stellungnahme . . . . . . . . . . . b) Anforderungen an das Genehmigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Vorabgenehmigungserfordernis bei besonderer Dringlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung anderer Beeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis der Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F. Rechtsfolge des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundfreiheitsdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgeleitetes Teilhaberecht oder originäres Leistungsrecht? . . . . . . . . . . . 2. Kompetenzkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitgliedstaatliche Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grenze zwischen negativer und positiver Integration . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anspruchskonkurrenz – Ergänzender Erstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . .
90 91 91 92 93 93 94 94 94 96 97 100 101 101 102 102 103 104 104 104 105 105 107 108 108 109 109 111 111 111 113 113 114 114 115
G. Fazit zur Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Inhaltsverzeichnis
15
Kapitel 2 Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
117
A. Der Weg zum Erlass der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 B. Der Regelungsgehalt der Richtlinie im Lichte der EuGH-Rechtsprechung I. Anwendungsbereich der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zum koordinierenden Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grenzüberschreitend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung zur Dienstleistungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kostenerstattung (Kapitel III der Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Grundsätze für die Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruch auf Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschluss der Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfang der Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschränkungen der Kostenerstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorabgenehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses . . . . . . . . . . . . . aa) Planungsbedarf in den Fällen stationärer Versorgung oder Spezialbehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderes Risiko für den Patienten oder die Bevölkerung . . . . cc) Ernsthafte und spezifische Bedenken hinsichtlich der Qualität oder Sicherheit der Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zulässige Gründe für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung . . aa) Sicherheitsrisiko für den Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sicherheitsrisiko für die Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gesundheitsdienstleister, der zu ernsthaften und spezifischen Bedenken in Bezug auf die Einhaltung der Qualitätsstandards und -leitlinien Anlass gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verfügbarkeit der betreffenden Gesundheitsversorgung im eigenen Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unzulässigkeit der Verweigerung einer Vorabgenehmigung gemäß Art. 8 Abs. 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zur Vorabgenehmigung nach VO (EG) Nr. 883/2004 . . . 3. Anforderungen an das Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten (Kapitel II der Richtlinie) . . . . . . . . . . 1. Grundsätze der Leistungserbringung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 124 124 125 125 126 129 129 131 131 131 132 133 134 134 135 135 135 137 137 138 138 138
139 139 139 140 140 141 141
16
Inhaltsverzeichnis 2. Nichtdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zugang zu Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsverpflichtungen des Behandlungsmitgliedstaats . . . . . . . b) Informationsverpflichtungen des Versicherungsmitgliedstaats . . . . . . 4. Kontinuität der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Folgen bei Schädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Kapitel IV der Richtlinie) . . . . . . . . . 1. Art. 10: „Amtshilfe und Zusammenarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 11: „Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis zu den Regelungen über die Kostenerstattung . . . . . . . . . . c) Regelungsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 12: „Europäische Referenznetzwerke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Art. 13: „Seltene Krankheiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Art. 14: „Elektronische Gesundheitsdienste“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Art. 15: „Zusammenarbeit bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Durchführungsbefugnisse der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Delegierte Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Regelungsverfahren (Art. 16 Abs. 2 i.V. m. Beschluss 1999/468/EG) V. Ergebnis zum Regelungsgehalt der Richtlinie 2011/24/EU . . . . . . . . . . . . . .
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Art. 114 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kompetenzkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 62 i.V. m. Art. 53 Abs. 1 2. Alt. AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 59 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tatbestandliche Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . a) Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Errichtung und Funktionieren des Binnenmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Subjektive Binnenmarktrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Objektive Binnenmarktrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfolgung weiterer Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Behandlung des Problems in der Rechtsprechung des EuGH . . .
142 143 143 144 144 145 145 146 146 147 147 147 148 149 150 150 152 152 153 153 153 154 155 155 156 157 157 158 158 158 158 160 160 161 161 162
Inhaltsverzeichnis
II.
III. IV. V.
VI.
b) Differenzierung zwischen Kompetenz der Union und Wahl der Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritische Auseinandersetzung mit der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Prüfungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kompetenz der Union für den Erlass des Rechtsakts . . . . . . . . . (1) Verfolgung weiterer Ziele im Rahmen von Art. 114 AEUV (2) Gewichtigkeit von Binnenmarktziel und mitverfolgtem Ziel (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wahl der Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Häufung von Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Auflösung der Normenkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schranken der Kompetenzausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 168 Abs. 7 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 168 Abs. 5 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anwendung auf die Richtlinie 2011/24/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kapitel III der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitel II der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kapitel IV der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kompetenzausübungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 168 Abs. 5 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schranken der Kompetenzausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis zur Rechtsetzungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
164 165 167 167 168 169 170 170 171 172 173 173 174 176 177 177 178 178 179 179 180 180 182 182 182 183 184 184 186 187
D. Fazit zur Richtlinie 2011/24/EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Kapitel 3 Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
189
A. Die Hintergründe der Sozialrechtskoordinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit der VO (EG) Nr. 883/2004 . . 191
18
Inhaltsverzeichnis I.
Grundbegriffe des Verordnungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versicherter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wohnort und Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständiger Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aushelfender Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zuständiger Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Prinzip der Sachleistungsaushilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unterscheidung zwischen Sach- und Geldleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Regelungen bei Wohnort in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Regelungen bei vorübergehendem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung zu Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Genehmigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erstattung von Reise- und Aufenthaltskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 26 Abs. 6 VO (EG) Nr. 987/2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kostenerstattungsanspruch bei rechtswidriger Verweigerung der Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergänzender Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgleich zur früheren VO (EWG) Nr. 1408/71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Das Regelungsgefüge aus Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die unterschiedlichen Regelungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfasste Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Dauer des Aufenthalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zweck des Aufenthalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 191 192 192 193 193 193 193 194 194 194 195 196 196 197 197 197 198 199 199 200 201 201 201 201 202 203 204 204 205 205 205 205 205 206 207
Inhaltsverzeichnis (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beschränkung auf nationalen Leistungskatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Genehmigungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Genehmigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsgegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anspruchsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Begrenzung auf die Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten . . . . d) Nebenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis zu den unterschiedlichen Regelungssystemen . . . . . . . . . . . . . . 6. Graphische Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkurrenzverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis zwischen grundfreiheitlichem und richtlinienrechtlichem Kostenerstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zwischen Kostenerstattungsanspruch und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Herstellung von Systemkonsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Systemwidrigkeit des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinheitlichung des Rechtsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Integration des Kostenerstattungsanspruchs in das Verordnungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Streichung des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 208 208 208 208 209 209 210 210 210 210 211 211 212 213 214 214 215 216 216 217 217 218
D. Fazit zum unionsrechtlichen Regelungsgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Kapitel 4 Die Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung im Lichte des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. § 13 Abs. 4 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. § 13 Abs. 5 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Besondere Auslegung durch das BSG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit des Vorabgenehmigungserfordernisses mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzungen der Genehmigungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . b) Begrenzung auf Vertragspartner „im Inland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
220 221 223 223 224 224 225
20
Inhaltsverzeichnis c) Krankenhausleistungen nach § 39 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Abs. 6 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 140e SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzgebung im Zuge der Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 226 226 227 228
B. Konflikte des Kostenerstattungsanspruchs mit den Strukturprinzipien . . . . I. Das Territorialitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Solidaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Sachleistungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Hintergründe des Sachleistungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchbrechungen des Sachleistungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228 229 229 230 230 231
C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vergütungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bedarfsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Problem der Inländerdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233 233 235 235 236 237
III. IV. V. VI.
D. Fazit zu den Auswirkungen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Kapitel 5 Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
239
A. Tatsächlicher Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 B. Ökonomische Potentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. Abs. a. E. AEUV Alt. Art. Aufl. Bd. BGBl. BSG BSGE bspw. BT-Drs. BVerfG bzw. ders. DGUV d.h. Diss. EG et al. EU EuGH EuR EUV EuZW EWG f., ff. Fn. FS GA GATS gem. GesR
anderer Auffassung Amtsblatt Absatz am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Alternative Artikel Auflage Band Bundesgesetzblatt Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts beispielsweise Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht beziehungsweise derselbe Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung das heißt Dissertation Europäische Gemeinschaft et alii Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Union Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Fußnote Festschrift Generalanwalt Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen gemäß Gesundheitsrecht (Zeitschrift)
22 GesundhWes ggf. GGW GR-Charta grds. GuP h. M. Hrsg. Hs. insb. i. S. d. i. S. v. i.V. m. lit. MedR m.w. N. NJW Nr. NZS OECD RDG RGBl. RiL RIW Rn. Rs. Rspr. S. SGb SGB V Slg. sog. SoSi SozR st. Rspr. u. a. UAbs. v. vgl. VO
Abkürzungsverzeichnis Das Gesundheitswesen (Zeitschrift) gegebenenfalls G+G Wissenschaft (Zeitschrift) Charta der Grundrechte der Europäischen Union grundsätzlich Gesundheit und Pflege (Zeitschrift) herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz insbesondere im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit littera Medizinrecht (Zeitschrift) mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Sozialrecht Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen Reichsgesetzblatt Richtlinie Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) Randnummer(n) Rechtssache Rechtsprechung Seite(n), Satz Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz sogenannte Soziale Sicherheit (Zeitschrift) Sammlung Sozialrecht – Loseblattausgabe der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ständige Rechtsprechung unter anderem/und andere Unterabsatz von/vom vergleiche Verordnung
Abkürzungsverzeichnis VSSR WRP ZaöRV ZESAR ZFSH/SGB z. T.
Vierteljahresschrift für Sozialrecht Wettbewerb in Recht und Praxis (Zeitschrift) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis zum Teil
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Einleitung „In den zehn Jahren seit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 1998 in den Rechtssachen Kohll und Decker haben die Juristen Europas die Strategie in Sachen Patientenmobilität bestimmt, weil die Politiker Europas dazu nicht imstande waren. Wenn wir nichts tun, wird der Gerichtshof weiterhin die Verträge im Zusammenhang mit der Mobilität von Patienten auslegen. Er wird die Klarheit schaffen, für die wir Politiker nicht sorgen. Wenn wir uns damit zufriedengeben, die Politikgestaltung den Juristen zu überlassen, dann brauchen wir nichts weiter zu tun – bis auf die Rechnungen zu bezahlen, natürlich, die in unbekannter Höhe auf uns zukommen werden. Wenn wir jedoch der Meinung sind, dass es unsere Aufgabe als gewählte Politiker ist, für Sicherheit in rechtlicher wie in politischer Hinsicht zu sorgen, dann sollten wir ohne weitere Umschweife handeln. Unseren Wählern gefällt die Vorstellung von der Patientenmobilität als Möglichkeit, doch sie wollen und sie erwarten, dass sie vernünftig gehandhabt wird, und sie wollen und erwarten optimale Orientierungshilfen zu den politischen Konzepten und Verfahren.“ 1
Diese Einschätzung des Berichterstatters John Bowis, die er im Jahr 2009 in seinem Bericht für das Europäische Parlament anlässlich des Vorschlags einer Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung formulierte, führt anschaulich den Konflikt vor Augen, mit dem sich die Politiker Europas in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union konfrontiert sahen. Pointiert wurde in der Literatur eine „Entpolitisierung von Gesundheitspolitik“ beklagt, bei der relevante politische Weichenstellungen durch judikative Entscheidungen über die Auslegung von Vertragsnormen ersetzt würden.2 Die vorliegende Arbeit untersucht die Rechtsfragen, die sich im Unionsrecht in Bezug auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen stellen, und analysiert die Auswirkungen der unionsrechtlichen Vorgaben auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Bei Durchdringung der Rechtsprobleme tritt besonders deutlich das Spannungsverhältnis zwischen unionalem Einfluss und mitgliedstaatlicher Souveränität hervor, womit grundlegende Fragen des Unionsrechts aufgeworfen sind. An Brisanz gewinnt die Thematik 1 Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments (Berichterstatter: John Bowis) über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, vom 3.4.2009 [A6-0233/2009; PE 415.355], S. 86. 2 Schmucker, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 13 (32 f.).
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Einleitung
aufgrund der Sensibilität des Themas Gesundheit, welches sich den Regeln des europäischen Binnenmarkts ausgesetzt sieht. Die Vorstellung eines europäischen Markts für Gesundheitsleistungen lässt manche Betrachter das Schreckgespenst der Ökonomisierung sehen, andere verbinden mit ihr die Hoffnung auf ökonomische Heilsbringung.
A. Untersuchungsgegenstand I. Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen als Rechtsproblem Unionsbürger sind grundsätzlich frei, Gesundheitsleistungen im Ausland auf eigene Kosten in Anspruch zu nehmen. Das Rechtsproblem bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen liegt hingegen im Ausgangspunkt in der Fragestellung, ob und in welchem Umfang ein Träger eines nationalen Gesundheitssystems für die Kosten einer Gesundheitsleistung aufkommen muss, die ein Patient in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Anspruch nimmt.3 Schon bevor der EuGH im Jahr 1998 seine Rechtsprechung zu dieser Fragestellung auf der Grundlage des Primärrechts zu entwickeln begann, wurden die Implikationen, die insbesondere von einer auch als Empfangsfreiheit verstandenen Dienstleistungsfreiheit ausgehen, in der deutschen Literatur erkannt und diskutiert.4
II. Die Hintergründe eines besonderen Spannungsverhältnisses 1. Strukturvielfalt mitgliedstaatlicher Gesundheitssysteme Die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit sind konzeptionell unterschiedlich ausgestaltet und bilden ein komplexes, in sich geschlossenes Regelungssystem. Idealtypisch sind die mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme entweder als beitragsfinanzierte Versicherung oder als steuerfinanzierte Versorgung konzipiert.5 Die steuerfinanzierten Gesundheitssysteme werden durch regionale oder nationale Gesundheitsdienste betrieben, welche Leistungen entweder durch 3
Vgl. Krajewski, EuR 2010, 165 (169). Bereits Lichtenberg, VSSR 1978, 125 (131 f., 133 ff., 142 ff.); auch Steindorff, RIW 1983, 831 (832 f.). Monographisch Zechel, Die territorial begrenzte Leistungserbringung der Krankenkassen im Lichte des EG-Vertrages, 1995. Ferner Bieback, in: Schulte/Zacher, Wechselwirkungen zwischen dem europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 177 (179); v. Maydell, in: v. Maydell/Schnapp, Die Auswirkungen des EG-Rechts auf das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik, 1992, S. 25 (32 ff.). 5 Wollenschläger, EuR 2012, 149 (158); näher Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 17 ff.; B. Tiemann, Die Einwirkungen, 2011, S. 69 ff. 4
A. Untersuchungsgegenstand
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eigenes Personal oder mithilfe vertraglich eingebundener Leistungserbringer zur Verfügung stellen. In Versicherungssystemen werden den Versicherten Leistungen durch die Krankenkassen entweder in Form von Sachleistungen oder durch nachträgliche Kostenerstattung gewährt. Prominente Beispiele für diese unterschiedlichen Systemtypen sind Frankreich als Sozialversicherungssystem mit Kostenerstattungsprinzip,6 Deutschland als Sozialversicherungssystem mit Sachleistungsprinzip und das Vereinigte Königreich mit einem steuerfinanzierten System betrieben durch einen staatlichen Gesundheitsdienst7. Eine besondere Ausprägung eines versicherungsbasierten Systems findet sich mittlerweile in den Niederlanden, wo ein Privatversicherungsmodell mit verpflichtender Basisversicherung und Kontrahierungszwang geschaffen wurde.8 Aus der Strukturvielfalt mitgliedstaatlicher Gesundheitssysteme resultieren terminologische Schwierigkeiten: Während in manchen Mitgliedstaaten die zuständigen Einrichtungen Träger der Leistungen sind, tragen sie in anderen Mitgliedstaaten die Kosten. Während die Patienten in manchen Mitgliedstaaten aufgrund Versicherung leistungsberechtigt sind, sind sie dies in anderen Mitgliedstaaten aufgrund ihres Wohnorts im Versorgungsstaat. Es ist daher zum einen verallgemeinernd vom „Träger“ eines mitgliedstaatlichen Gesundheitssystems, also derjenigen Einrichtung, deren Funktion die Tragung der Leistungen oder Kosten ist, zu sprechen. Zum anderen eignet sich bezüglich des Leistungsempfängers verallgemeinernd die Bezeichnung „Patient“. Verbreitet und auch in dieser Arbeit wird in diesem Sinnzusammenhang auch der Begriff des „Versicherten“ verwendet, der insbesondere gemäß Art. 3 lit. b und Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2011/24/EU vereinheitlichend zur Bezeichnung eines Zugehörigem zu einem nationalen Gesundheitssystem benutzt wird, ohne dass es auf die jeweilige konzeptionelle Ausgestaltung dieses Gesundheitssystems ankäme. 2. Begrenzte Befugnisse der Union Dem Primärrecht ist eine deutliche Zurückhaltung hinsichtlich einer europäischen Gesundheitspolitik zu entnehmen.9 Erst mit dem im Jahr 1993 in Kraft getretenen Maastrichter Vertrag wurde eine neue Aufgabe („Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus“, ex-Art. 3 lit. o EGV) und mit dem Titel „Gesundheitswesen“ (ex-Art. 129 EGV) ein eigenständiger Politikbereich geschaffen. Doch sollten hierdurch nur komplementäre Zuständigkeiten eingeräumt und die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Gesundheitspolitik 6 Hierzu Kessler, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 19 ff.; rechtsvergleichend Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 99 ff. 7 Hierzu Roberts, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 33 ff.; rechtsvergleichend Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 149 ff. 8 Hierzu Walser-Peters, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 51 ff. 9 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (150).
28
Einleitung
weiterhin gewahrt werden.10 Dieses „Primat der Mitgliedstaaten für die Gesundheitspolitik“ 11 kommt in der, mit dem Amsterdamer Vertrag im Jahr 1999 eingeführten, heute in Art. 168 Abs. 7 AEUV zu findenden Formulierung zum Ausdruck, wonach „bei der Tätigkeit der Union [. . .] die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt [wird]. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel.“ 3. Unionsrechtliche Vorgaben Trotz dieser nur begrenzten Befugnisse der Union im Bereich der Gesundheitspolitik enthält das Unionsrecht Vorgaben, die auf das mitgliedstaatliche Recht einwirken: Die primärrechtlichen Grundfreiheiten dienen der Verwirklichung eines europäischen Binnenmarkts, welcher – was so mancher Mitgliedstaat lange Zeit nicht glauben mochte – auch im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung Bedeutung erlangt. Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (heute Verordnung (EG) Nr. 883/ 2004, zuvor Verordnung (EWG) Nr. 1408/71) dient dazu, die primärrechtlich garantierte Freizügigkeit durch sozialrechtliche Koordinierung zu gewährleisten. Am 9. März 2011 schließlich erließen das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, die einen politischen Meilenstein in der europäischen Gesundheitspolitik setzt. Der Sekundärrechtsakt kodifiziert die Rechtsprechungslinie des EuGH zur Auslegung der Grundfreiheiten bezüglich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und will darüber hinaus die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Gesundheitsversorgung weitergehend als bislang ermöglichen.
III. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands 1. Unionsrecht Die vorliegende Arbeit befasst sich nicht mit allen unionsrechtlichen Aspekten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Unter die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung können thematisch • die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, • die grenzüberschreitende Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, vom Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, 10 11
Vgl. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 3. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 24.
A. Untersuchungsgegenstand
29
• die Niederlassung eines Gesundheitsdienstleisters in einem anderen Mitgliedstaat sowie • die Freizügigkeit von Angehörigen der Gesundheitsberufe in einem anderen Mitgliedstaat zur Erbringung von Dienstleistungen gefasst werden.12 In dieser Untersuchung soll es allein um die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gehen, also um den Fall, in dem ein Patient eine Gesundheitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Anspruch nimmt; dies wird geläufig auch als „Patientenmobilität“ bezeichnet. Der Begriff „Gesundheitsleistung“ umfasst sowohl die Erbringung von Dienstleistungen als auch die Bereitstellung von Waren; unter ihn fallen insbesondere ambulante und stationäre Behandlungen, die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. 2. Nationales Recht Untersucht werden die Auswirkungen der unionsrechtlichen Vorgaben auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind die Auswirkungen des Unionsrechts auf das private Krankenversicherungsrecht, auf das deutsche Beihilferecht13 sowie auf andere Zweige der Sozialversicherung, insbesondere auf die gesetzliche Pflegeversicherung und die gesetzliche Unfallversicherung14. 3. Sozialversicherungsabkommen und GATS Hebt man den Blick über Europa hinaus und betrachtet die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung unter einem globalen Blickwinkel, werden einerseits Sozialversicherungsabkommen relevant; diese sollen nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Auch das „Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit 12 Siehe Vorschlag für eine Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung [KOM(2008) 414 endgültig], Erwägungsgrund Nr. 10; zu den unterschiedlichen Formen auch Krajewski, EuR 2010, 165 (184). 13 Vgl. hierzu § 11 Abs. 1 BBhV. 14 Zu dieser Fragestellung monographisch: Rühs, Zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme, 2012, insb. S. 291 ff. (307 f.), die aufgrund des Unionsrechts Umsetzungsbedarf in Bezug auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Unfallversicherung sieht. Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip, 2008, untersucht das gesetzliche Unfallversicherungsrecht sowohl im Kontext des europäischen Wettbewerbsrechts als auch der Dienstleistungsfreiheit, wobei allerdings die Auswirkungen der Dienstleistungsfreiheit auf das Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung nur kurz angesprochen werden (S. 241–249). Vgl. ferner in Bezug auf das gesetzliche Unfallversicherungsrecht: Höffer, DGUV-Forum 9/2012, 34 (35 f.); Höffer/Wölfle, DGUV-Forum 11/2009, 26 (29).
30
Einleitung
Dienstleistungen (GATS)“ erlangt für die vorliegende Untersuchung keine Relevanz.15
B. Anlass für die Untersuchung Die im Schrifttum seit den grundlegenden Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Kohll und Decker im Jahr 1998 verstärkt in den Blick genommene Problematik der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen findet sich heute in einem neuen Rechtsrahmen wieder: Der Erlass der Richtlinie 2011/24/EU im Jahr 2011, die Ablösung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 im Jahr 2010 sowie die Vertragsänderungen durch das Vertragswerk von Lissabon im Jahr 2009 bilden ein verändertes unionsrechtliches Regelungsgefüge. Die vorliegende Arbeit will dieses Regelungsgefüge im Hinblick auf die Problematik der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen systematisieren und konzeptionell untersuchen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet eine grundfreiheitsdogmatische Analyse der Rechtsprechungslinie des EuGH.
C. Gang der Untersuchung In den Kapiteln 1 bis 3 dieser Arbeit wird das Unionsrecht behandelt: Kapitel 1 untersucht die Rechtsprechung des EuGH, die zur Frage der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen am Maßstab der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit ergangen ist. Kapitel 2 widmet sich der Richtlinie 2011/24/EU; es werden deren Entstehungsgeschichte, ihr Regelungsgehalt und die Rechtsetzungskompetenz der Union untersucht. In Kapitel 3 wird ein weiterer Baustein im unionsrechtlichen Regelungsgefüge behandelt: das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Gestalt der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009. Nach Darstellung der Regelungen des Verordnungsrechts zu Leistungen bei Krankheit soll das dreischichtige unionsrechtliche Regelungsgefüge systematisiert werden. Kapitel 4 dient der Untersuchung der Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Ausgehend vom normativen Befund werden die Auswirkungen auf die Strukturprinzipien und das Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung untersucht. Kapitel 5 enthält einen kurzen Abriss über den tatsächlichen Befund und ökonomische Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Die Arbeit schließt mit einer thesenartigen Zusammenfassung der gefundenen wesentlichen Forschungsergebnisse. 15 Hierzu Hernekamp, Die Liberalisierung von Gesundheitsdienstleistungen nach dem Weltdienstleistungshandelsabkommen GATS, 2013; Schmidt, Die Auswirkungen des GATS auf den deutschen Gesundheitssektor, 2010.
Kapitel 1
Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch Der Gerichtshof der Europäischen Union begann im Jahr 1998 in einer fortlaufenden Reihe von Entscheidungen die Rechtsgrundsätze eines unmittelbar aus den Grundfreiheiten abgeleiteten Kostenerstattungsanspruchs für die Fälle der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu entwickeln. Gegenstand dieser Rechtsprechung ist die Auslegung der Warenverkehrsund insbesondere der Dienstleistungsfreiheit bezogen auf die Ausgangsfrage, ob und in welchem Umfang ein Träger eines nationalen Gesundheitssystems für die Kosten einer Gesundheitsleistung aufkommen muss, die ein Patient in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Anspruch nimmt.
A. Die entschiedenen Rechtssachen Zu den an diese Ausgangsfrage anknüpfenden Rechtsfragen sind bisher fünfzehn Entscheidungen des EuGH ergangen, in denen die Rechtsprechungsgrundsätze Schritt für Schritt fortentwickelt und ausdifferenziert wurden. Sämtliche Entscheidungen in den ersten zehn Jahren der Rechtsprechungsentwicklung beruhen auf Vorabentscheidungsverfahren; es waren also die Bürger der Europäischen Union, die sich auf ihre Freiheiten im europäischen Binnenmarkt beriefen. Erst seit dem Jahr 2008 wird die Rechtsentwicklung zusätzlich durch Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen einzelne Mitgliedstaaten vorangetrieben.
I. Die Vorabentscheidungsverfahren Den bisher dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtssachen lagen nationale Rechtsstreite zwischen Patienten und dem in ihrem Mitgliedstaat für Leistungen bei Krankheit zuständigen Träger zugrunde. Ganz überwiegend war Anlass des Rechtsstreits, dass der Träger die Kostenerstattung für eine in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistung verweigert hatte. In anderen Fällen hatte der Patient die Gesundheitsleistung noch nicht erhalten, sondern zunächst nur einen Antrag auf Genehmigung gestellt, welcher vom zuständigen Träger abgelehnt worden war. Konkret betrafen die zu entscheidenden Rechtssachen die Verweigerung der Kostenerstattung seitens einer luxemburgischen Krankenkasse für eine in Belgien
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
erworbene Brille mit Korrekturgläsern,1 die Versagung einer Genehmigung seitens einer luxemburgischen Krankenkasse für eine geplante Zahnregulierung in Deutschland,2 die Verweigerung der Kostenerstattung seitens eines belgischen Trägers für eine orthopädische Operation in einem Krankenhaus in Frankreich,3 die Verweigerungen der Kostenerstattung seitens niederländischer Träger für eine kategoriale und multidisziplinäre Behandlung einer Patientin mit parkinsonscher Krankheit in einer deutschen Klinik bzw. für eine spezielle intensive Neurostimulationstherapie eines Unfallopfers in einer Klinik in Österreich,4 die Verweigerungen der Kostenerstattung seitens niederländischer Träger für eine in Deutschland durchgeführte Zahnbehandlung bzw. für eine Arthroskopie in einem Krankenhaus in Belgien,5 die Verweigerung der Kostenübernahme seitens einer französischen Krankenkasse für eine geplante multidisziplinäre Schmerzbehandlung in einem Krankenhaus in Deutschland,6 die Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung der Beihilfefähigkeit von sonstigen Aufwendungen für eine Heilkur in Italien seitens der (damaligen) deutschen Bundesanstalt für Arbeit,7 die Verweigerung der Kostenerstattung seitens des englischen Trägers für die Einsetzung eines künstlichen Hüftgelenks in einer Klinik in Frankreich,8 die Verweigerung der Kostenerstattung seitens eines griechischen Trägers für eine Behandlung in einer englischen Privatklinik,9 die Verweigerung der Kostenerstattung seitens eines bulgarischen Trägers für eine Behandlung in einer Spezialklinik in Deutschland,10 sowie die Verweigerung der Kostenerstattung seitens eines rumänischen Trägers für eine Operation am Herzen in einem deutschen Krankenhaus11. Mit der Vorlage zur Vorabentscheidung wollten die mitgliedstaatlichen Gerichte vom EuGH im Ausgangspunkt die Frage beantwortet wissen, ob es mit der Warenverkehrs- bzw. Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist, wenn eine Regelung des mitgliedstaatlichen Rechts den Anspruch auf Kostenerstattung für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen beschränkt (meist dadurch, dass zur Voraussetzung der Kostenerstattung die vorherige Erteilung einer Genehmigung durch den zuständigen nationalen Träger gemacht wird)12. Der 1
EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831. EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931. 3 EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363. 4 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473. 5 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509. 6 EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403. 7 EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641. 8 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325. 9 EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185. 10 EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889. 11 EuGH, 9.10.2014 – C-268/13 – Petru. 12 Derartige mitgliedstaatliche Regelungen waren in den Rs. Decker, Kohll, Smits/ Peerbooms, Müller-Fauré und van Riet, Inizan sowie Elchinov betroffen. In der Rs. Van2
A. Die entschiedenen Rechtssachen
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vielen Entscheidungen zu dieser – im Ausgangspunkt stets gleichgelagerten – unionsrechtlichen Fragestellung bedurfte es, weil zum einen die Eigenarten des jeweils betroffenen nationalen Gesundheitssystems13 sowie die Besonderheiten der jeweils betroffenen Gesundheitsleistung14 und zum anderen vielgestaltige Einzelfragen15 nach einer rechtlichen Einordnung verlangten.
II. Die Vertragsverletzungsverfahren In den Vertragsverletzungsverfahren ging die Europäische Kommission bislang gegen die Mitgliedstaaten Spanien16, Frankreich17, Luxemburg18 und Portugal19 vor und rügte, dass bestimmte Regelungen des mitgliedstaatlichen Rechts gegen die Dienstleistungsfreiheit verstießen. Es ging um gesetzliche Bestimmungen, die den Anspruch auf Kostenerstattung für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht vorsahen oder von bestimmten Voraussetzungen abhängig machten.20 braekel sah das nationale Recht eine Erstattungsmöglichkeit nur für stationäre Behandlungen (allerdings unter der Bedingung eines vorherigen vertrauensärztlichen Gutachtens), nicht jedoch für ambulante Leistungen vor. In der Rs. Leichtle ging es um eine nationale Regelung, die die Erstattungsfähigkeit der Kosten einer Gesundheitsleistung („sonstige Aufwendungen für eine Heilkur“) im Ausland davon abhängig machte, dass eine „wesentlich größere Erfolgsaussicht“ als im Inland besteht. In der Rs. Watts war im mitgliedstaatlichen Recht ein Kostenerstattungsanspruch gegen den nationalen (steuerfinanzierten) Gesundheitsdienst überhaupt nicht vorgesehen. In der Rs. Stamatelaki ging es um eine mitgliedstaatliche Regelung, die die Kostenerstattung für eine Behandlung in ausländischen Privatkliniken (außer im Falle der Behandlung von Kindern) ausschloss. 13 Namentlich: Sozialversicherungssystem mit Sachleistungsprinzip statt wie zuvor Kostenerstattungsprinzip (Rs. Smits/Peerbooms sowie Müller-Fauré und van Riet); steuerfinanziertes Gesundheitssystem (Rs. Watts). 14 Namentlich: Stationäre statt wie zuvor ambulante Behandlung (Rs. Smits/Peerbooms sowie Müller-Fauré und van Riet); Heilkur (Rs. Leichtle); Behandlung in einer ausländischen Privatklinik (Rs. Stamatelaki). 15 Darunter: Ergänzende Erstattungsmöglichkeit des Differenzbetrags zum Erstattungsanspruch gemäß Art. 22 Abs. 1 lit. c i VO (EWG) Nr. 1408/71 (Rs. Vanbraekel); Kriterien der „Üblichkeit“ und der „medizinischen Notwendigkeit“ einer Behandlung (Rs. Smits/Peerbooms); Begriff der „Rechtzeitigkeit“ einer Behandlung, Zulässigkeit von Wartelisten, Berechnung der erstattungsfähigen Kosten sowie Erstattungsfähigkeit von Nebenkosten (Rs. Watts). 16 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267. 17 EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833. 18 EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247. 19 EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547. 20 Im Einzelnen: Keine über die Kostentragung aus Art. 22 Abs. 1 lit. a VO (EWG) Nr. 1408/71 [jetzt: Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004] hinausgehende ergänzende Kostenerstattung für sämtliche Fälle medizinisch notwendiger Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat (Rs. Kommission/Spanien); Erfordernis einer vorherigen Genehmigung für die Kostenerstattung von Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat, die außerhalb eines Krankenhauses erbracht werden und den Einsatz medizinischer Groß-
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
III. Die gemeinsame Struktur der Fälle Den vom Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen liegt eine gemeinsame Struktur zugrunde, die die Verknüpfungen zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlicher Rechtsordnung abbildet. 1. Das Verhalten am Binnenmarkt Anknüpfungspunkt für die Anwendung der Grundfreiheiten ist das (potentielle) Verhalten des Patienten, Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch zu nehmen. Dieses Verhalten ist grundfreiheitlich relevant, weil es auf einen grenzüberschreitenden Leistungsaustausch mit dem Erbringer einer Gesundheitsleistung abzielt und dies einen unionrechtlich gewährleisteten Freiheitsraum im europäischen Binnenmarkt berührt. Dieser Freiheitsraum wird im Fall der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen konstituiert durch die Produktverkehrsfreiheiten21, also die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit. Da die typische Form einer Gesundheitsleistung die medizinische Behandlung eines Patienten durch einen Angehörigen eines Gesundheitsberufs ist – was Dienstleistungscharakter hat –, verwundert es nicht, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs fast ausschließlich zur Dienstleistungsfreiheit ergangen sind. Zwar betraf die im Jahr 1995 zu allererst beim EuGH zur Problematik eingegangene Rechtssache Decker die Warenverkehrsfreiheit. Nachfolgend ergingen jedoch ausschließlich Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit. Somit war von jeher die Dienstleistungsfreiheit maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Entwicklung der Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. 2. Die Beeinträchtigung durch das mitgliedstaatliche Recht Das Verhalten am Binnenmarkt, Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch zu nehmen, wurde in den entschiedenen Rechtssachen nicht etwa dadurch beeinträchtigt, dass es Patienten aufgrund mitgliedstaatlichen Rechts untersagt gewesen wäre, Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedgeräte erfordern (Rs. Kommission/Frankreich); keine Kostenerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführte biomedizinische Analysen, sondern nur System der unmittelbaren Übernahme durch die nationalen Krankenkassen bei Erbringung durch vertraglich gebundenen Leistungserbringer (Rs. Kommission/Luxemburg); keine nationale Regelung zur Kostenerstattung für ambulante Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat bzw. Vorabgenehmigungserfordernis im Fall der „hochspezialisierten medizinischen Versorgung“ (Rs. Kommission/Portugal). 21 Zu diesem gebräuchlichen Begriff Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 5; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 3 f.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
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staat in Anspruch zu nehmen; dies stand den Patienten in allen Fällen frei. Das mitgliedstaatliche Recht erlangte jedoch Bedeutung, weil Regelungen, die das Rechtsverhältnis zwischen Träger und Patient betrafen, die Erstattung der Kosten für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht vorsahen oder von bestimmten Voraussetzungen abhängig machten. Ausgangspunkt der Beeinträchtigung des grundfreiheitlich relevanten Verhaltens und damit Auslöser für die Anrufung des EuGH waren somit die Regelungen des mitgliedstaatlichen Rechts über die Kostentragung bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Bevor ein Verstoß gegen Grundfreiheiten geprüft werden kann, ist zunächst die Frage nach ihrer Anwendbarkeit zu untersuchen.
I. Ausnahme des Regelungsbereichs der sozialen Sicherheit? 1. Ausnahme des Regelungsbereichs der sozialen Sicherheit im Allgemeinen? Regelungen über Leistungen bei Krankheit lassen sich in den europäischen Mitgliedstaaten Systemen der sozialen Sicherheit zuordnen. Die Mitgliedstaaten vertraten lange Zeit die Auffassung, dass der Regelungsbereich der sozialen Sicherheit vor dem Zugriff binnenmarktrechtlicher Freiheiten geschützt sei.22 Hierbei stütze man sich auf die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung wiederholte Aussage, dass „das Unionsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt23 und dass in Ermangelung einer Harmonisierung auf der Ebene der Europäischen Union das Recht jedes Mitgliedstaats bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden“.24 Auch von Seiten des Schrifttums wurde vor dem historischen und systematischen Hintergrund des Vertrags dafür plädiert, die Sozialversicherung als von den Vorschriften über die Dienstleistungsfreiheit ausgenommen zu betrachten.25 22 Siehe etwa die Auffassungen der Mitgliedstaaten in EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 18; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 16. 23 So bereits EuGH, 7.2.1984 – C-238/82 – Duphar, Slg. 1984, 523, Rn. 16. 24 So bereits EuGH, 24.4.1980 – C-110/79 – Coonan, Slg. 1980, 1445, Rn. 12; EuGH, 4.10.1991 – C-349/87 – Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Rn. 15; sowie ausdrücklich für Leistungsansprüche: EuGH, 30.1.1997 – C-4/95 und C-5/95 – Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511, Rn. 36. 25 Fuchs, NZS 2002, 337 (341 f.); dagegen mit historischen Argumenten: Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 257 f.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Der EuGH stellte jedoch von Beginn der Rechtsentwicklung an klar, dass dies nicht zu einer Bereichsausnahme bei der Anwendung der Grundfreiheiten führen könne. Denn gleichwohl müssten die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht beachten.26 Dass eine nationale Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehöre, schließe die Anwendung der Grundfreiheiten nicht aus.27 Die Verwirklichung der Grundfreiheiten verpflichte die Mitgliedstaaten unvermeidlich, einige Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzunehmen, ohne dass dies als Eingriff in ihre souveräne Zuständigkeit in dem betreffenden Bereich angesehen werden könnte.28 Die Auffassung des EuGH überzeugt. Das Unionsrecht sieht eine Bereichsausnahme der Grundfreiheiten für den Regelungsbereich der sozialen Sicherheit nicht ausdrücklich vor; auch aus der Systematik des Vertrags29 sowie aus historischen Gründen30 lässt sich eine Bereichsausnahme nicht entnehmen. Der Regelungsbereich der sozialen Sicherheit ist somit nicht vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten ausgenommen.31 2. Ausnahme des Gesundheitswesens im Besonderen? a) Ausnahme mangels Kompetenzrechts? Die Unanwendbarkeit der Grundfreiheiten kann sich von vornherein nicht aus einer fehlenden Unionskompetenz in einem bestimmten Regelungsbereich ergeben. Die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten führt nicht dazu, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Kompetenzen nicht höherrangiges Unionsrecht zu beachten hätten. Zuständigkeitsvorschriften befreien nicht von der Bindung an diejenigen materiellen Maßstäbe, die bei der Ausübung
26 St. Rspr., EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 17 ff.; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 92; vgl. auch Schlussanträge GA Tesauro, 16.9.1997 – C-120/95 und C-158/96 – Decker und Kohll, Slg. 1998, I-1834, Rn. 17 ff. 27 St. Rspr., EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 21; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 39; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 50. 28 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 102; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 121. 29 Ausführlich Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 46 ff. (57). 30 Hierzu Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 257 f. 31 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 25 ff.; Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 70; Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 40 f.; Schulte, in: Jorens/Schulte, Grenzüberschreitende Inanspruchnahme, 2003, S. 169 (173); Wunder, Grenzüberschreitende Krankenbehandlung, 2008, S. 111 ff.; Zerna, Der Export von Gesundheitsleistungen, 2003, S. 61 ff.; auch Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip in der gesetzlichen Unfallversicherung, 2008, S. 244 f.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
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der Kompetenz zu beachten sind.32 Das Bestehen einer Unionskompetenz ist daher nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten;33 der Anwendungsbereich des Unionsrechts reicht weiter als die Kompetenzen der Union.34 b) Ausnahme aufgrund Art. 168 Abs. 7 AEUV? Auch aus Art. 168 Abs. 7 S. 1 AEUV, wonach bei der Tätigkeit der Union die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt wird, lässt sich eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der Grundfreiheiten für den Bereich des Gesundheitswesens nicht entnehmen. Art. 168 Abs. 7 AEUV wird als Kompetenzausübungsgrenze verstanden;35 die Vorschrift beinhaltet dagegen keine tatbestandliche Bereichsausnahme für die Grundfreiheiten36.
II. Unanwendbarkeit aufgrund Zugehörigkeit zu einem solidarischen System? Die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit verwirklichen – je nach nationaler Konzeption mehr oder weniger ausgeprägt – den Gedanken der Solidarität. Das Solidarprinzip vermittelt einen sozialen Ausgleich unter den Versicherten, der über den üblichen Risikoausgleich in der Privatversicherung hinausgeht.37 Fraglich ist, ob dieser Umstand dazu führen kann, dass nationale Bestimmungen über Leistungen, die innerhalb eines solchen Systems erbracht werden, nicht an den Grundfreiheiten zu messen sind. 1. Parallele zum europäischen Wettbewerbsrecht Vergleicht man die vorliegende Frage mit der Rechtsprechung des EuGH zum europäischen Wettbewerbsrecht, könnte aus den dort entwickelten Grundsätzen gefolgert werden, dass der nationale Regelungsbereich der sozialen Sicherheit nicht den Bestimmungen des europäischen Binnenmarktrechts unterliegt. Ansatz32 Becker, NZS 1998, 359 (361); Kingreen, NJW 2001, 3382; ders., ZESAR 2003, 199; Wollenschläger, EuR 2012, 149 (155); ferner: Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 259; Zerna, Der Export von Gesundheitsleistungen, 2003, S. 67 f. 33 Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 286 ff. 34 Kingreen, NJW 2001, 3382. 35 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 36 Grundsätzlich Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 290 ff. (293); ferner Wollenschläger, EuR 2012, 149 (155). 37 Kingreen, NJW 2001, 3382.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
punkt im europäischen Wettbewerbsrecht gemäß Art. 101 ff. AEUV ist der Begriff des Unternehmens. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfasst der Begriff jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten.38 Für Einrichtungen, deren Aufgabe die Verwaltung der Systeme der sozialen Sicherheit ist, verneint der EuGH in ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit, wenn das System einen sozialen Zweck verfolgt, den Grundsatz der Solidarität umsetzt und staatlicher Aufsicht unterworfen ist.39 Insbesondere wurde die Unternehmenseigenschaft deutscher Krankenkassen verneint, da diese eine rein soziale Aufgabe wahrnehmen, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruhe und ohne Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt werde, wobei insbesondere die gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen hervorzuheben sei, ihren Mitgliedern im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen anzubieten, die unabhängig von der Beitragshöhe sind.40 2. Übertragung auf die Grundfreiheiten Aus diesen Rechtsprechungsgrundsätzen könnte nun der Schluss gezogen werden, dass – wenn die Träger eines solidarischen Gesundheitssystems schon nicht den europäischen Wettbewerbsregeln unterfallen – auch die Regelungen über die Leistungen, zu deren Erbringung oder Beschaffung sie gesetzlich verpflichtet sind, nicht an den europäischen Grundfreiheiten zu messen sind.41 Denn sowohl die Wettbewerbsregeln als auch die Grundfreiheiten dienen der Verwirklichung eines europäischen Binnenmarkts,42 so dass diese identische Zielsetzung auch einen Gleichlauf in der rechtlichen Beurteilung nach sich ziehen müsste, um Wertungswidersprüche zu vermeiden. Diese Parallele wird in den Entscheidungen des EuGH nicht gezogen; einzig Generalanwalt Tesauro reißt in seinen
38 St. Rspr., EuGH, 22.1.2002 – C-218/00 – Cisal (INAIL), Slg. 2002, I-691, Rn. 23; EuGH, 5.3.2009 – C-350/07 – Kattner Stahlbau, Slg. 2009, I-1513, Rn. 34; EuGH, 3.3.2011 – C-437/09 – AG2R Prévoyance, Slg. 2011, I-973, Rn. 41 f. 39 EuGH, 17.2.1993 – C-159/91 – Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, Rn. 8 ff.; EuGH, 22.1.2002 – C-218/00 – Cisal (INAIL), Slg. 2002, I-691, Rn. 37 ff.; EuGH, 5.3.2009 – C-350/07 – Kattner Stahlbau, Slg. 2009, I-1513, Rn. 42 f.; EuGH, 3.3.2011 – C-437/09 – AG2R Prévoyance, Slg. 2011, I-973, Rn. 45 f. Ausführlich zu dieser Rechtsfrage: Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 318 ff.; Kluckert, Gesetzliche Krankenkassen, 2009, S. 136 ff. 40 EuGH, 16.3.2004 – C-264/01 u. a. – AOK Bundesverband u. a., Slg. 2004, I-2493, Rn. 51 f. 41 Dies im Ergebnis befürwortend: Fuchs, NZS 2002, 337 (440 ff.). 42 Siehe für die Wettbewerbsregeln Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV sowie Protokoll Nr. 27 (ABl. C 83 vom 30.3.2010, S. 309); für die Grundfreiheiten normiert dies Art. 26 Abs. 2 AEUV.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
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Schlussanträgen zu den Rechtssachen Decker und Kohll die Problematik an, ohne sich näher mit ihr auseinanderzusetzen.43 Es ist allerdings zu beachten, dass die Rechtsprechung des EuGH zum europäischen Wettbewerbsrecht nicht zu einer generellen Bereichsausnahme für Träger der sozialen Sicherheit führt. Vielmehr unterfallen Träger der sozialen Sicherheit nur dann nicht den Bestimmungen, wenn – und solange –44 sie tatbestandlich aufgrund des Vorliegens besonderer Merkmale nicht als „Unternehmen“ im Sinne der Wettbewerbsvorschriften angesehen werden können. Der Rechtsbegriff „Unternehmen“ taucht jedoch im Recht der Grundfreiheiten nicht auf. Normativ besteht damit kein Anknüpfungspunkt, anhand dessen die Rechtsprechung des EuGH zum Unternehmensbegriff auf das Recht der Grundfreiheiten übertragen werden könnte. Will man nun Wertungen aus der Rechtsprechung des EuGH zum europäischen Wettbewerbsrecht ableiten und diese auf die Grundfreiheiten übertragen, müsste das Solidarprinzip in vergleichbarer Weise das Verhalten am Binnenmarkt prägen. Während jedoch das Wettbewerbsrecht das unternehmerische Handeln eines Trägers der sozialen Sicherheit in den Blick nimmt, bildet für die Grundfreiheiten die wirtschaftliche Leistungsbeziehung zwischen Leistungserbringer und Patient den Anknüpfungspunkt zur Verwirklichung des Binnenmarkts. Auch wenn der Träger der sozialen Sicherheit von dieser Leistungsbeziehung mittelbar betroffen ist,45 weil er die aus dieser Leistungsbeziehung entstehenden Kosten trägt, vollzieht sich die Leistungserbringung doch außerhalb des Solidarprinzips und ist wirtschaftlich geprägt.46 Eine Übertragung des solidarischen Gedankens auf die wirtschaftlich geprägte Leistungsbeziehung zwischen Leistungserbringer und Patient scheidet daher aus.
III. Ausnahme aufgrund Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV? Eine Ausnahme von der Anwendung der Grundfreiheiten im Regelungsbereich der sozialen Sicherheit könnte sich normativ aus Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV ergeben. Jedoch ist die Vorschrift im Rahmen der Prüfung der Grundfreiheiten nicht als Bereichsausnahme, sondern als eigenständiger Rechtfertigungsgrund zu 43 Schlussanträge GA Tesauro, 16.9.1997 – C-120/95 und C-158/96 – Decker und Kohll, Slg. 1998, I-1834, Rn. 20 ff. 44 Zu den diesbezüglichen Entwicklungen im Recht der GKV: Welti, in: Gerlinger/ Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 85 (95 ff.). 45 Klarstellend zu diesem „Beziehungsgeflecht“: Becker/Walser, NZS 2005, 449 (455). 46 Becker, NZS 1998, 359 (361); Jäger-Lindemann, Die Vereinbarkeit, 2004, S. 58; Kaufmann, Einfluss des Europarechts, 2003, S. 42; Kingreen, NJW 2001, 3382; Wunder, Grenzüberschreitende Krankenbehandlung, 2008, S. 117 f.; ferner in diesem Sinne Schulte, in: Jorens/Schulte, Grenzüberschreitende Inanspruchnahme, 2003, S. 169 (172 f.); auch Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip, 2008, S. 244.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
verstehen.47 Diese Einordnung des EuGH erklärt sich aus der Prüfungsreihenfolge: Die Norm macht zur Voraussetzung, dass die Anwendung einer Vorschrift die Erfüllung der besonderen Aufgaben verhindert. Im Falle einer Grundfreiheit liegt eine Verhinderung aber erst vor, wenn die Grundfreiheit die Maßnahme untersagt,48 wenn also eine Verhaltensweise in den Schutzbereich fällt, eine Beeinträchtigung vorliegt und keine anderen Gründe zur Rechtfertigung eingreifen. Erst dann kann eine Legitimation nach Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV geprüft werden. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV führt somit nicht zur Unanwendbarkeit der Grundfreiheiten.
IV. Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts? Die primärrechtlichen Grundfreiheiten könnten als Prüfungsmaßstab im Regelungsbereich der Leistungen bei Krankheit aufgrund des Vorliegens abschließenden Sekundärrechts unanwendbar sein. Abschließendes Sekundärrecht könnte in Gestalt der Verordnungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004 sowie Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009)49 geschaffen worden sein. 1. Grund für die Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts Ist eine abschließende Rechtsharmonisierung durch Sekundärrecht erfolgt, sind die Regelungen des Sekundärrechts vorrangig vor den Grundfreiheiten als Prüfungsmaßstab heranzuziehen.50 Diese Vorrangigkeit ist jedoch nicht als Auflösung einer Normenkonkurrenz zu verstehen, mit der Folge, dass – etwa unter Anwendung der lex-specialis-Regel – die primärrechtlichen Grundfreiheiten 47 Vgl. (in Bezug auf einen Verstoß gegen Art. 37 EGV [Art. 37 AEUV]) EuGH, 23.10.1997 – C-157/94 – Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Rn. 25 ff.; in Bezug auf einen Verstoß gegen Art. 59 EGV (Dienstleistungsfreiheit): EuGH, 18.6. 1998 – C-266/96 – Corsica Ferries France, Slg. 1998, I-3949, Rn. 59 („dass eine [. . .] Beschränkung, selbst wenn sie vorliegen sollte, nicht gegen Art. 59 EGV verstößt, sofern die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 90 Abs. 2 [EGV = Art. 106 Abs. 2 AEUV] vorliegen“). Vgl. ferner Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 153; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 210; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Art. 106 AEUV Rn. 62. Ferner Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 344 f. m.w. N., wonach der Aufbau der Norm der klassischen Struktur eines Rechtfertigungsgrundes entspreche. 48 Zutreffend Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 153. 49 Bzw. ihrer Vorgängerverordnungen VO (EWG) Nr. 1408/71 und VO (EWG) Nr. 574/72. 50 St. Rspr., EuGH, 17.4.2007 – C-470/03 – AGM-COS.MET, Slg. 2007, I-2749, Rn. 50 m.w. N.; EuGH, 30.4.2009 – C-132/08 – Lidl Magyarország, Slg. 2009, I-3841, Rn. 42. Ferner: Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, Rn. 382; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 9. Aufl. (2014), Rn. 816; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 18; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 34 AEUV Rn. 38; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 45.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
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durch die Regelungen des Sekundärrechts verdrängt würden; eine solche Wirkung wäre schon normenhierarchisch nicht erklärbar.51 Vielmehr ergibt sich die Vorrangigkeit des Sekundärrechts aus dem Umstand, dass seine Regelungen die in den Grundfreiheiten verbürgten Freiheitsgehalte aufnehmen und konturieren und somit den konkreteren Prüfungsmaßstab für die betroffene Sachmaterie bieten.52 Die Vorrangigkeit des Sekundärrechts besteht nur im Umfang der Harmonisierung eines bestimmten Rechtsbereichs: Bei einer Totalharmonisierung besteht grundsätzlich kein Bedürfnis zur Anwendung der Grundfreiheiten, bei einer Teilharmonisierung – wenn das Sekundärrecht also gerade nicht abschließend ist – sind die Grundfreiheiten in den nichtharmonisierten Bereichen als Prüfungsmaßstab heranzuziehen.53 Auch dann, wenn innerhalb der betroffenen Sachmaterie ein Regelungsdefizit des Sekundärrechts hinsichtlich eines in den Grundfreiheiten verbürgten Freiheitsgehalts besteht, kann auf die Grundfreiheiten zurückgegriffen werden.54 Ferner bleiben die Grundfreiheiten für das Sekundärrecht auch insoweit von Relevanz, als das Sekundärrecht im Rahmen einer Rechtmäßigkeitskontrolle mit den Grundfreiheiten vereinbar sein muss55 und primärrechtskonform auszulegen ist56. Ob und in welchem Umfang eine Harmonisierung durch einen Sekundärrechtsakt erfolgt ist, ist durch Auslegung des Rechtsakts zu ermitteln, wobei Wortlaut, aber auch Ziel und Zwecksetzung der Maßnahme im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes zu berücksichtigen sind.57 51
Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. (2012), Rn. 789. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 18; ferner Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 8. 53 Vgl., insb. bezüglich der Begrifflichkeiten: Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, Rn. 382 ff. (insb. 383); ferner Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 8. 54 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. (2012), Rn. 789. 55 Vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 9; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, Rn. 382; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 34 AEUV Rn. 36, 38; Wollenschläger, EuR 2012, 149 (156); a. A. aber Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 109 f. Der EuGH prüft in st. Rspr. – jedenfalls im Zusammenhang mit Art. 34/35 AEUV – das Sekundärrecht am Maßstab der Grundfreiheiten, siehe EuGH, 14.12.2004 – C-210/03 – Swedish Match, Slg. 2004, I-11893, Rn. 59 m.w. N. 56 Vgl. Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 15 Rn. 50 f.; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 9; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 20; a. A. aber Kingreen, in: Calliess/Ruffert Art. 36 AEUV Rn. 18 (Fn. 51), 109 f. Nach st. Rspr. des EuGH „ist eine Bestimmung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts möglichst so auszulegen, dass sie mit dem [. . .] [Vertrag] vereinbar ist“, siehe EuGH, 27.1.1994 – C-98/91 – Herbrink, Slg. 1994, I-223, Rn. 9 m.w. N.; EuGH, 29.6.1995 – C-135/93 – Spanien/Kommission, Slg. 1995, I-1651, Rn. 37 m.w. N. 57 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, Rn. 383; vgl. ferner Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 18; siehe auch EuGH, 17.4.2007 – C-470/03 – AGMCOS.MET, Slg. 2007, I-2749, Rn. 53. 52
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
2. Die Auffassung des EuGH Der EuGH verneint im vorliegenden Regelungsbereich die Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts. In ständiger Rechtsprechung führt er aus, dass die Anwendbarkeit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auf einen Sachverhalt nicht ausschließe, dass dieser Sachverhalt auch in den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten falle.58 Denn das Verordnungsrecht verleihe einen Anspruch auf Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthaltsorts nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Leistungserbringung. Die Anwendbarkeit dieser Vorschriften auf den in Rede stehenden Sachverhalt schließe jedoch nicht aus, dass der Betroffene parallel dazu gemäß Art. 56 AEUV einen Anspruch auf Zugang zu Leistungen der Gesundheitspflege in einem anderen Mitgliedstaat unter Bedingungen der Kostenübernahme hat, die sich von den in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gewährten Leistungen unterscheiden.59 3. Stellungnahme Im Ergebnis ist dem EuGH zuzustimmen. Zu kritisieren ist jedoch seine Argumentation, die für die Frage der Vorrangigkeit des Sekundärrechts auf die Rechtsfolgen der jeweiligen Regelungen abstellt. Nimmt man den Gerichtshof beim Wort, sind Primärrecht und Sekundärrecht deshalb nebeneinander anwendbar, weil das Verordnungsrecht einen Anspruch auf Sachleistungen vorsieht, während das Primärrecht einen Kostenerstattungsanspruch gewährt. Weil sich also „die gewährten Leistungen unterscheiden“, soll es sich um zwei nebeneinander anwendbare Regelungssysteme handeln. Diese Argumentation stellt jedoch den oben beschriebenen Gedanken der Vorrangigkeit des Sekundärrechts auf den Kopf: Denn wenn nach diesem Grundsatz Sekundärrecht vorrangig sein soll, weil es die Freiheitsgehalte der Grundfreiheiten aufnimmt und diese unter Berücksichtigung aller relevanten rechtlichen Belange konkretisiert, wird hierdurch gerade vermieden, dass durch die Anwendung der Grundfreiheiten auf denselben Sachverhalt abweichende Rechtsfolgen eintreten. Die Feststellung abweichender Rechtsfolgen kann damit kein Argument für ein Nebeneinander von Grundfreiheiten und Verordnungsrecht sein. Vielmehr ist für die Frage der Vorrangigkeit des Sekundärrechts im oben dargelegten Sinne zu untersuchen, ob und in welchem Umfang durch das Sekundärrecht die Harmonisierung eines bestimmten Rechtsbereichs erfolgt ist. Dies ist durch Auslegung des Rechtsakts zu ermitteln,
58 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 46; EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 45. 59 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 48; vgl. in diesem Sinne auch EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 29; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 27.
B. Anwendbarkeit der Grundfreiheiten
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wobei Wortlaut, aber auch Ziel und Zwecksetzung der Maßnahme im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes zu berücksichtigen sind.60 Untersucht man das Verordnungsrecht nach dieser Maßgabe, macht insbesondere ein historischer Blick deutlich, welches Ziel durch das Verordnungsrecht verwirklicht werden sollte: Die im Jahr 2004 erlassene, aber erst zum 1. Mai 2010 rechtsverbindlich gewordene „Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ 61 löste die 1971 erlassene „Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern“ 62, ab; deren Vorgängerverordnung war die im Jahr 1958 erlassene „Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“ 63. Die primärrechtliche Ermächtigung zum Erlass dieser Verordnungen findet sich in den Vorgängervorschriften64 des Art. 48 AEUV, wonach „das Europäische Parlament und der Rat [. . .] gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen [beschließen]; zu diesem Zweck führen sie insbesondere ein System ein, das zu- und abwandernden Arbeitnehmern und Selbstständigen sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen Folgendes sichert [. . .]“. Die Verordnungen wurden also zur Herstellung der Freizügigkeit – ursprünglich der der Arbeitnehmer, mittlerweile unabhängig von einem solchen sozioökonomischen Status –65 geschaffen. Es geht hingegen nicht um die Verwirklichung der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit bei Gesundheitsleistungen im Binnenmarkt.66 Daher harmonisiert das Verordnungsrecht lediglich im Hinblick auf die in Art. 45 ff. AEUV geregelten Personenverkehrsfreiheiten bzw. – mittlerweile – im Hinblick auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht;67 eine Harmonisierung bezüglich der Verwirklichung des freien Dienstleistungs- und Warenverkehrs bei Gesundheitsleistungen ist mit dem Verordnungsrecht nicht erfolgt.68 Es liegt daher keine abschließende Harmonisierung in Gestalt des Verordnungsrechts vor. So60 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 1, Rn. 383; vgl. ferner Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 18; siehe auch EuGH, 17.4.2007 – C-470/03 – AGMCOS.MET, Slg. 2007, I-2749, Rn. 53. 61 ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1. 62 ABl. L 149 vom 5.7.1971, S. 2. 63 ABl. 30 vom 16.12.1958, S. 561. 64 Art. 51 EWGV sowie Art. 42 EG. 65 Siehe Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004. 66 Vgl. zu dieser Rückführung auf die Personenverkehrsfreiheiten einerseits, und auf die Produktverkehrsfreiheiten andererseits: Kingreen, ZESAR 2009, 109 (110). 67 Vgl. Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 2 Rn. 1. 68 In diesem Sinne auch Rühs, Zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme, 2012, S. 252.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
mit sind die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit neben dem Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit anwendbar.
V. Ergebnis zur Anwendbarkeit der Grundfreiheiten Es wurde gezeigt, dass der Anwendung der Grundfreiheiten weder eine allgemeine Bereichsausnahme für den Regelungsbereich der sozialen Sicherheit, noch eine spezielle Bereichsausnahme für das Gesundheitswesen entgegensteht, insbesondere ergibt sich eine Unanwendbarkeit nicht aus einem fehlenden Kompetenzrecht der Union oder aus Art. 168 Abs. 7 AEUV. Auch aus dem in mitgliedstaatlichen Systemen der sozialen Sicherheit verwirklichten Solidargedanken folgt keine Unanwendbarkeit der Grundfreiheiten, da es sich bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen – anders als im europäischen Wettbewerbsrecht – um eine wirtschaftlich geprägte Leistungsbeziehung handelt. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV kann nicht zur Unanwendbarkeit führen, weil die Norm in der Dogmatik der Grundfreiheiten einen Rechtfertigungsgrund darstellt. Schließlich steht auch der Grundsatz der Vorrangigkeit abschließenden Sekundärrechts der Anwendung der Grundfreiheiten nicht entgegen, weil das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Personenverkehrsfreiheiten und nicht die Produktverkehrsfreiheiten betrifft. Die Grundfreiheiten sind somit im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen anwendbar.
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungsund Warenverkehrsfreiheit Sind die Grundfreiheiten anwendbar, stellt sich die Frage, ob die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in den Schutzbereich einer oder mehrerer Grundfreiheiten fällt. Die Freiheitsbereiche der Personenverkehrsfreiheiten, also der Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder der Niederlassungsfreiheit, sind von dem in Frage stehenden Verhalten nicht betroffen, weil es weder für den Patienten noch für den Leistungserbringer um die Ausübung einer abhängigen Beschäftigung oder um die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat geht. Betroffen sind vielmehr die Freiheitsverbürgungen der Produktverkehrsfreiheiten, also der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit. Bisher ist nur eine Entscheidung zur Warenverkehrsfreiheit ergangen.69 Alle weiteren 69 Und auch hier wäre die Zuordnung zur Dienstleistungsfreiheit vertretbar gewesen, worauf GA Tesauro in seinen Schlussanträgen hingewiesen hatte, weil nicht eine „beliebige Ware“ gekauft wurde, sondern es sich um „gewerbliche Leistungen eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Optikers“ handelte, vgl. Schlussanträge GA Tesauro, 16.9.1997 – C-120/95 und C-158/96 – Decker und Kohll, Slg. 1998, I-1834 (1855), Fn. 52; kritisch hierzu Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 113 f. m.w. N.
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit
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Entscheidungen des EuGH zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen betreffen die Dienstleistungsfreiheit; ihr Schutzumfang steht somit im Vordergrund der Rechtsentwicklung.
I. Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit Die Einbeziehung der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen, in dessen Anfang die Entwicklung einer passiven Dimension der Dienstleistungsfreiheit stand. 1. Die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit Die passive Dienstleistungsfreiheit, die auch als negative Dienstleistungsfreiheit oder Dienstleistungsempfangsfreiheit bezeichnet wird,70 meint die Freiheit, sich vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um von einem dort ansässigen Leistungserbringer Dienstleistungen in Empfang zu nehmen. Vom Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV ist diese passive Dimension nicht umfasst,71 vielmehr wird ausdrücklich auf den Leistungserbringer abgestellt. Auch die übrige Systematik des Kapitels über Dienstleistungen (vgl. Art. 56 UAbs. 2, Art. 57 UAbs. 3, Art. 61, Art. 62 i.V. m. Art. 53 AEUV) knüpft an den Dienstleistungserbringer an. Dennoch erweiterte der EuGH schon lange vor seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit um eine passive Dimension. Diese Rechtsauffassung bildet das Fundament der Rechtsentwicklung im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen – angefangen von der Rechtssache Kohll bis hin zum Erlass der Richtlinie 2011/24/EU. a) Die Rechtssache Luisi und Carbone Der EuGH entschied erstmals im Jahr 1984 in der Rechtssache Luisi und Carbone72, dass der freie Dienstleistungsverkehr auch die Freiheit der Leistungsempfänger einschließe, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden.73 In der Entscheidung stellte sich die Frage nach der Anerkennung der 70
Vgl. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 30. Vgl. EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 10. Ausdrücklich Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 30; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 53. 72 EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 und C-26/83 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377. 73 Bereits knappe zehn Jahre zuvor hatte der Gerichtshof entschieden, dass mit der Dienstleistungsfreiheit auch ein Einreise- und Aufenthaltsrecht des Leistungsempfän71
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
passiven Dienstleistungsfreiheit im Zusammenhang mit ex-Art. 106 Abs. 1 EWGV. Die Vorschrift regelte, dass Zahlungen, die sich auf den Dienstleistungsverkehr beziehen, zu liberalisieren sind, soweit der Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten selbst nach den primärrechtlichen Bestimmungen liberalisiert ist. Fraglich war in diesem Zusammenhang, ob es sich bei dem Transfer von Banknoten zum Zwecke des Fremdenverkehrs, von Studien- oder Geschäftsreisen oder der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (allesamt Zwecke, die den Empfang von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat betreffen)74 um Zahlungen i. S. v. ex-Art. 106 Abs. 1 EWGV handelt, die sich auf den Dienstleistungsverkehr beziehen. Ausgehend von der Dienstleistungserbringungsfreiheit stellt nach Auffassung des Gerichtshofs der Fall, in dem sich der Leistungsempfänger in den Mitgliedstaat begibt, in welchem der Leistende ansässig ist, „die notwendige Ergänzung dar, die dem Ziel entspricht, jede gegen Entgelt geleistete Tätigkeit, die nicht unter den freien Waren- und Kapitalverkehr und unter die Freizügigkeit der Personen fällt, zu liberalisieren“.75 Dieser Feststellung folgen Hinweise auf einige Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers; Erläuterungen zum argumentativen Aussagegehalt werden vom Gerichtshof jedoch nicht gegeben: Zunächst wird auf das „Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs“ 76 verwiesen, welches vom Rat im Jahr 1961 auf Grundlage des damals geltenden Art. 63 EWGV erlassen worden war in der Absicht, die primärrechtlichen Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr durchzuführen und Dienstleistungen weiter zu liberalisieren. Der EuGH zitiert in diesem Zusammenhang Abschnitt II des Programms, wonach „diejenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften abgeändert werden [sollen], die in den einzelnen Mitgliedstaaten die Einreise, die Ausreise und den Aufenthalt von Angehörigen der Mitgliedstaaten regeln, wobei insbesondere die mit der Erreichung wirtschaftlicher Ziele zusammenhängenden Vorschriften aufzuheben sind, soweit sie nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind und diese Angehörigen [. . .] an der Erbringung von Dienstleistungen hindern“. Sodann wird im nächsten Absatz auf zwei, die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern koordinierende
gers einhergehe (EuGH, 7.7.1976 – C-118/75 – Watson und Belmann, Slg. 1976, 1185, Rn. 11/12 ff.). Anderer Auffassung war diesbezüglich noch Generalanwalt Trabucchi (Schlussanträge, 2.6.1976 – C-118/75 – Watson und Belmann, Slg. 1976, 1201 (1202 ff.)), der eine mit der passiven Dienstleistungsfreiheit einhergehende Freizügigkeit weder vom Wortlaut noch von der Systematik des Vertrags umfasst ansah. 74 Zu Recht kritisch gegenüber der pauschalen Einordnung der aufgezählten Fallgruppen unter den Dienstleistungsempfang: Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 77 ff. 75 EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 10. 76 ABl. 2 vom 15.1.1962, S. 32–35.
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit
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Richtlinien77 hingewiesen, nach denen Einreise- und Aufenthaltsrechte auch den Empfängern einer Dienstleistung eingeräumt werden sollen. Anschließend werden wiederum Bestimmungen des „Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs“ zitiert, wonach Zahlungen im Zusammenhang mit Dienstleistungen zu liberalisieren sind, und insbesondere gemäß Abschnitt III D des Programms „jedes Verbot oder jede Behinderung von Zahlungen für Leistungen [als eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs gelte], wenn der Dienstleistungsverkehr nur durch Beschränkungen der damit verbundenen Zahlungen begrenzt ist“. Schließlich wird auf Bestimmungen78 verwiesen, die eine Ausnahme dieser Liberalisierung für die Ausgabe von Reisedevisen vorsehen. Im Ergebnis wird festgestellt, dass „daraus folgt, dass der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden“.79 Weitere Ausführungen zur Begründung der Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit macht der EuGH nicht. b) Untersuchung der Entscheidungsbegründung Die Herleitung durch den EuGH im Urteil Luisi und Carbone kann nicht überzeugen. Argumentativ geht aus den Ausführungen des EuGH nicht hervor, in welcher Weise die zitierten Rechtsakte für die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit sprechen sollen. Etwas deutlicher wird der methodisch beschrittene Weg, wenn man die Ausführungen des Generalanwalts Mancini in seinen Schlussanträgen80 betrachtet: Dieser entnimmt den zitierten Vorschriften, dass „die Vertragsvorschriften [. . .] sich auch an die Dienstleistungsempfänger [richten] und [. . .] sich auch auf Dienstleistungen [beziehen], die es mit sich bringen, dass sich der Leistungsempfänger in ein anderes Land begibt“.81 Noch deutlicher benennen es die Beteiligten des Verfahrens, die in ihren Erklärungen ausführen, dass sich aus den Bestimmungen ergebe, „dass der Rat schon damals der Ansicht gewesen [sei], dass der Fremdenverkehr Teil des Dienstleistungsverkehrs sei“.82 77 RiL 64/221/EWG vom 25.2.1964 sowie RiL 73/148/EWG vom 21.5.1973 (in letzterer Richtlinie heißt es in den Erwägungsgründen: „der freie Dienstleistungsverkehr erfordert, dass dem Leistungserbringer und dem Leistungsempfänger ein Aufenthaltsrecht entsprechend der Dauer der Dienstleistung gewährt wird“). 78 Vgl. Art. 3 der RiL 63/340/EWG vom 31.5.1963 (im Urteil fälschlicherweise als „RL 64/340“ zitiert). 79 EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 16. 80 Schlussanträge GA Mancini, 15.11.1983 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 409–421. 81 Vgl. Schlussanträge GA Mancini, 15.11.1983 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 409 (416). 82 Siehe Slg. 1984, 377 (393).
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Der Gerichtshof ermittelt also offensichtlich das Begriffsverständnis des Rates anhand von Rechtsakten, die der Rat auf Grundlage des Vertrags erlassen hatte, und überträgt dieses Verständnis sodann auf die Auslegung der primärvertraglichen Dienstleistungsfreiheit. Schon dieser methodische Ansatz verwundert. Grundsätzlich kann ein Begriff des höherrangigen Rechts nicht anhand des Begriffsverständnisses aus hierarchisch untergeordnetem Recht bestimmt werden.83 Dies muss umso mehr gelten, wenn – wie in der vorliegenden Konstellation – das untergeordnete Recht von der höherrangigen Rechtsgrundlage abgeleitet ist. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass der Rat gemäß ex-Art. 63 EWGV dazu ermächtigt war, Vorschriften zur Durchführung des freien Dienstleistungsverkehrs zu schaffen. Denn mit einer solchen Ermächtigung zum Erlass von Durchführungsbestimmungen wird nicht die Befugnis zur verbindlichen Interpretation eines primärrechtlichen Begriffs übertragen. Allein dem Gerichtshof kommt die Aufgabe zu, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (heute Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV). Die rechtsetzenden Unionsorgane können das Primärrecht daher nicht durch den Erlass von Sekundärrecht authentisch interpretieren.84 Das abgeleitete Recht kann höchstens als Auslegungshilfe dienen,85 was den EuGH jedoch nicht von seiner Aufgabe zur eigenständigen Auslegung des Primärrechts befreit. Aber auch wenn man dem Ansatz des EuGH folgt, können aus den zitierten Rechtsakten nicht zwingend Schlüsse auf das Begriffsverständnis des europäischen Gesetzgebers gezogen werden. Denn zum einen kann der sachliche Anwendungsbereich des abgeleiteten Rechts über das hinausgehen, was das Primärrecht garantiert; der europäische Gesetzgeber könnte also durchaus den Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Sekundärrecht erweitert haben. Zum anderen bringen die vom EuGH zitierten Regelungen des abgeleiteten Rechts, wonach Einreise- und Aufenthaltsrechte zugunsten von Leistungsempfängern eingeräumt werden bzw. der Zahlungsverkehr liberalisiert werden soll,86 nicht zwingend zum 83 Dies folgt aus der Normenhierarchie und ist jedenfalls im Grundsatz im deutschen Verfassungsrecht anerkannt, vgl. BVerfG, 15.7.1981 – 1 BvL 77/78 – „Nassauskiesung“, NJW 1982, 745 (749). 84 Überzeugend Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 118 ff. 85 Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 120 f. 86 Bezüglich dieses Arguments bringt erst ein Blick in das Vorbringen der Beteiligten Klarheit über den argumentativen Aussagegehalt: Die Beteiligten trugen vor, dass die ausdrückliche Ausnahme des Regelungsbereichs über die Ausgabe von Reisedevisen [also von Bargeld in der Währung eines anderen Mitgliedstaates] in den Bestimmungen zur Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs ohne Zweifel zeige, „dass der Verordnungsgeber der Gemeinschaft den Fremdenverkehr in die in den Art. 59 und 60 EWGV definierten Dienstleistungskategorien einbezogen habe“ (vgl. Slg. 1984, 377 (393)). Aus dem Umstand, dass Reisedevisen dem Fremdenverkehr dienen, es beim Fremdenverkehr vor allem um die Inanspruchnahme von Dienstleistungen geht und bezüglich der Ausgabe von Reisedevisen im Rahmen der Durchführung der Vorschriften
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit
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Ausdruck, dass der europäische Gesetzgeber auch den Dienstleistungsempfänger in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit einbeziehen wollte. Denn die Regelungen könnten nach ihrem Zweck auch nur dazu bestimmt gewesen sein, die Erbringung von Dienstleistungen zu fördern und bestehende Hindernisse umfassend zu beseitigen, somit also allein die Dienstleistungserbringungsfreiheit zu gewährleisten.87 Im Ergebnis erweist sich der methodische Weg des EuGH als zweifelhaft. Unabhängig davon sprechen die vom EuGH vorgebrachten Anknüpfungspunkte im abgeleiteten Recht nicht zwingend dafür, dass der europäische Gesetzgeber Dienstleistungsempfänger als in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit einbezogen angesehen hat. Vor dem Hintergrund der rechtlichen und praktischen Konsequenzen hätte es für eine wortlauterweiternde Auslegung der Dienstleistungsfreiheit stichhaltiger systematischer und teleologischer Argumente bedurft.88 c) Die nachfolgenden Entscheidungen Die unzureichende Begründung wurde in den nachfolgenden Urteilen des Gerichtshofs zur passiven Dienstleistungsfreiheit nicht nachgebessert. Vielmehr ging man in den Entscheidungen nach Luisi und Carbone wie selbstverständlich von der Existenz einer passiven Dienstleistungsfreiheit aus.89 Auch in den Schlussanträgen der Generalanwälte wurden keine wesentlichen Gesichtspunkte zur Fundierung der passiven Dienstleistungsfreiheit nachgereicht.90 d) Deutsches Schrifttum Trotz der unzureichenden Herleitung durch den EuGH hat die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit im deutschen Schrifttum allgemeine Zustimüber den freien Dienstleistungsverkehr Ausnahmeregelungen durch den europäischen Gesetzgeber geschaffen worden waren, schließt man also, dass der europäische Gesetzgeber auch den Empfang von Dienstleistungen als von der Dienstleistungsfreiheit umfasst angesehen hat. 87 Zutreffend Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 112 ff. 88 Vgl. bereits mit entsprechenden Bedenken: Schlussanträge GA Trabucchi, 2.6. 1976 – C-118/75 – Watson und Belmann, Slg. 1976, 1201 (1203 f.). 89 Siehe EuGH, 2.2.1989 – C-186/87 – Cowan, Slg. 1989, 195, Rn. 15; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 35; EuGH, 24.11.1998 – C-274/ 96 – Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Rn. 15; EuGH, 19.1.1999 – C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn. 16; EuGH, 29.4.1999 – C-224/97 – Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 11. 90 Noch ausführlich, allerdings ohne gewichtige neue Argumente: Schlussanträge GA Lenz, 6.12.1988 – C-186/87 – Cowan, Slg. 1989, 195, Rn. 17 ff.; lediglich die „ständige Rechtsprechung“ des EuGH zitierend: Schlussanträge GA La Pergola, 17.2.1998 – C-348/96 – Calfa, Slg. 1999, I-11, Rn. 3; Schlussanträge GA Mischo, 10.12.1998 – C-224/97 – Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 12.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
mung gefunden.91 Die Erweiterung der Dienstleistungsfreiheit sei unter dem Gesichtspunkt einer möglichst effektiven und umfassenden Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt geboten,92 da bei allen Dienstleistungen, die nur stationär erbracht werden können, die Entstehung von Wettbewerb im Binnenmarkt zwischen den Leistungserbringern über den lokalen Markt hinaus von der grenzüberschreitenden Nachfrage abhänge93. e) Stellungnahme zur passiven Dienstleistungsfreiheit Es ist zu untersuchen, ob durch Auslegung des Art. 56 UAbs. 1 AEUV eine passive Dimension der Dienstleistungsfreiheit angenommen werden kann. Auszugehen ist vom Wortlaut der Bestimmung. Zwar kommt der systematischen und teleologischen Gesetzesinterpretation insbesondere bei der Fortentwicklung des Unionsrechts erhebliches Gewicht zu,94 jedoch ist der Wortlaut bei der Interpretation des Unionsrechts von zentraler Bedeutung und bildet den Ausgangspunkt einer jeden unionsrechtlichen Auslegung.95 aa) Präzisierung der Auslegungsfrage anhand des Wortlauts Nach dem Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV sind „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs [. . .] für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, [. . .] verboten“. Bei der Auslegung des Wortlauts ist im Hinblick auf die passive Dienstleistungsfreiheit zwischen zwei Fragen zu differenzieren: Zum einen, auf welche Weise die Grenzüberschreitung des Dienstleistungsverkehrs erfolgt und zum anderen, zu wessen Ungunsten Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs verboten sind. Diese Auslegungsfragen sind mit dem Begriff der passiven Dienstleistungsfreiheit abzugleichen. Der EuGH verwendet den Begriff in seinen Entscheidungen 91 Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 30; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 37, 53; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 53; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 141. Ohne eigene Stellungnahme Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit, 1990, S. 73 ff. 92 Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 31. 93 W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 141; ferner Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29. 94 Vgl. nur Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 EUV Rn. 53. 95 Vgl. Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 73; Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 15 Rn. 34 ff. und 45 ff. Die Bedeutung des Wortlauts betonend Bleckmann/Pieper, in: Dauses, B. I. Rn. 5 ff. Die „zentrale Bedeutung“ der grammatischen Auslegung empirisch belegend: Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004, S. 79 f.
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit
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nicht. In der deutschen Literatur wird der Begriff sowohl zur Umschreibung der Form der Grenzüberschreitung als auch in Kombination mit einem zweiten Element verstanden. So dient der Begriff zum einen der Kennzeichnung einer Fallgruppe bei der Form der Grenzüberschreitung: Während die aktive Dienstleistungsfreiheit den Fall umschreibt, in dem sich der Leistungserbringer vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Dienstleistung zu erbringen, meint die passive Dienstleistungsfreiheit den Fall, in dem sich der Leistungsempfänger vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Dienstleistung in Empfang zu nehmen.96 Verknüpft wird der Begriff der passiven Dienstleistungsfreiheit dann aber mit einem zweiten Element, nämlich der Frage nach dem aus der Dienstleistungsfreiheit Berechtigten: Die passive Dienstleistungsfreiheit meint dann die Freiheit des Leistungsempfängers, sich vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um von einem dort ansässigen Leistungserbringer Dienstleistungen in Empfang zu nehmen.97 Dieses zweite Element ist auf den ersten Blick nicht deckungsgleich mit der zweiten Auslegungsfrage, die danach fragt, zu wessen Ungunsten Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs verboten sind. Dies hängt mit der ursprünglich objektiv-rechtlichen Konzeption der Grundfreiheiten zusammen: In der Absicht, einen gemeinsamen Markt zu errichten, waren die Grundfreiheiten als an die Mitgliedstaaten gerichtete Verpflichtungen konzipiert, nicht jedoch als individuelle Freiheitsrechte.98 Aus diesem Grund stellt der Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV nicht auf einen aus der Grundfreiheit Berechtigten ab, sondern erklärt nur, zu wessen Ungunsten die Mitgliedstaaten den Dienstleistungsverkehr nicht beschränken dürfen. Die Frage nach dem Berechtigten stellt sich erst, wenn man die Grundfreiheiten in ihrer Dimension als subjektive Rechte betrachtet.99 So wie die anderen Grundfreiheiten ist die Dienstleistungsfreiheit in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar und die Berechtigten können sich hierauf im Sinne eines subjektiven Rechts berufen.100 Die Frage danach, zu wessen Ungunsten – in der objektiv-
96 Vgl. (z. T. auch nur anhand der Überschrift erkennbar): Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 37; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 53; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 141. Ferner Brall, Der Export, 2003, S. 56; Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit, 1990, S. 58 ff. 97 In diesem Sinne begrifflich: Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Art. 57 AEUV Rn. 22 f.; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 30; MüllerGraff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 53; Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit, 1990, S. 61. 98 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 9; Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 10 Rn. 33. 99 Grundlegend EuGH, 5.2.1963 – C-26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 100 Grundlegend EuGH, 3.12.1974 – C-33/74 – van Binsbergen, Slg. 1974, 1299, Rn. 18 ff. (24 ff.).
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
rechtlichen Dimension – eine Beschränkung verboten ist, muss sich mit der Frage decken, wer sich als Berechtigter auf eine Grundfreiheit in ihrer subjektiv-rechtlichen Dimension berufen kann. Die üblicherweise in der deutschen Literatur verwendete Begriffsdefinition der passiven Dienstleistungsfreiheit knüpft somit gedanklich an die subjektiv-rechtliche Dimension der Dienstleistungsfreiheit an und verbindet die beiden oben gestellten Auslegungsfragen, nämlich die Frage nach der Form der Grenzüberschreitung einer Dienstleistung mit der Frage nach dem aus der Dienstleistungsfreiheit Berechtigten. Die Verknüpfung der beiden Elemente im Begriff der passiven Dienstleistungsfreiheit geht jedoch an dem entscheidenden Auslegungsproblem vorbei, das sich im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV stellt: Der Wortlaut sieht ein Beschränkungsverbot des freien Dienstleistungsverkehrs ausdrücklich nur „für“, also in Bezug auf den Leistungserbringer vor; ein Verbot von Beschränkungen, die den Dienstleistungsempfänger treffen, kann dem Wortlaut nicht entnommen werden. Das Auslegungsproblem stellt sich also allein bei der Frage nach dem aus der Dienstleistungsfreiheit Berechtigten.101 Die Auslegungsfrage bezüglich der erfassten Formen der Grenzüberschreitung ist hingegen eine andere, was deutlich wird, wenn man den Schutzumfang der Dienstleistungserbringungsfreiheit betrachtet: Aus dem Wortlaut geht eindeutig hervor, dass Beschränkungen zu Lasten des Dienstleistungserbringers verboten sind bzw. dieser (subjektiv) berechtigt ist. Eine andere Frage ist jedoch, ob die Dienstleistungsfreiheit den Leistungserbringer nur in dem Fall schützt, in dem er sich selbst in einen anderen Mitgliedstaat begibt, oder auch in dem Fall, in dem sich der Empfänger in den Mitgliedstaat jenes Leistungserbringers begibt. Bei dem Rechtsproblem der passiven Dienstleistungsfreiheit handelt es sich somit um eine Auslegungsfrage im sachlichen Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit.102 Es geht darum, ob auch ein Beschränkungsverbot bzw. eine subjektive Berechtigung für den Dienstleistungsempfänger angenommen werden kann. Gegenständlich betroffen ist die Freiheit des Dienstleistungsempfängers, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Empfang zu nehmen. Von dieser hier in Frage stehenden Freiheitsverbürgung abzuschichten ist die Freiheit des Dienstleistungsempfängers, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort vorübergehend aufzuhalten. Ein solches, aus der Dienstleistungsfreiheit fließendes Einreise- und Aufenthaltsrecht des Leistungsempfängers war bereits zuvor im Urteil Watson und Belmann vom EuGH anerkannt wor101 Ebenso Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 69; auf die begriffliche Präzisierung hinweisend auch Herresthal, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Art. 19 Rn. 2. Im Ausgangspunkt von einer begrifflichen Differenzierung ausgehend wohl auch Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit, 1990, S. 57 ff. (59, 61). 102 Ebenso Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 89 f.
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den.103 Angesichts dessen wurden in der Literatur Zweifel vorgebracht, ob der EuGH mit seinen Entscheidungen Luisi und Carbone sowie Cowan104 tatsächlich eine Freiheit des Leistungsempfängers zum Empfang von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat oder nur eine Berechtigung zu Einreise und Aufenthalt anerkannt hat.105 Die Zweifel ergeben sich in der Tat aus der einschränkenden Formulierung des Gerichtshofs, wonach „der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfänger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden“.106 Unabhängig von diesen Unklarheiten in den ersten Entscheidungen geht aber jedenfalls aus den späteren Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hervor, dass der Gerichtshof von einem Beschränkungsverbot bzw. einer subjektiven Berechtigung für den Dienstleistungsempfänger ausgeht. In einer neueren Entscheidung formuliert der EuGH, dass „nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der freie Dienstleistungsverkehr nicht nur die Freiheit des Leistungserbringers [umfasst], Leistungsempfängern, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ansässig sind, in dessen Gebiet er seinen Sitz hat, Dienstleistungen zu erbringen, sondern auch die Freiheit, als Leistungsempfänger von einem Leistungserbringer mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat angebotene Dienstleistungen zu empfangen oder in Anspruch zu nehmen, ohne durch Beschränkungen beeinträchtigt zu werden“.107 Letztlich erkennt also der EuGH die Freiheit des Dienstleistungsempfängers an, sich vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um von einem dort ansässigen Leistungserbringer Dienstleistungen in Empfang zu nehmen. Es wird damit ein Beschränkungsverbot bzw. eine subjektive Berechtigung für den Dienstleistungsempfänger angenommen. Diese Interpretation geht aus dem Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV nicht hervor. Es ist deshalb zu untersuchen, ob überzeugende Argumente für die Annahme einer Berechtigung des Dienstleistungsempfängers sprechen. bb) Argumente für eine wortlauterweiternde Auslegung Systematisch gibt das primärrechtliche Normengefüge zur Beantwortung dieser Frage nichts her. Der EuGH hat – wie oben dargelegt – im Urteil Luisi und 103
EuGH, 7.7.1976 – C-118/75 – Watson und Belmann, Slg. 1976, 1185, Rn. 11/12. EuGH, 2.2.1989 – C-186/87 – Cowan, Slg. 1989, 195. 105 Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 19, 32, 87 ff. 106 EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 16; die Formulierung bezieht die Freiheit auf das „Begeben“ in einen anderen Mitgliedstaat; Rn. 10 betrifft hingegen die Form der Grenzüberschreitung. 107 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 49; ein Beschränkungsverbot schon annehmend EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 35; EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 69; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 98. 104
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Carbone aus dem abgeleiteten Recht auf den primärrechtlichen Schutzumfang der Dienstleistungsfreiheit geschlossen, was zu kritisieren ist. Eine historische Analyse der Vertragsbestimmungen hilft wegen „der Unzugänglichkeit der Materialien zu den Gründungsverträgen und der Dynamik der Unionsentwicklung“ regelmäßig nicht weiter.108 Es bleibt damit zu erörtern, ob unter Berücksichtigung des Normzwecks der Dienstleistungsfreiheit eine Schutzlücke besteht, die es erforderlich macht, auch den Dienstleistungsempfänger als Berechtigten in den Schutzbereich einzubeziehen. Will man eine Schutzlücke feststellen, so muss zunächst der Schutzumfang ermittelt werden, wie er ohne wortlauterweiternde Auslegung besteht. Die Dienstleistungsfreiheit schützt den Leistungserbringer vor Beschränkungen. Der Schutz des Leistungserbringers besteht sowohl in dem Fall, in dem sich der Leistungserbringer in den Mitgliedstaat des Empfängers begibt, als auch dann, wenn sich der Empfänger in den Mitgliedstaat des Leistungserbringers begibt109 sowie in weiteren Fällen,110 da nach dem Wortlaut Voraussetzung für das Merkmal der Grenzüberschreitung nur ist, dass der Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig ist. Darüber hinaus sind sowohl Beschränkungen durch den Herkunfts-, als auch durch den Bestimmungsmitgliedstaat erfasst;111 Mitgliedstaaten dürfen also sowohl ihre eigenen, als auch die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten nicht in ihrer Dienstleistungserbringungsfreiheit beschränken. Für den Schutzumfang ist darüber hinaus bedeutend, dass eine Beschränkung des Leistungserbringers nicht nur dann angenommen wird, wenn er selbst Adressat der Maßnahme ist, sondern mittelbar auch dann, wenn die Beschränkung den Dienstleistungsempfänger trifft.112 Diesen denkbar weiten Schutzumfang der Dienstleistungsfreiheit zugunsten des Leistungserbrin-
108 Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 EUV Rn. 66; ferner Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 15 Rn. 41; Bleckmann/Pieper, in: Dauses, B. I. Rn. 40 f.; Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 93. Dies empirisch bestätigend: Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004, S. 122. 109 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 22, wonach Art. 56 Abs. 1 AEUV im Hinblick auf die Stoßrichtung der grenzüberschreitenden Aktivität nicht differenziere; anders jedoch Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 30. 110 Insb. bei sog. Korrespondenzdienstleistungen, vgl. EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 48. 111 Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 61; siehe EuGH, 10.5.1995 – C-384/93 – Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Rn. 30. 112 EuGH, 11.3.2004 – C-496/01 – Kommission/Frankreich, Slg. 2004, I-2351, Rn. 91; ferner EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 35; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 98; EuGH, 27.10.2011 – C-255/ 09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 60. Vgl. ferner Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 70 f., 128; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 187; hiervon ausgehend auch Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 53.
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gers haben alle Mitgliedstaaten als Adressaten der Grundfreiheiten zu beachten. Sie sind verpflichtet, Beschränkungen zu unterlassen; entgegenstehendes nationales Recht ist aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen113. Der Dienstleistungserbringer kann sich auf diesen Schutzumfang im Sinne eines subjektiven Rechts berufen. Objektiv-rechtlich sind also auch Beschränkungen zu Lasten des Dienstleistungsempfängers durch die Mitgliedstaaten zu unterlassen, weil sie zugleich Beschränkungen zu Lasten des Dienstleistungserbringers darstellen. Damit besteht ein Schutzdefizit nur in der subjektiv-rechtlichen Dimension der Dienstleistungsfreiheit: Der Dienstleistungsempfänger kann sich nicht im Sinne eines subjektiven Rechts auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, da er aus dem Wortlaut des Art. 56 UAbs. 1 AEUV nicht als Geschützter hervorgeht. Um eine von Sinn und Zweck getragene wortlauterweiternde Auslegung der Dienstleistungsfreiheit zu begründen, muss also dargelegt werden, dass der Regelungszweck der Dienstleistungsfreiheit die subjektive Berechtigung des Dienstleistungsempfängers gebietet. Die Dienstleistungsfreiheit soll dem in Art. 26 Abs. 2 AEUV vorgegebenen Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes mit einem Raum ohne Binnengrenzen dienen. Erreicht werden soll eine umfassende Liberalisierung von Dienstleistungen durch den Abbau aller Hindernisse des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs.114 Diesem Zweck dient die subjektive Berechtigung des Dienstleistungsempfängers. Andernfalls könnten Hindernisse, die Leistungsempfänger in ihrem eigenen Mitgliedstaat von der Inanspruchnahme der Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat abhalten, nicht beseitigt werden, weil weder der Leistungsempfänger sich auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könnte, noch der berechtigte ausländische Dienstleistungserbringer mangels innerstaatlicher Rechtsschutzmöglichkeiten gegen solche Restriktionen vorgehen könnte. In solchen Fällen wäre der grenzüberschreitende Leistungsaustausch verhindert. Dies würde den Freiverkehr insbesondere bei solchen Dienstleistungen zunichte machen, die zwingend nur am Ort des Leistungserbringers angeboten werden können, für die also erst der Grenzübertritt des Leistungsempfängers den Binnenraum eröffnet.115 Zwar wäre es denkbar, dass die Kommission in solchen Fällen auf dem Weg des Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Mitgliedstaaten vorginge. Jedoch ist allgemein für die Durchsetzung des Anwendungsvorrangs des Unionrechts im nationalen Raum die Berufung des Einzelnen auf das Unions113
Grundlegend EuGH, 15.7.1964 – C-6/64 – Costa, Slg. 1964, 1253 (1269 f.). Vgl. Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Art. 57 AEUV Rn. 23; ähnlich: Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 31; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 44. 115 Vgl. W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 141; ferner Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 29. 114
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recht von nicht zu unterschätzender Bedeutung.116 Nur wenn dem Einzelnen das Recht zusteht, sich vor den nationalen Gerichten auf seine unionsrechtlichen Freiheiten zu berufen, kann ein umfassender Freiverkehr entstehen.117 Dies zeigt sich eindrucksvoll im vorliegenden Zusammenhang mit der Rechtsentwicklung zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.118 Diese Erwägungen aus dem Normzweck der Dienstleistungsfreiheit gebieten es also, auch Empfänger von Dienstleistungen als Berechtigte anzuerkennen.119 f) Ergebnis zur passiven Dienstleistungsfreiheit In der Rechtsprechung des EuGH und im deutschen Schrifttum ist der Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit anerkannt. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen. Argumentativ bedarf es aber eines größeren Aufwands als vom EuGH bei Entwicklung der Freiheit in der Entscheidung Luisi und Carbone betrieben: Grund für die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit ist, dass es die Verwirklichung eines freien Dienstleistungsverkehrs erfordert, dass sich auch der Leistungsempfänger auf die Dienstleistungsfreiheit im Sinne eines subjektiven Rechts berufen kann. 2. Gesundheitsleistungen als Dienstleistungen Dienstleistungen im Sinne der Verträge sind gemäß Art. 57 UAbs. 1 AEUV Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Charakteristika einer Dienstleistung sind insbesondere die Teilnahme am Wirtschaftsleben und die Selbständigkeit der Tätigkeit.120 Der EuGH subsumiert in ständiger Rechtsprechung „entgeltliche medizinische Leistungen“ unter den Dienstleistungsbegriff.121 Im Ausgangspunkt waren eine ambulante Gesundheitsleistung und ein mitgliedstaatliches Gesundheitssystem betroffen, das auf dem Kostenerstattungsprin116 In diesem Sinne Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 1 AEUV Rn. 69. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 25 stellt heraus, dass der Bürger durch die Einräumung subjektiv-öffentlicher Rechte zur Durchsetzung seiner Rechte mobilisiert und funktionalisiert wurde. 117 Vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 10. 118 Siehe oben unter A., S. 31 ff. 119 Ebenso Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 44; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 53; W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 141. Verneinend hingegen Reindl, „Negative Dienstleistungsfreiheit“, 1992, S. 96 ff. 120 Vgl. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 57 AEUV Rn. 8. 121 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 86; ferner EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 29; EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 53.
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zip beruht.122 Unter diesen Umständen ergeben sich im Hinblick auf die Zuordnung zum Dienstleistungsbegriff keine Schwierigkeiten; insbesondere stellt das zugrundeliegende Kostenerstattungsprinzip die Entgeltlichkeit der Dienstleistung nicht in Frage. In der weiteren Entwicklung konnte auch der Umstand, dass die Gesundheitsdienstleistung stationär erbracht wird, das Vorliegen einer Dienstleistung nicht in Abrede stellen. Auch stationäre Behandlungen sind also Dienstleistungen,123 wobei es nicht darauf ankommt, ob das Krankenhaus, in dem die Gesundheitsleistung erbracht wird, öffentlich oder privat organisiert ist.124 Schwieriger zu beurteilen war die Frage, ob eine im Ausland erbrachte Gesundheitsleistung auch dann eine Dienstleistung darstellt, wenn die Kostenerstattung von einem Träger eines Gesundheitssystems, das auf dem Sachleistungsprinzip beruht, verlangt wird. Diesbezüglich waren einige Mitgliedstaaten ursprünglich davon ausgegangen, dass Gesundheitsleistungen dann keine Dienstleistungen darstellten, wenn sie innerhalb des nationalen Gesundheitssystems „kostenlos“ erbracht würden.125 Auch der Generalanwalt trug in seinen Schlussanträgen vor, dass Sachleistungen nicht entgeltlicher Natur seien und daher keine Dienstleistungen im Sinne der Dienstleistungsfreiheit darstellten.126 Der EuGH entschied jedoch, dass entgeltliche Gesundheitsleistungen unabhängig von der Funktionsweise des nationalen Gesundheitssystems in den Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit fallen.127 Der Gerichtshof argumentiert überzeugend, dass medizinische Leistungen auch dann ihren Charakter als Dienstleistung behielten, wenn das mitgliedstaatliche Gesundheitssystem, gegen das sich der Kostenerstattungsanspruch richte, auf dem Sachleistungsprinzip beruhe. Denn die in Rede stehende Gesundheitsleistung erfolge in einem anderen Mitgliedstaat und damit außerhalb des Systems des Versicherungsmitgliedstaats, weshalb – im Sinne des Erfordernisses der Ent-
122 Betroffen war das luxemburgische Gesundheitssystem, EuGH, 28.4.1998 – C158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 2. 123 EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 41; EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 53. Der EuGH entschied ausdrücklich auch für Heilkuren, dass diese medizinische Tätigkeiten darstellen, die unter den Dienstleistungsbegriff fallen (EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 28 ff.). Auch die Erbringung von Analysen und Laboruntersuchungen stellt eine Dienstleistung dar, die der Fallgruppe der ambulanten Gesundheitsleistungen unterfällt (EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 34 ff.). 124 EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 22. 125 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 48 ff. 126 Schlussanträge GA Ruiz-Jarabo Colomer, 18.5.2000 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 43 ff. 127 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 90; kritisch Bieback, ZESAR 2006, 241 (244 f.).
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geltlichkeit – die Leistungserbringung sehr wohl vom Patienten unmittelbar bezahlt werde. Ihren Charakter als Dienstleistung könne die Gesundheitsleistung nicht alleine deshalb verlieren, weil später die Erstattung der Kosten gegenüber einem mitgliedstaatlichen Gesundheitssystem beantragt werde, welches auf einem Versicherungssystem mit Sachleistungsprinzip128 oder auf einem steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsdienst129 beruhe.130 In Bezug auf versicherungsbasierte Systeme mit Sachleistungssystem argumentierte der EuGH darüber hinausgehend, dass der Umstand, dass eine Gesundheitsleistung im Rahmen eines Sachleistungssystems finanziert würde, nicht geeignet sei, der Gesundheitsleistung den Charakter einer Dienstleistung abzusprechen.131 Es könne nicht darauf ankommen, dass die Gesundheitsleistung nicht vom Patienten, sondern von der Krankenversicherung bezahlt werde, da die Dienstleistungsfreiheit nicht verlange, dass die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werde, dem sie zugute komme.132 Und auch der Umstand, dass die Zahlungen der Krankenkasse innerhalb des gegebenen Sachleistungssystems aufgrund vertraglicher Vereinbarungen pauschal erfolgten, ändere an der Entgeltlichkeit der Leistung nichts. Denn das Wesensmerkmal des Entgelts bestehe darin, dass es die wirtschaftliche Gegenleistung für die betreffende Leistung darstelle. Die Zahlungen der Krankenkasse stellten aber durchaus die wirtschaftliche Gegenleistung für die Gesundheitsleistungen dar und wiesen zweifellos für den Leistungserbringer, dem sie zugute kommen und der sich wirtschaftlich betätigt, Entgeltcharakter auf.133 Hingegen ließ der EuGH im Fall eines steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsdiensts die Frage, ob Gesundheitsleistungen innerhalb eines solchen Systems als Dienstleistungen zu qualifizieren sind, ausdrücklich offen.134 Hierauf kam es nicht an, weil – im Sinne obiger Argumentation – jedenfalls die Behandlung in dem anderen Mitgliedstaat entgeltlich erfolgt sei.135 128 Siehe EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 55; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 39, 103. 129 Siehe bereits als obiter dictum EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 103; als ratio decidendi dann EuGH, 16.5.2006 – C372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 89; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 51. 130 Zustimmend Kingreen, NJW 2001, 3382 (3383); Wollenschläger, EuR 2012, 149 (158 f.); kritisch hingegen Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 44 ff. 131 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 56. 132 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 57. 133 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 58. 134 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 91; das Vorliegen einer Dienstleistung verneinend: Wollenschläger, EuR 2012, 149 (159). 135 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 89 ff.; zustimmend Wollenschläger, EuR 2012, 149 (159).
C. Die Schutzbereiche der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit
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3. Grenzüberschreitung des Dienstleistungsverkehrs Damit der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet ist, muss die Dienstleistung einen grenzüberschreitenden Charakter aufweisen.136 Die Grenzüberschreitung des freien Dienstleistungsverkehrs kann insbesondere auf drei Arten erfolgen: Wie bereits dargelegt, entweder dadurch, dass sich der Leistungserbringer zur Erbringung einer Dienstleistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt, oder dadurch, dass sich der Leistungsempfänger zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt.137 Des Weiteren können auch Leistungserbringer und Leistungsempfänger in ihrem Mitgliedstaat verbleiben und allein die Dienstleistung überquert die Grenze (sog. Korrespondenzdienstleistungen).138 Für die gemeinhin, aber – wie oben dargelegt – unpräzise als passive Dienstleistungsfreiheit charakterisierte Konstellation, in der sich der Empfänger in den Mitgliedstaat des Dienstleistungserbringers begibt, hat der EuGH in einer jüngeren Entscheidung zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nochmals betont, dass der vorübergehende Aufenthalt des Empfängers einer Behandlungsleistung im Sitzmitgliedstaat des Leistungserbringers auch andere als medizinische Gründe haben kann.139 Der Dienstleistungsempfänger muss sich also nicht geplant zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben, damit der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet ist, sondern er kann sich dort auch aus anderen Gründen (beispielsweise als Tourist oder Studierender) vorübergehend aufhalten.140 Die Grenzüberschreitung des Dienstleistungsverkehrs ist in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ferner dadurch charakterisiert, dass sich Leistungserbringer oder Leistungsempfänger nur vorübergehend und nicht dauerhaft in dem anderen Mitgliedstaat aufhalten.141
II. Der Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit Weit weniger problematisch als der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist der Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit. Der EuGH hat lediglich in der Rechtssache Decker die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesund136 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 46 mit Verweis auf EuGH, 26.4.1988 – C-352/85 – Bond van Adverteerders u. a., Slg. 1988, 2085, Rn. 13. 137 Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 33 ff. 138 Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 40. 139 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 50. 140 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 52; so schon EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 16. 141 EuGH, 16.7.2009 – C-208/07 – von Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095, Rn. 75; ferner Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 27.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
heitsleistungen an der Warenverkehrsfreiheit gemessen. Die Warenverkehrsfreiheit erfasst im Bereich der Gesundheitsleistungen Arzneimittel sowie Heil- und Hilfsmittel.142 Das zu Arzneimitteln143 und Medizinprodukten144 erlassene umfangreiche Unionsrecht145 stellt im vorliegenden Zusammenhang keine vorrangige abschließende sekundärrechtliche Kodifizierung dar, weil es nicht die Frage der Kostenerstattung bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme solcher Leistungen betrifft.146
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten Die im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit entwickelte weite Dassonville-Formel, wonach „jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“,147 eine Beeinträchtigung darstellt, hat der EuGH auch auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen.148 Hiernach verlangt die Dienstleistungsfreiheit „nicht nur die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Dienstleistungserbringers aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten – [. . .], wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden [. . .] zu unterbinden oder zu behindern“.149 Die Grundfreiheiten sind damit nicht nur Diskriminierungs-, sondern auch Beschränkungsverbote und infolgedessen nicht mehr nur als Gleichheits-, sondern auch als Freiheitsrechte zu verstehen.150 Nach ständiger Rechtsprechung 142 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 44; Hartmann, Die Inanspruchnahme ausländischer Leistungserbringer, 2002, S. 35 f.; Jäger-Lindemann, Die Vereinbarkeit, 2004, S. 70 f. 143 Insbesondere RiL 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel. 144 Insbesondere RiL 90/385/EWG über aktive implantierbare medizinische Geräte; RiL 93/42/EWG über Medizinprodukte; RiL 98/79/EG über In-vitro-Diagnostika. 145 Hierzu systematisierend Schmidt am Busch, Die Gesundheitssicherung im Mehrebenensystem, 2007, S. 268 ff., 315 ff.; auch Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 44 ff. 146 Vgl. Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 45, 52 f., 73. 147 Vgl. EuGH, 11.7.1974 – C-8/74 – Dassonville, Slg. 1974, 837, Rn. 5. 148 Sowie auf die übrigen Grundfreiheiten, vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 41 ff. 149 EuGH, 25.7.1991 – C-76/90 – Säger, Slg. 1991, I-4221, Rn. 12. 150 Vgl. W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 165 f. Nach Auffassung von Kingreen sind die Grundfreiheiten lediglich als Diskriminierungsverbote zu verstehen, wobei jedoch neben dem klassischen verbotenen Diskriminierungskriterium der „Staatsangehörigkeit“ auch der „Grenzübertritt“ im Sinne eines Begründungsverbots anerkannt wird, eine auf dem Solidarprinzip beruhende Ungleichbehandlung aber keine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten darstellen soll, siehe Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999,
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten
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des EuGH verstößt jede nationale Regelung gegen die Dienstleistungsfreiheit, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert.151
I. Diskriminierungen Im deutschen Schrifttum wird üblicherweise zwischen unmittelbaren (oder offenen) Diskriminierungen, mittelbaren (oder versteckten) Diskriminierungen und nicht diskriminierenden Beschränkungen unterschieden. Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich eine solche Differenzierung allerdings nicht entnehmen; das Vorgehen des Gerichtshofs ist einzelfallbezogen und verzichtet auf die Entwicklung einer Dogmatik der Grundfreiheiten, insbesondere auf die Konturierung des Diskriminierungsbegriffs.152 Die verbreite Typologie stellt vor diesem Hintergrund eine „interpretatorische Fortentwicklung“ dar.153 Eine unmittelbare Diskriminierung wird im Rahmen der Produktverkehrsfreiheiten angenommen, wenn eine Bestimmung des nationalen Rechts in ihrem Tatbestand ein unzulässiges Differenzierungskriterium enthält und daran Rechtsfolgen knüpft, die zu einem Nachteil für das grenzüberschreitende Produkt im Verhältnis zum inländischen Produkt führen.154 Eine solche unmittelbare Diskriminierung stellt insbesondere die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Leistungserbringers oder des Leistungsempfängers dar (personenbezogenes Nationalitätserfordernis).155 Die Natur der Dienstleistungsfreiheit als Produktverkehrsfreiheit156 bedingt es aber, dass darüber hinaus auch die Anknüpfung an die Herkunft des Produkts (produktbezogenes Nationalitätserfordernis) eine unmittelbare Diskriminierung darstellt.157 Abzugrenzen hiervon sind mittelbare Diskriminierungen, die vorliegen, wenn eine mitgliedstaatliche Bestimmung an ein verS. 84 ff.; dens., Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 445 ff. (zusammenfassend S. 458); dens., in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 69 ff. Kritisch zu diesem Standpunkt: Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 82 f., 94, 103; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 107 f.; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, S. 54 ff. 151 St. Rspr., EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 25 m.w. N.; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 54. 152 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 131; dens., Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 367 f. 153 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 131. 154 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 79; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 90; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 362. 155 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 80. 156 Zur „Zwitterstellung“ W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 134. 157 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 80; MüllerGraff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 74.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
meintlich neutrales Kriterium anknüpft, welches sich jedoch faktisch diskriminierend auswirkt.158 Die Diskriminierung ergibt sich hierbei nicht aus dem Wortlaut der Bestimmung, sondern aus der Analyse ihrer materiellen Wirkungen.159 Die Feststellung einer Diskriminierung ist einzelfallbezogen. Die bisher vom EuGH bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entschiedenen Fallgruppen können in Vorabgenehmigungserfordernisse und in sonstige mitgliedstaatliche Bestimmungen mit diskriminierender Wirkung unterteilt werden. 1. Vorabgenehmigungserfordernisse In der überwiegenden Zahl der Fälle ging die Beeinträchtigung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit von einer Bestimmung des mitgliedstaatlichen Rechts aus, welche die Kostenerstattung für eine in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistung von der vorherigen Genehmigung durch den zuständigen Träger abhängig machte.160 a) Unmittelbare Diskriminierung In der Ausgangskonstellation standen nationale Regelungen eines auf dem Kostenerstattungsprinzip beruhenden Sozialversicherungssystems in Frage. Hiernach war die Kostenerstattung für eine Gesundheitsleistung im Inland, die von einem zugelassenen Leistungserbringer erbracht wurde, nicht von einer vorherigen Genehmigung abhängig, wohingegen die Kostenerstattung für im Ausland in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen eine vorherige Genehmigung voraussetzte.161 aa) Beurteilung durch den EuGH Der EuGH erkannte, dass ein Vorabgenehmigungserfordernis die Versicherten zwar nicht daran hindere, sich an einen Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden; die Kostenerstattung für diese Gesundheitsleistung werde aber von einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht. Hingegen unterlägen
158 Vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 81; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 362; ferner EuGH, 12.2.1974 – C-152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153, Rn. 11. 159 Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 362. 160 Um solche mitgliedstaatlichen Bestimmungen ging es in den Rs. Decker, Kohll, Smits/Peerbooms, Müller-Fauré und van Riet, Inizan, Kommission/Frankreich, Elchinov sowie Kommission/Portugal. 161 Vgl. für das luxemburgische Recht EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 8, 11; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 6.
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten
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Gesundheitsleistungen im Inland nicht einer solchen Genehmigung.162 Daher stelle das Vorabgenehmigungserfordernis sowohl für die Patienten als auch für die Leistungserbringer eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, weil ein solches die Patienten davon abschrecke oder sogar daran hindere, sich an die Erbringer medizinischer Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden.163 Eine beeinträchtigende Wirkung entfaltet ein Vorabgenehmigungserfordernis nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig davon, welche Voraussetzungen die mitgliedstaatliche Bestimmungen für die Erteilung einer Genehmigung vorsehen. Denn allein die Aussicht auf eine finanzielle Einbuße im Fall einer mit einer negativen Verwaltungsentscheidung einhergehenden Nichtübernahme der Kosten durch das nationale Gesundheitssystem sei für sich schon geeignet, die Versicherten von der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen abzuschrecken; ausreichend für eine Beeinträchtigung ist somit bereits das bloße Erfordernis einer Vorabgenehmigung.164 bb) Einordnung der Beeinträchtigung Der EuGH bekennt sich in seinen Entscheidungen nicht ausdrücklich zu einer diskriminierenden Wirkung der Maßnahme; er spricht lediglich von einer „Beschränkung“ der Dienstleistungsfreiheit. Gleichwohl arbeitet er heraus, dass die Beeinträchtigung gerade nicht unterschiedslos wirkt, weil die Kosten einer Gesundheitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat nur bei vorheriger Genehmigung erstattet werden, während die Kostenerstattung für Gesundheitsleistungen im Inland nicht einem solchen Erfordernis unterliegt. Dem mitgliedstaatlichen Recht kommt somit diskriminierende Wirkung zu. Zu ermitteln ist, welche Art der Diskriminierung vorliegt. Anknüpfungspunkte der Differenzierung waren nach dem mitgliedstaatlichen Recht einerseits der Ort der Leistungserbringung sowie andererseits die Zulassung des Leistungserbringers. Die Anknüpfung an den Ort der Leistungserbringung führt als formelles Kriterium zum Ausschluss der (genehmigungsfreien) Kostenerstattung für im
162 EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 34; EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 35. 163 St. Rspr., EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 35; nachfolgend EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 69; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 44; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 98; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 60. Entsprechendes gilt für den freien Warenverkehr, EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 36. 164 Vgl. EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 60 ff.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Ausland erbrachte Gesundheitsleistungen. Es liegt ein Differenzierungskriterium vor, welches an die Herkunft des Produkts (produktbezogenes Nationalitätserfordernis) anknüpft;165 dies führt zu einer unmittelbaren Diskriminierung. Das zweite Kriterium, das an die Zulassung des Leistungserbringers im Inland anknüpft, bezieht sich auf die Person des Leistungserbringers. Es liegt zwar keine unmittelbare Diskriminierung vor, weil nicht an die Staatsangehörigkeit des Leistungserbringers angeknüpft wird. Es handelt sich jedoch um eine mittelbare Diskriminierung,166 weil die Anknüpfung an im Inland zugelassene Leistungserbringer typischerweise zum Ausschluss ausländischer Leistungserbringer führt. Vergleichbar ist dies mit Fällen, in denen etwa die Inlandsansässigkeit oder Wohnsitzerfordernisse zur Voraussetzung einer Dienstleistungserbringung gemacht werden.167 Bei einer solchen Kombination von produktbezogener unmittelbarer Diskriminierung und personenbezogener mittelbarer Diskriminierung liegt im Ergebnis eine unmittelbare Diskriminierung vor. In solchen Fällen insgesamt von einer nur mittelbaren Diskriminierung auszugehen,168 weil andernfalls der Spielraum der Mitgliedstaaten verkürzt würde,169 erscheint fragwürdig,170 da sich die Eingriffsintensität zweier Diskriminierungen in ihrer Gesamtheit nicht an der schwächeren Eingriffsart bemessen kann. Im Ergebnis liegt in der Ausgangskonstellation, in der ein auf dem Kostenerstattungsprinzip basierendes mitgliedstaatliches Sozialversicherungssystem betroffen war, eine unmittelbare Diskriminierung vor,171 und zwar – in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit – sowohl hinsichtlich der aktiven Dienstleistungsfreiheit des Leistungserbringers als auch der passiven Dienstleistungsfreiheit des Leistungsempfängers172.
165 Ebenso Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 98; Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 187. 166 Ebenso Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 187. 167 Zu diesen Fallgruppen Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 78 f. 168 So Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 188; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 93. 169 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 56/57 AEUV Rn. 93. 170 Kritisch auch Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 99. 171 So auch Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 100; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 376; ders., in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 72. Dagegen lediglich eine mittelbare Diskriminierung annehmend Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 56 AEUV Rn. 80. Im Ergebnis eine mittelbare Diskriminierung annehmend Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 188. 172 Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 372.
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten
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b) Mittelbare Diskriminierung bei Vertragssystemen Die Beurteilung stellt sich differenzierter dar, wenn Sozialversicherungssysteme mit Vertragssystem betroffen sind. In den vom EuGH entschiedenen Fällen war es den Versicherten nach den mitgliedstaatlichen Bestimmungen möglich, alle Leistungserbringer in Anspruch zu nehmen, die in das inländische Vertragssystem einbezogen waren. Maßgeblich war also nicht, ob es sich um in- oder ausländische Leistungserbringer handelt, sondern ob eine vertragliche Vereinbarung zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer besteht, wovon ausländische Leistungserbringer nicht ausgeschlossen waren. Darüber hinaus existierten im mitgliedstaatlichen Recht Vorschriften, welche – für die Fälle nationalen Systemversagens – ausdrücklich eine Leistungserbringung im Ausland ermöglichten, die Kostentragung hierfür jedoch von der Erteilung einer vorherigen Genehmigung abhängig machten.173 Das maßgebliche Differenzierungskriterium lag also in der Einbeziehung des Leistungserbringers in das Vertragssystem. aa) Beurteilung durch den EuGH Der EuGH stellte fest, dass es den Krankenkassen zwar möglich sei, solche vertraglichen Vereinbarungen auch mit ausländischen Leistungserbringern zu schließen. Jedoch würden in der Praxis aufgrund der Voraussetzungen, von denen der Abschluss vertraglicher Vereinbarungen abhinge, im Wesentlichen Verträge mit inländischen Leistungserbringern geschlossen. Ferner dürfe die Vorstellung grundsätzlich illusorisch sein, „dass viele Leistungserbringer in den anderen Mitgliedstaaten einen Anlass sehen sollten, vertragliche Vereinbarungen mit den betreffenden Krankenkassen zu schließen, da ihre Aussichten, dass sich diesen Kassen angeschlossene Patienten an sie wenden, zufallsbedingt und beschränkt bleiben“.174 Daher bleibe die Inanspruchnahme ausländischer Leistungserbringer de facto auf die in den mitgliedstaatlichen Vorschriften vorgesehenen Ausnahmefälle begrenzt, welche die Kostentragung von einer Vorabgenehmigung abhängig machten.175 bb) Einordnung der Beeinträchtigung Es handelt sich bei einer derartigen Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts nicht um eine unmittelbare Diskriminierung, da die nationalen Bestim173 Vgl. für das niederländische Recht EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 20 ff.; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 15 ff. 174 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 65 f.; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 43; vgl. auch EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 39 f. 175 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 67.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
mungen nicht ausdrücklich an die Staatsangehörigkeit des Leistungserbringers oder an die Herkunft des Produkts anknüpfen. Um eine mittelbare Diskriminierung annehmen zu können, müssten die nationalen Bestimmungen materiell diskriminierend wirken: Die Kostentragung für die Inanspruchnahme inländischer, in das Vertragssystem einbezogener Leistungserbringer setzt keine vorherige Genehmigung voraus. Hingegen ist im Rahmen des Vertragssystems die Kostentragung für grenzüberschreitend in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen nahezu ausgeschlossen, weil ausländische Leistungserbringer regelmäßig nicht in das inländische Vertragssystem eingebunden sind. Zwar lässt das nationale Recht die Einbeziehung ausländischer Leistungserbringer in das Vertragssystem zu; es erscheint jedoch utopisch, dass flächendeckende Vereinbarungen mit unzähligen europäischen Leistungserbringern unter Überwindung nationaler Eigenheiten Realität werden. Daher setzt die Kostentragung für die Inanspruchnahme ausländischer Leistungserbringer faktisch stets eine vorherige Genehmigung voraus, was materiell diskriminierend wirkt und deshalb zu einer mittelbaren Diskriminierung führt.176 Diese Beurteilung trifft auch dann zu, wenn es sich bei dem ausländischen Leistungserbringer um einen privaten Leistungserbringer handelt. Auch dann kommt dem mitgliedstaatlichen Regelungssystem materiell diskriminierende Wirkung zu, weil die Kostentragung aufgrund des im Mitgliedstaat vorherrschenden Vertragssystems auch für die Inanspruchnahme eines ausländischen privaten Leistungserbringers faktisch von einer vorherigen Genehmigung abhängt.177 c) Weitere Fälle der Diskriminierung durch Vorabgenehmigungserfordernisse Vorabgenehmigungserfordernisse wirken somit diskriminierend, wenn die Kostentragung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Inland nicht einer solchen Voraussetzung unterliegt. Dies gilt sowohl für generelle Vorabgenehmigungserfordernisse178 als auch für solche, die sich auf Behandlungen unter
176 Ebenso Dauck/Nowak, EuR 2001, 741 (744 f.); Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 103. 177 Vgl. EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 28. In der Rs. Stamatelaki schloss das griechischen Recht die Kostenerstattung für eine stationäre Behandlung in einer Privatklinik im Ausland außer in Kinder betreffenden Fällen aus (siehe Rn. 6). In diesem besonderen Fall konnte sogar eine unmittelbare Diskriminierung angenommen werden, weil nach mitgliedstaatlichem Recht für die Behandlung in ausländischen Privatkliniken in keinem Fall eine Kostenerstattung möglich war, wohingegen für inländische Privatkliniken eine Einbeziehungsmöglichkeit in das nationale Vertragssystem und eine Kostenerstattungsmöglichkeit für Notfallbehandlungen bestand (siehe Rn. 26 f.; noch klarer Schlussanträge GA Ruiz-Jarabo Colomer, 11.1.2007 – C444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 46 ff.). 178 Vgl. für das bulgarische Recht EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 10, 34, 45.
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten
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Einsatz medizinischer Großgeräte179 oder auf ambulante Gesundheitsleistungen in Fällen der „hochspezialisierten medizinischen Versorgung“ 180 beziehen. 2. Sonstige diskriminierende mitgliedstaatliche Bestimmungen Wenn schon Vorabgenehmigungserfordernisse in mitgliedstaatlichem Recht eine Diskriminierung darstellten, musste dies erst recht für Regelungen gelten, die die Möglichkeit einer Kostentragung für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen überhaupt nicht vorsahen. Dies gilt sowohl für den Ausschluss sämtlicher Gesundheitsleistungen181 als auch für den Ausschluss bestimmter Typen von Gesundheitsleistungen182. Wieder andere mitgliedstaatliche Regelungen eröffneten zwar die Möglichkeit einer Kostenerstattung und machten diese auch nicht von einem Vorabgenehmigungserfordernis abhängig, jedoch sahen die Regelungen erhöhte tatbestandliche Voraussetzungen für eine Erstattungsfähigkeit ausländischer Gesundheitsleistungen im Vergleich zu inländischen vor.183 3. Zwischenergebnis In den entschiedenen Rechtssachen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen lagen unmittelbare oder mittelbare Diskrimi179 Vgl. für das französische Recht EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/ Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 4. 180 Vgl. für das portugiesische Recht EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/ Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 4 f., 26 f., 44, 55 ff. 181 Vgl. für das Recht des Vereinigten Königreichs EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 16, 23, 36; ferner Schlussanträge GA Geelhoed, 15.12. 2005 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 41, 66. Eine Kostentragung gemäß den Regelungen des europäischen Verordnungsrechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit war gleichwohl wegen deren unmittelbarer Geltung möglich, ließ jedoch die beeinträchtigende Wirkung der nationalen Regelungen nicht entfallen. 182 Das belgische Recht sah keine Erstattungsmöglichkeit für im Ausland in Anspruch genommene ambulante Leistungen vor (und enthielt darüber hinaus für stationäre Behandlungen diskriminierende Tatbestandsvoraussetzungen), vgl. EuGH, 12.7. 2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 6 f.; das luxemburgische Recht schloss die Erstattungsfähigkeit für ausländische „Analysen und Laboruntersuchungen“ aufgrund des – diesbezüglich geltenden – Vertragssystems „de facto nahezu oder sogar vollständig“ aus, vgl. EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 1 ff., 17, 31, 41; das portugiesische Recht sah keine Erstattungsmöglichkeit für „sonstige“ ambulante Behandlungen vor, vgl. EuGH, 27.10.2011 – C-255/ 09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 4 f., 26 f., 44, 55 ff., 92. 183 Die Diskriminierung lag im deutschen Beihilferecht nicht in dem unterschiedslos geltenden Erfordernis der vorherigen Anerkennung der Beihilfefähigkeit, sondern in der Voraussetzung eines amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens als Nachweis über zwingende Notwendigkeit der Heilkur im Ausland aufgrund einer wesentlich größeren Erfolgsaussicht, vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 7, 37, 41.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
nierungen vor: Unmittelbar diskriminierend wirkten mitgliedstaatliche Bestimmungen, die eine Kostenerstattung für im Ausland erbrachte Gesundheitsleistungen ausschlossen und somit ein produktbezogenes Nationalitätserfordernis statuierten. Mittelbar diskriminierende Wirkungen gingen von Vertragssystemen aus, die die Kostentragung für Gesundheitsleistungen davon abhängig machten, dass der in Anspruch genommene Leistungserbringer in das inländische Vertragssystem eingebunden ist. Weil dies faktisch die Kostentragung für ausländische Gesundheitsleistungen ausschließt, entfaltet ein solches Erfordernis materiell diskriminierende Wirkung.
II. Keine Beeinträchtigungen Nicht alle nationalen Regelungen, die die Kostentragung für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen einschränken, führen zu einer Beeinträchtigung des Freiverkehrs. Im Grundsatz erkennt der EuGH an, dass es allein Sache der Mitgliedstaaten sei, den Umfang des Krankenversicherungsschutzes für die Versicherten zu bestimmen.184 Wenn die mitgliedstaatlichen Bestimmungen unterschiedslos wirken und den Freiverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gegenüber dem Leistungsaustausch innerhalb eines Mitgliedstaats nicht erschweren, geraten sie mit den Binnenmarktfreiheiten nicht in Konflikt. Hierzu müssen ihre Voraussetzungen auf objektiven, nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruhen.185 1. Festlegung eines nationalen Leistungskatalogs Schon vor Entwicklung der Rechtsprechung zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hatte der EuGH entschieden, dass eine Beeinträchtigung des Freiverkehrs nicht vorliegt, wenn sich die Erstattungsfähigkeit für bestimmte Produkte nach einer Liste bemisst, die auf nichtdiskriminierenden, objektiven und überprüfbaren Kriterien beruht.186 Hieran hat der EuGH in seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen angeknüpft und festgestellt, „dass es den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats obliegt, das nationale System der sozialen Sicherheit auszugestalten, und insbesondere die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ein
184 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 98; EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 48. 185 Vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 48, 50; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 52. 186 Vgl. (im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit bezüglich des Ausschlusses der Kostenerstattung für gelistete Arzneimittel) EuGH, 7.2.1984 – C-238/82 – Duphar, Slg. 1984, 523, Rn. 17 ff.
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Anspruch auf Leistungen gegeben ist.“ 187 Das Unionsrecht könne daher grundsätzlich einen Mitgliedstaat nicht dazu zwingen, die Liste der von seinem System des sozialen Schutzes zu tragenden medizinischen Leistungen zu erweitern, und es sei in dieser Hinsicht unerheblich, ob eine medizinische Behandlung von den Krankenversicherungssystemen anderer Mitgliedstaaten übernommen werde.188 Somit kann das nationale Recht die Kostenerstattung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat auf solche Leistungen beschränken, auf die der Versicherte im nationalen System Anspruch hat. Die Festlegung des Leistungskatalogs muss nicht durch eine ausdrückliche Liste erfolgen. Das nationale Recht kann auch Behandlungstypen definieren, wobei es dem zuständigen Träger obliegt, unter Anwendung der üblichen Auslegungsgrundsätze und auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien unter Berücksichtigung aller einschlägigen medizinischen Kriterien und verfügbaren wissenschaftlichen Daten die vorgesehenen Leistungen zu bestimmen.189 Allerdings kann sich eine Beeinträchtigung des Freiverkehrs aus einer unionsrechtswidrigen Auslegung solcher als Generalklauseln verfassten Bestimmungen ergeben.190 2. Begrenzung auf nationale Erstattungsbeträge und tatsächliche Kosten Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es allein Sache der Mitgliedstaaten, den Umfang des Krankenversicherungsschutzes für die Versicherten zu bestimmen; die Kosten für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen müssen daher nur insoweit erstattet werden, als das nationale Gesundheitssystem eine Deckung garantiert.191 Ist ein mitgliedstaatliches Sachleistungssystem betroffen (in dem keine konkreten Erstattungssätze für einzelne Gesundheitsleistungen vorgesehen sind), seien die Mitgliedstaaten durch nichts daran gehindert, die Erstattungsbeträge für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen festzusetzen, soweit diese Beträge auf objektiven, nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruhen.192 187 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 85; ferner EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 40, 57. 188 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 87; vgl. (im Rahmen des Verordnungsrecht, aber übertragbar) EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 58 f. 189 Vgl. (zum Verordnungsrecht, jedoch übertragbar) EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 62. 190 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 63, 92. Siehe hierzu unten unter E. II. 3. a) aa), S. 104 f. 191 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 98, 106; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I10547, Rn. 79. 192 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 107; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247,
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Keine beeinträchtigende Wirkung entfaltet daher das mitgliedstaatliche Recht, wenn es eine Erstattung nur bis zu dem Höchstbetrag zulässt, der bei Erbringung der betreffenden Gesundheitsleistung im Inland übernommen worden wäre.193 Liegt der Erstattungssatz nach nationalem Recht höher als die tatsächlich angefallenen Kosten, muss die Kostenerstattung nicht über die tatsächlich angefallenen Kosten hinausgehen.194 3. Ausschluss der Erstattungsfähigkeit von Nebenkosten Hinsichtlich mitgliedstaatlicher Bestimmungen, die die Erstattungsfähigkeit von Nebenkosten ausschließen, hat der Gerichtshof entschieden, dass dies keine Beeinträchtigung des Freiverkehrs bedeutet, wenn die Regelungen unterschiedslos für innerstaatliche und transnationale Sachverhalte gelten und den Freiverkehr nicht erschweren.195 Dies gilt beispielsweise für Reisekosten und Kosten einer etwaigen Unterbringung außerhalb des Krankenhauses,196 genauso wie für Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung, Fahrtkosten, Kurtaxe und ärztlichen Schlussbericht, die aufgrund einer in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Heilkur entstanden sind197. Allerdings ließe sich argumentieren, dass insbesondere die Nichterstattung von Reise- und Aufenthaltskosten eine Beschränkung darstellt, weil bei Inanspruchnahme eines Leistungserbringers in einem anderen Mitgliedstaat zwangsläufig solche Kosten anfallen, wohingegen bei Inanspruchnahme lokaler Leistungserbringer keine oder nur geringe derartige Kosten entstehen. Dieser Umstand könnte einen Versicherten davon abhalten, sich an einen Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden. Jedoch ist zu beachten, dass auch bei der Inanspruchnahme inländischer Leistungserbringer Inlandsreisen erforderlich werden können, deren Distanz erheblich größer sein kann als die jener Reisen, Rn. 46; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 87. 193 EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 48. 194 Ausdrücklich EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 52. Zwar bezog sich die Feststellung des EuGH nur auf den ergänzenden Kostenerstattungsanspruch; für den originären Kostenerstattungsanspruch kann jedoch nichts anderes gelten. Anders hatte der EuGH dies noch in der Rs. Vanbraekel gesehen (EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 53), wo es um den Differenzbetrag zwischen dem nach Art. 22 Abs. 1 lit. c i VO (EWG) Nr. 1408/71 und dem im Versicherungsmitgliedstaat erstattungsfähigen Betrag ging; schon in der Entscheidung Watts hatte der Gerichtshof jedoch den (ergänzenden) Kostenerstattungsanspruch auf die tatsächlich angefallenen Kosten begrenzt, EuGH, 16.5.2006 – C-372/ 04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 131 f. 195 Vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 37; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 139 f. 196 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 140. 197 EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 37.
D. Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten
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die zu einem Leistungserbringer in einem benachbarten Grenzgebiet anfallen; ferner können Aufenthaltskosten auch im Inland entstehen. Vor diesem Hintergrund gehen von einer mitgliedstaatlichen Bestimmung, die die Erstattungsfähigkeit solcher Nebenkosten unterschiedslos ausschließt, keine Wirkungen aus, die zu einer Beschränkung des transnationalen Leistungsaustauschs führen. 4. Allgemeine Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Nach der Rechtsprechung des EuGH steht es den Mitgliedstaaten frei, die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung zu bestimmen, soweit diese weder diskriminierend sind noch die Freizügigkeit behindern.198 a) Allgemeine tatbestandliche Voraussetzungen Mitgliedstaatliche Bestimmungen, die die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen von unterschiedslos geltenden tatbestandlichen Voraussetzungen abhängig machen, stellen keine Beeinträchtigung des Freiverkehrs dar. Allerdings ist bei diesen Kriterien – auch wenn sie auf den ersten Blick neutral erscheinen – stets genau zu prüfen, ob ihnen tatsächlich keine diskriminierende oder beschränkende Wirkung zukommt. So darf beispielsweise eine Bestimmung, wonach zur Leistungserbringung nur solche Kureinrichtungen zugelassen sind, die in einem Heilkurorteverzeichnis aufgeführt sind, nicht dazu führen, dass – ähnlich wie bei dem Erfordernis der Einbeziehung in ein Vertragssystem – faktisch nur inländische Einrichtungen als Leistungserbringer in Frage kommen; eine derartige Wirkung kann sich insbesondere aus den Voraussetzungen ergeben, die das nationale Recht für die Eintragung in ein solches Verzeichnis vorsieht.199 b) Vorherige Konsultation eines Allgemeinarztes und vorheriges Gutachten Insbesondere das Erfordernis, vor einem Facharzt zunächst einen Allgemeinarzt zu konsultieren, kann zur Voraussetzung für eine Leistungsgewährung gemacht werden.200 Auch eine Bestimmung, nach der ein amts- oder vertrauensärztliches Gutachten über die Erforderlichkeit der Gesundheitsleistung Voraus198 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 106; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 52; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 86. 199 Vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 49 f. 200 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 106; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 86.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
setzung für die Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung ist, stellt – solange die Regelung unterschiedslos wirkt – keine Beeinträchtigung des Freiverkehrs dar.201 5. Keine Beeinträchtigung bei medizinisch notwendigen Behandlungen Der EuGH hat zu Recht entschieden, dass eine mitgliedstaatliche Bestimmung, die bei medizinisch notwendigen Behandlungen während eines vorübergehenden Aufenthalts im Ausland (i. S. d. damaligen Art. 22 Abs. 1 lit. a VO (EWG) Nr. 1408/71) einen Kostenerstattungsanspruch nur für die Fallgruppe der „dringenden, sofortigen und lebensnotwendigen Gesundheitsversorgung“, nicht jedoch für die übrigen Fälle vorsieht,202 keine Beeinträchtigung des Freiverkehrs darstellt. Eine die Produktverkehrsfreiheiten beeinträchtigende Wirkung geht also nicht von solchen mitgliedstaatlichen Bestimmungen aus, die sich auf die Inanspruchnahme medizinisch notwendiger Behandlungen in einem anderen Mitgliedstaat während eines vorübergehenden Aufenthalts (i. S. d. heutigen Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004) beziehen und die Kostenerstattung hierfür ausschließen oder einschränken. Zwar wirken solche mitgliedstaatlichen Bestimmungen diskriminierend, da sie die Inanspruchnahme jener Gesundheitsleistungen im Inland anders behandeln als im Ausland. Jedoch kommt ihnen nicht die Wirkung zu, die Versicherten davon abzuschrecken oder daran zu hindern, sich an die Erbringer medizinischer Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden. Überzeugend argumentiert der EuGH, dass insbesondere wegen „der Dringlichkeit, der Schwere der Beeinträchtigung oder des Unfalls oder auch [wegen] der aus medizinischer Sicht bestehenden Unmöglichkeit einer Rückreise in den Versicherungsmitgliedstaat“ solche „unerwarteten Behandlungen“ dem Versicherten in der Regel objektiv keine andere Wahl ließen, als die erforderlichen Behandlungen im Aufenthaltsmitgliedstaat durchführen zu lassen.203 Auf die Inanspruchnahme medizinisch notwendiger Gesundheitsleistungen während eines vorübergehenden (beispielsweise touristischen) Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat haben die Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit 201
EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 39 f. Vgl. für das spanische Recht EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 18 f. 203 Dies hat der EuGH jedenfalls für stationäre Behandlungen festgestellt, vgl. EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 58 ff. (64). Dabei berücksichtigt der EuGH auch, dass es Fälle geben mag, in denen die Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht so geartet ist, dass eine vorzeitige Rückkehr in den Versicherungsmitgliedstaat ausgeschlossen wäre; die relevanten Umstände erschienen aber als zu ungewiss und mittelbar, um der nationalen Regelung in ihrer allgemeinen Bedeutung eine beeinträchtigende Wirkung zuzumessen (Rn. 72). 202
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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daher keine Auswirkungen;204 für diese Fallgruppe ist allein das freizügigkeitsspezifische koordinierende Verordnungsrecht (Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/ 2004) maßgebend.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung In der Dogmatik der Grundfreiheiten bedeutet die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit durch das mitgliedstaatliche Recht noch nicht dessen Unionsrechtswidrigkeit. Vielmehr ist zu ermitteln, ob die Beeinträchtigung objektiv gerechtfertigt werden kann. Die Rechtfertigungsprüfung dient auf dieser Weise dem Ausgleich zwischen Grundfreiheit und Rechtfertigungsgrund.
I. Grundlegendes für die Rechtfertigungsprüfung Um die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit zu rechtfertigen, bedarf es eines Rechtfertigungsgrunds; darüber hinaus muss die Beschränkung verhältnismäßig sein, sie darf also nicht über dasjenige hinausgehen, was zu diesem Zweck objektiv notwendig ist und das gleiche Ergebnis darf nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreicht werden.205 1. Quellen der Rechtfertigungsgründe Dabei stellt sich die Frage, aus welchen Quellen sich Gründe entnehmen lassen, die die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten legitimieren können. a) Mitgliedstaatliches Recht Dem mitgliedstaatlichen Recht, von dem die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten ausgeht, können keine Gründe entnommen werden, die unmittelbar zu einer Rechtfertigung führen könnten. Im Gegenteil ist das mitgliedstaatliche Recht gerade Gegenstand der Prüfung am Maßstab der Grundfreiheiten. Aus Gründen der Normenhierarchie ist es grundsätzlich nicht denkbar, dass das mitgliedstaatliche Recht Schranken für das höherrangige Primärrecht vorgibt. Solche Schranken müssen sich vielmehr aus der Unionsrechtsordnung selbst ergeben.206 Besonderheiten mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, insbesondere solche, die sich aus den Eigenarten eines Systems der sozialen Sicherheit ergeben, sind also für die 204
Janda, ZESAR 2010, 465 (469). St. Rspr., EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 106; EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 75 m.w. N. 206 Vgl. (in Bezug auf nationale Grundrechte) Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 115; anders Schorkopf, ZaöRV 2004, 125 (140). 205
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Rechtfertigungsprüfung nur dann relevant, wenn sie sich in einem anerkannten Rechtfertigungsgrund wiederfinden. b) Europäisches Sekundärrecht Es wurde angenommen, dass sich die Rechtfertigung bei Vorliegen abschließenden Sekundärrechts nach dessen Vorgaben bemisst.207 Jedoch sind die Grundfreiheiten, wie oben dargelegt, bei Vorliegen abschließenden Sekundärrechts bereits nicht anwendbar; dann stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung nicht.208 Sollte das Sekundärrecht nur einen Teilbereich harmonisieren, bleiben die Grundfreiheiten im Übrigen anwendbar;209 in diesem Teilbereich kann das Sekundärrecht bei der Beurteilung einer Rechtfertigung nicht weiterhelfen. Andererseits muss sich das Sekundärrecht an den Grundfreiheiten messen lassen;210 erlaubt es eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten, während dies nach Maßgabe der Grundfreiheiten unzulässig ist, ist das Sekundärrecht primärrechtswidrig. Somit ergeben sich auch aus dem Sekundärrecht keine eigenen Rechtfertigungsgründe für die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit. c) Europäisches Primärrecht Für die Rechtfertigung verbleiben somit nur solche Gründe, die sich der Primärrechtsordnung entnehmen lassen und die das Primärrecht für diesen Zweck anerkennt. 2. Geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung einer Grundfreiheit taugen in erster Linie die geschriebenen Rechtfertigungsgründe, die das Primärrecht ausdrücklich für die Rechtfertigung vorsieht. Diese Schrankenbestimmungen sind eng auszulegen.211 Darüber hinaus hat der EuGH auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses anerkannt.212 Bei
207 EuGH, 5.10.1994 – C-323/93 – Centre d’insémination de la Crespelle, Slg. 1994, I-5077, Rn. 31. 208 Ebenso Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 151; vgl. ferner Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 108. 209 EuGH, 7.3.1989 – C-215/87 – Schumacher, Slg. 1989, 617, Rn. 15. 210 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 108. 211 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 76. EuGH, 25.1.1977 – C-46/ 76 – Bauhuis, Slg. 1977, 5, Rn. 12/15; EuGH, 19.3.1991 – C-205/89 – Kommission/ Griechenland, Slg. 1991, I-1361, Rn. 9. 212 Seit EuGH, 20.2.1979 – C-120/78 – Rewe-Zentral („Cassis de Dijon“), Slg. 1979, 649, Rn. 8.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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Prüfung der Rechtfertigung wird das mitgliedstaatliche Recht relevant; es ist zu ermitteln, ob die Zwecksetzung des mitgliedstaatlichen Rechts einen Rechtfertigungsgrund auszufüllen vermag. Dies ist anhand einer unionsrechtsautonomen Auslegung der Rechtfertigungsgründe zu beurteilen. Allerdings ist den Mitgliedstaaten bei Ausfüllung der unionsrechtlichen Vorgaben ein gewisser Beurteilungsspielraum zuzugestehen.213 Der EuGH hat drei Gründe214 anerkannt, die zu einer Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Dienstleistungs- bzw. Warenverkehrsfreiheit bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen führen können. Dabei handelt es sich um zwei Gründe, die auf den Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit gemäß Art. 52 Abs. 1 i.V. m. Art. 62 AEUV (bzw. für die Warenverkehrsfreiheit – mit gleicher Auslegung –215 Art. 36 AEUV) gestützt sind, sowie um einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses. a) Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten Der Gerichtshof hat anerkannt, dass „das Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten, zu den Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit [gemäß Art. 52 Abs. 1 AEUV] zählen kann, soweit dieses Ziel zur Erreichung eines hohen Niveaus des Gesundheitsschutzes beiträgt“.216 In der Literatur wird hierfür insbesondere die Gefahr von Versorgungsengpässen für die einheimische Bevölkerung genannt.217 Denn durch die Abwanderung von Patienten ins Ausland könnte es zu einem Rückgang der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen im Inland kommen, weshalb die ansässigen Leistungserbringer nicht mehr wirtschaftlich arbeiten könnten.218 213 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 90. Siehe EuGH, 14.12.1979 – C-34/79 – Henn und Darby, Slg. 1979, 3795, Rn. 15. 214 Diese haben sich als eigenständige Rechtfertigungsgründe in der Rspr. des EuGH und im Schrifttum herausgebildet, obwohl zu Beginn die Aspekte „Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung“ sowie „Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung“ als einheitlicher Rechtfertigungsgrund verstanden werden konnten, vgl. insb. EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 50 f.; EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 73 f.; EuGH, 13.5.2003 – C-385/ 99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 67. 215 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 62 AEUV Rn. 12. 216 EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 43; ferner EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 104; EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 31; EuGH, 5.10. 2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 42. 217 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 111. 218 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 111.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
b) Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass Art. 52 Abs. 1 AEUV „den Mitgliedstaaten erlaubt, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland für die Gesundheit oder sogar das Überleben ihrer Bevölkerung erforderlich ist“.219 c) Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit aa) Zwingender Grund des Allgemeininteresses Der EuGH hat anerkannt, dass „eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der eine Beschränkung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermag“.220 Es handelt sich um einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund.221 Seine Legitimation bezieht dieser Rechtfertigungsgrund nicht aus einer haushaltspolitischen Zielsetzung, denn rein wirtschaftliche Gründe sind nach Auffassung des Gerichtshofs gerade unzulässig.222 Vielmehr stellt das finanzielle Gleichgewicht des Systems keinen
219 EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 42; ferner EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 105; EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 32. 220 EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 43; ferner EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 41; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 103; EuGH, 19.4.2007 – C-444/ 05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 30; EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 42. 221 Ausführlich Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 118 ff., die allerdings zu dem Zwischenergebnis kommt, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich sei (S. 123). Nach Auffassung von Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 173 f. soll dieser Aspekt unter den Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Gesundheit“ gem. Art. 52 Abs. 1 AEUV fallen. Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 314, 308 verankert diesen Rechtfertigungsgrund in der kompetenzwahrenden Bestimmung des Art. 153 Abs. 4 1. Spiegelstrich AEUV, wobei jedoch – zumindest entstehungsgeschichtlich – übersehen wird, dass diese Bestimmung zur Zeit der Decker/Kohll-Entscheidungen noch nicht existierte (nicht in Art. 118 EGV in der Fassung des Vertrags von Maastricht aus dem Jahr 1992, genauso wenig in Art. 118 EG in der Fassung des Vertrags von Amsterdam aus dem Jahr 1997), sondern erst mit Art. 137 EG in der Fassung des Vertrags von Nizza aus dem Jahr 2001 eingeführt wurde. 222 EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 39; EuGH, 28.4. 1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 41; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 –
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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Selbstzweck dar, sondern ist notwendige Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit eines sozialen Sicherungssystems.223 Klarstellend hat der EuGH darauf hingewiesen, dass selbstverständlich die Übernahme der Kosten einer einzelnen Behandlung niemals bedeutende Auswirkungen auf die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit haben könne, sondern dass die Auswirkungen des freien Dienstleistungsverkehrs im Gesundheitswesen notwendig in ihrem Gesamtzusammenhang zu betrachten sind.224 bb) Dogmatische Verortung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses Bei der dogmatischen Verortung der Prüfung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses herrscht seit Entwicklung der „Cassis-Formel“ 225 Uneinigkeit, ob diese als tatbestandsimmanente Schranken oder als Rechtfertigungsgründe zu verstehen sind. Die neuere Judikatur des Gerichtshofs, gerade auch zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen,226 prüft die zwingenden Gründe des Allgemeininteresses auf der Ebene der Rechtfertigung.227 Die zu erkennende Tendenz228 überzeugt; es handelt sich der Sache nach um Rechtfertigungsgründe229. cc) Heranziehung ungeschriebener Rechtfertigungsgründe bei Diskriminierungen Problematisch ist, dass nach traditioneller Rechtsprechung des EuGH die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses nur bei diskriminierungsfreien Maßnahmen herangezogen werden können; unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen lassen sich hingegen Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 72; vgl. schon EuGH, 7.2.1984 – C238/82 – Duphar, Slg. 1984, 523, Rn. 23. 223 Vgl. Schlussanträge GA Tesauro, 16.9.1997 – C-120/95 und C-158/96 – Decker und Kohll, Slg. 1998, I-1834, Rn. 53; ferner Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 117. 224 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 74. 225 EuGH, 20.2.1979 – C-120/78 – Rewe-Zentral („Cassis de Dijon“), Slg. 1979, 649, Rn. 8. 226 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 101 ff.; EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 29 f.; EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 42; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 43. 227 Beispielsweise EuGH, 17.6.1981 – C-113/80 – Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, Rn. 10; EuGH, 21.3.2002 – C-451/99 – Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193, Rn. 32. 228 Dauses/Brigola, in: Dauses, C. I. Rn. 128. 229 W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 199; ebenso Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 123.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
nur auf Grundlage geschriebener Rechtfertigungsgründe rechtfertigen.230 Diese Rechtsprechung erfuhr jedoch eine Aufweichung, indem der EuGH in Bezug auf mittelbare Diskriminierungen eine Rechtfertigung aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses prüfte.231 Dem stimmte die Literatur mit dem Argument mangelnder Trennschärfe bei der Abgrenzung zwischen mittelbar diskriminierenden und unterschiedslos geltenden Maßnahmen zu.232 Spätestens233 mit den Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen lässt sich der nächste, dogmatisch bemerkenswerte Schritt feststellen: Wie dargestellt, wirkt das mitgliedstaatliche Recht in den Ausgangsentscheidungen nicht nur mittelbar, sondern sogar unmittelbar diskriminierend.234 Gleichwohl prüft der Gerichtshof in diesen Entscheidungen (jedoch auch schon zuvor)235 den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit.236 Eine derartige Ausweitung der Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses auch auf Fälle unmittelbarer Diskriminierung wird von Stimmen des Schrifttums abgelehnt,237 weil solche Diskriminierungen „besonders schwer wiegen und dem Binnenmarktkonzept diametral zuwiderlaufen“ 238. Jedoch erscheint die Rechtsprechungslinie konsequent, weil auch diesbezüglich das Argument zu-
230 EuGH, 10.11.1982 – C-261/81 – Rau Lebensmittelwerke, Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, 25.7.1991 – C-353/89 – Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Rn. 15; EuGH, 29.4.1999 – C-224/97 – Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 16. Aufschlussreich Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 82. 231 Vgl. die Darstellungen der Rechtsprechungsentwicklung bei Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 131 ff.; sowie Nowak/ Schnitzler, EuZW 2000, 627 (628 ff.). Vgl. zur Rspr. EuGH, 1.12.1998 – C-410/96 – Ambry, Slg. 1998, I-7875, Rn. 30 f.; EuGH, 28.10.1999 – C-55/98 – Vestergaard, Slg. 1999, I-7641, Rn. 21 ff.; anders jedoch EuGH, 29.4.1999 – C-224/97 – Ciola, Slg. 1999, I-2517, Rn. 16. 232 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 137 f.; Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 128; Nowak/ Schnitzler, EuZW 2000, 627 (631). Ferner Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 119; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 327 f.; W.-H. Roth, WRP 2000, 979 (982 f.). 233 Vgl. zur Rechtsprechung zuvor bereits W.-H. Roth, WRP 2000, 979 (983 f.). 234 Hierzu oben unter D. I. 1. a), S. 62 ff. 235 Anerkannte Ausnahme ist EuGH, 15.12.1995 – C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I4921, Rn. 121 ff. 236 EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 35, 39; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 34, 41; EuGH, 16.5.2006 – C372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 96 f., 102 f.; ferner Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 82; ders., NJW 2001, 3382 (3384). 237 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 138 f.; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 119; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 325. Zum Meinungsstand siehe Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 83 m.w. N. 238 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 119.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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trifft, dass es der Abgrenzung der unterschiedlichen Beeinträchtigungsformen an Trennschärfe fehlt und vom EuGH dogmatisch nicht durchgehalten wird.239 Ferner erscheint die Einteilung in „zwei Klassen von Schutzgütern“ zweifelhaft, weil viele der ungeschriebenen Belange nicht minder wertig sind als die in den geschriebenen Rechtfertigungsgründen genannten Schutzgüter.240 Diese Argumente sprechen dafür, die Rechtfertigungsgründe aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses bei sämtlichen Beeinträchtigungsarten zuzulassen.241 Die Eingriffsintensität der Maßnahme kann dann im Rahmen der differenzierten Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden, wo – anstelle eines „Alles-oderNichts“ – ein Ausgleich zwischen diesem Umstand und allen weiteren Besonderheiten des Einzelfalls gesucht werden kann.242 Auf diese Weise können legitime mitgliedstaatliche Regelungsinteressen gewahrt werden. d) Unzulässige Rechtfertigungserwägungen Der Gerichtshof hat in seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auch klargestellt, welche Gründe nicht zur Rechtfertigung einer Beeinträchtigung herangezogen werden können. aa) Rein wirtschaftliche Gründe Für eine objektive Rechtfertigung können nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs rein wirtschaftliche Gründe nicht herangezogen werden.243 bb) Kontrolle der Qualität der im Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen Zwar kann grundsätzlich der Gesichtspunkt der Qualität der medizinischen Leistung eine Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit (Art. 52 Abs. 1 i.V. m. Art. 62 AEUV) rechtfertigen, wenn im Ausland kein adäquates 239
Vgl. Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 158 f. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 84; ferner W.-H. Roth, WRP 2000, 979 (983). 241 Hierfür auch W.-H. Roth, WRP 2000, 979 (984); Schroeder, in: Streinz, EUV/ AEUV, Art. 36 AEUV Rn. 34; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 131. Hingegen plädiert Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 377; ders., in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 84 für eine Aufgabe der Cassis-Formel, wobei jedoch nach seiner Auffassung anerkannte Belange im Rahmen der kodifizierten Rechtfertigungsgründe berücksichtigt werden können. 242 Genauso Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 158 f. 243 EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 39; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 41; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 72; vgl. schon EuGH, 7.2.1984 – C-238/82 – Duphar, Slg. 1984, 523, Rn. 23. 240
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Qualitätsniveau gewährleistet ist.244 Der EuGH hat allerdings darauf hingewiesen, dass die Bedingungen für den Zugang und die Ausübung medizinischer Tätigkeiten Gegenstand mehrerer Koordinierungs- oder Harmonisierungsrichtlinien245 seien, so dass das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung nicht durch Erwägungen im Zusammenhang mit der Qualität der im Ausland erbrachten Leistungen gerechtfertigt werden könne.246 Dieser Argumentation des EuGH ist mit dem Gegenargument kritisiert worden, dass aus der Gleichwertigkeit der Berufsausbildung nicht auf die Gleichwertigkeit der Berufsausübung geschlossen werden könne, so dass ein über die Berufszulassung hinausgehendes legitimes Interesse an der Qualitätssicherung bestehe.247 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass auch im Rahmen des Verordnungsrechts (VO (EG) Nr. 883/2004) die Leistungserbringung unter den im Aufenthaltsmitgliedstaat geltenden Qualitätsbedingungen erfolgt. Hieraus lässt sich folgern, dass die Mitgliedstaaten diese bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung offensichtlich akzeptiert haben.248 Im Übrigen kommt den nationalen Trägern nicht die Aufgabe zu, das Qualitätsniveau in anderen Mitgliedstaaten sicherzustellen; dies ist Aufgabe der dortigen nationalen Stellen.249 Maßgeblich bleibt die Frage, ob Qualitätserwägungen einen anerkannten Rechtfertigungsgrund auszufüllen vermögen. Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass das mitgliedstaatliche Recht die Berufsqualifikation des Leistungserbringers zur Voraussetzung der Kostenerstattung machen kann, ohne damit die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen, solange eine solche Regelung unterschiedslos wirkt und auf objektiven, nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruht. Mit Blick auf den Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit lässt sich dann nicht annehmen, dass die Behandlung durch Leistungserbringer in anderen Mitgliedstaaten, die dort die Berufszugangs- und -ausübungsbedingungen erfüllen, eine Gefährdung der Gesundheit der Patienten darstellt.250 Die vom 244 Wollenschläger, EuR 2012, 149 (162); ferner Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 162. 245 Vgl. u. a. RiL 2005/36/EG vom 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. 246 Vgl. EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 81; ferner EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 41 ff.; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 47 ff.; EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 36 f. 247 Kingreen, ZESAR 2009, 109 (114); kritisch auch: Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 109 f.; Kötter, ZESAR 2003, 301 (307). Zu Studien, die auf Unterschiede in der Versorgungsqualität hindeuten: Wismar, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 119 (128 ff.). 248 Kleine, Grenzüberschreitende Behandlungsleistungen, 2002, S. 99; auch Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 333. 249 Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2012, S. 136. 250 Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 333 f.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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EuGH erwähnten Koordinierungs- oder Harmonisierungsrichtlinien verdeutlichen, dass an einem qualitativen Mindestniveau der Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union nicht zu zweifeln ist.251 Stellt man hingegen auf den Rechtfertigungsgrund der Erhaltung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit ab, kann die Kostenerstattung für Gesundheitsleistungen, die von unqualifizierten Leistungserbringern im Ausland erbracht werden, auf Dauer zu einer Gefährdung der finanziellen Stabilität des erstattenden Systems führen, weil das inländische System möglicherweise Nachbehandlungen der Patienten tragen muss. Jedoch besteht auch diese Gefahr aufgrund der Möglichkeit, zur Sicherung der Qualität die Berufsqualifikation des Leistungserbringers zur Voraussetzung einer Kostenerstattung zu machen, sowie aufgrund der bestehenden unionsrechtlichen Koordinierungsund Harmonisierungsrichtlinien nicht. e) Zwischenergebnis Als geschriebene Rechtfertigungsgründe kommen in den Fällen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die aus dem Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Gesundheit gemäß Art. 52 Abs. 1 i.V. m. Art. 62 AEUV (bzw. Art. 36 AEUV) entwickelten Fallgruppen der Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung sowie der Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland in Betracht. Ferner ist der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit anerkannt. Dieser zwingende Grund des Allgemeininteresses ist auf Rechtfertigungsebene zu prüfen und kann auch zur Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen herangezogen werden. Der Aspekt der Kontrolle der Qualität der im Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen vermag hingegen eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nicht zu rechtfertigen. 3. Sonstiges kollidierendes Vertragsrecht als Rechtfertigungsgrund Neben den geschriebenen und ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen können auch andere primärrechtliche Bestimmungen als Rechtfertigungsgründe herangezogen werden. Es handelt sich um Vorschriften des Primärrechts, aus denen sich durch Auslegung ergibt, dass die durch sie geschützten Allgemein- und Individualinteressen die Beeinträchtigung der betroffenen Grundfreiheiten legitimieren.252 Als kollidierendes Vertragsrecht erweisen sich aber „nicht alle in den Ver251 Schon Pitschas, in: Jorens/Schulte, Grenzüberschreitende Inanspruchnahme, 2003, S. 133 (146 ff.).
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
trägen genannten Schutzgüter, sondern nur solche Normen, die aufgrund ihrer dogmatischen Struktur als Befugnisnormen für Eingriffe taugen“.253 a) Art. 35 S. 1 GR-Charta Anerkannt ist, dass die europäischen Grundrechte als kollidierendes Primärrecht eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten legitimieren können.254 Das Grundrecht255 aus Art. 35 S. 1 GR-Charta garantiert den gleichberechtigten Zugang zu vorhandenen Gesundheitsleistungen in den Mitgliedstaaten.256 Angesichts dieses Schutzzwecks kommt das Grundrecht im vorliegenden Zusammenhang nicht zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch mitgliedstaatliches Recht in Betracht. b) Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV kann als Rechtfertigungsnorm eine Beeinträchtigung von Grundfreiheiten legitimieren.257 Nach dieser Vorschrift gelten „für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind [. . .] die Vorschriften der Verträge, [. . .] soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert“. Der EuGH prüft in seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die Ausnahme nach Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV nicht, auch die Generalanwälte gehen nicht auf die Norm ein. aa) Bedeutung der Norm Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV schützt nach seinem Wortlaut Unternehmen; darüber hinaus können sich auch die Mitgliedstaaten zur Legitimation ihres Handelns auf Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV berufen.258 Dies betrifft insbesondere die von den 252
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 77. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 77. 254 EuGH, 12.6.2003 – C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74; EuGH, 18.12.2007 – C-341/05 – Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767, Rn. 93. Ferner Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 79; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 301. 255 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 35 GR-Charta Rn. 2. 256 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 35 GR-Charta Rn. 4. 257 Hierzu oben unter B. III., S. 39 f. 258 St. Rspr., EuGH, 23.10.1997 – C-157/94 – Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Rn. 32 (wonach sich „ein Mitgliedstaat [. . .] auf Art. 90 Abs. 2 [EGV – jetzt Art. 106 Abs. 2 AEUV] berufen kann“); genauso in: EuGH, 23.5.2000 – C-209/98 – Sydhavnens Sten & Grus, Slg. 2000, I-3743, Rn. 74; EuGH, 17.5.2001 – C-340/99 – TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Rn. 52. Vgl. ausführlich Mestmäcker/Schweitzer, in: Im253
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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Mitgliedstaaten erlassenen gesetzlichen Bestimmungen, die im Einklang mit Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV die Erfüllung der besonderen Aufgaben der betroffenen Unternehmen sicherstellen. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV stellt – trotz seiner systematischen Stellung – eine „sachgebietsübergreifende Ausnahmeklausel“ 259 dar; über das europäische Wettbewerbsrecht hinaus kann also jede primärrechtliche Norm260 von der Ausnahme erfasst sein, auch die Grundfreiheiten.261 Art. 106 AEUV ist vor diesem Hintergrund „die einzige allgemein anwendbare Ausnahmenorm des Vertrages [. . .], die explizite wirtschaftliche Gründe für das Abweichen von Vertragszielen anerkennt“ 262. bb) Systematische Zusammenhänge Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV steht in systematischem Zusammenhang zu Art. 14 AEUV und zum Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse; ergänzt werden die Bestimmungen durch Art. 36 GR-Charta.263 Art. 106 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 AEUV liegt ein identisches Begriffsverständnis zugrunde.264 Sie treffen Regelungen für Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse werden hingegen gemäß Art. 2 Protokoll Nr. 26 nicht erfasst und verbleiben allein im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten. Art. 14 AEUV – konkretisiert durch das Protokoll Nr. 26 – ist eine horizontale Querschnittsnorm;265 sie verfestigt das Verständnis von Diensten von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse als Schutzgut von Vermenga/Mestmäcker, Band 1/Teil 1, III., Art. 37 und Art. 106 AEUV, D. Art. 106 Abs. 2, Rn. 49; ferner Koenig/Paul, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 41. 259 Koenig/Paul, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 39. 260 Nach dem eindeutigen Wortlaut und allgemeiner Auffassung ist hierbei irrelevant, ob sich die Vorschrift des Primärrechts an Private (wie bspw. Art. 101 f. AEUV) oder an den Staat (wie bspw. Art. 106 Abs. 1 AEUV) richtet, solange das Unternehmen Nutznießer der Suspendierung der Vertragsvorschrift ist; vgl. Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 162; Koenig/Paul, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 41; Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1/Teil 1, III., Art. 37 und Art. 106 AEUV, D. Art. 106 Abs. 2, Rn. 49. 261 Hiervon ausgehend EuGH, 23.10.1997 – C-157/94 – Kommission/Niederlande, Slg. 1997, I-5699, Rn. 25 ff.; EuGH, 18.6.1998 – C-266/96 – Corsica Ferries France, Slg. 1998, I-3949, Rn. 59. Vgl. ferner Calliess/Korte, Dienstleistungsrecht in der EU, 2011, § 3 Rn. 153, 162; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 345; Mestmäcker/ Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Band 1/Teil 1, III., Art. 37 und Art. 106 AEUV, D. Art. 106 Abs. 2, Rn. 50; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 106 AEUV Rn. 62. 262 Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 47. 263 Vgl. auch Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 21.5. 2003 [KOM(2003) 270 endgültig], sowie Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 12.5.2004 [KOM(2004) 374 endgültig]. 264 Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 AEUV Rn. 12; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 32. 265 Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 1.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
fassungsrang und beeinflusst als Grundsatznorm die Auslegung des Primärrechts,266 insbesondere des Art. 106 Abs. 2 AEUV267. Aus Art. 14 S. 1 AEUV lassen sich aber keine grundsätzlichen Aussagen über die Zuständigkeitsverteilung für die Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik entnehmen, da die Bestimmung für Union und Mitgliedstaaten nur „im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse“, also bei der Kompetenzausübung zu berücksichtigen ist.268 cc) Unternehmen Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV knüpft tatbestandlich an Unternehmen an. Verneint man jedoch gemäß den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung die Unternehmenseigenschaft für Träger der sozialen Sicherheit,269 entfällt bereits die notwendige Tatbestandvoraussetzung für eine Anwendung des Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV.270 Gleichwohl ist Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV im Hinblick auf seinen Sinn und Zweck, der im Schutz von mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen liegt, auch auf Einrichtungen anzuwenden, die – gerade weil sie so schützenwert sind – schon nicht dem europäischen Wettbewerbsrecht unterliegen. dd) Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Eine Definition des Begriffs der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erweist sich als schwierig, insbesondere fehlt es der Abgrenzung zwischen wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Diensten an der nötigen Trennschärfe.271 Nach verbreiteter Auffassung können Gesundheitsleistungen, die durch Sozialversicherungsträger in einem auf Solidarität beruhenden System bereit gestellt werden, dabei aber als wirtschaftlich zu qualifizieren sind, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV darstellen.272 266
Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 AEUV Rn. 19, 29. Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 45 ff.; zurückhaltender Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 AEUV Rn. 30. 268 Vgl. Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 AEUV Rn. 20. 269 Hierzu oben unter B. II. 1., S. 37 f. 270 Von der Unternehmenseigenschaft als Voraussetzung für die Anwendung des Art. 106 Abs. 2 AEUV geht auch Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip, 2008, S. 216 aus. 271 Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 26 ff. Ferner zu der hieraus erwachsenden Gestaltungschance: Rixen, in: Eichenhofer, Sozialrecht in Europa, 2010, S. 53 (64). Ausführlich zum Begriff Krajewski, Grundstrukturen, 2011, S. 78 ff. 272 Schlussanträge GA Jacobs, 22.5.2003 – C-264/01 – AOK Bundesverband u. a., Slg. 2004, I-2493, Rn. 87. Ferner Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 331 m.w. N.; Krajewski, Grundstrukturen, 2011, S. 114; Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2012, S. 44 f. In Bezug auf die 267
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ee) Verhinderung der Aufgabenerfüllung Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV gibt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor. Tatbestandlich sind zwei Hürden zu überwinden: Zum einen muss die Anwendung der Vertragsvorschriften die Erfüllung der jeweils übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindern. Hierzu ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „nicht erforderlich, dass das finanzielle Gleichgewicht oder das wirtschaftliche Überleben des mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmens bedroht ist. Vielmehr genügt es, dass ohne die streitigen Rechte die Erfüllung der dem Unternehmen übertragenen besonderen Aufgaben gefährdet wäre oder dass die Beibehaltung dieser Rechte erforderlich ist, um ihrem Inhaber die Erfüllung seiner im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Aufgaben zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu ermöglichen.“ 273 Zweitens darf im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung274 gemäß Art. 106 Abs. 2 S. 2 AEUV die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Union zuwiderläuft. Bei dieser somit restriktiven Auslegung275 ist freilich der besondere Stellenwert von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, wie er in Art. 14 AEUV festgeschrieben ist, zu berücksichtigen.276 c) Zwischenergebnis Als kollidierendes Vertragsrecht lassen sich auch andere primärrechtliche Bestimmungen zur Rechtfertigung einer Beeinträchtigung heranziehen. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere zu prüfen, ob Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV als sachgebietsübergreifende Ausnahmeklausel eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten legitimeren kann. Die Norm ist aufgrund des bestehenden RegelAusnahme-Verhältnisses und des Verhältnismäßigkeitserfordernisses restriktiv anzuwenden. 4. Kompetenzordnung der Verträge Es stellt sich die Frage, ob die Kompetenzordnung der Verträge im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung berücksichtigt werden kann.277 deutsche gesetzliche Unfallversicherung Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip, 2008, S. 220 f. 273 EuGH, 15.11.2007 – C-162/06 – International Mail Spain, Slg. 2007, I-9911, Rn. 35 m.w. N. 274 Vgl. Koenig/Paul, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 106 AEUV Rn. 77 f.; Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 106 AEUV Rn. 63. 275 Vgl. Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 106 AEUV Rn. 35. 276 Wernicke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 AEUV Rn. 46. 277 Dieses Anliegen verfolgen: Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006; Künkele, Kostenerstattung, 2000, S. 31 ff. (insb. S. 38 f.);
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a) Kompetenzverteilung als Rechtfertigungsgrund? Zunächst ist fragwürdig, ob sich die geschriebene Kompetenzordnung in der Dogmatik der Rechtfertigungsgründe als kollidierendes Vertragsrecht heranziehen lässt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass als kollidierendes Vertragsrecht nur positivierte Normen in Frage kommen.278 Dies würde in der Folge bedeuten, dass die primärrechtliche Kompetenzordnung gerade in den Regelungsbereichen nicht zum Tragen käme, in denen eine (positivierte) Kompetenzübertragung an die Union nicht erfolgt ist, in denen es also bei der Kompetenz der Mitgliedstaaten geblieben ist. Dort also, wo die mitgliedstaatliche Regelungshoheit am stärksten gewahrt ist, könnte die Kompetenzordnung als kollidierendes Vertragsrecht nicht dem Integrationsdruck der Grundfreiheiten entgegengesetzt werden.279 Die Anknüpfung an die geschriebene Kompetenzordnung, d. h. an Kompetenznormen, scheidet aus diesem Grund aus. Es lässt sich deshalb nur überlegen, ob die Kompetenzverteilung als solche, also der Umstand, wie in einem bestimmten Regelungsbereich die Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten verteilt sind, als Rechtfertigungsgrund anzuerkennen ist. Jedoch erscheint zum einen äußerst fragwürdig, ob die formelle Kompetenzverteilung im Sinne einer Eingriffsermächtigung in grundfreiheitliche Gewährleistungsgehalte ausgelegt werden kann.280 Vor allem aber bilden die Grundfreiheiten einen materiell-rechtlichen Maßstab, durch den Union und Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Kompetenzen gebunden werden.281 Die Grundfreiheiten liegen quer zur vertraglichen Kompetenzordnung; ihre Anwendbarkeit setzt gerade das Bestehen einer Kompetenz voraus.282 Diese Kompetenz kann aber ihrerseits nicht wiederum die Grundfreiheiten beschränken. Somit kann die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten als solche keinen eigenständigen Rechtfertigungsgrund bilden.283 Auch der Vorschlag, die Kompetenzverteilung bei der Entwicklung und Auslegung der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe aus den zwingenden GrünStraßburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S. 134 ff.; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 303 ff.; Wunder, Grenzüberschreitende Krankenbehandlung, 2008, S. 103 ff., 183 ff. 278 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 77. 279 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 162. Gegen diesen dogmatischen Einwand wenig überzeugend Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 375, die die Kompetenzordnung „wenigstens in denjenigen Bereichen, die Eingang in den [Vertrag] gefunden haben“, berücksichtigen will. 280 Zweifelnd auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 162. 281 Vgl. Kingreen, NJW 2001, 3382; dens., ZESAR 2003, 199; ferner Jäger-Lindemann, Die Vereinbarkeit, 2004, S. 57. 282 Wollenschläger, EuR 2012, 149 (155); vgl. ferner Kingreen, ZESAR 2003, 199. 283 Dies ausdrücklich anerkennend Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 366; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 307 f.
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den des Allgemeininteresses zu berücksichtigen,284 vermag nicht zu überzeugen. Bei den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses geht es um die Anerkennung und Sicherung materieller Schutzgüter, nicht um die Wahrung der formellen Kompetenzverteilung. b) Kompetenzverteilung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz In der Literatur wird vorgeschlagen, die Kompetenzverteilung der Verträge im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu berücksichtigen. Im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz soll ein Ausgleich zwischen Kompetenzverteilung und Grundfreiheit gesucht werden.285 Hierüber hinaus geht der Vorschlag, wonach die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zu einem großzügigen Maßstab bei der Beurteilung mitgliedstaatlicher Beschränkungen führen soll.286 Letzterem Vorschlag ist zunächst entgegenzuhalten, dass eine solche Betrachtung generell zu unterschiedlichen Verhältnismäßigkeitsmaßstäben führen würde, je nach dem, ob es sich um eine ausschließliche Kompetenz der Mitgliedstaaten oder um eine geteilte oder ausschließliche Kompetenz der Union handelt. Die Grundfreiheiten und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz binden aber Union und Mitgliedstaaten gleichermaßen bei der Kompetenzausübung; in Bezug auf den materiell-rechtlichen Maßstab dieser Bindung enthält die Kompetenzordnung keine Aussage. Für die Frage, ob die Kompetenzverteilung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes berücksichtigt werden kann, ist zwischen zwei unterschiedlichen Verhältnismäßigkeitsgeboten zu unterscheiden: Zunächst normiert Art. 5 Abs. 4 EUV einen an die Union gerichteten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen. Hiervon zu unterscheiden ist der sich aus der grundfreiheitlichen Rechtfertigungsdogmatik ergebende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser Grundsatz richtet sich nicht an die Union und schränkt auch nicht grundfreiheitliche Gewährleistungsgehalte ein,287 sondern errichtet im Gegenteil eine Schranken-Schranke, der die Adressa284 Wunder, Grenzüberschreitende Krankenbehandlung, 2008, stellt eine Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration fest (S. 48 ff.) und versucht zwischen Grundfreiheiten und Kompetenzverteilung praktische Konkordanz herzustellen (S. 103 ff.), insbesondere indem auf Rechtfertigungsebene entweder – dies soll vorrangig sein – die vorhandenen Rechtfertigungsgründe extensiver ausgelegt (S. 183) oder aber neue Rechtfertigungsgründe anerkannt werden sollen (S. 184 ff.). 285 Straßburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S. 134 ff. 286 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 362, 364, 374 ff., insb. S. 381 ff. 287 Zweifelhaft daher Straßburger, Die Dogmatik der EU-Grundfreiheiten, 2012, S. 134 ff., der in seiner Herleitung trotz Auseinandersetzung in Fn. 197 verkennt, dass sich der – aus der Grundfreiheitsdogmatik bekannte – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beschränkend auf den (unionalen) grundfreiheitlichen Gewährleistungsgehalt, sondern auf das mitgliedstaatliche Handeln auswirkt.
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ten der Grundfreiheiten unterliegen, wenn sie die Ausübung der Grundfreiheiten beschränken.288 Damit wird der mitgliedstaatliche Gestaltungsspielraum nicht erweitert, sondern beschränkt. Der grundfreiheitliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz moderiert auf diese Weise einen Rechtsgüterkonflikt;289 die Abwägung erfolgt aber nicht zwischen Grundfreiheit und Kompetenzverteilung, sondern zwischen Grundfreiheit und primärrechtlichem Rechtfertigungsgrund290. Weil also zum einen der grundfreiheitliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz funktionell mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume beschränkt und zum anderen der Umstand der Kompetenzverteilung in seinem spezifischen Abwägungsprozess nicht vorkommt, lässt sich die Kompetenzverteilung im Rahmen dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zugunsten der Mitgliedstaaten berücksichtigen. Betrachtet man schließlich den an die Union gerichteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 5 Abs. 4 EUV ist zunächst fraglich, ob von den „Maßnahmen der Union“ auch die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH umfasst ist.291 Selbst wenn man dies bejaht und Art. 5 Abs. 4 EUV als eine den EuGH bei Prüfung der Grundfreiheiten bindende Kompetenzausübungsschranke begreift, lässt sich dem Umstand der Kompetenzverteilung keine Aussage darüber entnehmen, ob sich die Grundfreiheitsprüfung durch den EuGH als verhältnismäßig erweist. Denn der EuGH hat die Grundfreiheiten als materiell-rechtlichen Maßstab auch in solchen Regelungsbereichen zu prüfen, die in der alleinigen Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieben sind.292 Diese „Maßnahme“ des EuGH geht dann aber nicht inhaltlich wie formal über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus, sondern trägt gerade zur Erreichung der Vertragsziele, insbesondere des Binnenmarktziels, bei. Ansatzpunkte, aus dem formalen Umstand der Kompetenzverteilung auf eine Unverhältnismäßigkeit der Grundfreiheitsprüfung durch den EuGH zu schließen, bieten sich nicht. c) Kompetenzwahrendes kollidierendes Vertragsrecht Den Stimmen in der Literatur, die sich für die Berücksichtigung der Kompetenzordnung im Rahmen der Grundfreiheitsprüfung aussprechen, ist zunächst darin zuzustimmen, dass der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV) und die Kompetenzordnung Teil der Systematik des Vertrags sind und bei der Auslegung des Primärrechts, auch der Grundfreiheiten, Berücksichtigung finden können. Grundfreiheitsdogmatisch lassen
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Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 87. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 113. 290 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 114, 168 f. 291 Diese noch ungeklärte Frage thematisierend Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 (267 f.). 292 Hierzu oben unter B. I. 2. a), S. 36 f. 289
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sich aber, wie gezeigt wurde, weder einzelne Kompetenznormen noch die Kompetenzverteilung als solche als eigenständige Rechtfertigungsgründe anerkennen; auch lässt sich die Kompetenzverteilung nicht im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes berücksichtigen. Kompetenzwahrende Rechtfertigungsgründe können deshalb nur dort anerkannt werden, wo das Primärrecht sie vorsieht. Das Primärrecht kennt Bestimmungen, die auf die Wahrung mitgliedstaatlicher Zuständigkeit gerichtet sind. Solche Normen regeln nicht die Kompetenzverteilung, sondern enthalten die mitgliedstaatliche Souveränität als materielles Schutzgut. Sie lassen sich als Befugnisnormen interpretieren, mit denen Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten legitimiert werden können. Die Bestimmungen können somit als kollidierendes Vertragsrecht in der Funktion eigenständiger kompetenzwahrender Rechtfertigungsgründe auf Rechtfertigungsebene herangezogen werden.293 Im vorliegenden Zusammenhang ist nach hier vertretener Auffassung Art. 168 Abs. 7 AEUV, der auf den Schutz mitgliedstaatlicher Souveränität im Bereich der Gesundheitsversorgung zielt, im Sinne eines eigenständigen kompetenzwahrenden Rechtfertigungsgrunds auszulegen. Ob hingegen vorliegend Art. 153 Abs. 4 1. Spiegelstrich AEUV als kollidierendes Vertragsrecht herangezogen werden kann, erscheint wegen des Wortlauts der Bestimmung, der sich nur auf die „aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen“ bezieht, fragwürdig.294 Da die Schutzzwecke des Art. 153 Abs. 4 1. Spiegelstrich AEUV bereits in dem anerkannten ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit aufgenommen sind295 und Art. 168 Abs. 7 AEUV im Bereich der Gesundheitsversorgung den spezielleren Maßstab darstellt, ist letztere Bestimmung als kompetenzwahrender Rechtfertigungsgrund jedenfalls vorrangig heranzuziehen.
293 Dies entspricht im Grunde dem von Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013 grundlegend entwickelten Ansatz zur Berücksichtigung der Kompetenzordnung (zusammenfassend S. 442 f.). Im Rahmen der Grundfreiheiten sollen nach ihrer Auffassung die sog. Zuständigkeitsvorbehalte (hierzu S. 168 ff.) eigenständige Rechtfertigungsgründe bilden, für die dann allerdings ein besonderes Rechtfertigungsregime gilt (S. 308 ff.). In Bezug auf das allgemeine Freizügigkeitsrecht geht Valta über diesen Ansatz deutlich hinaus: die Schranke „fehlende Unionskompetenz“ soll hier einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund bilden (zusammenfassend S. 443 ff., im Einzelnen S. 344 ff.). 294 Auf diese Vorschrift stellt jedoch Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 314, 321 f. maßgeblich ab. Auch wenn die Vorschrift als Rechtfertigungsgrund anzuerkennen wäre, erscheint die Subsumtion von Valta, die auf eine Durchbrechung des Sachleistungsprinzips abstellt (S. 322 ff.), verkürzt. 295 Hierbei ist zu beachten, dass dieser ungeschriebene Rechtfertigungsgrund bereits vor Einführung des Art. 153 Abs. 4 1. Spiegelstrich AEUV (durch Art. 137 EG in der Fassung des Vertrags von Nizza aus dem Jahr 2001) vom EuGH in seinen Decker/ Kohll-Entscheidungen aus dem Jahr 1998 anerkannt worden war.
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d) Art. 168 Abs. 7 AEUV Gemäß Art. 168 Abs. 7 AEUV wird „bei der Tätigkeit der Union [. . .] die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel.“ Art. 168 Abs. 7 AEUV hat mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1999 Eingang in das Primärrecht gefunden, nachdem im Jahr 1993 mit dem Vertrag von Maastricht der Titel „Gesundheitswesen“ (exArt. 129 EGV) geschaffen worden war. Art. 168 Abs. 7 AEUV stellt eine Sicherungsklausel dar.296 Die Bestimmung wird als Kompetenzausübungsgrenze verstanden.297 Wie soeben dargelegt wurde, kann nach hier vertretener Auffassung die Vorschrift als kollidierendes Vertragsrecht in der Funktion eines eigenständigen kompetenzwahrenden Rechtfertigungsgrunds auf Rechtfertigungsebene berücksichtigt werden. Der EuGH hat in seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die Norm ebenfalls bei Prüfung der Grundfreiheiten gewürdigt, und zwar einerseits im Rahmen der Anwendbarkeit298 und andererseits im Rahmen der Rechtfertigung,299 sowie mit Bezug auf die Grundfreiheit im Rahmen einer gesonderten Vorlagefrage300. Explizit als eigenständigen Rechtfertigungsgrund hat der EuGH die Norm allerdings in diesen Entscheidungen nicht geprüft. Uneinigkeit besteht hinsichtlich der Frage, auf welche Regelungsbereiche sich die Vorschrift bezieht, ob Art. 168 Abs. 7 AEUV also nur auf den Regelungsbereich des Art. 168 AEUV301 oder auf alle Tätigkeitsbereiche der Union Anwendung findet302. Für einen nur eingeschränkten Anwendungsbereich wird die systematische Stellung der Regelung am Ende des Art. 168 AEUV angeführt.303 Für eine allgemeine Geltung der Sicherungsklausel spricht jedoch eine historisch-genetische Betrachtung: Während sich die Vorgängervorschrift des Art. 152 Abs. 5 S. 1 EG lediglich auf die „Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit 296
Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 10. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 298 EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 45 ff. (49). 299 EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 45 (ohne expliziten Bezug auf Art. 168 Abs. 7 AEUV [ex-Art. 152 Abs. 5 EG]). 300 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 144 ff. 301 So Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 79; wohl auch Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 36. 302 So Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; ferner Ebsen, SdL 2010, 5 (19). 303 Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 36. 297
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der Bevölkerung“ bezog, wird nun insgesamt die „Tätigkeit der Union“ erfasst.304 Aus dem heutigen Wortlaut lässt sich somit ein eingeschränkter Anwendungsbereich nicht mehr ableiten. Da die Norm also die gesamte „Tätigkeit der Union“ erfasst, muss die Bestimmung auch in Bezug auf die Rechtsprechungstätigkeit des EuGH Berücksichtigung finden.305 Schutzgut der Vorschrift ist die souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in den von der Vorschrift genannten Bereichen;306 gesichert wird das mitgliedstaatliche Gesundheitssystem in seiner konkreten Ausgestaltung.307 Nicht ausgeschlossen ist aber, dass die Mitgliedstaaten aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben in gewissem Umfang Anpassungen in ihren nationalen Systemen vornehmen müssen.308 5. Abwägung der Schutzgüter Den primärrechtlichen Grundfreiheiten sind somit die primärrechtlichen Rechtfertigungsgründe, welche durch die Zwecksetzung des mitgliedstaatlichen Rechts ausgefüllt werden, entgegenzuhalten. Bei dieser Gegenüberstellung stellt sich die Frage, ob einem der Belange bereits abstrakt eine höhere Wertigkeit zukommt, welche bei dem konkreten Abwägungsprozess zu berücksichtigen ist. a) Zielkonflikte Die abstrakte Wertigkeit verschiedener Belange wird im Unionsrecht insbesondere im Rahmen sog. Zielkonflikte diskutiert. Hierbei geht es um die Frage, welchem von mehreren betroffenen Zielen309 die Unionsorgane beim Erlass bestimmter Maßnahmen den Vorrang einzuräumen haben.310 Zweifelhaft ist bereits, ob in die Dogmatik der Grundfreiheiten solche Zielkonflikte einfließen können, weil mit der Rechtfertigungsprüfung ein eigener Mechanismus zur Auflösung eines Konfliktverhältnisses besteht.311 Will man die betroffenen Belange auf einen Zielkonflikt zurückführen,312 sind bei der grenzüberschreitenden Inan304
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25. Dettling, EuZW 2006, 519 (522 f.). 306 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 147; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 307 Vgl. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 74. 308 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 147; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 45. 309 Zum integrationstheoretischen Hintergrund der Ziele im Unionsrecht: Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 EUV Rn. 18 f. 310 Vgl. Basedow, in: FS Everling, 1995, S. 49 (51). 311 Auf die Unterscheidung hinweisend: Basedow, in: FS Everling, 1995, S. 49 (50 f.). 312 So Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 376 ff. 305
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spruchnahme von Gesundheitsleistungen mitgliedstaatliche Bestimmungen betroffen, die die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit ausgestalten. Sie verfolgen damit den sozialen Schutz der Bevölkerung. Dieses Ziel findet sich in der Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV wieder. Ein in diesem Artikel genanntes Ziel stellt gemäß UAbs. 1 aber auch der Binnenmarkt dar, dessen Verwirklichung die Grundfreiheiten dienen. Seitens des Schrifttums wurde der Systematik des Vertrags ein Vorrang marktintegrativer Ziele gegenüber den nichtwirtschaftlichen Zielen entnommen.313 Derartige Zielhierarchien lassen sich aber – insbesondere vor dem Hintergrund der Vertragsänderungen – nicht mehr begründen.314 Zu Recht wird generell gegen die Beurteilung solcher Zielkonflikte anhand abstrakter Wertigkeiten eingewendet, dass es „bei den vermeintlichen Zielkonflikten [. . .] in Wahrheit nicht um die Gewichtung von abstrakten Zielen, sondern um eine Abwägung zwischen den Schutzgütern der jeweiligen Zielnormen in einer konkreten Situation [geht]. Es wäre hochgradig spekulativ und fiktiv, dem europäischen Recht gleichsam eine Werteordnung entnehmen zu wollen, die im Voraus mit normativ bindender Kraft derartige Rechtsgüterkollisionen aufzulösen hilft.“ 315 Auch der EuGH geht nicht von einer Präferenz markwirtschaftlicher Ziele aus; vielmehr sind die einzelnen Ziele ständig miteinander in Einklang zu bringen und, falls zwischen ihnen Widersprüche auftreten sollten, dem einen oder anderen Ziel derjenige zeitweilige Vorrang einzuräumen, den die wirtschaftlichen Tatsachen oder Umstände gebieten;316 dabei ist den Unionsorganen ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen317. b) Abwägung bei Betroffenheit von Grundrechten Auch wenn es darum geht, die Grundfreiheiten mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes in Einklang zu bringen, geht der EuGH nicht von einer Vorrangstellung des einen Schutzguts vor dem anderen aus. Vielmehr sind „die bestehenden Interessen abzuwägen und es ist anhand sämtlicher Umstände des je313
Basedow, in: FS Everling, 1995, S. 49 ff. (68). Becker, in: Schwarze, Art. 3 EUV Rn. 4; Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 26 AEUV Rn. 36; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 EUV Rn. 22. 315 Hatje, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 836, der aber darauf hinweist, dass nach der Konzeption des Vertrages die Primärziele der Union in erster Linie durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes erreicht werden sollen und den marktwirtschaftlichen Mitteln aufgrund ihrer höheren Durchschlagskraft daher eine Vorrangstellung bei der Aufgabenerfüllung zukommt. Gegen ein Denken in Zielhierarchien auch Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 26 AEUV Rn. 36; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 EUV Rn. 22. 316 Vgl. EuGH, 13.6.1958 – C-9/56 – Meroni/Hohe Behörde, Slg. 1958, 11 (43); EuGH, 5.10.1994 – C-280/93 – Deutschland/Rat, Slg. 1994, I-4973, Rn. 47; EuGH, 17.10.1995 – C-44/94 – Fishermen’s Organisations u. a., Slg. 1995, I-3115, Rn. 37. 317 EuGH, 29.10.1980 – C-139/79 – Maizena/Rat, Slg. 1980, 3393, Rn. 23. 314
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weiligen Einzelfalls festzustellen, ob das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist“; diesbezüglich verfügen die zuständigen Stellen über ein weites Ermessen.318 c) Folgen für die Rechtfertigungsprüfung Somit gilt auch für die Rechtfertigungsprüfung als grundfreiheitsdogmatischer Ausgleichsmechanismus, dass eine Abwägung zwischen der betroffenen Grundfreiheit und dem durch die Zwecksetzung des mitgliedstaatlichen Rechts ausgefüllten primärrechtlichen Rechtfertigungsgrund im konkreten Einzelfall zu erfolgen hat. In diesem Zusammenhang hat der EuGH ausdrücklich anerkannt, dass die Union „nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Zielrichtung hat“ und „die sich aus den Bestimmungen des EGVertrags über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden“ müssen.319 6. Zwischenergebnis Zur Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der Grundfreiheiten enthält das Primärrecht geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe; im Vordergrund steht im vorliegenden Zusammenhang der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit. Darüber hinaus können auch andere Bestimmungen des Primärrechts als kollidierendes Vertragsrecht Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten legitimieren. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV ist als eigenständiger Rechtfertigungsgrund anerkannt und will die Erfüllung der besonderen Aufgaben der Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, sicherstellen. Besonders problematisch erweist sich die Fragestellung, ob auch die Kompetenzordnung der Verträge auf Rechtfertigungsebene Berücksichtigung finden kann. Die Kompetenzverteilung lässt sich weder als eigenständiger Rechtfertigungsgrund noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einbringen. Kompetenzwahrende Rechtfertigungsgründe können deshalb nur dort anerkannt werden, wo das Primärrecht sie vorsieht. Nach hier vertretener Auffassung ist Art. 168 Abs. 7 AEUV, der auf den Schutz mitgliedstaatlicher Souveränität im Bereich der Gesundheitsversorgung zielt, als kollidierendes Vertragsrecht in der Funktion eines eigenständigen kompetenzwahrenden Rechtfertigungsgrunds zu prüfen. 318 EuGH, 12.6.2003 – C-112/00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5659, Rn. 77 ff. (81 f.). 319 EuGH, 11.12.2007 – C-438/05 – International Transport Workers’ Federation und Finnish Seamen’s Union (Viking), Slg. 2007, I-10779, Rn. 79; EuGH, 18.12.2007 – C341/05 – Laval un Partneri, Slg. 2007, I-11767, Rn. 105.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Betrachtet man den auf Rechtfertigungsebene stattfindenden Abwägungsprozess zwischen den vorliegend betroffenen Belangen des sozialen Schutzes auf der einen und des Binnenmarktziels auf der anderen Seite, lassen sich abstrakte Wertigkeiten der verschiedenen Belange in den Abwägungsprozess nicht einbringen. Vielmehr ist eine Abwägung zwischen den Schutzgütern im konkreten Einzelfall vorzunehmen.
II. Rechtfertigung eines Vorabgenehmigungserfordernisses In der überwiegenden Zahl der Rechtssachen lag die Beeinträchtigung der Dienstleistungs- bzw. Warenverkehrsfreiheit in einem Vorabgenehmigungserfordernis. Anfangs hatten die Mitgliedstaaten argumentiert, dass ein Vorabgenehmigungserfordernis schon deswegen primärrechtskonform sein müsse, weil ein solcher Vorbehalt im Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (namentlich in Art. 20 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004) generell vorgesehen sei.320 Der EuGH hat jedoch von Beginn an klargestellt, dass der Umstand, dass eine nationale Regelung möglicherweise einer Bestimmung des abgeleiteten Rechts entspricht, nicht zur Folge habe, dass sie nicht an den Bestimmungen des Primärrechts zu messen wäre.321 Es handelt sich, wie gezeigt wurde,322 um in verschiedenen Grundfreiheiten wurzelnde Regelungsbereiche, so dass ihre Primärrechtrechtskonformität jeweils gesondert bestimmt werden muss. Nach der Rechtsprechung des EuGH beurteilt sich die Rechtfertigungsfähigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses nach der betroffenen Gesundheitsleistung: der EuGH unterscheidet zwischen ambulanten und stationären Behandlungen sowie Behandlungen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern. 1. Ambulante Behandlungen a) Rechtsprechung des EuGH Bezüglich der auf den geschriebenen Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Gesundheit“ gestützten Rechtfertigungserwägungen hat der EuGH in den Fällen ambulanter Behandlungen im Ergebnis festgestellt, dass das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung weder zur Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung, noch zur Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines 320
Vgl. etwa EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 22. Vgl. EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 38; ferner EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 27; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 25; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 47. 322 Hierzu oben unter B. IV. 3., S. 42 f. 321
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland erforderlich sei.323 Bemerkenswert ist, dass der EuGH diese Aussagen in Bezug auf ambulante Behandlungen nicht absolut getroffen hat; er hat lediglich festgestellt, dass solche Auswirkungen von den Verfahrensbeteiligten nicht nachgewiesen worden seien.324 Ebenso hat der EuGH eine Rechtfertigung aus den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses abgelehnt, da eine Kostenerstattung nach den nationalen Erstattungsbeträgen keine wesentlichen Auswirkungen auf das finanzielle Gleichgewicht des Systems habe.325 Auch diesbezüglich hat der EuGH eine solche Wirkung nicht von vornherein ausgeschlossen, sondern mangels untermauernder Nachweise verneint.326 Der EuGH hat zwar eingeräumt, dass sich Auswirkungen in Bezug auf die Möglichkeiten einer Kontrolle der Krankheitskosten ergeben können.327 Angesichts der Sprachbarrieren, der räumlichen Entfernung, der Kosten eines Auslandsaufenthalts sowie des fehlenden Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patienten sei aber nicht zu erwarten, dass derart viele Patienten zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen veranlasst würden, dass hieraus das finanzielle Gleichgewicht des nationalen Systems der sozialen Sicherheit gefährdet wäre. Die Fälle seien daher – abgesehen von Notfällen – im Wesentlichen auf Grenzgebiete oder auf die Behandlung spezieller Erkrankungen begrenzt. Diese verschiedenen Umstände erschienen geeignet, die finanziellen Auswirkungen, die von einer genehmigungsfreien grenzüberschreitenden Inanspruchnahme ambulanter Behandlungen auf das nationale Gesundheitssystem ausgehen, zu begrenzen.328
323 Vgl. EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 52; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 67 ff.; ferner (nur auf die erste Rechtfertigungserwägung bezogen) EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 43 f. 324 Vgl. EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 52; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 69 f.; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 44. 325 Vgl. EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 40; EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 42; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 72 (93 ff.); EuGH, 27.10.2011 – C255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 73 ff. 326 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 93; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 44; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I10547, Rn. 75. In EuGH, 28.4.1998 – C-120/95 – Decker, Slg. 1998, I-1831, Rn. 40 hat der Gerichtshof seine Annahme auf eine entsprechende Auskunft des Mitgliedstaats gestützt; dagegen im Sinne einer absoluten Feststellung EuGH, 28.4.1998 – C-158/96 – Kohll, Slg. 1998, I-1931, Rn. 42. 327 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I4509, Rn. 94. 328 Vgl. zuletzt EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I10547, Rn. 76 ff.; ferner EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 94 ff.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
Diese Grundsätze gelten unabhängig davon, ob es sich um ein nationales Versicherungssystem mit Kostenerstattungs- oder Sachleistungsprinzip oder um ein steuerfinanziertes System handelt. Zwar sahen Mitgliedstaaten mit Sachleistungssystem die Gefahr, dass sie auf diese Weise gezwungen seien, die Grundsätze und die Struktur ihres Krankenversicherungssystems aufzugeben, weil das nationale Sachleistungssystem, dessen Funktionieren wesentlich vom System vertraglicher Vereinbarungen abhänge, in seiner Existenz gefährdet werde und ein Zwang zur Einführung von Mechanismen zur Kostenerstattung entstehe.329 Der EuGH wies jedoch darauf hin, dass schon im Rahmen des Verordnungsrechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit diejenigen Mitgliedstaaten, die ein Sachleistungssystem oder sogar einen nationalen Gesundheitsdienst errichtet haben, Mechanismen der nachträglichen Erstattung der Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen durchgeführte Behandlung vorsehen müssten.330 Zum anderen verlange der ungehinderte Freiverkehr die Erstattung der Kosten nur in Höhe der nationalen Erstattungsbeträge; ferner könnten dem Versicherten die allgemeinen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung, insbesondere das Erfordernis, vor einem Facharzt zunächst einen Allgemeinarzt zu konsultieren, entgegengehalten werden.331 Daher sei nicht ersichtlich, dass die Aufhebung des Vorabgenehmigungserfordernisses geeignet wäre, die wesentlichen Merkmale eines derartigen nationalen Gesundheitssystems zu beeinträchtigen.332 b) Untersuchung der Rechtsfrage Der Kern der argumentativen Auseinandersetzung liegt im Rechtfertigungsgrund der „erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit“. Hingegen ist in Bezug auf den geschriebenen Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Gesundheit“ dem EuGH darin zuzustimmen, dass sich ein Vorabgenehmigungserfordernis weder mit der „Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen zugänglichen ärztlichen und klinischen Versorgung“ noch mit der „Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegeri329 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I4509, Rn. 99; ferner EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 42, 45; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 84. 330 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 105; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 46; ferner (für stationäre Behandlungen entsprechend) EuGH, 16.5.2006 – C-372/ 04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 122. 331 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 106; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 86 f. 332 EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 108.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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schen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland“ rechtfertigen lässt. aa) Erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts Der EuGH stützt seine Auffassung, dass ein Vorabgenehmigungserfordernis bei ambulanten Behandlungen nicht mit einer „erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems“ gerechtfertigt werden könne, zum einen darauf, dass solche Auswirkungen deswegen nicht zu befürchten seien, weil aufgrund der Besonderheiten von Gesundheitsleistungen ihre Inanspruchnahme im Ausland die Ausnahme bleibe. Hiergegen wurde von Seiten des Schrifttums im Ausgangspunkt zu Recht eingewendet, dass der Bestand eines Freiheitsrechts nicht davon abhängen kann, wie oft das Freiheitsrecht tatsächlich in Anspruch genommen wird.333 Gleichwohl ist die Argumentation des EuGH nicht verfehlt. Sie darf nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass das Recht als solches von der Verhaltensweise der Betroffenen abhinge. Vielmehr ist die Frage zu beurteilen, ob ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, ob also ernsthafte finanzielle Auswirkungen auf das Gleichgewicht eines Sozialversicherungssystems zu erwarten sind. Hierzu ist argumentativ überzeugend als Ausgangsbefund festzustellen, dass – unabhängig von zukünftigen Entwicklungen – die Gesundheitsversorgung grundsätzlich eine „regionale Aktivität“ ist.334 Patienten wollen Gesundheitsleistungen im vertrauten sozialen Umfeld in Anspruch nehmen;335 ferner sind Gesundheitsleistungen vielfach zeitlich nicht aufschiebbar,336 so dass Patienten bestrebt sind, Wege und Zeit zu sparen.337 Abweichendes kann sich lediglich für Grenzregionen oder Spezialbehandlungen ergeben.338 Eine erhebliche Ausweitung der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist nach alledem nicht zu befürchten.339 Dies lässt sich jedenfalls als Ausgangsbefund in die rechtliche Würdigung einbringen. Weiter argumentiert der EuGH überzeugend in Bezug auf die finanziellen Auswirkungen, dass eine Mehrbelastung der mitgliedstaatlichen Gesundheitssys333 Becker, NJW 2003, 2272 (2276); Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 224; Schlegel, SGb 2007, 700 (705); Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (801). 334 Vgl. Kommission, KOM(2008) 415 endgültig, S. 9; ferner Hajen, in: Gerlinger/ Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (44); auch Bieback, NZS 2001, 561 (569); Zerna, Der Export von Gesundheitsleistungen, 2003, S. 38 f. 335 Kingreen, NJW 2001, 3382 (3384). 336 Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 23. 337 Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (44). 338 Bieback, NZS 2001, 561 (569). 339 So auch die ökonomischen Einschätzungen, siehe Schmucker, GesundhWes 2010, 150 (151); Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2008, S. 334. In dieser Hinsicht dagegen sehr kritisch: Schlussanträge GA Ruiz-Jarabo Colomer, 22.10.2002 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 51 f.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
teme deswegen nicht eintrete, weil die zu gewährenden Leistungen auf den nationalen Leistungskatalog sowie den nationalen Erstattungstarif beschränkt seien und den Versicherten die allgemeinen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung entgegengehalten werden können. Weil die Kosten der Gesundheitsleistung im Inland nicht anfallen, stellt es keine zusätzliche Belastung des nationalen Gesundheitssystems dar, wenn stattdessen dieselben Kosten für die Inanspruchnahme in einem anderen Mitgliedstaat zu erstatten sind. Im Hinblick auf mitgliedstaatliche Kostenerstattungssysteme genügt diese Argumentation bereits, um überzeugend die fehlende Rechtfertigungsmöglichkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses bei ambulanten Behandlungen zu begründen. Gewichtige Einwände ergeben sich jedoch bei mitgliedstaatlichen Systemen mit Sachleistungsprinzip. Die Mitgliedstaaten befürchteten, auf diese Weise dazu gezwungen zu sein, die Grundsätze und die Struktur ihres Krankenversicherungssystems aufzugeben, weil das nationale Sachleistungssystem, dessen Funktionieren wesentlich vom System vertraglicher Vereinbarungen abhänge, in seiner Existenz gefährdet werde.340 Zunächst ist hierzu festzustellen, dass die Rechtsprechungsgrundsätze in der Tat zur Aufhebung des Sachleistungsprinzips bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen führen (wenn der ausländische Leistungserbringer – wie regelmäßig – nicht in das mitgliedstaatliche Vertragssystem einbezogen ist). Aus dem Blickwinkel der Grundfreiheiten ist aber allein entscheidend, ob sich diese Erwägung in einem der Rechtfertigungsgründe wiederfinden lässt. Allein die Tatsache, dass das nationale Sachleistungsprinzip durch den (unionsrechtlichen) Kostenerstattungsanspruch durchbrochen wird, ist in Bezug auf den Rechtfertigungsgrund der „erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit“ noch unerheblich, weil die Durchbrechung eines Prinzips für sich genommen keine finanziellen Auswirkungen zeitigt. Erst wenn es in Folge der Durchbrechung zwingend zu systemgefährdenden finanziellen Konsequenzen käme, könnte dieser Umstand im Rahmen des Rechtfertigungsgrunds Berücksichtigung finden. Wie von den Mitgliedstaaten vorgetragen, geht mit dem Sachleistungsprinzip die Errichtung eines Vertragssystems einher. Das Vertragssystem dient der Ausgestaltung des Leistungserbringungsrechts und regelt insbesondere die Vergütung der Leistungserbringer. Diesbezüglich wurde in der Rechtssache Müller-Fauré und van Riet seitens des Generalanwalts vorgetragen, dass – im damals betroffenen niederländischen Gesundheitssystem – die Finanzierung eines Vertragsarztes anhand eines Pauschalbetrages für jeden Patienten erfolge, so dass die Kassen grundsätzlich keine zusätzlichen Zahlungen leisten müssten. Eine zusätzliche finanzielle Belastung für die Kassen ergebe sich aber, wenn die Versicherten im 340 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I4509, Rn. 99.
E. Rechtfertigung einer Beeinträchtigung
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Ausland Leistungen in Anspruch nehmen, die nicht durch eine vertragliche Vereinbarung erfasst sind.341 In Vertragssystemen also, die auf einer pauschalen Abgeltung für die Gesamtheit aller erbrachten Leistungen pro Versicherten beruhen (Kopfpauschale), kommt es zu einer Doppelleistung der Krankenkasse: Einmal ist die Gesundheitsleistung im vorausbezahlten Pauschalbetrag abgebildet, zum anderen muss für die Inanspruchnahme dieser Gesundheitsleistung im Ausland zusätzlich Kostenerstattung geleistet werden.342 Zunächst muss allerdings schon bezweifelt werden, dass dieser Umstand im Ergebnis zu einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit führen würde, da Doppelleistungen aufgrund der geringen Fallzahl der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme nicht über Gebühr ins Gewicht fallen dürften. Unabhängig davon vermag die beschriebene Problemlage den Rechtfertigungsgrund nicht auszufüllen. Denn das Unionsrecht zwingt weder dazu, das mitgliedstaatliche Sachleistungsprinzip, noch das Vertragssystem im Inland aufzugeben. Lediglich bei der konkreten Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen sind die unionsrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, was jedoch schon zuvor aufgrund des Verordnungsrechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Fall war. Die konkrete Ausgestaltung der vertraglichen Beziehungen innerhalb eines mitgliedstaatlichen Gesundheitssystems stellt keine zwangsläufige oder systemimmanente Folge des Sachleistungsprinzips dar.343 Die Vereinbarungen innerhalb des Vertragssystems unterliegen ohnehin – auch aufgrund rein nationaler Faktoren – permanentem Anpassungsbedarf; hierbei haben die Mitgliedstaaten nunmehr die Vorgaben des Unionsrechts zu beachten. So bleibt es etwa den Mitgliedstaaten unbenommen, die im Ausland in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen aus den innerstaatlichen Vergütungsvereinbarungen herauszurechnen. Wie der EuGH zu Recht betont, verpflichtet das Unionsrecht die Mitgliedstaaten unvermeidlich, einige Anpassungen in ihrem nationalen Recht vorzunehmen.344 Eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit kann aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben nicht angenommen werden. Im Ergebnis lassen sich Vorabgenehmigungserfordernisse in den Fällen ambulanter Gesundheitsleistungen nicht mit dem ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit rechtfertigen. 341 Schlussanträge GA Ruiz-Jarabo Colomer, 22.10.2002 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 49. 342 Vgl. zu diesem Einwand auch BSG, 30.10.2002 – B 1 KR 28/01 R, ZESAR 2003, 185 (187 f.). 343 Vgl. Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 226. 344 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 121.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
bb) Art. 168 Abs. 7 AEUV Auf Rechtfertigungsebene ist die Sicherungsklausel des Art. 168 Abs. 7 AEUV zu beachten. Wie oben dargelegt,345 soll nach hier vertretener Auffassung die Vorschrift als kollidierendes Vertragsrecht in der Funktion eines eigenständigen kompetenzwahrenden Rechtfertigungsgrunds berücksichtigt werden. Der EuGH hat die Vorschrift in seinen Entscheidungen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ebenfalls geprüft,346 jedoch nicht explizit als eigenständigen Rechtfertigungsgrund. Der Gerichtshof weist in seiner Rechtsprechung zu Art. 168 Abs. 7 AEUV darauf hin, dass unter den vom Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollten und wie dieses Niveau erreicht werden solle. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden könne, sei den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen.347 In Bezug auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen betont der EuGH allerdings, dass trotz der durch Art. 168 Abs. 7 AEUV gesicherten Befugnis die Mitgliedstaaten bei ihrer Ausübung das Unionsrecht und insbesondere die Grundfreiheiten zu beachten haben.348 Art. 168 Abs. 7 AEUV schließe nicht aus, dass die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Grundfreiheiten unvermeidlich verpflichtet seien, einige Anpassungen in ihren nationalen Systemen der sozialen Sicherheit vorzunehmen, ohne dass dies als Eingriff in ihre souveräne Zuständigkeit in dem betreffenden Bereich angesehen werden könnte.349 Auswirkungen des Unionsrechts auf Mitgliedstaaten mit Sachleistungssystem oder nationalem Gesundheitsdienst gingen beispielsweise auch vom Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (jetzt VO (EG) Nr. 883/2004) aus.350 Im Ergebnis verstoßen
345
Hierzu unter E. I. 4. c) und d), S. 88 ff. Insb. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 144 ff.; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 45 ff.; näher dazu bereits oben unter E. I. 4. d), S. 90. 347 EuGH, 1.6.2010 – C-570/07 – Blanco Pérez und Chao Gómez, Slg. 2010, I-4629, Rn. 43 f. m.w. N. 348 EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 47 f. 349 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 147; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 45; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 49. 350 EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 46. 346
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die unionsrechtlichen Vorgaben nach Auffassung des EuGH nicht gegen Art. 168 Abs. 7 AEUV.351 Der Beurteilung des EuGH ist zuzustimmen. Art. 168 Abs. 7 AEUV soll solche Eingriffe verhindern, die zur Umgestaltung mitgliedstaatlicher Gesundheitssysteme zwingen,352 die also die mitgliedstaatliche Souveränität zur Festlegung der Gesundheitspolitik, zur Organisation des Gesundheitswesens oder zur medizinischen Versorgung substanziell in Frage stellen. Derart gravierende Auswirkungen gehen jedoch von der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht aus. Die Ermöglichung eines Freiverkehrs lässt die nationale Ausgestaltung der Gesundheitssysteme und die Abwicklung aller inländischen Leistungsfälle unberührt; nur in Bezug auf grenzüberschreitende Vorgänge sind einige Anpassungen vorzunehmen. Diese werden jedoch insbesondere durch die Beschränkungen auf den nationalen Leistungskatalog und den inländischen Erstattungstarif sowie durch die Zulässigkeit allgemeiner nichtdiskriminierender Leistungsvoraussetzungen abgemildert. cc) Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV kann die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit rechtfertigen.353 Eine rechtliche oder tatsächliche Verhinderung der Erfüllung der dem mitgliedstaatlichen Gesundheitssystem übertragenen besonderen Aufgabe aufgrund der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit kann im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht angenommen werden. Die Kostenerstattung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zum nationalen Erstattungstarif führt nicht zu einer Belastung, die die Gesundheitssysteme in ihrer finanziellen Stabilität oder in der Erfüllung ihrer Aufgaben bedrohen könnte.354 dd) Zwischenergebnis Die Rechtsprechung des EuGH zur Unzulässigkeit von Vorabgenehmigungserfordernissen bei ambulanten Gesundheitsleistungen überzeugt. Insbesondere ist der Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit nicht erfüllt; auch vermögen Art. 168 Abs. 7 AEUV und Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV die Beeinträchtigung der Grundfreiheiten nicht zu legitimieren. 351
EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 148. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 353 Hierzu oben unter B. III., S. 39 f. 354 So auch (allerdings in Bezug auf die gesetzliche Unfallversicherung) Baldschun, Solidarität und soziales Schutzprinzip, 2008, S. 247 f. 352
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
2. Stationäre Behandlungen und Einsatz medizinischer Großgeräte a) Rechtsprechung des EuGH Die Rechtfertigung eines Vorabgenehmigungserfordernisses für stationäre Behandlungen hat der EuGH aufgrund ihrer „unbestreitbaren Besonderheiten“ 355 anders beurteilt. Der Gerichtshof hat anerkannt, „dass die Zahl der Krankenhäuser, ihre geografische Verteilung, ihr Ausbau und die Einrichtungen, über die sie verfügen, oder auch die Art der medizinischen Leistungen, die sie anbieten können, planbar sein müssen. Eine derartige Planung beruht im Allgemeinen auf verschiedenen Bestrebungen: Zum einen bezweckt sie, im betreffenden Mitgliedstaat zu gewährleisten, dass ein ausgewogenes Angebot qualitativ hochwertiger Krankenhausversorgung ständig ausreichend zugänglich ist. Zum anderen soll sie dazu beitragen, die Kosten zu beherrschen und, so weit wie möglich, jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen zu verhindern. Eine solche Verschwendung wäre umso schädlicher, als der Sektor der Krankenhausversorgung bekanntlich erhebliche Kosten verursacht und wachsenden Bedürfnissen entsprechen muss, während die finanziellen Mittel, die für die Gesundheitspflege bereitgestellt werden können, unabhängig von der Art und Weise der Finanzierung nicht unbegrenzt sind“.356 Unter diesem doppelten Blickwinkel erweise sich das Vorabgenehmigungserfordernis für stationäre Behandlungen als sowohl notwendig als auch angemessen.357 Die Argumentation des EuGH trifft auf alle Typen nationaler Gesundheitssysteme zu, unabhängig davon, ob es sich um Versicherungssysteme mit Kostenerstattungs- oder Sachleistungsprinzip oder um steuerfinanzierte Systeme handelt.358 In einer jüngeren Entscheidung hat der EuGH die Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses auch für solche Behandlungen anerkannt, die außerhalb eines Krankenhauses erbracht werden und den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern. Der EuGH führt aus, dass die für stationäre Behandlungen entwickelten Überlegungen auch auf medizinische Leistungen zutreffen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte beinhalten.359 Wie der Gerichtshof betont, gilt dies jedoch nur, wenn die medizinischen Großgeräte – insbesondere was ihre Zahl und ihre geografische Verteilung betrifft – Gegenstand einer Planungspolitik sind, die dazu beiträgt, im gesamten Staatsgebiet ein Angebot an Spitzenbe355
Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 76. EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 43; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 108 f.; EuGH, 12.7.2001 – C157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 76 ff. 357 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 80; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 110. 358 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 111 f. 359 EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 34. 356
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handlungsleistungen zu gewährleisten, das rationell, stabil, ausgewogen und gut zugänglich ist, aber auch, um jede Verschwendung finanzieller, technischer und menschlicher Ressourcen so weit wie möglich zu verhindern.360 Ein Vorabgenehmigungserfordernis ist somit auch für solche Behandlungen zulässig, die außerhalb eines Krankenhauses erbracht werden und den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, wenn die medizinischen Großgeräte im nationalen Gesundheitssystem Gegenstand einer Planungspolitik sind. b) Kritik durch das Schrifttum und Stellungnahme Der EuGH räumte schon früh ein, dass sich die Unterscheidung zwischen ambulanten und stationären Behandlungen mitunter als schwierig erweisen kann,361 hielt jedoch gleichwohl an der Unterscheidung fest. Mit der Erweiterung um die Fallgruppe der ambulanten Versorgung, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordert, hat der Gerichtshof die starre Abgrenzungsregel aufgeweicht. Als entscheidendes Kriterium der Differenzierung ist der Planungsbedarf hervorgetreten.362 Von Seiten des Schrifttums wurde die Rechtsprechung mitunter scharf kritisiert.363 Tatsächlich sei es schwierig, die „unbestreitbaren Besonderheiten“ von stationären Leistungen gegenüber ambulanten Leistungen zu benennen; es fehle an strukturellen Unterschieden zwischen den Versorgungsformen, lediglich graduelle Unterschiede könnten die Differenzierung nicht begründen.364 Die Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Es bestehen eindeutig Unterschiede zwischen dem ambulanten und dem stationären Versorgungssektor und es erscheint überzeugend, an das Differenzierungskriterium des Planungsbedarfs auf Rechtfertigungsebene anzuknüpfen. Bei stationären Behandlungen und bei Einsatz medizinischer Großgeräte besteht ein im Gegensatz zu ambulanten Behandlungen höherer Planungsbedarf. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch die ambulante Versorgung gewissen Planungsanstrengungen unterläge;365 dieser Aspekt ist jedoch weniger gewichtig als in den vom EuGH anerkannten Fallgruppen. Nationale Besonderheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen ambulanten 360 EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 37. 361 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I4509, Rn. 75. 362 Dies herausarbeitend schon Becker/Walser, NZS 2005, 449 (450). 363 Fuchs, NZS 2004, 225 (228); Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (797 ff.); differenziert zu diesem Problem Becker/Walser, NZS 2005, 449 (452 f.). 364 Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 209; Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (799). 365 Hierauf hinweisend Fuchs, NZS 2004, 225 (228); Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 209.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
und stationären Versorgungsformen reichen nicht aus, um die aus Perspektive der Grundfreiheiten sachlich gebotene Differenzierung in Frage zu stellen. 3. Verhältnismäßigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses Ist ein Vorabgenehmigungserfordernis bei stationären Behandlungen und bei Behandlungen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, zulässig, stellt sich die weitere Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Vorabgenehmigung verweigert werden darf. Dogmatisch stellt diese Frage einen Aspekt des Verhältnismäßigkeitsprinzips dar. Hiernach darf die – von einem Rechtfertigungsgrund getragene – Beeinträchtigung durch das mitgliedstaatliche Recht nicht über dasjenige hinausgehen, was zu diesem Zweck objektiv notwendig ist; ferner darf das gleiche Ergebnis nicht durch weniger einschneidende Regelungen erreichbar sein.366 a) Zulässige Gründe für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung Das Vorabgenehmigungssystem muss nach der Rechtsprechung des EuGH auf objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien beruhen, die im Voraus bekannt sind, damit dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt sind, die eine missbräuchliche Ausübung verhindern.367 Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Voraussetzungen für die Erteilung einer Vorabgenehmigung, nämlich zum einen, ob die Gesundheitsleistung nach dem nationalen Leistungskatalog erstattungsfähig ist, und zum anderen, ob ein Behandlungsangebot im Inland besteht. aa) Gesundheitsleistung gehört nicht zum nationalen Leistungskatalog Sehen nationale Bestimmungen die Kostenübernahme für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistung nur für solche Leistungen vor, die zum nationalen Leistungskatalog gehören, stellt dies schon keine Beeinträchtigung des Freiverkehrs dar.368 Eine beeinträchtigende Wirkung kann sich jedoch ergeben und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit kann sich stellen, wenn das betroffene System nicht über einen festgelegten Leistungskatalog verfügt, sondern die Erteilung einer Vorabgenehmigung im nationalen Recht einer Generalklausel unterworfen ist, die in ihrer Auslegung beschränkende Wirkung entfal366 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 75, 82; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 68; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 106, 114. 367 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 90; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 116; EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 43. 368 Hierzu oben unter D. II. 1., S. 68 f.
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tet.369 Um eine derartige Vorschrift ging es in der Rechtssache Smits/Peerbooms, in der eine nationale Vorschrift in Frage stand, die zur Voraussetzung einer Vorabgenehmigung machte, dass die Behandlung in ärztlichen Kreisen üblich ist.370 Der EuGH entschied, dass ein solches (diskriminierungsfreies) Kriterium nur dann objektiv im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei, wenn sich die Auslegung des Begriffs der Üblichkeit einer Behandlung nicht aus nationaler Perspektive, sondern nach dem Stand der internationalen Medizin bestimmt.371 Die Rechtsprechung des EuGH darf nicht so verstanden werden, dass sie zu einer Erweiterung des nationalen Leistungskatalogs um all jene Leistungen zwänge, die internationalem Standard entsprechen.372 Vielmehr kann sich ein Mitgliedstaat auch bewusst dafür entscheiden, eine derartige Leistung vom nationalen Leistungskatalog auszunehmen, solange dieser Ausschluss auf objektiven, nichtdiskriminierenden und transparenten Kriterien beruht. Dies stellt keinen Verstoß gegen die Grundfreiheiten dar und entspricht der mitgliedstaatlichen Ausgestaltungskompetenz gemäß Art. 168 Abs. 7 AEUV. Nur dann, wenn der Umfang des Leistungskatalogs durch Auslegung zu konkretisieren ist, hat sich die Auslegung am Stand der internationalen Medizin zu orientieren. bb) Vorhandenes Behandlungsangebot im nationalen Gesundheitssystem (1) Rechtsprechung des EuGH In der Rechtssache Smits/Peerbooms war nach mitgliedstaatlichem Recht weitere Voraussetzung für die Erteilung einer Vorabgenehmigung, dass die Behandlung im Ausland „medizinisch notwendig“ sein muss, dass also eine angemessene Behandlung nicht rechtzeitig im nationalen Gesundheitssystem erfolgen kann.373 Der EuGH stellte fest, dass eine solche – den Freiverkehr beeinträchtigende –374 Bestimmung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sei, wenn sie so ausgelegt werde, dass die Vorabgenehmigung nur dann ihretwegen versagt werden kann, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behand369 Vgl. zur beschränkenden, nicht aber diskriminierenden Wirkung EuGH, 12.7. 2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 63, 84, 92. 370 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 23, 60, 91. 371 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 92 ff. 372 Vgl. zutreffend Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 518; anders aber T. Becker, Die Inanspruchnahme, 2008, S. 50 ff. 373 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 24; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 16, 19. 374 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 64; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 42.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
lung rechtzeitig in einer Einrichtung des nationalen Gesundheitssystems erlangt werden kann.375 Das nationale Versorgungsangebot darf jedoch nur auf solche Leistungserbringer bezogen werden, die in das Vertragssystem integriert sind. Den Vorrang auf sämtliche inländische Leistungserbringer zu erstrecken, also auch auf solche, die außerhalb des Vertragssystems stehen, würde sich als nicht mehr verhältnismäßig erweisen.376 Bei der Prüfung seien sämtliche Umstände jedes konkreten Falls zu beachten und dabei nicht nur der Gesundheitszustand des Patienten zum Zeitpunkt der Einreichung des Genehmigungsantrags und gegebenenfalls das Ausmaß seiner Schmerzen oder die Art seiner Behinderung, sondern auch die Vorgeschichte des Patienten zu berücksichtigen.377 Argumentativ fügte der Gerichtshof hinzu, dass ohne ein solches Kriterium sämtliche Planungs- und Rationalisierungsanstrengungen, die dazu dienen, die Überkapazität von Krankenanstalten, Ungleichgewichte im Angebot an medizinischer Krankenhausversorgung und logistische wie auch finanzielle Verschwendung und Verluste zu verhindern, in diesem äußerst wichtigen Sektor in Frage gestellt werden könnten.378 In diesem Zusammenhang nahm der EuGH insbesondere zu Wartelisten Stellung: Solche Wartelisten, die darauf abzielen, die Erbringung der Behandlungen zu planen und Prioritäten nach Maßgabe der verfügbaren Mittel und Kapazitäten festzulegen, seien zwar nicht grundsätzlich unzulässig.379 Die Versagung einer Vorabgenehmigung, die nicht durch die Besorgnis einer Verschwendung oder von Verlusten infolge einer Überkapazität von Krankenhäusern motiviert sei, sondern sich ausschließlich auf die Existenz von Wartelisten für die stationäre Versorgung im Inland stütze, ohne dass im Einzelfall eine objektive medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands des Patienten, seiner Vorgeschichte, der voraussichtlichen Entwicklung seiner Krankheit, des Ausmaßes seiner Schmerzen und/ oder der Art seiner Behinderung zum Zeitpunkt der erstmaligen oder erneuten Beantragung der Genehmigung erfolgt, sei nicht rechtfertigungsfähig.380 Unzu375 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 103; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 89; EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 59. 376 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 107; ferner Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (799 f.); Wollenschläger, EuR 2012, 149 (170). 377 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 104; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 90; in Bezug auf das Fehlen von Medikamenten und grundlegendem medizinischen Material: EuGH, 9.10.2014 – C-268/13 – Petru, Rn. 32 f. 378 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 106; EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 91. 379 Vgl. (für das Verordnungsrecht, jedoch übertragbar) EuGH, 16.5.2006 – C-372/ 04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 67, 71. 380 Vgl. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I4509, Rn. 92; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 119.
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lässig sei daher die Versagung einer Genehmigung, wenn der Zeitraum, der sich aus derartigen Wartelisten ergibt, im Einzelfall den zeitlichen Rahmen überschreitet, der unter Berücksichtigung einer objektiven medizinischen Beurteilung sämtlicher Umstände, die den Zustand und den klinischen Bedarf des Betroffenen kennzeichnen, vertretbar ist.381 Hier fehle es schon am Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds, da nicht ersichtlich sei, dass solche Wartezeiten unabhängig von rein wirtschaftlichen Erwägungen (welche als Rechtfertigungsgrund gerade ausscheiden müssen) zur Gewährleistung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit erforderlich seien. Eine zu lange oder unübliche Wartezeit sei im Gegenteil eher geeignet, den Zugang zu einem ausgewogenen Komplex von qualitativ hochwertigen Krankenhausbehandlungen einzuschränken.382 (2) Kritik durch das Schrifttum und Stellungnahme Die Rechtsprechung des EuGH zwingt die Mitgliedstaaten dazu, ein entsprechendes Versorgungsangebot in der nationalen Gesundheitsversorgung sicherzustellen, wenn sie eine Abwanderung der Patienten ins Ausland verhindern möchten. Da dies die Organisation des nationalen Systems berührt und grundfreiheitswidrigen Rationierungsbestrebungen entgegensteht, wurde die Rechtsprechung von Teilen des Schrifttums kritisiert.383 Jedoch ist zu bedenken, dass die Anforderungen des EuGH zugunsten des Freiverkehrs wirken; durch die Einschränkung der Möglichkeiten zur Verweigerung einer Vorabgenehmigung entfallen weitergehende Beeinträchtigungsmöglichkeiten. Dass der EuGH dies an qualitative Versorgungskriterien geknüpft hat, ist unionsrechtlich nicht zu beanstanden: Art. 35 S. 2 GR-Charta, Art. 9 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verpflichten zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus in der Union. Dies darf vom EuGH bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer beeinträchtigten Maßnahme berücksichtigt werden.384 Der EuGH respektiert auf diese Weise Planungs- und Rationierungsanstrengungen der Mitgliedstaaten einerseits, räumt diesen aber andererseits nur dann den Vorrang ein, wenn den primärrechtlichen Anliegen, den Freiverkehr zu ermöglichen und dabei ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, Rech-
381
Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 120. EuGH, 13.5.2003 – C-385/99 – Müller-Fauré und van Riet, Slg. 2003, I-4509, Rn. 92. 383 Insb. Schlegel, SGb 2007, 700 (705 f.); Wunder, MedR 2007, 21 (26); kritisch auch: Becker, in: Müntefering/Becker, 50 Jahre EU, 2008, S. 95 (103 f.); Dettling, EuZW 2006, 519 (521 f.); Kretschmer, SGb 2008, 65 (70 f.); Marhold, in: Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 193 (202). 384 In diesem Sinne Welti, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 85 (94); auch Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2012, S. 87 f. 382
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nung getragen wird. Der EuGH hat auf diese Weise einen sachgerechten Ausgleich zwischen den Belangen hergestellt. b) Anforderungen an das Genehmigungsverfahren Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es nach der Rechtsprechung des EuGH auch, dass ein Genehmigungssystem auf einem leicht zugänglichen Verfahren beruht und geeignet sein muss, den Betroffenen zu garantieren, dass ihr Antrag innerhalb einer angemessenen Frist sowie objektiv und unparteiisch behandelt wird, wobei eine Versagung der Genehmigung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens anfechtbar sein muss.385 Zu diesem Zweck müssen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Ablehnung einer Genehmigung oder Gutachten, auf die diese Ablehnung gegebenenfalls gestützt ist, die spezifischen Vorschriften bezeichnen, auf denen sie beruhen, und in Bezug auf diese ordnungsgemäß begründet sein. Auch müssen die Gerichte, bei denen eine Klage gegen derartige ablehnende Entscheidungen anhängig ist, unabhängige Sachverständige, die alle Garantien für Objektivität und Unparteilichkeit bieten, hinzuziehen können, wenn sie dies für die Ausübung der ihnen obliegenden Kontrolle für erforderlich halten.386 Wurde die Erteilung einer Vorabgenehmigung rechtswidrig abgelehnt, braucht der Versicherte den Abschluss eines gegen diese Entscheidung angestrengten gerichtlichen Verfahrens nicht abzuwarten, bevor er die beantragte Gesundheitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nimmt. Parallel zur Rechtsprechung des EuGH zum koordinierenden Verordnungsrecht387 (jetzt Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004) steht dem Versicherten in diesem Fall gleichwohl ein Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Träger zu, da andernfalls der Grundfreiheit ihre praktische Wirksamkeit genommen würde.388 c) Sonderfall: Vorabgenehmigungserfordernis bei besonderer Dringlichkeit Schließlich darf das nationale Recht die Übernahme der Kosten für eine ohne vorherige Genehmigung in Anspruch genommene Gesundheitsleistung nicht in allen Fällen ausschließen. In Fällen, in denen der Versicherte aus gesundheit-
385 EuGH, 12.7.2001 – C-157/99 – Smits/Peerbooms, Slg. 2001, I-5473, Rn. 90; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 116; EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 43. 386 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 117; parallel zum koordinierenden Verordnungsrecht EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I12403, Rn. 49. 387 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 34. 388 Vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 54 ff.
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lichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit der Krankenhausbehandlung daran gehindert war, die Genehmigung zu beantragen, sowie in Fällen, in denen der Versicherte die Antwort des zuständigen Trägers nicht abwarten konnte, muss nach der Rechtsprechung des EuGH eine Übernahme der Kosten nach dem nationalen Recht möglich sein, wenn die Voraussetzungen für eine solche Kostenübernahme im Übrigen erfüllt sind.389 Dogmatisch fehlt es in diesen Fällen nach Auffassung des Gerichtshofs schon an dem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrunds, da von der Übernahme der Behandlungskosten unter den genannten besonderen Umständen keine erhebliche finanzielle Gefährdung ausgehe; jedenfalls lasse sich ein völliger Ausschluss der Kostenübernahme nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbaren.390
III. Rechtfertigung anderer Beeinträchtigungen Aus den Grundsätzen zur Rechtfertigungsfähigkeit von Vorabgenehmigungserfordernissen ergeben sich die Maßstäbe für die Beurteilung der Zulässigkeit anderer Beeinträchtigungen: Mitgliedstaatliche Regelungssysteme, die die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von (bestimmten) Gesundheitsleistungen überhaupt nicht vorsehen, verstoßen gegen die Dienstleistungsund Warenverkehrsfreiheit. Denn für eine solche Ausgestaltung liegt in Bezug auf ambulante Behandlungen schon kein Rechtfertigungsgrund vor, bezüglich stationärer Behandlungen und solchen Behandlungen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, fehlt es an der Verhältnismäßigkeit, da die Statuierung eines Vorabgenehmigungserfordernisses ein milderes Mittel darstellen würde.391 Beeinträchtigungen in Form von diskriminierenden erhöhten tatbestandlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat sind nicht zulässig, wenn hiermit keine rechtfertigungsfähige Zielsetzung verfolgt wird.392
IV. Ergebnis der Rechtfertigungsprüfung Der EuGH hat in seiner Rechtsprechungslinie überzeugend entwickelt, dass Vorabgenehmigungserfordernisse des mitgliedstaatlichen Rechts in Bezug auf ambulante Behandlungen nicht rechtfertigungsfähig sind. Aufgrund des nationa-
389
Vgl. EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 45, 49 ff. Vgl. EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 46 f. 391 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 114 ff. (118 ff.); EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, Rn. 35; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 44; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 90 ff. 392 Vgl. EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 41 ff. 390
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len Planungsbedarfs können hingegen Vorabgenehmigungserfordernisse in Bezug auf stationäre Behandlungen und Behandlungen, die außerhalb eines Krankenhauses erbracht werden und den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, mit dem Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schränkt mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume insbesondere in Bezug auf die zulässigen Gründe für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung ein: Verfügt ein nationales System nicht über einen festgelegten Leistungskatalog, sondern hängt die Erteilung einer Vorabgenehmigung davon ab, ob die Behandlung in ärztlichen Kreisen üblich ist, gelten für die Auslegung solcher Generalklauseln unionsrechtliche Maßstäbe. Eine Folge des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist auch, dass eine Vorabgenehmigung nur dann versagt werden darf, wenn die gleiche oder eine für den Patienten ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung des nationalen Gesundheitssystems erlangt werden kann. Der EuGH bringt hierbei überzeugend mitgliedstaatliche Planungs- und Rationierungsnotwendigkeiten mit den primärrechtlichen Anliegen, den Freiverkehr zu ermöglichen und dabei ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, in einen Ausgleich. Der Gerichtshof entwickelt aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Anforderungen an das Genehmigungsverfahren. In Fällen, in denen ein Versicherter eine Gesundheitsleistung in Anspruch genommen hat, ohne dass zuvor eine Genehmigung erteilt worden war, sind insbesondere zwei Fallgruppen zu beachten: Wurde die Erteilung der Vorabgenehmigung rechtswidrig abgelehnt, steht dem Versicherten gleichwohl ein Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Träger zu. Auch dann, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit der Krankenhausbehandlung daran gehindert war, die Genehmigung zu beantragen, sowie in Fällen, in denen der Versicherte die Antwort des zuständigen Trägers nicht abwarten konnte, muss nach überzeugender Auffassung des EuGH eine Übernahme der Kosten nach nationalem Recht möglich sein. Angesichts der entwickelten Rechtsgrundsätze lässt sich ein völliger Ausschluss der Kostentragung für grenzüberschreitend in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen nicht rechtfertigen. Den Mitgliedstaaten verbleibt somit als rechtfertigungsfähige Einschränkung der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die Statuierung eines Vorabgenehmigungserfordernisses für stationäre Behandlungen und für solche Behandlungen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern; die Ausgestaltung solcher Vorabgenehmigungserfordernisse unterliegt dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit.
F. Rechtsfolge des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten
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F. Rechtsfolge des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten Wird die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit festgestellt, welche sich nicht rechtfertigen lässt, liegt ein Verstoß gegen die Grundfreiheit vor. Es stellt sich dann die Frage nach der Rechtsfolge eines solchen Verstoßes.
I. Grundfreiheitsdimension Die Grundfreiheitsdimension (oder Funktion der Grundfreiheiten) fragt danach, von welcher Art die Wirkungen und Rechtsfolgen der Grundfreiheiten sind.393 Die Grundfreiheiten wirken in ihrer klassischen Funktion als Gleichheitsrechte, darüber hinaus wurde auch ihre Funktion als Freiheitsrechte anerkannt. Von besonderer Brisanz ist die Funktion der Grundfreiheiten als Leistungsrechte. Leistungsrechte können in Form abgeleiteter Teilhaberechte oder originärer Leistungsrechte sowie in weiteren Formen auftreten.394 Die Rechtsprechung des EuGH zu den Fällen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, insbesondere das Urteil in der Rechtssache Watts, ist im Hinblick auf die grundfreiheitliche Funktion als originäres Leistungsrecht von bemerkenswerter Bedeutung. Die Diskussion in der Wissenschaft zielte überwiegend auf die Frage ab, welchen Einfluss das Unionsrecht auf die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit haben darf. Dass die Grundfreiheiten in ihrer Funktion als originäre Leistungsrechte den Mitgliedstaaten Vorgaben machten, ist dagegen im Hintergrund der Debatte geblieben.395 1. Abgeleitetes Teilhaberecht oder originäres Leistungsrecht? Die Rechtsprechung des EuGH ist deswegen bemerkenswert, weil nach allgemeiner Meinung lediglich abgeleitete Teilhaberechte ein Leistungsrecht aus den Grundfreiheiten begründen können; ein originäres Leistungsrecht wird hingegen grundsätzlich abgelehnt.396 Auf den ersten Blick könnte man in der Rechtsprechung des EuGH die Entwicklung eines nur abgeleiteten Teilhaberechts erblicken. Ein solches Recht wurzelt im Gleichheitssatz, also im grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot, und räumt „dem gleichheitswidrig Ausgeschlossenen das Recht auf Teilhabe an einer gewährten hoheitlichen Begünstigung ein“.397 In den Fällen zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen liegt eine Diskriminierung des Produkts „ausländische Gesundheitsleistung“ 393
Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 5 f. Zur Terminologie: Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 7. 395 Hierauf weist zu Recht Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 137 hin. 396 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 37, 40; ausführlich zum Meinungsstand: Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 13 ff. 397 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 37. 394
112
Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
vor.398 Will man nun dieses von der Teilhabe ausgeschlossene Produkt mit dem inländischen Produkt gleichstellen, muss auch dem ausländischen Produkt die innerstaatliche Begünstigung, die in der Kostentragung für die Gesundheitsleistung durch den nationalen Träger liegt, zu Gute kommen. Es geht somit um die Gleichstellung zwischen ausländischem und inländischem Produkt durch Gleichbehandlung im Hinblick auf die Kostentragung. Dies führte zu Beginn der Rechtsentwicklung noch zu keinen Verwerfungen: Wenn das mitgliedstaatliche Recht einen Kostenerstattungsanspruch für im Ausland in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen vorsah, diesen jedoch von einer Genehmigung abhängig machte, führte die Unanwendbarkeit des Genehmigungserfordernisses zu einem unbedingten Kostenerstattungsanspruch,399 wie er auch für inländische Gesundheitsleistungen galt. Anders war dies jedoch spätestens in der Rechtssache Watts, in der das mitgliedstaatliche Regelungssystem eine Kostenerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen überhaupt nicht vorsah.400 Derweil wurden im Inland die Gesundheitsleistungen den Patienten durch den nationalen Gesundheitsdienst kostenlos zur Verfügung gestellt.401 Eine Gleichstellung ausländischer Gesundheitsleistungen ist unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar, weil das mitgliedstaatliche Gesundheitssystem ausländische Leistungserbringer nicht auf vergleichbare Weise in die Leistungserbringung einbeziehen kann. Der EuGH schuf daher eine Art Äquivalent402 und nahm einen Kostenerstattungsanspruch an, der sich in seinem Inhalt offenbar nach dem richtet, was nach Auffassung des EuGH den Mindestanforderungen an eine grundfreiheitskonforme Ausgestaltung entspricht.403 Dies geht über ein bloß abgeleitetes Teilhaberecht hinaus.404 Das Leistungsrecht ist originär, weil durch die Grundfreiheiten ein eigenständiges und unmittelbar rechtsgestaltendes subjektives Leistungsrecht gewährt wird, ohne dass es hierfür einer Vermittlung durch einen vorhergehenden Gesetzgebungsakt bedürfte.405 Es handelt sich um einen originären grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch,406 wie ihn die Dogmatik der Dienstleistungsfreiheit bis dahin noch nicht kannte407. 398
Hierzu oben unter D. I. 1. a) bb), S. 63 f. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 24. 400 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 16, 23, 36; ferner Schlussanträge GA Geelhoed, 15.12.2005 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 41, 66. 401 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 8. 402 Vgl. Fuchs, NZS 2004, 225 (227); Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 25. 403 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 48, 101. 404 Dettling, EuZW 2006, 519 (522). 405 Wörtlich Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 8. 406 Insbesondere Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 134 ff. (145); Dettling, EuZW 2006, 519 (522); ferner: Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 399
F. Rechtsfolge des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten
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Auf einen solchen originären grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch ist ein mitgliedstaatliches Gesundheitssystem, das auf dem Sachleistungsprinzip beruht oder durch einen nationalen Gesundheitsdienst ausgestaltet ist, nicht vorbereitet: Mit den in die Gesundheitsversorgung eingebundenen Leistungserbringern bestehen vertragliche Vereinbarungen, Kostenerstattungsansprüche sind solchen Systemen grundsätzlich fremd. Ferner fehlen Regelungen darüber, wie hoch der nationale Erstattungstarif ist, nach dem der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch die Höhe der Kostenerstattung bemisst.408 2. Kompetenzkonflikte a) Mitgliedstaatliche Kompetenzen In der Annahme einer grundfreiheitlichen Dimension als originäres Leistungsrecht liegt der Auslöser des kompetenzrechtlichen Spannungsverhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten,409 an dem sich so oft die Kritik an der Rechtsprechung des EuGH entzündet hat410: Wenn die Grundfreiheiten quer zur Kompetenzordnung liegen, gelten sie sowohl im Kompetenzbereich der Union als auch im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Begründen die Grundfreiheiten originäre Leistungsrechte, erfolgt dies ohne Rücksicht darauf, ob es sich um den Kompetenzbereich der Union oder um den der Mitgliedstaaten handelt. Zwar wird mit einer solchen Rechtsprechung des EuGH keine Unionskompetenz begründet, weil es sich lediglich um materielle Vorgaben handelt, denen auch nur dann Anwendungsvorrang zukommt, wenn es sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt handelt.411 Gleichwohl bedeutet eine derartige Rechtsprechung für die erfassten Anwendungsfälle faktisch eine unionsweite richterrechtliche Harmonisierung.412 In der Literatur wurde vertreten, dass der EuGH mit der Ausdehnung der grundfreiheitlichen Dimension auf originäre Leistungsrechte in den Fällen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ultra vires 2006, S. 286 f.; Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629; Fuchs, NZS 2004, 225 (227); Krajewski, Grundstrukturen, 2011, S. 513 f.; Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 84; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 25; B. Tiemann, Die Einwirkungen, 2011, S. 135. 407 Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 145. 408 Zu den genannten Aspekten kritisch: Kingreen, ZESAR 2009, 109 (115 ff.); Krajewski, EuR 2010, 165 (173 f.); Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (805 f.). 409 Dies erkennend Dettling, EuZW 2006, 519 (523). 410 Kritisch u. a. Newdick, in: van de Gronden et al., Health Care and EU Law, 2011, S. 211 (218 f., 234 ff.); Schlegel, SGb 2007, 700 (706, 712); Schreiber, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen, 2012, S. 181 (186). 411 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 99 f. 412 Dettling, EuZW 2006, 519 (523); vgl. auch Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 100.
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
gehandelt habe.413 Unionsrechtlich entscheidend ist die Frage, ob sich den Grundfreiheiten zulässigerweise originäre Leistungsrechte entnehmen lassen414 oder ob hierdurch das horizontale und vertikale Kompetenzgefüge zwischen EuGH und Unionsgesetzgeber sowie Mitgliedstaaten erschüttert wird;415 hierbei dürfte auch der Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV von Bedeutung sein. b) Grenze zwischen negativer und positiver Integration Die Ableitung eines originären Leistungsrechts aus den Grundfreiheiten lässt die Grenze zwischen negativer und positiver Integration verschwimmen: Auf primärrechtlicher Ebene wird ein Leistungsanspruch geschaffen und inhaltlich ausgestaltet. Damit ersetzt der Gerichtshof den Akt der politischen Willensbildung,416 wobei er bei dieser „Rechtsetzung“ anders als der Unionsgesetzgeber nicht den Anforderungen an ein Gesetzgebungsverfahren unterliegt. Es wird ein primärrechtlicher Anspruch geschaffen, der einer Gestaltung auf sekundärrechtlicher Ebene normenhierarchisch vorgeht. Streng genommen könnte der zur Rechtsetzung legitimierte Unionsgesetzgeber auf diesen primärrechtlichen Anspruch nicht mehr zugreifen. Ein Weg heraus würde nur über die Annahme abschließenden Sekundärrechts, welches die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ausschlösse, führen, was jedoch – wenn das Sekundärrecht vom Primärrecht abweichen sollte – streng normenhierarchisch nicht möglich ist.417 3. Zwischenergebnis Die Annahme eines originären grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs als Rechtsfolge des Verstoßes gegen Grundfreiheiten erweist sich als problematisch; es treten tiefgreifende Kompetenzkonflikte zwischen Union und Mitgliedstaaten sowie zwischen europäischer Rechtsprechung und Gesetzgebung auf. Die Funktion der Grundfreiheiten als originäre Leistungsrechte ist zu hinterfragen; sie bedarf – ausgehend vom Bisherigen – weiterer wissenschaftlicher Diskussion.
413
Dettling, EuZW 2006, 519 (524). Hierzu Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 149 ff., die zum Ergebnis kommt, dass originäre Leistungsrechte dort anzuerkennen sind, wo dies zur Grundfreiheitsausübung unerlässlich ist (S. 196, zur prüfungstechnischen Umsetzung S. 262 ff.). 415 Ein originäres Leistungsrecht deswegen ablehnend: Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 40; zu der Frage auch Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 177 ff. 416 Vgl. Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 100. 417 Siehe hierzu bereits oben unter B. IV. 1., S. 40 f. 414
G. Fazit zur Rechtsprechung des EuGH
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II. Anspruchskonkurrenz – Ergänzender Erstattungsanspruch Hat der Verstoß gegen Grundfreiheiten ein originäres Leistungsrecht zur Folge, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis dieser grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch zu sonstigem Unionsrecht steht. Im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen enthält das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009) Ansprüche zu Leistungen bei Krankheit. Bereits beantwortet und verneint wurde die Frage, ob das Verordnungsrecht abschließendes, dem Primärrecht vorrangiges Sekundärrecht darstellt.418 Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, wie die verordnungsrechtlichen Ansprüche zum grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch stehen; es stellt sich das Problem der Anspruchskonkurrenz. Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch und die Ansprüche aus dem Verordnungsrecht bestehen nach Auffassung des EuGH nebeneinander.419 Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch berechtigt daher auch zur ergänzenden Kostenerstattung in Höhe der Differenz zwischen dem (niedrigeren) Betrag, der nach dem koordinierenden Verordnungsrecht getragen wird, und dem Betrag, der dem nach dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch erstattungsfähigen nationalen Erstattungstarif entspricht.420 Begrenzt ist die ergänzende Kostenerstattung jedoch – nach anfänglich missverständlicher Äußerung des EuGH –421 auf die tatsächlich angefallenen Kosten422.
G. Fazit zur Rechtsprechung des EuGH Die Rechtsprechung des EuGH zur Problematik der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen überzeugt weitgehend zumindest im Ergebnis; in der Begründung lassen sich teilweise Defizite feststellen. Zu Recht bejaht der Gerichtshof die Anwendbarkeit der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit in diesem Regelungsbereich und bezieht grenzüberschreitende Gesundheitsleistungen in den Schutzbereich der Grundfreiheiten ein, wobei insbesondere der Freiheitsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit – welche mit teleologischen Argumenten aus Art. 56 UAbs. 1 AEUV entwickelt werden kann – 418
Oben unter B. IV. 3., S. 42 ff. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 48; ferner: Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 35; Riem, Die europäischen Grundfreiheiten, 2010, S. 300 f. 420 EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 35 ff.; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 128 ff.; EuGH, 5.10.2010 – C512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 52. 421 EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 53. 422 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 131 f.; EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 52. 419
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Kap. 1: Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch
angesprochen ist. Die rechtlichen Ausgestaltungen der betroffenen mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme in den entschiedenen Rechtssachen führen zu unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierungen. Zur Rechtfertigung solcher Beeinträchtigungen kann auf geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zurückgegriffen werden; die wichtigste Rolle spielt in diesem Zusammenhang der ungeschriebene Rechtfertigungsgrund der „erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit“. Darüber hinaus können auf Rechtfertigungsebene auch andere Bestimmungen des Primärrechts als kollidierendes Vertragsrecht Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten legitimieren. Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV ist als eigenständiger Rechtfertigungsgrund anerkannt. Nach hier vertretener Auffassung lässt sich auch Art. 168 Abs. 7 AEUV, der auf den Schutz mitgliedstaatlicher Souveränität im Bereich der Gesundheitsversorgung zielt, als kollidierendes Vertragsrecht in der Funktion eines eigenständigen kompetenzwahrenden Rechtfertigungsgrunds berücksichtigen. Zu Recht nimmt der EuGH an, dass sich Vorabgenehmigungserfordernisse in Bezug auf ambulante Behandlungen nicht mit geschriebenen Rechtfertigungsgründen oder mit dem ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund der erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit rechtfertigen lassen. Auch aus den primärrechtlichen Bestimmungen der Art. 168 Abs. 7 AEUV und Art. 106 Abs. 2 S. 1 AEUV folgt keine Rechtfertigung. Für stationäre Behandlungen und für solche Behandlungen, die den Einsatz medizinischer Großgeräte erfordern, erweisen sich hingegen mitgliedstaatliche Vorabgenehmigungserfordernisse als zulässig. Die Ausgestaltung eines Vorabgenehmigungserfordernisses durch das mitgliedstaatliche Recht unterliegt jedoch dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Von besonderer Brisanz ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH, dass der Gerichtshof aus dem Verstoß gegen die Grundfreiheiten einen grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch abgeleitet hat. Durch die Annahme eines solchen originären Leistungsrechts werden grundlegende kompetenzrechtliche Fragestellungen aufgeworfen. Die Funktion der Grundfreiheiten als originäre Leistungsrechte bedarf weiterer wissenschaftlicher Diskussion. Der EuGH bemühte sich in seiner Rechtsprechung darum, „ein Gleichgewicht zwischen dem Ziel der Freizügigkeit der Patienten einerseits und den nationalen Zwängen der Planung der verfügbaren Krankenhauskapazitäten, der Beherrschung der Gesundheitskosten und des finanziellen Gleichgewichts der Systeme der sozialen Sicherheit andererseits“ herzustellen.423 Diese Balance ist dem EuGH gelungen.
423
EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 145.
Kapitel 2
Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung Am 9. März 2011 erließen das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung1. Die Richtlinie kodifiziert in erster Linie die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit in Bezug auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Die Richtlinie war gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 bis spätestens zum 25. Oktober 2013 in mitgliedstaatliches Recht umzusetzen.
A. Der Weg zum Erlass der Richtlinie Der Entstehungsprozess der Richtlinie 2011/24/EU begann bereits im Jahr 2002. Zur grundlegenden Erarbeitung der Richtlinie sollen im Folgenden seine wichtigsten Stationen beleuchtet werden: In seinen Schlussfolgerungen über die Freizügigkeit von Patienten und die Entwicklung der Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union vom 19. Juli 2002 hielt es der Rat der Europäischen Union für sinnvoll, bestimmte gesundheitspolitische Aspekte über die einzelstaatlichen Perspektiven hinaus aus der Gemeinschaftsperspektive zu prüfen und dazu einen Reflexionsprozess auf hoher Ebene einzusetzen.2 Die Ergebnisse dieses „Reflexionsprozess auf hoher Ebene über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“ wurden am 9. Dezember 2003 von der Europäischen Kommission, Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz, veröffentlicht.3 Über die Reaktion auf den Reflexionsprozess informierte die Kommission in einer Mitteilung vom 20. April 20044. Gleichzeitig veröffentlichte die 1
ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45–65. ABl. C 183 vom 1.8.2002, S. 1–2; Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 26.6.2002 [10090/02 (Presse 182)]. 3 Kommission, Ergebnis des Reflexionsprozesses [HLPR/2003/16]. 4 Mitteilung der Kommission [KOM(2004) 301 endgültig]. Hierzu Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 27.10.2004 [ABl. C 120 vom 20.5.2005, S. 54–59] und des Ausschusses der Regionen vom 30.9.2004 [ABl. C 43 vom 18.2.2005, S. 22–25]. 2
118
Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Kommission im Rahmen einer Gesamtstrategie5 ergänzend eine Mitteilung über die „Modernisierung des Sozialschutzes für die Entwicklung einer hochwertigen, zugänglichen und zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege: Unterstützung der einzelstaatlichen Strategien durch die ,offene Koordinierungsmethode‘“ 6. Zwischenzeitlich hatte die Kommission mit Schreiben vom 12. Juli 2002 ein Auskunftsersuchen an alle Mitgliedstaaten über die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften und Praktiken mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung der Binnenmarktvorschriften auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung gerichtet.7 In Auswertung dieses Auskunftsersuchens veröffentlichte die Kommission am 28. Juli 2003 einen zusammenfassenden Bericht über die „Anwendung der Binnenmarktvorschriften im Bereich der Gesundheitsdienste – Durchführung der Rechtsprechung des Gerichtshofs durch die Mitgliedstaaten“, in dem sie zum Ergebnis kam, dass der Binnenmarkt in diesem Bereich nicht zufriedenstellend funktioniere und die europäischen Bürger auf ungerechtfertigte oder unverhältnismäßige Hindernisse bei der Kostenerstattung oder der Beantragung einer Genehmigung stießen.8 Schon am 25. Februar 2004 wurde mit dem Vorschlag für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt ein Kodifizierungsversuch bezüglich der Kostenerstattung von Gesundheitsdienstleistungen unternommen.9 Der Vorschlag stieß jedoch auf Ablehnung, weil nach Auffassung der Beteiligten den Besonderheiten der Gesundheitsdienstleistungen, insbesondere ihrer fachlichen Komplexi5 Zur Strategie: Mitteilung der Kommission [KOM(2004) 301 endgültig], S. 6. Die Patientenmobilität thematisierte die Kommission in ihren Mitteilungen: „Die Zukunft des Gesundheitswesens und der Altenpflege“ vom 5.12.2001 [KOM(2001) 723 endgültig], S. 10; „Vorschlag für einen gemeinsamen Bericht Gesundheitsversorgung und Altenpflege: Unterstützung nationaler Strategien zur Sicherung eines hohen Sozialschutzniveaus“ vom 3.1.2003 [KOM(2002) 774 endgültig], S. 5 (hierzu Entschließung des Europäisches Parlaments vom 11.3.2004 [ABl. C 102 E vom 28.4.2004, S. 862–870]); „Stärkung der sozialen Dimension der Lissabonner Strategie: Straffung der offenen Koordinierung im Bereich Sozialschutz“ vom 12.6.2003 [KOM(2003) 261 endgültig/2], S. 9, 18; sowie im Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 12.5. 2004 [KOM(2004) 374 endgültig], S. 20 f. 6 Mitteilung der Kommission [KOM(2004) 304 endgültig]. Hierzu Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 28.10.2004 [ABl. C 120 vom 20.5.2005, S. 135–141] und des Ausschusses der Regionen vom 30.9.2004 [ABl. C 43 vom 18.2.2005, S. 22–25]. 7 Angefügt in Commission Staff Working Paper, Report on the Application of Internal Market Rules to Health Services – Implementation by the Member States of the Court’s Jurisprudence [SEC(2003) 900], S. 19 ff. 8 Commission Staff Working Paper, Report on the Application of Internal Market Rules to Health Services – Implementation by the Member States of the Court’s Jurisprudence [SEC(2003) 900], S. 18. 9 Vgl. S. 16, Erwägungsgrund Nr. 14 sowie Art. 23 des Richtlinienvorschlags der Kommission [KOM(2004) 2 endgültig/2].
A. Der Weg zum Erlass der Richtlinie
119
tät, ihrer Bedeutung in der öffentlichen Meinung und der umfassenden öffentlichen Finanzierung, nicht ausreichend Rechnung getragen worden sei.10 Man entschloss sich daher im Jahr 2006, Gesundheitsdienstleistungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen11 und dieses Thema aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit in einem anderen Rechtsakt behandeln zu wollen12. Auch das Europäische Parlament beteiligte sich an der Diskussion zur Unionsgesetzgebung im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Veröffentlicht wurden die Entschließungen „zur Modernisierung des Sozialschutzes und zur Entwicklung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung“ vom 28. April 200513, „zu der Patientenmobilität und den Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“ vom 9. Juni 200514, „zu Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ vom 15. März 200715, sowie „zu den Auswirkungen und Folgen des Ausschlusses von Gesundheitsdienstleistungen aus der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ vom 23. Mai 200716. In dem gemeinsamen Beschluss Nr. 1350/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 „über ein zweites Aktionsprogramm der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit (2008–2013)“ 17 kam abermals der Wille zur Förderung der Patientenmobilität zum Ausdruck.18
10
KOM(2008) 414 endgültig, S. 2. Erwägungsgrund Nr. 10 c, d sowie Art. 2 Nr. 2 lit. c cc des Änderungsvorschlags [KOM(2006) 160 endgültig]; vgl. in der heute gültigen Fassung Art. 2 Abs. 2 lit. f RiL 2006/123/EG. 12 Vgl. die Begründung im Änderungsvorschlag [KOM(2006) 160 endgültig], S. 3 f.; ferner Erwägungsgrund Nr. 23 RiL 2006/123/EG. 13 ABl. C 45 E vom 23.2.2006, S. 134–140. 14 ABl. C 124 E vom 25.5.2006, S. 543–548; zurückgehend auf „Bericht über die Patientenmobilität und die Entwicklungen der gesundheitlichen Versorgung in der Europäischen Union“ vom 29.4.2005 [A6-0129/2005 endg.; PE 353.303]. 15 ABl. C 301 E vom 13.12.2007, S. 202–204; zurückgehend auf Entschließungsantrag [B6-0098/2007; PE 385.115]. 16 Europäisches Parlament [P6_TA(2007)0201]; zurückgehend auf „Bericht über Auswirkungen und Folgen der Ausklammerung von Gesundheitsdiensten aus der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt“ vom 10.5.2007 [A6-0173/2007 endg.; PE 386.390]. 17 ABl. L 301 vom 20.11.2007, S. 3–13. 18 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 21 und Anhang 2.1.2. des Beschlusses Nr. 1350/2007/ EG. Noch keine Erwähnung fand die Thematik im ersten Aktionsprogramm (2003– 2008) vom 23.9.2002 (Beschluss Nr. 1786/2002/EG) [ABl. L 271 vom 9.10.2002, S. 1– 11] (zurückgehend auf: Mitteilung der Kommission „über die gesundheitspolitische Strategie der Europäischen Gemeinschaft“ vom 16.5.2000 [KOM(2000) 285 endgültig]; Vorschlag der Kommission für ein Aktionsprogramm vom 15.6.2000 [ABl. C 337 E vom 28.11.2000, S. 122–129], sowie geänderter Vorschlag vom 1.6.2001 [ABl. C 240 E vom 28.8.2001, S. 168–193]). 11
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Ein wichtiger Grundstein für die Erarbeitung eines Richtlinienvorschlags wurde zuvor am 22. Juni 2006 durch den Rat mit seinen Schlussfolgerungen zum Thema „Gemeinsame Werte und Prinzipien in den EU-Gesundheitssystemen“ 19 gelegt. Am 26. September 2006 leitete die Kommission eine Konsultation ein, in der alle betroffenen Akteure ersucht wurden, zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Themen Gegenstand von Unionsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen sein sollten und welche Instrumente für die verschiedenen Themen geeignet seien.20 Neben den im Rahmen der Konsultation eingegangenen 280 Beiträgen berücksichtigte man bei der Erarbeitung des Richtlinienvorschlags auch verschiedene externe Untersuchungen, Analysen und Studien.21 Das Rechtsetzungsverfahren22 zur Richtlinie 2011/24/EU wurde schließlich mit dem Richtlinienvorschlag der Kommission vom 2. Juli 200823 eingeleitet. Damit einhergehend veröffentlichte die Kommission die Mitteilung „Ein Gemeinschaftsrahmen für die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ 24, das Begleitdokument „Impact Assessment“ 25 sowie das Arbeitspapier „Towards a Renewed Social Agenda for Europe – Citizens’ Well-being in the Information Society“ 26. Durch die Richtlinie sollte ein klarer und transparenter Rahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung innerhalb der EU geschaffen werden.27 Der Richtlinienvorschlag untergliederte sich in drei Hauptbereiche: Behandelt wurden erstens die gemeinsamen Grundsätze der Gesundheitsversorgung in allen EU-Gesundheitssystemen, zweitens ein spezifischer Rahmen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung und drittens die europäische Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung.28 Insbesondere der zweite Bereich, der auf die Kodifizierung der EuGHRechtsprechung abzielte, um auf diesem Weg Rechtssicherheit zu schaffen, kann als Triebfeder der Initiative bezeichnet werden.29 Zwar seien die Urteile des EuGH in den einzelnen Rechtssachen klar, es sei aber dennoch notwendig, „eine 19
ABl. C 146 vom 22.6.2006, S. 1–3. Mitteilung der Kommission [SEC(2006) 1195/4]. 21 Vgl. KOM(2008) 414 endgültig, S. 3; insb. Rosenmöller/McKee/Baeten, Patient Mobility in the European Union – Learning from experience, 2006; Wismar et al., Cross-border Health Care in the European Union – Mapping and analyzing practices and policies, 2011. 22 Verfahren: 2008/0142(COD). 23 KOM(2008) 414 endgültig. 24 KOM(2008) 415 endgültig. 25 SEC(2008) 2163; „Zusammenfassung der Folgenabschätzung“ [SEK(2008) 2164]. 26 SEC(2008) 2183. 27 KOM(2008) 414 endgültig, S. 4, 9, 11. 28 Vgl. KOM(2008) 414 endgültig, S. 4. 29 Vgl. Schlussfolgerungen des Rates, ABl. C 146 vom 22.6.2006, S. 1 (3); Mitteilung der Kommission [SEC (2006) 1195/4], S. 1 ff.; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. März 2007, ABl. C 301 E vom 13.12.2007, S. 202–204, Nr. 4, 10. 20
A. Der Weg zum Erlass der Richtlinie
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allgemeinere und wirksamere Anwendung dieser Binnenmarktrechte in der Praxis zu gewährleisten und sicherzustellen, dass diese Rechte auf eine Art und Weise ausgeübt werden können, die vereinbar ist mit den allgemeinen Zielen der Gesundheitssysteme, nämlich Zugänglichkeit, Qualität und finanzielle Tragfähigkeit“.30 Darüber hinaus seien weitere Regelungen unverzichtbar, um die Ausübung des Rechts auf Erbringung und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu erleichtern.31 Das gut zweieinhalbjährige Rechtsetzungsverfahren vollzog sich nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 294 AEUV.32 Nach Ausübung des Initiativrechts durch die Kommission wurde der Richtlinienvorschlag an das Europäische Parlament und den Rat übermittelt. Es erfolgte die Anhörung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, der am 4. Dezember 2008 seine Stellungnahme abgab.33 Zusätzlich erfolgte gemäß Art. 28 Abs. 2 VO (EG) Nr. 45/2001 die Konsultation des Europäischen Datenschutzbeauftragten mit Stellungnahme vom 2. Dezember 200834 sowie die Stellungnahme des Ausschusses der Regionen vom 12. Februar 200935. Der Rat befasste sich auf seiner Tagung vom 16./17. Dezember 2008 erstmals mit dem Richtlinienvorschlag, wobei offene Fragen benannt und erhebliche Vorbehalte einiger Delegationen gegen den Richtlinienvorschlag geäußert wurden.36 Das Europäische Parlament nahm – auf Grundlage eines Berichts über den Richtlinienvorschlag vom 3. April 200937 und einer externen Studie zur Untersuchung des Richtlinienvorschlags38 – in erster Lesung vom 23. April 2009 den Richt-
30
KOM(2008) 414 endgültig, S. 7. KOM(2008) 414 endgültig, S. 8, 12 ff. 32 Begonnen hatte das Gesetzgebungsverfahren noch als Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EG; zu den Auswirkunken des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon: Mitteilung der Kommission vom 2.12.2009 [KOM(2009) 665 endgültig]; speziell für vorliegendes Verfahren: Anhang 4, S. 39. 33 ABl. C 175 vom 28.7.2009, S. 116–121. Vgl. bereits die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Patientenrechte“, ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 67–71. 34 ABl. C 128 vom 6.6.2009, S. 20–27. 35 ABl. C 120 vom 28.5.2009, S. 65–80. 36 Vgl. Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 16./17.12.2008 [16825/08 (Presse 358)], S. 9; vorbereitend: Fragenkatalog [16534/08] sowie Progress Report vom 11.12.2008 [16514/08], S. 2 f. 37 Bericht des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit [A6-0233/2009; PE 415.355]. Zurückgehend auf Entwurf vom 20.11.2008 [PE 415.355] sowie den Entwürfen der Änderungsanträge vom 21.–23.1.2009: 42–115 [PE 418.293], 116–188 [PE 418.320], 189–300 [PE 418.304], 301–439 [PE 418.256], 440–556 [PE 418.342], 557–706 [PE 418.360]. 38 Forchielli/Fusco, Patient mobility in the European Union – Study on Legislative Proposals on Patients’ Rights in Cross-Border Health Care, 2008 [PE 408.577]. 31
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
linienvorschlag an und legte einen Standpunkt mit 122 Abänderungen39 fest.40 Im Rat gelang weder auf der Tagung vom 8./9. Juni 200941 noch vom 30. November bis 1. Dezember 200942 eine politische Einigung. Grund hierfür waren insbesondere die kontrovers diskutierten Fragen bezüglich der Kostenerstattung im Falle nichtvertraglicher Gesundheitsdienstleister sowie der Definition des Versicherungsmitgliedstaats im Falle von im Ausland lebenden Rentnern.43 Mit einem Kompromissvorschlag unter spanischer Ratspräsidentschaft sollte dann das gesuchte „richtige Gleichgewicht zwischen den Patientenrechten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung und den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Organisation und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung“ hergestellt werden.44 Hiermit gelang auf der Tagung des Rates vom 7./8. Juni 201045 eine politische Einigung, sodass der Rat am 13. September 2010 seinen Standpunkt (EU) Nr. 14/201046 in erster Lesung annehmen konnte.47 Hiergegen erhob die Kommission in einer Mitteilung vom 20. September 2010 zwar aus Kompromissbereitschaft keine Einwände, behielt sich aber vor, in bestimmten Fragen Abänderungen des Europäischen Parlaments im Hinblick auf dessen zweite Lesung zu unterstützen.48 Die Empfehlung vom 4. November 2010 für die zweite Lesung des Europäischen Parlaments stellte in Bezug auf den Standpunkt des Rates fest, dass dem Standpunkt des Europäischen Parlaments in erster Lesung nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei und der Vorschlag des Europäischen Parlaments 39 Vgl. Bericht über die Ergebnisse der ersten Lesung [Rat, 8903/09] vom 30.4.2009, S. 15. 40 ABl. C 184 E vom 8.7.2010, S. 368–394 [Europäisches Parlament, P6_TA (2009)0286]. 41 Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 8./9.6.2009 [9721/2/09 REV 2 (Presse 124)]; vorbereitend: Fragenkatalog vom 29.5.2009 [10345/09] sowie Sachstandsbericht vom 3.6.2009 [10026/09]. 42 Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 30.11.–1.12.2009 [16611/1/09 REV 1 (Presse 348)]. 43 Vgl. Pressemitteilung 8./9.6.2009 [9721/2/09 REV 2 (Presse 124)], S. 14 f.; Pressemitteilung 30.11.–1.12.2009 [16611/1/09 REV 1 (Presse 348)], S. 13 (ergänzend Protokollentwurf [16827/09], S. 11); sowie Kompromissvorschlag des Rates vom 28.5.2010 [9948/10], S. 2. 44 Kompromissvorschlag des Rates vom 28.5.2010 [9948/10], S. 2. 45 Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom7./8.6.2010 [10560/10 (Presse 156)]; hierzu Protokollentwurf [10856/10 ADD 1] (sowie Korrigendum [10856/10 COR 1]). 46 ABl. C 275 E vom 12.10.2010, S. 1–24. 47 Hierzu Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 13.9.2010 [13420/1/10 REV 1(Presse 236)], S. 17. Vorbereitend: Entwurf [11038/10] und Begründungsentwurf [11038/10 ADD 1], jeweils vom 3.9.2010; sowie I/A-Punkt-Vermerk [12979/10], Korrigendum zum I/A-Punkt-Vermerk [12979/10 COR 1] und Addendum zum I/A-PunktVermerk [12979/10 ADD 1], jeweils vom 7.9.2010. 48 KOM(2010) 503 endgültig, S. 9 ff.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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in zweiter Lesung deshalb darauf abziele, diesen Standpunkt so weit wie möglich zu wahren.49 Vor diesem Hintergrund fand am 15. Dezember 2010 ein informeller Trilog50 zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission statt, um im Hinblick auf die zweite Lesung des Europäischen Parlaments zu einer Einigung zu gelangen und somit die Einleitung des Vermittlungsverfahrens zu vermeiden.51 Auf Grundlage dieses Kompromisses legte das Europäische Parlament in seiner Sitzung vom 19. Januar 2011 in zweiter Lesung einen Standpunkt fest.52 Diese Fassung53 wurde, nach zustimmender Stellungnahme der Kommission vom 24. Februar 2011,54 am 28. Februar 2011 vom Rat gebilligt.55 Unter der Bezeichnung „Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ 56 trat der Rechtsakt am 24. April 2011 in Kraft.
B. Der Regelungsgehalt der Richtlinie im Lichte der EuGH-Rechtsprechung Die Richtlinie zielt gemäß Erwägungsgrund Nr. 10 sowie Art. 1 Abs. 1 S. 1 darauf ab, Regeln zu schaffen, die den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union erleichtern, die Patientenmobilität gewährleisten und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung fördern. Patienten sollen allerdings gemäß Erwägungsgrund Nr. 4 S. 2 bei der Umsetzung und Anwendung des Richtlinienrechts nicht dazu ermuntert werden, Behandlungen in einem anderen als ihrem Versicherungsmitgliedstaat in Anspruch zu nehmen.
49 Europäisches Parlament, Empfehlung für die zweite Lesung [A7-0307/2010; PE 433.081], S. 84. Zurückgehend auf Entwurf vom 8.9.2010 [PE 433.081] sowie Entwurf der Änderungsanträge vom 5.10.2010 [PE 450.566]. 50 Vorgehensweise im Einklang mit „Gemeinsame Erklärung zu den praktischen Modalitäten des neuen Mitentscheidungsverfahrens“, ABl. C 145 vom 30.6.2007, S. 5–9. 51 Vgl. Rat vom 26.1.2011, Ergebnisse der zweiten Lesung des Europäischen Parlaments [5316/11]; Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 28.2.2011 [6950/11 (Presse 35)], S. 14. 52 ABl. C 136 E vom 11.5.2012, S. 108–109 [Europäisches Parlament, P7_TA (2011)0007]. 53 Europäisches Parlament/Rat vom 21.2.2011 [PE-CONS 6/11]; abgeändert am 22.2.2011 [PE-CONS 6/2/11 REV 2], am 23.2.2011 [PE-CONS 6/2/11 REV 2 COR 1]; Endfassung vom 9.3.2011 [PE-CONS 6/4/11 REV 4]. 54 KOM(2011) 90 endgültig. 55 Pressemitteilung über die Tagung des Rates vom 28.2.2011 [6950/11 (Presse 35)], S. 14; ausführlich [7056/11 (Presse 40)]. Vorbereitend I/A-Punkt-Vermerk [6590/1/11 REV 1] vom 22.2.2011 und Addendum zum I/A-Punkt-Vermerk [6590/11 ADD 1 REV 2] vom 23.2.2011. 56 ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 45–65.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Die nationalen Zuständigkeiten bei der Organisation und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen sollen gemäß Erwägungsgrund Nr. 10 sowie Art. 1 Abs. 1 S. 1 uneingeschränkt geachtet werden; dies umfasst insbesondere die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Festlegung der gesundheitsbezogenen Sozialversicherungsleistungen und für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung sowie der Sozialversicherungsleistungen.57 Trotz der mit dem Richtlinienrecht bezweckten Ermöglichung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sollen gemäß Erwägungsgrund Nr. 4 S. 1 die Mitgliedstaaten nach wie vor für die Bereitstellung sicherer, hochwertiger und effizienter Gesundheitsdienstleistungen in ausreichendem Umfang für die Bürger in ihrem Hoheitsgebiet verantwortlich sein.
I. Anwendungsbereich der Richtlinie 1. Verhältnis zum koordinierenden Verordnungsrecht Gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 sowie Erwägungsgrund Nr. 30 will die Richtlinie das Verhältnis zum bestehenden Rechtsrahmen für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Hinblick auf die Ausübung der Patientenrechte klären und auf diesem Wege die Kohärenz der beiden Regelungssysteme sicherstellen: Entweder die Richtlinie oder aber die Verordnungen der Union zur Koordinierung der Sozialversicherungssysteme sollen zur Anwendung gelangen. In diesem Sinne regelt zunächst Art. 2 lit. m, dass die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und ihre Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 nicht berührt werden sollen.58 In den Sachregelungen wird dies von Art. 8 Abs. 3 S. 1 aufgegriffen, der bestimmt, dass der Versicherungsmitgliedstaat bei jedem Antrag auf Vorabgenehmigung für eine grenzüberschreitende Gesundheitsleistung zu prüfen hat, ob die Bedingungen der VO (EG) Nr. 883/2004 erfüllt sind. Sind die Bedingungen erfüllt, „wird die Vorabgenehmigung gemäß der genannten Verordnung erteilt, es sei denn, der Patient wünscht etwas anderes“.59 Abgesichert wird dies über die Informationsverpflichtungen der Mitgliedstaaten: Gemäß Art. 5 lit. b S. 2 hat der Versicherungsmitgliedstaat in den Informationen über die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung klar zwischen den Rechten, die Patienten aufgrund der Richtlinie haben, und den Rechten aufgrund der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zu unterscheiden. 57 Vgl. hierzu auch Erwägungsgründe Nr. 5 S. 4 und Nr. 35 S. 3 sowie ferner Art. 12 Abs. 6 und Art. 15 Abs. 7. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 7 soll die Richtlinie die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten über die angemessene Art der Gesundheitsversorgung sowie die ethischen Grundsatzentscheidungen unberührt lassen. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 18 S. 1 f. werden die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen der Mitgliedstaaten geachtet. 58 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 28. Ebenso gemäß Art. 2 lit. j und s die Drittstaatenverordnungen VO (EG) Nr. 859/2003 und VO (EU) Nr. 1231/2010. 59 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 31.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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2. Sachlicher Anwendungsbereich Die Richtlinie 2011/24/EU erfasst die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung. Im Richtlinienvorschlag wurde der Begriff der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung noch bemerkenswert weit gefasst; er erfasste neben der Inanspruchnahme auch die grenzüberschreitende Erbringung von Gesundheitsleistungen, Korrespondenzdienstleistungen und die Niederlassungsfreiheit.60 Dieses weitreichende Verständnis findet sich in der endgültigen Richtlinienfassung nicht mehr wieder. a) Gesundheitsversorgung Gemäß Art. 1 Abs. 2 gilt die Richtlinie für „jegliche Gesundheitsversorgung von Patienten, unabhängig davon, wie diese organisiert, erbracht oder finanziert wird“.61 In Art. 3 lit. a wird der Begriff „Gesundheitsversorgung“ definiert als „Gesundheitsdienstleistungen, die von Angehörigen der Gesundheitsberufe gegenüber Patienten erbracht werden, um deren Gesundheitszustand zu beurteilen, zu erhalten oder wiederherzustellen, einschließlich der Verschreibung, Abgabe und Bereitstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten“.62 „Angehöriger der Gesundheitsberufe“ meint gemäß Art. 3 lit. f „einen Arzt, eine Krankenschwester oder einen Krankenpfleger für allgemeine Pflege, einen Zahnarzt, eine Hebamme oder einen Apotheker im Sinne der Richtlinie 2005/36/EG oder eine andere Fachkraft, die im Gesundheitsbereich Tätigkeiten ausübt, die einem reglementierten Beruf im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2005/36/EG vorbehalten sind, oder eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Behandlungsmitgliedstaats als Angehöriger der Gesundheitsberufe gilt“. Die Richtlinie 2011/24/EU ist – genauso wie der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch –63 somit auch auf die Leistungserbringung durch einen ausländischen privaten Leistungserbringer, der nicht in das dortige Versorgungssystem vertraglich einbezogen ist, anwendbar, solange die genannten Voraussetzungen erfüllt sind.64
60 Erwägungsgrund Nr. 10 und Art. 4 lit. b des Richtlinienvorschlags [KOM(2008) 414 endgültig]; kritisch zu diesem „agenda setting“: Krajewski, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 101 (114 ff.). 61 Vgl. auch Erwägungsgründe Nr. 6 und Nr. 11 S. 2. Unerheblich ist also etwa auch, welchem Versicherungszweig eine Gesundheitsleistung zuzuordnen ist; daher sind grundsätzlich auch die Leistungen der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung erfasst, vgl. Höffer/Wölfle, DGUV-Forum 7 8/2011, 46 (47); Höffer, DGUV-Forum 9/ 2012, 34 (35 f.); in Bezug auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation: Rühs, Zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme, 2012, S. 236 ff. 62 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 16 f. 63 Hierzu EuGH, 19.4.2007 – C-444/05 – Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185, insb. Rn. 22 und 26 ff. 64 So auch COM(2014) 44 final vom 3.2.2014, S. 5.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Nicht umfasst sind gemäß Art. 1 Abs. 3 lit. a–c Dienstleistungen im Bereich der Langzeitpflege65, die Zuteilung von und der Zugang zu Organen zum Zweck der Organtransplantation66 sowie bestimmte öffentliche Impfprogramme.67 Insbesondere bei Dienstleistungen im Bereich der Langzeitpflege gemäß lit. a, „deren Ziel darin besteht, Personen zu unterstützen, die auf Hilfe bei routinemäßigen, alltäglichen Verrichtungen angewiesen sind“, ist fraglich, ob für diese weiterhin direkt der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch greift.68 Zwar sieht der EuGH Leistungen der Pflegeversicherung als Leistungen bei Krankheit im Sinne des Verordnungsrechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und wohl auch als entgeltliche medizinische Leistungen im Sinne der Dienstleistungsfreiheit an.69 Jedoch wurde das Vorliegen einer Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit vor dem Gerichtshof noch nicht hinreichend dargetan.70 Da Pflegebedürftigkeit regelmäßig mit der Begründung eines Wohnsitzes im Pflegestaat einhergeht, die Dienstleistungsfreiheit aber einen vorübergehenden Aufenthalt voraussetzt,71 dürften die Anwendungsfälle jedenfalls im Ergebnis gering bleiben.72 b) Grenzüberschreitend Grenzüberschreitend ist gemäß Art. 3 lit. e jene Gesundheitsversorgung, „die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat erbracht oder verschrieben wird“.73 Gemäß Erwägungsgrund Nr. 11 S. 1 soll die Richtlinie „für diejenigen Patienten gelten, die sich dafür entscheiden, die Gesundheitsversorgung in einem anderen als ihrem Versicherungsmitgliedstaat in Anspruch zu nehmen“. In Bezug auf rein innerstaatliche Sachverhalte regelt Art. 1 Abs. 4 S. 1, dass die „Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Organisa65
Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 14. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 15 sowie Art. 2 lit. r. 67 Zu den Gründen der Ausnahmen Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (405). 68 So Bieback, ZESAR 2013, 143 (148 f.); ders., in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 1 RiL 2011/24/EU Rn. 9; Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (405). 69 EuGH, 12.7.2012 – C-562/10 – Kommission/Deutschland, ZESAR 2012, 491, Rn. 45 ff.; so auch Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 1 RiL 2011/24/ EU Rn. 9. 70 EuGH, 12.7.2012 – C-562/10 – Kommission/Deutschland, ZESAR 2012, 491, Rn. 50 ff., 62. 71 EuGH, 16.7.2009 – C-208/07 – von Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095, Rn. 75. 72 Bieback, ZESAR 2013, 143 (148 f.); ders., in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 1 RiL 2011/24/EU Rn. 9, 11. 73 Erwägungsgrund Nr. 26 S. 3 stellt klar, dass die Rechte auch für die Empfänger von Gesundheitsdienstleistungen gelten, die eine in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Gesundheitsversorgung auf anderem Wege, etwa durch elektronische Gesundheitsdienstleistungen (e-Health), in Anspruch nehmen möchten. 66
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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tion und Finanzierung von Gesundheitsversorgung in Fällen, die nicht die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung betreffen“, von der Richtlinie nicht berührt werden. Insbesondere soll gemäß Art. 1 Abs. 4 S. 2 ein Mitgliedstaat nicht dazu verpflichtet sein, Kosten für Gesundheitsdienstleistungen, die von in seinem eigenen Hoheitsgebiet ansässigen Gesundheitsdienstleistern erbracht werden, zu erstatten, wenn diese nicht Teil des Sozialversicherungssystems oder des öffentlichen Gesundheitssystems des betreffenden Mitgliedstaats sind. Mangels ausdrücklicher Regelungen im Richtlinienrecht ergeben sich die Begrenzungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/24/EU aus ihrer Verwurzelung in den Produktverkehrsfreiheiten – insbesondere der Dienstleistungsfreiheit – und deren Begrenzungen.74 Es geht vor allem um die gemeinhin als passive Dienstleistungsfreiheit charakterisierte Konstellation,75 in der sich der Dienstleistungsempfänger zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Voraussetzung ist nach diesen Maßgaben zum einen, dass es sich um einen vorübergehenden und nicht um einen dauerhaften Aufenthalt des Patienten in dem anderen Mitgliedstaat handelt.76 Zum anderen ist fraglich, ob sich der Patient final zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in den anderen Mitgliedstaat begeben muss, ob also die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistung geplant gewesen sein muss. Stimmen in der Literatur sprechen sich – insbesondere mit Verweis auf Erwägungsgrund Nr. 11 S. 1 – dafür aus, dass nur geplante Behandlungen erfasst seien;77 ungeplante Behandlungen, die etwa im Rahmen einer Urlaubsreise medizinisch notwendig würden, fielen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie.78 Der Auffassung ist für Fälle, in denen sich ein Patient aus anderen Gründen als zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt und dort eine Behandlung medizinisch notwendig wird, zuzustimmen.79 Sie kann sich auf die Rechtsprechung des EuGH stützen, wonach in einem sol74
Bieback, ZESAR 2013, 143 (146). Diesbezüglich hinterfragend bereits oben unter Kap. 1 C. I. 1. e) aa), S. 50 ff. 76 EuGH, 16.7.2009 – C-208/07 – von Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095, Rn. 75; hierzu Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 31, 33. 77 Bieback, ZESAR 2013, 143 (146); ders., in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 1, Art. 1 RiL 2011/24/EU Rn. 3; Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (404); Höffer/Wölfle, DGUV-Forum 7 8/2011, 46 (49); Janda, ZESAR 2010, 465 (470). 78 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 1; Janda, ZESAR 2010, 465 (470); auch Höffer/Wölfle, DGUV-Forum 7 8/2011, 46 (49). 79 Interessanterweise formulierte noch Erwägungsgrund Nr. 20 des Richtlinienentwurfs [KOM(2008) 414 endgültig], dass die Richtlinie diese Fälle „außen vor“ lasse, wohingegen gemäß Erwägungsgrund Nr. 28 der endgültigen Richtlinie das Verordnungsrecht in diesen Fällen nicht berührt werden soll. 75
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
chen Fall – obwohl der grundfreiheitliche Schutzbereich betroffen ist – keine Beeinträchtigung der Grundfreiheit vorliegt, weil wegen „der Dringlichkeit, der Schwere der Beeinträchtigung oder des Unfalls oder auch [wegen] der aus medizinischer Sicht bestehenden Unmöglichkeit einer Rückreise in den Versicherungsmitgliedstaat“ solche „unerwarteten Behandlungen“ dem Versicherten in der Regel objektiv keine andere Wahl lassen, als die erforderlichen Behandlungen im Aufenthaltsmitgliedstaat durchführen zu lassen.80 Für ungeplante medizinisch notwendige Gesundheitsleistungen ist der Anwendungsbereich der Richtlinie somit nicht eröffnet. Fraglich ist aber, was für ungeplante medizinisch nicht notwendige Behandlungen gilt. Zwar stehen sich die Fallgruppen der „medizinisch notwendigen Behandlung“ (oder „unerwarteten Behandlung“) und der „geplanten Behandlung“ im Verordnungsrecht exklusiv gegenüber (Art. 19 und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/ 2004); in tatsächlicher Hinsicht bilden sie aber kein Gegensatzpaar.81 Denn es sind auch Fälle denkbar, in denen sich ein Patient aus anderen Gründen als zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt und sich erst vor Ort entschließt, eine Gesundheitsleistung in Anspruch zu nehmen, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt nicht medizinisch notwendig ist. Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ist in solchen Fällen betroffen.82 Für das Vorliegen einer Beeinträchtigung spricht, dass der Patient in solchen Fällen durchaus die Möglichkeit hat, zwischen einer Behandlung im Aufenthaltsmitgliedstaat oder im eigenen Mitgliedstaat zu wählen, und dass ihm die fehlende Möglichkeit einer Kostenerstattung bzw. das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung von der Inanspruchnahme der Gesundheitsleistung im Aufenthaltsmitgliedstaat abhalten kann. Nach hier vertretener Auffassung kommt es deshalb entscheidend auf die Wahlfreiheit des Patienten an. Weil diese in der Konstellation der ungeplanten medizinisch nicht notwendigen Behandlung für den Patienten besteht, wäre der Freiverkehr bei Fehlen eines Kostenerstattungsanspruchs in solchen Fälle beeinträchtigt. Daher ist auch in den Fällen der ungeplanten medizinisch nicht notwendigen Behandlung der Anwendungsbereich der Richtlinie aufgrund ihrer Verwurzelung in der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit eröffnet.
80 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 58 ff. (64); hierzu bereits oben unter Kap. 1 D. II. 5., S. 72 f. 81 Daher stellt der EuGH zwar die Fallgruppen in EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 58 gegenüber; zur ungeplanten Inanspruchnahme medizinisch nicht notwendiger Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat hat der EuGH aber bislang noch nicht Stellung genommen. Zweifelhaft daher Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 37 f. 82 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 50 ff.; bereits EuGH, 31.1.1984 – C-286/82 und C-26/83 – Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Rn. 16.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
129
c) Abgrenzung zur Dienstleistungsrichtlinie Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/24/EU ist von der Dienstleistungsrichtlinie 2006/123/EG abzugrenzen. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 23 S. 1 der Richtlinie 2006/123/EG betrifft die Dienstleistungsrichtlinie „nicht die Kostenerstattung für eine Gesundheitsdienstleistung, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem der Empfänger der Behandlungsleistung seinen Wohnsitz hat, erbracht wurde.“ Gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. f Richtlinie 2006/123/ EG findet die Dienstleistungsrichtlinie keine Anwendung auf „Gesundheitsdienstleistungen, unabhängig davon, ob sie durch Einrichtungen der Gesundheitsversorgung erbracht werden, und unabhängig davon, wie sie auf nationaler Ebene organisiert und finanziert sind, und ob es sich um öffentliche oder private Dienstleistungen handelt“. Wird die Dienstleistung aber nicht im Sinne von Art. 3 lit. a Richtlinie 2011/ 24/EU „von Angehörigen der Gesundheitsberufe gegenüber Patienten erbracht [. . .], um deren Gesundheitszustand zu beurteilen, zu erhalten oder wiederherzustellen“, kann sie der Dienstleistungsrichtlinie unterfallen.83 Hierzu zählen insbesondere Dienstleistungen, die nicht gegenüber Patienten, sondern gegenüber Gesundheitsdienstleistungserbringern oder gegenüber Krankenhäusern erbracht werden;84 Dienstleistungen, die nicht auf die Beurteilung, Erhaltung oder Wiederherstellung des Gesundheitszustandes, sondern auf die Verbesserung des Wohlbefindens bzw. Entspannung abzielen;85 Dienstleistungen, die nicht von Angehörigen der Gesundheitsberufe, sondern ohne spezifische berufliche Qualifikation erbracht werden;86 sowie veterinärmedizinische Dienstleistungen87. 3. Persönlicher Anwendungsbereich Gemäß Art. 1 Abs. 2 gilt die Richtlinie für jegliche Gesundheitsversorgung von Patienten; „Patient“ ist gemäß Art. 3 lit. h „jede natürliche Person, die Gesundheitsdienstleistungen in einem Mitgliedstaat in Anspruch nehmen möchte
83
Zur Abgrenzung nun auch EuGH, 11.7.2013 – C-57/12 – Femarbel, Rn. 33 ff. Krames, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Art. 2 Rn. 54; Prunzel, RDG 2009, 160 (162); genannt werden: Buchhaltungs-, Reinigungs-, Sekretariats- und Verwaltungsdienstleistungen, die Bereitstellung und Aufrechterhaltung von medizinischer Ausrüstung sowie Dienstleistungen von medizinischen Forschungszentren. 85 Krames, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Art. 2 Rn. 55; Prunzel, RDG 2009, 160 (162); Schulte, GesR 2012, 72 (75); genannt werden: Sportoder Fitnessclubs oder Wellness-Behandlungen. 86 Krames, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Art. 2 Rn. 56; Prunzel, RDG 2009, 160 (162). 87 Krames, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Art. 2 Rn. 58; Prunzel, RDG 2009, 160 (162). 84
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
oder in Anspruch nimmt“. Grundsätzlich ist der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie somit denkbar weit gefasst; insbesondere die Regelungen der Art. 4–6 und 10–15 sollen allen Patienten zugutekommen.88 Der im Richtlinienrecht kodifizierte Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 7 Abs. 1 knüpft dann allerdings entscheidend an den Begriff des „Versicherten“ an. Für die Begriffsbestimmung verweist die Richtlinie auf die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004). Personen einschließlich ihrer Familienangehörigen und Hinterbliebenen sind gemäß Art. 3 lit. b i Versicherte im Sinne der Richtlinie, wenn sie unter Art. 2 VO (EG) Nr. 883/ 2004 fallen und Versicherte im Sinne des Art. 1 lit. c jener Verordnung sind. Staatsangehörige eines Drittlandes sind gemäß Art. 3 lit. b ii Versicherte im Sinne der Richtlinie, wenn sie unter die Drittstaatenverordnungen (VO (EG) Nr. 859/2003 oder – für das neue Recht – VO (EU) Nr. 1231/2010) fallen oder wenn sie die gesetzlichen Voraussetzungen des Versicherungsmitgliedstaats für einen Anspruch auf Leistungen erfüllen.89 An dem Begriff des „Versicherten“ orientiert sich der für das Richtlinienrecht wichtige Begriff des „Versicherungsmitgliedstaats“. Art. 3 lit. c knüpft an die Systematik in lit. b an und nimmt wiederum die Regelungen des Verordnungsrechts in Bezug. Gemäß Art. 3 lit. c i ist für Personen einschließlich ihrer Familienangehörigen und Hinterbliebenen im Sinne von lit. b i Versicherungsmitgliedstaat derjenige Mitgliedstaat, der gemäß der VO (EG) Nr. 883/2004 (und VO (EG) Nr. 987/2009) für die Erteilung einer Vorabgenehmigung zuständig ist. Dies richtet sich im Verordnungsrecht nach Art. 20 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 lit. q VO (EG) Nr. 883/2004 sowie Art. 26 Abs. 2, 3 VO (EG) Nr. 987/2009. Handelt es sich hingegen um Staatsangehörige eines Drittlandes im Sinne von lit. b ii, gelten gemäß Art. 3 lit. c ii die Regelungen der VO (EG) Nr. 859/2003 bzw. VO (EU) Nr. 1231/2010. Art. 1 VO (EU) Nr. 1231/2010 verweist auf die soeben dargestellten Bestimmungen der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/ 2009. Für das alte Verordnungsrecht verweist Art. 1 VO (EG) Nr. 859/2003 auf die Bestimmungen der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und (EWG) Nr. 574/ 72. Ist schließlich kein Mitgliedstaat gemäß jener Verordnungen hierfür zuständig, so gilt gemäß Art. 3 lit. c ii S. 2 als Versicherungsmitgliedstaat „derjenige Mitgliedstaat, in dem der Betreffende versichert ist oder in dem er gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats einen Anspruch auf Leistungen bei Krankheit hat“. Dem Begriff des Versicherungsmitgliedstaats steht der Begriff des Behandlungsmitgliedstaats gegenüber; dies ist gemäß Art. 3 lit. d der Mitgliedstaat, „in 88 Vgl. Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 1 RiL 2011/24/EU Rn. 5 f. 89 Näher zu den Bestimmungen Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 3 RiL 2011/24/EU Rn. 4 f.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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dessen Hoheitsgebiet Gesundheitsdienstleistungen für den Patienten tatsächlich erbracht werden“.90
II. Kostenerstattung (Kapitel III der Richtlinie) Die Richtlinie 2011/24/EU kodifiziert in erster Linie die vom EuGH entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze zur Kostenerstattung.91 Hierdurch soll gemäß Erwägungsgrund Nr. 8 S. 2 „eine allgemeinere und auch wirksame Anwendung der Grundsätze erreicht werden, die der Gerichtshof in Einzelfällen entwickelt hat“. Die Kodifikation soll Rechtssicherheit schaffen, indem sie den Patienten, Angehörigen der Gesundheitsberufe, Gesundheitsdienstleistern und Sozialversicherungsträgern Klarheit über ihre Rechte und Ansprüche vermittelt.92 Kapitel III knüpft an den – gegenüber dem Patientenbegriff – engeren Begriff des „Versicherten“ gemäß Art. 3 lit. b an.93 1. Allgemeine Grundsätze für die Kostenerstattung a) Anspruch auf Kostenerstattung Gemäß Art. 7 Abs. 1 hat ein Versicherungsmitgliedstaat sicherzustellen, „dass die Kosten, die einem Versicherten im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung entstanden sind, erstattet werden, sofern die betreffende Gesundheitsdienstleistung zu den Leistungen gehört, auf die der Versicherte im Versicherungsmitgliedstaat Anspruch hat“.94 Dies soll unbeschadet der VO (EG) Nr. 883/2004 und vorbehaltlich der Art. 8 f. der Richtlinie gelten.
90 Die Bestimmung regelt weiter: „Im Fall der Telemedizin gilt die Gesundheitsversorgung als in dem Mitgliedstaat erbracht, in dem der Gesundheitsdienstleister ansässig ist“. 91 Gemäß Erwägungsgrund Nr. 35 soll die Richtlinie weder die Übertragung von Sozialversicherungsansprüchen zwischen den Mitgliedstaaten noch eine anderweitige Koordinierung der Sozialversicherungssysteme vorsehen. Einziges Ziel der Bestimmungen über Vorabgenehmigung und Kostenerstattung für in anderen Mitgliedstaaten erbrachte Gesundheitsdienstleistungen soll die Gewährleistung der Freizügigkeit der Patienten zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen und die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse für diese Grundfreiheit in den Versicherungsmitgliedstaaten der Patienten sein. 92 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 9 und 27. 93 Siehe hierzu Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (405). 94 Deckungsgleich Art. 5 lit. a; vgl. auch Erwägungsgründe Nr. 13, 29 und 33 S. 1. Beachte auch Erwägungsgrund Nr. 34 S. 1 f., wonach der Versicherungsmitgliedstaat in dem Fall, dass eine Behandlungsmethode nicht explizit im Leistungskatalog des Versicherungsmitgliedstaats aufgeführt ist, zu bewerten hat, ob die grenzüberschreitende Behandlung Leistungen entspricht, die in seinen Rechtsvorschriften vorgesehen sind.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
b) Ausschluss der Kostenerstattung In Art. 7 Abs. 2 sind zwei Ausnahmen von diesem Grundsatz geregelt. Die Bestimmungen dienen dazu, dass die besonderen Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 für sog. Residenten nicht durch das Richtlinienrecht ausgehebelt werden.95 Art. 7 Abs. 2 lit. a regelt den Fall, dass ein Mitgliedstaat in Anhang IV der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 aufgeführt ist und gemäß jener Verordnung den Anspruch auf Leistungen bei Krankheit für Rentner und ihre Familienmitglieder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, anerkannt hat und diese Personen sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten.96 In diesem Fall erbringt der Mitgliedstaat die unter die Richtlinie 2011/24/EU fallenden Gesundheitsdienstleistungen gemäß seinen Rechtsvorschriften auf eigene Rechnung, als ob die betreffenden Personen in dem Mitgliedstaat wohnen würden, der in jenem Anhang aufgeführt ist. Diese Ausnahmeregelung hat Rentner im Blick, die ihren Wohnsitz dauerhaft in einen anderen Mitgliedstaat verlegt haben. Nach dem Verordnungsrecht haben Rentner, die zwar in ihrem Heimatmitgliedstaat, nicht aber im Wohnmitgliedstaat anspruchsberechtigt sind, gemäß Art. 24 VO (EG) Nr. 883/2004 im Wohnmitgliedstaat Anspruch auf Sachleistungsaushilfe (auf Kosten des zuständigen Trägers des Heimatmitgliedstaates) für sich selbst und ihre Familienangehörigen. Art. 27 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 regelt, dass Rentner und ihre Familienangehörigen auch während des Aufenthalts im Heimatmitgliedstaat Anspruch auf Sachleistungen haben, die vom hier zuständigen Träger nach eigenem Leistungsrecht und auf eigene Kosten gewährt werden. Die Vorschrift ist insbesondere dann von Relevanz, wenn nach mitgliedstaatlichem Recht der Wohnort Voraussetzung für einen Leistungsanspruch wäre.97 Art. 27 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/ 2004 findet nur auf solche Heimatmitgliedstaaten Anwendung, die sich für „mehr Rechte für Rentner, die in den zuständigen Mitgliedstaat zurückkehren“ entschieden haben, die also in Anhang IV der VO (EG) Nr. 883/2004 aufgeführt sind (was auf Deutschland zutrifft). Diesem Regelungsmuster wird in Art. 7 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2011/24/EU Rechnung getragen. Art. 7 Abs. 2 lit. b erfasst den Fall, dass gemäß dem Richtlinienrecht nicht genehmigungspflichtige Gesundheitsleistungen (also in der Regel ambulante Behandlungen) auf Grundlage des Richtlinienrechts und nicht auf Grundlage des Verordnungsrechts (Art. 17 ff. VO (EG) Nr. 883/2004) erbracht werden. Werden
95
Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 7 RiL 2011/24/EU Rn. 19 ff. Vgl. hierzu auch Art. 27 Abs. 2 i.V. m. Art. 18 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004. 97 Für das deutsche Recht aber: BSG, 16.6.1999 – B 1 KR 5/98 R, BSGE 84, 98; BSG, 5.7.2005 – B 1 KR 4/04 R, SGb 2006, 233; ferner Bokeloh, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 57 ff. (59). 96
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diese Gesundheitsleistungen auf dem Hoheitsgebiet desjenigen Mitgliedstaats erbracht, der nach dem Verordnungsrecht letztlich für die Kostenerstattung zuständig ist, so sind die Kosten von jenem Mitgliedstaat zu tragen. Auch mit dieser Bestimmung wird dem Regelungskonzept des Verordnungsrechts Rechnung getragen. Bedeutung hat die Vorschrift insbesondere für Familienangehörige, die nicht im selben Staat wie der Versicherte wohnen.98 c) Umfang der Kostenerstattung Die Richtlinie regelt – den Rechtsprechungsgrundsätzen entsprechend –99 den Umfang des Kostenerstattungsanspruchs. Gemäß Art. 7 Abs. 3 legt der Versicherungsmitgliedstaat „auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene fest, für welche Gesundheitsversorgung und in welcher Höhe ein Versicherter – unabhängig vom Ort der Leistungserbringung – einen Anspruch auf Kostenübernahme hat“.100 Gemäß Art. 7 Abs. 4 UAbs. 1 hat der Versicherungsmitgliedstaat „die Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bis zu den Höchstbeträgen, die er übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre, [zu erstatten oder direkt zu bezahlen,] wobei die Erstattung die Höhe der tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten nicht überschreiten darf“.101 Der Mitgliedstaat kann sich somit nach dem ausdrücklichen Richtlinientext statt für ein Modell der nachträglichen Kostenerstattung auch für ein Modell der Kostenübernahme entscheiden, welches den Versicherten von seiner Vorleistungspflicht entlasten würde.102 Für die Kostenberechnung haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 7 Abs. 6 „über einen transparenten Mechanismus zur Berechnung der Kosten der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, die dem Versicherten durch den Versicherungsmitgliedstaat zu erstatten sind, [zu verfügen]. Dieser Mechanismus basiert auf vorher bekannten objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien und findet auf der entsprechenden (lokalen, regionalen oder nationalen) Verwaltungsebene Anwendung.“ 103
98 Näher Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 7 RiL 2011/24/EU Rn. 21. 99 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (175 f.). 100 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 33 S. 3. 101 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 29 und 32. Gemäß Art. 7 Abs. 4 UAbs. 2 ist es dem Versicherungsmitgliedstaat jedoch nicht verwehrt, die gesamten Kosten, also auch diejenigen, die über dem eigenen Erstattungssatz liegen, zu erstatten. Gleiches gilt gemäß Art. 7 Abs. 4 UAbs. 3 für weitere Kosten, wie Übernachtungs- und Reisekosten oder zusätzliche Kosten, die für eine Person infolge einer oder mehrerer Behinderungen anfallen können; vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 34 S. 3 f. 102 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (177). 103 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 47 (insb. S. 2).
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d) Allgemeine Voraussetzungen Gemäß Art. 7 Abs. 7 S. 1 der Richtlinie kann – im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH –104 der Versicherungsmitgliedstaat „einem Versicherten, der einen Antrag auf Kostenerstattung im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung stellt, [. . .] dieselben – auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene festgelegten – Voraussetzungen, Anspruchskriterien sowie Regelungs- und Verwaltungsformalitäten105 vorschreiben, die er für die gleiche Gesundheitsversorgung im eigenen Hoheitsgebiet heranziehen würde“. Gemäß S. 3 dürfen die Voraussetzungen, Anspruchskriterien sowie Regelungs- und Verwaltungsformalitäten jedoch grundsätzlich weder diskriminierend sein noch ein Hindernis für den freien Verkehr von Patienten, Dienstleistungen oder Waren darstellen.106 e) Beschränkungen der Kostenerstattung Beschränken kann ein Versicherungsmitgliedstaat die Anwendung der Vorschriften über die Kostenerstattung bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung gemäß Art. 7 Abs. 9 „aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, wie etwa dem Planungsbedarf in Zusammenhang mit dem Ziel, einen ausreichenden, ständigen Zugang zu einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung im betreffenden Mitgliedstaat sicherzustellen, oder in Zusammenhang mit dem Wunsch, die Kosten zu begrenzen und nach Möglichkeit jede Verschwendung finanzieller, technischer oder personeller Ressourcen zu vermeiden“.107 Neben dem Vorliegen eines solchen Rechtfertigungsgrunds unterliegen derartige Beschränkungen gemäß Abs. 11 S. 1 einem besonderen Verhältnismäßigkeitsmaßstab,108 wonach sie „notwendig und angemessen [sein müssen,] und [. . .] keine Form der willkürlichen Diskriminierung und kein ungerechtfertigtes Hindernis für die Freizügigkeit von Personen oder den freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen darstellen“ dürfen. Diese Vorschrift normiert ein allgemeines Beschränkungsrecht. In der Rechtsprechung des EuGH stellte sich bislang nur die Beschränkung aufgrund eines 104
Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (175 f.). Dies umfasst insbesondere gemäß S. 2 eine Einschätzung des Allgemeinmediziners oder Hausarztes vor der Behandlung. 106 Eine Rechtfertigung ist nach dieser Vorschrift gleichwohl „aufgrund des Planungsbedarfs in Zusammenhang mit dem Ziel, einen ausreichenden und ständigen Zugang zu einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung im betreffenden Mitgliedstaat sicherzustellen, oder aufgrund des Wunsches, die Kosten zu begrenzen und nach Möglichkeit jede Verschwendung finanzieller, technischer oder personeller Ressourcen zu vermeiden“ möglich. Vgl. im Übrigen Erwägungsgrund Nr. 37. 107 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 S. 4; zu den Rechtfertigungsgründen Erwägungsgrund Nr. 12. 108 Vgl. Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629 (632), die die Angemessenheitsprüfung als eine „interessengewichtende Abwägung“ verstehen. 105
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Vorabgenehmigungserfordernisses als rechtfertigungsfähig dar. Dass eine derartige Beschränkung zulässig sein kann, ergibt sich bereits aus Art. 7 Abs. 8, womit aber gleichzeitig die Grenzen nach Maßgabe von Art. 8 gezogen werden.109 Mit Art. 7 Abs. 9 bleiben darüber hinaus andere Formen der Beschränkung möglich, soweit sich diese auf einen Rechtfertigungsgrund stützen lassen und dem Verhältnismäßigkeitsmaßstab genügen. Die Vorschrift spiegelt damit die primärrechtliche Möglichkeit rechtfertigungsfähiger Beschränkungen der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit wider.110 Freilich wird dieses allgemeine Beschränkungsrecht der Konkretisierung bedürfen;111 große Relevanz wird ihm voraussichtlich nicht zukommen112. 2. Vorabgenehmigung Hinsichtlich eines vorherigen Genehmigungserfordernisses bestimmt Art. 7 Abs. 8 den Grundsatz: Hiernach macht der Versicherungsmitgliedstaat die Erstattung von Kosten für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung mit Ausnahme der in Art. 8 genannten Fälle nicht von einer Vorabgenehmigung abhängig.113 Art. 8 Abs. 1 eröffnet sodann die Möglichkeit für den Versicherungsmitgliedstaat, ein System der Vorabgenehmigung für die Kostenerstattung für eine grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung vorzusehen.114 Das System der Vorabgenehmigung hat nach dieser Vorschrift auf das im Hinblick auf das zu erreichende Ziel notwendige und angemessene Maß begrenzt zu bleiben und darf kein Mittel willkürlicher Diskriminierung und keine ungerechtfertigte Behinderung der Freizügigkeit der Patienten darstellen. a) Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses Die Richtlinie beschränkt die Fälle, in denen eine Gesundheitsversorgung von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden kann,115 auf drei Fallgruppen: aa) Planungsbedarf in den Fällen stationärer Versorgung oder Spezialbehandlungen Für Art. 8 Abs. 2 lit. a ist grundsätzliche Voraussetzung, dass die Gesundheitsversorgung „vom Planungsbedarf in Zusammenhang mit dem Ziel, einen ausrei109 110 111 112 113 114 115
Vgl. Erwägungsgründe Nr. 38 ff. Vgl. Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (407, Fn. 36). Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (182). Bieback, ZESAR 2013, 143 (152). Vgl. Erwägungsgrund Nr. 38. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 42. Vgl. hierzu Erwägungsgrund Nr. 43.
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chenden, ständigen Zugang zu einem ausgewogenen Angebot hochwertiger Versorgung im betreffenden Mitgliedstaat sicherzustellen, oder in Zusammenhang mit dem Wunsch, die Kosten zu begrenzen und nach Möglichkeit jede Verschwendung finanzieller, technischer oder personeller Ressourcen zu vermeiden, abhängig gemacht“ wird.116 Wie in der Rechtsprechung des EuGH herausgearbeitet, kommt es also maßgeblich auf das Kriterium des Planungsbedarfs an.117 Zulässig ist dies nur für zwei Fallgruppen: Einerseits gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. a i, wenn die Gesundheitsversorgung „eine Übernachtung des Patienten im Krankenhaus für mindestens eine Nacht“ erfordert;118 zweitens gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. a ii, wenn die Gesundheitsversorgung den „Einsatz einer hoch spezialisierten und kostenintensiven medizinischen Infrastruktur oder medizinischen Ausrüstung“ erfordert.119 Für die Bestimmung der stationären und hochspezialisierten Behandlungen kommt es damit auf die mitgliedstaatliche Perspektive an. Ursprüngliche Bestrebungen der Kommission, die Fälle hochspezialisierter Behandlungen anhand einer Liste auf EU-Ebene zu bestimmen,120 konnten sich zu Recht nicht durchsetzen. Aufgrund der Unterschiedlichkeit mitgliedstaatlicher Gesundheitssysteme und dem ständigem Aktualisierungsbedarf wäre eine Liste auf EU-Ebene wenig praktikabel gewesen;121 auch im Hinblick auf die Wertungen des Art. 168 Abs. 7 AEUV gehört dies in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Gesundheitssysteme. Gemäß Art. 8 Abs. 2 a. E. haben die Mitgliedstaaten jedoch die Pflicht, der Kommission die Kategorien der stationären und hochspezialisierten Gesundheitsdienstleistungen mitzuteilen. Obwohl der EuGH in seinen Entscheidungen die Möglichkeit der Rechtfertigung eines Vorabgenehmigungserfordernisses für (normale) ambulante Behandlungen niemals kategorisch ausgeschlossen hat, wurde seine Rechtsprechung stets dahingehend interpretiert, dass bei ambulanten Behandlungen ein Vorabgenehmigungserfordernis unzulässig sei.122 Die Richtlinie hat nun diese Unterscheidung verabsolutiert.123 Dies scheint zwar formal eine Erweiterung der Rechtsprechung zu sein,124 faktisch wird aber die durch den EuGH entwickelte und allseits übernommene grundsätzliche Unterscheidung zwischen ambulanten 116 Vgl. hierzu Erwägungsgrund Nr. 43 S. 1; S. 2 konkretisiert diesen Grundsatz anhand der durch den EuGH entwickelten Erwägungen. 117 Hierzu oben unter Kap. 1 E. II. 2. b), S. 103. 118 Hierzu Erwägungsgrund Nr. 40. 119 Hierzu Erwägungsgrund Nr. 41. 120 Vgl. Art. 8 Nr. 1 b, Nr. 2 des Richtlinienvorschlags [KOM(2008) 414 endgültig]. 121 Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408). 122 Kritisch aber Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 104 ff. (110 f.); Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (797 ff.). 123 Kritisch Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 369 f.; ders., MedR 2009, 79 (81).
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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und stationären Behandlungen lediglich kodifiziert.125 Einfache ambulante Behandlungen können damit nicht von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden. Die Richtlinie liefert nun eine unionsautonome Definition zur Bestimmung stationärer Behandlungen.126 In der Sache überzeugend wird auf die Übernachtung des Patienten für mindestens eine Nacht abgestellt,127 was im Übrigen auch deutschem Begriffsverständnis entspricht128. Damit werden bisherige Rechtsunsicherheiten ausgeräumt. bb) Besonderes Risiko für den Patienten oder die Bevölkerung Ein Vorabgenehmigungserfordernis kann gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. b ferner dann vorgesehen werden, wenn die Gesundheitsversorgung „Behandlungen mit einem besonderen Risiko für den Patienten oder die Bevölkerung“ einschließt.129 cc) Ernsthafte und spezifische Bedenken hinsichtlich der Qualität oder Sicherheit der Versorgung Schließlich kann ein Mitgliedstaat gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. c auch dann das Erfordernis einer Vorabgenehmigung vorsehen, wenn die Gesundheitsversorgung „von einem Erbringer von Gesundheitsdienstleistungen erbracht [wird], der im Einzelfall zu ernsthaften und spezifischen Bedenken hinsichtlich der Qualität oder Sicherheit der Versorgung Anlass geben könnte, mit Ausnahme der Gesundheitsversorgung, die dem Unionsrecht über die Gewährleistung eines Mindestsicherheitsniveaus und einer Mindestqualität in der ganzen Union unterliegt“.130 Diese Bestimmung steht in einem Spannungsverhältnis zur Rechtsprechung des EuGH, wonach ein Vorabgenehmigungserfordernis grundsätzlich nicht durch Erwägungen im Zusammenhang mit der Qualität der im Ausland erbrachten Leistungen gerechtfertigt werden kann, weil dies mit der Berufsqualifikationsrichtlinie 2005/36/EG unionsrechtlicher Harmonisierung unterliegt.131 Die – im Schrifttum kritisierte –132 Rechtsprechung des EuGH führte in der Konsequenz 124 So Krajewski, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 101 (109). 125 In diese Richtung auch Wollenschläger, EuR 2012, 149 (174). 126 Hierzu Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 18. 127 Zustimmend Kingreen, ZESAR 2009, 109 (117). 128 Vgl. BSG, 4.3.2004 – B 3 KR 4/03 R, NZS 2005, 93 (96). 129 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 S. 3. 130 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 S. 3. 131 Vgl. nur EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I10547, Rn. 81. 132 Hierzu oben unter Kap. 1 E. I. 2. d) bb), S. 79 f.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
dazu, dass „die Krankenkassen die Kosten für Gesundheitsleistungen erstatten mussten, deren Qualität sie nicht beurteilen und beeinflussen konnten“ 133. Die Richtlinie erweitert vor diesem Hintergrund die mitgliedstaatlichen Befugnisse. Angesichts der primärrechtlichen Wertungen ist eine Versagung gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. c aber nur zulässig, wenn die Mitgliedstaaten konkrete und ernsthafte Bedenken an der jeweiligen Berufsausübung geltend machen können; unzulässig ist es, allein auf die ausländische Berufszulassung abzustellen.134 Das Problem der Qualitäts- und Sicherheitskontrolle wird durch die Richtlinie aufgrund der Bestimmung in Art. 4 Abs. 1 entschärft, wonach der Behandlungsmitgliedstaat zur Leistungserbringung unter Beachtung des Zugangs zu qualitativ hochwertiger Versorgung verpflichtet ist. b) Zulässige Gründe für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung Darf nach Art. 8 Abs. 2 eine Gesundheitsversorgung von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden, legt Abs. 6 fest, aus welchen Gründen ein Mitgliedstaat die Erteilung einer Vorabgenehmigung verweigern darf. Es handelt sich um eine abschließende Aufzählung von Versagungsgründen;135 darüber hinausgehend sind – aus Gründen der Rechtssicherheit – keine weiteren Versagungsgründe zugelassen.136 aa) Sicherheitsrisiko für den Patienten Gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. a darf eine Vorabgenehmigung verweigert werden, wenn der Patient „gemäß einer klinischen Bewertung mit hinreichender Sicherheit einem nicht als annehmbar angesehenen Patientensicherheitsrisiko ausgesetzt [wird], wobei der potenzielle Nutzen der gewünschten grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung für den Patienten berücksichtigt wird“.137 bb) Sicherheitsrisiko für die Öffentlichkeit Ferner kann ein Mitgliedstaat gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. b eine Vorabgenehmigung verweigern, wenn „die Öffentlichkeit mit hinreichender Sicherheit einem 133
Kingreen, ZESAR 2009, 109 (114). Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408); ferner Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 8 RiL 2011/24/EU Rn. 9. Im Gesetzgebungsverfahren diesbezüglich kritisch: Mitteilung der Kommission vom 20.9.2010 [KOM(2010) 503 endgültig], S. 7. 135 Der Rat hatte hingegen eine nicht abschließende Liste gefordert, vgl. Art. 8 Abs. 5 des Richtlinienvorschlags gemäß Standpunkt des Rats (EU) Nr. 14/2010 [ABl. C 275 E vom 12.10.2010, S. 1–24]. 136 Vgl. Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408). 137 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 43 S. 3. 134
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erheblichen Sicherheitsrisiko infolge der betreffenden grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ausgesetzt“ wird. cc) Gesundheitsdienstleister, der zu ernsthaften und spezifischen Bedenken in Bezug auf die Einhaltung der Qualitätsstandards und -leitlinien Anlass gibt Gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. c ist eine Verweigerung der Vorabgenehmigung möglich, wenn „diese Gesundheitsversorgung von einem Gesundheitsdienstleister erbracht werden [soll], der zu ernsthaften und spezifischen Bedenken in Bezug auf die Einhaltung der Qualitätsstandards und -leitlinien für die Versorgung und die Patientensicherheit Anlass gibt [. . .]“. dd) Verfügbarkeit der betreffenden Gesundheitsversorgung im eigenen Mitgliedstaat Art. 8 Abs. 6 lit. d normiert die bedeutendste Fallgruppe der Verweigerung einer Vorabgenehmigung. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH138 darf die Erteilung einer Vorabgenehmigung verweigert werden, wenn „die betreffende Gesundheitsversorgung unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Krankheitsverlaufs des jeweils betroffenen Patienten auf seinem Hoheitsgebiet innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums geleistet werden“ kann.139 c) Unzulässigkeit der Verweigerung einer Vorabgenehmigung gemäß Art. 8 Abs. 5 Art. 8 Abs. 5 schreibt ausdrücklich fest, wann die Verweigerung der Vorabgenehmigung unzulässig ist. Hiernach darf, unbeschadet des Abs. 6 lit. a–c, „der Versicherungsmitgliedstaat eine Vorabgenehmigung nicht verweigern, wenn der Patient nach Art. 7 Anspruch auf die betreffende Gesundheitsversorgung hat und die betreffende Gesundheitsversorgung nicht auf seinem Hoheitsgebiet innerhalb eines [. . .] medizinisch vertretbaren Zeitraums140 geleistet werden kann“.141 Da Abs. 5 lediglich unbeschadet des Abs. 6 lit. a–c gilt, kann stets in den dort ge138
Hierzu oben unter Kap. 1 E. II. 3. a) bb), S. 105 ff. Zu Wartelisten siehe Erwägungsgrund Nr. 43 S. 4; zur Berücksichtigung spezifischer Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten und einzelner Regionen eines Mitgliedstaats siehe Erwägungsgrund Nr. 44 S. 2–4. 140 Für die Bestimmung des „medizinisch vertretbaren Zeitraums“ sind gemäß der Vorschrift die objektive medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands des Patienten, die Vorgeschichte und die voraussichtlichen Entwicklung der Krankheit des Patienten, das Ausmaß der Schmerzen und/oder die Art der Behinderung des Patienten zum Zeitpunkt der erstmaligen oder erneuten Beantragung der Genehmigung, zu berücksichtigen. 141 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 45 S. 1. 139
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nannten Fällen eine Vorabgenehmigung verweigert werden.142 Fraglich ist somit nur das systematische Verhältnis zu Abs. 6 lit. d. Aus Abs. 6 lit. d geht bereits hervor, dass die Verweigerung einer Vorabgenehmigung unzulässig ist, wenn eine Gesundheitsversorgung nicht innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums im eigenen Hoheitsgebiet möglich ist. Inhaltlich entspricht somit die Regelung des Abs. 5 der Regelung des Abs. 6 lit. d. Die zu berücksichtigenden Umstände werden in Abs. 5 lediglich detailliert beschrieben, ohne dass dies zu inhaltlichen Abweichungen führt.143 d) Verhältnis zur Vorabgenehmigung nach VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 8 Abs. 3 regelt das Verhältnis der Vorabgenehmigung nach den Vorgaben der Richtlinie zu der Vorabgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 883/ 2004. Gemäß Art. 8 Abs. 3 stellt der Versicherungsmitgliedstaat „bei jedem Antrag auf Vorabgenehmigung [. . .] fest, ob die Bedingungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erfüllt sind. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird die Vorabgenehmigung gemäß der genannten Verordnung erteilt, es sei denn, der Patient wünscht etwas anderes.“ 144 Der Patient hat somit ein Wahlrecht,145 ob er die Gesundheitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat nach dem Verordnungsrecht oder der Richtlinie wünscht, insbesondere, ob die Kosten auf Grundlage des für Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 geltenden Prinzips der Sachleistungsaushilfe oder auf Grundlage des Kostenerstattungsanspruchs getragen werden sollen. 3. Anforderungen an das Verwaltungsverfahren Art. 9 der Richtlinie regelt die Anforderungen an das Verwaltungsverfahren bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung. Hiernach hat das Verwaltungsverfahren auf objektiven, nichtdiskriminierenden Kriterien zu basieren (Abs. 1);146 das Verfahren muss leicht zugänglich sein und Anträge müssen objektiv und unparteiisch bearbeitet werden (Abs. 2); für die Bearbeitung der Anträge sind angemessene Fristen festzusetzen und bei Prüfung eines Antrags sind der jeweilige Gesundheitszustand sowie die Dringlichkeit und die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen (Abs. 3);147 die Einzelentscheidungen müssen entsprechend begründet werden und im Einzelfall einer Überprüfung unterliegen 142
Vgl. hierzu Erwägungsgrund Nr. 45. Vgl. Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 8 RiL 2011/24/EU Rn. 11. 144 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 31 und 46 S. 2; S. 3–5 erkennen das Vorrangsverhältnis auch für die Fälle an, in denen die Vorabgenehmigung nach dem Verordnungsrecht zunächst zu Unrecht verweigert worden war. 145 Soytürk, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2012, S. 130 f. 146 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 47 S. 1. 147 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 47 S. 3 und 4. 143
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sowie vor Gericht angefochten werden können, einschließlich der Möglichkeit einstweiliger Maßnahmen (Abs. 4). Das Verwaltungsverfahren hat grundsätzlich den gemäß Art. 7 Abs. 1 vorgesehenen Kostenerstattungsanspruch zu verwirklichen. Gemäß Art. 9 Abs. 5 UAbs. 1 können die Mitgliedstaaten aber auch fakultativ ein „Voucher-System“ als Abrechnungsmodus anbieten.148 Hiernach können die Patienten eine vorherige Kostentragungszusage von ihrem Versicherungsträger einholen, auf deren Grundlage der ausländische Leistungserbringer die Behandlungskosten direkt mit dem Versicherungsträger abrechnet.149 Ferner eröffnet die Richtlinie gemäß Art. 9 Abs. 5 UAbs. 2 S. 1 für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Mechanismen des Finanzausgleichs zwischen den zuständigen Einrichtungen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden.150
III. Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten (Kapitel II der Richtlinie) Über die Kodifikation der Rechtsprechung des EuGH hinausgehend enthält die Richtlinie in Art. 4–6 Regelungen, die flankierend die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sicherstellen sollen. Diese berücksichtigen insbesondere die Grundsätze, wie sie in den Schlussfolgerungen des Rats zum Thema „Gemeinsame Werte und Prinzipien in den EU-Gesundheitssystemen“ vom 22. Juni 2006151 festgelegt wurden.152 Unionsweit soll Klarheit und Vertrauen im Hinblick darauf gewährleistet werden, wer für die Einhaltung der gemeinsamen Grundsätze der Gesundheitsversorgung verantwortlich ist und worin diese Verantwortung im Einzelnen besteht.153 1. Grundsätze der Leistungserbringung Von besonderer Bedeutung war für den Unionsgesetzgeber, die Qualität und Sicherheit der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung sicherzustellen, um Patienten vor Gesundheitsrisiken zu bewahren.154 Gemäß Art. 4 Abs. 1 sind bei der Leistungserbringung im Behandlungsmitgliedstaat die Grundsätze der Uni148 Zu den Hintergründen der Regelung Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408 f.). 149 Vgl. Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408). 150 Hierzu Herbst, GuP 2011, 209 (211). 151 ABl. C 146 vom 22.6.2006, S. 1–3. 152 Vgl. hierzu Erwägungsgrund Nr. 5 der Richtlinie. 153 Vgl. Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 4. 154 Vgl. Schlussfolgerungen des Rates vom 22.6.2006 [ABl. C 146 vom 22.6.2006], S. 1 (2 f.); Europäisches Parlament, Entschließung vom 15.3.2007 [ABl. C 301 E vom 13.12.2007, S. 202–204], Nr. 8.
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versalität, des Zugangs zu qualitativ hochwertiger Versorgung und der Solidarität zu beachten.155 Die Leistungen werden gemäß Abs. 1 lit. a–c im Einklang mit den Rechtsvorschriften des Behandlungsmitgliedstaats, der vom Behandlungsmitgliedstaat festgelegten Standards und Leitlinien für Qualität und Sicherheit sowie mit den Rechtsvorschriften der Union über Sicherheitsstandards erbracht. Die Leistungserbringung unterliegt damit den Rechtsvorschriften des Behandlungsmitgliedstaats,156 was der Sicherungsklausel des Art. 168 Abs. 7 AEUV entspricht.157 2. Nichtdiskriminierung Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 der Richtlinie normiert den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit gegenüber Patienten aus anderen Mitgliedstaaten.158 Ausdrücklich regelt UAbs. 2, dass es dem Behandlungsmitgliedstaat jedoch nicht genommen ist, „Maßnahmen in Bezug auf den Zugang zu Behandlungen zu beschließen, um seiner grundlegenden Verantwortung, einen ausreichenden und ständigen Zugang zur Gesundheitsversorgung in seinem Hoheitsgebiet sicherzustellen, gerecht zu werden“. Solche Maßnahmen müssen sich jedoch auf einen Rechtfertigungsgrund stützen lassen und sind gemäß UAbs. 2 S. 2 „auf das notwendige und angemessene Maß zu begrenzen und dürfen kein Mittel willkürlicher Diskriminierung darstellen; ferner sind sie vorab zu veröffentlichen.“ Wie sich aus Erwägungsgrund Nr. 21 S. 5 ff. ergibt, hatte der Unionsgesetzgeber in diesem Zusammenhang insbesondere Kapazitätsprobleme vor Augen, die sich aufgrund einer erhöhten Nachfragesituation infolge des Zustroms von Patienten aus anderen Mitgliedstaaten ergeben können.159 Gemäß Art. 4 Abs. 4 UAbs. 1 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Gesundheitsdienstleister auf ihrem Hoheitsgebiet für die Behandlung von Patienten aus anderen Mitgliedstaaten die gleiche Gebührenordnung zugrunde legen, wie sie für inländische Patienten in einer vergleichbaren medizinischen Situation gilt, oder – falls keine vergleichbaren Gebührensätze für inländische Patienten existieren –, dass die in Rechnung gestellten Gebühren nach objektiven, nichtdiskriminierenden Kriterien berechnet werden.160 Von diesem Diskriminierungsver155 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 21, dessen S. 2 darüber hinaus noch die Gleichbehandlung nennt; ferner Erwägungsgrund Nr. 22. 156 Hierzu enthält Erwägungsgrund Nr. 36 S. 1 eine spezielle Ausprägung in Bezug auf Arzneimittel, wonach ein „Patient Anspruch darauf hat, jedes Arzneimittel, dessen Inverkehrbringen im Behandlungsmitgliedstaat genehmigt ist, zu erhalten, selbst wenn dieses Arzneimittel im Versicherungsmitgliedstaat nicht in Verkehr gebracht werden darf, sofern dieses Arzneimittel unerlässlicher Teil einer wirksamen Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat ist“. 157 Erwägungsgrund Nr. 19 S. 2; vgl. zu den divergierenden Auffassungen im Gesetzgebungsverfahren: Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (409). 158 Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 21 S. 3 f. 159 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (178).
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bot darf nicht abgewichen werden.161 Diese Regelung verhindert einerseits eine Diskriminierung von EU-Ausländern; gleichermaßen beugt sie einer Inländerdiskriminierung vor, die entstehen würde, wenn die Behandlung von EU-Ausländern für nationale Anbieter wirtschaftlich attraktiver wäre.162 3. Zugang zu Informationen Damit Patienten ihre Rechte in Bezug auf die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung wahrnehmen können, sieht die Richtlinie eine angemessene Versorgung mit Informationen über alle wesentlichen Aspekte der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung vor.163 Die Behebung bestehender Informationsdefizite kann als wesentliche Voraussetzung dafür betrachtet werden, den Freiverkehr im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen tatsächlich zu verwirklichen.164 Gemäß Art. 6 Abs. 1 hat jeder Mitgliedstaat „eine oder mehrere nationale Kontaktstellen für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung“ zu benennen. Die nationalen Kontaktstellen haben gemäß Abs. 2 die Aufgabe, den in der Richtlinie vorgesehenen Informationsaustausch zu erleichtern und eng untereinander und mit der Kommission zusammenzuarbeiten. Die von den Kontaktstellen erteilten Informationen müssen gemäß Abs. 5 „leicht zugänglich sein und, soweit erforderlich, auf elektronischem Wege und in Formaten bereitgestellt werden, die für Personen mit Behinderungen zugänglich sind“.165 a) Informationsverpflichtungen des Behandlungsmitgliedstaats Gemäß Art. 6 Abs. 3 haben die nationalen Kontaktstellen im Behandlungsmitgliedstaat gemäß dessen gesetzlichen Bestimmungen Informationen über die Gesundheitsdienstleister166, Informationen nach Art. 4 Abs. 2 lit. a (d.h. über die 160 Gemäß UAbs. 2 sollen hierdurch jedoch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften unberührt bleiben, „wonach Gesundheitsdienstleister ihre Gebühren selbst festsetzen können, sofern Patienten aus anderen Mitgliedstaaten durch die Preisgestaltung nicht diskriminiert werden“. 161 Vgl. Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629 (631). 162 Vgl. Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 14; ferner Wollenschläger, EuR 2012, 149 (178). 163 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 48 S. 1. 164 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (178). Zu den Informationsdefiziten Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 20. 165 Zu den nationalen Kontaktstellen siehe Erwägungsgrund Nr. 48 S. 2–5 sowie Erwägungsgrund Nr. 49. 166 „Gesundheitsdienstleister“ ist gemäß Art. 3 lit. g „jede natürliche oder juristische Person oder sonstige Einrichtung, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig Gesundheitsdienstleistungen erbringt“.
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vom Behandlungsmitgliedstaat festgelegte Standards und Leitlinien für Qualität und Sicherheit)167 sowie Informationen über Patientenrechte, Beschwerdeverfahren und Verfahren zur Einlegung von Rechtsbehelfen sowie über die verfügbaren rechtlichen und administrativen Möglichkeiten zur Streitbeilegung zur Verfügung zu stellen.168 Gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. b hat der Behandlungsmitgliedstaat ferner dafür zu sorgen, dass Gesundheitsdienstleister einschlägige Informationen bereitstellen, um den jeweiligen Patienten zu helfen, eine sachkundige Entscheidung zu treffen.169 b) Informationsverpflichtungen des Versicherungsmitgliedstaats Gemäß Art. 6 Abs. 4 haben die nationalen Kontaktstellen in den Versicherungsmitgliedstaaten Patienten und Angehörigen der Gesundheitsberufe die in Art. 5 lit. b genannten Informationen zur Verfügung zu stellen. Hierunter fallen Informationen über Rechte und Ansprüche der Patienten im Versicherungsmitgliedstaat im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung. Im Zusammenhang mit einem Vorabgenehmigungserfordernis hat der Versicherungsmitgliedstaat gemäß Art. 8 Abs. 7 öffentlich zugänglich zu machen, welche Gesundheitsdienstleistungen einer Vorabgenehmigung im Sinne der Richtlinie unterliegen,170 sowie alle relevanten Informationen über das System der Vorabgenehmigung zur Verfügung zu stellen. Gegenüber der Kommission haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 8 Abs. 2 a. E. ebenfalls Informationsverpflichtungen hinsichtlich der Kategorien der Gesundheitsdienstleistungen, die im Sinne des Art. 8 Abs. 2 lit. a von einer Vorabgenehmigung abhängig gemacht werden. 4. Kontinuität der Behandlung Art. 5 lit. c enthält den Auftrag an den Versicherungsmitgliedstaat sicherzustellen, dass, wenn nach einer grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistung eine medizinische Nachbehandlung erforderlich ist, dieselbe medizinische Nachbehandlung verfügbar ist, die verfügbar gewesen wäre, wenn die Gesundheitsdienstleistung im Hoheitsgebiet des Versicherungsmitgliedstaats erbracht worden wäre. Art. 11 Abs. 1 UAbs. 4 enthält eine spezielle Ausprägung in Bezug auf Arzneimittel und Medizinprodukte; hiernach trifft der Versicherungsmitgliedstaat – zusätzlich zur Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Ver-
167 Eingeschlossen hiervon sind „Bestimmungen über die Überwachung und Bewertung von Gesundheitsdienstleistern sowie Informationen darüber [. . .], welche Gesundheitsdienstleister diesen Standards und Leitlinien unterliegen, sowie Informationen über die Zugänglichkeit von Krankenhäusern für Personen mit Behinderungen“. 168 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 20 S. 1. 169 Siehe hierzu auch Erwägungsgrund Nr. 20 S. 2 ff. 170 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 42 S. 2.
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schreibungen – „alle erforderlichen Maßnahmen, um die Kontinuität der Behandlung in Fällen zu gewährleisten, in denen im Behandlungsmitgliedstaat eine Verschreibung für Arzneimittel oder Medizinprodukte ausgestellt wird, die im Versicherungsmitgliedstaat erhältlich sind, und in denen die Abgabe im Versicherungsmitgliedstaat angestrebt wird“. Weil eine ordnungsgemäße Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat bzw. Weiterbehandlung im Versicherungsmitgliedstaat nur erfolgen kann, wenn der behandelnde Gesundheitsdienstleister den Gesundheitszustand des Patienten kennt und über die durchgeführten Behandlungen informiert ist,171 hat der Versicherungsmitgliedstaat gemäß Art. 5 lit. d sicherzustellen, dass Patienten bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung mindestens eine Kopie ihrer Patientenakte haben oder per Fernabfrage darauf zugreifen können.172 Art. 4 Abs. 2 lit. f verpflichtet den Behandlungsmitgliedstaat, zur Gewährleistung der Kontinuität der Behandlung sicherzustellen, dass behandelte Patienten einen Anspruch auf Erstellung einer schriftlichen oder elektronischen Patientenakte über die Behandlung sowie auf Zugang zu mindestens einer Kopie dieser Akte haben.173 Der Begriff „Patientenakte“ meint gemäß Art. 3 lit. m sämtliche Unterlagen, die Daten, Bewertungen oder Informationen jeglicher Art über die klinische Situation und Entwicklung eines Patienten im Verlauf des Behandlungsprozesses enthalten. 5. Folgen bei Schädigungen Art. 4 Abs. 2 lit. c verpflichtet den Behandlungsmitgliedstaat sicherzustellen, dass transparente Beschwerdeverfahren und Mechanismen für Patienten bestehen, damit sie im Fall einer Schädigung aufgrund der erhaltenen Gesundheitsversorgung gemäß den gesetzlichen Bestimmungen des Behandlungsmitgliedstaats Rechtsbehelfe einlegen können. Gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. d muss der Behandlungsmitgliedstaat sicherstellen, dass für Behandlungen im eigenen Hoheitsgebiet Systeme der Berufshaftpflichtversicherung, eine Garantie oder eine ähnliche Regelung, die im Hinblick auf ihren Zweck gleichwertig oder im Wesentlichen vergleichbar und nach Art und Umfang dem Risiko angemessen ist, bestehen.174 6. Datenschutz Art. 4 Abs. 2 lit. e verpflichtet den Behandlungsmitgliedstaat zum Schutz des Grundrechts auf Schutz der Privatsphäre bei der Verarbeitung personenbezogener 171 172 173 174
Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (179). Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 25 S. 4 f. Vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 25 S. 2 f. Vgl. Erwägungsgründe Nr. 23 und 24.
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Daten.175 Der Schutz personenbezogener Daten wird auch in den jeweiligen Sachregelungen, insbesondere in Art. 10 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 2 a. E. berücksichtigt.
IV. Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Kapitel IV der Richtlinie) Die Vorschriften in Kapitel IV über die „Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung“ enthalten Regelungen, die – unabhängig von der Inanspruchnahme binnenmarktrechtlicher Freiheiten – Strukturen eines europäischen Gesundheitsverbunds schaffen, der auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung in der EU zielt.176 Die Grundsätze über die Zusammenarbeit sind nach Auffassung des Unionsgesetzgebers notwendig, um das Potential des Binnenmarktes für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung umfassend zu nutzen und eine sichere, hochwertige und effiziente grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.177 1. Art. 10: „Amtshilfe und Zusammenarbeit“ Art. 10 Abs. 1 verpflichtet die Mitgliedstaaten die zur Durchführung der Richtlinie erforderliche Amtshilfe zu leisten; dies umfasst unter anderem die Zusammenarbeit im Bereich der Standards und Leitlinien für Qualität und Sicherheit und den Austausch von Informationen, insbesondere zwischen den nationalen Kontaktstellen. Abs. 4 enthält eine spezielle Regelung zum Informationsaustausch über die Berufsausübungsberechtigung von Leistungserbringern: Hiernach gewährleisten die Behandlungsmitgliedstaaten, dass Informationen über die Berufsausübungsberechtigung von Angehörigen der Gesundheitsberufe, die in den auf ihrem Hoheitsgebiet eingerichteten nationalen oder lokalen Registern enthalten sind, auf Anfrage den Behörden anderer Mitgliedstaaten zum Zwecke der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden.178 Da dies in datenschutzrechtlicher Hinsicht problematisch sein kann,179 stellt die Bestimmung klar, dass der Informationsaustausch den mitgliedstaatlichen Bestimmungen zur Umsetzung der Unionsvorschriften über den Schutz personenbezogener 175 Dies soll sich nach den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Unionsvorschriften zum Schutz der personenbezogenen Daten, insbesondere der RiL 95/46/EG und 2002/58/EG richten. Vgl. zum Schutz personenbezogener Daten Erwägungsgrund Nr. 25; ferner Art. 2 lit. c. 176 Vgl. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (173, 178, 180, 183). 177 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 50 S. 1; Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 21. 178 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 52. 179 Hierzu in Bezug auf das deutsche Recht Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (409).
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Daten sowie dem Grundsatz der Unschuldsvermutung zu unterliegen hat. Für die Durchführung bestimmt die Richtlinie, dass der Informationsaustausch über das Binnenmarktinformationssystem stattfindet, welches nach der Entscheidung 2008/49/EG180 der Kommission vom 12. Dezember 2007 „über den Schutz personenbezogener Daten bei der Umsetzung des Binnenmarktinformationssystems (IMI)“ eingerichtet wurde. Gemäß Abs. 2 haben die Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zu erleichtern.181 Gemäß Abs. 3 wirkt die Kommission ermutigend auf die Schließung von Abkommen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere in Grenzregionen, hin.182 2. Art. 11: „Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen“ Art. 11 regelt die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen für Arzneimittel und Medizinprodukte. a) Definitionen Gemäß Art. 3 lit. i richtet sich der Begriff „Arzneimittel“ nach der Definition in Richtlinie 2001/83/EG183. Das Verständnis des Begriffs „Medizinprodukt“ richtet sich gemäß Art. 3 lit. j nach den Definitionen in den Richtlinien 90/385/ EWG, 93/42/EWG oder 98/79/EG184. Der Begriff „Verschreibung“ meint gemäß Art. 3 lit. k die Verschreibung eines Arzneimittels oder eines Medizinprodukts durch einen Angehörigen eines reglementierten Gesundheitsberufs im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. a Richtlinie 2005/36/EG, der in dem Mitgliedstaat, in dem die Verschreibung erfolgt, hierzu gesetzlich berechtigt ist. b) Verhältnis zu den Regelungen über die Kostenerstattung Art. 11 regelt die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat eine Verschreibung für Arzneimittel und Medizinprodukte, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammt, anzuerkennen hat. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage der Kostenerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Arzneimittel und Medizinprodukte. Die diesbezüglichen Regelungen werden gemäß Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 von Art. 11 nicht berührt und finden sich – wie 180 ABl. L 13 vom 16.1.2008, S. 18–23; mittlerweile abgelöst durch VO (EU) Nr. 1024/2012 (ABl. L 316 vom 14.11.2012, S. 1–11). 181 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 50. 182 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 51 (unter Bezugnahme auf Art. 168 Abs. 2 AEUV). 183 Vgl. Art. 1 RiL 2001/83/EG. 184 Vgl. Art. 1 Abs. 2 RiL 98/79/EG.
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Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 klarstellt – in Art. 7 ff.;185 der dort verwendete Begriff „grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung“ umfasst gemäß der Definition in Art. 3 lit. a auch die „Verschreibung, Abgabe und Bereitstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten“. Diesbezüglich umfasst gemäß Erwägungsgrund Nr. 16 S. 2 der Begriff der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung „sowohl den Fall [. . .], dass ein Patient solche Arzneimittel und Medizinprodukte in einem anderen als seinem Versicherungsmitgliedstaat kauft, als auch den Fall, dass er solche Arzneimittel und Medizinprodukte in einem anderen Mitgliedstaat kauft als dem, in dem die Verschreibung ausgestellt wurde“. Bezüglich der Kostenerstattung für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Arzneimittel und Medizinprodukte gelten die allgemeinen Grundsätze, wonach insbesondere gemäß Erwägungsgrund Nr. 36 S. 2 der Versicherungsmitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Kosten für ein Arzneimittel zu erstatten, wenn dieses Arzneimittel nicht zum nationalen Leistungskatalog gehört.186 c) Regelungsinhalt Gemäß Art. 11 Abs. 1 UAbs. 1 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verschreibungen aus einem anderen Mitgliedstaat für einen namentlich genannten Patienten für Arzneimittel, welche gemäß der Richtlinie 2001/83/EG oder der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zum Inverkehrbringen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten genehmigt sind, in ihrem Hoheitsgebiet gemäß den geltenden nationalen Rechtsvorschriften eingelöst werden können;187 lit. a–b regeln, in welchen Fällen Einschränkungen zulässig sein können. Die Vorschrift verlangt also von den Mitgliedstaaten die Einlösung von Verschreibungen lediglich bezüglich solcher Arzneimittel, die im eigenen Mitgliedstaat genehmigt sind.188 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 und 3 stellen sicher, dass auch die sonstigen – unionrechtskon-
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Vgl. Erwägungsgrund Nr. 53 S. 5. Bei der Behandlung im Behandlungsmitgliedstaat hat aber – dem Grundsatz des Art. 4 Abs. 1 lit. a entsprechend – weder die Frage, ob das betroffene Arzneimittel zum nationalen Leistungskatalog des Versicherungsmitgliedstaats gehört, noch die Frage, ob das betroffene Arzneimittel zum Inverkehrbringen im Hoheitsgebiet des Versicherungsmitgliedstaats genehmigt ist, Einfluss darauf, ob der Patient dieses Arzneimittel erhält (Erwägungsgrund Nr. 36 S. 1). 187 Erwägungsgrund Nr. 53 S. 1: „Sofern Arzneimittel, die in einem Mitgliedstaat genehmigt sind und in diesem Mitgliedstaat von einem Angehörigen eines reglementierten Gesundheitsberufs im Sinne der Richtlinie 2005/36/EG für einen einzelnen, namentlich genannten Patienten verschrieben wurden, sollte es grundsätzlich möglich sein, dass eine solche Verschreibung in einem anderem Mitgliedstaat, in dem die Arzneimittel genehmigt sind, ärztlich und in Apotheken anerkannt wird und die Arzneimittel dort abgegeben werden.“ 188 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 11 RiL 2011/24/EU Rn. 6. Keine Relevanz hat gemäß Erwägungsgrund Nr. 53 S. 4 die Frage, ob das Arzneimittel zum nationalen Leistungskatalog gehört. 186
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formen – einzelstaatlichen Vorschriften über die Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln sowie über berufliche und ethische Pflichten der Apotheker nicht berührt werden.189 Die Regelungen gelten gemäß Art. 11 Abs. 1 UAbs. 5 auch für Medizinprodukte, die in dem betreffenden Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht werden.190 Nicht anwendbar sind die Regeln gemäß Art. 11 Abs. 6 auf Arzneimittel, die einer besonderen ärztlichen Verordnung im Sinne des Art. 71 Abs. 2 Richtlinie 2001/83/EG unterliegen. Gemäß Art. 11 Abs. 5 hat die Kommission durch delegierte Rechtsakte (Art. 17 ff.) Maßnahmen zum Ausschluss spezifischer Kategorien von Arzneimitteln oder Medizinprodukten von der Anerkennung der Verschreibungen zu erlassen, soweit dies zum Schutz der öffentlichen Gesundheit erforderlich ist. Art. 11 Abs. 2 regelt, welche Maßnahmen die Kommission zur Erleichterung der Umsetzung des Grundsatzes der Anerkennung erlassen soll; hierunter fallen Maßnahmen, die die Verifizierung der Authentizität der Verschreibung sowie die Prüfung der Berechtigung des Ausstellers erlauben sollen (lit. a), Leitlinien bezüglich der Interoperabilität elektronischer Verschreibungen (lit. b), Maßnahmen, die auf die korrekte Identifizierung von in einem Mitgliedstaat verschriebenen und in einem anderen Mitgliedstaat abgegebenen Arzneimitteln oder Medizinprodukten abzielen (lit. c), sowie Maßnahmen, die auf die Erleichterung der Verständlichkeit von Informationen für den Patienten abzielen (lit. d).191 Für den Erlass dieser Maßnahmen und Leitlinien ist gemäß Abs. 3 das Regelungsverfahren (Art. 16 Abs. 2) vorgesehen; hierbei sind die Vorgaben des Art. 11 Abs. 4 zu beachten.192 3. Art. 12: „Europäische Referenznetzwerke“ Gemäß Art. 12 Abs. 1 unterstützt die Kommission „die Mitgliedstaaten beim Aufbau Europäischer Referenznetzwerke zwischen Gesundheitsdienstleistern und Fachzentren in den Mitgliedstaaten, insbesondere im Bereich seltener Krankheiten“. Zweck dieser Netzwerke ist es, den Zugang zur Diagnose und die Bereitstellung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung für alle Patienten zu verbessern, deren Gesundheitsprobleme eine verstärkte Konzentration von Ressourcen oder Fachwissen erfordern, sowie die medizinische Fortbildung und Forschung,
189 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 53 S. 2 und 3. Ferner soll die Richtlinie gemäß Erwägungsgrund Nr. 17 nicht die Vorschriften der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Verkauf von Arzneimitteln und Medizinprodukten über das Internet berühren. 190 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 53 S. 9. 191 Vgl. zu alledem Erwägungsgrund Nr. 53 S. 6–8. 192 Erfolgt mit Durchführungsrichtlinie 2012/52/EU der Kommission vom 20.12. 2012 mit Maßnahmen zur Erleichterung der Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten ärztlichen Verschreibungen, ABl. L 356 vom 22.12.2012, S. 68–70.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Informationsverbreitung und Bewertung, insbesondere im Bereich seltener Krankheiten, zu bündeln.193 Die Netzwerke beruhen auf der freiwilligen Teilnahme ihrer Mitglieder. Sie haben mindestens drei der im Katalog des Art. 12 Abs. 2 lit. a–h genannten Ziele zu verfolgen. Gemäß Art. 12 Abs. 3 werden die Mitgliedstaaten zur Ergreifung der dort genannten Maßnahmen, die den Aufbau Europäischer Referenznetzwerke erleichtern sollen, ermutigt. Art. 12 Abs. 4 lit. a–c regelt, auf welche Weise die Kommission zur Einrichtung und Durchführung Europäischer Referenznetzwerke beizutragen hat; diese Maßnahmen sollen gemäß Abs. 5 durch delegierte Rechtsakte (Art. 17 ff.) bzw. im Regelungsverfahren (Art. 16 Abs. 2) erlassen werden.194 Gemäß Abs. 6 sollen hierdurch aber keine Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten harmonisiert werden. 4. Art. 13: „Seltene Krankheiten“ Art. 13 enthält den Auftrag an die Kommission, die Mitgliedstaaten bei der Zusammenarbeit im Bereich der Stärkung der Diagnose- und Behandlungskapazität zu unterstützen, indem die beteiligten Gruppen für die Möglichkeiten, die ihnen auf der Ebene der Union zur Verfügung stehen, sensibilisiert werden. Wann eine „seltene Krankheit“ 195 vorliegt, wird in Erwägungsgrund Nr. 55 näher bestimmt; hiernach gelten als seltene Krankheiten „in Übereinstimmung mit der Verordnung (EG) Nr. 141/2000196 [. . .] solche Krankheiten, die eine Prävalenz von höchstens fünf von 10.000 Personen haben; es handelt sich immer um schwere, chronische und oft lebensbedrohende Leiden“. 5. Art. 14: „Elektronische Gesundheitsdienste“ Art. 14 enthält Regelungen zu „Elektronischen Gesundheitsdiensten“ (englisch: „eHealth“).197 Elektronische Gesundheitsdienste sind Teil einer umfassenderen Gesamtstrategie der Union zu Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).198 Nach der Kommission bezeichnet der Begriff der elektronischen
193 Erwägungsgrund Nr. 54 S. 2; ferner Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 22 sowie KOM(2008) 415 endgültig, S. 7 f. 194 Erfolgt mit Delegierter Beschluss 2014/286/EU der Kommission vom 10.3.2014 (ABl. L 147 vom 17.5.2014, S. 71–78) sowie Durchführungsbeschluss 2014/287/EU der Kommission vom 10.3.2014 (ABl. L 147 vom 17.5.2014, S. 79–87). 195 Siehe zur Thematik: Mitteilung der Kommission vom 11.11.2008 [KOM(2008) 679 endgültig]; Empfehlungen des Rates vom 8.6.2009 [ABl. C 151 vom 3.7.2009, S. 7–10]; Bericht der Kommission vom 5.9.2014 [COM(2014) 548 final]. 196 ABl. L 18 vom 22.1.2000, S. 1–5. 197 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 50 S. 3, 56, 57; ferner Richtlinienvorschlag [KOM (2008) 414 endgültig], S. 23 sowie KOM(2008) 415 endgültig, S. 8 f.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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Gesundheitsdienste „den Einsatz der IKT in gesundheitsbezogenen Produkten, Dienstleistungen und Prozessen in Verbindung mit organisatorischen Änderungen in den Gesundheitssystemen und neuen Kompetenzen zur Verbesserung der Gesundheit der Bürger, der Effizienz und Produktivität bei der Erbringung von Gesundheitsfürsorgediensten und des wirtschaftlichen und sozialen Werts der Gesundheit. Er umfasst das Zusammenwirken zwischen Patienten und Gesundheitsdienstleistern, die Datenübertragung zwischen verschiedenen Einrichtungen oder die direkte Kommunikation zwischen Patienten und/oder Angehörigen der Gesundheitsberufe.“ 199 Vor dem Hintergrund, dass sehr unterschiedliche und inkompatible Formate und Normen für die IKT-gestützte Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen in der Union gelten, will die Richtlinie 2011/24/EU auf die Interoperabilität der IKT-Systeme hinwirken.200 Hierzu soll gemäß Art. 14 Abs. 1 die Union die Zusammenarbeit und den Austausch von Informationen zwischen den Mitgliedstaaten unterstützen und erleichtern. Dieser Informationsaustausch soll im Rahmen eines freiwilligen Netzwerks erfolgen, mit dem die von den Mitgliedstaaten benannten, für elektronische Gesundheitsdienste zuständigen nationalen Behörden vernetzt werden. Die Ziele, die dieses „Netzwerk für elektronische Gesundheitsdienste“ verfolgen soll, sind in Abs. 2 geregelt. Gemäß Abs. 3 erlässt die Kommission nach dem Regelungsverfahren gemäß Art. 16 Abs. 2 die notwendigen Maßnahmen für die Einrich-
198 Chronologisch: „eEurope 2005: Eine Informationsgesellschaft für alle“ vom 28.5. 2002 [KOM(2002) 263 endgültig]; „eEurope 2002: Qualitätskriterien für Websites zum Gesundheitswesen“ vom 29.11.2002 [KOM(2002) 667 endgültig]; „Elektronische Gesundheitsdienste – eine bessere Gesundheitsfürsorge für Europas Bürger: Aktionsplan für einen europäischen Raum der elektronischen Gesundheitsdienste“ vom 30.4.2004 [KOM(2004) 356 endgültig]; „i2010 – Eine europäische Informationsgesellschaft für Wachstum und Beschäftigung“ vom 1.6.2005 [KOM(2005) 229 endgültig]; „Eine Leitmarktinitiative für Europa“ vom 21.12.2007 [KOM(2007) 860 endgültig]; Empfehlung der Kommission „zur grenzübergreifenden Interoperabilität elektronischer Patientendatensysteme“ vom 2.7.2008 (2008/594/EG) [ABl. L 190 vom 18.7.2008, S. 37–43]; „Towards a Renewed Social Agenda for Europe – Citizens’ Well-being in the Information Society“ vom 2.7.2008 [SEC(2008) 2183]; Mitteilung „über den Nutzen der Telemedizin für Patienten, Gesundheitssysteme und die Gesellschaft“ vom 4.11.2008 [KOM(2008) 689 endgültig]; Schlussfolgerungen des Rates „zur sicheren und effizienten Gesundheitsversorgung durch eHealth“ vom 1.12.2009 [ABl. C 302 vom 12.12. 2009, S. 12–14]; „Aktionsplan für elektronische Gesundheitsdienste 2012–2020 – innovative Gesundheitsfürsorge im 21. Jahrhundert“ vom 6.12.2012 [COM(2012) 736 final] (diesbezügliche Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 22.5.2013 [ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 122–126] sowie des Ausschusses der Regionen vom 3.7.2013 [ABl. C 280 vom 27.9.2013, S. 33–37]). 199 COM(2012) 736 final, S. 3 Fn. 1. 200 Erwägungsgrund Nr. 56 S. 2 f.; Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 23; vgl. in diesem Zusammenhang die Empfehlung der Kommission „zur grenzübergreifenden Interoperabilität elektronischer Patientendatensysteme“ vom 2.7.2008 (2008/594/EG) [ABl. L 190 vom 18.7.2008, S. 37–43]. Zur Thematik: Beschorner, ZFSH/SGB 2011, 693.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
tung, die Verwaltung und die transparente Funktionsweise dieses Netzwerks;201 dem dient der Durchführungsbeschluss der Kommission vom 22. Dezember 2011202. 6. Art. 15: „Zusammenarbeit bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien“ Ein weiteres Netzwerk soll gemäß Art. 15 im Bereich der „Zusammenarbeit bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien“ geschaffen werden.203 Gemäß Art. 3 lit. l meint „Gesundheitstechnologie“ ein Arzneimittel, ein Medizinprodukt oder medizinische und chirurgische Verfahren sowie Maßnahmen zur Prävention von Krankheiten oder in der Gesundheitsversorgung angewandte Diagnose- und Behandlungsverfahren. Gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 unterstützt und erleichtert die Union die Zusammenarbeit und den Austausch wissenschaftlicher Informationen zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen eines freiwilligen Netzwerks, das die von den Mitgliedstaaten benannten, für die Bewertung von Gesundheitstechnologien zuständigen nationalen Behörden oder anderen Stellen verbindet. Die Teilnahme und der Beitrag der Mitglieder an einem solchen Netzwerk zur Bewertung von Gesundheitstechnologien richtet sich gemäß Abs. 1 S. 3 nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind. Abs. 2 regelt die Ziele eines solchen Netzwerks. Gemäß Abs. 3 können zur Erreichung dieser Ziele Beihilfen der Union gewährt werden; Abs. 5 und 6 enthalten hierzu ergänzende Regelungen. Abs. 4 bestimmt – parallel zu Art. 14 Abs. 3 –, dass die Kommission für die Einrichtung, die Verwaltung und die transparente Funktionsweise dieses Netzwerks nach dem Regelungsverfahren gemäß Art. 16 Abs. 2 die notwendigen Maßnahmen erlässt.204 7. Durchführungsbefugnisse der Kommission In den Bestimmungen der Art. 11 bis 15 sind Durchführungsbefugnisse der Kommission vorgesehen. Diese Befugnisse werden der Kommission entweder in Gestalt delegierter Rechtsakte gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV oder im Regelungsverfahren gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV übertragen.
201 In Erwägungsgrund Nr. 56 S. 4 und 5 wird betont, dass die Entscheidung über den Einsatz von IKT-Systemen vollständig in die nationale Zuständigkeit fällt und dass die Maßnahmen der Kommission rechtlich nicht verbindlich sind. 202 Durchführungsbeschluss mit Vorschriften für die Errichtung, die Verwaltung und die Funktionsweise des Gesundheitstelematiknetzes der maßgeblichen nationalen Behörden (2011/890/EU), ABl. L 344 vom 28.12.2011, S. 48–50. 203 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 58; ferner Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 22 f. sowie KOM(2008) 415 endgültig, S. 8. 204 Geschehen mit Durchführungsbeschluss der Kommission vom 26.6.2013 (2013/ 329/EU), ABl. L 175 vom 27.6.2013, S. 71–72.
B. Regelungsgehalt im Lichte der EuGH-Rechtsprechung
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a) Delegierte Rechtsakte Delegierte Rechtsakte sind gemäß Art. 290 Abs. 1 AEUV Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes. Delegierte Rechtsakte sind in der Richtlinie in den Art. 11 Abs. 5 und Art. 12 Abs. 5 S. 1 vorgesehen. Das Nähere zu dieser Befugnisübertragung ist in Art. 17–19 der Richtlinie geregelt. Gemäß Art. 17 Abs. 1 wird der Kommission die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte übertragen.205 Gemäß Art. 19 können das Europäische Parlament oder der Rat gegen einen delegierten Rechtsakt innerhalb einer Frist Einwände erheben, mit der Folge, dass der delegierte Rechtsakt nicht in Kraft tritt. b) Regelungsverfahren (Art. 16 Abs. 2 i.V. m. Beschluss 1999/468/EG) Gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV können der Kommission – in Ausnahmefällen dem Rat – Durchführungsbefugnisse übertragen werden, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung eines verbindlichen Rechtsakts der Union bedarf. Dieses sog. Regelungsverfahren ist in Art. 11 Abs. 3, 12 Abs. 5 S. 2, 14 Abs. 3 und 15 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehen. Gemäß Art. 16 Abs. 2 gelten für das Regelungsverfahren die Art. 5 und 7 des Beschlusses 1999/468/EG unter Beachtung von dessen Art. 8. Dieser Beschluss des Rates vom 28. Juni 1999 „zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse“ wurde zum 1. März 2011 durch Art. 12 VO (EU) Nr. 182/2011 vom 16. Februar 2011 aufgehoben. Dennoch bleiben über die Verweisung des Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie die in Bezug genommenen Bestimmungen des Beschlusses 1999/468/EG (in seiner konsolidierten Fassung vom 22. Juli 2006206) für das in der Richtlinie vorgesehene Regelungsverfahren maßgebend.207
V. Ergebnis zum Regelungsgehalt der Richtlinie 2011/24/EU Die Richtlinie 2011/24/EU schafft Regelungen, die den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union erleichtern, die Patientenmobilität gewährleisten und die Zusammenarbeit 205 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 60 und 61. Gem. Art. 17 Abs. 1 ist die Befugnisübertragung zunächst auf fünf Jahre befristet mit der Möglichkeit einer automatischen Verlängerung, es sei denn, das Europäische Parlament oder der Rat widerrufen die Befugnisübertragung gemäß Art. 18. 206 Geändert durch Beschluss des Rates 2006/512/EG vom 17.7.2006, ABl. L 200 vom 22.7.2006, S. 11–13. 207 Dies liegt gemäß Erwägungsgrund Nr. 59 darin begründet, dass die nach Art. 291 Abs. 3 AEUV zu erlassene neue Verordnung noch nicht erlassen worden war (mittlerweile: VO (EU) Nr. 182/2011 vom 16.2.2011).
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
zwischen den Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung fördern. Sie regelt das Verhältnis zum Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Begrenzungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie lassen sich aus ihrer Verwurzelung in den Produktverkehrsfreiheiten und deren Begrenzungen herleiten: Hiernach ist zum einen ein nur vorübergehender Aufenthalt des Patienten in dem anderen Mitgliedstaat erforderlich. Zum anderen ist die Richtlinie – in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH – nicht in Fällen der ungeplanten medizinisch notwendigen Behandlung anwendbar. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach nur geplante Behandlungen erfasst seien, ist nach hier vertretener Auffassung die Richtlinie aber auch in der Konstellation einer ungeplanten medizinisch nicht notwendigen Behandlung anzuwenden, weil auch in diesem Fall die Beeinträchtigung des Freiverkehrs droht. Die Richtlinie kodifiziert in erster Linie die vom EuGH entwickelten Regelungen zur Kostenerstattung; diesbezüglich stimmt das Richtlinienrecht mit den entwickelten Rechtsprechungsgrundsätzen überein.208 Eine weitergehende Harmonisierung erfolgte nicht, jedoch wird insbesondere das System der Vorabgenehmigung ausdifferenziert und bietet Platz für die Berücksichtigung der Sicherheit der Gesundheitsversorgung. Mit den Regelungen in Art. 4–6 schafft die Richtlinie flankierende Rechte, die die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ermöglichen sollen. Art. 10–15 bilden einen eigenständigen Regelungskomplex unabhängig von der Verwirklichung der Binnenmarktfreiheiten. Durch die Regelungen soll die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung ausgebaut und insbesondere durch Schaffung grenzüberschreitender Netzwerkstrukturen die Qualität und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung verbessert werden.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV) wird die Union nur innerhalb der ihr übertragenen Zuständigkeiten tätig. Maßgeblich für die kompetenzrechtliche Würdigung sind die bei Erlass des Rechtsakts geltenden Vorschriften des Vertrags.209 Die Richtlinie 2011/24/EU ist am 9. März 2011 erlassen worden; sie unterliegt somit den Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie dem übrigen Primärrecht nach der Reformierung durch den Vertrag von Lissabon.210
208 So auch Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 89. 209 Vgl. EuGH, 4.4.2000 – C-269/97 – Kommission/Rat, Slg. 2000, I-2257, Rn. 45. 210 Zu den Auswirkunken des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon auf die laufenden interinstitutionellen Beschlussfassungsverfahren: Mitteilung der Kommission vom 2.12.2009 [KOM(2009) 665 endgültig]; für vorliegende Richtlinie: Anhang 4, S. 39.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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Der Unionsgesetzgeber hat die Richtlinie auf Art. 114 und Art. 168 AEUV gestützt.211 Nach Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie muss „gemäß Art. 168 Abs. 1 AEUV [. . .] bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden. Demnach muss ein hohes Gesundheitsschutzniveau auch dann sichergestellt werden, wenn die Union Rechtsakte aufgrund anderer Vertragsbestimmungen erlässt.“ Nach Erwägungsgrund Nr. 2 ist Art. 114 AEUV „die geeignete Rechtsgrundlage, da die Mehrheit der Bestimmungen dieser Richtlinie auf die Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarktes und der Freizügigkeit von Personen sowie des freien Verkehrs von Waren oder Dienstleistungen abzielt.“ Da die Bedingungen für die Inanspruchnahme des Art. 114 AEUV als Rechtsgrundlage erfüllt seien, habe der Unionsgesetzgeber selbst dann auf diese Rechtsgrundlage zurückzugreifen, wenn der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ein entscheidender Faktor für die getroffenen Entscheidungen ist; verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf Art. 114 Abs. 3 AEUV.
I. Art. 114 Abs. 1 AEUV Art. 114 Abs. 1 AEUV ist die Rechtsangleichungskompetenz, um die in dem Gesetzgebungsauftrag212 des Art. 26 Abs. 1 AEUV formulierten Ziele zu verwirklichen. 1. Kompetenzkategorie Die Kompetenzen der Union werden in unterschiedliche Kompetenzkategorien eingeteilt. Den für die Kompetenzkategorie der geteilten Zuständigkeit gemäß Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV maßgeblichen Begriff „Binnenmarkt“ bestimmt Art. 26 Abs. 2 AEUV dergestalt, dass der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. Gemäß Protokoll Nr. 27 zu EUV und AEUV umfasst der Binnenmarkt aber auch ein System, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt.213 In diesem Zusammenhang können sich Abgrenzungsprobleme zur ausschließlichen Kompetenz des Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV ergeben.214 Hiernach besitzt die Union die ausschließliche Kompetenz für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln. Sachlich umfasst ist hiervon der Regelungsbereich des Dritten Teils, Titel VII, Kapitel 1
211
Siehe ersten Bezugsvermerk der RiL 2011/24/EU. Vgl. Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 26 AEUV Rn. 13. 213 Zu den Kernelementen des Binnenmarkts: Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 26 AEUV Rn. 21 ff. 214 Hierzu Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 5. 212
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
„Wettbewerbsregeln“.215 Die Richtlinie 2011/24/EU zielt jedoch nicht auf die Ausgestaltung von Wettbewerbsregeln, also auf den Schutz des Wettbewerbs vor Verfälschungen,216 ab.217 Eine ausschließliche Zuständigkeit der Union scheidet somit aus. Hingegen ist Gegenstand der Richtlinie 2011/24/EU insbesondere die Verwirklichung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit.218 Es geht damit in sachlicher Hinsicht um den Teilbereich des Binnenmarkts, wie er von Art. 26 Abs. 2 AEUV umschrieben wird. Von Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV gemeint sind allerdings nicht die unmittelbar anwendbaren binnenmarktlichen Grundfreiheiten, da sie keiner politischen Zuständigkeit unterliegen; vielmehr geht es um die von Art. 26 Abs. 1 verfolgten Ziele.219 Kompetenzrechtlich betroffen ist somit die geteilte Zuständigkeit für den „Binnenmarkt“ gemäß Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV. Aus der Kompetenzkategorie folgt noch kein Kompetenzrecht der Union. Vielmehr ergeben sich gemäß Art. 2 Abs. 6 AEUV der Umfang der Zuständigkeiten der Union und die Einzelheiten ihrer Ausübung aus den Bestimmungen der Verträge zu den einzelnen Bereichen. Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV erlaubt Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. 2. Subsidiarität Art. 114 AEUV ist als Generalrechtsangleichungskompetenz220 gemäß Abs. 1 S. 1 gegenüber spezielleren Rechtsangleichungsvorschriften subsidiär. Der Anwendungsbereich des Art. 114 Abs. 1 AEUV ist allerdings nicht schon dann versperrt, wenn andere Kompetenzgrundlagen eingreifen. Nur dann, wenn es sich um Kompetenzgrundlagen handelt, die wie Art. 114 Abs. 1 AEUV ebenfalls funktional den Binnenmarkt betreffen, sind diese vorrangig anzuwenden.221 Als speziellere Rechtsangleichungskompetenzen für den Binnenmarkt kommen insbe215 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 3 AEUV Rn. 7; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 5. 216 Vgl. Protokoll Nr. 27 zu EUV und AEUV. 217 Daher kommt es hier auf die umstrittene Frage, welche konkreten Bestimmungen des Abschnitts über die Wettbewerbsregeln der ausschließlichen Zuständigkeit unterfallen, nicht an; vgl. zum Streitstand: Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 3 AEUV Rn. 7 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 AEUV Rn. 11 ff. 218 Vgl. Erwägungsgründe Nr. 8 und 35 S. 2. 219 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 4 AEUV Rn. 11; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 4 AEUV Rn. 4. 220 Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 9. 221 Bock, Rechtsangleichung, 2005, S. 233; Denkhaus, Gesundheitsmärkte im Mehrebenensystem, 2011, S. 141 f.; Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 122. Anders wohl Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 9.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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sondere Art. 59 Abs. 1 AEUV und Art. 62 i.V. m. Art. 53 Abs. 1 2. Alt. AEUV in Frage. a) Art. 62 i.V. m. Art. 53 Abs. 1 2. Alt. AEUV Die Richtlinie 2011/24/EU will die ungehinderte Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen verwirklichen, erfasst also einen Aspekt der passiven Dienstleistungsfreiheit. Der über Art. 62 AEUV entsprechend anzuwendende Art. 53 Abs. 1 2. Alt. AEUV ermöglicht hingegen die Erleichterung der „Aufnahme und Ausübung“ von Dienstleistungen, knüpft also nach seinem Wortlaut an die Leistungserbringung eines Dienstleisters in einem anderen Mitgliedstaat an.222 Die Kompetenz bezieht sich in erster Linie auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Berufsausbildungs-, Berufszugangsund Tätigkeitsvoraussetzungen.223 Eine Koordinierung gemäß Art. 62 i.V. m. Art. 53 Abs. 1 2. Alt. AEUV scheidet aus diesem Grund aus. b) Art. 59 Abs. 1 AEUV Für den Regelungsbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit könnte das Kompetenzrecht aus Art. 59 Abs. 1 AEUV einschlägig sein, dem heutzutage schon praktische Bedeutungslosigkeit attestiert wird.224 Art. 59 Abs. 1 AEUV steht neben der unmittelbar anwendbaren Dienstleistungsfreiheit und ermächtigt den Unionsgesetzgeber, die Grundfreiheit durch rechtspolitische Gestaltungsmaßnahmen zu verwirklichen.225 Obwohl der Bezug zur passiven Dienstleistungsfreiheit im Schrifttum regelmäßig nicht hergestellt wird, kann der Wortlaut der Vorschrift, wonach Richtlinien „zur Liberalisierung einer bestimmten Dienstleistung“ erlassen werden, durchaus im Sinne einer Ermächtigung zur Beseitigung von Hindernissen auch für den Empfang von Dienstleistungen verstanden werden. Die Kompetenz ermächtigt zum Erlass von Richtlinien in Bezug auf „bestimmte“, das heißt auf der Grundlage berufsspezifischer oder anderer allgemein anerkannter Kriterien definierter Dienstleistungen.226 Sinn und Zweck der Begrenzung ist es, verallgemeinernde und damit undifferenzierte Regelungen zu vermeiden, um so den jeweiligen Eigenheiten einer bestimmten Dienstleistung Rechnung zu tragen.227 222
Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 62 AEUV Rn. 3. Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 53 AEUV Rn. 1; Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Art. 53 AEUV Rn. 3. 224 Vgl. Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Art. 59 AEUV Rn. 4; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 59 AEUV Rn. 1. 225 Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 59 AEUV Rn. 2. 226 Khan/Eisenhut, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Art. 59 AEUV Rn. 2; Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 59 AEUV Rn. 3 f.; anders Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 59 AEUV Rn. 2. 227 Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 59 AEUV Rn. 3. 223
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Die Richtlinie 2011/24/EU bezieht aber in ihren weiten Anwendungsbereich neben Dienstleistungen auch Aspekte des freien Warenverkehrs mit ein.228 Die Kompetenz aus Art. 59 Abs. 1 AEUV erweist sich damit als zu eng, weshalb sie keine speziellere Rechtsgrundlage für den Erlass der Richtlinie 2011/24/EU darstellen kann. c) Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV Die Kompetenz des Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV229 steht zu Art. 114 AEUV nicht in einem Vorrangverhältnis, da sie nicht funktional den Binnenmarkt betrifft. Unabhängig davon fallen die Regelungen der Richtlinie 2011/24/EU nicht in den Kompetenzbereich des Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV: Gemäß dieser Rechtsgrundlage tragen die dort Genannten mit Maßnahmen hinsichtlich der Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte zur Verwirklichung der Ziele des Art. 168 AEUV bei, um den gemeinsamen Sicherheitsanliegen Rechnung zu tragen. Art. 168 Abs. 4 AEUV ist die einschlägige Kompetenzgrundlage für alle Schutzvorschriften zur Sicherstellung der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit sowie für Maßnahmen zur Überwachung und Beobachtung.230 Um einen solchen Schutz geht es in der Richtlinie 2011/24/EU nicht; hierin enthalten sind in Bezug auf Arzneimittel und Medizinprodukte lediglich Regelungen über die Kostenerstattung (Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 i.V. m. Art. 7) sowie gemäß Art. 11 über die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen. In beiden Fällen geht es nicht um die Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte im Sinne des Art. 168 Abs. 4 lit. c AEUV. d) Zwischenergebnis Art. 114 AEUV scheidet nicht aufgrund Subsidiarität aus, da keine spezielleren Rechtsgrundlagen für den Erlass der Richtlinie 2011/24/EU existieren. 3. Tatbestandliche Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV a) Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten Die Maßnahme muss zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergehen. Grundsätzlich genügen die bloße Feststellung von Unterschieden 228
Hierzu oben unter B. I. 2. a), S. 125. Es handelt sich um eine geteilte Kompetenz im Rahmen der „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ gemäß Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV. 230 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 57. 229
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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zwischen den nationalen Regelungen und die abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder von Wettbewerbsverzerrungen nicht, um die Heranziehung von Art. 114 Abs. 1 AEUV zu rechtfertigen. Anderes gilt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH im Fall von Unterschieden zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, wenn diese Unterschiede geeignet sind, die Grundfreiheiten zu beeinträchtigen und sich auf diese Weise unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes auszuwirken.231 Darüber hinaus kann Art. 114 Abs. 1 AEUV als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um der Entstehung neuer Hindernisse für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, wenn das Entstehen solcher Hindernisse wahrscheinlich ist und die fragliche Maßnahme ihre Vermeidung bezweckt (sog. präventive Rechtsangleichung).232 Entscheidend ist also eine an den Erfordernissen des Binnenmarkts ausgerichtete Betrachtungsweise, die danach fragt, welche Wirkungen von den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen auf den Binnenmarkt ausgehen.233 Den so verstandenen Voraussetzungen für eine Rechtsangleichung gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV steht dann im Grundsatz weder das Fehlen einschlägiger Rechtsvorschriften in einzelnen oder allen Mitgliedstaaten noch die materielle Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Vorschriften entgegen.234 Die zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ergangene Rechtsprechung des EuGH hat die unterschiedlichen Ausgestaltungen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und die hiervon ausgehenden hemmenden Wirkungen auf den Binnenmarkt hinreichend deutlich gemacht.235 Den in Einzelentscheidungen entwickelten grundfreiheitlichen Vorgaben ist in den Mitgliedstaaten nicht ausreichend zur allgemeinen und wirksamen Geltung verholfen worden; dies belegen schon die jüngsten Vertragsverletzungsverfahren.236 Der Unionsgesetzgeber war somit aufgrund der den Freiverkehr hemmenden Wirkun-
231 Vgl. EuGH, 14.12.2004 – C-434/02 – Arnold André, Slg. 2004, I-11825, Rn. 30; EuGH, 12.7.2005 – C-154/04 – Alliance for Natural Health u. a., Slg. 2005, I-6451, Rn. 28; EuGH, 8.6.2010 – C-58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999, Rn. 32. 232 Vgl. EuGH, 12.7.2005 – C-154/04 – Alliance for Natural Health u. a., Slg. 2005, I-6451, Rn. 29; EuGH, 8.6.2010 – C-58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999, Rn. 32; ferner Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 18; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 22. 233 So Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 20. 234 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 18; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 20 ff. 235 Zum Ausgangsbefund auch: Commission Staff Working Paper, Report on the Application of Internal Market Rules to Health Services – Implementation by the Member States of the Court’s Jurisprudence [SEC(2003) 900], S. 18. 236 Hierzu oben unter Kap. 1 A. II., S. 33; zur Notwendigkeit einer „allgemeineren und wirksamen Anwendung“ der Rechtsprechungsgrundsätze: Erwägungsgrund Nr. 8 RiL 2011/24/EU.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
gen der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Rechtsangleichung befugt. b) Errichtung und Funktionieren des Binnenmarkts Die Rechtsangleichungsmaßnahmen müssen gemäß Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben.237 Allerdings reicht die bloß gegenständliche Betroffenheit des Binnenmarkts nicht aus; die Vorschrift gewährt keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes.238 Die Maßnahme muss vielmehr im Sinne von Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV der Verwirklichung des Binnenmarkts dienen, also die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts verbessern,239 indem sie zur Beseitigung von Hemmnissen für die Grundfreiheiten oder aber von Wettbewerbsverzerrungen beiträgt. Dies ist in einer doppelten Prüfung zu ermitteln: Zum einen muss der Unionsgesetzgeber subjektiv diese Ziele verfolgt haben und zum anderen muss der Rechtsakt objektiv zur Verwirklichung der Binnenmarktziele geeignet sein.240 aa) Subjektive Binnenmarktrelevanz Die subjektive Binnenmarktrelevanz ist regelmäßig anhand der Erwägungsgründe eines Rechtsaktes zu überprüfen.241 Gemäß Erwägungsgrund Nr. 8 soll durch die Richtlinie eine allgemeinere und auch wirksame Anwendung der Grundsätze erreicht werden, die der Gerichtshof in Einzelfällen entwickelt hat. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 10 zielt die Richtlinie unter anderem darauf ab, Regeln zu schaffen, die die Patientenmobilität im Einklang mit den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen gewährleisten. Gemäß Erwägungsgrund Nr. 35 S. 2 zielt die Richtlinie mit den Bestimmungen über Vorabgenehmigung und Kostenerstattung auf die Beseitigung ungerechtfertigter Hindernisse für die betroffenen Grundfreiheiten ab. Der Richtlinie lag somit der subjektive Wille des Unionsgesetzgebers zugrunde, die Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern.
237 Zum insoweit missglückten Wortlaut des Art. 114 Abs. 1 S. 2 AEUV: Leible/ Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 54. 238 Grundlegend EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83. 239 Vgl. EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 50. 240 Vgl. EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I11453, Rn. 60; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 51 ff.; Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 95 f. 241 Vgl. Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 95.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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bb) Objektive Binnenmarktrelevanz Für die objektive Prüfung kommt es darauf an, ob die Maßnahme tatsächlich die Beseitigung der konkreten Hemmnisse für die Grundfreiheiten bezweckt.242 Die in der Richtlinie 2011/24/EU enthaltenen allgemeinen Grundsätze für die Kostenerstattung (Art. 7), die Regelungen über die Vorabgenehmigung (Art. 8) sowie die Anforderungen an das Verwaltungsverfahren (Art. 9) kodifizieren die Rechtsgrundsätze, die der EuGH auf Grundlage der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit entwickelt hat. Es handelt sich um Regelungen, die objektiv dazu geeignet sind, Freiverkehrshindernisse für die betroffenen Grundfreiheiten zu beseitigen und die Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit zu verwirklichen. Problematisch ist jedoch, dass die Richtlinie 2011/24/EU neben dem Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts ausdrücklich auch die Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus verfolgt.243 Dies ist zum einen in Bezug auf die flankierenden Regelungen der Art. 4–6 von Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1, mit der der Behandlungsmitgliedstaat zur Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung und zur Einhaltung der Rechtsvorschriften der Union über Sicherheitsstandards verpflichtet wird. Zum anderen fehlt es aber insbesondere dem Regelungskomplex der Art. 10–15, der auf die Schaffung grenzüberschreitender Strukturen zur Zusammenarbeit und damit auf eine qualitative Verbesserung der Gesundheitsversorgung zielt, an objektiver Binnenmarktrelevanz. Es stellt sich daher die Frage, ob und in welchem Umfang solche weiteren Zielsetzungen in einem auf Art. 114 Abs. 1 AEUV gestützten Rechtsakt verfolgt werden dürfen. Das damit aufgeworfene Rechtsproblem ist zunächst von der hier durchzuführenden Kompetenzprüfung der Richtlinie 2011/ 24/EU zu abstrahieren und einer grundlegenden Betrachtung zu unterziehen. 4. Verfolgung weiterer Ziele Wird mit einem auf Art. 114 Abs. 1 AEUV gestützten Rechtsakt nicht nur das Binnenmarktziel, sondern daneben auch ein weiteres Ziel verfolgt, kann sich die Frage nach der Kompetenzabgrenzung stellen. Die Frage taucht im Unionsrecht deswegen auf, weil die Binnenmarktkompetenzen nicht – wie etwa die Zuständigkeiten im deutschen Grundgesetz – konkrete Sachbereiche bezeichnen (materielle Kompetenzzuweisung), sondern final und funktional ausgestaltet sind, also die Ziele und Aufgaben der Union miteinbeziehen. 244 Dies erschwert sowohl die
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Vgl. Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 96. Art. 1 Abs. 1 sowie Erwägungsgründe Nr. 10, 22, 54, 56, 58. 244 Vgl. König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 7; Möstl, EuR 2002, 318 (324); v. Danwitz, in: Dauses, B. II. Rn. 140. Ausführlich Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, 1999, S. 95 ff. 243
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Begrenzung der final ausgerichteten Kompetenz,245 als auch ihre Abgrenzung zu den sachgebietsbezogenen sektorpolitischen Kompetenznormen246. Hilfreich ist zunächst die Einsicht, dass Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts naturgemäß bestimmte Sachziele verfolgen; es geht nicht (jedenfalls heute nicht mehr)247 um den Binnenmarkt als solchen, sondern um den Binnenmarkt in bestimmten Sachbereichen.248 Allgemein anerkannt ist deshalb, dass mit einem auf Art. 114 AEUV gestützten Rechtsakt grundsätzlich auch andere Ziele verfolgt werden dürfen; dies zeigt schon die Schutzniveauklausel des Art. 114 Abs. 3 AEUV.249 a) Die Behandlung des Problems in der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH befasste sich mit dem Problem im Rahmen zahlreicher Nichtigkeitsklagen, in denen entweder Unionsorgane250 oder Mitgliedstaaten251 die fehlerhafte Wahl der Rechtsgrundlage rügten; die Frage stellte sich auch im Rahmen einiger Vorabentscheidungsverfahren252. Es wurde vorgebracht, dass der Rechtsakt neben einer sachspezifischen Kompetenzgrundlage zusätzlich auf die Binnenmarktkompetenz253, neben der Binnenmarktkompetenz zusätzlich auf eine
245 Welti, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 85 (87). 246 Vgl. Denkhaus, Gesundheitsmärkte im Mehrebenensystem, 2011, S. 141 ff. 247 Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 68. 248 Ausführlich Möstl, EuR 2002, 318 (324 ff.); ferner Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 47. 249 Vgl. EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 24; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 48. Ferner Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629 (631). 250 EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867; EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529; EuGH, 17.3.1993 – C-155/91 – Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939; EuGH, 23.2.1999 – C-42/97 – Parlament/Rat, Slg. 1999, I-869; EuGH, 11.9.2003 – C-211/01 – Kommission/Rat, Slg. 2003, I-8913; EuGH, 29.4.2004 – C-338/01 – Kommission/Rat, Slg. 2004, I-4829. Vgl. ferner EuGH, 27.9.1988 – C-165/87 – Kommission/Rat, Slg. 1988, 5545 (im Zusammenhang mit Art. 113 EWGV). 251 EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419; EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079; EuGH, 12.12.2006 – C-380/03 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573. Nicht im Zusammenhang mit der Binnenmarktkompetenz EuGH, 30.01. 2001 – C-36/98 – Spanien/Rat, Slg. 2001, I-779. 252 EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453; EuGH, 14.12.2004 – C-210/03 – Swedish Match, Slg. 2004, I-11893; EuGH, 12.7.2005 – C-154/04 – Alliance for Natural Health u. a., Slg. 2005, I-6451; EuGH, 8.6.2010 – C58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999. 253 EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Rn. 6.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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weitere Kompetenzgrundlage254, allein auf die Binnenmarktkompetenz255 oder überhaupt nicht auf die Binnenmarktkompetenz256 hätte gestützt werden müssen. Der EuGH stellte in seinen Entscheidungen fest, dass der Rechtsakt nicht zusätzlich auf die Binnenmarktkompetenz257, allein auf die Binnenmarktkompetenz258 oder überhaupt nicht auf die Binnenmarktkompetenz259 zu stützen war. Der EuGH überprüft in seinen Entscheidungen die Wahl der Rechtsgrundlage. In ständiger Rechtsprechung betont er, dass sich die Wahl der Rechtsgrundlage auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muss, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.260 Ergibt die Prüfung eines unionalen Rechtsakts, dass er zwei Ziele verfolgt oder zwei Komponenten hat, wendet der EuGH die sog. Schwerpunkttheorie an: Hiernach ist ein Rechtsakt nur auf die Rechtsgrundlage zu stützen, die der wesentlichen oder überwiegenden Zielsetzung oder Komponente des Rechtsakts entspricht. Nur dann, wenn dargetan ist, dass mit dem Rechtsakt gleichzeitig mehrere Ziele verfolgt werden, 254 EuGH, 23.2.1999 – C-42/97 – Parlament/Rat, Slg. 1999, I-869, 35 (im Zusammenhang mit Art. 130 EGV); EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 25, 58; EuGH, 14.12.2004 – C-210/03 – Swedish Match, Slg. 2004, I-11893, Rn. 27. 255 EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 4; EuGH, 17.3.1993 – C-155/91 – Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 5; EuGH, 29.4.2004 – C-338/01 – Kommission/Rat, Slg. 2004, I-4829, Rn. 19, 59 (im Verhältnis Art. 95 EG – Art. 93/94 EG). 256 EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I8419, Rn. 12 (gleichlaufend für Art. 57 Abs. 2 sowie Art. 66 EGV); EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 13; EuGH, 11.9.2003 – C-211/01 – Kommission/Rat, Slg. 2003, I-8913, Rn. 15, 42 (für Art. 93 EG); EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 25, 58; EuGH, 12.7.2005 – C-154/04 – Alliance for Natural Health u. a., Slg. 2005, I-6451, Rn. 24 f.; EuGH, 12.12.2006 – C-380/03 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 17. 257 EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Rn. 17 f. 258 EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 25; EuGH, 23.2.1999 – C-42/97 – Parlament/Rat, Slg. 1999, I-869, 64 (im Zusammenhang mit Art. 130 EGV); EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 29; EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 91, 97; EuGH, 14.12.2004 – C-210/03 – Swedish Match, Slg. 2004, I-11893, Rn. 41 ff.; EuGH, 12.7.2005 – C-154/04 – Alliance for Natural Health u. a., Slg. 2005, I-6451, Rn. 42; EuGH, 12.12.2006 – C-380/03 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 88. 259 EuGH, 17.3.1993 – C-155/91 – Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 19 ff.; EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 115 (gleichlaufend für Art. 57 Abs. 2 sowie Art. 66 EGV); EuGH, 11.9.2003 – C211/01 – Kommission/Rat, Slg. 2003, I-8913, Rn. 50; EuGH, 29.4.2004 – C-338/01 – Kommission/Rat, Slg. 2004, I-4829, Rn. 77 (im Verhältnis Art. 95 EG – Art. 93/94 EG). 260 St. Rspr., bereits EuGH, 26.3.1987 – C-45/86 – Kommission/Rat, Slg. 1987, 1493, Rn. 11; ferner EuGH, 10.2.2009 – C-301/06 – Irland/Parlament und Rat, Slg. 2009, I-593, Rn. 60.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
die untrennbar miteinander verbunden sind, ohne dass das eine im Verhältnis zum anderen zweitrangig ist und mittelbaren Charakter hat, kann nach der Rechtsprechung des EuGH ein solcher Rechtsakt ausnahmsweise auf die verschiedenen einschlägigen Rechtsgrundlagen gestützt werden.261 Eine Häufung der beiden Rechtsgrundlagen sei jedoch ausgeschlossen, wenn die für sie jeweils vorgesehenen Verfahren miteinander unvereinbar seien.262 Wie sich aus einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH ergibt, spricht gegen die Vereinbarkeit aber nicht schon die Unterschiedlichkeit der Verfahren, solange nur die jeweiligen Anforderungen gesetzgebungstechnisch eingehalten werden können;263 in einem solchen Fall sind die jeweils intensivsten Mitwirkungsrechte der Unionsorgane zu beachten.264 b) Differenzierung zwischen Kompetenz der Union und Wahl der Rechtsgrundlage Um Klarheit in Bezug auf das Rechtsproblem der Kompetenzprüfung eines Rechtsakts, der mehrere Ziele verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst, zu gewinnen, sind zwei grundlegende Fragen voneinander zu trennen: Einerseits, ob die Union die Kompetenz für den Erlass des Rechtsakts besitzt, und andererseits, ob der Rechtsakt zutreffend auf die gewählte Rechtsgrundlage oder die gewählten Rechtsgrundlagen gestützt worden ist. Zunächst stellt sich die Frage, ob sämtliche inhaltliche Regelungen des Rechtsakts von der Unionskompetenz umfasst sind. Dieses Erfordernis ergibt sich zwingend aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV), wonach die Union nur innerhalb der Grenzen der ihr übertragenen Zuständigkeiten tätig wird; alle nicht übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Dies bedeutet, dass die Union keine Sachmaterie regeln darf, für die ihr kein Kompetenzrecht265 übertragen wurde. Das Prinzip entfaltet 261 St. Rspr., EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 94. Zuerst textbausteinmäßig in EuGH, 30.1.2001 – C-36/98 – Spanien/ Rat, Slg. 2001, I-779, Rn. 59; zuvor inhaltlich entwickelt in EuGH, 23.2.1999 – C-42/ 97 – Parlament/Rat, Slg. 1999, I-869, 39 ff. Dagegen noch ohne Schwerpunktgedanken EuGH, 27.9.1988 – C-165/87 – Kommission/Rat, Slg. 1988, 5545, Rn. 11; EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 17. Kritisch zur Schwerpunkttheorie etwa Kahl, in: FS Scheuing, 2011, S. 92 (105 ff.). 262 Grundlegend EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I2867, Rn. 18 ff.; ferner EuGH, 29.4.2004 – C-338/01 – Kommission/Rat, Slg. 2004, I4829, Rn. 57. 263 Vgl. EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 79. 264 Vgl. EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 79; EuGH, 3.9.2009 – C-166/07 – Parlament/Rat, Slg. 2009, I-7135, Rn. 69; v. Danwitz, in: Dauses, B. II. Rn. 143. 265 Ggf. auch unter Hinzuziehung der sog. Implied-Powers-Doktrin, vgl. König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 8 f.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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seine primäre Bedeutung für die Frage der Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union.266 Es ist also zu überprüfen, ob sich die Regelungen eines Rechtsakts auf ein Kompetenzrecht der Union, also auf eine oder mehrere Rechtsgrundlagen stützen lassen. Wird die Kompetenz der Union bejaht, kann sich in einem zweiten Schritt die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage stellen, ob also der Rechtsakt zutreffend auf die gewählte Rechtsgrundlage oder die gewählten Rechtsgrundlagen gestützt worden ist. Die Wahl der Rechtsgrundlage hat insbesondere Bedeutung für das Rechtsetzungsverfahren; nach ihr richten sich die Organkompetenz, die möglichen Handlungsformen sowie die Anforderungen an das Verfahren.267 Die Frage ist aber nur zu beantworten, wenn mehrere Rechtsgrundlagen für den Rechtsakt einschlägig sind. c) Kritische Auseinandersetzung mit der Literatur In der Literatur wird das Problem der Kompetenzabgrenzung und der Wahl der Rechtsgrundlage ausführlich behandelt. In Bezug auf das Rechtsproblem wird verbreitet zwischen vertikaler und horizontaler Kompetenzabgrenzung unterschieden.268 Das Begriffspaar der vertikalen und horizontalen Kompetenzabgrenzung wird gleichbedeutend mit dem Begriffspaar der Verbands- und Organkompetenz verwendet.269 Inhaltlich sollen die Begriffe der vertikalen Kompetenzabgrenzung bzw. der Verbandskompetenz danach fragen, ob der Union im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten überhaupt ein Kompetenzrecht zukommt. Dagegen meint die horizontale Kompetenzabgrenzung bzw. die Organkompetenz die Frage, welche Organe an dem Rechtsetzungsverfahren zu beteiligen sind. Da sich letztgenannte Frage entsprechend dem System der Unionskompetenzen danach richtet, auf welche Rechtsgrundlage ein Rechtsakt gestützt ist,270 wird dem Begriff der horizontalen Kompetenzabgrenzung gleichsam die Bedeutung beigemessen, auf welche von mehreren Rechtsgrundlagen ein Rechtsakt zu stützen ist.271 Diese Differenzierung zugrunde gelegt wird vorgebracht, dass es bei der vertikalen Kompetenzabgrenzung allein darum gehe, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Kompetenzgrundlage vorlägen; es seien nur Exklusivi-
266 Vgl. v. Danwitz, in: Dauses, B. II. Rn. 3. Zu den weiteren Bedeutungsgehalten des Prinzips: König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 6. 267 Vgl. Nettesheim, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 435. 268 Vgl. nur Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 81. 269 Vgl. Bock, Rechtsangleichung, 2005, S. 227; König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 14. 270 Vgl. König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 14. 271 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 81.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
tätsverhältnisse denkbar, die Frage eines Konkurrenzverhältnisses stelle sich nur im Rahmen der horizontalen Kompetenzabgrenzung.272 Die Begrifflichkeiten helfen jedoch in der Sachfrage nicht weiter.273 Neben einer uneinheitlichen und ungenauen Verwendung274 sind insbesondere die hieraus abgeleiteten Konsequenzen für die Kompetenzprüfung zu kritisieren. Denn den Ausgangspunkt einer Kompetenzprüfung bildet die Fragestellung, ob ein Rechtsakt rechtmäßig ergangen ist. Hierfür ist zum einen zu untersuchen, ob ein Kompetenzrecht der Union besteht, konkret: ob sich der Rechtsakt auf eine oder mehrere Rechtsgrundlagen stützen lässt, und zum anderen, auf welche konkrete Rechtsgrundlage der Rechtsakt zu stützen ist.275 Beide Fragen sind für die Kompetenzprüfung relevant, da sowohl das Fehlen eines Kompetenzrechts der Union als auch die Wahl einer falschen Rechtsgrundlage zur Nichtigkeit des Rechtsakts führen können.276 So bildet auch für den EuGH die Frage, ob sich ein Rechtsakt auf die gewählte Rechtsgrundlage bzw. die gewählten Rechtsgrundlagen stützen lässt, den Ausgangspunkt seiner Prüfung. Der Gerichtshof unterscheidet zwischen der Frage des Bestehens eines Kompetenzrechts und der Wahl der Rechtsgrundlage.277 Hingegen wird nicht danach unterschieden, ob sich die Kompetenzfrage in einem vertikalen oder in einem horizontalen Verhältnis stellt; dies belegen die Entscheidungen des EuGH, in denen auch in vertikalen Verhältnissen die Wahl der Kompetenzgrundlage unter Anwendung der Schwerpunkttheorie geprüft wur-
272 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 81; Tietje, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 125. 273 Diesbezüglich kritisch auch Schwartz, Die Wahl der Rechtsgrundlage, 2013, S. 124. 274 Es wird sowohl von vertikaler und horizontaler „Kompetenzabgrenzung“ (Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 81), als auch von „Kompetenzkonflikt“ (Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 124 ff.; v. Danwitz, in: Dauses, B. II. Rn. 141), als auch von „Kompetenzstreitigkeit“ (Bock, Rechtsangleichung, 2005, S. 227) gesprochen; die verwendeten Begriffsdefinitionen unterscheiden sich inhaltlich voneinander. 275 Vgl. zu diesem Zweischritt: EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Rn. 8 ff., 15. ff.; EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 63 ff., 92 ff.; EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 67 und 68. 276 Bei Wahl der falschen Rechtsgrundlage jedenfalls dann, wenn dies zur Rechtswidrigkeit des Verfahrens führt, vgl. EuGH, 14.12.2004 – C-210/03 – Swedish Match, Slg. 2004, I-11893, Rn. 44. Als Beispiele für die Nichtigkeit aufgrund fehlerhafter Wahl der Rechtsgrundlage vgl. EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 84 f.; EuGH, 3.9.2009 – C-166/07 – Parlament/Rat, Slg. 2009, I7135, Rn. 69 f. 277 Dies geht anschaulich hervor aus EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 67 und 68. Zu der gedanklichen Trennung auch schon EuGH, 11.6.1991 – C-300/89 – Kommission/Rat, Slg. 1991, I-2867, Rn. 17.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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de.278 Die Wahl der Rechtsgrundlage ist somit sowohl im vertikalen als auch im horizontalen Verhältnis von entscheidender Bedeutung,279 da sich hiernach die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren bestimmen. Richtig bleibt, dass die Frage der Wahl der Rechtsgrundlage nicht relevant ist, wenn allein die Verbandskompetenz der Union überprüft wird; dann reicht es, wenn die Union überhaupt ein Kompetenzrecht besitzt. In diesem Fall entfällt folgerichtig auch das Bedürfnis zur Anwendung der Schwerpunkttheorie. Allerdings stellt sich bei der kompetenzrechtlichen Überprüfung eines Rechtsakts die Frage nach der Verbandskompetenz niemals losgelöst; es ist vielmehr zu prüfen, ob der Rechtsakt auf die gewählte Rechtsgrundlage oder die gewählten Rechtsgrundlagen gestützt werden durfte. d) Die Prüfungsschritte Bei der Kompetenzprüfung ist somit nicht zwischen einem vertikalen und einem horizontalen Verhältnis zu differenzieren, sondern zunächst das Bestehen einer Kompetenz der Union und anschließend gegebenenfalls die Wahl der Rechtsgrundlage zu prüfen. aa) Kompetenz der Union für den Erlass des Rechtsakts Verfolgt ein Rechtsakt mehrere Ziele oder umfasst er mehrere Komponenten, ist fraglich, welche Folgen dies für das Kompetenzrecht der Union hat. Aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV) müssen sämtliche inhaltliche Regelungen eines Rechtsakts von einem Kompetenzrecht der Union gestützt sein. Nicht vorstellbar wäre, dass die Union jede Sachmaterie „beiläufig“ mitregeln könnte, solange nur der „Schwerpunkt“ des Rechtsakts von einem Kompetenzrecht umfasst ist.280 Für die Frage des Bestehens einer Unionskompetenz sind vier Ergebnisse denkbar: Entweder es besteht ein Kompetenzrecht für den Rechtsakt alternativ aus verschiedenen Rechtsgrundlagen, kumulativ aus mehreren Rechtsgrundlagen, nur aus einer Rechtsgrundlage oder es besteht aus Mangel einer Rechtsgrundlage kein Kompetenzrecht. Nur im letzten Fall fehlt es an der Verbandskompetenz der 278 Vgl. EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rn. 26 f.; EuGH, 30.01.2001 – C-36/98 – Spanien/Rat, Slg. 2001, I-779, Rn. 59; EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I11453, Rn. 94. 279 Zutreffend König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 14. 280 So ausdrücklich Schlussanträge GA Kokott, 26.3.2009 – C-13/07 – Kommission/ Rat, Rn. 113 [abrufbar unter www.curia.eu]. Ferner Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 114 Rn. 22.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Union. In allen anderen Fällen hängt die Rechtmäßigkeit des Rechtsakts von der zutreffenden Wahl der Rechtsgrundlage ab. (1) Verfolgung weiterer Ziele im Rahmen von Art. 114 AEUV Stützt der Unionsgesetzgeber einen Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 AEUV, ist die Heranziehung weiterer Rechtsgrundlagen nicht schon deswegen erforderlich, weil mit dem Rechtsakt weitere Ziele verfolgt werden. Vielmehr ist die Verfolgung bestimmter Ziele im Rahmen der Binnenmarktkompetenz ausdrücklich vorgesehen. Für den Bereich der Gesundheit enthält das Primärrecht diesbezügliche Vorgaben: So folgt aus Art. 114 Abs. 3 AEUV eine Rechtspflicht281 der genannten Beteiligten, das Ziel eines hohen Schutzniveaus im Bereich der Gesundheit zu verfolgen. Auch die Querschnittsklausel des Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV bestimmt, dass bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt wird. Hierin liegt ein rechtlich verbindlicher Handlungsauftrag zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus bei der Kompetenzausübung in anderen Bereichen.282 In Art. 35 S. 2 GR-Charta wird diese Querschnittsklausel wiederholt. Ein entsprechender Auftrag ist ferner – wenn auch abgeschwächt – in der politischen Sozialklausel des Art. 9 AEUV enthalten.283 Somit können im Zusammenhang mit Maßnahmen, die sich auf die Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV stützen, kompetenzrechtlich ausdrücklich bestimmte Ziele mitverfolgt werden, ohne dass es hierzu eines zusätzlichen Kompetenzrechts der Union bedürfte, wenn diese mitverfolgten Ziele von der primärrechtlichen Kompetenzordnung als solche anerkannt werden. Die Binnenmarktkompetenz erschließt auf diese Weise „auch eine Kompetenz zur gestalterischen Verfolgung der jeweils betroffenen Sachziele“ 284. Voraussetzung muss jedoch sein, dass das weitere Ziel bei Verfolgung des Binnenmarktziels verfolgt wird. Auf das Erfordernis eines solchen Sachzusammenhangs zwischen Binnenmarktziel und mitverfolgtem Ziel weist der jeweilige Wortlaut der Normen hin: So bezieht Art. 114 Abs. 3 AEUV das hohe Schutzniveau im Bereich der Gesundheit auf die Vorschläge „nach Abs. 1“. Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verpflichtet zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus „bei“ der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken. Gleiches gilt für Art. 35 S. 2 GR-Charta und Art. 9 AEUV. Diese Vorgaben im Wortlaut der Bestimmungen werden von teleologischen Überlegungen gestützt: Denn 281
Vgl. Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 73. Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 2; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 84. 283 Hierzu Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 9 AEUV Rn. 17, 34; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 82. 284 Möstl, EuR 2002, 318 (343). 282
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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könnten die weiteren Ziele losgelöst von den Zielen verfolgt werden, die ein Kompetenzrecht der Union begründen, käme den zitierten Normen gleichsam die Wirkung eines eigenen Kompetenzrechts zu. Eine solche Annahme wäre aber mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV) nicht vereinbar. Hieraus folgt, dass für den notwendigen Zusammenhang nicht alleine der formale Rahmen eines einheitlichen Rechtsakts ausreichend sein kann. Es unterläge der Willkür des Gesetzgebers, zwei voneinander unabhängige Regelungsmaterien entweder zusammen in einem Rechtsakt oder gesondert in unterschiedlichen Rechtsakten zu erlassen. Um das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht leerlaufen zu lassen, muss daher das weitere Ziel im Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel mitverfolgt werden. (2) Gewichtigkeit von Binnenmarktziel und mitverfolgtem Ziel Fragwürdig ist, ob dem Binnenmarktziel im Verhältnis zum mitverfolgten Ziel ein bestimmtes Gewicht zukommen muss, damit das Kompetenzrecht aus Art. 114 Abs. 1 AEUV begründet ist. So wird in der Literatur gefordert, dass das Ziel der Verwirklichung des Binnenmarkts nicht bloß ein beiläufiges oder ergänzendes Ziel, sondern das „Hauptziel“ oder den „Schwerpunkt“ einer Regelung bilden müsse.285 Dieses Erfordernis wird als tatbestandliche Voraussetzung der Binnenmarktkompetenz verstanden.286 Dieses Verständnis mag aus früheren Urteilen des EuGH herrühren, in denen der Gerichtshof festgestellt hatte, dass ein Rückgriff auf die Binnenmarktkompetenz nicht gerechtfertigt sei, wenn der zu erlassende Rechtsakt nur nebenbei eine Harmonisierung der Marktbedingungen bewirke.287 Jedoch hatte der EuGH dieses Kriterium bei der Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage entwickelt, das Kriterium diente der „Ermittlung der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts, die dessen Erlass zugrunde zu legen ist“.288 Es ging insbesondere um die Frage, ob der Unionsgesetzgeber den Rechtsakt (zusätzlich) auf die Binnenmarktkompetenz stützen musste,289 nicht jedoch darum, welche tatbestandlichen Voraussetzungen die Binnenmarktkompetenz hat. 285 Von „Schwerpunkt“ sprechend: Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 47; wohl auch: Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 90; von „Hauptziel“ sprechend: Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 129. 286 So ausdrücklich Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 128 f.; so wohl auch das Verständnis von Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 84 f. 287 Vgl. EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Rn. 17; EuGH, 17.3.1993 – C-155/91 – Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 19. 288 EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I7079, Rn. 27 f. 289 Vgl. EuGH, 4.10.1991 – C-70/88 – Parlament/Rat, Slg. 1991, I-4529, Rn. 17; insbesondere EuGH, 17.3.1993 – C-155/91 – Kommission/Rat, Slg. 1993, I-939, Rn. 19.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
Überzeugend kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH von der Binnenmarktkompetenz auch dann Gebrauch gemacht werden, wenn dem weiteren Ziel – konkret: dem Gesundheitsschutz – bei den zu treffenden Entscheidungen maßgebende Bedeutung zukommt; Voraussetzung ist nur, dass die Maßnahme tatsächlich der Verbesserung der Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarktes dient.290 Es liegt in der unterschiedlichen Natur von funktionaler Binnenmarktkompetenz und sachgebietsbezogener Sektorkompetenz begründet, dass ein hohes Maß an sachgebietsbezogener Zielsetzung einer Maßnahme nicht ausschließt, dass auf diese Weise funktional das Binnenmarktziel verwirklicht wird.291 Vielmehr stellen „Binnenmarktziel und Sachziel nach der Konstruktion der Binnenmarkt-Harmonisierungskompetenzen zwei notwendig kumulativ zu verfolgende und jeweils auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Ziele“ 292 dar. Die Gewichtigkeit des mitverfolgten Ziels ist somit für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV irrelevant.293 (3) Zwischenergebnis Die Verfolgung weiterer Ziele im Rahmen der Binnenmarktkompetenz ist von der primärrechtlichen Kompetenzordnung (insbesondere Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV) ausdrücklich vorgesehen. Voraussetzung ist, dass es sich um ein nach Maßgabe der Kompetenzordnung mitverfolgbares Ziel handelt und dass dieses im Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel verfolgt wird. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist nicht Voraussetzung für das Kompetenzrecht aus Art. 114 Abs. 1 AEUV, dass dem Binnenmarktziel im Verhältnis zum mitverfolgten Ziel ein besonderes Gewicht zukommt. bb) Wahl der Rechtsgrundlage Die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage, also die „Ermittlung der Rechtsgrundlage eines Rechtsakts, die dessen Erlass zugrunde zu legen ist“,294 290 St. Rspr., EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 88; EuGH, 10.12.2002 – C-491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453, Rn. 62, 75; EuGH, 12.12.2006 – C-380/03 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 39. Zur Einordnung dieser Anforderung: Möstl, EuR 2002, 318 (334 ff., 340). 291 Zutreffend Schlussanträge GA Fennelly, 15.6.2000 – C-376/98 – Deutschland/ Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 64 ff.; Denkhaus, Gesundheitsmärkte im Mehrebenensystem, 2011, S. 142, der jedoch für die Abgrenzung und Begrenzung der Binnenmarktkompetenz auf das „Hauptziel“ der Maßnahme abstellt, vgl. S. 142 ff., 148 f. 292 Möstl, EuR 2002, 318 (327). 293 Ebenso Möstl, EuR 2002, 318 (328, 339). 294 EuGH, 9.10.2001 – C-377/98 – Niederlande/Parlament und Rat, Slg. 2001, I7079, Rn. 27.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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stellt sich nicht schon dann, wenn ein Rechtsakt mehrere Ziele verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst. Ein Rechtsakt, der keine Rechtsgrundlage findet, bei dem also schon die Verbandskompetenz fehlt, ist von vornherein nichtig. Auch in dem Fall, in dem nur eine einzige Kompetenznorm tatbestandlich einschlägig ist, stellt sich die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage nicht:295 Ist der Rechtsakt auf diese Kompetenzgrundlage gestützt, ist er rechtmäßig; wurde hingegen die falsche Rechtsgrundlage gewählt, ist der Rechtsakt – trotz Bestehens einer Verbandskompetenz – nichtig. (1) Häufung von Rechtsgrundlagen Die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage stellt sich damit nur, wenn ein Kompetenzrecht alternativ aus verschiedenen Rechtsgrundlagen oder kumulativ aus mehreren Rechtsgrundlagen abgeleitet wird.296 Zu einer Häufung von Rechtsgrundlagen kann es sowohl im Hinblick auf eine einzelne Sachregelung als auch im Hinblick auf den gesamten Rechtsakt kommen. Ein alternatives Verhältnis zwischen verschiedenen Rechtsgrundlagen besteht, wenn sich ein Rechtsakt oder eine einzelne Regelung vollumfänglich sowohl auf die eine, als auch auf eine andere Kompetenznorm stützen lässt. Zu beachten ist, dass ein alternatives Verhältnis nicht gegeben ist, wenn eine Rechtsgrundlage gegenüber der anderen subsidiär ist; dann wirkt nur die vorrangige Norm kompetenzbegründend und kann bei der Wahl der Rechtsgrundlage berücksichtigt werden.297 Zu einer Kumulation mehrerer Rechtsgrundlagen kommt es, wenn aufgrund der verschiedenartigen Zielsetzungen eines Rechtsakts oder einer einzelnen Regelung nicht die Heranziehung einer einzigen Kompetenznorm zur Begründung der Unionskompetenz ausreicht.298 Ist die kumulative Heranziehung mehrerer Kompetenznormen nötig, spielen – im Unterschied zum alternativen Verhältnis – vertragliche Vorrangverhältnisse keine Rolle. In einem solchen Fall sind vielmehr beide Rechtsgrundlagen zur Begründung der Kompetenz erforderlich, ohne dass eine Norm von der anderen verdrängt werden könnte.299 Im primärrechtlichen Kompetenzsystem ist in solchen Fällen der Häufung von Rechtsgrundlagen grundsätzlich eine Rechtsgrundlage für den ganzen Rechts-
295 Zutreffend Bock, Rechtsangleichung, 2005, S. 228; Schwartz, Die Wahl der Rechtsgrundlage, 2013, S. 82 f. 296 In diesem Sinne Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 114 Rn. 24. 297 Das Vorrangverhältnis berücksichtigend EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 34. 298 Als Beispiele EuGH, 6.11.2008 – C-155/07 – Parlament/Rat, Slg. 2008, I-8103, Rn. 67; EuGH, 3.9.2009 – C-166/07 – Parlament/Rat, Slg. 2009, I-7135, Rn. 66. 299 So in EuGH, 3.9.2009 – C-166/07 – Parlament/Rat, Slg. 2009, I-7135, Rn. 69.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
akt zu wählen, weil sich nach der Rechtsgrundlage die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren richten.300 (2) Auflösung der Normenkonkurrenz In den Fällen also, in denen verschiedene Rechtsgrundlagen alternativ ein Kompetenzrecht begründen, ohne dass eine Norm Vorrang vor der anderen hätte, sowie in den Fällen, in denen für die Begründung des Kompetenzrechts mehrere Rechtsgrundlagen kumulativ erforderlich sind, entsteht das Problem der Normenkonkurrenz301. Für die Auflösung der Normenkonkurrenz kann nicht auf die im Primärrecht geregelten Vorrangverhältnisse der Kompetenznormen zurückgegriffen werden. Denn diese sind im Fall eines alternativen Verhältnisses bereits berücksichtigt, in den Fällen der Kumulation können die Vorrangverhältnisse keine interessengerechte Auflösung leisten, weil in der Regel die Norm verdrängt würde, die als unspezifischere Norm erhöhte Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren vorsieht, es also immer zu einem Absinken der Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren käme.302 Daher stellt sich die Normenkonkurrenz bei der Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage stets als echte Normenkonkurrenz303 dar. Zur Auflösung einer echten Normenkonkurrenz kennt die juristische Methodik verschiedene Mittel: Ein Spezialitätsverhältnis lässt sich allerdings bei Kompetenznormen aus verschiedenen Sachbereichen regelmäßig nicht annehmen.304 Ebenso kann das Konkurrenzverhältnis nicht mithilfe eines Rangverhältnisses oder anhand einer zeitlichen Reihenfolge aufgelöst werden. Es bleibt somit in diesen Fällen die Auflösung des Konkurrenzverhältnisses mithilfe teleologischer Erwägungen;305 es kommt auf den Sinn und Zweck der Regelungen und die hinter ihnen stehenden Wertungen an.306 Diese teleologischen Erwägungen sind im Unionsrecht vor dem Hintergrund zu sehen, dass eine klare Zuordnung eines Rechtsakts zu einer Kompetenznorm ermöglicht werden muss, damit die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfah300
Vgl. Nettesheim, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 435. Zur Terminologie Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 88 Fn. 28; hiernach lässt sich der Ausdruck „Normenkonkurrenz“ für alle Fälle des Zusammentreffens mehrerer Rechtssätze verwenden. 302 Siehe zu einem solchen Fall EuGH, 3.9.2009 – C-166/07 – Parlament/Rat, Slg. 2009, I-7135, Rn. 69. 303 Im Unterschied zu einer sog. scheinbaren Normenkonkurrenz, vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 30, bei der das Gesetz ein Vorrangverhältnis ausdrücklich vorsieht. 304 Für das Verhältnis zwischen Art. 192 und Art. 114 AEUV siehe Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 90. 305 Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32. 306 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 89. 301
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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ren gewahrt werden können. Dem dient die vom EuGH entwickelte Schwerpunkttheorie: Der Rechtsakt ist der Kompetenznorm zuzuordnen, die der wesentlichen oder überwiegenden Zielsetzung entspricht. Das Rechtsetzungsverfahren bestimmt sich dann nach der Kompetenzgrundlage für die Regelungen, die dem Rechtsakt sein Gepräge geben. Nur wenn sich ein solcher Schwerpunkt nicht ermitteln lässt, kann ein Rechtsakt auf mehrere Rechtsgrundlagen gestützt werden, vorausgesetzt, die Verfahren sind miteinander vereinbar.307 e) Zwischenergebnis Verfolgt ein Rechtsakt mehrere Ziele oder umfasst er mehrere Komponenten, ist für die kompetenzrechtliche Beurteilung nach hier vertretener Auffassung grundlegend zwischen zwei Fragen zu unterscheiden: Erstens, ob die Union die Kompetenz für den Erlass des Rechtsakts besitzt, und zweitens, auf welche Rechtsgrundlage ein Rechtsakt zu stützen ist. Zunächst ist das Kompetenzrecht der Union zu überprüfen. Im Rahmen der Binnenmarktkompetenz ist die Verfolgung weiterer Ziele von der primärrechtlichen Kompetenzordnung ausdrücklich vorgesehen; Voraussetzung ist, dass das mitverfolgbare Ziel im Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel verfolgt wird. Für die Begründung des Kompetenzrechts aus Art. 114 Abs. 1 AEUV ist hingegen nicht Voraussetzung, dass dem Binnenmarktziel im Verhältnis zum mitverfolgten Ziel ein besonderes Gewicht zukommt. Die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage stellt sich erst, wenn ein Kompetenzrecht für einen Rechtsakt alternativ aus verschiedenen Rechtsgrundlagen oder kumulativ aus mehreren Rechtsgrundlagen abgeleitet wird. In solchen Fällen ist grundsätzlich nur eine Rechtsgrundlage für den gesamten Rechtsakt zu wählen, weil sich hiernach die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren richten. Für die Auflösung der in diesen Fällen entstehenden echten Normenkonkurrenz ist nach der juristischen Methodik eine teleologische Betrachtung vorzunehmen. Dem entspricht die vom EuGH entwickelte Schwerpunkttheorie. 5. Schranken der Kompetenzausübung Die Ausübung der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV kann nicht schrankenlos zulässig sein. Gerade weil Art. 114 Abs. 1 AEUV eine finale Querschnittskompetenz darstellt, die keine sachgegenständliche Eingrenzung im Tatbestand erfährt,308 müssen dem Primärrecht Schranken zu entnehmen sein. Solche Schranken können sich aus den mit der Binnenmarktkompetenz korres307 Zu den Einzelheiten dieser Rechtsprechungsgrundsätze bereits oben unter C. I. 4. a), S. 162 ff. 308 Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 126.
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pondierenden Grundfreiheiten oder den Unionsgrundrechten ergeben; auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität führen zu Beschränkungen bei der Kompetenzausübung.309 a) Art. 168 Abs. 7 AEUV Eine Kompetenzausübungsgrenze stellt auch Art. 168 Abs. 7 AEUV dar.310 Hiernach wird „bei der Tätigkeit der Union [. . .] die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt. Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel.“ Schutzgut der Vorschrift ist die souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in den von der Vorschrift genannten Bereichen;311 gesichert wird das mitgliedstaatliche Gesundheitssystem in seiner konkreten Ausgestaltung.312 Nicht ausgeschlossen ist aber, dass die Mitgliedstaaten aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben in gewissem Umfang Anpassungen in ihren nationalen Systemen vornehmen müssen.313 Uneinigkeit besteht hinsichtlich der Frage, ob die Kompetenzschranke nur für die in Art. 168 AEUV eingeräumten Kompetenzen314 oder darüber hinaus für alle Tätigkeiten der Union, insbesondere bei der Kompetenzausübung in anderen Bereichen, gilt315. Für letzteres Verständnis spricht eine historisch-genetische Betrachtung: Während sich die Vorgängervorschrift des Art. 152 Abs. 5 S. 1 EG lediglich auf die „Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung“ bezog, wird nun insgesamt die „Tätigkeit der Union“ erfasst.316 Gegen diese Meinung wird die systematische Stellung der Regelung am Ende des Art. 168 AEUV angeführt.317 Teleologische Erwägungen sprechen hingegen für 309 Zu diesen Grenzen: Denkhaus, Gesundheitsmärkte im Mehrebenensystem, 2011, S. 151 ff. 310 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 10, 78. Hierzu und zur nachfolgenden Diskussion bereits oben Kap. 1 E. I. 4. d), S. 90 f. 311 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 147; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 312 Vgl. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 74. 313 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 147; EuGH, 27.1.2011 – C-490/09 – Kommission/Luxemburg, Slg. 2011, I-247, Rn. 45. 314 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 79; wohl auch Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 36. 315 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; ferner Ebsen, SdL 2010, 5 (19). 316 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25. 317 Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 36.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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eine allgemeine Geltung der Sicherungsklausel des Art. 168 Abs. 7 AEUV: Vor dem Hintergrund, dass die Binnenmarktkompetenzen final formuliert sind und alle Sachbereiche unterschiedslos erfassen, müssen für die Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten die sachgebietsbezogenen Aussagen des Vertrags berücksichtigt werden. Hierin spiegelt sich das Kompetenzverständnis des Primärrechts am konkretesten wider. Trifft eine Bestimmung wie Art. 168 Abs. 7 AEUV nach dem Wortlaut eine allgemeine Regelung bezüglich der Zuständigkeitsverteilung im Bereich der Gesundheitssysteme, müssen sich sämtliche Maßnahmen der Union hieran messen lassen. Art. 168 Abs. 7 AEUV hätte ferner kaum Bedeutung, wenn sich die Schranke nur auf die Kompetenzen aus Art. 168 Abs. 2–6 AEUV bezöge. Denn eine Wirkung, wie sie Art. 168 Abs. 7 AEUV im Blick hat, ist bei den ergänzenden Zuständigkeiten nach Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 und Abs. 6 kaum denkbar;318 die Kompetenz aus Art. 168 Abs. 4 lit. b AEUV dürfte aus thematischen Gründen ohne Relevanz sein.319 Ein Anwendungsbereich verbliebe nur noch für die Kompetenzen aus Art. 168 Abs. 4 lit. a und c AEUV, die jedoch sachgegenständlich eng begrenzt sind. Dann fragt sich, wieso Art. 168 Abs. 7 AEUV derart allgemein formuliert ist und sämtliche Bereiche, insbesondere die Verantwortung für die Organisation und Verwaltung des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung, umfasst. Ohnehin würde es dem Sinn einer solchen Sicherungsklausel widersprechen, wenn die souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zwar nicht aufgrund eng begrenzter Ermächtigungen im Gesundheitsbereich, dafür aber auf Grundlage sachgegenständlich unbegrenzter Binnenmarktkompetenzen zur Disposition stünde. Für diese allgemeine Geltung des Art. 168 Abs. 7 AEUV lässt sich auch die Rechtsprechung des EuGH anführen. Der Gerichtshof hat selbst die Grundfreiheiten an Art. 168 Abs. 7 AEUV gemessen. Er hat einen Verstoß gegen Art. 168 Abs. 7 AEUV nicht etwa deswegen abgelehnt, weil die Vorschrift im Bereich des Binnenmarkts von vornherein unbeachtlich wäre, sondern weil ein Eingriff in die von Art. 168 Abs. 7 AEUV definierte souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht gegeben war.320 Somit stellt Art. 168 Abs. 7 AEUV eine bei sämtlichen Tätigkeiten der Union zu beachtende Kompetenzausübungsgrenze dar. Ein solches Verständnis hat nicht etwa zur Folge, dass diese Politikbereiche den Anforderungen des Binnenmarkts 318 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 25; Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 21; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 78. 319 Vgl. Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 21. 320 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 144 ff.; EuGH, 27.10.2011 – C-255/09 – Kommission/Portugal, Slg. 2011, I-10547, Rn. 45 ff.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
entzogen wären;321 vielmehr lässt Art. 168 Abs. 7 AEUV derartige Einflussnahmen durchaus zu. Die Vorschrift bildet nur eine äußerste Grenze, über die hinaus der Union der Zugriff auf diesen souveränen mitgliedstaatlichen Zuständigkeitsbereich versagt ist. b) Art. 168 Abs. 5 AEUV Fraglich ist, ob auch Art. 168 Abs. 5 AEUV als eine derartige Schranke verstanden werden kann, ob aus der Vorschrift also ein Harmonisierungsverbot hervorgeht. Die Frage stellt sich im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift, wonach Maßnahmen – unter anderen im Bereich des Schutzes und der Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere im Bereich der Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten – „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung“ zu erfolgen haben. Hieraus könnte man ein generelles Harmonisierungsverbot für diesen Regelungsbereich entnehmen. Dennoch ist herrschende Auffassung, dass die Vorschrift einer Rechtsangleichung auf Grundlage von Art. 114 Abs. 1 AEUV nicht entgegensteht. Zwar können nach Auffassung des EuGH andere Vorschriften des Vertrags grundsätzlich nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um den ausdrücklichen Ausschluss jeglicher Harmonisierung gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV322 zu umgehen.323 Der Gerichtshof betont aber, dass Harmonisierungsmaßnahmen, die auf der Grundlage der Binnenmarktkompetenz erlassen worden sind, durchaus Auswirkungen auf den Schutz der menschlichen Gesundheit haben dürften, solange nur die Voraussetzungen der Binnenmarktkompetenz erfüllt seien.324 Die Auffassung des EuGH findet in der Literatur breite Zustimmung.325 Die Einräumung einer begrenzten Zuständigkeit im Gesundheitsbereich könne nicht dazu führen, dass bestimmte Maßnahmen zur Herstellung des Binnenmarktes zu unterbleiben hätten und durch gesundheitspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten entstandene Wettbewerbsverzerrungen „zementiert“ würden.326 Die
321 Vgl. aber Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 79. 322 Damals Art. 129 Abs. 4 EGV. 323 Vgl. EuGH, 5.10.2000 – C-376/98 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 79. 324 Vgl. EuGH, 12.12.2006 – C-380/03 – Deutschland/Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 95 f. 325 König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 14; Leible/Schröder, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 114 AEUV Rn. 135; Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 106; Schwartz, Die Wahl der Rechtsgrundlage, 2013, S. 159; Strohmayr, Kompetenzkollisionen, 2006, S. 292 ff.; Tietje, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 114 AEUV Rn. 126; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 172. 326 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 106.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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Schutzniveauklausel des Art. 114 Abs. 3 AEUV sowie die Querschnittsklausel des Art. 168 Abs. 1 AEUV machten nur Sinn, wenn die Union auch in den dort genannten Bereichen Rechtsangleichungsmaßnahmen erlassen könne;327 die Harmonisierungsverbote gölten deshalb unmittelbar nur für die damit zusammenhängenden Sachkompetenzen.328 Dem ist zuzustimmen. Unabhängig von der konkreten Regelung des Art. 168 Abs. 5 AEUV ist teleologisch maßgeblich an die Funktion von Kompetenznormen anzuknüpfen: Diese dienen dazu, der Union Kompetenzen zu eröffnen, nicht dagegen dazu, bestehende Kompetenzen zu beschränken. Mag eine Kompetenznorm der Union Befugnisse nur unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung verleihen, lässt sich dies nicht als generelles Harmonisierungsverbot bei der Kompetenzausübung auf Grundlage einer anderen Kompetenznorm auslegen. Auch aus Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV geht hervor, dass sich der Ausschluss der Harmonisierung nur auf die Rechtsakte bezieht, die auf Grundlage der jeweiligen ergänzenden Zuständigkeit ergangen sind.329 Somit begrenzen Harmonisierungsverbote aus Kompetenznormen mit ergänzender Zuständigkeit nicht die Kompetenzausübung auf Grundlage anderer Kompetenznormen.330 6. Anwendung auf die Richtlinie 2011/24/EU Die soeben entwickelten Grundsätze sind auf die Kompetenzprüfung der Richtlinie 2011/24/EU anzuwenden. Es ist zunächst die Kompetenz der Union für den Erlass des Rechtsakts zu ermitteln. Hierfür ist zwischen den unterschiedlichen Regelungsbereichen der Kapitel II–IV zu differenzieren. a) Kapitel III der Richtlinie Die Regelungen der Art. 7–9 kodifizieren die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit in Bezug auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen.331 Wie bereits festgestellt wurde,332 zielen diese Regelungen auf die Verwirklichung des Binnenmarkts ab und können daher auf die Rechtsgrundlage des Art. 114 Abs. 1 AEUV gestützt werden. 327
Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 31; ferner Ebsen, SdL 2010, 5
(11). 328 Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 114 AEUV Rn. 31; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 172. 329 Ebsen, SdL 2010, 5 (18). 330 Ebenso Ebsen, SdL 2010, 5 (17 f.); Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt, 2013, S. 172. 331 Hierzu oben unter B. II., S. 131 ff. 332 Hierzu oben unter C. I. 3. b) bb), S. 161.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
b) Kapitel II der Richtlinie Hinsichtlich der flankierenden Regelungen der Art. 4–6 kommt dem Aspekt der Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus Bedeutung zu, was anschaulich aus Art. 4 Abs. 1 hervorgeht. Die auf die Schlussfolgerungen des Rates vom 22. Juni 2006333 zurückgehende Bestimmung soll das Vertrauen der Patienten in die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung sicherstellen, welches Voraussetzung für die Patientenmobilität und ein hohes Gesundheitsschutzniveau ist.334 Der Unionsgesetzgeber darf dieses Ziel der Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus gemäß Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV zulässigerweise mitverfolgen; es steht in engem sachlichen Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel. Auch die übrigen in Art. 4–6 enthaltenen Bestimmungen dienen der Ermöglichung des Freiverkehrs. Insgesamt schaffen die Regelungen die notwendigen Rahmenbedingungen, die zur Verwirklichung eines Binnenmarkts im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen erforderlich sind. Art. 4–6 lassen sich somit auf Art. 114 Abs. 1 i.V. m. Abs. 3 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV stützen. c) Kapitel IV der Richtlinie Die Regelungen in Art. 12–15 wollen die Vernetzung und Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördern; sie zielen auf die Verbesserung des Gesundheitsschutzniveaus ab,335 hingegen dienen sie nicht der Verwirklichung des Binnenmarkts.336 Mit den Binnenmarktmaßnahmen stehen sie nur aufgrund des formalen Rahmens eines einheitlichen Rechtsakts in Zusammenhang. Jedoch vermag, wie dargelegt wurde,337 der formale Rahmen eines einheitlichen Rechtsakts nicht zu bewirken, dass weitere Ziele im Rahmen der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV mitverfolgt werden können. Vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung müssen solche weiteren Ziele vielmehr im sachlichen Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel verfolgt werden. Ein solcher Zusammenhang besteht zwischen den Regelungen der Art. 12–15 und den Regelungen über die Kostenerstattung (Art. 7–9) nicht. Die unterschiedlichen Regelungen hätten ebenso gut in separa-
333
ABl. C 146 vom 22.6.2006, S. 1–3. Vgl. Erwägungsgründe Nr. 5 S. 2 und 21; Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 13. 335 Vgl. Art. 1 Abs. 1 sowie Erwägungsgründe Nr. 10, 54, 56, 58. 336 Insb. Wollenschläger, EuR 2012, 149 (173, 178, 183), der auf die „Mobilitätsunabhängigkeit“ hinweist; ferner Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629 (633); Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (405 f.); Krajewski, EuR 2010, 165 (183); Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 139. 337 Hierzu oben unter C. I. 4. d) aa) (1), S. 168 f. 334
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ten Rechtsakten ergehen können. Die Art. 12–15 können somit nicht auf die Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 Abs. 1 und 3 AEUV gestützt werden. Hingegen lässt sich für die Regelungen in Art. 10 Abs. 1, 4 und Art. 11 noch ein Binnenmarktbezug feststellen: Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist notwendige Voraussetzung für das Funktionieren des Binnenmarkts in diesem Bereich.338 Die Regelungen über die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Verschreibungen gewährleisten die Nachhaltigkeit einer in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommenen Behandlung.339 Art. 10 Abs. 1, 4 und Art. 11 lassen sich somit auf das Kompetenzrecht aus Art. 114 Abs. 1 i.V. m. Abs. 3 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV stützen. d) Kompetenzausübungsgrenzen Die Kompetenzausübungsgrenze des Art. 168 Abs. 7 AEUV wird von den Maßnahmen nicht berührt.340 Bezüglich der Regelungen über die Kostenerstattung in Kapitel III gelten dieselben Erwägungen, wie sie bereits in Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH dargelegt worden sind.341 Hinzuweisen ist darauf, dass sich auch nach der Folgenabschätzung der Kommission die Folgen der Richtlinie nicht so auswirken, dass sie die Tragfähigkeit oder Planung der Gesundheitssysteme insgesamt gefährden, insbesondere weil die Mitgliedstaaten lediglich die Kosten zu übernehmen haben, die für die Gesundheitsleistung im eigenen Land übernommen worden wären.342 Auch die flankierenden Regelungen in Kapitel II stellen keine Eingriffe in den mitgliedstaatlichen Souveränitätsbereich dar. e) Zwischenergebnis Kapitel II und III sowie die Regelungen in Art. 10 Abs. 1, 4 und Art. 11 lassen sich auf die Binnenmarktkompetenz aus Art. 114 Abs. 1 i.V. m. Abs. 3 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV stützen. Eine alternative Rechtsgrundlage, auf die sich dieser Regelungsbereich ebenfalls stützen ließe, existiert nicht. Bezüglich der Regelungen in Art. 12–15 kann die Binnenmarktkompetenz jedoch kein Kompetenzrecht der Union begründen.
338
Vgl. hierzu KOM(2008) 414 endgültig, S. 21. Vgl. Krajewski, EuR 2010, 165 (181, 183). 340 Diese Grenze wird in Erwägungsgrund Nr. 19 S. 2 ausdrücklich von der Richtlinie anerkannt. 341 Hierzu oben Kap. 1 E. II. 1. b) bb), S. 100 f. 342 Mitteilung der Kommission, KOM(2008) 415 endgültig, S. 11. 339
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
II. Art. 168 Abs. 5 AEUV Es ist daher zu untersuchen, ob ein Kompetenzrecht der Union für Art. 12–15 aus einer anderen Rechtsgrundlage abgeleitet werden kann, so dass die Richtlinie 2011/24/EU kumulativ auf mehrere Rechtsgrundlagen gestützt werden könnte. Gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten [. . .] auch Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten [. . .] erlassen“. Hierbei handelt es sich um eine ergänzende Zuständigkeit gemäß Art. 2 Abs. 5, Art. 6 lit. a AEUV.343 Derartige verbindliche Rechtsakte dürfen gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten. 1. Tatbestandliche Voraussetzungen Art. 168 Abs. 5 AEUV zählt in drei Varianten verschiedene Handlungsfelder auf. Diese Aufzählung enthält zwar die prioritären Tätigkeitsbereiche, ist aber nicht abschließend.344 Denn zum einen sind die Tätigkeitsfelder systematisch im Zusammenspiel mit Art. 168 Abs. 1 UAbs. 2 und 3 sowie Abs. 2 zu sehen; zum anderen stellen sowohl die Aufzählung in Abs. 5 als auch die in Abs. 1 UAbs. 2 und 3 lediglich demonstrative Listen dar.345 Aus der Systematik des Abs. 5 ergibt sich die Differenzierung zwischen „Krankheiten“ und „Gesundheitsgefahren“. Mit dem Begriff Gesundheitsgefahren sollen alle Ursachen menschlicher Gesundheitsgefahren erfasst werden,346 wie beispielsweise auch biologische, chemische und radioaktive Anschläge, radiologische Notsituationen sowie grenzüberschreitende Umweltverschmutzungen347. Der Richtlinie geht es in Art. 12–15 jedoch primär um Krankheiten; somit sind „Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten“ im Sinne des Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV betroffen. Der Begriff „Fördermaßnahmen“ erlaubt nach überzeugender Auffassung grundsätzlich den Zugriff auf alle Handlungsformen des Art. 288 AEUV.348 För343
Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 64. Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 21. 345 Vgl. Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 43. 346 Vgl. Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 20. 347 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 15. 348 Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 32; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 15; Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 44. Die Zulässig344
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dermaßnahmen können sowohl die mitgliedstaatlichen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit inhaltlich unterstützen als auch auf die Initiierung und Stärkung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich abzielen.349 Typischerweise stellen Aktionsprogramme, der Aufbau von Netzwerken und die Einrichtung von Institutionen, die selbst nur fördernd, administrativ und koordinierend, nicht aber verbindlich materiell rechtssetzend tätig sind, sowie auch gezielte Subventionen dieser Maßnahmen Fördermaßnahmen in diesem Sinne dar.350 Gemäß Art. 12, 14 und 15 sollen Netzwerke in den Bereichen „Europäische Referenznetzwerke“, „Elektronische Gesundheitsdienste“ und „Zusammenarbeit bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien“ eingerichtet werden. Für den Bereich der seltenen Krankheiten, die gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 1 einen Schwerpunkt im Rahmen der Europäischen Referenznetzwerke bilden sollen, ist in Art. 13 der Auftrag an die Kommission geregelt, die Beteiligten für die bestehenden Möglichkeiten auf europäischer Ebene zu sensibilisieren, um auf diesem Weg die Diagnose- und Behandlungskapazitäten zu stärken. Problematisch ist allerdings, dass mit der Regelung des Art. 13 und den Regeln über Europäische Referenznetzwerke gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 1 insbesondere seltene Krankheiten bekämpft werden sollen; Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV spricht demgegenüber von weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten. Der Begriff der weiten Verbreitung ist jedoch nicht nur im Sinne der Häufigkeit, sondern auch der territorialen Ausbreitung zu verstehen, so dass auch seltene Krankheiten erfasst sein können.351 Bemerkenswert ist ferner, dass Art. 14 weniger auf die Bekämpfung bestimmter Krankheiten, als darauf abzielt, einen nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Nutzen elektronischer Gesundheitsdienste zu schaffen (vgl. Art. 14 Abs. 2 lit. a). Bei dem Netzwerk nach Art. 15 geht es um Informationen über die Wirksamkeit von Gesundheitstechnologien (vgl. Art. 15 Abs. 2 lit. b), womit auf den ersten Blick nicht zwingend ein präventiver Schutz der allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung verfolgt wird. Jedoch dienen sowohl die Vernetzung durch europäische Referenznetzwerke, die Zusammenarbeit bei der Bewertung von Gesundheitstechnologien, ein Netzwerk zur Schaffung eines nachhaltigen Nutzens elektronischer Gesundheitsdienste, als auch Maßnahmen im Bereich seltener Krankheiten dazu, das Niveau der Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung sowie
keit von Richtlinien verneinend: Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 67. 349 Vgl. Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 32. 350 Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 44; ferner Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 66. 351 Schmidt am Busch, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 168 AEUV Rn. 13; ferner Frenz/Götzkes, MedR 2010, 613 (614).
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
den Zugang zu dieser Gesundheitsversorgung zu verbessern. Es handelt sich damit um Maßnahmen im Sinne des Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit, insbesondere im Bereich der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten. Der Regelungsbereich der Art. 12–15 erfüllt somit tatbestandlich die Voraussetzungen des Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV.352 Indem das Richtlinienrecht die Teilnahme an den Netzwerken als freiwillig ausgestaltet und die Maßnahmen der Union nur soweit reichen, wie es für die Einrichtung und das Funktionieren der Netzwerke auf europäischer Ebene erforderlich ist, erfüllt das Richtlinienrecht die Maßgabe des Art. 168 Abs. 5 AEUV, keine Harmonisierung herbeizuführen. 2. Schranken der Kompetenzausübung Bei der Kompetenzausübung auf Grundlage von Art. 168 Abs. 5 AEUV ist die Kompetenzausübungsschranke des Art. 168 Abs. 7 AEUV unstreitig zu beachten.353 Eingriffe in die souveräne Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre nationalen Gesundheitssysteme gehen jedoch vom Aufbau freiwilliger Netzwerke nicht aus. Dies wird auch in den Bestimmungen der Art. 12 Abs. 6 und Art. 15 Abs. 7 klargestellt, wonach mit den erlassenen Maßnahmen keine Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten harmonisiert werden und die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt wird. 3. Zwischenergebnis Der Regelungsbereich der Art. 12–15 lässt sich somit auf die Rechtsgrundlage des Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV stützen.
III. Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV Darüber hinaus enthält das Richtlinienrecht mit Art. 10 Abs. 2 und 3 Regelungen, die auf die Erleichterung und Förderung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung abzielen.354 Gemäß Abs. 3 soll die Kommission insbesondere ermutigend auf den Abschluss von Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere in Grenzregionen hinwirken.
352 353 354
So auch Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 141 f. Vgl. nur Berg, in: Schwarze, Art. 168 Rn. 34. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 10 und 51.
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Gemäß Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV fördert die Union die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in den von Art. 168 AEUV genannten Bereichen und unterstützt erforderlichenfalls deren Tätigkeit. Insbesondere soll sie die „Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten [fördern], die darauf abzielt, die Komplementarität ihrer Gesundheitsdienste in den Grenzgebieten zu verbessern“. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine ergänzende Zuständigkeit gemäß Art. 2 Abs. 5, Art. 6 lit. a AEUV.355 Es geht um die Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten; eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ist gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV ausgeschlossen. Diesen Zielen dienen die Regelungen der Art. 10 Abs. 2 und 3, indem sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördern. Es handelt sich nicht um Rechtsharmonisierung, sondern um die Unterstützung und Koordinierung der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit.
IV. Wahl der Rechtsgrundlage Die Kompetenzprüfung der Richtlinie 2011/24/EU hat ergeben, dass Kompetenzrechte sowohl aus Art. 114 AEUV als auch – für die Regelungen ohne Binnenmarktbezug – aus Art. 168 Abs. 5 AEUV sowie Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV herzuleiten sind. Die Rechtsgrundlagen sind kumulativ heranzuziehen, um ein Kompetenzrecht der Union für die Richtlinie 2011/24/EU zu begründen. Sind mehrere Rechtsgrundlagen für die Begründung einer Unionskompetenz erforderlich, ist grundsätzlich nur eine Rechtsgrundlage für den gesamten Rechtsakt zu wählen, weil sich hiernach die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren richten. Wie sich aus Erwägungsgrund Nr. 2 ergibt, betrachtete der Unionsgesetzgeber Art. 114 AEUV als die geeignete Rechtsgrundlage. Hinsichtlich des zusätzlich genannten Art. 168 AEUV wird in Erwägungsgrund Nr. 1 inhaltlich nur auf die Querschnittsklausel des Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verwiesen, nicht jedoch auf die Kompetenznorm des Art. 168 Abs. 5 AEUV. Dass Art. 114 Abs. 1 AEUV als maßgebliche Rechtsgrundlage angesehen wurde, belegt auch der Richtlinienvorschlag der Kommission, der zunächst nur auf Art. 114 AEUV gestützt war.356 Wie jedoch aus dem ersten Bezugsvermerk der Richtlinie 2011/24/EU folgt, ist die Richtlinie formell sowohl auf Art. 114 AEUV als auch auf Art. 168 AEUV gestützt. Für eine Erweiterung der Rechtsgrundlage um Art. 168 AEUV sprach 355 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 168 AEUV Rn. 4; Lurger, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 168 AEUV Rn. 43. 356 Damals Art. 95 EG; vgl. Richtlinienvorschlag vom 2.7.2008 [KOM(2008) 414 endgültig], S. 7, 25.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
sich unter anderen der Ausschuss der Regionen aus, weil „das Ziel eines hohen Gesundheitsschutzniveaus gemäß [Art. 168 AEUV] die Grundlage für die politische Legitimität dieses Richtlinienvorschlags“ sei.357 Der Rat nahm diesen, auch von zahlreichen Delegationen358 geäußerten Änderungsvorschlag an.359 Die Kommission akzeptierte die doppelte Rechtsgrundlage.360 Es stellt sich aber die Frage, ob eine doppelte Rechtsgrundlage für den Erlass der Richtlinie erforderlich gewesen wäre. Wie dargelegt wurde,361 richtet sich nach hier vertretener Auffassung in Fällen, in denen mehrere Rechtsgrundlagen kumulativ zur Begründung einer Unionskompetenz erforderlich sind, die Wahl der Rechtsgrundlage nach der vom EuGH entwickelten Schwerpunkttheorie: Der Rechtsakt ist auf die Rechtsgrundlage zu stützen, die der wesentlichen oder überwiegenden Zielsetzung oder Komponente des Rechtsakts entspricht. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ machen die Regelungen über die Rechte der Patienten bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung den Schwerpunkt der Richtlinie aus. Die Regelungen über den Aufbau von Netzwerken und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gemäß Art. 12–15 stellen hingegen einen unbedeutenderen Teil dar, der darüber hinaus keine harmonisierende Wirkung auf das mitgliedstaatliche Recht entfaltet. Es hätte damit ausgereicht, die Richtlinie 2011/24/EU alleine auf Art. 114 AEUV zu stützen.
V. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Schließlich unterliegt die Union bei ihrer Gesetzgebung den Geboten der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 1. Subsidiarität Der Grundsatz der Subsidiarität ist in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 UAbs. 1 EUV normiert. Hiernach „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler 357 Stellungnahme des Ausschusses der Regionen vom 12.2.2009, ABl. C 120 vom 28.5.2009, S. 65 (69). 358 Vgl. Pressemitteilung über die Tagung des Rates der Europäischen Union vom 8./9. Juni 2009 [9721/2/09 REV 2 (Presse 124)], S. 15; ferner Vermerk über die Ergebnisse der ersten Lesung des Europäischen Parlaments [Rat, 8903/09], unter II. Aussprache. 359 Vgl. Kompromissvorschlag des Rates vom 28.5.2010 [9948/10]; Pressemitteilung über die Tagung des Rates der Europäischen Union vom 7./8. Juni 2010 [10560/10 (Presse 156)], S. 16. 360 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament vom 20.9.2010 [KOM(2010) 503 endgültig], S. 6. 361 Hierzu oben unter C. I. 4. d) bb), S. 170 ff.
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
185
noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“. Gemäß Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 EUV ist das Protokoll (Nr. 2) über die „Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ zu beachten. Gemäß Art. 5 S. 4 des Protokolls Nr. 2 beruht die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien. Nach dem eindeutigen Wortlaut ist der Grundsatz der Subsidiarität nicht bei Maßnahmen anzuwenden, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen. Für die Zuständigkeit aus Art. 114 Abs. 1 AEUV wurde durch Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV klargestellt, dass es sich nicht um eine ausschließliche Kompetenz handelt und daher das Subsidiaritätsprinzip anwendbar ist.362 Der Grundsatz der Subsidiarität beinhaltet das Negativkriterium, dass die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, und das Positivkriterium, dass die Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.363 Die Richtlinie 2011/24/EU führt in Erwägungsgrund Nr. 64 aus, dass „die Aufstellung von Regeln zur Erleichterung des Zugangs zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden“ könne. Das Ziel sei „wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene zu verwirklichen“. Diese Bewertung trifft zu. Die in der Richtlinie enthaltenen Regelungen betreffen grenzüberschreitende Vorgänge. Zwar sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich in der Lage, die Kostenerstattung für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung im nationalen Recht festzuschreiben. Wie sich jedoch gezeigt hat, haben die durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelten primärrechtlichen Vorgaben in den nationalen Rechtsordnungen nicht hinreichend Berücksichtigung gefunden.364 Im Übrigen erfordert die Verwirklichung eines Freiverkehrs im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung unionsweit einheitliche Rahmenbedingungen, damit Patienten tatsächlich von ihren Freiheiten Gebrauch machen können. Auch für die mit Art. 12–15 verfolgte Vernetzung sind einheitliche Standards auf Unionsebene erforderlich. Bei der Ausgestaltung aller Regelungen wurde respektiert, dass die Mitgliedstaaten für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsleistungen und für die medizinische Versorgung 362 EuGH, 8.6.2010 – C-58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999, Rn. 75; Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 AEUV Rn. 6 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 4 AEUV Rn. 4. 363 Vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 25. 364 Siehe hierzu bereits oben unter C. I. 3. a), S. 158 f.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
zuständig bleiben.365 Insbesondere aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit und der Effizienz der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung erweist sich somit das Tätigwerden der Union als mit dem Grundsatz der Subsidiarität vereinbar.366 2. Verhältnismäßigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts367 und ist mittlerweile in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 UAbs. 1 EUV verankert. Hiernach gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Gemäß Art. 5 Abs. 4 UAbs. 2 EUV ist von den Unionsorganen das Protokoll (Nr. 2) über die „Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ anzuwenden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezieht sich auf das „Wie“ des unionalen Handelns; er betrifft sowohl die Wahl der adäquaten Handlungsform als auch die Regelungsweite und Regelungstiefe einer Maßnahme.368 Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieser Voraussetzungen anbelangt, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in Bereichen zugebilligt, in denen seine Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es gehe somit nicht darum, ob eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie sei vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist.369 Der Unionsgesetzgeber begründet die Verhältnismäßigkeit der Richtlinie 2011/ 24/EU überzeugend damit, dass der Vorschlag nur allgemeine Grundsätze für die Schaffung eines EU-Rahmens festlege, dabei jedoch einen großen Spielraum für die Umsetzung der Grundsätze durch die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der nationalen, regionalen oder lokalen Gegebenheiten lasse. Zudem werde mit dem Vorschlag die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation, Finanzierung und Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen und der medizinischen Versorgung in vollem Umfang gewahrt.370 Der Vorschlag lasse das Recht der Mitgliedstaaten unberührt zu entscheiden, welche Leistungen sie erstatten. 365
Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 10. Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 9; ferner SEK(2008) 2164, S. 3 f. Ausführlich hierzu Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 142 ff. (160). 367 Vgl. EuGH, 8.6.2010 – C-58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999, Rn. 51. 368 Vgl. König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, § 2 Rn. 35. 369 EuGH, 8.6.2010 – C-58/08 – Vodafone u. a., Slg. 2010, I-4999, Rn. 52. 370 Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 10 f. 366
C. Die Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union
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Schließe ein Mitgliedstaat eine bestimmte Behandlung nicht in den Leistungsanspruch seiner Bürger im Inland ein, so werde mit der Regelung kein neuer Anspruch der Patienten auf Kostenerstattung für Behandlungen im Ausland begründet. Darüber hinaus könnten die Mitgliedstaaten weiterhin an ihre Leistungen Bedingungen knüpfen, wie beispielsweise, dass die Überweisung an einen Facharzt durch einen Allgemeinmediziner erfolgen muss.371 Die Richtlinie 2011/24/ EU erweist sich damit als mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 UAbs. 1 EUV vereinbar.372
VI. Ergebnis zur Rechtsetzungskompetenz Die Union besitzt die Rechtsetzungskompetenz für den Erlass der Richtlinie 2011/24/EU. Art. 7–9 lassen sich auf die Binnenmarktkompetenz aus Art. 114 Abs. 1 AEUV stützen, da sich die Vorschriften inhaltlich auf die Verwirklichung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen beziehen. Mit den flankierenden Regelungen der Art. 4–6 werden auch Aspekte der Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus verfolgt; diese Ziele stehen aber in engem sachlichen Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel und dürfen gemäß Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV zulässigerweise mitverfolgt werden. Hingegen bilden die Vorschriften der Art. 12–15 einen eigenständigen Regelungskomplex, der auf die Verbesserung des Gesundheitsschutzniveaus in der Union abzielt. Da es den Vorschriften an einem Binnenmarktbezug fehlt, lassen sich ihre Ziele nicht im Rahmen der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 Abs. 1 und 3 AEUV mitverfolgen. Die Regelungen stellen jedoch Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten dar und können daher auf die Kompetenz aus Art. 168 Abs. 5 1. Var. AEUV gestützt werden. Zur Begründung einer Unionskompetenz für die Regelungen in Art. 10 Abs. 2 und 3 der Richtlinie ist schließlich die Kompetenz aus Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV einschlägig. Für alle genannten Rechtsgrundlagen ist die Kompetenzausübungsgrenze des Art. 168 Abs. 7 AEUV zu beachten, welche sich vorliegend jedoch nicht als verletzt erweist. Auch sind die Inhalte der Richtlinie sowohl mit dem Subsidiaritäts- als auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar. Weil die Begründung einer Unionskompetenz für die Richtlinie 2011/24/EU mehrere Rechtsgrundlagen erfordert, stellt sich die Frage nach der Wahl der Rechtsgrundlage. Die Richtlinie 2011/24/EU ist auf die doppelte Rechtsgrund371 372
(163).
Richtlinienvorschlag [KOM(2008) 414 endgültig], S. 10 f. Ausführlicher Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 160 ff.
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Kap. 2: Die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte
lage aus Art. 114 AEUV und Art. 168 AEUV gestützt. Vor dem Hintergrund, dass sich nach dem primärrechtlichen Kompetenzsystem die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren nach der gewählten Rechtsgrundlage richten, ist ein Rechtsakt allerdings grundsätzlich nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen. Die Wahl der Rechtsgrundlage ist auf Grundlage der vom EuGH entwickelten Schwerpunkttheorie zu beurteilen. Sowohl quantitativ als auch qualitativ machen die Regelungen über die Patientenmobilität den Schwerpunkt der Richtlinie aus; die Richtlinie 2011/24/EU hätte deshalb alleine auf Art. 114 AEUV gestützt werden können.
D. Fazit zur Richtlinie 2011/24/EU Die Richtlinie 2011/24/EU kodifiziert die Rechtsprechung des EuGH und stimmt mit den entwickelten Rechtsprechungsgrundsätzen überein. Darüber hinausgehend enthält die Richtlinie weitere, auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung gerichtete Regelungen. Die Richtlinie beseitigt nationale Umsetzungsdefizite und führt zu einer Konkretisierung der Rechte, wodurch Rechtssicherheit geschaffen und die Rechtsdurchsetzung erleichtert wird373. Die flankierenden Bestimmungen zu den Binnenmarktregelungen tragen dazu bei, dass in Zukunft Versicherte auch tatsächlich von ihren Rechten bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Gebrauch machen werden. Die Schaffung grenzüberschreitender Netzwerkstrukturen fördert die Verbesserung der Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung in der Union. Die Union besitzt aus Art. 114 Abs. 1 i.V. m. Abs. 3 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, Art. 168 Abs. 5 AEUV sowie Art. 168 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV die Rechtsetzungskompetenz für den Erlass der Richtlinie 2011/24/EU. Die Richtlinie achtet die Kompetenzausübungsgrenze des Art. 168 Abs. 7 AEUV und ist vereinbar mit dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Richtlinie liegt die doppelte Rechtsgrundlage aus Art. 114 AEUV und Art. 168 AEUV zugrunde. Nach der Schwerpunkttheorie hätte die Richtlinie 2011/24/EU aber formell allein auf Art. 114 AEUV gestützt werden können. Mit Kodifizierung der Rechtsgrundsätze zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen hat der Unionsgesetzgeber die ihm zugewiesene gestalterische Aufgabe wahrgenommen. Kompetenzkonflikten, die aufgrund des vom EuGH aus den Grundfreiheiten abgeleiteten originären Leistungsrechts entstanden sind,374 wird auf diese Weise sekundärrechtlich entgegengesteuert. 373
Wollenschläger, EuR 2012, 149 (182); ferner Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629
(631). 374
Hierzu oben unter Kap. 1 F. I., S. 111 ff.
Kapitel 3
Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im unionsrechtlichen Regelungsgefüge Das Regelungsgefüge des Unionsrechts im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen setzt sich nicht allein aus dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch sowie der Richtlinie 2011/24/EU zusammen. Seit jeher spielt das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit eine wichtige Rolle, da es Regelungen zu Leistungen bei Krankheit enthält.
A. Die Hintergründe der Sozialrechtskoordinierung Das europäische koordinierende Sozialrecht geht zurück auf die im Jahr 1958 erlassene „Verordnung Nr. 3 über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“ 1 sowie deren Durchführungsverordnung Nr. 42. Vorlage für diese Vorschriften war das am 9. Dezember 1957 von den Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) unterzeichnete „Europäische Abkommen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“. 3 Die im Jahr 2004 erlassene, aber erst zum 1. Mai 2010 rechtsverbindlich gewordene „Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ 4 hat die 1971 erlassene „Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern“ 5, abgelöst. Die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/20096 ist an die Stelle der früheren Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/727 getreten. Für Drittstaatsangehörige gilt nun die Verordnung (EU) Nr. 1231/20108. 1 2 3 4 5 6 7 8
ABl. 30 vom 16.12.1958, S. 561–596. ABl. 30 vom 16.12.1958, S. 597–664. Siehe Bezugsvermerk der VO Nr. 3. ABl. L 166 vom 30.4.2004, S. 1–123. ABl. L 149 vom 5.7.1971, S. 2–50. ABl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1–42. ABl. L 74 vom 27.3.1972, S. 1–83. ABl. L 344 vom 29.12.2010, S. 1–3.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
Das Verordnungsrecht findet seine primärrechtliche Grundlage in Art. 48 AEUV bzw. dessen Vorgängervorschriften9. Gemäß Art. 48 AEUV beschließen „das Europäische Parlament und der Rat [. . .] die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen“. Die Norm enthält sowohl einen Regelungsauftrag als auch eine Rechtsetzungskompetenz.10 Der Regelungsauftrag umfasst gemäß Art. 48 UAbs. 1 2. Hs. AEUV insbesondere die Einführung eines Systems, das zu- und abwandernden Arbeitnehmern und Selbstständigen sowie deren anspruchsberechtigten Angehörigen die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten (Totalisierung)11 sowie den Leistungsexport bei Geldleistungen sichert. Das Verordnungsrecht wirkt koordinierend, nicht harmonisierend. Die national unterschiedlich ausgestalteten Systeme der sozialen Sicherheit werden nicht vereinheitlicht, sondern es wird die „Anschlussfähigkeit der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit untereinander durch den Abbau von Freizügigkeitshindernissen“ hergestellt12. Das koordinierende Sozialrecht verwirklicht, wie die systematische Stellung des Art. 48 AEUV zeigt, zu allererst die Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Es sollte ein System geschaffen werden, das es den Arbeitnehmern erlaubt, die für sie aus den nationalen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit resultierenden Hindernisse zu überwinden. Diesem Ziel würde entgegenstehen, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern.13 Das koordinierende Sozialrecht dient aber auch – dies macht die Erweiterung des Wortlauts des Art. 48 AEUV im Zuge der Vertragsänderung von Lissabon deutlich – der Verwirklichung der Freizügigkeit für Selbständige, also der Niederlassungs- und (aktiven) Dienstleistungsfreiheit. Die freizügigkeitsspezifische Zwecksetzung des koordinierenden Sozialrechts ist im Laufe der Zeit stetig ausgedehnt worden. Zunächst sind insbesondere Selbständige, Beamte und Studenten in den persönlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) Nr. 1408/71 einbezogen worden.14 Die VO (EG) Nr. 883/2004 verzichtet nunmehr gänzlich auf die Anknüpfung an einen sozioökonomischen Status einer Person;15 einbezogen sind alle in Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 genannten Personen. Dies kann als Antwort auf die Schaffung eines allgemeinen Freizügigkeits9
Art. 51 EWGV sowie Art. 42 EG. Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Einleitung Rn. 22. 11 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Einleitung Rn. 12. 12 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Einleitung Rn. 5. 13 Vgl. EuGH, 18.5.1989 – C-368/87 – Hartmann Troiani, Slg. 1989, 1333, Rn. 20 f.; EuGH, 22.11.1995 – C-443/93 – Vougioukas, Slg. 1995, I-4033, Rn. 30. 14 Durch VO (EWG) Nr. 1390/81, VO (EG) 1606/98 sowie VO (EG) Nr. 307/1999. 15 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 2 Rn. 1; Spiegel, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 2. 10
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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rechts der Unionsbürger (heute Art. 21 AEUV) gesehen werden. Das koordinierende Sozialrecht dient nunmehr dazu, „alle nationalen sozialrechtlichen Hindernisse zu beseitigen, die geeignet sind, den Einzelnen von der Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit abzuhalten“ 16. Ein darüber hinausgehender grundfreiheitlicher Gehalt kommt dem koordinierenden Sozialrecht nicht zu, insbesondere ist es nicht Ausdruck der passiven Warenverkehrs- oder Dienstleistungsfreiheit.17 In diesem Umstand liegt das maßgebliche Unterscheidungskriterium des Verordnungsrechts zu dem vom EuGH entwickelten grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch sowie dessen Kodifizierung in der Richtlinie 2011/ 24/EU: Das Verordnungsrecht wurzelt in den Personenverkehrsfreiheiten, der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch sowie dessen Kodifizierung verwirklichen hingegen die Produktverkehrsfreiheiten.18
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit der VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 17–35 VO (EG) Nr. 883/2004 sowie Art. 22–32 der Durchführungsverordnung VO (EG) Nr. 987/2009 enthalten Regelungen zu Leistungen bei Krankheit. Dieses Regelungssystem soll im Folgenden zunächst systematisiert werden.
I. Grundbegriffe des Verordnungsrechts 1. Kollisionsrecht Das in Titel II geregelte Kollisionsrecht ist maßgeblich für die Begriffsbestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Art. 11 VO (EG) Nr. 883/2004 enthält die allgemeinen Regelungen zur Bestimmung des anwendbaren Rechts. Im Grundsatz gelten gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a VO (EG) Nr. 883/2004 das Beschäftigungsstaatsprinzip bzw. das Prinzip des Staates der selbständigen Erwerbstätigkeit: Anzuwenden sind die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die betreffende Person beschäftigt ist oder ihre selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt. Das Vorliegen einer Beschäftigung bzw. einer selbstständigen Erwerbstätigkeit bestimmt sich gemäß Art. 1 lit. a und b VO (EG) Nr. 883/2004 anhand der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird. Dem so auftretenden Zirkelschluss ist dergestalt zu begegnen, dass für die Bestimmung des anwendbaren Rechts zunächst hypothetisch vom Vorliegen einer Beschäftigung bzw. von einer selbständigen Erwerbstätigkeit ausgegangen wird. Anhand des danach anzuwendenden Rechts ist sodann zu prüfen, ob eine Be16 17 18
Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Einführung Rn. 31. Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Einleitung Rn. 49. Kingreen, ZESAR 2009, 109 (110).
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
schäftigung bzw. eine selbstständige Erwerbstätigkeit vorliegt.19 Ist dies der Fall, sind die Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaates gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a VO (EG) Nr. 883/2004 anzuwenden. Art. 11 Abs. 3 lit. b–d VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten kollisionsrechtliche Sonderregelungen für Beamte, Arbeitslose und Wehr- und Zivildienstleistende. Art. 11 Abs. 3 lit. e VO (EG) Nr. 883/2004 regelt einen Auffangtatbestand, wonach mangels anderweitiger Zuordnung das Recht des Wohnmitgliedstaates anzuwenden ist. Relevanz hat diese Bestimmung insbesondere für nicht erwerbstätige Personen. Art. 12 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten – als freizügigkeitsfördernde Ausnahmevorschriften vom Beschäftigungsstaatsprinzip –20 Sonderregelungen bei der Entsendung von Beschäftigten oder bei der nur vorübergehenden Tätigkeit eines selbständigen Erwerbstätigen in einem anderen Mitgliedstaat. Art. 13–16 VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten weitere Sonderregelungen. 2. Versicherter Der Begriff „Versicherter“ in Bezug auf Leistungen bei Krankheit ist in Art. 1 lit. c VO (EG) Nr. 883/2004 definiert. Dies ist jede Person, die die – nach den kollisionsrechtlich anzuwendenden Rechtsvorschriften und unter Berücksichtigung des Verordnungsrechts – vorgesehenen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch erfüllt. Voraussetzung ist allein die Zugehörigkeit zu einem System, welches derartige Ansprüche begründet.21 Es muss kein Versicherungsverhältnis im technischen Sinne vorliegen; die Berechtigung zur Leistung kann auch in steuerfinanzierten Systemen oder Sondersystemen bestehen.22 3. Wohnort und Aufenthalt „Wohnort“ ist gemäß Art. 1 lit. j VO (EG) Nr. 883/2004 der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person. Aufgrund der in der Praxis bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten enthält Art. 11 VO (EG) Nr. 987/2009 Hilfskriterien zur Bestimmung des Wohnorts. Im Gegensatz dazu meint „Aufenthalt“ gemäß Art. 1 lit. k VO (EG) Nr. 883/2004 den nur vorübergehenden Aufenthalt. Als Komplementärbegriff zu „Wohnort“ ist jeder Ort, der nicht Wohnort ist, ein Ort des vorübergehenden Aufenthalts.23
19 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 11 Rn. 12; Spiegel, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 6 f. 20 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 12 Rn. 1. 21 Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 1 Rn. 14. 22 Vgl. Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 1 Rn. 14. 23 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 18 Rn. 5.
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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4. Träger Gemäß Art. 1 lit. p VO (EG) Nr. 883/2004 ist „Träger“ in jedem Mitgliedstaat die Einrichtung oder Behörde, der die Anwendung aller Rechtsvorschriften oder eines Teils hiervon obliegt. Die Trägerschaft muss also nicht öffentlich-rechtlicher Natur sein; auch Träger einer privaten Pflichtversicherung können zuständige Träger im Sinne des Verordnungsrechts sein.24 a) Zuständiger Träger „Zuständiger Träger“ ist gemäß Art. 1 lit. q i VO (EG) Nr. 883/2004 grundsätzlich derjenige Träger, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert ist. Für die Bestimmung des zuständigen Trägers nach dieser Vorschrift ist also zunächst das kollisionsrechtlich anzuwendende Recht zu ermitteln. Sodann ist zu prüfen, ob die betreffende Person gemäß Art. 1 lit. c VO (EG) Nr. 883/2004 nach diesen Rechtsvorschriften die Versicherteneigenschaft erfüllt. „Zuständiger Träger“ ist dann diejenige Einrichtung oder Behörde, welche gegenüber dem Versicherten zur Erbringung der Leistungen bzw. zur Kostentragung verpflichtet ist. Art. 1 lit. q ii–iv VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten weitere Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Trägers. b) Aushelfender Träger „Träger des Wohnorts“ und „Träger des Aufenthaltsorts“ bezeichnen gemäß Art. 1 lit. r VO (EG) Nr. 883/2004 den Träger, der nach den Rechtsvorschriften, die für diesen Träger gelten, für die Gewährung der Leistungen an dem Ort zuständig ist, an dem die betreffende Person wohnt oder sich aufhält, oder, wenn es einen solchen Träger nicht gibt, den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bezeichneten Träger. Verallgemeinernd lassen sich diese Träger als aushelfende Träger bezeichnen, da ihnen aushilfsweise die Leistungserbringung zugewiesen ist, obwohl sie nach nationalem Recht unzuständig wären.25 5. Zuständiger Mitgliedstaat Der Begriff „zuständiger Mitgliedstaat“ folgt der Bestimmung des zuständigen Trägers und ist gemäß Art. 1 lit. s VO (EG) Nr. 883/2004 derjenige Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat.
24 25
Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 12. Vgl. Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 1 Rn. 51.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
6. Krankheit Der sachliche Anwendungsbereich des Titel 3 Kapitel 1 der VO (EG) Nr. 883/ 2004 erfasst Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft. Die Begriffe sind unionsrechtsautonom zu bestimmen.26 Entscheidend ist der Zweckbezug, die Funktion der Leistung, das Risiko der Krankheit und ihre Folgen zu sichern.27 Der EuGH hat den Begriff weit interpretiert, ihm unterfallen auch Leistungen der medizinischen Rehabilitation28, Leistungen der Pflegeversicherung29 sowie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber30. 7. Das Prinzip der Sachleistungsaushilfe Den Regelungen der Art. 17, 19 und 20 VO (EG) Nr. 883/2004 liegt das Prinzip der Sachleistungsaushilfe zugrunde. Nach diesem Prinzip werden Sachleistungen vom aushelfenden Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht, als ob die betreffenden Personen nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären. a) Hintergrund Vor dem Hintergrund der Vielfalt nationaler Leistungssysteme und dem Umstand, dass für Leistungen bei Krankheit ein Export von Sachleistungen durch den zuständigen Träger „mit einem hohen bürokratischen und logistischen Aufwand verbunden wäre, häufig zu spät käme und bei stationären Mitteln schlechthin unmöglich ist“,31 verfolgt das Verordnungsrecht das – bereits in der VO (EWG) Nr. 1408/71 bewährte – Prinzip der Sachleistungsaushilfe.32 Das Prinzip stellt sicher, dass Eingriffe in die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit möglichst gering gehalten werden,33 indem Sachleistungen gemäß den Rechts-
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Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 9. Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. Art. 17 ff. VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 28; ferner Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 9. EuGH, 3.6.1992 – C-45/90 – Paletta I, Slg. 1992, I-3423, Rn. 16; EuGH, 5.3.1998 – C-160/96 – Molenaar, Slg. 1998, I-843, Rn. 19 ff. (24). 28 EuGH, 10.1.1980 – C-69/79 – Jordens-Vosters, Slg. 1980, 75. 29 EuGH, 5.3.1998 – C-160/96 – Molenaar, Slg. 1998, I-843, Rn. 19 ff.; EuGH, 12.7.2012 – C-562/10 – Kommission/Deutschland, ZESAR 2012, 491, Rn. 45 f. 30 Vgl. EuGH, 3.6.1992 – C-45/90 – Paletta I, Slg. 1992, I-3423; EuGH, 2.5.1996 – C-206/94 – Paletta II, Slg. 1996, I-2357. 31 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 7. 32 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 3. 33 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 2. 27
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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vorschriften des aushelfenden Staates und unter Nutzung der dort vorhandenen Verwaltungsstruktur erbracht werden.34 b) Bedeutung Bei der Sachleistungsaushilfe wird der Versichertenstatus grundsätzlich nach dem Recht des zuständigen Staates bestimmt. Liegt die Versicherteneigenschaft vor, wird dieses Statusverhältnis für die Leistungserbringung im aushelfenden Mitgliedstaat fingiert. Das Leistungsrecht, insbesondere die Anspruchsvoraussetzungen und die Rechtsfolge, welche Sachleistungen in welchem Umfang beansprucht werden können, richten sich alleine nach den Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers.35 Somit sind auch Selbstbehalte, Praxisgebühren, Festbeträge sowie weitere Voraussetzungen und Verwaltungsformalitäten des aushelfenden Systems zu beachten.36 Die Leistungen werden für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht; die Erstattung zwischen dem zuständigen Träger und dem aushelfenden Träger erfolgt gemäß Art. 35 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V. m. Art. 62 ff. VO (EG) Nr. 987/2009. Sachleistungen sind (in Bezug auf Titel III Kapitel 1)37 in Art. 1 lit. va i VO (EG) Nr. 883/2004 definiert. Der Begriff ist unionsrechtsautonom auszulegen und ermöglicht aufgrund seiner – in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH – finalen Ausgestaltung eine eindeutige Abgrenzung zwischen Sach- und Geldleistungen.38 Diese erfolgt gemäß Art. 1 lit. va i S. 1 a. E. VO (EG) Nr. 883/ 2004 unabhängig davon, welcher nationale Systemtypus (Sachleistungssystem, Kostenerstattungssystem oder nationaler Gesundheitsdienst) vorliegt. Bei der Sachleistungsaushilfe steht dem Versicherten ein Anspruch, also ein subjektives Recht auf Sachleistungserbringung gegenüber dem aushelfenden Träger zu.39 Der aushelfende Träger ist aber nicht verpflichtet, Sachleistungen zu gewähren, wenn diese nach seinen Rechtsvorschriften nicht vorgesehen sind; insbesondere soll er keine Sachleistungen erbringen müssen, wenn er kein entsprechendes Sachleistungssystem im nationalen Bereich geschaffen hat.40 In solchen Fällen greifen die sachleistungsersetzenden Kostenerstattungsansprüche der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009. 34
Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 2, 7. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 13 f. 36 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 17. 37 Insofern kritisch Dern, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 1 Rn. 60. 38 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 8; ferner Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 4. 39 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 12. Zur Frage, ob auch eine Leistungspflicht des zuständigen Trägers besteht: Schreiber, in: Schreiber/Wunder/ Dern, Art. 17 Rn. 10. 40 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 16. 35
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
II. Unterscheidung zwischen Sach- und Geldleistungen Die Art. 17–20 VO (EG) Nr. 883/2004 gelten nur für Sachleistungen im Sinne von Art. 1 lit. va i VO (EG) Nr. 883/2004.41 Für Geldleistungen gilt das Prinzip des Leistungsexports: Geldleistungen sind vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften in voller Höhe in alle Mitgliedstaaten zu exportieren. Dementsprechend haben gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 VO (EG) Nr. 883/ 2004 ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen oder sich dort aufhalten, Anspruch auf Geldleistungen, die grundsätzlich vom zuständigen Träger nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erbracht werden.
III. Regelungen bei Wohnort in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat Art. 17 und 18 VO (EG) Nr. 883/2004 enthalten Regelungen für die Fälle, dass ein Versicherter oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, also in einem anderen Mitgliedstaat ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (vgl. Art. 1 lit. j VO (EG) Nr. 883/2004). Gemäß Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 erhalten diese Personen in dem Wohnmitgliedstaat Sachleistungen nach dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe. Sogenannte „Grenzgänger“ (vgl. Art. 1 lit. f VO (EG) Nr. 883/2004) bilden den Hauptanwendungsfall des Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004;42 aufgrund des Beschäftigungsstaatsprinzips gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a VO (EG) Nr. 883/2004 fallen hier Wohnmitgliedstaat und zuständiger Mitgliedstaat auseinander. Bedeutung hat Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 aber auch für die Fälle des Art. 12 Abs. 1 und 2 VO (EG) Nr. 883/2004 oder des Art. 13 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 lit. b VO (EG) Nr. 883/2004. Art. 18 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 gewährt Versicherten und ihren Familienangehörigen grundsätzlich auch während des (vorübergehenden) Aufenthalts im zuständigen Mitgliedstaat einen Anspruch auf Sachleistungen. Es wird der originäre Sachleistungsanspruch gegenüber dem zuständigen Träger eröffnet. Ist nach nationalem Recht der Wohnort oder der gewöhnlichen Aufenthalt im zuständigen Mitgliedstaat Anspruchsvoraussetzung, wird dies gemäß Art. 18 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 fingiert.43 Für Grenzgänger wirkt die Vorschrift gemeinsam mit Art. 17 wie ein Wahlrecht zwischen den Leistungen des Wohnortstaats
41 Zur Abgrenzung Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 4; Art. 21 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 2 f. 42 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 5. 43 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 18 Rn. 6.
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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oder des Beschäftigungsstaats.44 Die Vorschrift ist aber nicht auf Grenzgänger beschränkt.45 Abs. 2 enthält besondere Vorschriften für die Familienangehörigen von Grenzgängern und berücksichtigt dabei die in Anhang III aufgeführten Mitgliedstaaten, die den Anspruch auf Sachleistungen für Familienangehörige von Grenzgängern beschränkt haben.
IV. Regelungen bei vorübergehendem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat 1. Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 regelt den Fall der „medizinisch notwendigen Leistungen“. Gemäß Abs. 1 haben „ein Versicherter und seine Familienangehörigen, die sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat aufhalten, Anspruch auf die Sachleistungen, die sich während ihres Aufenthalts als medizinisch notwendig erweisen, wobei die Art der Leistungen und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts zu berücksichtigen sind“. Diese Leistungen werden nach dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe erbracht. Gemäß Abs. 2 ist für bestimmte Sachleistungen, die in einer Liste46 der Verwaltungskommission aufgeführt sind, eine vorherige Vereinbarung zwischen der betreffenden Person und dem die medizinische Leistung erbringenden Träger erforderlich, damit die Sachleistungen während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden können. Vorschriften zum Verfahren und zum Umfang des Anspruchs enthalten Art. 25 Abs. 1–3 VO (EG) Nr. 987/2009. a) Bedeutung der Vorschrift Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 regelt einen Anspruch auf Sachleistungsaushilfe bei Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat. „Aufenthalt“ meint gemäß Art. 1 lit. k VO (EG) Nr. 883/2004 den vorübergehenden Aufenthalt. Gemäß Art. 25 Abs. 3 VO (EG) Nr. 987/2009 werden von Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 solche Sachleistungen umfasst, die im Aufenthaltsmitgliedstaat nach dessen Rechtsvorschriften erbracht werden und sich als medizinisch notwendig erweisen, damit der Versicherte nicht vorzeitig in den zuständigen Mitgliedstaat zurückkehren muss, um die erforderlichen medizinischen Leistungen zu erhalten. Anspruchsberechtigt sind Versicherte (Art. 1 lit. c) und deren Familienangehörige (Art. 1 lit. i). Der Anspruch richtet sich gegen den Träger des Auf44 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 18 Rn. 2; Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 18 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 1. 45 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 18 Rn. 2. 46 Siehe die nicht abschließende Liste im Anhang des Beschlusses Nr. S3 vom 12.6. 2009, ABl. C 106 vom 24.4.2010, S. 40–41.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
enthaltsorts (siehe Art. 1 lit. r). Art. 19 ist nicht mehr einschlägig, wenn aus einem vorübergehenden Aufenthalt ein gewöhnlicher Aufenthalt mit der Begründung eines Wohnsitzes wird.47 Das in Art. 19 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 enthaltene Erfordernis einer vorherigen Vereinbarung zwischen der betreffenden Person und dem die medizinische Leistung erbringenden Träger stellt kein Genehmigungserfordernis dar. Es hat keine anspruchsbegründende Bedeutung, sondern lediglich Warn- und Ordnungsfunktion.48 b) Sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche Art. 25 Abs. 4–9 VO (EG) Nr. 987/2009 enthalten Vorschriften für die Fälle, dass ein Versicherter die Kosten aller oder eines Teils der im Rahmen von Art. 19 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 erbrachten Sachleistungen selbst getragen hat. Diese Bestimmungen tragen der Existenz reiner Kostenerstattungssysteme in einigen Mitgliedstaaten Rechnung; sie sollen zudem dazu dienen, die Fälle des Systemversagens oder auftretende Vollzugsdefizite zu kompensieren, ohne dass die Vorschriften jedoch auf die genannten Zwecksetzungen begrenzt wären.49 Die Abs. 4–6 setzen voraus, dass nach den Rechtsvorschriften des Trägers des Aufenthaltsorts ein sachleistungsersetzender Kostenerstattungsanspruch besteht. Die Ansprüche sind zwar genuin durch das Unionsrecht geschaffen,50 leiten sich aber von bestehenden Ansprüchen nach den Rechtsvorschriften des Aufenthaltsmitgliedstaats ab51. Art. 25 Abs. 4 VO (EG) Nr. 987/2009 regelt den Fall, dass die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach dem Recht des Aufenthaltsmitgliedstaates erfüllt sind; dann kann die Kostenerstattung beim Träger des Aufenthaltsorts nach den für diesen geltenden Erstattungsätzen beantragt werden. Diesen Anspruch kann der Versicherte gemäß Abs. 5 wahlweise52 auch gegenüber dem zuständigen Träger geltend machen, wobei wiederum für den zuständigen Träger ein Wahlrecht53 besteht, ob er die Kosten nach den für den Träger des Aufenthaltsorts geltenden Erstattungssätzen oder nach den Beträgen erstattet, die dem Träger des Aufenthaltsortes im Fall der Anwendung von Art. 62 VO (EG) Nr. 987/2009 in dem betreffenden Fall erstattet worden wären. Gemäß Abs. 6 kann der zuständige Träger die Kosten auch innerhalb der Grenzen und
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Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 6. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 16. 49 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 5; Art. 19 Rn. 23. 50 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 26. 51 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 23. 52 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 27; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 25. 53 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 32; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 25. 48
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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nach Maßgabe der in seinen Rechtsvorschriften niedergelegten Erstattungssätze erstatten, wenn sich der Versicherte hiermit einverstanden erklärt hat. Im Unterschied zu Abs. 4–6 stellt Abs. 7 einen originären, jedoch subsidiären unionsrechtlichen Kostenerstattungsanspruch dar.54 Originär ist der Anspruch deshalb, weil in diesem Fall die Rechtsvorschriften des Aufenthaltsmitgliedsstaats gerade keinen sachleistungsersetzenden Kostenerstattungsanspruch vorsehen, von dem sich der unionsrechtliche Anspruch ableiten ließe. Gemäß Abs. 7 erfolgt die Kostenerstattung durch den zuständigen Träger innerhalb der Grenzen und nach Maßgabe der in seinen Rechtsvorschriften festgelegten Erstattungssätze, ohne dass das Einverständnis des Versicherten erforderlich wäre. Abs. 8 schließlich normiert für alle sachleistungsersetzenden Kostenerstattungsansprüche, dass die Kostenerstattung keinesfalls über die tatsächlich entstandenen Kosten hinausgeht. 2. Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 regelt den Fall der „geplanten Behandlung“, wenn sich also ein Versicherter zur Inanspruchnahme von Sachleistungen in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Gemäß Abs. 1 muss er hierfür die Genehmigung des zuständigen Trägers einholen. Hat der zuständige Träger die Genehmigung erteilt, erhält der Versicherte gemäß Abs. 2 Sachleistungen nach dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe. Gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 wird die Genehmigung erteilt, „wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen ist, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen sind, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann“. Gemäß Abs. 3 gelten diese Regelungen für die Familienangehörigen des Versicherten entsprechend. Vorschriften zum Genehmigungsverfahren enthalten Art. 26 Abs. 1–5 VO (EG) Nr. 987/2009. a) Abgrenzung zu Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 20 ist lex specialis55 zu Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 und stellt die Behandlung bei vorübergehendem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat unter einen Genehmigungsvorbehalt, wenn sie geplant ist. Zur Abgrenzung lässt sich aus Nr. 2 des Beschlusses S356 der Verwaltungskommission entnehmen, dass 54 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 22 f.; nach Vießmann, GuP 2011, 129 (132) handelt es sich um ein fakultatives Einspringen des zuständigen Trägers. 55 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 19 Rn. 4; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 1. 56 ABl. C 106 vom 24.4.2010, S. 40–41.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
Sachleistungen nicht unter Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 fallen, wenn die Inanspruchnahme dieser Behandlungen Zweck des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat ist. Die geplante Behandlung muss also wesentlich kausal für den Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat sein.57 Hierfür ist nicht ausreichend, dass der Behandlungsbedarf vor Beginn des Aufenthalts vorhersehbar war, wenn der Aufenthalt aus anderen allgemeinen Gründen und nicht primär zur Inanspruchnahme von Sachleistungen erfolgte.58 b) Genehmigungsvoraussetzungen Sind die beiden in Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 genannten Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt, verbleibt kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum des zuständigen Trägers.59 Für die erste Genehmigungsvoraussetzung, ob die betreffende Behandlung Teil der vorgesehenen Leistungen ist, kommt es nach dem Wortlaut der Vorschrift auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats an, nicht auf die des zuständigen Trägers;60 dies wird bei Grenzgängern gemäß Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 relevant.61 Für die zweite Genehmigungsvoraussetzung, ob der Person die Behandlung „nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden kann“,62 sind allein medizinische Kriterien entscheidend.63 Der EuGH hat sich bezüglich dieser Genehmigungsvoraussetzung64 insbesondere mit der Zulässigkeit von Wartelisten auseinandergesetzt.65 Hier gelten dieselben Rechtsprechungsgrundsätze wie für den grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch;66 der EuGH hat diese Grundsätze parallel zueinander entwickelt.
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Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 8. Näher Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 11, Art. 20 Rn. 8. 59 Vgl. EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 41; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 9. 60 Beachte für den Fall des Auseinanderfallens von Wohnmitgliedstaat und zuständigem Mitgliedstaat in Bezug auf das Genehmigungsverfahren Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1–2 VO (EG) Nr. 987/2009. 61 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 10. 62 Beachte für den Fall des Auseinanderfallens von Wohnmitgliedstaat und zuständigem Mitgliedstaat in Bezug auf die Genehmigungsverweigerung Art. 26 Abs. 2 UAbs. 3 VO (EG) Nr. 987/2009. 63 Näher Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 12 ff. 64 Damals jedoch noch zu Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71. 65 Zu den Einzelheiten: EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 44 ff.; grundlegend und insb. zu Wartelisten: EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 57 ff.; ferner EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 63 ff. 66 Diesbezüglich oben unter Kap. 1 E. II. 3. a) bb), S. 105 ff. 58
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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c) Erstattung von Reise- und Aufenthaltskosten Im Grundsatz hat der EuGH festgestellt, dass sich der Anspruch auf Sachleistungen ausschließlich auf solche Kosten bezieht, die mit der Gesundheitsversorgung verbunden sind; hierunter fallen nicht Nebenkosten wie Reise-, Aufenthalts- und Verpflegungskosten.67 Wenn jedoch die nationalen Rechtsvorschriften des zuständigen Trägers die Erstattung der mit der Behandlung des Versicherten untrennbar verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten vorsehen, übernimmt der zuständige Träger gemäß Art. 26 Abs. 8 VO (EG) Nr. 987/2009 auch diese Kosten, wenn eine entsprechende Genehmigung für die Behandlung erteilt worden ist. d) Sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche Auch für die geplante Behandlung gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 sieht die Durchführungsverordnung sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche vor. Die Bestimmungen werden durch eine in der Rechtsprechung des EuGH entwickelte, nicht kodifizierte Fallgruppe ergänzt. aa) Art. 26 Abs. 6 VO (EG) Nr. 987/2009 Gemäß Art. 26 Abs. 6 gelten die Art. 25 Abs. 4–5 VO (EG) Nr. 987/2009 entsprechend. Besteht also im Sinne dieser Vorschriften ein Kostenerstattungsanspruch nach den Rechtsvorschriften des Trägers des Aufenthaltsorts, kann der Versicherte die Kostenerstattung beim Träger des Aufenthaltsorts nach den für diesen geltenden Erstattungssätzen verlangen. Diesen Anspruch kann der Versicherte gemäß Art. 25 Abs. 5 wahlweise auch gegenüber dem zuständigen Träger geltend machen, wobei diesem wiederum das Wahlrecht zwischen den für den Träger des Aufenthaltsorts geltenden Erstattungssätzen oder den Erstattungssätzen gemäß Art. 62 VO (EG) Nr. 987/2009 zusteht. bb) Kostenerstattungsanspruch bei rechtswidriger Verweigerung der Genehmigung Ein weiterer, nicht kodifizierter Kostenerstattungsanspruch gegen den zuständigen Träger beruht auf der Rechtsprechung des EuGH. Der Anspruch ergibt sich aus einer (erweiternden) Auslegung des Verordnungsrechts und wird vom EuGH mit den hinter dem Verordnungsrecht stehenden Erwägungen und der Sicherstellung der praktischen Wirksamkeit der Regelungen begründet.68 Nach die-
67 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 134 ff.; EuGH, 15.6.2006 – C-466/04 – Acereda Herrera, Slg. 2006, I-5341, Rn. 24 ff. 68 Siehe EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 34.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
ser Rechtsprechung kann der Versicherte vom zuständigen Träger Kostenerstattung verlangen, wenn dieser die Genehmigung rechtswidrig verweigert, der Versicherte sich aber gleichwohl der Behandlung unterzogen hat. Die Erstattung bemisst sich nach der Höhe der Kosten, die der zuständige Träger zu tragen gehabt hätte, wenn die Genehmigung von Anfang an ordnungsgemäß erteilt worden wäre; die Höhe der Kosten richtet sich demnach nach den Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers.69 Ob auch in den Konstellationen, in denen der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen oder wegen der Dringlichkeit der Behandlung daran gehindert war, die Genehmigung zu beantragen, oder in denen der Versicherte die Antwort des zuständigen Trägers nicht abwarten konnte,70 ein Kostenerstattungsanspruch nach dem Verordnungsrecht begründet ist, wurde vom EuGH bislang nicht entschieden. Der EuGH hatte diesen Anspruch im Urteil Elchinov ausdrücklich nur für den grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch anerkannt.71 Obwohl seine Ausführungen unter der Überschrift „Zu den Fragen der Auslegung der Art. 49 EG und 22 der Verordnung Nr. 1408/71“ erfolgten, bezog er die Anerkennung dieser Fallgruppe nicht explizit auf das koordinierende Verordnungsrecht.72 cc) Ergänzender Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 Gemäß Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 kann der Versicherte, wenn er einen Teil oder die gesamten Kosten der genehmigten ärztlichen Behandlung selbst getragen hat, vom zuständigen Träger den Differenzbetrag zwischen denjenigen Kosten verlangen, die der zuständige Träger nach Maßgabe des Verordnungsrechts erstattet hat,73 und denjenigen Kosten, die der zuständige Träger für die gleiche Behandlung im zuständigen Mitgliedstaat hätte übernehmen müssen. Es kann also die Differenz zwischen dem (niedrigeren) Erstattungsniveau des aushelfenden Trägers und dem (höheren) Erstattungsniveau des zuständigen Trägers ausgeglichen werden.74 Begrenzt ist der Anspruch gemäß S. 2 auf die dem Versicherten tatsächlich entstandenen Kosten; ferner können Selbstbeteiligungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Trägers berücksichtigt werden. 69 EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 34; EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 48, 75, 77. Einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch fordernd: Vießmann, GuP 2011, 129 (136). 70 Vgl. EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 45. 71 EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 47; hierzu oben unter Kap. 1 E. II. 3. c), S. 108 f. 72 EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 48 f., wo nur die bereits anerkannte Fallgruppe wiederholt wird. 73 Und zwar entweder gegenüber dem Träger des Aufenthaltsorts oder nach Art. 26 Abs. 6 VO (EG) Nr. 987/2009 gegenüber dem Versicherten. 74 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 39.
B. Die Regelungen zu Leistungen bei Krankheit
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Der ergänzende Kostenerstattungsanspruch geht auf die Rechtsprechung des EuGH zurück.75 Er beruht nicht auf einer Auslegung des Verordnungsrechts,76 sondern ergibt sich aus der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit.77 Der EuGH argumentiert, dass eine Behinderung des Freiverkehrs vorliege, wenn dem Versicherten bei einer geplanten Behandlung nach Art. 20 VO (EG) Nr. 883/ 2004 nicht eine ebenso vorteilhafte Deckung gewährt würde, wie sie ihm zugute käme, wenn die Behandlung im zuständigen Mitgliedstaat erfolgt.78 Hierin liegt der Grund, warum nach der Durchführungsverordnung der ergänzende Kostenerstattungsanspruch nur für die geplante Behandlung gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004, nicht hingegen für medizinisch notwendige Leistungen gemäß Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 gilt: In letztgenanntem Fall liegt keine Beeinträchtigung des ungehinderten Freiverkehrs vor.79 3. Abgleich zur früheren VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 19 und 20 VO (EG) Nr. 883/2004 gehen auf Vorgängerregelungen in der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zurück: Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 ist an die Stelle von Art. 22 Abs. 1 lit. a i VO (EWG) Nr. 1408/71 getreten, Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 an die Stelle von Art. 22 Abs. 1 lit. c i, Abs. 2 und 3 VO (EWG) Nr. 1408/71. Die Neuregelungen der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vereinfachen das Regelungssystem,80 behalten aber inhaltlich die Regelungen der Vorgängerverordnung (EWG) Nr. 1408/71 im Wesentlichen bei.81 Insbesondere hinsichtlich der Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 wurde jedoch die Formulierung der Vorgängervorschrift des Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 VO (EWG) Nr. 1408/71 modifiziert: Inhaltlich unverändert blieb der erste Versagungsgrund, wonach die betreffende Behandlung Teil des Leistungskatalogs des Wohnmit-
75 Zuerst in EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 35 ff.; ferner EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 128 ff.; maßgeblich hinsichtlich der Begrenzung der ergänzenden Kostenerstattung auf die tatsächlich angefallenen Kosten: EuGH, 5.10.2010 – C-512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 52. 76 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 37. 77 Vgl. EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363, Rn. 38 ff. (53, letzter Absatz); EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 56. 78 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 56, 63. 79 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 58 ff. (64 f., 72 f.); hierzu oben unter Kap. 1 D. II. 5., S. 72 f. 80 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Vor Art. 17 Rn. 1. 81 Vgl. Frenz/Ehlenz, MedR 2011, 629. Zu den Änderungen im Einzelnen: Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 19 Rn. 3 f. sowie Art. 20 Rn. 3 ff.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
gliedstaats der betreffenden Person sein muss. Für den zweiten Versagungsgrund, ob eine rechtzeitige Behandlung im Wohnmitgliedstaat möglich ist, kommt es aber nicht mehr auf den für die betreffende Behandlung im Wohnmitgliedstaat normalerweise erforderlichen Zeitraum,82 sondern auf einen medizinisch vertretbaren Zeitraum an. Dies ist als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH zu sehen, die das ursprüngliche Erforderlichkeits- in ein Zumutbarkeitskriterium umgedeutet hat.83 Die Rechtsprechung führte gleichzeitig zu einer Vereinheitlichung zwischen koordinierendem Verordnungsrecht und grundfreiheitlichem Kostenerstattungsanspruch: Nach Auffassung des EuGH gibt es keine Gründe, die eine unterschiedliche Auslegung des Kriteriums rechtfertigen könnten.84 Vor diesem Hintergrund hat das Kriterium gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. d auch Eingang in die Richtlinie 2011/24/EU gefunden.
C. Das Regelungsgefüge aus Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch Durch die Entwicklung eines grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs und dessen Kodifizierung in der Richtlinie 2011/24/EU ist das bis dahin allein aus dem koordinierenden Verordnungsrecht bestehende unionsrechtliche Regelungssystem zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in seiner Komplexität angewachsen; es stellen sich die Fragen nach Abgrenzung und Konkurrenz im dreischichtigen Regelungsgefüge.
I. Die unterschiedlichen Regelungssysteme Zunächst sind die grundlegenden Unterschiede zwischen den Regelungssystemen herauszuarbeiten. Da es sich bei dem richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch um die Kodifizierung des grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs handelt, die Kostenerstattungsansprüche also dieselben rechtlichen Konturen aufweisen, ist dieser Systemvergleich zwischen dem Verordnungsrecht (Art. 17 ff. VO (EG) Nr. 883/2004) auf der einen und dem (grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen) Kostenerstattungsanspruch auf der anderen Seite anzustellen.
82 Anders ausgestaltet war die Genehmigungsvoraussetzung noch in Art. 22 Abs. 2 UAbs. 2 der ursprünglichen Fassung der VO (EWG) Nr. 1408/71 [ABl. L 149 vom 5.7.1971, S. 2 ff.], wonach es nur darauf ankam, ob der Arbeitnehmer im Wohnmitgliedstaat die betreffende Behandlung nicht erhalten kann. 83 Wollenschläger, EuR 2012, 149 (153); siehe EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 45 f.; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I4325, Rn. 57 ff.; EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 63 ff. 84 EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 59 f.
C. Das Regelungsgefüge
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1. Primärrechtliche Wurzeln Der grundlegende Unterschied zwischen den Regelungssystemen liegt in ihrer primärrechtlichen Verwurzelung: Während sich das koordinierende Verordnungsrecht aus den Personenverkehrsfreiheiten hin zu einem freizügigkeitsspezifischen Koordinierungsrecht entwickelt hat, beruht der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch und dessen Kodifizierung in der Richtlinie 2011/24/EU auf den Produktverkehrsfreiheiten, also der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit.85 2. Anwendungsbereich Abgrenzungsbedarf besteht im Hinblick auf die Anwendungsbereiche der Regelungssysteme. Es ist zu ermitteln, welche Fälle der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sowohl durch das Verordnungsrecht als auch durch den Kostenerstattungsanspruch geregelt werden. a) Sachlicher Anwendungsbereich aa) Erfasste Gesundheitsleistungen Im Grundsatz erfassen beide Regelungssysteme sämtliche Arten von Gesundheitsleistungen. Für die Richtlinie 2011/24/EU sind aber die Bereichsausnahmen gemäß Art. 1 Abs. 3 lit. a–c zu beachten. Insbesondere Dienstleistungen im Bereich der Langzeitpflege sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen.86 Eine solche Bereichsausnahme besteht im Verordnungsrecht nicht. Vielmehr sind nach der Rechtsprechung des EuGH87 und gemäß Art. 1 lit. va i S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 Pflegeleistungen als Sachleistungen bei Krankheit anzusehen. In Bezug auf die Leistungserbringer erfasst das Verordnungsrecht allerdings nur die in das jeweilige mitgliedstaatliche Versorgungssystem eingebundenen Leistungserbringer, wohingegen nach dem Richtlinienrecht ein Anspruch auf Kostenerstattung grundsätzlich auch bei der Erbringung durch private Gesundheitsdienstleister besteht.88 bb) Grenzüberschreitung Entscheidender Abgrenzungsbedarf zwischen den Regelungssystemen besteht bei der Frage der Grenzüberschreitung. In der Richtlinie 2011/24/EU finden sich 85
Vgl. Kingreen, ZESAR 2009, 109 (110). Zur Frage der Erfassung dieser Leistungen durch den grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch siehe oben unter Kap. 2 B. I. 2. a), S. 125 f. 87 EuGH, 5.3.1998 – C-160/96 – Molenaar, Slg. 1998, I-843, Rn. 19 ff.; EuGH, 12.7.2012 – C-562/10 – Kommission/Deutschland, ZESAR 2012, 491, Rn. 45 f. 88 COM(2014) 44 final, S. 5, 6, 8. 86
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
zur Frage der Grenzüberschreitung keine ausdrücklichen Regelungen. Die Begrenzungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie sind aus ihrer Verwurzelung in der Dienstleistungsfreiheit und deren Begrenzungen herzuleiten.89 (1) Dauer des Aufenthalts Voraussetzung für die Anwendung des grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs ist ein nur vorübergehender Aufenthalt des Patienten. Dies ergibt sich aus der Verwurzelung in der Dienstleistungsfreiheit, die voraussetzt, dass es sich um einen vorübergehenden und nicht um einen dauerhaften Aufenthalt des Patienten in dem anderen Mitgliedstaat handelt.90 Um einen solchen nur vorübergehenden Aufenthalt handelt es sich auch in den Fällen der Art. 19 und 20 VO (EG) Nr. 883/2004: „Aufenthalt“ meint gemäß Art. 1 lit. k VO (EG) Nr. 883/2004 den vorübergehenden Aufenthalt. Dagegen geht es bei Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 um einen dauerhaften Aufenthalt im Wohnortmitgliedstaat. Für den grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch fehlt es in diesen Fällen an dem notwendigen grenzüberschreitenden Element. In den Fällen des Art. 17 VO (EG) Nr. 883/2004 besteht der Kostenerstattungsanspruch somit nicht, so dass sich keine Überschneidung im Anwendungsbereich zwischen Art. 17 und dem Kostenerstattungsanspruch ergibt.91 Im Fall des Art. 18 VO (EG) Nr. 883/2004 übertritt zwar der Versicherte die Grenze, wenn er sich vorübergehend im zuständigen Mitgliedstaat aufhält, weshalb das für die Eröffnung des Schutzbereichs der Produktverkehrsfreiheiten notwendige grenzüberschreitende Element vorliegt. Eine Beeinträchtigung der Warenverkehrs- oder Dienstleistungsfreiheit kann aber deswegen nicht angenommen werden, weil durch Art. 18 VO (EG) Nr. 883/2004 der originäre Sachleistungsanspruch gegenüber dem zuständigen Träger eröffnet wird, der Versicherte an der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im zuständigen Mitgliedstaat also nicht gehindert wird. Mangels Beeinträchtigung des Freiverkehrs durch das mitgliedstaatliche Recht ist deshalb auch in den Fällen des Art. 18 VO (EG) Nr. 883/2004 der Kostenerstattungsanspruch nicht gegeben, so dass sich die Anwendungsbereiche der Regelungen nicht überschneiden.
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Bieback, ZESAR 2013, 143 (146). EuGH, 16.7.2009 – C-208/07 – von Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095, Rn. 75; ferner Bieback, ZESAR 2013, 143 (146); Schreiber, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen, 2012, S. 181 (184). 91 So auch Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Vorbem. RiL 2011/24/EU Rn. 34; Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 22; auch Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17/13101, S. 8. Anders Kingreen, ZESAR 2009, 109 (111 f.). 90
C. Das Regelungsgefüge
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(2) Zweck des Aufenthalts Im Fall des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 muss es sich um eine geplante Behandlung handeln, die Inanspruchnahme der Behandlung muss Zweck des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat sein.92 Im Fall des Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 begibt sich der Versicherte hingegen aus anderen Gründen in den anderen Mitgliedstaat, wo dann eine Sachleistung medizinisch notwendig wird. Der grundfreiheitliche bzw. richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch besteht jedenfalls dann, wenn sich ein Patient geplant zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einen anderen Mitgliedstaat begibt.93 Dagegen besteht – gestützt auf die Rechtsprechung des EuGH zum Primärrecht – ein Anspruch nicht, wenn sich ein Patient aus anderen Gründen als zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt und dort eine Behandlung medizinisch notwendig wird.94 Für den Fall jedoch, dass sich ein Patient aus anderen Gründen als zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt und sich dort entschließt, eine Gesundheitsleistung in Anspruch zu nehmen, ohne dass diese medizinisch notwendig ist (Fälle der ungeplanten medizinisch nicht notwendigen Behandlung), erweist sich der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit als betroffen und die Grundfreiheit als beeinträchtigt.95 Spiegelt man diese, aus den grundfreiheitlichen Wurzeln hergeleiteten Vorgaben auf die Richtlinie 2011/24/EU, muss auch nach dem Richtlinienrecht in diesen Fällen ein Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 7 bestehen. Aus diesem Befund lässt sich schlussfolgern, dass eine Überschneidung des Anwendungsbereichs des grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs mit dem koordinierenden Verordnungsrecht nur im Fall der geplanten Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung vorliegt; ein Konkurrenzverhältnis kann somit nur zu Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 entstehen.96 Kein Konkurrenzverhältnis entsteht dagegen in den beiden anderen denkbaren Konstellationen eines vorübergehenden Aufenthalts: Für den Fall der ungeplanten Inanspruchnahme medizinisch notwendiger Gesundheitsleistungen ist der grundfreiheitliche bzw. richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch nicht gegeben und alleine Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 einschlägig. Der Fall der ungeplanten Inanspruchnahme medizinisch nicht notwendiger Gesundheitsleistungen ist vom 92 Siehe Nr. 2 des Beschlusses S3 der Verwaltungskommission, ABl. C 106 vom 24.4.2010, S. 40–41. 93 Bieback, ZESAR 2013, 143 (146); Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (404); Höffer/Wölfle, DGUV-Forum 7 8/2011, 46 (49); Janda, ZESAR 2010, 465 (470). 94 Hierzu oben unter Kap. 1 D. II. 5., S. 72 f., sowie Kap. 2 B. I. 2. b), S. 126 ff. 95 Zu dieser hier vertretenen Auffassung oben unter Kap. 2 B. I. 2. b), S. 126 ff. 96 Bieback, ZESAR 2013, 143 (144).
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
koordinierenden Verordnungsrecht nicht erfasst, sondern unterliegt nach hier vertretener Auffassung allein dem grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch. (3) Zwischenergebnis Im Ergebnis überschneidet sich der grundfreiheitliche bzw. richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch in seinem Anwendungsbereich weder mit Art. 17 und 18, noch mit Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004; eine Überschneidung besteht nur bei geplanten Behandlungen gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004. Die nachfolgende weitere Gegenüberstellung von koordinierendem Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch kann sich daher auf die Abgrenzung zwischen Kostenerstattungsanspruch und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 beschränken. b) Persönlicher Anwendungsbereich Hinsichtlich des berechtigten Personenkreises ergeben sich zwischen Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch keine Unterschiede. Konkretisiert wird der persönliche Anwendungsbereich des Kostenerstattungsanspruchs durch das Richtlinienrecht: Art. 3 lit. b Richtlinie 2011/24/EU verweist für den gemäß Art. 7 ff. maßgeblichen Begriff des „Versicherten“ auf die Regelungen des Verordnungsrechts. Zu beachten sind die Ausnahmen in Art. 7 Abs. 2 Richtlinie 2011/24/EU, die verhindern sollen, dass die besonderen Vorschriften des koordinierenden Verordnungsrechts für Rentner und Familienangehörige von Versicherten durch das Richtlinienrecht ausgehebelt werden.97 3. Anspruchsvoraussetzungen Unterschiede zwischen Kostenerstattungsanspruch und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 ergeben sich bei der Gegenüberstellung der Anspruchsvoraussetzungen. Da der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch durch die Richtlinie 2011/24/EU konkretisiert wird, ist für die Gegenüberstellung in erster Linie auf die Bestimmungen des Richtlinienrechts abzustellen. a) Beschränkung auf nationalen Leistungskatalog Sowohl der verordnungsrechtliche Anspruch bei geplanten Behandlungen gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 als auch der Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2011/24/EU ist auf den nationalen Leistungskatalog beschränkt. Ein Unterschied ergibt sich daraus, dass Art. 20 Abs. 2 97
Bieback, ZESAR 2013, 143 (145).
C. Das Regelungsgefüge
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S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 auf den Leistungskatalog des Wohnmitgliedstaats, Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2011/24/EU hingegen auf den Leistungskatalog des Versicherungsmitgliedstaats verweist. b) Genehmigungserfordernis Für den Anspruch aus Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 ist bei sämtlichen Arten von Gesundheitsleistungen grundsätzlich die vorherige Einholung einer Genehmigung beim zuständigen Träger erforderlich. Für den Kostenerstattungsanspruch ist ein Genehmigungserfordernis hingegen gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. a Richtlinie 2011/24/EU zulässig, wenn dies das nationale Recht vorsieht und es sich um eine stationäre Behandlung oder um eine Spezialbehandlung handelt. Bei ambulanten nicht spezialisierten Behandlungen kennt das Richtlinienrecht somit im Unterschied zu Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 kein Vorabgenehmigungserfordernis. Für den richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch ist allerdings – unabhängig von der Art der betroffenen Gesundheitsleistung – die Möglichkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. b und c zu beachten. c) Genehmigungsvoraussetzungen Die Genehmigungsvoraussetzungen von Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 bzw. dessen Vorgängervorschrift und grundfreiheitlichem Kostenerstattungsanspruch wurden, zunächst durch die Rechtsprechung des EuGH,98 infolgedessen durch den europäischen Gesetzgeber, wechselseitig angepasst. Bei Erlass der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 wurden gemäß Erwägungsgrund Nr. 21 S. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 die Bestimmungen „über Leistungen bei Krankheit [. . .] im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofes erstellt“. S. 2 bezieht dies insbesondere auf die Bestimmungen über die vorherige Genehmigung. Dem wurde durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 Rechnung getragen. Die Richtlinie 2011/24/EU übernimmt ebenfalls diese Vorgaben in Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 6 lit. d. Konkret darf eine Genehmigung verweigert werden, wenn die betreffende Gesundheitsversorgung unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Krankheitsverlaufs des jeweils betroffenen Patienten auf dem Hoheitsgebiet des zuständigen Trägers innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums geleistet werden kann. Die geringen Abweichungen im Wortlaut zwischen Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 und Art. 8 Abs. 6 lit. d bedeuten keine inhaltlichen Abweichungen. Zu beachten ist, dass die Richtlinie 2011/24/EU in Art. 8 Abs. 6 lit. a–c weitere Gründe zur Verweigerung der Genehmigung vorsieht. 98 EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 45 f., 59; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 59 ff.
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
d) Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen Im koordinierenden Verordnungsrecht richtet sich – dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe entsprechend – das Leistungsrecht, also auch die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen, nach den Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers.99 Im Fall des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 liegt damit das Genehmigungsverfahren in der Verantwortung des zuständigen Trägers; über die sonstigen speziellen Leistungsvoraussetzungen entscheiden die Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers.100 Demgegenüber richten sich die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs nach dem Recht des Versicherungsmitgliedstaates. Der Versicherungsmitgliedstaat kann gemäß Art. 7 Abs. 7 dem Versicherten dieselben – nichtdiskriminierenden – Voraussetzungen, Anspruchskriterien sowie Regelungs- und Verwaltungsformalitäten vorschreiben, die er für die gleiche Gesundheitsversorgung im eigenen Hoheitsgebiet heranziehen würde. Dies umfasst insbesondere gemäß S. 2 eine Einschätzung des Allgemeinmediziners oder Hausarztes vor der Behandlung. 4. Rechtsfolgen a) Anspruchsgegner Im Grundsatz besteht für den Versicherten gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 ein Anspruch auf Sachleistungsaushilfe gegen den aushelfenden Träger.101 Die Erstattung der Kosten erfolgt dann zwischen zuständigem und aushelfendem Träger. Wie erörtert wurde, kennt das Verordnungsrecht aber auch sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche, die sich gemäß Art. 26 Abs. 6 i.V. m. Art. 25 Abs. 5 VO (EG) Nr. 987/2009 wahlweise auch gegen den zuständigen Träger richten können. Der grundfreiheitliche bzw. richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch stellt hingegen im Grundsatz einen reinen Kostenerstattungsanspruch dar, der sich gegen den im Versicherungsmitgliedstaat zuständigen Träger richtet. Allerdings können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 9 Abs. 5 UAbs. 1 Richtlinie 2011/24/EU fakultativ auch ein System der Kostentragung vorsehen, auf dessen Grundlage der ausländische Leistungserbringer die Behandlungskosten direkt mit dem Versicherungsträger abrechnet.102 b) Anspruchsumfang Aufgrund des dem Verordnungsrecht zugrundeliegenden Prinzips der Sachleistungsaushilfe richtet sich das Leistungsrecht, also auch die Rechtsfolgen, nach 99
Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 14. Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 21. 101 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 15. 102 Vgl. Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (408). 100
C. Das Regelungsgefüge
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den Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers.103 Im Fall des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 besteht die Besonderheit, dass der Anspruchsinhalt durch die erteilte Vorabgenehmigung bereits konkretisiert ist. Der Umfang der Genehmigung beschränkt zugleich den Umfang der Sachleistungsaushilfe, der Träger des Aufenthaltsorts ist an den vorgegebenen Behandlungsrahmen gebunden.104 Im Übrigen sind – dem Grundsatz der Sachleistungsaushilfe entsprechend – die Rechtsvorschriften des aushelfenden Trägers maßgeblich: Der aushelfende Träger braucht nur solche Gesundheitsleistungen zu gewähren, die nach seinen Rechtsvorschriften vorgesehen sind;105 bei Gewährung von Sachleistungen wird die Höhe der Kosten, die dem aushelfendem Träger vom zuständigem Träger gemäß Art. 35 VO (EG) Nr. 883/2004 erstattet werden, auf Grundlage der Rechnungsführung des aushelfenden Trägers bzw. nach Maßgabe der besonderen Bestimmungen der Art. 35 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V. m. Art. 62 ff. VO (EG) Nr. 987/2009 berechnet; ferner sind Selbstbehalte, Praxisgebühren, Festbeträge sowie weitere Voraussetzungen und Verwaltungsformalitäten des aushelfenden Trägers zu beachten106. Demgegenüber bemisst sich nach dem Richtlinienrecht der Umfang des Kostenerstattungsanspruchs nach dem Recht des Versicherungsmitgliedstaats. Gemäß Art. 7 Abs. 4 UAbs. 1 erstattet der Versicherungsmitgliedstaat die Kosten bis zu den Höchstbeträgen, die er übernommen hätte, wenn die betreffende Gesundheitsdienstleistung in seinem Hoheitsgebiet erbracht worden wäre. c) Begrenzung auf die Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten Allen Ansprüchen ist gemeinsam, dass eine Kostenübernahme auf die Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten beschränkt ist. Im Falle der Sachleistungsaushilfe stellt sich diese Frage ohnehin nicht, die Kostenerstattungsansprüche sehen eine solche Beschränkung ausdrücklich vor107. d) Nebenkosten Hinsichtlich der Übernahme von Nebenkosten gelten für das koordinierende Verordnungsrecht und das Richtlinienrecht dieselben rechtlichen Maßstäbe: Für 103
Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 14. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 16; ferner Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Rn. 21. Im Einzelnen EuGH, 12.4.2005 – C-145/03 – Keller, Slg. 2005, I-2529, Rn. 43 ff. 105 A. Schreiber, ZESAR 2004, 413 (414); F. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 17. 106 Vgl. Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 17 Rn. 17. 107 Art. 25 Abs. 8; Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009; EuGH, 5.10.2010 – C512/08 – Kommission/Frankreich, Slg. 2010, I-8833, Rn. 52; Art. 7 Abs. 4 UAbs. 1 RiL 2011/24/EU. 104
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
das Verordnungsrecht hat der EuGH entschieden, dass sich der Anspruch auf Sachleistungen ausschließlich auf solche Kosten bezieht, die mit der Gesundheitsversorgung verbunden sind; hierunter fallen nicht Nebenkosten wie Reise-, Aufenthalts- und Verpflegungskosten.108 Das Verordnungsrecht regelt allerdings in Art. 26 Abs. 8 VO (EG) Nr. 987/2009, dass die mit der Behandlung des Versicherten untrennbar verbundenen Reise- und Aufenthaltskosten vom zuständigen Träger zu übernehmen sind, wenn die Rechtsvorschriften des zuständigen Trägers dies vorsehen. In Bezug auf das Richtlinienrecht gelten für Nebenkosten die in der Rechtsprechung des EuGH aufgestellten Grundsätze, wonach Nebenkosten nicht erstattet werden müssen, wenn die Regelung nicht diskriminierend ist und den Freiverkehr nicht erschwert.109 Auch beim Kostenerstattungsanspruch müssen also Nebenkosten nicht erstattet werden, wenn ihre Übernahme nach den Rechtsvorschriften des Versicherungsmitgliedstaats nicht vorgesehen ist. Art. 7 Abs. 4 UAbs. 3 Richtlinie 2011/24/EU enthält eine besondere, jedoch fakultative Bestimmung für Personen mit Behinderung. 5. Ergebnis zu den unterschiedlichen Regelungssystemen Zwischen den Art. 17 ff. VO (EG) Nr. 883/2004 auf der einen und dem grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch auf der anderen Seite lassen sich erhebliche Unterschiede feststellen: Während das Verordnungsrecht in den Personenverkehrsfreiheiten wurzelt, beruht der Kostenerstattungsanspruch auf den Produktverkehrsfreiheiten. Stellt man die Anwendungsbereiche der Regelungssysteme gegenüber, ergibt sich, dass ein Kostenerstattungsanspruch in den Fällen der Art. 17–19 VO (EG) Nr. 883/2004 nicht besteht; nur in den Fällen der geplanten Behandlung gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 ist daneben auch der Kostenerstattungsanspruch einschlägig. Die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen weisen vielfach Gemeinsamkeiten auf, insbesondere was ihre Voraussetzungen für die Verweigerung einer Vorabgenehmigung anbelangt. Die maßgeblichen Unterschiede zwischen Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und dem Kostenerstattungsanspruch resultieren aus dem im Verordnungsrecht geltenden Prinzip der Sachleistungsaushilfe. Dies hat insbesondere Folgen für die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen, den Anspruchsgegner sowie den Anspruchsumfang. Des Weiteren ergibt sich ein bedeutender Unterschied daraus, dass der Kostenerstattungsanspruch im Gegensatz zu Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 grundsätzlich kein Vorabgenehmigungserfordernis bei ambulanten nicht spezialisierten Behandlungen kennt. 108 Vgl. EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 134 ff.; EuGH, 15.6.2006 – C-466/04 – Acereda Herrera, Slg. 2006, I-5341, Rn. 24 ff. 109 Siehe EuGH, 18.3.2004 – C-8/02 – Leichtle, Slg. 2004, I-2641, Rn. 37; EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 139 f.
C. Das Regelungsgefüge
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6. Graphische Darstellung Zur Veranschaulichung können die unterschiedlichen Regelungssysteme in ihrem Grundmodell graphisch wie folgt dargestellt werden: Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 Zuständiger Mitgliedstaat
Aufenthaltsmitgliedstaat Erstattung zwischen den Trägern
Zuständiger Träger
Aushelfender Träger
Leistungserbringer
Anspruch (grds. auf medizinisch notwendige Sachleistungen)
Grenzüberschreitung aus anderen Gründen
Gesundheitsleistung
Versicherter vorübergehender Aufenthalt
Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Zuständiger Mitgliedstaat
Aufenthaltsmitgliedstaat Erstattung zwischen den Trägern
Zuständiger Träger
Aushelfender Träger
Leistungserbringer
Anspruch
Genehmigung
(grds. auf genehmigte Sachleistungen)
Grenzüberschreitung zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
Gesundheitsleistung
Versicherter vorübergehender Aufenthalt
Grundfreiheitlicher Kostenerstattungsanspruch / Art. 7 RiL 2011/24/EU Versicherungsmitgliedstaat
Zuständiger Träger Genehmigung bei stationären und Spezialbehandlungen
Behandlungsmitgliedstaat
Leistungserbringer Anspruch auf Kostenerstattung
Gesundheitsleistung
Grenzüberschreitung
Versicherter vorübergehender Aufenthalt
214
Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
II. Konkurrenzverhältnisse Soeben wurden die Regelungssysteme der Art. 17 ff. VO (EG) Nr. 883/2004 auf der einen und des grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruchs auf der anderen Seite einander gegenübergestellt. Es konnte herausgearbeitet werden, dass ein Konkurrenzverhältnis zwischen Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch nur bei geplanten Behandlungen gemäß Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 besteht. Dieses Konkurrenzverhältnis soll nachfolgend näher untersucht werden. Zuvor ist jedoch auf ein weiteres Konkurrenzverhältnis, nämlich dem zwischen grundfreiheitlichem Kostenerstattungsanspruch und richtlinienrechtlichem Kostenerstattungsanspruch einzugehen. Die beiden Kostenerstattungsansprüche wurden zur Ermöglichung eines Systemvergleichs zwischen Verordnungsrecht und Kostenerstattungsanspruch einheitlich betrachtet; sie stehen jedoch normenhierarchisch auf unterschiedlichen Ebenen und treten zueinander in Konkurrenz. 1. Verhältnis zwischen grundfreiheitlichem und richtlinienrechtlichem Kostenerstattungsanspruch In Art. 7 ff. Richtlinie 2011/24/EU wurde der vom EuGH entwickelte grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch kodifiziert.110 Zwar kann das Sekundärrecht aus normenhierarchischen Gründen das Primärrecht nicht verdrängen, doch nimmt das Richtlinienrecht den in den Grundfreiheiten verbürgten Freiheitsgehalt auf, konturiert diesen und bietet somit den konkreteren Prüfungsmaßstab für die betroffene Sachmaterie.111 Daher sind die Art. 7 ff. Richtlinie 2011/24/EU als abschließendes Sekundärrecht nun vorrangig vor dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch anzuwenden. Hierbei ist selbstverständlich zu beachten, dass die Richtlinie als an die Mitgliedstaaten gerichteter Sekundärrechtsakt grundsätzlich nicht selbst unmittelbar anspruchsbegründende Wirkung entfalten kann; das dargestellte Konkurrenzverhältnis besteht daher zwischen dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch auf der einen und dem richtlinienkonformen nationalen Umsetzungsakt auf der anderen Seite. Dennoch behält der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch weiterhin Bedeutung: Wie bereits dargelegt wurde, ist für Auslegungsfragen auf die Vorgaben des Primärrechts zurückzugreifen; insbesondere die Begrenzungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie ergeben sich aus ihrer Verwurzelung in der Dienstleistungsfreiheit und deren Begrenzungen.112 Aber auch dann, wenn sich herausstellen sollte, dass die Richtlinie 2011/24/EU hinter den Vorgaben des Pri110 111 112
Hierzu oben unter Kap. 2 B. II., S. 131 ff., und V., S. 153 f. Hierzu grundsätzlicher oben unter Kap. 1 B. IV. 1., S. 40 f. Bieback, ZESAR 2013, 143 (146).
C. Das Regelungsgefüge
215
märrechts zurückbleibt,113 kommt ein Rückgriff auf den grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch in Betracht. 2. Verhältnis zwischen Kostenerstattungsanspruch und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Das Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und Kostenerstattungsanspruch regelt die Richtlinie 2011/24/EU den Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung114 entsprechend: Art. 2 lit. m bestimmt, dass die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und ihre Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 nicht berührt werden sollen.115 Die Auflösung des Konkurrenzverhältnisses erfolgt durch Art. 8 Abs. 3, der bestimmt, dass der Versicherungsmitgliedstaat bei jedem Antrag auf Vorabgenehmigung, den ein Versicherter stellt, um eine grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistung in Anspruch zu nehmen, festzustellen hat, ob die Bedingungen der VO (EG) Nr. 883/2004 erfüllt sind. Sind die Bedingungen erfüllt, „wird die Vorabgenehmigung gemäß der genannten Verordnung erteilt, es sei denn, der Patient wünscht etwas anderes“.116 Dem Patienten steht somit ein Wahlrecht zu. Erfolgt die Inanspruchnahme auf Grundlage des koordinierenden Verordnungsrechts, ist Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 von Bedeutung, der die konkurrierenden Ansprüche wiederum im Sinne einer Meistbegünstigung des Patienten ordnet: Hiernach kann ein Patient, der eine Sachleistung auf Grundlage des Verordnungsrechts in Anspruch genommen hat, den Differenzbetrag verlangen, der sich im Verhältnis zu einem (höheren) Kostenerstattungsanspruch ergibt. Das Konkurrenzverhältnis zu Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 wird grundsätzlich nur relevant, wenn es darum geht, auf welcher Rechtsgrundlage eine Vorabgenehmigung zu erteilen ist. Denn hat der Patient die Gesundheitsleistung bereits tatsächlich in Anspruch genommen, scheidet eine Kostenerstattung auf Grundlage des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 aus, da hiernach stets eine Vorabgenehmigung erforderlich ist. Einzig anerkannte Ausnahme stellt die Konstellation dar, in der die Genehmigung vom zuständigen Träger rechtswidrig verweigert worden ist; dann besteht ein Kostenerstattungsanspruch auch auf Grundlage des Verordnungsrechts.117 Für das auftretende Konkurrenzverhältnis müssen in solchen Fällen obige Grundsätze entsprechend gelten: Die Kostenerstattung erfolgt auf Grundlage des Verordnungsrechts, es sei denn, der Patient wünscht etwas ande113 Zu einem möglichen derartigen Fall siehe bereits oben unter Kap. 2 B. I. 2. a), S. 125 f. 114 Hierzu oben unter Kap. 1 F. II., S. 115. 115 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 28. Gemäß Art. 2 lit. j und s genauso die Drittstaatenverordnungen VO (EG) Nr. 859/2003 und VO (EU) Nr. 1231/2010. 116 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 31. 117 Hierzu oben unter B. IV. 2. d) bb), S. 201 f.
216
Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
res. Darüber hinaus steht dem Patienten wiederum der ergänzende Kostenerstattungsanspruch aus Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 zu.
III. Herstellung von Systemkonsequenz Das Nebeneinander von Kostenerstattungsanspruch und Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 bereitet Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung und erzeugt ein Spannungsverhältnis, das konzeptionelle Fragen aufwirft. 1. Systemwidrigkeit des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist freizügigkeitsspezifisch, es sichert die Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts in der Union. Dem dient Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004, der einen Anspruch auf medizinisch notwendige Leistungen bei vorübergehendem Aufenthalt gewährt. Gäbe es die Vorschrift nicht, könnte das Risiko der Krankheit einen Unionbürger von der Inanspruchnahme seines Freizügigkeitsrechts abhalten. Art. 19 VO (EG) Nr. 883/2004 ist freizügigkeitsakzessorisch,118 weil der Behandlungsanspruch nur während eines Auslandsaufenthalts besteht. Hingegen kommt Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 nach der Rechtsprechung des EuGH eine doppelte Zielsetzung zu: Die Vorschrift trage sowohl zur Erleichterung der Freizügigkeit der Patienten als auch – im selben Maße – zur Erleichterung der Erbringung von grenzüberschreitenden medizinischen Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten bei.119 Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass es bei Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 primär um den Freiverkehr von Gesundheitsleistungen geht: Der Grund für die Grenzüberschreitung liegt in der geplanten Inanspruchnahme eines Produkts, die Ausübung des Freizügigkeitsrechts ist lediglich notwendige Begleiterscheinung.120 Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 stellt vor diesem Hintergrund einen „Fremdkörper“ 121 im System der Sozialrechtskoordinierung dar.122 118
Wollenschläger, EuR 2012, 149 (153). EuGH, 16.5.2006 – C-372/04 – Watts, Slg. 2006, I-4325, Rn. 54; EuGH, 12.4.2005 – C-145/03 – Keller, Slg. 2005, I-2529, Rn. 46; EuGH, 23.10.2003 – C-56/ 01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 21, 25. Hingegen noch allein auf den Freizügigkeitsaspekt beschränkend: EuGH, 12.7.2001 – C-368/98 – Vanbraekel, Slg. 2001, I5363, Rn. 32. Vgl. auch Wollenschläger, EuR 2012, 149 (Fn. 14). 120 So auch Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, S. 39; Wollenschläger, EuR 2012, 149 (153). 121 Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 99; Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 187. 122 Nach vereinzelt vertretener Auffassung in der Literatur ist Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 sogar kompetenzwidrig erlassen, siehe Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 102; Dünnes-Zimmermann, Gesundheitspolitische Handlungsspielräume, 2006, 119
C. Das Regelungsgefüge
217
2. Vereinheitlichung des Rechtsrahmens Angesichts der Systemwidrigkeit des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 ist das unionsrechtliche Regelungssystem zu überdenken und nach Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda zu suchen. a) Integration des Kostenerstattungsanspruchs in das Verordnungsrecht? Im Zuge des Rechtsetzungsverfahrens zur Modernisierung der VO (EWG) Nr. 1408/71, welches in den Erlass der VO (EG) Nr. 883/2004 mündete, wurde erwogen, das Verordnungsrecht im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zum grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch anzupassen.123 Konkret umgesetzt wurde dies jedoch nur im Bereich der Genehmigungsvoraussetzungen bei einer geplanten Behandlung gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/ 2004.124 Damit blieb der europäische Gesetzgeber hinter den Forderungen vieler Literaturstimmen zurück. Neben wesentlich weitergehenden Vorschlägen125 sprach sich das Schrifttum mehrheitlich dafür aus, den grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch im koordinierenden Verordnungsrecht als einheitlichem Rechtsrahmen zu kodifizieren.126 Die Existenz zweier, parallel anzuwendender Rechtsgrundlagen stelle zweifellos eine Erschwerung dar.127 Diesen Forderungen ist der europäische Gesetzgeber zu Recht nicht nachgekommen. Denn gegen die Integration des Kostenerstattungsanspruchs in das Verordnungsrecht ist einzuwenden, dass ein solches Vorhaben nicht mit dem kompetenzrechtlichen Rahmen des Verordnungsrechts vereinbar wäre. Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist auf ex-Art. 42 und 308 EG gestützt. Auf diese Rechtsgrundlagen ließen sich die Regelungsinhalte des Kostenerstattungsanspruchs, der auf der Dienstleistungsund Warenverkehrsfreiheit beruht, nicht stützen, da aus den gewählten Rechtsgrundlagen keine allgemeine Kompetenz für die Rechtsangleichung im BinnenS. 40. Die Unionsrechtskonformität der (Vorgänger-)Bestimmung wurde vom EuGH – jedoch nur in materiell-rechtlicher Hinsicht – in EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 15 ff. festgestellt. 123 Siehe Rat, Parameter für die Modernisierung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 6.12.2001 [15045/01], S. 18 f. 124 Schreiber, in: Schreiber/Wunder/Dern, Art. 20 Rn. 4. 125 Siehe Eichenhofer, VSSR 1999, 101 (121); ablehnend Kleine, Grenzüberschreitende Behandlungsleistungen, 2002, S. 132. 126 Hierfür Bokeloh, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 57 ff. (68); Cornelissen, in: Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 17 (70); Jorens/van Overmeiren, in: Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 105 (120); Schulte, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 95 (136). Grundsätzlicher bereits Fuchs, NZS 2002, 337 (342 ff.). 127 Bokeloh, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 57 ff. (68); Cornelissen, in: Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 17 (70); Jorens/van Overmeiren, in: Eichenhofer, 50 Jahre nach ihrem Beginn, 2009, S. 105 (120 f.).
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Kap. 3: Das Verordnungsrecht im unionsrechtlichen Regelungsgefüge
markt hervorgeht. Soll das Verordnungsrecht systemkonsequent als freizügigkeitsspezifisches Koordinierungsrecht fortgeführt werden, verbietet sich eine Integration des grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs. b) Streichung des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 Systemkonsequent wäre vielmehr die Streichung der systemwidrigen Vorschrift des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 aus dem Verordnungsrecht. Zu Recht wurde von Seiten der Literatur die Anspruchskonkurrenz zwischen Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und Kostenerstattungsanspruch kritisiert. Denn die Ansprüche drohen sich gegenseitig zu unterlaufen, was nur deshalb praktisch nicht ins Gewicht fällt, weil die Ansprüche in ihren Voraussetzungen im Wesentlichen identisch sind und eine Auflösung der Anspruchskonkurrenz zugunsten des Patienten erfolgt: So wurden insbesondere die Voraussetzungen für die Erteilung einer Vorabgenehmigung zunächst durch die Rechtsprechung des EuGH und sodann durch den europäischen Gesetzgeber einander angepasst.128 Ferner wird die Konkurrenz durch Art. 8 Abs. 3 S. 2 Richtlinie 2011/24/EU und Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/2009 im Sinne einer Meistbegünstigung zugunsten des Patienten aufgelöst. Gerade aber die Bestimmung des Art. 26 Abs. 7 VO (EG) Nr. 987/ 2009 ist ein weiterer Beleg für die Systemwidrigkeit des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004, weil sie auf die Rechtsprechung des EuGH zur Dienstleistungsfreiheit zurückgeht. Die Vorschrift verfolgt keine eigene freizügigkeitsspezifische Zwecksetzung, was durch die Tatsache verdeutlicht wird, dass eine derartige Regelung in der Durchführungsverordnung in Bezug auf Art. 19 VO (EG) Nr. 883/ 2004 nicht existiert. In Wahrheit geht es bei Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 um die Verwirklichung des Freiverkehrs von Gesundheitsleistungen. Es kann nicht überzeugen, sich zur Begründung eines Nebeneinanders der Regelungssysteme auf ihre Unterschiedlichkeit zu berufen,129 gleichzeitig aber die Regelungssysteme einander anzupassen und sie im Sinne einer Meistbegünstigung zugunsten des Patienten faktisch zusammenzuführen. Es ist daher nicht eine systemfremde Integration des grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs in das Verordnungsrecht, sondern eine Bereinigung des Verordnungsrechts durch Streichung der systemwidrigen Vorschrift des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 vorzunehmen. Das Verordnungsrecht wäre dann auf seine freizügigkeitsspezifische Zwecksetzung zurückgeführt. Dieser Zwecksetzung wäre mit den verbleibenden Bestimmungen in Art. 17–19 VO (EG) Nr. 883/2004 Genüge getan; ein freizügigkeitsspezifisches Regelungsdefizit entstünde nicht. Der grenzüberschreitende Freiverkehr von Gesundheitsleistungen bei geplanten Behandlungen würde systemkonsequent allein auf Grund128 129
Hierzu oben unter C. I. 3. c), S. 209. So etwa EuGH, 23.10.2003 – C-56/01 – Inizan, Slg. 2003, I-12403, Rn. 19 ff.
D. Fazit zum unionsrechtlichen Regelungsgefüge
219
lage des aus den Produktverkehrsfreiheiten entwickelten Kostenerstattungsanspruchs, der in Richtlinienrecht kodifiziert wurde und in nationales Recht umzusetzen ist, verwirklicht.130
D. Fazit zum unionsrechtlichen Regelungsgefüge Auf Unionsebene ist mittlerweile ein dreischichtiges Regelungsgefüge für die Fälle der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entstanden: Das seit jeher bestehende Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (heute VO (EG) Nr. 883/2004) bildet mit dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch sowie dessen Kodifizierung in Richtlinie 2011/24/EU einen komplexen Rechtsrahmen. Grenzt man die Regelungssysteme voneinander ab, zeigt sich, dass ein Konkurrenzverhältnis zum Kostenerstattungsanspruch nur in den Fällen des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 entsteht; in den Fällen der Art. 17–19 VO (EG) Nr. 883/2004 greift der grundfreiheitliche bzw. richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch hingegen nicht. Der Kostenerstattungsanspruch weist gegenüber dem auf dem Prinzip der Sachleistungsaushilfe beruhenden Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in Bezug auf Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen auf. Das entstandene Konkurrenzverhältnis zwischen Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und Kostenerstattungsanspruch wird durch die Regelungssysteme im Sinne einer Meistbegünstigung zugunsten des Patienten aufgelöst. Für das Konkurrenzverhältnis zwischen grundfreiheitlichem Kostenerstattungsanspruch und richtlinienrechtlichem Kostenerstattungsanspruch gilt, dass das Richtlinienrecht – bzw. dessen nationaler Umsetzungsakt – nun als abschließendes Sekundärrecht vorrangig vor dem grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch anzuwenden ist; der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch bleibt jedoch für Auslegungsfragen und bei Umsetzungsdefiziten von Bedeutung. Das Nebeneinander von Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und Kostenerstattungsanspruch verkompliziert das Regelungssystem und führt zu Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung. Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 erweist sich im freizügigkeitsspezifischen Verordnungsrecht als systemwidrig, weil es bei der Vorschrift in erster Linie um die Verwirklichung des Freiverkehrs von Gesundheitsleistungen geht. Daher ist die Vorschrift aus dem Verordnungsrecht zu streichen. Der grenzüberschreitende Freiverkehr von Gesundheitsleistungen bei geplanten Behandlungen sollte allein auf Grundlage des Kostenerstattungsanspruchs verwirklicht werden.
130 Im Ergebnis auch Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 220; ders., MedR 2009, 79 (82). Vgl. ebenso in diesem Sinne, jedoch weitergehend Kingreen, ZESAR 2009, 109 (112 f.).
Kapitel 4
Die Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung Das Unionsrecht im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen wirkt als höherrangige Rechtsquelle auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein: Das Primärrecht zwingt zu Anpassungen im mitgliedstaatlichen Recht und begründet originäre Rechte bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat. Die Richtlinie 2011/ 24/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinienvorgaben in nationales Recht. Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004) bildet ein eigenes Regelungssystem mit allgemeiner und unmittelbarer Geltung in jedem Mitgliedstaat. Im Folgenden sollen die Auswirkungen des Unionsrechts auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung untersucht werden. Da das Verordnungsrecht nicht in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen integriert werden muss, beleuchten die nachfolgenden Ausführungen allein die Auswirkungen des grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs und der Richtlinie 2011/24/EU auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung.
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung im Lichte des Unionsrechts Der deutsche Gesetzgeber hatte bereits mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. November 20031 die vom EuGH entwickelten primärrechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt. Zuvor hatte sich die Rechtsprechung noch mit einer unionsrechtlich modifizierten Auslegung des § 13 Abs. 3 SGB V beholfen.2 Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz schuf der deutsche Gesetzgeber die Regelungen der § 13 Abs. 4–6 SGB V; mit § 140e SGB V wurde ferner für die Krankenkassen die Möglichkeit eröffnet, zur Versorgung ihrer Versicherten mit Leistungserbringern in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union „grenzüberschreitende Sachleistungsverträge“ 3 abzuschließen. Mit dem Vertrags1
BGBl. I, S. 2190, in Kraft getreten am 1.1.2004; Gesetzentwurf: BT-Drs. 15/1525. BSG, 13.7.2004 – B 1 KR 11/04 R, BSGE 93, 94 (96 ff.). Zur Rechtslage vor dem 1.1.2004: Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 191 ff. 3 Schlegel, SGb 2007, 700 (705). 2
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
221
arztrechtsänderungsgesetz (VÄndG) vom 22. Dezember 20064 sowie dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Europa vom 22. Juni 20115 erhielten die Regelungen Anpassungen in ihrem Wortlaut bezüglich der von den Regelungen erfassten Staaten.6 Die Bestimmungen über die Kostenerstattung gemäß Art. 7 ff. Richtlinie 2011/ 24/EU bedurften vor diesem Hintergrund im deutschen Recht keines eigenen Umsetzungsakts mehr. Dennoch sind die vorhandenen Regelungen des SGB V nun insbesondere am Maßstab der Richtlinie 2011/24/EU im Hinblick auf bestehende Umsetzungsdefizite zu überprüfen.
I. § 13 Abs. 4 SGB V Gemäß § 13 Abs. 4 S. 1 SGB V sind Versicherte berechtigt, auch Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz anstelle der Sach- oder Dienstleistung im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen. Unionsrechtskonform entnimmt das BSG der Formulierung „anstelle der Sach- oder Dienstleistung“, dass die Vorschrift einen Primärleistungsanspruch auf die entsprechende Naturalleistung nach dem Leistungsrecht des SGB V voraussetzt;7 hierzu gehört beispielsweise die Einhaltung eines bestimmten – diskriminierungsfreien – Verfahrens.8 Ein Anspruch gemäß § 13 Abs. 4 S. 1 SGB V besteht nicht, wenn Behandlungen für diesen Personenkreis im anderen Staat auf der Grundlage eines Pauschbetrages zu erstatten sind oder auf Grund eines vereinbarten Erstattungsverzichts nicht der Erstattung unterliegen. Diese Ausnahme bezieht sich auf sog. Residenten und rechtfertigt sich damit, dass es andernfalls zu einer nicht gerechtfertigten Doppelleistung (Pauschale und Kostenerstattung) käme.9 Die Ausnahme entspricht den Vorgaben in Art. 7 Abs. 2 lit. b Richtlinie 2011/24/EU.10 Voraussetzung der Kostenerstattung ist gemäß S. 2, dass es sich um Leistungserbringer handelt, bei denen die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung des Berufes Gegenstand einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft sind oder die im jeweiligen nationalen System der Krankenversicherung des Aufent-
4
BGBl. I, S. 3439, in Kraft getreten am 1.1.2007. BGBl. I, S. 1202, in Kraft getreten am 29.6.2011. 6 Näher Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 69. 7 BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 19/08 R, SozR 4-2500 § 13 Nr. 21; auch Gesetzesbegründung, BT-Drs. 15/1525, S. 81. 8 BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 19/08 R, SozR 4-2500 § 13 Nr. 21. 9 Vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 81; Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 13 Rn. 41. Kritisch zur Auslegung der Ausnahme durch das BSG: Schiffner, ZESAR 2006, 304 (308 f.). 10 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 7 RiL 2011/24/EU Rn. 26. 5
222
Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
haltsstaates zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind. Wenn die Voraussetzungen des S. 2 vorliegen, ist, wie das BSG zu Recht betont, die Einbindung des ausländischen Leistungserbringers in das dortige Versorgungssystem nicht Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch;11 erstattungsfähig sind somit auch Leistungen privater Leistungserbringer. Gemäß S. 3 besteht der Anspruch auf Erstattung höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung im Inland zu tragen hätte. Das Verfahren der Kostenerstattung wird gemäß S. 4 durch Satzung geregelt. Gemäß S. 5 hat die Satzung dabei ausreichende Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorzusehen sowie vorgesehene Zuzahlungen in Abzug zu bringen. Letztere Regelung ist unionsrechtlich problematisch. Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen führen zu einer Schlechterstellung ausländischer Gesundheitsleistungen und stellen daher eine Diskriminierung dar.12 Eine Gleichbehandlung liegt nicht etwa deshalb vor, weil § 13 Abs. 2 S. 10 SGB V als maßgebliche Vergleichsgruppe herangezogen werden könnte:13 § 13 Abs. 2 SGB V stellt ein Wahlrecht bei der Inanspruchnahme von Leistungen im Inland dar, wohingegen § 13 Abs. 4 SGB V die verbindliche Regelung für die Kostenerstattung im europäischen Ausland normiert.14 Für das Vorliegen einer Ungleichbehandlung ist somit entscheidend, dass bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Abschläge vom Erstattungsbetrag für Verwaltungskosten und fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfungen vorgesehen werden, wohingegen dies bei der Inanspruchnahme im inländischen System regelmäßig nicht der Fall ist. Ob sich diese Diskriminierung rechtfertigen lässt,15 erscheint zweifelhaft: Wenn schon die grenzüberschreitende Inanspruchnahme ambulanter Gesundheitsleistungen als solche nicht zu einer Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit führen kann, wird die Verwaltung des Kostenerstattungsanspruchs eine derartige Gefährdung kaum begründen können.16 Die Regelung des § 13 Abs. 4 S. 5 SGB V erweist sich deshalb in dieser Hinsicht als primärrechtswidrig;17 auch die Richtlinie 2011/24/EU lässt eine derartige Regelung nicht zu.18 11
BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 22/08 R, ZESAR 2010, 81 (85). Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 257. 13 So aber Fuchs, NZS 2004, 225 (230); auch Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 7 RiL 2011/24/EU Rn. 30. 14 Vgl. Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 255 f. 15 So Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 258; auch Fuchs, NZS 2004, 225 (230). 16 Überzeugend T. Becker, Die Inanspruchnahme, 2008, S. 61. 17 Ebenso T. Becker, Die Inanspruchnahme, 2008, S. 57 ff.; Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 363 f. Zweifelnd auch Kingreen, in: Becker/Kingreen, 12
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
223
Gemäß S. 6 kann die Krankenkasse die Kosten der erforderlichen Behandlung auch ganz übernehmen, wenn eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit nur in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum möglich ist. Die Vorschrift dient dazu, die schon vorher bestehende Möglichkeit der Kostenübernahme nach Maßgabe von § 18 SGB V auch für EU- und EWR-Staaten zu eröffnen.19 Die Normierung in S. 6 ist erforderlich, weil § 18 SGB V aufgrund der nun vorrangigen Regelungen der § 13 Abs. 4–6 SGB V auf die dort genannten Gebiete keine Anwendung mehr findet;20 § 18 SGB V gilt im Wesentlichen nur noch für das vertragslose Ausland.21 § 13 Abs. 4 S. 6 SGB V räumt der Krankenkasse ein Ermessen ein, jedoch nur für den Fall, dass die genannten Voraussetzungen vorliegen.22
II. § 13 Abs. 5 SGB V § 13 Abs. 5 SGB V enthält eine Sonderregelung für Krankenhausleistungen gemäß § 39 SGB V. Diese können nur nach vorheriger Zustimmung durch die Krankenkassen in Anspruch genommen werden. Die Zustimmung darf nur versagt werden, wenn die gleiche oder eine für den Versicherten ebenso wirksame, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit rechtzeitig bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland erlangt werden kann. 1. Besondere Auslegung durch das BSG Nach der Rechtsprechung des BSG ist das Erfordernis der Erteilung einer Vorabgenehmigung teleologisch auf den Regelfall zu beschränken, in dem sich ein Versicherter zur Krankenhausbehandlung ins Ausland begibt. Erkrankt jedoch ein Versicherter unvorhergesehen in einem anderen Mitgliedstaat in einer Weise, dass er gehindert ist, vor der Inanspruchnahme einer Krankenhausbehandlung die hierfür grundsätzlich erforderliche Zustimmung seiner Krankenkasse einzuholen, § 13 Rn. 52. Die Unionsrechtswidrigkeit nur in Bezug auf Abschläge wegen fehlender Wirtschaftlichkeitsprüfung, die der Qualitätssicherung dienen, annehmend: Bieback, ZESAR 2013, 143 (152); Kingreen, ZESAR 2009, 109 (117); Rixen, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen, 2012, S. 167 (172). Das BSG hält die Regelung pauschal – jedoch ohne nähere Begründung – für unionsrechtskonform: BSG, 17.2.2010 – B 1 KR 14/09 R, NZS 2010, 678 (679). 18 So auch Pütz, Die grenzüberschreitende Patientenmobilität, 2013, S. 132. 19 BT-Drs. 15/1525, S. 81. 20 BT-Drs. 15/1525, S. 82. 21 Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 18 Rn. 2. 22 BSG, 17.2.2010 – B 1 KR 14/09 R, NZS 2010, 678 (679).
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
dürfe ihm das Fehlen der förmlichen vorherigen Zustimmung jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt nicht entgegengehalten werden, bis zu welchem die Krankenkasse nach Beseitigung des Hindernisses die Zustimmung hätte erteilen können, wenn sie in der Sache bei rechtzeitiger Information die Zustimmung hätte erteilen müssen.23 Somit ist für den Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 5 SGB V die nachträglich zu erteilende Genehmigung einer Krankenkasse ausreichend, wenn der Berechtigte aus Krankheitsgründen gehindert war, eine vorherige Zustimmung seiner Krankenkasse einzuholen und diese Genehmigung an sich der Sache nach zu erteilen gewesen wäre.24 Mit dieser Auslegung geht das BSG über die Vorgaben des Unionsrechts hinaus. Wie dargelegt wurde, besteht der unionsrechtliche Kostenerstattungsanspruch nicht, wenn eine Behandlung während eines vorübergehenden Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat medizinisch notwendig wird.25 Es liegt auch nicht die jüngst vom EuGH anerkannte Fallgruppe besonderer Dringlichkeit vor,26 weil es hierbei um eine geplante und nicht um eine unvorhergesehene Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat geht. Eine vom Wortlaut des § 13 Abs. 5 SGB V abweichende Auslegung des Vorabgenehmigungserfordernisses war daher aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben nicht geboten. Gleichwohl wirkt die Rechtsprechung zugunsten des Freiverkehrs und ist unionsrechtlich nicht zu beanstanden. 2. Vereinbarkeit des Vorabgenehmigungserfordernisses mit dem Unionsrecht Angesichts des Wortlaut des § 13 Abs. 5 SGB V stellen sich Fragen in Bezug auf die Unionsrechtskonformität der Regelung. a) Voraussetzungen der Genehmigungsverweigerung Hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen eine Vorabgenehmigung verweigert werden kann, bestehen Abweichungen im Wortlaut zwischen § 13 Abs. 5 S. 2 SGB V und Art. 8 Abs. 6 lit. d Richtlinie 2011/24/EU. Ob hierin bereits ein Richtlinienverstoß liegt,27 mag bezweifelt werden. Die deutsche Vorschrift lässt sich jedenfalls richtlinienkonform auslegen, indem bei Prüfung der Tatbestands23
BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 22/08 R, ZESAR 2010, 81 (85 f.). BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 22/08 R, ZESAR 2010, 81 (86). 25 EuGH, 15.6.2010 – C-211/08 – Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267, Rn. 58 ff. (64); hierzu oben unter Kap. 1 D. II. 5., S. 72 f., und Kap. 2 B. I. 2. b), S. 126 ff. 26 EuGH, 5.10.2010 – C-173/09 – Elchinov, Slg. 2010, I-8889, Rn. 45 ff.; hierzu oben unter Kap. 1 E. II. 3. c), S. 108 f. 27 Vgl. Rixen, in: Wallrabenstein, Braucht das Gesundheitswesen, 2012, S. 167 (172 f.). 24
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
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voraussetzungen der gegenwärtige Gesundheitszustand und der voraussichtliche Krankheitsverlauf des jeweils betroffenen Patienten gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. d Richtlinie 2011/24/EU zu berücksichtigen sind. b) Begrenzung auf Vertragspartner „im Inland“ Bezweifelt wurde die Unionsrechtskonformität des § 13 Abs. 5 S. 2 SGB V, weil es für die Versagung einer Genehmigung darauf ankommt, ob eine entsprechende Behandlung rechtzeitig bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland erlangt werden kann.28 Vor dem Hintergrund, dass gemäß § 140e SGB V auch ausländische Leistungserbringer in das Vertragssystem einbezogen werden können, könnte hierin eine unzulässige Diskriminierung ausländischer Leistungserbringer liegen. Art. 8 Abs. 6 lit. d Richtlinie 2011/24/EU stellt jedoch nun ausdrücklich auf das Hoheitsgebiet des Versicherungsmitgliedstaats ab. Dies entspricht der primärrechtlichen Legitimation eines Vorabgenehmigungserfordernisses, welche im Planungsbedarf innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats begründet liegt. Die Begrenzung auf Vertragspartner im Inland ist somit unionsrechtskonform. c) Krankenhausleistungen nach § 39 SGB V Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht bestehen insbesondere bezüglich § 13 Abs. 5 S. 1 SGB V, wonach Krankenhausleistungen nach § 39 SGB V einem Vorabgenehmigungserfordernis unterliegen. Hierdurch wird auf den weiten Begriff der Krankenhausleistungen verwiesen,29 der gemäß § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V vollstationäre, teilstationäre, vor- und nachstationäre (§ 115 a SGB V) sowie ambulante (§ 115 b SGB V) Leistungen umfasst.30 Somit unterliegen auch solche Leistungen einer Vorabgenehmigungspflicht, die zwar im Krankenhaus erbracht werden, aber nicht „eine Übernachtung des Patienten im Krankenhaus für mindestens eine Nacht“ gemäß Art. 8 Abs. 2 lit. a i Richtlinie 2011/24/EU erfordern. Dies steht in klarem Widerspruch zum Wortlaut der Richtlinie. Solche ambulanten Krankenhausleistungen lassen sich auch nicht im Einzelfall als Spezialbehandlungen im Sinne von Art. 8 Abs. 2 lit. a ii Richtlinie 2011/24/EU auffassen, weil in Deutschland eine derartige Großgeräteplanung nicht existiert31. Die deutsche Regelung erweist sich deshalb in dieser Hinsicht als unvereinbar mit den Richtlinienvorgaben.32 28
Vgl. Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 167. BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 22/08 R, ZESAR 2010, 81 (85). 30 Zur Abgrenzung der Erbringungsformen des § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V: BSG, 4.3.2004 – B 3 KR 4/03 R, NZS 2005, 93 (94 ff.); ferner Becker, in: Becker/Kingreen, § 39 Rn. 8 ff. 31 Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, Art. 8 RiL 2011/24/EU Rn. 20; Vießmann, GuP 2011, 129 (133). Im Übrigen ist eine Erweiterung der Vorabgenehmi29
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
III. § 13 Abs. 6 SGB V Gemäß § 13 Abs. 6 SGB V gilt § 18 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 in den Fällen der Absätze 4 und 5 entsprechend. Es handelt sich um eine Rechtsfolgenverweisung; die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 S. 1 müssen also nicht vorliegen.33 Sichergestellt wird mit der Vorschrift, dass bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen gemäß § 13 Abs. 4 und 5 SGB V ein gegebenenfalls bestehender Anspruch auf Krankengeld entgegen der Vorschrift des § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht ruht.34
IV. § 140e SGB V Eine Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben fand auch im Leistungserbringungsrecht statt. Gemäß § 140e SGB V dürfen Krankenkassen zur Versorgung ihrer Versicherten nach Maßgabe des Dritten Kapitels und des dazugehörigen untergesetzlichen Rechts Verträge mit Leistungserbringern nach § 13 Abs. 4 S. 2 SGB V in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder in der Schweiz abschließen. Gegenstand dieser Verträge ist die Verpflichtung, die Versicherten im Krankheitsfall zu Lasten der Krankenkasse zu behandeln (auf Vertrag gegründetes Sachleistungsprinzip).35 Den Krankenkassen wird ermöglicht, das Versorgungsangebot im EU- und EWR-Ausland nach den maßgeblichen Versorgungskriterien selbst zu gestalten und dann für die Versicherten vorzuhalten.36 Nach dem deutschen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung wird somit einerseits die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung in einem anderen Mitgliedstaat auf Grundlage der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4, 5 SGB V eröffnet, andererseits besteht für die Krankenkassen die Möglichkeit, auch ausländische Leistungserbringer in das Vertragssystem einzubeziehen und auf Grundlage des Sachleistungsprinzips den unionsrechtlichen Freiverkehr zu ermöglichen. Durch das Bestehen solcher vertraglichen Vereinbarungen zu ausländischen Leistungserbringern wird der Anspruch der Versicherten auf Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 4, 5 SGB V nicht berührt.37 gungspflicht auf ambulante spezialisierte Behandlungen vom deutschen Gesetzgeber derzeit nicht geplant, siehe Antwort der Bundesregierung: BT-Drs. 17/13101, S. 5. 32 Vgl. bereits (im Hinblick auf die EuGH-Rechtsprechung) Becker/Walser, NZS 2005, 449 (452 f.); zweifelnd auch Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 13 Rn. 46. 33 Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 13 Rn. 48; Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 92 f. 34 BT-Drs. 15/1525, S. 82. 35 BT-Drs. 15/1525, S. 132. 36 BT-Drs. 15/1525, S. 132. Kritisch zu den Potentialen der Regelung: Kingreen, NZS 2005, 505 (507 ff.). Zu § 140e SGB V, insbesondere in Bezug auf die Qualitätssicherung bei Rehabilitationsleistungen: Christophers/Görike, ZESAR 2006, 349.
A. Das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung
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V. Gesetzgebung im Zuge der Richtlinienumsetzung Die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag haben das Gesetzgebungsverfahren zur Richtlinie 2011/24/EU befürwortet und konstruktiv begleitet.38 Der Kostenerstattungsanspruch gemäß Art. 7 ff. Richtlinie 2011/24/EU, der den Kern der Richtlinie bildet, ist – wie dargestellt wurde – bereits durch das GKV-Modernisierungsgesetz zum Jahr 2004 im deutschen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung festgeschrieben worden. Nach Erlass der Richtlinie 2011/ 24/EU hat der deutsche Gesetzgeber punktuell weitere Umsetzungsakte erlassen: Durch das „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ vom 20. Februar 201339 wurde insbesondere mit § 630 g BGB ein Einsichtnahmerecht in die Patientenakte geschaffen40 sowie durch §§ 219 a Abs. 1 S. 3 Nr. 6, 219 d SGB V die nationale Kontaktstelle für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung41 geregelt:42 Gemäß § 219 d Abs. 1 SGB V nimmt die Aufgaben der nationalen Kontaktstelle der Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, wahr. Es handelt sich um ein zentrales Informationsangebot, welches sich sowohl an gesetzlich als auch an privat Versicherte richtet.43 Berücksichtigung fanden die Vorgaben der Richtlinie 2011/24/EU auch im „Zweiten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ vom 19. Oktober 201244, dort in den Gesetzesänderungen zu §§ 68 und 73 AMG,45 in der „Vierten Verordnung zur Änderung der Apothekenbetriebsordnung“ vom 5. Juni 201246, dort mit der Schaffung des § 20 Abs. 3 ApBetrO, in der „Verordnung zur Umsetzung der Regelungen der Europäischen Union über die Anerkennung von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten ärztlichen oder zahnärztlichen Verschreibungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten“ vom 26. Mai 201447 sowie schließlich in der „Verordnung über die Abgabe von Medizinprodukten und zur Änderung medizinprodukterechtlicher Vorschriften“ vom 25. Juli 201448. 37
B. Tiemann, Die Einwirkungen, 2011, S. 210. Siehe Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17/4113, sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 16/10911 (dagegen aber Antrag der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 17/4717). 39 BGBl. I, S. 277. 40 Hierzu Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/10488, S. 13. 41 Zu erreichen unter www.eu-patienten.de. 42 Hierzu Gesetzesbegründung des Ausschusses für Gesundheit, BT-Drs. 17/11710, S. 31 f. 43 Vgl. Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17/13101, S. 3. 44 BGBl. I, S. 2192. 45 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/9341, S. 64 f., 66, 91. 46 BGBl. I, S. 1254. 47 BGBl. I, S. 598. 48 BGBl. I, S. 1227. 38
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
Darüber hinaus erließen die Länder Umsetzungsgesetze im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Berufsausübung in den Gesundheitsberufen, worin insbesondere Informationspflichten für Gesundheitsdienstleister, die Absicherung von Schadensersatzansprüchen sowie die Bereitstellung der Informationen im Binnenmarktinformationssystem geregelt werden.49
VI. Zwischenergebnis Durch § 13 Abs. 4–6 SGB V und § 140e SGB V sind bereits zum Jahr 2004 die unionsrechtlichen Vorgaben bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung umgesetzt worden. Die Regelungen der § 13 Abs. 4–5 SGB V stellen im Grunde eine primärrechts- und richtlinienrechtskonforme Kodifizierung des Kostenerstattungsanspruchs dar; allerdings erweisen sich die Bestimmung des § 13 Abs. 4 S. 5 SGB V und der Verweis auf § 39 SGB V in § 13 Abs. 5 S. 1 SGB V als unvereinbar mit den unionsrechtlichen Vorgaben. Im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2011/24/EU hat der deutsche Gesetzgeber punktuell weitere Umsetzungsakte erlassen.
B. Konflikte des Kostenerstattungsanspruchs mit den Strukturprinzipien Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch, dessen richtlinienrechtliche Kodifizierung sowie die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben in § 13 Abs. 4–6 SGB V geraten in Konflikt mit grundlegenden Strukturprinzipien des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung, namentlich mit dem Territorialitäts-, Solidaritäts- und Sachleistungsprinzip. 49 Zu nennen sind insb.: Brandenburgisches Patientenmobilitätsumsetzungsgesetz (BbgPat-MobUG) vom 10.7.2014; Hessisches Gesetz über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Patientenmobilitätsgesetz) vom 20.11.2013; Thüringer Gesetz über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Thüringer Patientenmobilitätsgesetz – ThürPatMobG) vom 15.7.2014; Bremisches Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/24/ EU (Bremisches Patientenmobilitätsumsetzungsgesetz – BremPatMobUG) vom 28.1. 2014; Mecklenburg-Vorpommerisches Gesetz über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (Patientenmobilitätsgesetz – PatMobG M-V) vom 15.4.2014; Gesetz über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung im Freistaat Sachsen (Sächsisches Patientenmobilitätsgesetz – SächsPatMobG) vom 2.4.2014; Hamburgisches Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/24/EU (Hamburgisches Patientenmobilitätsumsetzungsgesetz – HmbPatMobUG) vom 17.2.2014; Saarländische Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2011/24/EU vom 24.3.2014. Die übrigen – und auch die vorgenannten – Länder haben zur Umsetzung Änderungen in den jeweils einschlägigen Landesvorschriften vorgenommen.
B. Konflikte des Kostenerstattungsanspruchs
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I. Das Territorialitätsprinzip Mit dem in § 30 Abs. 1 SGB I, § 3 SGB IV sowie § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V zum Ausdruck kommenden Territorialitätsprinzip werden Ansprüche der Versicherten im Grundsatz auf innerstaatliche Sachverhalte beschränkt. § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Leistungen an, solange sich Versicherte „im Ausland aufhalten, und zwar auch dann, wenn sie dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkranken, soweit in diesem Gesetzbuch nichts Abweichendes bestimmt ist“.50 Derartige einfachgesetzliche Ausnahmen bestanden schon immer gemäß § 17 SGB V (zuvor §§ 221, 222 RVO) sowie § 18 SGB V und finden sich nun auch in § 13 Abs. 4–6 SGB V. Darüber hinaus sind im nationalen Sozialversicherungsrecht die Vorschriften des über- und zwischenstaatlichen Rechts zu beachten (§ 30 Abs. 2 SGB I, § 6 SGB IV), worunter insbesondere die Bestimmungen des Verordnungsrechts zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004) sowie die Sozialversicherungsabkommen fallen. Die Durchbrechung des Grundsatzes der Territorialität ist dem Regelungssystem des SGB V angesichts dieser zahlreichen Ausnahmen nicht fremd. Von den unionsrechtlichen Vorgaben gehen deshalb keine bedenklichen Auswirkungen auf die Wahrung dieses Strukturprinzips aus. Die Durchbrechung des Territorialitätsprinzips ist im Übrigen Folge des Anschlusses an die Europäische Union: Eine Rechtsordnung, die sich supranationalem Recht unterwirft, muss Territorialitätsgedanken zwangsläufig aufgeben.
II. Das Solidaritätsprinzip Aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben wurde eine Gefährdung des Solidaritätsprinzips angenommen.51 Eine gesetzliche Verankerung des Solidaritätsprinzips findet sich im deutschen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung in §§ 1, 3 SGB V. Das Solidaritätsprinzip ist insbesondere durch das „vom versicherungsrechtlichen Äquivalenzprinzip abweichende Verhältnis von Beitragsgestaltung und Leistungsinhalt“ 52 geprägt: Die Beiträge werden nicht anhand des individuellen Risikos, sondern der finanziellen Leistungsfähigkeit des Versicherten bemessen, und der Umfang des Leistungsanspruchs ist unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge.53 Auch die beitragsfreie Familienversicherung (§ 10 SGB V) und der Risikostrukturausgleich (§§ 265 ff. SGB V) bilden Elemente des solidarischen Ausgleichs. Die aufgezählten solidarischen Elemente werden aber durch das Unionsrecht nicht berührt. Der unionsrechtliche Kostener50 Zur historischen Entwicklung: Fahlbusch, Ambulante ärztliche Behandlung, 2006, S. 90 ff. 51 Wunder, MedR 2007, 21 (26 f.). 52 Kingreen, ZESAR 2009, 109 (114). 53 Kingreen, ZESAR 2009, 109 (114).
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
stattungsanspruch stellt eine Erweiterung im Leistungsrecht dar,54 indem allen Versicherten unter gleichen Bedingungen die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet wird. Eine Beeinträchtigung des Solidaritätsprinzips folgt aus diesen unionsrechtlichen Vorgaben nicht.55
III. Das Sachleistungsprinzip Konflikte der unionsrechtlichen Vorgaben mit den Strukturprinzipien des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts ergeben sich insbesondere in Bezug auf das Sachleistungsprinzip. 1. Die Hintergründe des Sachleistungsprinzips Das Sachleistungsprinzip (oder Naturalleistungsprinzip) ist in § 2 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 SGB V normiert und stellt ein „grundsätzliches Strukturprinzip“ der gesetzlichen Krankenversicherung dar.56 Nach dem Sachleistungsprinzip haben die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung die von den Versicherten zu beanspruchenden Leistungen unmittelbar in Natur zur Verfügung zu stellen.57 Kern ist die „Verschaffungspflicht“ der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung dergestalt, „dass sie (wenn schon nicht durch Eigenleistung, so jedenfalls) durch Abschluss von Verträgen mit den Lieferanten von Gegenständen der Krankenpflege, mit Kassenärztlichen Vereinigungen und mit Krankenhäusern die Erbringung von Leistungen der Krankenpflege zu gewährleisten und damit ihren Grundauftrag zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung ihrer Mitglieder zu erfüllen“ haben.58 Ziel des Sachleistungsprinzips ist zum einen, die Versicherten vor mangelnder medizinischer Versorgung infolge der damit eintretenden finanziellen Belastungen des Einzelnen zu schützen, zum anderen dient das Sachleistungsprinzip der Sicherstellung einer wirtschaftlichen Versorgung mittels Einflussnahme auch der das System finanzierenden Krankenversicherungen auf die Ausgestaltung des Inhalts und insbesondere der Honorierung des Leistungsgeschehens.59 Das Sachleistungsprinzip gilt seit Schaffung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883 im Wesentlichen unverändert.60 Es war bereits in § 6
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Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 521. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 521. 56 BSG, 14.3.2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20 (25). 57 Vgl. Hauck, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 8 Rn. 14; Waltermann, in: K/S/W, Einleitung zum SGB V Rn. 16. 58 BSG, 7.8.1991 – 1 RR 7/88, BSGE 69, 170 (172 f.). 59 BSG, 14.3.2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20 (26). 60 BSG, 14.3.2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20 (25). 55
B. Konflikte des Kostenerstattungsanspruchs
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Abs. 1 Nr. 1 des „Gesetzes betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ vom 15. Juni 188361 und im Krankenversicherungsgesetz (KVG) in der Neufassung vom 10. April 189262 normiert. Auch die zwischen 1911 bis 1988 geltende Reichsversicherungsordnung (RVO)63 beruhte auf dem Sachleistungsprinzip.64 Zwar enthielt die RVO diesbezüglich keine ausdrückliche gesetzliche Normierung,65 weil der Gesetzgeber dies für entbehrlich gehalten hatte66; nach Auffassung des BSG galt das Sachleistungsprinzip aber gleichsam als „übernormatives Grundprinzip“ des gesetzlichen Krankenversicherungsrechts auch für die RVO fort.67 Ab dem 1. Januar 1989 ist die Frage nach der rechtlichen Verankerung des Sachleistungsprinzips im gesetzlichen Krankenversicherungsrecht68 aufgrund seiner Positivierung in § 2 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 SGB V durch das „Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (GRG)“ vom 20. Dezember 198869 obsolet geworden. 2. Durchbrechungen des Sachleistungsprinzips Eine Kostenerstattung als Ausnahme vom Grundsatz des Sachleistungsprinzips darf gemäß § 13 Abs. 1 SGB V nur erfolgen, soweit dies im SGB V oder im SGB IX vorgesehen ist. Diese gesetzlich normierten Durchbrechungen des Sachleistungsprinzips waren schon bei Schaffung des SGB V bedeutend70 und wurden in der vergangenen Zeit beständig ausgeweitet: Gemäß § 13 Abs. 2 SGB V besteht ein Wahlrecht für die Versicherten, sich für Kostenerstattung anstelle von Sachoder Dienstleistungen zu entscheiden;71 gemäß § 13 Abs. 3 SGB V ist im Falle 61
RGBl. I, S. 73. RGBl. I, S. 379. 63 RGBl. I, S. 509. 64 Hauck, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 8 Rn. 4; Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 5. 65 Eine normative Grundlage hingegen annehmend: Schulin, SGb 1992, 289 (291 f., 293). 66 Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 5. 67 BSG, 7.8.1991 – 1 RR 7/88, BSGE 69, 170 (173); kritisch Schulin, SGb 1992, 289 (292). 68 Hierzu Schulin, SGb 1992, 289 (292). 69 BGBl. I, S. 2477. 70 Schulin, SGb 1992, 289 (293) stellte bereits einen „bemerkenswerten Kontrast“ zum Grundsatz fest. 71 Eine Wahlmöglichkeit der Kostenerstattung besteht schon seit dem zum 1.1.1993 in Kraft getretenen „Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (GSG)“ vom 21.12.1992 [BGBl. I, S. 2266] zugunsten freiwilliger Mitglieder. Für die Übergangszeit vom 1.7.1997–31.12.1998 wurde mit dem „Zweiten Gesetz zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung (2. GKV-NOG)“ vom 23.6.1997 [BGBl. I, S. 1520] dieses Wahlrecht allen Versicherten eröffnet. Nachdem man mit dem „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SolG)“ vom 19.12. 1998 [BGBl. I, S. 3853] zur alten Rechtslage zurückgekehrt war, wurde das allgemeine 62
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
des Systemversagens Kostenerstattung zu leisten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat;72 gemäß § 18 SGB V besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit einer Kostenübernahme bei Behandlung im Ausland außerhalb der EU- und EWR-Staaten; gemäß § 53 Abs. 4 SGB V kann die Kostenerstattung als Wahltarif angeboten werden73. Weitere Fälle der Kostenerstattung finden sich in § 13 Abs. 3 a S. 7 SGB V (Systemversagen), § 14 SGB V (Teilkostenerstattung für dienstordnungsmäßig Angestellte bzw. für Beamte der Krankenkassen), § 17 SGB V (Auslandsbeschäftigung von Mitgliedern), § 37 Abs. 4 SGB V (häusliche Krankenpflege), § 38 Abs. 4 SGB V (Haushaltshilfe), § 64 Abs. 4 S. 2 SGB V (Modellvorhaben) sowie § 129 Abs. 1 S. 5 SGB V (Kostenerstattung im Einzelfall bei der Arzneimittelversorgung). Es ist somit eine bemerkenswerte Durchlöcherung des Sachleistungsprinzips zu konstatieren.74 Der unionsrechtliche Kostenerstattungsanspruch führt zu einer weiteren Durchbrechung. Dies stellt jedoch das Fortbestehen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung als Sachleistungssystem nicht in Frage,75 weil die Regelform der Erbringung von Leistungen als Sachleistung im Inland nicht angetastet wird. Die unionsrechtlichen Vorgaben führen, wie oben bereits dargelegt worden ist, auch nicht zu einem Eingriff in den gemäß Art. 168 Abs. 7 AEUV geschützten mitgliedstaatlichen Souveränitätsbereich. 76 Insbesondere hindert die Richtlinie 2011/24/EU gemäß Erwägungsgrund Nr. 33 S. 2 die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre Sachleistungsregelungen auf die Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat auszudehnen; von einer Regelung wie § 140e SGB V im deutschen Recht können die Mitgliedstaaten daher ohne weiteres Gebrauch machen. Im Gegensatz zur Wahl der Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 2 SGB V ist allerdings bei der unionsrechtlich veranlassten Durchbrechung des Sachleistungsprinzips durch § 13 Abs. 4, 5 SGB V eine Besonderheit zu beachten: Der VersiWahlrecht durch das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG)“ vom 14.11.2003 [BGBl. I, S. 2190] zum 1.1.2004 in modifizierter Form wieder eingeführt. 72 Mit letzterer Alternative wurde die langjährige Rechtsprechung des BSG kodifiziert, vgl. BSG, 7.8.1991 – 1 RR 7/88, BSGE 69, 170 (174) m.w. N. 73 Eine solche Option beeinträchtigt das Wahlrecht gem. § 13 Abs. 2 S. 1 SGB V nicht, jedoch können die Möglichkeiten nicht zugleich ausgeübt werden; Einzelheiten bezüglich § 53 Abs. 4 SGB V sind anhand des systematischen Bezugs zu § 13 Abs. 2 SGB V zu konkretisieren, vgl. Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 21. 74 Jäger-Lindemann, Die Vereinbarkeit, 2004, S. 150. 75 Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (411). Kritisch Kötter, ZESAR 2003, 301 (310 f.), die einen Systemwechsel zum Kostenerstattungssystem eingeleitet sieht; kritisch auch Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (807 f.). 76 Hernekamp/Jäger-Lindemann, ZESAR 2011, 403 (411); hierzu allgemein unter Kap. 1 E. II. 1. b) bb), S. 100 f., und Kap. 2 C. I. 5. a), S. 174 ff.
C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht
233
cherte verbleibt im Fall von § 13 Abs. 4, 5 SGB V im Sachleistungssystem, während er nach Ausübung des Wahlrechts gemäß § 13 Abs. 2 SGB V ganz aus dem Sachleistungssystem ausscheidet.77 Der Versicherte kann daher im Fall von § 13 Abs. 4, 5 SGB V willkürlich das Sachleistungssystem verlassen, indem er Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nimmt. Dieser Umstand ändert jedoch an der Unschädlichkeit der Durchbrechung des Sachleistungsprinzips im Hinblick auf das Fortbestehen der gesetzlichen Krankenversicherung als Sachleistungssystem nichts. Die Konsequenzen hieraus verlangen vielmehr nach einer Berücksichtigung im Leistungserbringungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere im durch Kollektivvereinbarungen ausgestalteten Vergütungsrecht.
C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht Das Sachleistungsprinzip vermittelt einen untrennbaren inneren Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht;78 es hat damit nicht nur Ordnungs-, sondern auch Steuerungsfunktion und steht auf diese Weise in engem Bezug zum Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsgebot.79 Die Durchbrechung des Sachleistungsprinzips hat insbesondere Konsequenzen für die kollektivvertraglichen Vergütungsvereinbarungen.
I. Vergütungsrecht Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)80 wurde das Vergütungsrecht für die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung geändert. Die jeweiligen gesetzlichen Krankenkassen vereinbaren gemäß §§ 82 Abs. 2, 83, 87 a Abs. 3 S. 1 SGB V in Gesamtverträgen mit den jeweiligen Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen für das Folgejahr eine morbiditätsbedingte Gesamtvergütung, wodurch mit befreiender Wirkung grundsätzlich die Gesamtheit aller vertrags(zahn) ärztlichen Leistungen abgegolten wird. Für die Höhe der Gesamtvergütung kommt es gemäß § 87 a Abs. 3 S. 2 SGB V auf den Behandlungsbedarf an, der in einem Punktzahlvolumen ausdrückt wird. Das Punktzahlvolumen wird ermittelt, indem die jeweiligen zu erwartenden Behandlungsleistungen mit der jeweiligen, im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM bzw. BEMA) festgelegten Punktzahl multipliziert werden; der Einheitliche Bewertungsmaßstab wird gemäß § 87 Abs. 1 S. 1 SGB V in Bundesmantelverträgen vereinbart. Das Punktzahl77
Hierauf hinweisend BSG, 30.10.2002 – B 1 KR 28/01 R, ZESAR 2003, 185 (188). BSG, 20.3.1996 – 6 RKa 62/94, BSGE 78, 70 (79); Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 13 Rn. 17. 79 Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, K § 2 Rn. 80 sowie K § 13 Rn. 20. 80 Gesetz vom 26.3.2007 (BGBl. I, S. 378), grundsätzlich in Kraft getreten zum 1.4.2007. 78
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
volumen lässt sich sodann anhand der regionalen Punktwerte, die gemäß § 87a Abs. 2 SGB V auf Grundlage der in den Bundesmantelverträgen festgelegten bundeseinheitlichen Orientierungswerte (§ 87 Abs. 2 e SGB V) vereinbart werden, in einen Euro-Betrag umrechnen. Aus dieser Gesamtvergütung bestreiten dann die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen gemäß § 87 b SGB V die Honorarverteilung auf die Vertrags(zahn)ärzte. Nach dem früheren System konnte die Gesamtvergütung gemäß § 85 Abs. 2 S. 2 2. Hs. SGB V als Festbetrag oder auf der Grundlage des Bewertungsmaßstabes nach Einzelleistungen, nach einer Kopfpauschale, nach einer Fallpauschale oder nach einem System berechnet werden, das sich aus der Verbindung dieser oder weiterer Berechnungsarten ergibt. Die Festlegung von Kopfpauschalenbudgets pro Mitglied ist nach der Reform nicht mehr möglich; durch die Vereinbarung von morbiditätsbedingten Leistungsmengen sollte eine sachgerechte Bereinigung der Gesamtvergütung um solche Leistungsmengen, die in selektiven Versorgungsformen erbracht werden, ermöglicht werden.81 Dies bedeutet auch in Bezug auf grenzüberschreitend in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen, dass diese bei der Ermittlung des Behandlungsbedarfs nicht berücksichtigt werden; die Gesamtvergütung verringert sich somit um die Kosten für Auslandskrankenbehandlungen, was eine finanzielle Mehrbelastung der Krankenkassen verhindert.82 Die Argumentation des BSG, die im Jahr 2002 im Rahmen eines – später dann jedoch wieder zurückgenommenen –83 Antrags auf Vorabentscheidung des EuGH formuliert wurde, und der die Berechnung der Gesamtvergütung anhand von Kopfpauschalen zugrunde lag,84 trifft angesichts der geänderten Rechtslage heute nicht mehr zu. Ungeachtet dessen erkannte das BSG später an, dass derartige Erwägungen unionsrechtlich unbeachtlich seien; eine gänzlich kostenneutrale Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit erwarte der EuGH nicht, noch halte er sie für geboten.85 Auch bei Vergütung der voll- und teilstationären Krankenhausleistungen, welche für DRG-Krankenhäuser nach Maßgabe von § 17 b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) i.V. m. §§ 1 ff. Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) durch ein pauschalierendes Entgeltsystem erfolgt, werden bei den grundsätzlich jährlich stattfindenden Verhandlungen der Jahresbudgets die zu erwartenden Leistungs81
Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/3100, S. 120. Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 131, 139, 143, 371 f.; ders., MedR 2009, 79 (82); Zerna, Der Export von Gesundheitsleistungen, 2003, S. 263 f. Auf die Vermeidung von Doppelzahlungen bei einer solchen Berechnungsart hinweisend Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (804 f.); Harich, Das Sachleistungsprinzip, 2006, S. 225 f. Anders jedoch Kingreen, in: Becker/Kingreen, § 13 Rn. 52; sowie zur alten Rechtslage ders., ZESAR 2009, 109 (115 f.). 83 Siehe BSG, 13.7.2004 – B 1 KR 11/04 R, BSGE 93, 94 (95 f.). 84 Vgl. BSG, 30.10.2002 – B 1 KR 28/01 R, ZESAR 2003, 185 (187 f.). 85 BSG, 13.7.2004 – B 1 KR 11/04 R, BSGE 93, 94 (104). 82
C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht
235
mengen der jeweiligen Krankenhäuser berücksichtigt. Kommt es zu Leistungsabweichungen, findet im folgenden Jahr ein Erlösausgleich gemäß § 4 Abs. 3 KHEntgG statt. Somit lässt sich auch bei der Krankenhausvergütung die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von stationären Gesundheitsleistungen abbilden, weshalb keine zusätzliche finanzielle Belastung des nationalen Versorgungssystems entsteht.86
II. Bedarfsplanung Problematisch können die Vorgaben des Unionsrechts im Hinblick auf die Bedarfsplanung im innerstaatlichen Versorgungssystem sein. Eine bedarfsgerechte Versorgung wird im Rahmen der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung durch Zulassungsbeschränkungen gemäß §§ 95, 99 ff. SGB V, im Rahmen der Krankenhausversorgung durch die Krankenhausplanung gemäß §§ 108 ff. SGB V und § 6 KHG gewährleistet. Die Vorgaben des Unionsrechts führen dazu, dass Patienten auch Leistungserbringer jenseits der Grenze in Anspruch nehmen können. Durch eine solche grenzübergreifende Angebotserweiterung könnten planerische Maßnahmen auf nationaler Ebene konterkariert werden.87 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass auch in anderen Mitgliedstaaten Zulassungsbeschränkungen, die Kapazitätsauslastungen berücksichtigen, bestehen, so dass ein Anstieg bei der Zahl der Leistungserbringer nicht zu befürchten ist.88 Ferner trägt im Rahmen der stationären Versorgung insbesondere die Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses, welches seine Legitimation aus der Erforderlichkeit nationaler Planung bezieht, mitgliedstaatlichen Planungsbemühungen Rechnung. Unabhängig davon ist die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nunmehr in die nationale Bedarfsplanung mit einzubeziehen; es besteht – auch aufgrund rein nationaler Faktoren – ständiger Anpassungsbedarf, wobei nun auch die Inanspruchnahme unionsweiter Versorgungsangebote zu berücksichtigen ist.
III. Rationierung Die unionsrechtlichen Vorgaben drohen das mitgliedstaatliche Steuerungselement der Rationierung zu unterlaufen.89 Bei der Rationierung wird zwischen expliziter und impliziter Rationierung unterschieden: Bei expliziter Rationierung 86 Ebenso insb. Möller, Europäische Marktfreiheiten, 2009, S. 294; auch Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2008, S. 320; ferner Röbke, Die Leistungsbeziehungen, 2009, S. 141, 371; ders., MedR 2009, 79 (81). 87 Diesbezüglich kritisch Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 530 ff. 88 Jäger-Lindemann, Die Vereinbarkeit, 2004, S. 95 f.; Kaufmann, Einfluss des Europarechts, 2003, S. 58; Kleine, Grenzüberschreitende Behandlungsleistungen, 2002, S. 96. 89 Kritisch Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (808 ff.); Wenner, GesR 2009, 169 (179 f.); Wunder, MedR 2007, 21 (26 f.).
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
werden Leistungen aus dem Leistungskatalog gestrichen, während durch implizite Rationierung vorhandene Kapazitäten verknappt werden.90 Die explizite Rationierung wird durch die unionsrechtlichen Vorgaben nicht beeinträchtigt, denn nach dem Unionsrecht sind nur die Kosten solcher Leistungen zu erstatten, die Teil des nationalen Leistungskatalogs sind.91 Dagegen droht die implizite Rationierung durch die Vorgaben des Unionsrechts unterlaufen zu werden. Dies trifft zum einen auf die genehmigungsfreie Inanspruchnahme ambulanter Gesundheitsleistungen zu: Wird von den Ressourcen eines anderen Mitgliedstaats Gebrauch gemacht und besteht gleichwohl ein Kostenerstattungsanspruch gegen den nationalen Träger, kann die innerstaatliche Verknappung von Kapazitäten nicht zur Kosteneinsparung beitragen. In Bezug auf die – für die implizite Rationierung im Vordergrund stehenden – Fallgruppen der stationären Behandlungen und der Spezialbehandlungen trägt zunächst die Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses mitgliedstaatlichen Rationierungsbemühungen Rechnung. Die unionsrechtlichen Anforderungen an die Verweigerung einer Vorabgenehmigung, wonach es gemäß Art. 8 Abs. 6 lit. d Richtlinie 2011/24/EU (und gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 883/2004) auf eine Behandlungsmöglichkeit im eigenen Hoheitsgebiet innerhalb eines medizinisch vertretbaren Zeitraums ankommt, schränken die Rationierungsmöglichkeiten allerdings ein. Diese Einschränkung erfolgt jedoch zum Wohl der Patienten und trägt dem unionsrechtlichen Anliegen der Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus (Art. 35 S. 2 GR-Charta, Art. 9 und Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV) Rechnung. Mitgliedstaatliche Rationierungsbemühungen werden sich vor diesem Hintergrund auf die unionsrechtlichen Vorgaben einstellen müssen. Im Vergleich zu anderen Ländern sind implizite Rationierungen in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ohnehin (bislang) von untergeordneter Bedeutung.92
IV. Das Problem der Inländerdiskriminierung Nach den Vorgaben des Unionsrechts besteht ein Kostenerstattungsanspruch auch dann, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Leistungserbringer nicht in das dortige Versorgungssystem eingebunden ist, sondern die Gesundheitsleistung auf privatwirtschaftlicher Grundlage erbringt; auch § 13 Abs. 4 S. 2 SGB V macht eine derartige Einbindung nicht zur Voraussetzung für eine Kostenerstattung. Hingegen können im Rahmen der inländischen Versorgung im Sachleistungssystem – genauso wie bei gewählter Kostenerstattung gemäß § 13 Abs. 2 S. 5 SGB V –93 grundsätzlich nur die in das nationale 90
Wenner, GesR 2009, 169 (170 f.); Wunder, MedR 2007, 21 (24). Vgl. Wenner, GesR 2009, 169 (180), der auf entstehende verfassungsrechtliche Probleme hinweist. 92 Vgl. OECD, Health at a Glance 2013: OECD Indicators, 2013, S. 150; ferner Neumann, NZS 2005, 617; Staber/Rothgang, GGW 2010, 16. 91
C. Auswirkungen auf das Leistungserbringungsrecht
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Versorgungssystem eingebundenen Leistungserbringer in Anspruch genommen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem der Inländerdiskriminierung.94 Eine Inländerdiskriminierung entsteht, „wenn im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates für vergleichbare Sachverhalte unterschiedliche Regelungen gelten, weil der Mitgliedstaat aufgrund von Vorgaben der Grundfreiheiten für inländische Sachverhalte andere Regelungen erlässt oder aufrecht erhält als für Sachverhalte mit Auslandsbezug.“ 95 Aufgrund der Wirkung der Grundfreiheiten bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen werden inländische private Leistungserbringer gegenüber ausländischen privaten Leistungserbringern im nationalen Recht schlechter gestellt, weil bei Inanspruchnahme inländischer privater Leistungserbringer eine Kostenerstattung zu den inländischen Erstattungstarifen nicht möglich ist. Da es bei Inländerdiskriminierungen um reine Inlandssachverhalte geht, wird das Problem nicht vom primären Unionsrecht erfasst.96 Die Inländerdiskriminierung ist allein am Maßstab des nationalen Rechts, in Deutschland insbesondere des Verfassungsrechts, zu beurteilen, wobei eine Berufung auf den Gleichheitssatz regelmäßig nicht gelingen kann, weil die diskriminierende Wirkung durch Maßnahmen unterschiedlicher Hoheitsträger ausgelöst wird.97 Näher zu untersuchende unionsrechtliche Auswirkungen auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ergeben sich jedenfalls in Bezug auf die Problematik der Inländerdiskriminierung nicht.
V. Zwischenergebnis Die Analyse der Auswirkungen des Unionsrechts auf das Leistungserbringungsrecht der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung hat gezeigt, dass sich das Phänomen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Rahmen nationaler Gestaltung abbilden lässt. Es ist dem Leistungserbringungsrecht gerade zu eigen, flexible Steuerungsinstrumente zur Verfügung zu stellen, um auf eine sich – auch aufgrund rein nationaler Faktoren – stetig verändernde Versorgungslandschaft reagieren zu können. In tatsächlicher Hinsicht ist darüber hinaus festzustellen, dass negative Auswirkungen, insbesondere auf das regionale Versorgungsangebot, aufgrund der unions93
Eine Ausnahme besteht gemäß § 13 Abs. 2 S. 5 f. SGB V. Hierzu mit erheblichen Bedenken BSG, 30.10.2002 – B 1 KR 28/01 R, ZESAR 2003, 185 (188 f.). 95 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 39. 96 H.M., siehe W.-H. Roth, in: Dauses, E. I. Rn. 33 f.; ferner Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 25; eingehend in Anbetracht von Art. 18 AEUV: von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 49 ff. 97 Vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 26; problematisierend aber BSG, 30.10.2002 – B 1 KR 28/01 R, ZESAR 2003, 185 (188 f.). 94
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Kap. 4: Die Auswirkungen des Unionsrechts
rechtlichen Vorgaben bislang nicht zu verzeichnen sind. Im deutschen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung besteht die Möglichkeit zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bereits seit dem Jahr 2004; nach Aussage der Bundesregierung aus dem Jahr 2013 ist „eine kausal dadurch bedingte Unterauslastung und Einstellung inländischer Versorgungsangebote [. . .] nicht eingetreten und auch in Zukunft nicht zu erwarten.“ 98 Einzelne praktische Schwierigkeiten, insbesondere die – angesichts des vorherrschenden Sachleistungssystems schwierige – Festlegung nationaler Erstattungstarife für in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen,99 vermögen durchgreifende Bedenken nicht zu begründen und müssen in der Praxis einer Lösung zugeführt werden.
D. Fazit zu den Auswirkungen des Unionsrechts Der grundfreiheitliche Kostenerstattungsanspruch und die Richtlinie 2011/24/ EU wirken auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Im deutschen Recht existieren mit § 13 Abs. 4–6 SGB V und § 140e SGB V bereits seit dem Jahr 2004 Regelungen, die die Vorgaben des Kostenerstattungsanspruchs in nationales Recht umsetzen. Als unvereinbar mit den unionsrechtlichen Vorgaben erweisen sich jedoch die Bestimmung des § 13 Abs. 4 S. 5 SGB V und der Verweis auf § 39 SGB V in § 13 Abs. 5 S. 1 SGB V. Problematische Auswirkungen auf die Strukturprinzipien des deutschen gesetzlichen Krankenversicherungsrechts ergeben sich nicht: Dem Territorialitätsprinzip sind Durchbrechungen nicht fremd; sie stellen im Übrigen eine zwangsläufige Folge der Supranationalisierung dar. Das Solidaritätsprinzip wird durch die unionsrechtlichen Vorgaben nicht berührt. In Bezug auf das Sachleistungsprinzip führt das Unionsrecht zwar zu einer Durchbrechung; derlei Durchbrechungen existieren im SGB V jedoch schon immer zahlreich. Das Fortbestehen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung als Sachleistungssystem wird von den unionsrechtlichen Vorgaben nicht in Frage gestellt. Den unionsrechtlichen Vorgaben ist im Rahmen des Leistungserbringungsrechts Rechnung zu tragen. Insbesondere im Vergütungsrecht, aber auch bei der Bedarfsplanung sowie bei eventuellen Bemühungen zur Verknappung des inländischen Versorgungsangebots ist die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu berücksichtigen. Hierzu bietet das Leistungserbringungsrecht die nötigen flexiblen Steuerungselemente. 98
Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17/13101, S. 6. Diesbezüglich sehr kritisch Kingreen, ZESAR 2009, 109 (116 f.); Udsching/Harich, EuR 2006, 794 (805 f.); siehe aber BSG, 13.7.2004 – B 1 KR 11/04 R, BSGE 93, 94 (104); BSG, 30.6.2009 – B 1 KR 22/08 R, ZESAR 2010, 81 (86); BSG, 17.2.2010 – B 1 KR 14/09 R, NZS 2010, 678 (679). 99
Kapitel 5
Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung A. Tatsächlicher Befund Statistisch gesehen kommt der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Europäischen Union nur geringe Bedeutung zu: Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen macht an den öffentlichen Gesundheitsausgaben in der Europäischen Union nur einen Anteil von 1 % aus.1 In Bezug auf die einzelnen Mitgliedstaaten bestehen Unterschiede:2 Während die geplante grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Vereinigten Königreich einen Anteil von 0,08 % an den gesamten Gesundheitsausgaben hat, beträgt dieser Anteil für Luxemburg 8,6 %; für Deutschland wird ein Wert von 0,52 % ausgewiesen.3 Auf Grundlage des EU-Verordnungsrechts und entsprechender Abkommensregelungen hat der GKV-Spitzenverband, Deutsche Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, im Jahr 2011 über 2,36 Milliarden Euro zwischen den Kostenträgern im Inland und dem europäischen Ausland für die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen transferiert.4 Statistisches Material zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen wird für Deutschland seit einiger Zeit insbesondere vom Wissenschaftlichen Institut der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) geliefert. Es konnte in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg bei geplanten EU-Auslandsbehandlungen nachgewiesen werden,5 anschaulich stieg der Anteil der geplanten Behandlungen von 55 % im Jahr 2009 auf 67 % im Jahr 2010; für ungeplante Behandlungen verblieb somit im Jahr 2010 ein Anteil von 33 %.6 Als häufigste geplante Behandlungsart 1 Europäische Kommission, Impact Assessment [SEC(2008) 2163], S. 9. Von dieser Größenordnung gehen auch die Erhebungen der OECD aus: OECD, Health at a Glance: Europe 2012, 2012, S. 130. 2 Zu den Gründen: Europäische Kommission, Impact Assessment [SEC(2008) 2163], S. 10 f. 3 OECD, Health at a Glance: Europe 2012, 2012, S. 130 f. 4 GKV-Spitzenverband, Geschäftsbericht 2012, 2013, S. 64. 5 Bereits Techniker Krankenkasse, Die TK in Europa, 2008, S. 15. 6 Wagner/Dobrick/Verheyen, Europabefragung 2010, 2011, S. 25. Die Ergebnisse werden auch dargestellt in Wagner/Meckel/Verheyen, in: Klusen/Verheyen/Wagner, England and Germany in Europe, 2011, S. 113 ff.
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Kap. 5: Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
wird mit 51 % die Behandlung in Kureinrichtungen angegeben, gefolgt von Krankenhausbehandlungen mit 16 % und zahnarzt- und kieferorthopädischen Behandlungen mit 11 %.7
B. Ökonomische Potentiale Ökonomische Prognosen in Bezug auf die Entwicklung nationaler oder gar unionsweiter Gesundheitsmärkte gelten aufgrund der Besonderheiten von Gesundheitsmärkten, insbesondere aufgrund ihrer starken Regulierung, als schwierig.8 Erwartet werden einerseits eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, was insbesondere mit steigenden Einkommen und dem demographischen Wandel begründet wird, und andererseits erhöhte Ausgaben, welche insbesondere mit dem medizinisch-technischen Fortschritt zusammenhängen.9 In Bezug auf den europäischen Gesundheitsmarkt bedeuten insbesondere der durch die Richtlinie 2011/24/EU geschaffene klare Rechtsrahmen und die hiermit verbundenen umfassenden und leicht zugänglichen Informationsrechte für Patienten eine positive Wachstumstendenz.10 Für Patienten wird jedoch die eindeutige Präferenz bestehen bleiben, Gesundheitsleistungen wohnortnah in Anspruch zu nehmen.11 Wirkliche Veränderungen in den Versorgungsstrukturen sind daher nur in Grenzregionen denkbar, wo räumliche Nähe gewährleistet ist und sprachliche und kulturelle Barrieren nicht entgegenstehen.12 In diesen Regionen existieren bereits seit Jahrzehnten verschiedenartige, teils enge Zusammenschlüsse der beteiligten Akteure.13 Unter anderen dienten die Projekte „Hospital co-operation in border regions in Europe“ 14,
7
Wagner et al., Europabefragung 2012, 2013, S. 13. Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (52 ff.). Zu gesundheitsökonomischen Grundlagen Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, S. 108 ff.; Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2008, S. 148 ff., 332 f. 9 Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (53 f.). 10 Die Kommission ging bei Vorlage ihres Richtlinienvorschlags von einem wachsenden Markt aus, siehe Europäische Kommission, Impact Assessment [SEC(2008) 2163], S. 11; ebenfalls Wagner/Dobrick/Verheyen, Europabefragung 2010, 2011, S. 28. 11 Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (46); auch Erwägungsgrund Nr. 39 RiL 2011/24/EU. 12 Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (48); auch Erwägungsgrund Nr. 39 RiL 2011/24/EU. 13 Einen ausführlichen Überblick gibt Möller, Europäische Marktfreiheiten, 2009, S. 246 ff.; vgl. ferner Au, in: Klein/Schuler, Krankenversicherung, 2010, S. 141 ff.; B. Tiemann, Die Einwirkungen, 2011, S. 292 ff. 14 Standing Committee of the Hospitals of the European Union, Hospital co-operation in border regions in Europe, 2003. 8
B. Ökonomische Potentiale
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„Evaluation of Border Regions in the European Union (EUREGIO)“ 15 und „Solutions for Improving Health Care Cooperation in Border Regions (EUREGIO II)“ 16 dazu, einen Überblick über grenzübergreifende Aktivitäten zu geben und Weiterentwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Beispielhaft für die grundlegende Etablierung grenzüberschreitender Versorgungsstrukturen ist das „Rahmenabkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich“ vom 22. Juli 2005.17 Jenseits von Grenzregionen kommen für die geplante grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in erster Linie zwei Gründe in Betracht: Entweder die Leistung ist in der gewünschten Qualität im Inland nicht bzw. nur mit langen Wartezeiten verfügbar oder es handelt sich um eine Leistung, die im Ausland wesentlich billiger angeboten wird.18 Aus dem zweiten, monetären Gesichtspunkt ergeben sich jedoch keine Gefährdungen der mitgliedstaatlichen Gesundheitssysteme. Denn sind Gesundheitsleistungen vom nationalen Leistungskatalog umfasst, ist also ihre Inanspruchnahme für den Patienten „kostenlos“, hat ihr Preis keine Auswirkung auf die Entscheidung, wo der Patient die Gesundheitsleistung in Anspruch nimmt. Der Preis der Gesundheitsleistung spielt für ihn nur dann eine Rolle, wenn er die Kosten der Gesundheitsleistung selbst tragen muss, die Gesundheitsleistung also nicht vom Leistungskatalog des eigenen Gesundheitssystems umfasst ist, wie dies beispielsweise bei Schönheitsoperationen oder Wellness-Behandlungen der Fall ist. Für derartige Leistungen mag sich ein „Medizintourismus“ 19 entwickeln. Auf die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit hat dies keine negativen finanziellen Auswirkungen, da weder nach dem koordinierenden Verordnungsrecht noch nach dem grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch bei derartigen geplanten Gesundheitsleistungen eine Kostentragungspflicht besteht. Einen dazwischen liegenden Fall stellen Gesundheitsleistungen dar, die zwar im nationalen Leistungskatalog vorgesehen sind, für die aber Zuzahlungspflichten bestehen.
15 Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen, Evaluation of Border Regions in the European Union (EUREGIO) – Final Report, 2008. 16 Brand et al., Solutions for Improving Health Care Cooperation in Border Regions (EUREGIO II) – Final Report, 2011. 17 Nebst Verwaltungsvereinbarung vom 9.3.2006 [BGBl. II 2006, S. 1330]; in Kraft getreten am 1.4.2007 (BGBl. II 2007, S. 676). 18 Vgl. Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (46); Mayer, SoSi 2011, 254; B. Tiemann, in: FS Wille, 2007, S. 411 (428); zu diesen Fallgruppen auch Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2008, S. 333. 19 Zu dieser Thematik monographisch: Bünten, Medizintourismus, 2011; Klar, Gesundheitstourismus in Europa, 2013. Nach diesen Untersuchungen liegt der Hauptgrund für eine Auslandsbehandlung in monetären Einsparungen (Bünten, S. 153, 221; Klar, S. 225).
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Kap. 5: Potentiale der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung
Hierzu ist festzustellen, dass nach dem grundfreiheitlichen bzw. richtlinienrechtlichen Kostenerstattungsanspruch dem Patienten die gleichen Zuzahlungspflichten wie bei einer inländischen Behandlung entgegen gehalten werden können; im Verordnungsrecht richten sich die Zuzahlungspflichten nach dem Recht des Aufenthaltsmitgliedstaates. Somit ergeben sich auch für Gesundheitsleistungen mit Zuzahlungspflichten keine erhöhten Anreize zur Inanspruchnahme in einem anderen Mitgliedstaat. Der andere Gesichtspunkt eines im Ausland angebotenen höheren Qualitätsniveaus20 dürfte insbesondere bei stationären Behandlungen oder bei Spezialbehandlungen relevant sein. Die Inanspruchnahme dieser Behandlungen im Ausland wird jedoch schon durch die Zulässigkeit eines Vorabgenehmigungserfordernisses erheblich limitiert. Aufgrund des in Deutschland herrschenden hohen Qualitätsniveaus in der medizinischen Versorgung spielt das Qualitätsargument für deutsche Patienten ohnehin eine untergeordnete Rolle.21 Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass Nebenkosten wie Reise-, Aufenthalts- und Verpflegungskosten, die nicht unmittelbar mit der Gesundheitsversorgung verbunden sind, im Grundsatz nicht erstattungsfähig sind, und dass die Kostenerstattung nur zu den inländischen Tarifen (die oft unter den Kosten der ausländischen Privatbehandlung liegen) erfolgt, dürften sich auch unter diesem Blickwinkel die Anreize für die Patientenmobilität in engen Grenzen halten.22 Trotz positiver Wachstumstendenz ist somit ein starker Anstieg bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht zu erwarten.23
20 Nach der Studie von Wagner et al., Europabefragung 2012, 2013, S. 19 wird zukünftig höchstwahrscheinlich der Qualitätsaspekt als Hauptbeweggrund für geplante EU-Auslandsbehandlungen stärker in den Vordergrund treten. 21 Vgl. Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip, 2003, S. 535. 22 Vgl. Hajen, in: Gerlinger/Mosebach/Schmucker, Gesundheitsdienstleistungen, 2010, S. 39 (47). 23 Schmucker, GesundhWes 2010, 150 (151); Zimmermann, Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung, 2008, S. 334.
Thesen 1.
Die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit in Bezug auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ist in der Gesamtschau überzeugend; teilweise lassen sich allerdings Begründungsdefizite feststellen.1
2.
Der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 UAbs. 1 AEUV lässt sich der Schutz der sog. passiven Dienstleistungsfreiheit entnehmen. Die Annahme einer passiven Dienstleistungsfreiheit wurde vom EuGH in der Entscheidung Luisi und Carbone unzureichend begründet. Das Auslegungsproblem stellt sich im sachlichen Schutzbereich in Bezug auf die Frage, ob auch ein Beschränkungsverbot bzw. eine subjektive Berechtigung für den Dienstleistungsempfänger angenommen werden kann. Die Berechtigung des Dienstleistungsempfängers lässt sich mit teleologischen Argumenten begründen.2
3.
In die grundfreiheitliche Rechtfertigungsdogmatik lässt sich die Kompetenzordnung des Primärrechts weder als eigenständiger Rechtfertigungsgrund noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einbringen. Kompetenzwahrende Rechtfertigungsgründe können deshalb nur dort anerkannt werden, wo das Primärrecht sie vorsieht. Art. 168 Abs. 7 AEUV, der auf den Schutz mitgliedstaatlicher Souveränität im Bereich der Gesundheitsversorgung zielt, ist als eigenständiger kompetenzwahrender Rechtfertigungsgrund zu prüfen.3
4.
Der EuGH hat der Dienstleistungsfreiheit einen grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruch bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entnommen. Die Funktion als originäres Leistungsrecht ist der Konzeption der Grundfreiheiten grundsätzlich fremd; sie erweist sich im Hinblick auf das Kompetenzgefüge als problematisch.4
5.
Die Richtlinie 2011/24/EU kodifiziert in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH die Rechtsgrundsätze zur Kostenerstattung. Durch Wahrnehmung dieser gestalterischen Aufgabe steuert der Unionsgesetzgeber der Problematik des aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleiteten originären Leistungsrechts entgegen. Die Richtlinie 2011/24/EU enthält neben den Regelungen zur Verwirklichung des Binnenmarkts einen eigenständigen Rege1 2 3 4
Hierzu Kap. 1, S. 31 ff. Hierzu Kap. 1 C. I. 1., S. 45 ff. Hierzu Kap. 1 E. I. 4., S. 85 ff. Hierzu Kap. 1 F. I., S. 111 ff.
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Thesen
lungskomplex ohne Binnenmarktbezug, der sich auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung bezieht.5 6.
Der richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch ist nicht nur bei geplanten Behandlungen während eines vorübergehenden Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat anwendbar, sondern auch dann, wenn sich ein Patient aus anderen Gründen als zur Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat begibt und sich dort entschließt, eine Gesundheitsleistung in Anspruch zu nehmen, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt nicht medizinisch notwendig ist. Wird eine Gesundheitsleistung jedoch während eines vorübergehenden Aufenthalts medizinisch notwendig, ist der richtlinienrechtliche Kostenerstattungsanspruch nicht anwendbar.6
7.
Bei der Kompetenzprüfung eines Rechtsakts, der mehrere Ziele verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst, ist grundlegend zwischen der Frage, ob die Union die Kompetenz für den Erlass des Rechtsakts besitzt, und der Frage, auf welche Rechtsgrundlage der Rechtsakt zu stützen ist, zu unterscheiden. Die Verfolgung weiterer Ziele ist im Rahmen der Binnenmarktkompetenz von der primärrechtlichen Kompetenzordnung ausdrücklich vorgesehen; Voraussetzung ist, dass das mitverfolgbare Ziel im Zusammenhang mit dem Binnenmarktziel verfolgt wird. Dagegen ist nicht Voraussetzung, dass dem Binnenmarktziel im Verhältnis zu dem mitverfolgten Ziel ein besonderes Gewicht zukommt. Stützt sich die Unionskompetenz für den Erlass eines Rechtsakts auf mehrere Rechtsgrundlagen, ist grundsätzlich nur eine Rechtsgrundlage für den gesamten Rechtsakt zu wählen, weil sich hiernach die Anforderungen an das Rechtsetzungsverfahren richten. Die Auflösung einer solchen echten Normenkonkurrenz ist nach der vom EuGH entwickelten Schwerpunkttheorie vorzunehmen.7
8.
Das Verordnungsrecht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009) enthält Regelungen zu Leistungen bei Krankheit. Durch die Entwicklung des grundfreiheitlichen Kostenerstattungsanspruchs und Schaffung der Art. 7 ff. Richtlinie 2011/24/EU ist nunmehr ein dreischichtiges unionsrechtliches Regelungsgefüge im Bereich der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen entstanden. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen Kostenerstattungsanspruch und Verordnungsrecht entsteht jedoch nur in den Fällen des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004. Das
5 6 7
Hierzu Kap. 2 B., S. 123 ff. Hierzu Kap. 2 B. I. 2. b), S. 126 ff. Hierzu Kap. 2 C. I. 4., S. 161 ff.
Thesen
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Unionsrecht löst dieses Konkurrenzverhältnis im Sinne einer Meistbegünstigung zugunsten des Patienten auf.8 9.
Die Vorschrift des Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 erweist sich im freizügigkeitsspezifischen Verordnungsrecht als systemwidrig. Das Nebeneinander von Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 und Kostenerstattungsanspruch verkompliziert das Regelungssystem und führt zu Schwierigkeiten in der praktischen Handhabung. Art. 20 VO (EG) Nr. 883/2004 sollte aus dem Verordnungsrecht gestrichen werden.9
10. Im deutschen Recht der gesetzlichen Krankenversicherung wurde der unionsrechtliche Kostenerstattungsanspruch bereits zum Jahr 2004 durch § 13 Abs. 4–6 SGB V und § 140e SGB V im Grunde zutreffend in nationales Recht umgesetzt. Die Bestimmung des § 13 Abs. 4 S. 5 SGB V und der Verweis auf § 39 SGB V in § 13 Abs. 5 S. 1 SGB V erweisen sich jedoch als unvereinbar mit den unionsrechtlichen Vorgaben.10 11. Das Fortbestehen der Strukturprinzipien der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere ihre Ausgestaltung als Sachleistungssystem, wird durch die unionsrechtlichen Vorgaben nicht in Frage gestellt. Das mit flexiblen Steuerungselementen ausgestattete Leistungserbringungsrecht hat auf die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu reagieren.11 12. Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen erweist sich grundsätzlich als regionale Aktivität. Trotz positiver Wachstumstendenz ist deshalb ein übermäßiger Anstieg bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht zu befürchten.12
8
Hierzu Kap. 3 C. I. und II., S. 204 ff. Hierzu Kap. 3 C. III., S. 216 ff. 10 Hierzu Kap. 4 A., S. 220 ff. 11 Hierzu Kap. 4 B. und C., S. 228 ff. 12 Hierzu Kap. 5 B., S. 240 ff. 9
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Sachwortverzeichnis Ambulante Behandlungen – im nationalen Recht 221 ff. – im Richtlinienrecht 136 f. – im Vergleich RiL–VO 209 – in den Grundfreiheiten 94 ff. Artikel 106 Absatz 2 AEUV – als Rechtfertigungsgrund 82 ff., 101 – Anwendbarkeit der Grundfreiheiten und 39 f. Artikel 168 Absatz 5 AEUV – als Kompetenzausübungsgrenze 176 f. – als Kompetenzrecht 180 ff. Artikel 168 Absatz 7 AEUV – als Kompetenzausübungsgrenze 174 ff., 182 – als Rechtfertigungsgrund 88 ff., 100 f. – Anwendbarkeit der Grundfreiheiten und 37 Aufenthalt, vorübergehender – im Vergleich RiL–VO 206 – im Verordnungsrecht 192, 197 ff. Bedarfsplanung 235 Beeinträchtigung der Grundfreiheiten 60 ff. – keine Beeinträchtigungen 68 ff. – mittelbare Diskriminierung 65 f. – unmittelbare Diskriminierung 62 ff. Binnenmarkt – als Kompetenzrecht 155 ff. – als Schwerpunkt 169 f. – als Ziel 91 ff. Dienstleistungen von allgemeinen wirtschaftlichem Interesse 82 ff. Dienstleistungsrichtlinie 129
Diskriminierung – im Richtlinienrecht 142 f. – in den Grundfreiheiten siehe Beeinträchtigung Dringlichkeit einer Behandlung – im Verordnungsrecht 202 – in den Grundfreiheiten 108 f. Elektronische Gesundheitsdienste 150 ff. Ergänzender Erstattungsanspruch siehe Kostenerstattungsanspruch Europäische Referenznetzwerke 149 f. GATS 29 f. Geldleistungen 196 Geplante Behandlungen – im Richtlinienrecht 127 f. – im Vergleich RiL–VO 207 f. – im Verordnungsrecht 199 ff. – in den Grundfreiheiten 59 Gesundheitsleistungen – Begriff 29 – im Richtlinienrecht siehe Gesundheitsversorgung – im Vergleich RiL–VO 205 – im Verordnungsrecht siehe Krankheit – in den Grundfreiheiten 56 ff. Gesundheitspolitik, europäische 27 f. Gesundheitstechnologien 152 Gesundheitsversorgung, grenzüberschreitende – Begriff 28 f. – im Richtlinienrecht 125 ff. – in den Grundfreiheiten 56 ff. Grenzüberschreitung – im Richtlinienrecht 126 ff. – im Vergleich RiL–VO 205 ff.
260
Sachwortverzeichnis
– in den Grundfreiheiten 59 Grundfreiheiten – als originäre Leistungsrechte siehe Grundfreiheitsdimension – als subjektive Rechte 51 – Anwendbarkeit 35 ff. Grundfreiheitsdimension – abgeleitetes Teilhaberecht 111 f. – Begriff 111 – Integration, negative und positive 114 – Kompetenzkonflikte und 113 ff. – originäres Leistungsrecht 111 ff. Informationsrechte 143 f. Inländerdiskriminierung 236 f. Kollidierendes Vertragsrecht 81 ff. Kompetenz 154 ff. – als Rechtfertigungsgrund 85 ff. – Anwendbarkeit der Grundfreiheiten und 36 f. – Kompetenzausübungsgrenzen 173 ff., 179, 182 – Normenkonkurrenz 172 f. – Querschnittsklausel 168 – Schwerpunkttheorie 163 f., 172 f. – Verbands- und Organkompetenz 165 ff. – Verfolgung weiterer Ziele 161 ff. – vertikale und horizontale Kompetenzabgrenzung 165 ff. – Wahl der Rechtsgrundlage 170 ff., 183 f. Kompetenzausübungsgrenzen siehe Kompetenz Kompetenzwahrendes kollidierendes Vertragsrecht 88 ff. Konkurrenzen – Grundfreiheiten und RiL 214 f. – Kostenerstattungsanspruch und VO 115, 215 f. – von Kompetenznormen 172 f.
Kostenerstattungsanspruch – ergänzender 115, 202 f., 215 f. – grundfreiheitlicher 31 ff., 111 ff. – Konkurrenzen 214 ff. – nationaler 221 ff., 231 ff. – richtlinienrechtlicher 131 ff. Krankengeld 226 Krankenhausleistungen siehe stationäre Behandlungen Krankheit 194 Leistungserbringer, private – im nationalen Recht 222, 236 f. – im Richtlinienrecht 125 – im Vergleich RiL–VO 205 – in den Grundfreiheiten 66 Leistungserbringungsrecht 233 ff. Leistungskatalog, nationaler 68 f., 104 f., 208 f. Medizinisch notwendige Behandlungen – im Richtlinienrecht 127 f. – im Vergleich RiL–VO 207 f. – im Verordnungsrecht 197 ff. – in den Grundfreiheiten 72 f. Nationale Kontaktstelle 143, 227 Nebenkosten siehe Reise- und Aufenthaltskosten Negative Dienstleistungsfreiheit siehe passive Dienstleistungsfreiheit Ökonomische Aspekte 240 ff. Originäres Leistungsrecht siehe Grundfreiheitsdimension Passive Dienstleistungsfreiheit 45 ff. Patient – im Richtlinienrecht 129 f. – Terminologie 27 Patientenakte 145, 227 Patientenmobilität – Begriff 29
Sachwortverzeichnis Qualität – Grundfreiheiten und 79 ff. – ökonomische Aspekte und 242 – Richtlinie und 137 f., 139, 141 f. Rationierung 107 f., 235 f. Rechtfertigung 73 ff. – Artikel 168 Absatz 7 AEUV 90 f., 100 f. – bei ambulanten Behandlungen 94 ff. – bei stationären Behandlungen und Spezialbehandlungen 102 ff. – geschriebene und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 74 ff. – kollidierendes Vertragsrecht 81 ff. – Kompetenzordnung und 85 ff. – Qualitätskontrolle und 79 ff. – Verhältnismäßigkeit 104 ff. – wirtschaftliche Gründe und 79 Reise- und Aufenthaltskosten – als ökonomischer Aspekt 242 – im Richtlinienrecht 133 – im Vergleich RiL–VO 211 f. – im Verordnungsrecht 201 – in den Grundfreiheiten 70 f. Richtlinie 2011/24/EU – Entstehung 117 ff. – persönlicher Anwendungsbereich 129 ff. – sachlicher Anwendungsbereich 125 ff. – Umsetzung 227 f. – Verhältnis zur VO 124, 140, 204 ff. Sachleistungsaushilfe 194 f. Sachleistungsersetzende Kostenerstattungsansprüche 198 f., 201 ff. Sachleistungsprinzip – als Systemtyp 26 f. – im nationalen Recht 230 ff. – in den Grundfreiheiten 57 f., 96 ff. Schutzbereiche – Dienstleistungsfreiheit 45 ff. – Warenverkehrsfreiheit 59 f.
261
Schwerpunkttheorie siehe Kompetenz Sekundärrecht, vorrangiges 40 ff., 214 f. Selbstbeteiligung siehe Zuzahlungspflichten Seltene Krankheiten 150, 181 Solidaritätsprinzip 229 f. Sozialrechtskoordinierung 189 ff. Sozialversicherungsabkommen 29 Spezialbehandlungen siehe stationäre Behandlungen Stationäre Behandlungen – im nationalen Recht 223 ff. – im Richtlinienrecht 135 ff. – im Vergleich RiL–VO 209 – in den Grundfreiheiten 102 ff. Statistiken 239 f. Strukturprinzipien 228 ff. Subsidiarität – der Binnenmarktkompetenz 156 ff. – der Richtlinie 184 ff. Tatsächliche Kosten – im Richtlinienrecht 133 – im Vergleich RiL–VO 211 – im Verordnungsrecht 199, 202 – in den Grundfreiheiten 69 f. Territorialitätsprinzip 229 Träger – aushelfender und zuständiger 193 – Terminologie 27 Vergütungsrecht 233 ff. Verhältnismäßigkeit – der Richtlinie 186 f. – in den Grundfreiheiten 104 ff. Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Hintergründe 189 ff. – persönlicher Anwendungsbereich 190 f. – Prinzip der Sachleistungsaushilfe 194 f.
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Sachwortverzeichnis
– sachlicher Anwendungsbereich 194 – Verhältnis zur RiL 124, 140, 204 ff. Verschreibungen 147 ff., 227 Versicherter – im Richtlinienrecht 129 f., 131
– rechtswidrige Verweigerung 108, 201 f., 215 f. – Verhältnismäßigkeit und 104 ff. Wartelisten 106 f., 200 Wettbewerbsrecht, europäisches 37 f.
– im Vergleich RiL–VO 208 – im Verordnungsrecht 192 – Terminologie 27 Vorabgenehmigung – Genehmigungsverfahren 108, 140 f. – im nationalen Recht 223 ff. – im Richtlinienrecht 135 ff. – im Vergleich RiL–VO 209 – im Verordnungsrecht 200 – in den Grundfreiheiten 62 ff., 94 ff.
Zielkonflikte 91 ff. Zusammenarbeit, grenzüberschreitende 146 ff., 182 f. Zuzahlungspflichten – als ökonomischer Aspekt 241 f. – ergänzender Erstattungsanspruch und 202 – im nationalen Recht 222 – im Vergleich RiL–VO 211 – im Verordnungsrecht 195