Normbehauptung im Steuerrecht durch das europäische Missbrauchsverbot: Von den Anfängen der Missbrauchsverhinderung bis zum allgemeinen Missbrauchsverbot in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken [1 ed.] 9783428557233, 9783428157235

Der Inhalt und die Rechtsnatur des europäischen Missbrauchsverbots gehören zu den relevantesten Problemen des Unionsrech

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German Pages 342 [343] Year 2019

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Normbehauptung im Steuerrecht durch das europäische Missbrauchsverbot: Von den Anfängen der Missbrauchsverhinderung bis zum allgemeinen Missbrauchsverbot in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken [1 ed.]
 9783428557233, 9783428157235

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Schriften zum Steuerrecht Band 139

Normbehauptung im Steuerrecht durch das europäische Missbrauchsverbot Von den Anfängen der Missbrauchsverhinderung bis zum allgemeinen Missbrauchsverbot in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken

Von

Florian Lindermann

Duncker & Humblot · Berlin

FLORIAN LINDERMANN

Normbehauptung im Steuerrecht durch das europäische Missbrauchsverbot

S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 139

Normbehauptung im Steuerrecht durch das europäische Missbrauchsverbot Von den Anfängen der Missbrauchsverhinderung bis zum allgemeinen Missbrauchsverbot in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken

Von

Florian Lindermann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaften der EBS Universität für Wirtschaft und Recht hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-15723-5 (Print) ISBN 978-3-428-55723-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85723-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Wie ein europäisches Missbrauchsverbot zu fassen ist, gilt als eine Schlüsselfrage der Schaffung einer europäischen Steuerrechtsordnung. Die vorliegende Arbeit zu diesem Thema ist in wesentlichen Teilen während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht und Steuerrecht entstanden und wurde im Oktober 2018 als Dissertation angenommen. Zu ihrem Gelingen haben viele Personen beigetragen. An dieser Stelle möchte ich besonders meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Tim Florstedt herzlich danken. Er hat das Thema angeregt, die Arbeit betreut und mich wissenschaftlich sowie persönlich gefördert und stark geprägt. Zugleich hat er mir viel akademische Freiheit gelassen und in zahlreichen Gesprächen wertvolle Hinweise gegeben. Besonderer Dank gebührt zudem Herrn Prof. Dr. Jens Wüstemann für die freundliche Erstellung des Zweitvotums. Von ganzem Herzen danke ich zudem meinen Eltern, Dr. Gisela und Dr. Edgar Lindermann für die vielfältige persönliche Förderung meines akademischen Werdegangs und ihre wertvollen Anregungen zur Entwicklung dieser Arbeit. Dank gebührt zudem meinem Bruder Tobias Lindermann für zahlreiche konstruktive Diskussionen. Mein großer Dank gilt außerdem meiner Frau, Hannah Lindermann, für ihre liebevolle und fortwährende Unterstützung, ständige Gesprächsbereitschaft, große Geduld und ihren bedingungslosen Rückhalt. Königstein, Januar 2019

Florian Lindermann

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Bedeutung der Normbehauptung auf Unionsebene zur Sicherung der Wirksamkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Grundannahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 IV. Die institutionellen Bedingungen einer wirksamen und vorhersehbaren Methode der Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Erster Hauptteil Die Notwendigkeit einer autonomen unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien

42

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung zur Missbrauchsverhinderung im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Deutsches Grundverständnis einer rein teleologischen Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Erscheinungsformen der Gesetzesumgehung und des Missbrauchs . . . . . . . . . 44 III. Gesetzesumgehung als Auslegungs- bzw. Analogiefrage (objektive Theorien) 47 IV. Gesetzesumgehung als eigenständiges Rechtsinstitut (subjektive Theorien) . . 52 V. Die eingeschränkte Wirksamkeit des individuellen und institutionellen Rechtsmissbrauchs zur Normbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VI. Das disparate Bild der Bedeutung subjektiver Kriterien bei der Bewertung eines Missbrauchs von Steuergesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VII. Die Berücksichtigung des Subjektiven als notwendiges Kriterium einer wirksamen Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

8

Inhaltsübersicht

§ 2 Die Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England aus rechtsvergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Die Missbrauchsmethodik nach französischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Die Missbrauchsmethodik nach englischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Vergleich der Missbrauchsverhinderung nach französischem und englischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 IV. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zweiter Hauptteil Die Implementierung des allgemeinen Missbrauchsverbots als Mittel der Normbehauptung im europäischen Primärrecht

92

§ 3 Die Bedeutung der Judikatur des EuGH für die Entwicklung eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 I. Aufgabe des EuGH zur Entwicklung einer Missbrauchsmethodik zur Wahrung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Institutionelle Grenzen der EuGH-Gerichtsbarkeit zur Entwicklung einer autonomen Missbrauchsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 § 4 Die Auslegung des Unionsrechts als Ausgangspunkt der Normbehauptung . . . . . . . 97 I. Auslegungsmethoden des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Die Missbrauchsverhinderung durch Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 § 5 Die historische Entwicklung der europäischen Missbrauchsjudikatur . . . . . . . . . . . . 114 I. Die zunächst fehlende Konturierung der unionsrechtlichen Missbrauchsdogmatik zu Beginn der EuGH-Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Ausdifferenzierte Missbrauchsdogmatik durch Benennung konkreter Missbrauchskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III. Besondere Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Missbrauchsjudikatur im steuerrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 IV. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Inhaltsübersicht

9

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Vom EuGH aufgestellte Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots 170 II. Unionsrechtlicher Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Formale Erfüllung der Voraussetzungen einer vorteilsgewährenden Unionsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 IV. Das objektive Element als ausdifferenzierter teleologischer Prüfungsmaßstab. 173 V. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Erfassung der wirtschaftlichen Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 VI. Die Notwendigkeit des subjektiven Elements des Missbrauchsverbots . . . . . . 198 VII. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Missbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . 217 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 § 7 Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf nationaler Ebene . . 219 I. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Befugnis der Mitgliedstaaten zur Implementierung nationaler Missbrauchsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 III. Missbrauchsverbot als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 IV. Gefahr des Protektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 V. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch nationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 § 8 Die Rechtsnatur des Missbrauchsverbots als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Institutionelle Befugnisse des EuGH zur Implementierung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 III. Allgemeiner Rechtsgrundsatz oder Mittel der Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . 230

10

Inhaltsübersicht IV. Folgerungen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . 245

Dritter Hauptteil Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext

247

§ 9 Die Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Fusionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 II. Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Empfehlung der Kommission vom 6. Dezember 2012 betreffend aggressive Steuerplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 V. Mutter-Tochter-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 VI. Nationale Maßnahmen zur Umsetzung von sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 VII. Verhältnis zwischen sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln und allgemeinem Missbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 § 10 Die dynamische Präzisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht in der Judikatur des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 I. Die Konkretisierung des objektiven Elements des allgemeinen Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 II. Die Konkretisierung des subjektiven Elements zur Erfassung der wirtschaftlichen Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 III. Nationale Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . 283 IV. Zwingende Gründe des Allgemeinwohls als Einschränkungsmöglichkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 V. Rechtsfolgen der Steuerumgehung nach der Dogmatik des Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Inhaltsübersicht

11

§ 11 Die gebotene Auslegung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Hintergrund der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken 293 II. Ziel der allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch . . . . . . . . . 293 III. Der Inhalt der allgemeinen Missbrauchsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 IV. Institutionelle Konflikte im Rahmen der Auslegung der allgemeinen Missbrauchsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 V. Ausblick: Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien in der teleologischen Missbrauchsprüfung von Steuergesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 § 12 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 I. Wirksames Mittel der Normbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 II. Inhalt des objektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 III. Aufwertung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 IV. Die Sichtbarmachung des subjektiven Elements als Fortschritt für die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 V. Anwendung des Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 VI. Konkretisierung des allgemeinen primärrechtlichen Missbrauchsverbots im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 VII. Besondere Bedeutung des Subjektiven im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 VIII. Folge des Missbrauchsverbots im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 IX. Die Bedeutung des Missbrauchsverbots und der Künstlichkeitsmetapher für die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken . . . . . . . . . . 322

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Bedeutung der Normbehauptung auf Unionsebene zur Sicherung der Wirksamkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Grundannahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Autonome Missbrauchsmethode unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Einheitliche Missbrauchsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Entwicklung der Methodik durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4. Spannungsverhältnis von Planungs- bzw. Rechtssicherheit und Gleichheit 36 5. Rationale und anpassungsfähige Missbrauchsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6. Europäische Missbrauchsdogmatik als Grundlage einer unionsrechtlichen Generalklausel in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Die institutionellen Bedingungen einer wirksamen und vorhersehbaren Methode der Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Die Bedeutung einer rationalen Missbrauchsdogmatik für das Spannungsverhältnis von Rechtssicherheit und Gleichheit in der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Die demokratische Legitimierung einer institutionellen Anwendung der Missbrauchsdogmatik durch Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Erster Hauptteil Die Notwendigkeit einer autonomen unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien

42

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung zur Missbrauchsverhinderung im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. Deutsches Grundverständnis einer rein teleologischen Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Erscheinungsformen der Gesetzesumgehung und des Missbrauchs . . . . . . . . . 44 1. Aufspaltung eines einheitlichen Rechtsgeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Gesamtplangestaltungen und gegenläufige Gestaltungen (U-Turn) . . . . . . 44 3. Zwischenschaltung einer Mittelsperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Verschleierung des tatsächlichen Vertragstyps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

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Inhaltsverzeichnis 5. Wesensmerkmale dieser Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III. Gesetzesumgehung als Auslegungs- bzw. Analogiefrage (objektive Theorien) 47 1. Grundannahme der objektiven Theorien als ,reine‘ Frage teleologischer Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Die Missbrauchsverhinderung nach der objektiven Theorie . . . . . . . . . . . . 49 a) Das Verhältnis von Auslegung und Analogie als Mittel der Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Analoge Anwendung zur Behandlung der Gesetzesumgehung . . . . . . 49 c) Die Ablehnung der Notwendigkeit eines Umgehungsvorsatzes und subjektiver Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 IV. Gesetzesumgehung als eigenständiges Rechtsinstitut (subjektive Theorien) 52 1. Umgehungsabsicht als zusätzliches Erfordernis für die Anwendung von Gesetzen über ihre Wortlautgrenze hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Vermutung des Bestehens einer Umgehungsabsicht bei Vorliegen einer Umgehungshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. „Künstlicher Auslandsbezug“ im Internationalen Privatrecht als subjektiver Anknüpfungspunkt des Missbrauchsvorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4. Planung des wirtschaftlichen Erfolgs einer Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 53 V. Die eingeschränkte Wirksamkeit des individuellen und institutionellen Rechtsmissbrauchs zur Normbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien als Abwägungsposten beim individuellen Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Die eingeschränkte Wirksamkeit zur Missbrauchsverhinderung des institutionellen Rechtsmissbrauchs aufgrund Außerachtlassung subjektiver Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Das Verhältnis von Rechtsmissbrauch zu Gesetzesumgehung . . . . . . . . . . 58 VI. Das disparate Bild der Bedeutung subjektiver Kriterien bei der Bewertung eines Missbrauchs von Steuergesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Die vermeintliche Nichtberücksichtigung subjektiver Kriterien nach der Innentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Mögliche Inbezugnahme subjektiver Kriterien nach der Außentheorie . . . 60 3. Die Bedeutung subjektiver Missbrauchskriterien zur Erfassung der wirtschaftlichen Realität nach der Judikatur des BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 VII. Die Berücksichtigung des Subjektiven als notwendiges Kriterium einer wirksamen Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Das Verhältnis des Normtelos zu subjektiven Kriterien und vermeintliche Nichtberücksichtigung des Subjektiven nach objektiven Theorien . . . . . . 63 2. Die Bedeutung subjektiver Kriterien für eine rationale Missbrauchsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung subjektiver Kriterien . . . . . . . . . 68 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

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§ 2 Die Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England aus rechtsvergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Die Missbrauchsmethodik nach französischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Die Rolle des Richters im System der französischen Gewaltenteilung . . . 73 2. Die Auslegung des Gesetzes durch den Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Contra legem Rechtsanwendung und teleologische Reduktion . . . . . . . . . 74 4. Fraude á la loi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5. Missbrauchsverhinderung im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Die Missbrauchsmethodik nach englischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Fallrecht im Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Kodifizierte Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Die Funktion parlamentarischer Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Die Auslegung parlamentarischer Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Teleologische Reduktion und Extension parlamentarischer Gesetze 82 3. Die Behandlung von Gesetzes- und Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a) Traditionelles Verständnis der strengen Wortlautbindung . . . . . . . . . . . 83 b) Abkehr von der strikten Wortlautbindung als Bedingung der wirksamen Verhinderung von Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) General anti-abuse rule des Finance Act 2013 als notwendiges Mittel zur Bekämpfung der Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 III. Vergleich der Missbrauchsverhinderung nach französischem und englischem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 IV. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zweiter Hauptteil Die Implementierung des allgemeinen Missbrauchsverbots als Mittel der Normbehauptung im europäischen Primärrecht

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§ 3 Die Bedeutung der Judikatur des EuGH für die Entwicklung eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 I. Aufgabe des EuGH zur Entwicklung einer Missbrauchsmethodik zur Wahrung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Institutionelle Grenzen der EuGH-Gerichtsbarkeit zur Entwicklung einer autonomen Missbrauchsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Unionsrechtlicher Kompetenzrahmen als Grundlage der Zuständigkeit des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Keine besondere Steuergerichtsbarkeit nach der Gerichtsverfassung . . . . . 96 3. Praktische Grenzen der Gerichtsbarkeit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

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§ 4 Die Auslegung des Unionsrechts als Ausgangspunkt der Normbehauptung . . . . . . . 97 I. Auslegungsmethoden des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Telosermittlung auf Unionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 b) Subjektive vs. objektive Telosermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c) Metateleological approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5. Auslegung unter Berücksichtigung des Rechts der Mitgliedstaaten . . . . . . 105 II. Die Missbrauchsverhinderung durch Auslegungsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Rechtsfortbildung und Analogieschlüsse durch den EuGH . . . . . . . . . . . . 106 a) Möglichkeit der Rechtsfortbildung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Die Bedeutung der Wortlautgrenze und contra legem Interpretation

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c) Keine teleologische Reduktion zu Lasten des Unionsbürgers . . . . . . . 107 d) Keine Analogie zu Lasten des Unionsbürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Missbrauchsverhinderung durch Auslegungsmethodik bei Einhaltung der Wortlautgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Wortlaut als Grenze der engen Auslegung des Anwendungsbereichs von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Weite Auslegung mit anschließendem Missbrauchskorrektiv als sachgerechte Missbrauchsmethodik zum Schutz der Wirksamkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 § 5 Die historische Entwicklung der europäischen Missbrauchsjudikatur . . . . . . . . . . . . 114 I. Die zunächst fehlende Konturierung der unionsrechtlichen Missbrauchsdogmatik zu Beginn der EuGH-Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Van Binsbergen – Urteil vom 3. Dezember 1974, Rechtssache 33/74 . . . . 115 2. Leclerc – Urteile vom 10. Januar 1985, Rechtssache 229/83, vom 11. Juli 1985, Rechtssache 299/83 und vom 10. Juli 1986, Rechtssache 95/84 . . . 115 3. Lair – Urteil vom 21. Juni 1988, Rechtssache 39/86 . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4. Direct Cosmetics Ltd – Urteil vom 12. Juli 1988, verbundene Rechtssachen 138/86 und 139/86 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. TV10 – Urteil vom 5. Oktober 1994, Rechtssache C-23/93 . . . . . . . . . . . . 118 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 aa) Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 118 bb) Missbrauch als Legitimation der Beschränkung der Grundfreiheit 119 c) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 6. Paletta – Urteil vom 2. Mai 1996, Rechtssache C-206/94 . . . . . . . . . . . . . 120 7. Leur-Bloem – Urteil vom 17. Juli 1997, Rechtssache C-28/95 . . . . . . . . . 121

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8. ICI – Urteil vom 16. Juli 1998, Rechtssache C-264/96 . . . . . . . . . . . . . . . 122 9. Centros – Urteil vom 9. März 1999, Rechtssache C-212/97 . . . . . . . . . . . . 123 10. Diamantis – Urteil vom 23. März 2000, Rechtssache C-373/97 . . . . . . . . 124 II. Ausdifferenzierte Missbrauchsdogmatik durch Benennung konkreter Missbrauchskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Emsland-Stärke – Urteil vom 14. Dezember 2000, Rechtssache C-110/99 126 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Vorbringen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 aa) Missbrauchsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 bb) Rechtsfolge eines Missbrauchs und Rechtssicherheit . . . . . . . . . . 128 d) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Lankhorst-Hohorst – Urteil vom 12. Dezember 2002, Rechtssache C-324/00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Ninni-Orasche – Urteil vom 6. November 2003, Rechtssache C-413/01 131 4. Gemeente Leusden und Holin Groep – Urteil vom 29. April 2004, verbundene Rechtssachen C-487/01 und C-7/02 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5. Eichsfelder Schlachtbetrieb – Urteil vom 21. Juli 2005, Rechtssache C-515/03 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6. Ungarn / Slowakische Republik – Urteil vom 16. Oktober 2012, Rechtssache C-364/10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 7. O. und B. – Urteil vom 11. März 2014, Rechtssache C-456/12 . . . . . . . . . 136 8. Torresi – Urteil vom 17. Juli 2014, verbundene Rechtssachen C-58/13 und C-59/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 III. Besondere Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Missbrauchsjudikatur im steuerrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Halifax u. a. – Urteil vom 21. Februar 2006, Rechtssache C- 255/02 . . . . 138 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 aa) Anwendbarkeit des Mehrwertsteuersystems und Auslegung des Begriffs „wirtschaftliche Tätigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Missbrauchsvoraussetzungen im steuerrechtlichen Kontext . . . . . 140 c) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas – Urteil vom 12. September 2006, Rechtssache C-196/04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 aa) Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . 144 bb) Missbrauch als Legitimation der Beschränkung der Grundfreiheit 145 3. Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation – Urteil vom 13. März 2007, Rechtssache C-524/04 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

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Inhaltsverzeichnis 4. Kofoed – Urteil vom 5. Juli 2007, Rechtssache C-321/05 . . . . . . . . . . . . . 149 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 aa) Anwendungsbereich der Fusionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Missbrauchsklausel als Ausprägung des allgemeinen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 cc) Anwendung der Missbrauchsklausel auf nationaler Ebene . . . . . . 151 5. Part Service – Urteil vom 21. Februar 2008, Rechtssache C-425/06 . . . . . 153 6. Ampliscientifica u. a. – Urteil vom 22. Mai 2008, Rechtssache C-162/07 156 7. Weald Leasing – Urteil vom 22. Dezember 2010, Rechtssache C-103/09 157 8. Foggia – Urteil vom 10. November 2011, Rechtssache C-126/10 . . . . . . . 158 9. RBS Deutschland – Urteil vom 22. Dezember 2012, Rechtssache C-277/09 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Würdigung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Recht auf Vorsteuerabzug trotz Nichtbesteuerung der Folgeumsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 bb) Missbräuchliche Praxis durch Regulierungsarbitrage? . . . . . . . . . . 164 10. SICES u. a. – Urteil vom 13. März 2014, Rechtssache C-155/13 . . . . . . . . 165 IV. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Vom EuGH aufgestellte Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots 170 II. Unionsrechtlicher Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Formale Erfüllung der Voraussetzungen einer vorteilsgewährenden Unionsvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 IV. Das objektive Element als ausdifferenzierter teleologischer Prüfungsmaßstab 173 1. Normativer Anknüpfungspunkt des objektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Ermittlung des Normziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Niederlassungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Arbeitnehmerfreizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 d) Anerkennung von Berufsqualifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Verfehlung eines unionsrechtlichen Normziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Keine Verfehlung bei berechtigter Wahrnehmung unionsrechtlicher Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Zielverfehlung bereits bei Verstoß gegen eines der Ziele . . . . . . . . . . . 182 4. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 V. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Erfassung der wirtschaftlichen Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Inhalt des subjektiven Elements nach der Rechtsprechung des EuGH . . . . 184

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2. Rückschluss auf das subjektive Element anhand objektiver Tatsachen zur Objektivierung subjektiver Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Die Objektivierung der Künstlichkeitsmetapher und weitere Indizien zur Bestimmung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Künstliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 b) Wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Aufspaltung eines einheitlichen Rechtsgeschäfts . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 d) Keine vernünftigen wirtschaftlichen Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 e) Fremdvergleich/Marktpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 f) Unangemessene Gewinnaufteilung oder unangemessene Risikoverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 g) Verlustausgleich zwischen Konzerngesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 192 h) Enger zeitlicher Zusammenhang von Maßnahmen und Kenntnis bevorstehender nachteiliger Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 i) Transaktionen „nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte“ . . . . . . 193 j) Rechtliche, wirtschaftliche oder personelle Verflechtungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 k) Kollusives Zusammenwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 l) Mangelnde Kontinuität in der geschäftlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 195 m) Unterschiedlicher Sitz der Gesellschaften und Verlegung des Wohnsitzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Verhältnis beachtlicher sonstiger und rein regulatorischer Beweggründe

195

a) Ausschließlicher Beweggrund regulatorischer Vorteil . . . . . . . . . . . . . 196 b) Wesentlicher Beweggrund regulatorischer Vorteil als Maßstab zur Erfassung der wirtschaftlichen Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 VI. Die Notwendigkeit des subjektiven Elements des Missbrauchsverbots . . . . . . 198 1. Ansichten der Generalanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Kritik aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Die Bedeutung des subjektiven Elements für eine wirksame Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Unzulässige Beschränkung unionsrechtlicher Freiheiten durch einschränkende Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 b) Das durchgängige Erfordernis subjektiver Kriterien in der Judikatur des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 c) Positive Feststellung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 d) Notwendigkeit der Berücksichtigung subjektiver Kriterien bei mehraktigen Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 e) Keine Sanktion durch Berücksichtigung subjektiver Elemente . . . . . . 205 f) Positiver Einfluss des subjektiven Elements auf die Binnenmarktförderung und Verwirklichung der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

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Inhaltsverzeichnis g) Keine „Willkür in der Rechtsanwendung“ durch Berücksichtigung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 h) Berücksichtigung subjektiver Kriterien zur Missbrauchsfeststellung auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Das subjektive Element und die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 b) Die positive Auswirkung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 c) Legitimationswirkung der Gleichbehandlung als Beschränkungsposten der Rechtssicherheit bei Missbräuchen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . 214 5. Das subjektive Element als Fortschritt der Methodik der Missbrauchsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 VII. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Missbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . 217 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

§ 7 Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf nationaler Ebene

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I. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 II. Befugnis der Mitgliedstaaten zur Implementierung nationaler Missbrauchsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 III. Missbrauchsverbot als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 IV. Gefahr des Protektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 V. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch nationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 § 8 Die Rechtsnatur des Missbrauchsverbots als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Institutionelle Befugnisse des EuGH zur Implementierung allgemeiner Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 III. Allgemeiner Rechtsgrundsatz oder Mittel der Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Ansicht der Generalanwälte und der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Auslegungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Aussagen des EuGH zum Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Stimmen der Literatur zum Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Kritik aus dem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

Inhaltsverzeichnis

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b) Zustimmende Stimmen aus dem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Die Schwäche einer ,reinen‘ teleologischen Auslegung zur Missbrauchsverhinderung als Begründung für die Qualifizierung als allgemeinem Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 5. Keine ,teleologische Reduktion‘ des Unionsrechts durch nationale Gerichte als institutionelles Argument für die Einstufung als allgemeinem Rechtsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 IV. Folgerungen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . 245

Dritter Hauptteil Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext

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§ 9 Die Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Fusionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Missbrauchsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Konkretisierung des allgemeinen Missbrauchsverbots durch die Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Beweggründe der Gestaltung und Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Beweislast für das Vorliegen vernünftiger wirtschaftlicher Gründe . . . 253 II. Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Empfehlung der Kommission vom 6. Dezember 2012 betreffend aggressive Steuerplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Kontext der Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Allgemeine Missbrauchsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 V. Mutter-Tochter-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 1. Vorschlag der Kommission vom 25. November 2013 zur Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 2. Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie . . . . 260 VI. Nationale Maßnahmen zur Umsetzung von sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 VII. Verhältnis zwischen sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln und allgemeinem Missbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 VIII. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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§ 10 Die dynamische Präzisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht in der Judikatur des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 I. Die Konkretisierung des objektiven Elements des allgemeinen Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. Das objektive Element unter der Prämisse des Rechts des Steuerpflichtigen, seine Steuerschuld in Grenzen zu halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Steuerrecht mit Lenkungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 3. Wahlrechte und Lücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 a) Wahlfreiheit im Rahmen des anwendbaren territorialen Steuerrechts

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b) Freie Wahl der Organisationsstrukturen und Regulierungsarbitrage . . 271 c) Wahlfreiheit der Umsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4. Ermittlung des Normziels im Steuer- und Zollrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Mehrwertsteuersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Fusionsrichtlinie/Mutter-Tochter-Richtlinie/ Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Zollvergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 II. Die Konkretisierung des subjektiven Elements zur Erfassung der wirtschaftlichen Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Inhalt des subjektiven Elements im steuerrechtlichen Kontext und Maßstab der Beweggründe einer steuerlichen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 2. Bewertungsprärogative des Gestalters hinsichtlich der Wirkung außersteuerlicher Gründe und Verwendung von Informationen aus dem Internen für das Externe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 III. Nationale Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerumgehung . . . . . . . . . . . . 283 IV. Zwingende Gründe des Allgemeinwohls als Einschränkungsmöglichkeit der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1. Steuerliche Einbußen eines Mitgliedstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Steuerflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3. Verhinderung doppelter Verlustanrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4. Wohnsitz, Gesellschaftssitz und Ort der Wirtschaftstätigkeit als Anknüpfungspunkte der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 5. Ausgewogene Aufteilung der Besteuerung zwischen den Mitgliedstaaten 287 6. Steueraufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7. Keine Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens mehrerer Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 V. Rechtsfolgen der Steuerumgehung nach der Dogmatik des Missbrauchsverbots 289 1. Auswirkung auf die zivilrechtliche Wirksamkeit der Gestaltung . . . . . . . . 289 2. Auswirkung auf den unionsrechtlichen Steuervorteil . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

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§ 11 Die gebotene Auslegung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Hintergrund der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken 293 II. Ziel der allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch . . . . . . . . . 293 III. Der Inhalt der allgemeinen Missbrauchsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Das objektive Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 2. Die gebotene Auslegung des objektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 a) Vergleich mit der Formulierung der Mutter-Tochter-Richtlinie . . . . . . 298 b) Rückschlüsse auf den Inhalt des objektiven Elements aus der Entwicklung des Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Das subjektive Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 4. Die gebotene Auslegung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5. Folgerung: Gesetzliche Normierung des vom EuGH konkretisierten Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6. Folge der gebotenen Auslegung für eine kohärente Anwendung des allgemeinen Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 IV. Institutionelle Konflikte im Rahmen der Auslegung der allgemeinen Missbrauchsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 V. Ausblick: Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien in der teleologischen Missbrauchsprüfung von Steuergesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 1. Steuerrechtliche Lenkungsfunktionen und legitime Wahlmöglichkeiten 308 2. Telosermittlung bei Steuernormen mit ausschließlich fiskalischen Zielen 309 3. Rationalitätssteigerung in der objektiven Missbrauchsprüfung durch subjektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 a) Subjektiv gewolltes wirtschaftliches Ergebnis als Ausgangspunkt . . . . 310 b) Telosverstoß bei Divergenz von objektiver Form und subjektiv bezweckter Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Subjektive Prägung des objektiven Elements der Missbrauchsregelung 313 VI. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 § 12 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 I. Wirksames Mittel der Normbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 II. Inhalt des objektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 III. Aufwertung des subjektiven Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 IV. Die Sichtbarmachung des subjektiven Elements als Fortschritt für die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 V. Anwendung des Missbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 VI. Konkretisierung des allgemeinen primärrechtlichen Missbrauchsverbots im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 VII. Besondere Bedeutung des Subjektiven im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 VIII. Folge des Missbrauchsverbots im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

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Inhaltsverzeichnis IX. Die Bedeutung des Missbrauchsverbots und der Künstlichkeitsmetapher für die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken . . . . . . . . . . 322

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

Einleitung I. Bedeutung der Normbehauptung auf Unionsebene zur Sicherung der Wirksamkeit des Unionsrechts Das stets vorhanden gewesene Bestreben des Einzelnen, freiheits- oder vorteilsgewährende Rechte über den von der Rechtsordnung vorgesehenen Rahmen hinaus in Anspruch zu nehmen und nachteilhafte Rechtsfolgen entgegen gesetzlicher Konzeption zu umgehen, dringt durch die „konstruktive Aushöhlung juristischer Normbefehle“1 auch in das Unionsrecht vor. Durch immer neue Gestaltungsvarianten, die häufig auf identischen Mitteln wie der Täuschung über die wirtschaftliche Substanz einer Transaktion beruhen2, wird versucht, den abstrakt angeordneten Normbefehl zur Erreichung eines individuellen Vorteils zu umgehen. Aggressive Steuerplanung und Steuervermeidung durch multinationale Unternehmen führt in der Union zu Mindereinnahmen in Höhe von schätzungsweise 50 Mrd. bis 70 Mrd. EUR jährlich3. Dies kann durchaus als eine „Ökonomisierung der Rechtsumgehung“4 bezeichnet werden. In der unionsrechtlichen Steuerrechtsordnung darf es keine „rechtsdurchsetzungsfreien Räume“5 geben, in denen es Steuerpflichtigen gelingt, die Schnittstellen der Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten und der Unionsrechtsordnung zur Vermeidung der an sich zu erfüllenden Steuerpflicht auszunutzen. Die Verteidigung des Geltungsanspruchs einer Norm gegen individualinteressengeleitete Missbräuche hat Jhering bereits 1872 als stetige Aufgabe der Rechtsordnung beschrieben: „So lange noch das Recht auf den Angriff von Seiten des Unrechts gefasst sein muss – und dies wird dauern, so lange die Welt steht – wird der Kampf dem Recht nicht erspart bleiben.“6 Jhering beschreibt hier die Bewahrung der Rechtsordnung durch individuelle Rechtsverfolgung im Kontext der klageweisen Geltendmachung subjektiver Rechte. Eine vergleichbare Verteidigung der Rechtsordnung durch den Staat findet derzeit 1 Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (443); vgl. auch Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 408 f., 350. 2 Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (443 f.). 3 Vgl. Europäische Kommission, Factsheet zum Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Steuervermeidung v. 28. 1. 2016, Fn. 1. 4 Im Kontext des regulatory arbitrage Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (447). 5 Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (445 f.). 6 Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1. Aufl., S. 8.

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auch im Bereich des grenzüberschreitenden Steuerrechts statt. Für diesen Kampf stehen dem Recht verschiedene Mittel der Normbehauptung zur Verfügung. Ausgangspunkt ist stets die Auslegung. Der gesetzlich niedergeschriebene Normbefehl ist durch Auslegung zu ermitteln, um – wie Savigny formulierte –, „den in dem toten Buchstaben niedergelegten lebendigen Gedanken vor unserer Betrachtung wieder entstehen zu lassen“7. Die Auslegung kann jedoch dann zur Missbrauchsverhinderung an ihre Grenzen stoßen, wenn der Wortlaut einer Norm durch entsprechende Sachverhaltsgestaltung eindeutig eingehalten oder eine Konstellation nicht mehr von ihm erfasst ist. Hier befindet sich der Grenzbereich zwischen rechtmäßiger Tatbestandsplanung und rechtswidrigem Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten. Im Steuerrecht kommt erschwerend hinzu, dass ein ähnlicher oder derselbe wirtschaftliche Erfolg häufig auf verschiedenen zivilrechtlichen Wegen erreicht werden kann, die nicht allesamt vom Steuertatbestand umfasst werden, der den Regelfall zur Erreichung eines wirtschaftlichen Ziels vor Augen hat.8 Auf Unionsebene ist daher, wie auch bei jeder nationalen Rechtsordnung, eine wirksame Methode der Normbehauptung von grundlegender Bedeutung für ein funktionsfähiges Rechtssystem. Es soll untersucht werden, welche Vorgaben der Unionsgesetzgeber und die Rechtsprechung des EuGH für die wirksame Verhinderung von Missbräuchen des Unionsrechts machen. Generalanwalt Tesauro formulierte zur Bedeutung der Missbrauchsresistenz der Unionsrechtsordnung zutreffend: „[J]ede Rechtsordnung, die den Anspruch auf ein Mindestmaß an Vollständigkeit erhebt, [muss] Maßnahmen, die ich als Selbstschutzmaßnahmen bezeichnen mo¨ chte, enthalten, um zu verhindern, daß die in ihr begründeten Rechte mißbra¨ uchlich, exzessiv oder sachwidrig ausgeübt werden. Dieses Erfordernis ist dem Gemeinschaftsrecht keineswegs fremd, ist es doch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes mehrmals anerkannt worden.“9 Für die Europäische Union ist das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ein solcher Schutzmechanismus, der die Integrität des Rechtssystems wahren soll. In dieser Funktion ist es eines der meist diskutierten und bedeutendsten aktuellen Probleme des Unionsrechts10 und wird zu Recht als „Revolution“ innerhalb des Unions(steuer-)rechts beschrieben11. Diese zugrundeliegende Problematik der Normbehauptung ist keineswegs neu, sondern bereits 1872 durch Jhering anschaulich in ähnlichem Zusammenhang beschrieben worden: „Das Recht ist nicht bloßer Gedanke, sondern lebendige Kraft. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit 7

Savigny, System des heutigen römischen Rechts Band 3, S. 244. Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 409. 9 Schlussanträge Generalanwalt Tesauro v. 4. 2. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:41, Rn. 24 (Zitat); dem zustimmend auch Generalanwalt Maduro in verbundene Schlussanträge v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 73. 10 Maduro, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. VII. 11 De la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XVI. 8

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welcher sie das Recht abwägt, in der anderen das Schwert, mit dem sie es behauptet. Das Schwert ohne die Waage ist die nackte Gewalt, die Waage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts. Beide gehören zusammen, und ein vollkommener Rechtszustand herrscht nur da, wo die Kraft, mit welcher die Gerechtigkeit das Schwert führt, der Gerechtigkeit gleichkommt, mit der sie die Waage handhabt.“12 Das europäische Missbrauchsverbot dient als Mittel zur Bekämpfung von Missbräuchen und nimmt zur Behauptung des Unionsrechts Jherings Metapher entsprechend eine doppelte Aufgabe wahr, die der Waage und die des Schwertes: Zunächst dient es als Waage, um den ,lebendigen Gedanken‘ des Gesetzes im Grenzbereich zwischen legaler Tatbestandsplanung und rechtswidrigem Gestaltungsmissbrauch zu ermitteln. Es bestimmt die Abwägung, wann trotz der Erfüllung der formalen Voraussetzungen einer vorteilsgewährenden Norm die angeordnete Rechtsfolge wegen eines Missbrauchs nicht zu gewähren ist. Gleichzeitig dient es als Schwert, indem es durch die Anordnung der Rechtsfolge, den formal zustehenden Vorteil nicht zu gewähren, der staatlichen Rechtsdurchsetzung ein wirksames Mittel zur Verteidigung der Rechtsordnung gegen Missbräuche bereitstellt. Das Missbrauchsverbot hat die Funktion, den Geltungsanspruch einer missbrauchten Norm zu ermitteln und diesen durchzusetzen. Sofern der Geltungsanspruch einer Norm nicht durchgesetzt werden kann, ist die Gesetzesanordnung sinnlos13: „Ein Rechtssatz, welcher derselben nie theilhaftig geworden ist, oder der sie wieder verloren hat, hat auf diesen Namen keinen Anspruch, er ist eine lahme Feder, die in der Maschinerie des Rechts nicht mehr arbeitet, und die man herausnehmen kann, ohne dass sich das Mindeste ändert.“14 Durch Missbrauch wird gemeinhin versucht, „too clever by half“ durch Sachverhaltsgestaltungen das geltende Recht zu vermeiden15. Nicht nur unpräzise Gesetzesformulierungen bergen Missbrauchspotenzial, sondern auch sehr detaillierte Steuernormen können zu Gestaltungen führen, die über die Grenzen möglicher Interpretation hinaus das Recht missbrauchen16. Im grenzüberschreitenden Kontext wird der Missbrauch des Unionsrechts als Versuch des Unionsbürgers verstanden, Unterschiede zwischen den Rechtssystemen der einzelnen Mitgliedstaaten durch Berufung auf unionsrechtliche Freiheiten auszunutzen17. In diesem Sinne findet die Vermeidung von Steuern vermehrt nicht nur auf nationaler Ebene, sondern länder12

Jhering, Der Kampf um’s Recht, 11. Aufl., S. 1. Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (445 f.). 14 Jhering, Der Kampf um’s Recht, 1. Aufl., S. 52. 15 So bezeichnet von Sir Schiemann, ehem. Richter am EuGH in Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. vii. 16 Faull, ,Prohibition of Abuse of Law‘: A New General Principle of EU Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 291. 17 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 2 beschreibt den grenzüberschreitenden Missbrauch des Unionsrechts auch als ungleiches ,Katz-und-MausSpiel‘, bei dem der Staat als ,Katze‘ auf sein nationales Hoheitsgebiet begrenzt ist, währen die ,privaten Mäuse‘ überall in der EU herumrennen können. 13

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übergreifend statt, wie es exemplarisch die BEPS-Diskussion18, Cum/Ex-Transaktionen und Dividendenstripping19 und die Bedeutung des automatischen Informationsaustauschs im Bereich multinationaler Besteuerung20 gezeigt haben. Dies macht eine europaweit einheitliche Methodik zur Behandlung von Missbräuchen und Steuerumgehungen notwendig. Die Kommission hat das Problem der aggressiven Steuerplanung in ihrer Empfehlung eindrücklich umschrieben: „Aggressive Steuerplanung besteht darin, die Feinheiten eines Steuersystems oder Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehr Steuersystemen auszunutzen, um die Steuerschuld zu senken. Aggressive Steuerplanung kann in vielerlei Formen auftreten. Zu ihren Folgen gehören doppelte Abzu¨ ge (d. h. ein und derselbe Verlust wird sowohl im Quellenstaat als auch im Ansa¨ ssigkeitsstaat abgezogen) und doppelte Nichtbesteuerung (d. h. Einkünfte, die im Quellenstaat nicht besteuert werden, sind im Ansa¨ ssigkeitsstaat steuerbefreit). Trotz erheblicher Anstrengungen fa¨ llt es den Mitgliedstaaten schwer, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen vor der Erosion durch aggressive Steuerplanung zu schützen. Die diesbezüglichen nationalen Vorschriften sind oft nicht voll wirksam, was insbesondere auf die grenzu¨ bergreifende Dimension vieler Steuerplanungsstrukturen und die erhöhte Mobilität von Kapital und Personen zurückzuführen ist. Im Hinblick auf ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes muss allen Mitgliedstaaten nahegelegt werden, in Bezug auf aggressive Steuerplanung dasselbe 18

S. hierzu OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, Executive Summaries 2015 Final Reports und die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union – Fünf Aktionsschwerpunkte, v. 17. 6. 2014, COM(2015) 302 final. 19 Dazu BFH v. 16. 4. 2014 – I R 2/12, BFHE 246, 15 (auf das wirtschaftliche Eigentum abstellend) und aus der Literatur statt vieler Florstedt, FR 2016, 641; Anzinger, RdF 2012, 394; Schön, RdF 2015, 115; Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785 jeweils m.N.; s. auch FG Hessen v. 10. 2. 2016, Az. 4 K 1684/14, DStR 2016, 1084. 20 Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/ EWG. Da der momentane automatische Informationsaustausch nicht genügt, um multinationale aggressive Steuerplanung einzudämmen, hat die Kommission jüngst einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU veröffentlicht (COM/2016/025 final). Zu den Gründen und Zielen des Vorschlags führt die Kommission aus: „Die Unternehmen betrachten die Steuerplanung von jeher als eine legitime Praxis, um bestehende rechtliche Regelungen zur Reduzierung ihrer Steuerbelastung zu nutzen. In den letzten Jahren wurden jedoch im Rahmen der Steuerplanung über die Grenzen von Steuerhoheitsgebieten hinweg immer ausgefeiltere Strategien entwickelt, die darauf abzielen, zu versteuernde Gewinne in Staaten mit gu¨ nstigen Steuerregelungen zu verlagern.“ Zur Bekämpfung daraus resultierender Steuerumgehung und aggressiver Steuerplanung und um die Benachteiligung kleiner und mittelständiger Unternehmen zu reduzieren, sollen durch die Richtlinie den nationalen Steuerbehörden in Zukunft „umfassende und relevante Informationen über die Struktur und die Verrechnungspreispolitik multinationaler Unternehmensgruppen sowie über ihre internen Transaktionen mit nahestehenden Unternehmen“ zur Verfügung gestellt werden; s. zuletzt die in diesem Kontext ergangene Richtlinie zur Anzeigepflicht von Steuergestaltungen v. 25. 5. 2018 (EU) 2018/822.

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Grundkonzept zu verfolgen, was dazu beitragen wu¨ rde, die bestehenden Verzerrungen zu verringern.“21 Missbrauchsverbote müssen deshalb einerseits klar und präzise formuliert werden, um die Freiheit nicht übermäßig zu strapazieren, andererseits darf nicht nur auf den Wortlaut mit seiner beschränkten Missbrauchsresistenz abgestellt werden, da eine wirksame Missbrauchsverhinderung zugleich dem Schutz des demokratischen Charakters einer legislativen Rechtsordnung dient22. Eine frühe unionsrechtliche Definition des Missbrauchs findet sich bereits im Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften von 199423: „Mißbrauch der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften ist jede Handlung, die darauf abzielt, unrechtmäßig Vorteile zu erlangen, indem durch Scheingeschäfte oder Umgehungshandlungen eine Situation geschaffen wird, die zwar formell die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, jedoch eines echten wirtschaftlichen Beweggrundes entbehrt und den Zielen der betreffenden Gemeinschaftsregelung entgegensteht.“ Diese Definition beinhaltet bereits viele wesentliche Aspekte, die für eine wirksame Normbehauptung zu berücksichtigen sind. Sie entspricht jedoch nicht mehr dem aktuellen Erkenntnisstand, da sich das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im späteren Verlauf der Gesetzgebung und der Judikatur weiter konturierte und entwickelte. Die Widerstandsfähigkeit des Unionsrechts gegen Umgehungsstrategien soll nun im Bereich der Körperschaftsbesteuerung durch die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts vom 12. Juli 2016 auch durch die Einführung einer allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch gestärkt werden: Ein „wesentliches Ziel“ dieser Richtlinie ist es, „die Resilienz des Binnenmarkts insgesamt gegenüber grenzüberschreitenden Steuervermeidungspraktiken zu stärken, was nicht ausreichend erreicht werden kann, wenn die Mitgliedstaaten einzeln tätig werden.“24 Für ein richtiges Verständnis der Implikationen des europäischen Missbrauchsverbots ist auch zu untersuchen, wie sich das unionsrechtliche Missbrauchsverbot und die dazu ergangene Judikatur des Europäischen Gerichtshofs auf die Anwendung der nationalen Missbrauchsbekämpfung auswirken.

21 Erwägungsgründe 2 – 4 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final. 22 Maduro, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. VII. 23 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften v. 15. 6. 1994, (Kom (94) 214 final), Art. 3 Abs. 1. 24 Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts.

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II. Problemaufriss Entscheidend für die Wirksamkeit einer Rechtsordnung und ihrer Regelungen ist, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsfolge einer Norm trotz der formalen Erfüllung ihrer Tatbestandsmerkmale wegen missbräuchlichen Verhaltens nicht zur Anwendung gelangt. Diese Frage der Normbehauptung, verstanden als „die Erfüllung eines Geltungsanspruchs, der einem normativen Sollen immanent ist“25, beschäftigt Juristen seit jeher. Sie ist jedoch aufgrund der unerschöpflichen Kreativität bei rechtlich relevanten Sachverhaltsgestaltungen gerade im Kontext der Besteuerung stets aktuell, da Steuerfragen wegen der erheblichen finanziellen Auswirkungen im Wirtschaftsleben von besonderer Bedeutung sind und hier die Akteure stets nach gerade noch vom Wortlaut gedeckten steuerreduzierenden Gestaltungsvarianten suchen. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot kann durch die Verwehrung der Rechtsfolge als „Technik der Rechtsdurchsetzung“ angesehen werden26. Auf Unionsebene stellt sich dabei die schwierige Aufgabe, die missbräuchliche Umgehung nationalen Rechts abzugrenzen von der legitimen und vom Unionsrecht geförderten Freiheit, die einschlägige Rechtsordnung eines Mitgliedstaates oder der Union durch entsprechende länderübergreifende Sachverhaltsgestaltung frei wählen zu können27. Zu unterscheiden sind „Umgehung“ und „Missbrauch“ einerseits von der Täuschung über Tatsachen andererseits. Erschleichung und Umgehung sind darauf gerichtet, einen Sachverhalt tatsächlich so zu gestalten, dass Tatbestandsmerkmale formal erfüllt werden und dadurch günstige Rechtsfolgen eintreten oder ungünstige Rechtsfolgen vermieden werden. Dahingegen dient Täuschung dazu, den wahren Sachverhalt vor Dritten oder Behörden zu verbergen, bspw. durch Vorlage falscher Bescheinigungen oder Vortäuschung einer ehelichen Lebensgemeinschaft28. Während sich Rechtsmissbrauch (Abuse of law) mit der Frage der Anwendung einer Norm auf bestimmte Tatsachen beschäftigt, behandelt Betrug (Fraud) das Problem, ob diese Tatsachen überhaupt der Realität entsprechen und nicht lediglich ein falscher Eindruck der Realität erzeugt werden soll29. In diesen Fällen muss zunächst der tatsächliche Sachverhalt ermittelt werden, bevor dieser unter die entsprechende Norm subsumiert werden kann.

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Florstedt, ZBB 2013, 81 (82). Florstedt, ZBB 2013, 81 (82). 27 Maduro, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. VII. 28 Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1274 f., 1278); EuGH v. 27. 9. 1989 – Rs. 130/88 – van de Bijl, ECLI:EU:C:1989:349, Rn. 21; EuGH v. 5. 6. 1997 – Rs. C-285/95 – Suat Kol, ECLI:EU:C:1997:280, Rn. 17 f.; EuGH v. 7. 12. 2010 – Rs. C-285/09 – R., ECLI:EU:C:2010:742, Rn. 48. 29 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (560); vgl. auch Costello, Citizen of the Union: Above Abuse?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 321 (323); Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (431); Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 24. 26

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In Fällen eines möglichen Rechtsmissbrauchs sind in der Grauzone zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen diejenigen Fälle zu untersuchen, bei denen keine oder nur eine geringe oder atypische Wirtschaftsaktivität vorliegt, die möglicherweise nicht ausreicht, um ihr den Schutz durch das Gemeinschaftsrecht zuzubilligen30. Es bestehen verschiedene methodische Begründungsmodelle, um zu bestimmen, unter welchen Umständen die gezielte Herbeiführung der Tatbestandsmerkmale einer Norm ihre angeordnete Rechtsfolge auslöst und in welchen Konstellationen diese Rechtsfolge stattdessen verwehrt werden sollte. Diese verschiedenen Ansätze gehen allesamt nicht aus klaren gesetzlichen Vorgaben hervor, sondern sie beruhen auf unterschiedlichen dogmatischen Wertungen. Im Kontext des Missbrauchs steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten treten dieselben elementaren Probleme in allen Rechtsordnungen auf, sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Unionsebene, weshalb einerseits nationale Missbrauchskonzepte die Judikatur des EuGH beeinflussen31, aber andererseits auch Aussagen des EuGH Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung haben können, nicht zuletzt deswegen, weil die Vorgaben des Gerichtshofs von nationalen Gerichten anzuwenden sind32. Deshalb ist es für eine Untersuchung des unionsrechtlichen Missbrauchskonzepts zunächst sinnvoll, einen Überblick über die nationalen Methoden der Normbehauptung voranzustellen, um aus dieser Perspektive, die die Beurteilung des Missbrauchsverbots aus nationalem Sichtwinkel vorprägt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede für einen wirksamen unionsrechtlichen Lösungsansatz ableiten zu können. Das unionsrechtliche Missbrauchskonzept führt dabei auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht nur zu einer Angleichung der Behandlung von Missbräuchen des Unionsrechts, sondern wirkt sich auch auf die generelle Entwicklung der nationalen steuerrechtlichen Missbrauchskonzeptionen aus, auch außerhalb des direkten Einflussbereichs des Unionsrechts33. Auf die Missbrauchsjudikatur des EuGH haben bereits viele Mitgliedstaaten gesetzgeberisch reagiert und auch nationale Gerichte 30

Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (585). Obwohl der Gerichtshof in seiner Missbrauchsjudikatur nicht auf nationale dogmatische Methoden eingeht, bedeutet dies nicht, dass der Gerichtshof sich nicht mit nationalen Theorien befasst und sich deren Erkenntnisse nicht zunutze macht. Wie Riese, der erste deutsche Richter am EuGH, klarstellt, zieht der Gerichtshof bei seiner Rechtsfindung alle möglichen Quellen heran und setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander, obwohl dies in den Urteilen nicht explizit zum Ausdruck kommt. Der Gerichtshof führt, anders als einige Schlussanträge der Generalanwälte, in seinen Urteilen bewusst keine Nachweise aus der Literatur an, da es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, und Urteile nicht ganz oder überwiegend auf die Literatur aus einem Mitgliedstaat gestützt werden sollen, wenn Unterschiede in der Publikationsmenge zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehen, Riese, in: Festschrift Dölle, S. 507 (516). Diese Aussage hat auch heute noch dieselbe Gültigkeit, vgl. Stotz, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 22 Rn. 55. 32 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (370 f.); s. noch ausf. § 7. 33 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (366). 31

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haben begonnen, das unionsrechtliche Missbrauchskonzept auf nationaler Ebene anzuwenden34. Auf dieser Ebene der Mitgliedstaaten ist jedoch das Problem eines bestehenden Vorverständnisses hinsichtlich der Missbrauchsdogmatik zu verzeichnen, dessen Berücksichtigung zu einer uneinheitlichen Anwendung des Unionsrechts führen könnte. Eine Zersplitterung der Missbrauchsdogmatik innerhalb der Union würde das Harmonisierungsziel stark beeinträchtigen. Dagegen dient der von der allgemeinen Missbrauchsverhinderungsklausel der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken35 bezweckte hohe Harmonisierungsgrad auch der Erreichung des Postulats der „gleichmäßigen Besteuerung wirtschaftlich gleicher Sachverhalte“36, indem „ein einheitlicher Mindestschutz fu¨ r den Binnenmarkt festgelegt“ wird37. Es sollen zunächst die nationalen Methoden zur Erfassung und Bekämpfung von Missbräuchen untersucht und diese anschließend mit dem Lösungsweg des EuGH verglichen werden. Die nationale Vorprägung der auf Unionsebene verwendeten Begrifflichkeiten – wie „Missbrauch“, „Umgehung“ und „Rechtsmissbrauch“ – und das damit einhergehende methodische Vorverständnis können dabei eine unvoreingenommene dogmatische Analyse unionsrechtlicher Vorgaben erschweren. Auf Unionsebene stellt der „Rechtsmissbrauchsbegriff einen selbstständigen Begriff des Unionsrechts“ dar38. Die Kommission hat insbesondere die Bedeutung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für eine einheitliche Missbrauchsbekämpfung herausgehoben, aber auch vor unverhältnismäßigen Eingriffen gewarnt. Die Kommission stellte insoweit fest, „dass es insbesondere angesichts einiger Urteile des EuGH aus jüngster Zeit dringend erforderlich ist, das öffentliche Interesse an der Be34

So haben bereits Frankreich, Italien, Irland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich ihre Rechtsordnung den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechend angepasst, s. de la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XXIII und Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (377 ff.) jew. m.w.N. Bereits im Kontext der Neufassung des § 42 AO durch das JSTG 2008 sollte nach den Gesetzesmaterealien bei grenzüberschreitenden Gestaltungen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur künstlichen Konstruktion für die Bestimmung einer Steuerumgehung maßgeblich sein, vgl. BT-Drs. 16/7036, S. 24. 35 Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 36 Vgl. im Kontext des Richtlinienvorschlags über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB-RLV) Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (376). 37 Vgl. Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 38 Schlussanträge Generalanwalt Szpunar v. 20. 5. 2014 – Rs. C-202/13 – Sean Ambrose McCarthy, ECLI:EU:C:2014:345, Rn. 112; Vogenauer weist auf die auch auf Unionsebene uneinheitliche Missbrauchsterminologie hin, vgl. The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (524).

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kämpfung des Missbrauchs von Steuervorschriften mit der Notwendigkeit in Einklang zu bringen, unverhältnismäßige Beschränkungen grenzübergreifender Tätigkeiten innerhalb der EU zu vermeiden“39. Entgegen dem nationalen deutschen Vorverständnis einer ,rein objektiven‘ Missbrauchsdogmatik ist nach den Vorgaben der europäischen Gesetzgebung und der Rechtsprechung des EuGH eine Tendenz hin zur Berücksichtigung eines subjektiven Moments zu verzeichnen, das maßgeblich nach den mit Sachverhaltsgestaltungen verfolgten Intentionen fragt, sodass subjektive Kriterien als Anknüpfungspunkt zur Missbrauchsvermeidung herangezogen werden können40. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist eines der kontroversesten Konzepte des Unionsrechts, dessen Natur, Voraussetzungen und Tragweite stark umstritten sind41. Dies liegt nicht zuletzt am Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, das jedes Missbrauchskonzept in einem Kompromiss aufzulösen hat42. Daneben besteht auf Unionsebene zur Effizienzsteigerung im Binnenmarkt das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis nach ,regulatorischer Neutralität‘, um grenzüberschreitende Wettbewerbsverzerrungen zwischen privaten Unternehmen zu vermeiden, und dem erlaubten Wettbewerb zwischen den verschiedenen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten, nach dem ,Regulierungsarbitrage‘ durch Wahl des vorteilhaftesten Rechtssystems in gewissem Umfang zur Förderung des Wettbewerbs zwischen den nationalen Rechtssystemen sogar erwünscht ist43. Das Missbrauchsverbot hat auf Unionsebene seit Beginn seiner Implementierung in der steuerrechtlichen Diskussion besondere Bedeutung erlangt44. Deshalb sind neben den allgemeinen Auswirkungen des Missbrauchsverbots auf die Unionsrechtsordnung die Implikationen für steuerrechtliche Missbrauchskonzeptionen besonders relevant.

39 Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbeka¨ mpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer) v. 10. 12. 2007, KOM(2007) 785 endgültig, S. 2. 40 Florstedt, FR 2016, 1 (5 ff.). 41 Vgl. nur die unterschiedlichen Auffassungen im Sammelwerk de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law. 42 Rechtssicherheit kann dabei verstanden werden als „legal certainty“ und Rechtsgleichheit als „legal congruence“; vgl. auch Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 3. 43 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 3. 44 De la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XV; dies., Common Market Law Review 45 (2008), 395 (418 ff.); Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of Case-Law and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107.

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III. Grundannahme In Europa bestehen aufgrund des Ineinandergreifens der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und des Unionsrechts besondere Herausforderungen, die eine wirksame Normbehauptung im Verhältnis zu einem homogenen Rechtssystem erschweren. In diesem heterogenen System bedarf es in der Unionsrechtsordnung einer (1) autonomen, (2) einheitlichen, (3) vom EuGH entwickelten Missbrauchsmethode, um (4) das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Anwendungsgleichheit aufzulösen und die Wirksamkeit des Unionsrechts durch ein (5) rationales und anpassungsfähiges Mittel der Normbehauptung sicherstellen zu können. Entgegen dem nationalen deutschen Vorverständnis einer ,rein objektiven‘ Missbrauchsdogmatik ist nach den Vorgaben der europäischen Gesetzgebung und der Rechtsprechung des EuGH eine besondere Bedeutung eines subjektiven Moments zu verzeichnen, das maßgeblich nach den mit Sachverhaltsgestaltungen verfolgten Intentionen fragt. Subjektive Kriterien werden als notwendiger Anknüpfungspunkt zur Missbrauchsfeststellung herangezogen45 und dienen einer rationaleren Missbrauchsmethodik. 1. Autonome Missbrauchsmethode unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien Um eine wirksame Normbehauptung des Unionsrechts sicherzustellen, darf zur Missbrauchsverhinderung institutionell nicht auf eine ,reine‘ teleologische Auslegung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte mit ihren unterschiedlichen Methodenverständnissen vertraut werden, sondern es bedarf eines unionsrechtlich autonomen, vom EuGH entwickelten Missbrauchsverbots, um durch eine europaweit einheitliche Missbrauchsdogmatik die Regelungskraft des Unionsrechts gewährleisten zu können. Hierfür hat auf Unionsebene – gegenüber der deutschen objektiven Missbrauchsdogmatik – eine Aufwertung subjektiver Kriterien stattgefunden, die im Gesamtkonzept des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nicht nur zu einer dem Gleichbehandlungsgrundsatz besser entsprechenden und somit gerechteren Besteuerung führt, sondern im Ergebnis auch zu einer objektiveren und rationaleren Missbrauchsbehandlung. Nach unionsrechtlichen Vorgaben kann insbesondere bei komplexen Gestaltungen eine Abwägung von sozioökonomischen Gründen (also sowohl good business reasons als auch unionsrechtlich geschützten ideellen Motiven) mit rein steuerlichen Beweggründen zu einer wirksameren Normbehauptung führen. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot führt dabei nicht nur zu einer unionsweiten Vereinheitlichung der Missbrauchsbehandlung, sondern kann auch als Werkzeug zum Schutz der Integrität nationaler Steuersysteme dienen46. Für ein 45 46

Vgl. Florstedt, FR 2016, 1 (5 ff.). Vanistendael, EC Tax Review 15 (2006), 192 (195).

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umfassendes Verständnis des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots und die für Normbehauptung notwendige Wirksamkeit des Rechts steht eine umfassende Untersuchung zu subjektiven Kriterien des Missbrauchsverbots bislang aus, da bisher weder Einigkeit über das Erfordernis eines subjektiven Elements noch über dessen mögliche Ausgestaltung herrscht47. Die subjektive Komponente des Missbrauchsverbots könnte insbesondere im steuerrechtlichen Kontext der Funktion dienen, die rechtliche Form einer Gestaltung mit der tatsächlich gewollten ökonomischen Substanz zu vergleichen. 2. Einheitliche Missbrauchsmethode Auf Unionsebene kann eine Missbrauchsbekämpfung durch Nichtgewährung des vorgesehenen Vorteils trotz Erfüllung der formalen Voraussetzungen nicht durch reine teleologische Reduktion des Unionsrechts durch nationale Gerichte stattfinden, da diese nicht befugt sind, Europarecht entgegen dem klaren Wortlaut auszulegen. Dies würde die volle Wirksamkeit des Unionsrechts in unzulässiger Weise beschränken und zu einer Zersplitterung des Geltungsanspruchs des Unionsrechts führen, wenn aus den unterschiedlichen dogmatischen Modellen zur Begründung einer Umgehung oder eines Missbrauchs in den verschiedenen Mitgliedstaaten – mit weiterer Heterogenität in verschiedenen Rechtsgebieten – eine uneinheitliche Anwendung des Unionsrechts resultiert. Eine solche Zersplitterung der Missbrauchsdogmatik würde dem in Art. 3 EUV verankerten Harmonisierungsziel widersprechen und dabei im Steuerrecht eine substanzorientierte, gleiche rechtliche Abbildung vergleichbarer wirtschaftlicher Sachverhalte erschweren. Stattdessen muss eine unionsrechtlich autonome, vom EuGH entwickelte Missbrauchsmethodik die Missbrauchsverhinderung aufgrund klarer Vorgaben bestimmen. 3. Entwicklung der Methodik durch den EuGH Nach Art. 19 EUV hat der EuGH im Rahmen seiner Kompetenz zur Wahrung des Rechts auch die institutionelle Aufgabe, die Auslegung und Anwendung des Uni47 Kritisch insoweit Lang, SWI 2006, 273 ff.; ders., in: Festschrift Spindler, S. 297 (313); ders., Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (449); Koutrakos, The EmslandStärke Abuse of Law Test in the Law of Agriculture and Free Movements of Goods, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 203 (209); Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23); Ziegler, „Abuse of Law“ in the Context of Free Movement of Workers, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 295 (307 f.); Spaventa, Comments on Abuse of Law and the Free Movement of Workers, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 315 (317); Lyal, Cadbury Schweppes and Abuse: Comments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 427 (430 ff.); Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137 (142); vgl. auch von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 98, 308.

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onsrechts bei Missbrauchskonstellationen zu sichern. Dazu ist er zum Wohle der Rechtssicherheit und Anwendungsgleichheit berufen, für eine Rationalität in der Entscheidungsfindung eine Missbrauchsdogmatik mit klaren Kriterien zu schaffen und fortzuentwickeln. Während spezielle Missbrauchsklauseln allein aufgrund legislativer Reaktionszeiten nicht dazu im Stande sind, die umfassende Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, kann ein dynamisches, vom EuGH entwickeltes Rechtsinstitut den in der Zukunft neu erscheinenden Missbrauchsvarianten wirksam begegnen. Insbesondere hat die Anknüpfung an subjektive Kriterien auch das Potenzial einer anpassungsfähigen Missbrauchsmethodik, da Gestaltungsvarianten zwar verändert werden, die dabei vom Gestalter verfolgten Intentionen jedoch unter Berücksichtigung des Normtelos stets Aufschluss über Substanz und Schutzwürdigkeit durch das Unionsrecht liefern. Sofern subjektive Kriterien dabei objektiv bestimmt werden, kann dies insgesamt zu einer vorhersehbaren und rechtssicheren Missbrauchsverhinderung beitragen. Aus diesen unionsrechtlichen Vorgaben für die nationale Anwendung folgt eine unionsweit verbindliche Methodik, die losgelöst von den einzelnen Institutionen der verschiedenen Mitgliedstaaten zu einer vereinheitlichten Missbrauchsdogmatik führt. 4. Spannungsverhältnis von Planungs- bzw. Rechtssicherheit und Gleichheit Wenn potenziell missbräuchliche Gestaltungen den Wortlaut der vorteilsgewährenden Unionsrechtsregelung einhalten, muss das unionsrechtliche Missbrauchsregime im Steuerrecht das Spannungsverhältnis der Grundsätze der gleichen Besteuerung einerseits, der zur Erfüllung des Demokratieprinzips auch einem unvollkommen normierten Gesetzgeberwillen zur Anwendung verhelfen soll, und den freiheitsschützenden Grundsätzen der Rechtssicherheit und Gewaltenteilung andererseits auflösen, die Eingriffe in die Sphäre des Steuerpflichtigen nur bei hinreichender demokratischer Legitimation rechtfertigen48. 5. Rationale und anpassungsfähige Missbrauchsmethode Die Untersuchung soll prüfen, ob die Vorgaben der Judikatur des EuGH zum Missbrauchsverbot in sich widerspruchsfrei, stets weiterentwickelt, konturiert und im Ergebnis zu begrüßen sind. Anders ist dies bisweilen bei den Missbrauchsklauseln im steuerrechtsrelevanten Sekundärrecht. Diese sind bisher nicht einheitlich for-

48 Vgl. Englisch, StuW 2015, 302 („kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt“) und noch ausf. § 6 VI. 4.

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muliert und es wurden nicht alle Erkenntnisse der Missbrauchsjudikatur des EuGH berücksichtigt49. 6. Europäische Missbrauchsdogmatik als Grundlage einer unionsrechtlichen Generalklausel in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken Eine unionsrechtlich autonome Missbrauchsdogmatik dient als Grundlage der Generalklausel in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts50. Durch die allgemeine Missbrauchsvorschrift sollen „etwaige Lücken in den besonderen Vorschriften eines Landes zur Verhinderung von Missbrauch im Bereich der Steuervermeidung“ geschlossen werden51. Sie „dient als Sicherheitsnetz“ und soll es „den Steuerbehörden ermöglichen, rein künstliche Gestaltungen zu ignorieren und Steuern auf der Grundlage der realen wirtschaftlichen Vorgänge zu erheben.“52 „In der Union sollten die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch auf Gestaltungen angewendet werden, die ausschließlich oder hauptsächlich dazu dienen, einen Steuervorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck der ansonsten geltenden Steuerbestimmungen zuwiderläuft, ohne allerdings dem Steuerpflichtigen das Recht zu nehmen, die steuereffizienteste Struktur für seine geschäftlichen Angelegenheiten zu wählen.“53 Dabei soll eine solche allgemeine Vorschrift explizit „zur Verhinderung von Missbrauch die Kriterien des EuGH fu¨ r eine künstliche Gestaltung widerspiegeln“54. Eine Verhinderung von Steuerumgehungen im Unionsrecht orientiert sich daher maßgeblich an der Judikatur des EuGH zum Missbrauchsverbot. Die Missbrauchsverhinderung durch die Generalklausel der Richtlinie unterliegt somit der im Unionsrecht entwickelten Methodik, einschließlich bestimmter Abwägungskriterien und missbrauchsindizierender Merkmale. Diese 49 S. ausführlich zur Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens für eine allgemeine Missbrauchsklausel einer Gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage, Florstedt, FR 2016, 1 (5 ff.). 50 Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 51 Vorschlag der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, S. 10. 52 Europäische Kommission, Factsheet zum Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Steuervermeidung v. 28. 1. 2016, Ziff. 10 f. 53 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juni 2016 zu dem Vorschlag fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Praktiken zur Steuervermeidung mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts (COM(2016)0026 – C8 – 0031/2016 – 2016/0011(CNS)), Abänderung 96. 54 Vorschlag der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, S. 10.

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unionsrechtliche Missbrauchsvermeidungsdogmatik soll nicht nur auf europäischer Ebene, sondern mittelbar auch auf nationaler Ebene Anwendung finden, um eine homogene Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken sicherzustellen: „Zudem ist zu gewährleisten, dass die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch im Inland, innerhalb der Union und gegenüber Drittländern einheitlich angewendet werden, damit sich ihr Anwendungsbereich und die Ergebnisse ihrer Anwendung in inländischen und grenzüberschreitenden Situationen nicht unterscheiden.“55 Das richtige Verständnis der unionsrechtlichen Methodik zur Missbrauchsverhinderung ist deshalb elementar für eine unionsweit einheitliche, substanzorientierte Unternehmensbesteuerung.

IV. Die institutionellen Bedingungen einer wirksamen und vorhersehbaren Methode der Missbrauchsverhinderung Die Missbrauchsverhinderung zur Verteidigung des Geltungsanspruchs der Unionsrechtsordnung kann nicht schrankenlos die Freiheitsrechte des Betroffenen beeinträchtigen, sondern diese Einschränkung kann nur im Rahmen der demokratischen Legitimierung und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) erfolgen. Im steuerrechtlichen Kontext muss die Missbrauchsmethodik zum Ziel haben, im Wege einer substanzorientierten Betrachtungsweise vergleichbare wirtschaftliche Sachverhalte trotz divergierender zivilrechtlicher Form rechtlich gleich zu erfassen und zu besteuern56. Eine Missbrauchsverhinderung, die dann eine Besteuerung als Rechtsfolge auslöst, muss wie jeder staatliche Eingriff vorhersehbar sein, damit die von der Rechtsordnung garantierte Ausübung der persönlichen Freiheit gewährleistet wird57. 1. Die Bedeutung einer rationalen Missbrauchsdogmatik für das Spannungsverhältnis von Rechtssicherheit und Gleichheit in der Rechtsanwendung Nach dem Gebot der Rechtssicherheit müssen Rechtsakte für den Betroffenen vorhersehbar sein58. In Ausprägung der Rechtsklarheit verlangt die Rechtssicherheit,

55

Vorschlag der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, Erwägungsgrund 9. 56 Vgl. zu dieser Funktion einer unionsrechtlichen, wirtschaftlichen Betrachtungsweise Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (379, 384). 57 Hey, StuW 2015, 3 (12). 58 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 72; EuGH v. 22. 11. 2001 – Rs. C-301/97, Niederlande / Rat der Europäischen Union, ECLI:EU:C:2001:621, Rn. 43; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-201/08 – Plantanol,

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dass dem Steuerpflichtigen ermöglicht wird, die „auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Denn die Einzelnen müssen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können“59. Im Steuerrecht muss dazu die Reichweite von Steuertatbeständen vorhersehbar sein, damit der Steuerpflichtige innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung durch entsprechende Sachverhaltsgestaltungen nachteilhafte Steuervorschriften vermeiden oder steuerreduzierende Vorschriften zu seinen Gunsten ausnutzen kann60. Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes werden die Freiheit des Steuerpflichtigen und der Dispositions- und Bestandsschutz gewahrt, indem Voraussetzung und Folgen der Besteuerung hinreichend bestimmt sein müssen (Steuerplanungssicherheit) und der Steuerpflichtige sein Verhalten an den zu erwartenden Rechtsfolgen ausrichten kann61. Diese Steuerplanung erwägt die aus der zu erwartenden Besteuerung folgenden Handlungsalternativen und ihren Einfluss auf die wirtschaftliche Planung der Unternehmensführung62. Erst aus der Steuerplanung erfolgt eine Sachverhaltsgestaltung63. Steuergestaltungen können, ohne notwendigerweise das wirtschaftliche Ergebnis zu verändern, die Höhe der zu entrichtenden Steuer durch die Wahl entsprechender zivilrechtlicher Gestaltung beeinflussen64. Die Grenzen legitimer Steuerplanung ergeben sich auf Unionsebene aus dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot und seiner Konkretisierung durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln. Eine dem Gebot der Rechtssicherheit entsprechende Missbrauchsdogmatik muss die Grenzen legitimer Steuergestaltung derart klar aufzeigen, dass der Steuerpflichtige seine wirtschaftliche Aktivität unter Berücksichtigung der verschiedenen Handlungsalternativen mit gebührender Sicherheit planen kann, um die Freiheit des Steuerpflichtigen und den Dispositionsund Bestandsschutz auf Unionsebene gewährleisten zu können. Den „archimedischen Punkt“ einer einheitlichen Besteuerung vergleichbarer wirtschaftlicher Sachverhalte macht der in Art. 18 AEUV und Art. 20 GRC normierte Gleichheitssatz aus65. Eine Rechtszersplitterung durch unterschiedliche ECLI:EU:C:2009:539, Rn. 46; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-144/14 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiaga˘ Andrei, ECLI:EU:C:2015:452, Rn. 34. 59 EuGH v. 10. 3. 2009 – Rs. C-345/06 – Heinrich, ECLI:EU:C:2009:140, Rn. 43; s. dazu Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, S. 280 f. 60 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (376). 61 Vgl. Osterloh, StuW 2015, 201 (204); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 10. 62 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 10; s. auch Rödder, Gestaltungssuche im Ertragsteuerrecht, S. 4. 63 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 10. 64 Rödder, Gestaltungssuche im Ertragsteuerrecht, S. 4 ff., 62 ff.; Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 11. 65 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (376); s. auch Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, S. 214 ff.; Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, S. 18.

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Missbrauchsbehandlung und dadurch eine verschiedene Anwendung des Unionsrechts muss auch im Hinblick auf die integrationspolitische Grundnorm in Art. 3 EUV vermieden werden, da diese „alle vertragsprägenden Freiheiten und Prinzipien überlagert“66 und sich dadurch auf die Telosermittlung von Unionszielbestimmungen auswirkt. Im Steuerrecht dient der Gleichheitssatz auch dem Minderheitenschutz und der Setzung von Grenzen für die Legislative67. Eine unionsrechtliche Missbrauchsdogmatik muss dementsprechend dazu in der Lage sein, die einheitliche Besteuerung wirtschaftlich gleicher Sachverhalte trotz unterschiedlicher gewählter Form unionsweit kohärent sicherzustellen. Es zeigt sich hier der Konflikt zwischen dem Gebot der Rechtssicherheit, nach dem die Bedingungen und der Umfang der Besteuerung im Voraus klar vorhersehbar sein müssen, und dem Gebot der einheitlichen Besteuerung von Sachverhalten, die trotz divergierender zivilrechtlicher Form eine vergleichbare wirtschaftliche Substanz haben. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot muss diesen elementaren Konflikt unterschiedlicher rechtsstaatlicher Grundsätze zur Behauptung der Unionsrechtsordnung auflösen. Um die gebotene Rechtssicherheit zu erreichen, muss eine unionsrechtliche Missbrauchsdogmatik systematisch, bestimmt, vorhersehbar ausgestaltet sein und Rechtsklarheit und Regelsicherheit über Voraussetzungen, Anwendungsbereich und Rechtsfolge erreichen68. Gleichzeitig muss sie durch substanzorientierte Analyse den wahren wirtschaftlichen Gehalt des Sachverhalts erfassen können, um wirtschaftlich gleiche Sachverhalte einer gleichen Besteuerung zuzuführen. Eine rein formale Rechtsanwendung, die dem Gebot der Rechtssicherheit wohl am besten entsprechen würde, ist für eine substanzorientierte Rechtsanwendung jedoch ausgeschlossen. Eine Lösung dieses Konflikts lässt sich nur erreichen, wenn der Inhalt des Missbrauchsverbots derart konturiert entwickelt wird, dass eine rationale Methodik im Voraus Klarheit über die zu erwartende Rechtsfolge bietet und für eine unionsweit kohärente Rechtsanwendung subjektive Wertentscheidungen durch den Rechtsanwender weitestmöglich vermieden werden. Es könnte stattdessen auf objektive und objektivierte subjektive Kriterien abgestellt werden. 2. Die demokratische Legitimierung einer institutionellen Anwendung der Missbrauchsdogmatik durch Gerichte Neben den Grundsätzen der Gleichheit und Rechtssicherheit haben die Steuerverwaltung und -gerichtsbarkeit bei der Anwendung des Steuerrechts auch die Gewaltenteilung und demokratische Legitimierung des freiheitsbeeinträchtigenden Eingriffs zu gewährleisten, wenn im Wege der Missbrauchsmethodik eine Steuer66

Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (376). Ohlendorf, Grundrechte als Maßstab des Steuerrechts in der Europäischen Union, S. 24 f. 68 S. zu den Gründen fehlender Steuerplanungssicherheit ausführlich Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 63 ff. 67

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norm über den formalen Wortlaut hinaus angewendet werden soll69. Eine sichere Steuerplanung trägt auch der Gewaltenteilung Rechnung, da jeder steuerrechtliche Eingriff in die persönliche Freiheit legitimiert, vorhersehbar und von der Judikatur anhand objektiver Maßstäbe kontrollierbar sein muss70. Ein maßgeblich von der Judikatur des Gerichtshofs geprägtes, allgemeines unionsrechtliches Missbrauchsverbot bedarf daher bei fehlender gesetzlicher Verankerung anderweitiger gesetzlicher Legitimierung zur entsprechenden Rechtsfortbildung. Im Steuerrecht ist dazu insbesondere die durch die Gesetzesbindung vorgeschriebene Vorhersehbarkeit der Besteuerung zu gewährleisten71. Eine Ungleichbehandlung trotz wesentlicher rechtlicher Gleichheit lässt sich auf Unionsebene nur im Rahmen der in Art. 5 EUV garantierten Verhältnismäßigkeit rechtfertigen72.

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Vgl. Englisch, StuW 2015, 302. Vgl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 15; dies., StuW 2015, 3 (12). 71 Vgl. Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 185. 72 Huerkamp, Gleichbehandlung und Transparenz als gemeinschaftsrechtliche Prinzipien der staatlichen Auftragsvergabe, S. 37. 70

Erster Hauptteil

Die Notwendigkeit einer autonomen unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien Eine eigenständige, autonome unionsrechtliche Missbrauchsmethodik ist nicht die einzig denkbare Möglichkeit, da die Unionsrechtsordnung theoretisch auch auf die tradierten Schutzmechanismen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten vertrauen könnte. Für eine einheitliche Missbrauchsverhinderung und gleichzeitig kongruente Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ist das Abstellen auf nationale Missbrauchsmethodik oder Umgehungslehren jedoch nur möglich, wenn die nationalen Schutzmechanismen ihrerseits rational und wirksam missbräuchliche Gestaltungen von rechtmäßigen Tatbestandsplanungen differenzieren können und einander derart ähnlich sind, dass es zu keiner Zersplitterung der Anwendung des Unionsrechts durch heterogene Missbrauchsverhinderung auf Ebene der Mitgliedstaaten kommt. Dies setzt zunächst eine Analyse unterschiedlicher nationaler Methoden der Missbrauchsverhinderung voraus.

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung zur Missbrauchsverhinderung im deutschen Recht I. Deutsches Grundverständnis einer rein teleologischen Missbrauchsverhinderung In der deutschen Wissenschaft wird das Problem der Normbehauptung überwiegend aus der Perspektive der umgangenen Norm unter dem Begriff der Gesetzesumgehung untersucht, verstanden als die Vermeidung des Tatbestandes und somit auch der Rechtsfolge einer belastenden Norm bzw. als „Verstoß gegen den Sinn einer Norm, ohne dass der Wortlaut verletzt wird“1. Hierbei ist der erreichte Erfolg dem Sinn des normierten Erfolges zumindest ähnlich2. Daneben existiert der Rechts1

Teichmann, JZ 2003, 761 (762). Hellwig, AcP 64 (1881), 369 (374 f.); Kohler, JherJb 16 (1878), 91 (141 ff.) (unter Betonung der Inkongruenz der wirtschaftlichen und rechtlichen Seite eines Geschäfts auf den wirtschaftlichen Erfolg abstellend); Tamussino, Die Umgehung von Gesetzes- und Vertrags2

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung

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missbrauch, also die illegitime Herbeiführung einer günstigen Rechtsfolge durch formale Erfüllung der Tatbestandsmerkmale einer vorteilhaften Norm (teilweise auch bezeichnet als „Tatbestandserschleichung“3). Beide Erscheinungsformen – Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch – müssen sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Vielmehr wird ein Rechtsmissbrauch in einer Vielzahl der Fälle auch eine Gesetzesumgehung darstellen, wenn durch die ,Erschleichung‘ einer vorteilhaften Norm gleichzeitig ein belastendes Gesetz umgangen wird. Da auf nationaler Ebene sowohl die umgangene als auch die missbrauchte Norm demselben Rechtskreis angehören, ist die Perspektive der Bewertung wenig problematisch. Etwas anderes gilt jedoch auf Unionsebene, wenn nationale Normen durch Missbrauch von Unionsrecht umgangen werden. Hier gehören umgangene und missbrauchte Norm nicht demselben Rechtskreis an, weshalb der EuGH lediglich überprüft, ob bei der ,Umgehung‘ nationalen Rechts gegen Unionsrecht verstoßen wird. Es geht also zunächst um die Normbehauptung europäischen Rechts im Zusammenhang mit der Umgehung nationalen oder europäischen Rechts. Die verschiedenen Missbrauchstheorien zielen darauf ab, bei der Feststellung einer Gesetzesumgehung die Rechtsfolge der formal nicht erfüllten, umgangenen Norm im Ergebnis gleichwohl anzuordnen, bzw. bei der Feststellung eines Rechtsmissbrauchs die formal zustehende, missbräuchliche Begünstigung nicht zu gewähren. Eine solche, dem formalrechtlich vorgesehenen Normbefehl widersprechende Rechtsanwendung bedarf in einer auf Rechtssicherheit beruhenden Gesellschaftsordnung einer besonderen und sorgfältigen Begründung. Während die objektiven Theorien dieses Ergebnis allein aus Sinn und Zweck der jeweiligen umgangenen bzw. missbrauchten Normen ableiten wollen und bei Verstößen gegen den Normzweck die formal abstrakt vorgesehene Rechtsfolge auf einen konkreten Sachverhalt nicht anwenden wollen, berücksichtigen subjektive Theorien neben dem Telos auch die subjektiven Beweggründe der Beteiligten für die jeweilige Gestaltung, um aus objektiven und subjektiven Momenten zusammen ein dem formaljuristisch erfüllten Gesetzestext widersprechendes Ergebnis begründen zu können. Die in den verschiedenen Rechtskreisen vorhandenen Theorieansätze sind entscheidend von den jeweiligen Auslegungsdoktrinen gekennzeichnet4. Unterschiedlich bewertet wird insbesondere, ob es sich bei der Gesetzesumgehung um ein eigenständiges Rechtsinstitut handelt oder ob die Gesetzesumgehung lediglich durch Auslegung oder Analogie zu lösen ist5. Diese Diskussion spielt (im steuerrechtlichen Kontext) auch bei der Abgrenzung von Innen- und Außentheorie und der sich daraus normen, S. 61, 69 ff.; Lurje, Archiv für bürgerliches Recht 41 (1915), 372 (379 f.); von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 32 m.w.N. 3 Vgl. Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, S. 137. 4 Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 8. 5 Vgl. Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 22; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 3.

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Erster Hauptteil

ergebenden Bedeutung von Missbrauchsklauseln wie § 42 AO eine Rolle. Im Folgenden sollen die im deutschen Rechtskreis vorherrschenden Umgehungs- und Missbrauchslehren dargestellt und miteinander verglichen werden6. Der EuGH hat sich in seinen bisherigen Entscheidungen zwar nicht ausdrücklich zu dem national geführten Theorienstreit über subjektive oder objektive Umgehungslehre geäußert. Dieser nationale ,Methodenvorrat‘ dient jedoch dem Vergleich mit der unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik und liefert wichtige Erkenntnisse über die Tragweite, Chancen und Risiken der jeweiligen Missbrauchsmethoden und ihre Auswirkung auf Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit7.

II. Erscheinungsformen der Gesetzesumgehung und des Missbrauchs Im Folgenden sollen zunächst verschiedene potenziell missbräuchliche Gestaltungsvarianten dargestellt werden, die typischerweise von den Methoden der Normbehauptung erfasst und bewertet werden müssen8. 1. Aufspaltung eines einheitlichen Rechtsgeschäfts Die Parteien können versuchen, ein einheitliches Rechtsgeschäft aufzuspalten, um dadurch entweder Schwellenwerte zu umgehen9 oder ein in seiner Gesamtheit der Mehrwertsteuer unterfallendes Leasing- und Finanzierungsgeschäft in separate Leasing-, Finanzierungs- und Versicherungsvermittlungsverträge aufzuspalten, um dadurch einen Teil des Rechtsgeschäfts nicht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen10. 2. Gesamtplangestaltungen und gegenläufige Gestaltungen (U-Turn) Bei Gesamtplangestaltungen entfernt sich der Steuerpflichtige zunächst von seinem wirtschaftlichen Endziel durch ein Ausweichgeschäft, macht jedoch durch weitere Schritte die vom Gesamtplan abweichende Wirkung durch Korrekturge6

Nicht thematisiert werden die historischen, insbes. römischen Vorgaben. S. dazu z. B. Paulus Dig. 1.3.29 (Contra legem facit, qui id facit quod lex prohibet, in fraudem vero, qui salvis verbis legis sententiam eius circumvenit.) und Ulpianus Dig. 1.3.30 (Fraus enim legi fit, ubi quod fieri noluit, fieri autem non vetuit, id fit: et quod distat hryton apo dianoias, hoc distat fraus ab eo, quod contra legem fit.). 7 S. oben, Einleitung Fn. 31. 8 Vgl. zu den Erscheinungsformen auch Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 4 und umfassend S. 46 ff. 9 Florstedt, ZBB 2013, 81 (82 ff.). 10 Vgl. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108.

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung

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schäfte wieder rückgängig11. Diese einzelnen Schritte einer Gestaltung werden zu Recht im Ergebnis nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit bewertet. Bekannte Fälle sind Schenkung und anschließende Rückgewähr der geschenkten Mittel als Darlehen12, Kettenschenkungen13, die Umwandlung von steuerpflichtigen Beteiligungserlösen in steuerfreie Veräußerungsgewinne (Anteilsrotation)14 und die Ausschüttung von Gewinnen und Wiederzuführung als Kapital an Gesellschaften (Schütt-aus-hol-zurück-Verfahren)15. In derartigen Fällen hat der BFH mitunter einen unzulässigen Gestaltungsmissbrauch angenommen, weil ein „bloßes Hin und Her“, ein „vorprogrammiertes Rückholverfahren“ vorlag16. Bei gegenläufigen Gestaltungen können sich mehrere konträr verlaufende Rechtsgeschäfte als Teil einer Gesamtkonstruktion teilweise oder insgesamt gegenseitig aufheben, um somit durch die Einzelgeschäfte Vorteile zu erhalten, die nach der Gesamtbetrachtung des Geschehens nicht zu gewähren sind17. Ein Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht ist die verdeckte Sacheinlage18. Ähnlich gelagert sind Fälle, in denen ein Inländer im Ausland versucht, berufliche Qualifikationen für die anschließende Rückkehr und Tätigkeit im Inland zu erwerben oder ein Ausländer sich ins Inland begibt, um dort Rechtspositionen zu erwerben, die er unmittelbar aus dem Ausland nicht hätte beanspruchen können19. 3. Zwischenschaltung einer Mittelsperson Eine Mittelsperson kann bei einem Rechtsgeschäft zwischengeschalten werden, um dadurch Vorteile zu erlangen, die nicht erzielt würden, wenn das Rechtsgeschäft direkt vom Hintermann abgeschlossen worden wäre20. Bekannte Fallgruppen sind die Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft bei Grundstücksgeschäften21 oder die Zwischenschaltung einer Basisgesellschaft im niedrig besteuerten Ausland22. Die 11 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 54 ff.; Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 88; P. Fischer, DB 1996, 644 (651); Förster, in: Festschrift Korn, S. 3 ( 7 ff.); Franz, Allgemeine Regeln zur Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, S. 58 ff. 12 Vgl. z. B. BFH v. 27. 10. 2005 – IX R 76/03, BFHE 212, 360. 13 Vgl. z. B. BFH v. 13. 10. 1993 – II R 92/91, BFHE 172, 520. 14 Vgl. z. B. BFH v. 19. 8. 2003 – VIII R 44/01, DStR 2004, 948 (950). 15 Vgl. z. B. BFH v. 19. 8. 1999 – IR 77/96, BFHE 189, 342. 16 Vgl. z. B. BFH v. 8. 5. 2003 – IV R 54/01, BFHE 202, 219. 17 Vgl. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 54 f.; Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (589). 18 Vgl. Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1274, 1277). 19 Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1274 f.). 20 Vgl. hierzu die Zwischenschaltung eines Importeurs in EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/ 13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145. 21 BFH v. 18. 3. 2004 – III R 25/02, BFHE 205, 470. 22 BFH v. 5. 3. 1986 – I R 201/82, BFHE 146, 158.

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Erster Hauptteil

Einschaltung von Mittelspersonen und Zweckgesellschaften kann auch bezwecken, die Identität des Hintermannes zu verschleiern, was mitunter rechtsmissbräuchlich sein kann, insbesondere wenn dies aus steuerlichen Gründen erfolgt23. 4. Verschleierung des tatsächlichen Vertragstyps Eine weitere Variante der Gesetzesumgehung besteht darin, „den wahren Rechtsgrund zu verschleiern, um die Anwendung daran geknüpfter nachteiliger Rechtsfolgen zu vermeiden“.24 Sofern eine gesetzliche Rechtsfolge an das rechtsgeschäftliche Handeln in einer bestimmten zivilrechtlichen Vertragsform anknüpft, so kann versucht werden, durch Gestaltung hinsichtlich der nach außen vorgegebenen gewählten Form den wahren Charakter des Rechtsgeschäfts zu verschleiern, z. B. wird in einem schon von Savigny konstruierten Fall zur Umgehung des Zinswucherverbots der wucherhafte Zinssatz durch einen erhöhten Kaufpreis oder eine Vertragsstrafe verborgen25. Hierzu zählen auch Unterkapitalisierung und Darlehensvergabe im Konzern26. Ein Beispiel für eine Verschleierung ist die CentralanEntscheidung des EuGH27, in der statt einer Übertragung rechtlichen Eigentums eine 999-jährige Vermietung vereinbart wurde. Denkbar ist auch die Übernahme in Form einer Verschmelzung, um dadurch günstigere Squeeze-out-Bedingungen wahrnehmen zu können28. 5. Wesensmerkmale dieser Gestaltungen All diesen Fallgruppen gemeinsam ist, dass durch gezielte, mitunter komplexe Gestaltung des Sachverhalts der wirtschaftliche Erfolg auf eine Art und Weise eintreten soll, die die vorteilhafte Rechtsfolge auslöst, bzw. die die nachteilige Rechtsfolge vermeidet. Wäre der Sachverhalt jedoch auf andere, vom Gesetzgeber erwartete Art und Weise – meist einfacher – gestaltet worden, würde eine weniger günstige Rechtsfolge ausgelöst werden, obwohl derselbe oder ein sehr ähnlicher wirtschaftlicher Erfolg eintritt. Dabei schließen sich die verschiedenen Gestaltungstypen nicht gegenseitig aus, sondern sie können auch kombiniert vorliegen.

23 S. dazu insbesondere die „Panama Papers“, abrufbar unter http://panamapapers.sueddeut sche.de. 24 Englisch, StuW 2009, 3 (15). 25 Savigny, System I, S. 325; vgl. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 46 f. 26 Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (589). 27 EuGH v. 15. 12. 2005 – Rs. C-63/04 – Centralan, ECLI:EU:C:2005:773, Rn. 16 ff. 28 Florstedt, NZG 2015, 1212.

§ 1 Die begrenzte Wirksamkeit einer ,rein‘ teleologischen Auslegung

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III. Gesetzesumgehung als Auslegungs- bzw. Analogiefrage (objektive Theorien) 1. Grundannahme der objektiven Theorien als ,reine‘ Frage teleologischer Rechtsanwendung Nach der stark verbreiteten objektiven Theorie, die maßgeblich durch die 1962 erschienene Monographie „Die Gesetzesumgehung“ von Teichmann geprägt wurde, ist die Gesetzesumgehung eine reine Frage der Rechtsgeltung bzw. Rechtsanwendung, die ausschließlich durch Normauslegung oder analoge Anwendung zu lösen ist29. Umgehungssachverhalte seien demnach „durch direkte Subsumtion unter das „umgangene“ Gesetz unter Anwendung der Regeln über die Gesetzes- und Sachverhaltsauslegung zu lösen, in anderen Fällen erscheint der Analogieschluß als die geeignete Methode“30. Die objektive Theorie sieht in der Gesetzesumgehung also kein selbstständiges Rechtsinstitut, das über die für Auslegung und Analogiebildung notwendige eigenständige Voraussetzungen verlangt; insbesondere das Kriterium einer Umgehungsabsicht ist hiernach entbehrlich31. Für die Feststellung einer Gesetzesumgehung seien die zur Frage stehenden Gestaltungen lediglich daraufhin zu untersuchen, ob sie unmittelbar einer Norm unterfallen oder eine bestehende Gesetzeslücke durch Gesetzesanwendung geschlossen werden kann32. Wie Teichmann formuliert, sei danach zu fragen, „ob mit Hilfe der Analogie alle Umgehungsfälle erfaßt werden können, sich der Bereich der Gesetzesumgehung also mit dem Ähnlichkeitskreis um die umgangene Norm deckt“33. Unter den Vertretern der objektiven Theorie werden normierten Umgehungsverboten unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen. Differenzen ergeben sich überwiegend aus dem Verständnis des Verhältnisses von Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung: (1) Zunächst wird vorgetragen, bei der Gesetzesumgehung handele es sich allein um eine Frage der Gesetzesauslegung, was zur Folge hätte, dass gesetzlich normierte Umgehungsverbote lediglich Auslegungsregeln vorgeben

29 Grundl. Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 78 ff., 105; ders., JZ 2003, 761 (765 ff.); dem folgend Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 22; Bickel, JuS 1987, 861 (863); Huber, JurA 1970, 784 (797 f.); Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 11, 124; Sieker, Umgehungsgeschäfte, insbes. S. 8 ff.; zur Umgehung beim Verbrauchsgüterkauf nach § 475 BGB vgl. Müller, NJW 2003, 1975 ff.; nach Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (399 ff., insbes. 404 und 408), sei die Umgehungsproblematik zwar durch Auslegung und Analogiebildung zu lösen, subjektive Elemente könnten im Rahmen dieser methodischen Mittel jedoch berücksichtigt werden und die Grenzen der Analogiebildung erweitern. 30 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 105. 31 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 67 ff.; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 22; Huber, JurA 1970, 784 (797 f.) („Wille des Handelnden irrelevant“, S. 798); Ellenberger, in: Palandt, § 134 Rn. 28. 32 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 106. 33 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 106.

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Erster Hauptteil

würden34. (2) Nach Teichmann und der ihm folgenden Lehre hingegen schließen sich Auslegung und Umgehung gegenseitig aus, sodass die nicht mehr im Wege der Auslegung erfassten Umgehungssachverhalte allein durch Analogieschlüsse zu lösen sind und Umgehungsverbote somit die Aufgabe haben, solche Analogieschlüsse zu legitimieren35. (3) Nach einer dritten Auffassung sollen zur Behandlung von Umgehungssachverhalten sowohl die Gesetzesauslegung als auch die Analogie anwendbar sein36. Gemeinsam ist diesen Theorien der objektiven Auslegung die Leitidee, das umgangene Recht helfe sich bei Umgehungsversuchen selbst, indem es „aus eigener Kraft“37 durch Auslegung und Analogie anhand objektiver Kriterien zur Anwendung gelangt, ohne dass eine Intention der Beteiligten zur Normentziehung oder -ergehung bei der objektiven Analyse zu beachten wäre38. Aufgrund der Anerkennung der teleologischen Auslegungsmethode und der grundsätzlichen Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung bestünde keine Notwendigkeit für eine eigenständige Lehre oder für ein Institut der Gesetzesumgehung39. In diesem Sinne führte bspw. die „Lehre von der verdeckten Sacheinlage“40 zu einer Unterbindung der Umgehung von Kapital34 Vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 80, 84; Hefermehl, Soergel BGB, § 134 Rn. 38 f.; Ellenberger, in: Palandt, § 134 Rn. 28. 35 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 50 ff.; s. dens., JZ 2003, 761 (765 ff.); vgl. auch Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 80. 36 Huber, JurA 1970, 784 (797 ff.); Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (404, 408); Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 11 f., 124 f.; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 8 ff.; vgl auch Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 84. 37 Formulierung bei Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69; s. auch Sack/Seibl, in: Staudinger BGB, § 134 Rn. 145. 38 So etwa BGH v. 23. 6. 1971 – VIII ZR 166/70, BGHZ 56, 285 (289); BGH v. 9. 2. 1990 – V ZR 274/88, BGHZ 110, 230 (234); BAG v. 12. 10. 1960 – GS 1/59, BAGE 10, 65 (70); BAG v. 19. 5. 1982 – 5 AZR 466/80, BAGE 39, 67 (70); BAG v. 29. 3. 1995 – 5 AZB 21/94, BAGE 79, 319 (358); BFH v. 23. 2. 1989 – V B 60/88, BStBl. II 1989, 396 (399); BFH v. 10. 9. 1992 – V R 104/91, BStBl. II 1993, 253 (255); grundl. Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69, 76 f.; ders. JZ 2003, 761 (765 ff.); Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 350 f.; Häsemeyer, in: Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, S. 163 (166 f.): „Rechtsgeltung steht in Frage, und nicht die Sanktionierung böswilligen Verhaltens“ (S. 167); Huber, JurA, 1970, 784 (797); s. auch Schro¨ der, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung S. 11 f., 124 f.; krit. etwa Florstedt, ZBB 2013, 81 (88) und Mader, Rechtsmißbrauch und unzula¨ ssige Rechtsausu¨ bung, S. 84 f. 39 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 9. 40 Zwar verlangte die „Lehre von der verdeckten Sacheinlage“ nach überwiegender Meinung in subjektiver Hinsicht keine Umgehungsabsicht, wie sie noch in RGZ 152, 292 (300 f.) gefordert wurde, vgl. BGHZ 110, 47 (63); Pentz, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz3, § 27 Rn. 94. Es wurde jedoch nicht gänzlich auf subjektive Voraussetzungen verzichtet, da auch schon vor der Normierung in § 27 Abs. 3 S. 1 AktG durch das ARUG für eine Umgehung nach überwiegender Auffassung auf die übereinstimmenden Absichten der Parteien abgestellt wurde, durch das mehraktige Vorgehen den wirtschaftlichen Erfolg einer Sacheinlage herbeiführen zu wollen, s. nur BGHZ 132, 133 (139 f. und 2. LS); BGHZ 152, 37 (43 f.); Henze, ZHR 154 (1990), 105 (114); Ulmer, ZHR 154 (1990), 128 (142); Arnold, in: Kölner Kommentar zum AktG3, § 27 Rn. 93 und Pentz, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz3, § 27 Rn. 94.

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aufbringungsvorschriften durch richterliche Rechtsfortbildung41. Der Hintergrund der objektiven Betrachtungsweise, auf das Anknüpfen an subjektive Merkmale zu verzichten, liegt in dem vermeintlichen Makel, der einer funktionswidrigen Ahndung „persönlichen Unrechts oder gar einer Gesinnungsjurisprudenz“ der Berücksichtigung individueller Intentionen anhaften soll42. 2. Die Missbrauchsverhinderung nach der objektiven Theorie a) Das Verhältnis von Auslegung und Analogie als Mittel der Missbrauchsverhinderung Nach der objektiven Theorie wird zunächst zwischen der „Umgehung begünstigender Normen“ – was im Ergebnis dem Konzept eines Rechtsmissbrauchs entspricht – und „Umgehung nachteiliger Rechtssätze“ – also die eigentliche Gesetzesumgehung – differenziert43. Die Umgehung begünstigender Normen sei gleichbedeutend mit dem Problem der einschränkenden Auslegung der fraglichen Regelung; entscheidend sei allein die Auslegungsmethodik, die einem Sachverhalt, obwohl er unter den Tatbestand der günstigen Norm subsumiert werden kann, nicht die vorteilhafte Rechtsfolge zuordnet, weil dieser „nicht von ihrem Sinn erfaßt“ wird44. Anders müsse die Umgehung von benachteiligenden Normen gewertet werden45. Sofern ein Sachverhalt noch unter den Sinn der vermeintlich umgangenen Norm subsumiert werden könne, handele es sich nicht um ein „Problem der Gesetzesumgehung, sondern der Auslegung des Gesetzes“46. Lediglich bei Konstellationen, die nach der Auslegung nicht mehr von der entsprechenden Norm erfasst werden, handele es sich um eine „Tatbestandsvermeidung“, bzw. den engen Begriff der „Gesetzesumgehung“, die eine Geltung der Norm „über ihren Sinn hinaus“ verlange47. b) Analoge Anwendung zur Behandlung der Gesetzesumgehung Gesetzeslücken seien durch Analogie im Sinne einer Anwendung der Norm „über ihren Sinnbereich hinaus“ zu schließen48. Eine Gesetzeslücke liege dabei vor, wenn ein Sachverhalt durch Gesetzesauslegung nicht erfolgreich bewertet werden kann, 41 In BGHZ 10, 47 (64) („IBG/Lemmertz“) erwähnt der BGH die Normbehauptung „aus eigener Kraft“; vgl. auch Florstedt, NZG 2015, 1212 (1213). 42 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (169); vgl. auch P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (634). 43 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 48 ff. 44 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 49, 64, 77 f. 45 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 50. 46 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 50 f., 55. 47 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 64 ff. 48 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 78 ff., 88.

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„eine Regelung aber zur Verwirklichung der Gerechtigkeit erforderlich scheint“49. Die Analogiebildung – in der allgemeinen Logik beschrieben als der Schluss vom Besonderen auf das Besondere50 –, erfordere, „dass um eine Norm ein Ähnlichkeitskreis gebildet werden kann, dessen Glieder ihr so sehr gleichen, daß es gerechter erscheint, sie ihr zuzuordnen als sie anders zu regeln“51. Dabei entstehenden Zweifeln an der wenig präzisen, abwägungsbedürftigen und dem jeweiligen Zeitgeist unterworfenen Gerechtigkeitsvorstellung dieser Methodik wird die „legitime Aufgabe der Rechtswissenschaft“ entgegengehalten, Einzelwertungen zu treffen52. Da die Analogie keine kongruenten Sachverhalte, sondern lediglich partielle Gleichheit verlange, könne durch die Analogie in „ihrer Gerechtigkeitsabwägung ein weiterer Kreis von Sachverhalten den Rechtsfolgen einer Vorschrift untergeordnet werden“ als bei der Gesetzesauslegung53. Teichmann erachtet den Analogieschluss auch bei belastenden Verwaltungsmaßnahmen, wie der Steuererhebung, für legitim54. Diesem Verständnis der objektiven Theorie ist entgegenzuhalten, dass eine solche wertungsbedürftige Grunddogmatik Schwierigkeiten für eine rechtssichere und vorhersehbare Rechtsanwendung bereitet, die insbesondere bei der steuerlichen Belastungswirkung essenziell ist. Dies folgt insbesondere aus der kaum objektivierbaren oder greifbaren Bezugnahme auf die jeweils vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen, die – wie die Historie exemplarisch während der NS-Diktatur gezeigt hat55 – erhebliches Missbrauchspotenzial bergen. Auch die vorausgesetzte Analogie zulasten des Bürgers ist im Subordinationsverhältnis zwischen Staat und Bürger nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht grenzenlos möglich. Aufgrund des Demokratieprinzips wird eine den Steuerpflichtigen belastende Rechtsfortbildung im Wege der Analogie teilweise grundsätzlich abgelehnt56; wird sie hingegen für 49

Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 80. Klug, Juristische Logik, S. 115 („Schluß, bei dem vom Besonderen auf das Besondere – manche sagen: Vom Individuellen auf das Individuelle – geschlossen wird“); Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 81. 51 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 86. 52 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 86. 53 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 86 f. 54 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 102 ff. 55 S. zur Kritik z. B. Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, S. 72 (zur Bedeutung des „Führerwillen“ für den Typusbegriff). Ein prägnantes Beispiel zum Missbrauchspotenzial der teleologischen Reduktion durch das Urteil aus dem Jahr 1939 des Landesarbeitsgerichts Koblenz, DR 1940, 87 findet sich bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 544, in dem ein gesetzlicher Lohnfortzahlungsanspruch für Arbeiter, nach „zweckentsprechender Auslegung“ nur „der deutsche Arbeiter“ und nicht „der jüdische Arbeitnehmer“ hatte; zur Rechtsanschauung als Teil der Weltanschauung während des Nationalsozialismus s. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 104 ff., und zur Wandelbarkeit normativ unbestimmter Rechtsbegriffe in der Gerichtspraxis, S. 216 ff. 56 Vgl. Flume, StbJB 1964/65, 55 (68 f.); Knobbe-Keuk, in: Festschrift 75 Jahre RFH/BFH, S. 303 (305 ff.); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (55). 50

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zulässig erachtet, werden strenge Anforderungen angestellt57. Eine Missbrauchsverhinderung im Wege der Analogie ist deshalb, wenn überhaupt, nur innerhalb dieser strengen Grenzen möglich. c) Die Ablehnung der Notwendigkeit eines Umgehungsvorsatzes und subjektiver Kriterien Das Erfordernis eines Umgehungsvorsatzes lehnt die objektive Theorie ab, weil die Gesetzesumgehung eine reine Frage der Rechtsgeltung sei, die nicht auf Ahndung persönlichen Unrechts abziele oder von einer subjektiven Vorwerfbarkeit abhängen könne, sondern für eine gerechte Gleichbehandlung nur nach objektiven Kriterien zu bestimmen sei58. Hierbei legt Teichmann eine Verletzung des Gleichheitssatzes bei einer Konstellation zugrunde, „wenn man zwei gleiche Vorgänge, die als solche auch von den Parteien gleich gewollt sind, bei denen aber nur die Partei des einen Rechtsgeschäfts die Umgehungsabsicht hat – nur sie kennt die entsprechende Vorschrift –, mit verschiedenen Folgen belegen wollte“59. Genauso wäre es eine Ungleichbehandlung, wenn objektiv identische Verträge abhängig von den subjektiven Motivationen der Parteien unterschiedlich behandelt würden60. Zum Verhältnis von Missbrauch und Gesetzesumgehung differenziert Teichmann zunächst zwischen der Bedeutung des Rechtsmissbrauchs im Steuerrecht und im Zivilrecht. Auch im Kontext des Missbrauchs dürften die wirtschaftlichen Motive der Beteiligten nicht berücksichtigt werden, da anderenfalls „die Entscheidung über das Vorliegen einer Umgehung wieder in den subjektiven Bereich, in das Gebiet des persönlichen Vorwurfs“ verlagert werden würde und dieser wie auch die Umgehungsabsicht zur Feststellung einer Gesetzesumgehung nicht berücksichtigt werden dürften61. An diesem Vorgehen Teichmanns wird von der Literatur heute weitgehend festgehalten62. Auslegung und Gesetzesumgehung schließen sich danach gegenseitig aus; sofern eine Umgehungsgestaltung nach Auslegung noch unter die Norm sub57 Englisch, StuW 2015, 302 (309 ff.). S. Ausführlich zu den unionsrechtlichen Grenzen der Analogie und teleologischen Reduktion noch unten, § 4 II. 58 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69; Ellenberger, in: Palandt, § 134 Rn. 28; Hefermehl, Soergel BGB, § 134 Rn. 40; vgl. auch Kruse, StbJb 1978/79, 443 (452); aus der Judikatur s. BAG v. 12. 10. 1960 – 3 AZR 65/56, NJW 1961, 798; BAG v. 18. 7. 2012 – 7 AZR 443/ 09, NJW 2013, 1254 (1259). 59 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69 f. 60 Teichmann, JZ 2003, 761 (764). 61 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 73. 62 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 8 ff. und insbes S. 10; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 22; Bickel, JuS 1987, 861 f.; Huber, JurA 1970, 784 (796 ff.); Ellenberger, in: Palandt, § 134 Rn. 28; Müller, NJW 2003, 1975 ff.; Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 11 f., 124 f.; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (399 ff., insbes. 404 und 408), der jedoch subjektive Elemente im Rahmen der Abwägung berücksichtigt.

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Erster Hauptteil

sumiert werden kann, handele es sich um keine Umgehung, sondern einen „Umgehungsversuch“63. Gesetzliche Umgehungsverbote ermächtigten danach lediglich zur Bildung von Analogien und beinhalteten deswegen keine eigenständigen Auslegungsregeln64.

IV. Gesetzesumgehung als eigenständiges Rechtsinstitut (subjektive Theorien) Zur Abgrenzung von legitimen und unzulässigen Gestaltungen wird die Gesetzesumgehung aber auch als eigenständiges Rechtsinstitut mit determinierten selbstständigen Voraussetzungen angesehen65. Substanziell tritt neben Aspekte der Normauslegung ein subjektives Moment. Diskutiert werden unterschiedliche Voraussetzungen für einen „Umgehungsvorsatz“. Für die Qualifizierung der Gesetzesumgehung als eigenständiges Rechtsinstitut spreche insbesondere die daraus resultierende Rechtfertigungswirkung, eine Norm über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus anzuwenden66. 1. Umgehungsabsicht als zusätzliches Erfordernis für die Anwendung von Gesetzen über ihre Wortlautgrenze hinaus In ihrer klassischen Form stellt die subjektive Theorie auf die Umgehungsabsicht ab, also die Absicht des Gestalters, nicht nur einen bestimmten Rechtserfolg herbeizuführen, sondern auch die Anwendung einer Norm zu vermeiden bzw. zu erreichen67. Teilweise wird allein aus dem Begriff Umgehung die Notwendigkeit eines Vorsatzes – einer „Umgehungsabsicht“ – geschlossen68. Hensel folgerte die Voraussetzung des Vorsatzes im Steuerrecht aus der Formulierung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 RAO („zur Umgehung der Steuer“)69. Für das Vorliegen der Umgehungsabsicht einer 63

Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 85 (Zitat); Westerhoff, Gesetzesumgehung und Gesetzeserschleichung, S. 63 ff., insbes. S. 66; ähnl. auch Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 Rn. 146. 64 Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 22, 85 ff.; Bickel, JuS 1987, 861 (863); Huber, JurA 1970, 784 (797 f.); Müller, NJW 2003, 1975 ff.; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (399 ff.); Sieker, Umgehungsgeschäfte, insbes. S. 8 ff. 65 Mayer-Maly, in: Münchener Kommentar zum BGB4, § 134 Rn. 14 ff. insbes. 18; Heeder, Fraus legis, S. 78 ff., 215 ff. 66 Mayer-Maly, in: Münchener Kommentar zum BGB4, § 134 Rn. 14 ff., insbes. 18. 67 Tamussino, Die Umgehung von Gesetzes- und Vertragsnormen, S. 61, 69 ff. („Absichtlichkeit“ der Umgehung, S. 69); Mayer-Maly, in: Münchener Kommentar zum BGB4, § 134 Rn. 18; Heeder, Fraus legis, S. 214 ff.; vgl. auch die Darstellung bei von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 39 m.w.N. 68 Hueck, RdA 1953, 85 (86). 69 Hensel, in: Festgabe Zitelmann, S. 219 (272).

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fraus legis genüge es nach Heeder bereits, wenn das Motiv der Umgehung nicht die einzige oder primäre Intention darstellt70. 2. Vermutung des Bestehens einer Umgehungsabsicht bei Vorliegen einer Umgehungshandlung Aufgrund der Problematik, subjektive Merkmale nur schwer nachweisen zu können, wird teilweise vertreten, die notwendige Umgehungsabsicht sei schon dann anzunehmen, wenn ihr Vorliegen nach den Gesamtumständen als hoch wahrscheinlich erscheint und der Betroffene deswegen den Gegenbeweis zu erbringen habe, dass sein Verhalten legitim war und nicht von einer Umgehungsabsicht getragen wurde, da das Vorliegen der Umgehungshandlung einen prima-facie-Beweis für das Vorhandensein der Umgehungsabsicht darstelle71. 3. „Künstlicher Auslandsbezug“ im Internationalen Privatrecht als subjektiver Anknüpfungspunkt des Missbrauchsvorwurfs Im Internationalen Privatrecht wird vorgetragen, die Rechtsfolge der umgangenen Norm lasse sich nur dann gerechtfertigterweise anwenden, wenn „ein künstlicher Auslandsbezug geschaffen wird“, um dadurch nachteilige Normen der nationalen Rechtsordnung zu vermeiden72. 4. Planung des wirtschaftlichen Erfolgs einer Gestaltung Gelegentlich wird auf die Absicht des Gestalters abgestellt, einen Sachverhalt planvoll so zu gestalten, dass ein in der Norm vorgesehener wirtschaftlicher Erfolg erzielt wird73. Gestaltungen, bei denen sich die Frage einer Umgehung oder eines Rechtsmissbrauchs stellt, würden regelmäßig nicht zufällig, sondern bewusst zum Zwecke der Normvermeidung einer ungünstigen oder Herbeiführung einer begünstigenden Norm gewählt werden74. Umgehungsabsicht sei gegeben, wenn Gestalter einen Umweg zur Erreichung des gewünschten Ergebnisses zu dem Zweck wählen, die Anwendung der nachteiligen Regelung zu vermeiden75. Sachverhaltsgestaltungs- und Umgehungsabsicht würden in der Regel gemeinsam vorliegen.76 70

Heeder, Fraus legis, S. 214 ff. Heeder, Fraus legis, S. 218, 220; Hueck, RdA 1953, 85 (86 f.) („besondere wirtschaftliche oder soziale Gründe“ müssten befristete Kettenarbeitsverträge rechtfertigen). 72 Hay/Krätzschmar, Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, S. 127. 73 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (171); vgl. auch Hefermehl, in: Soergel BGB, § 134 Rn. 40. 74 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (170). 75 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (171). 76 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (171). 71

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Dieses subjektive Kriterium („Pläne, Absichten und Kenntnisse der Parteien“) sei insbesondere bei der richtigen wirtschaftlichen Erfassung mehraktiger Sachverhalte notwendig, da nur so aufgespaltene Rechtsakte einheitlich erfasst werden könnten77. Bei einaktigen Vorgängen seien über die „Sachverhaltsgestaltungsabsicht“ hinaus „zusätzliche subjektive Momente“ erforderlich78. Die Problematik, subjektive Absichten nachweisen zu können, sei dadurch zu bewältigen, den Beteiligten wegen der wirtschaftlichen Ergebnisse die Beweispflicht für das Nichtvorliegen einer „Sachverhaltsgestaltungsabsicht“ aufzuerlegen, da der „Erfahrungssatz die Vermutung“ rechtfertige, „dass man es mit planvoll herbeigeführten Ergebnissen zu tun hat“ und wirtschaftliche Gestaltungen von den Beteiligten regelmäßig zielgerichtet gewählt werden, insbesondere wenn durch die gewählte Gestaltung eine nachteilige Regelung nicht zur Anwendung kommt79. Es sei Aufgabe der Beteiligten, diese Vermutung zu widerlegen. Sie müssten nachweisen, dass ein „Ausnahmefall“ vorliegt und „das erzielte Resultat nicht Gegenstand eines ursprünglich gefassten Planes war“80. Der tatsächliche wirtschaftliche Gehalt einer Gestaltung solle aus der Perspektive einer möglicherweise umgangenen Rechtsnorm betrachtet werden. Wenn das von dieser Norm sanktionierte Verhalten trotz Nichterfüllung der Wortlautvoraussetzungen erreicht wird, so sei zu vermuten, dass dieses Resultat bewusst verwirklicht wurde und somit die wirtschaftliche Gleichwertigkeit in Verbindung mit dem subjektiven Merkmal die Anwendung der umgangenen Vorschrift „im Wege der teleologischen Auslegung oder der Analogie“ rechtfertige, die u. U. noch einer „besonderen Begründung“ bedürfe81.

V. Die eingeschränkte Wirksamkeit des individuellen und institutionellen Rechtsmissbrauchs zur Normbehauptung Unter Rechtsmissbrauch im weiteren Sinne wird die Inanspruchnahme eines Rechts verstanden, das zwar formal von der Rechtsordnung gewährt zu werden scheint, jedoch gleichzeitig – unabhängig von den Gründen – von der Rechtsordnung missbilligt und deswegen sanktioniert wird82. Der Pflicht des Schuldners, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es gebieten, ist symmetrisch die Pflicht des Gläubigers gegenübergestellt, das ihm zustehende Recht unter den gleichen Bedingungen auszuüben83. Die von der Gel77

Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (171). Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (172). 79 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (173). 80 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (173). 81 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (174). 82 Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, S. 20; Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 2. 83 Esser, Schuldrecht, § 34 1., S. 112; siehe zur Symmetrie von Leistung und Gegenleistung grundl. Florstedt, Recht als Symmetrie, passim. 78

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tendmachung einer Forderung ausgehende Beeinträchtigung des Schuldners werde nur durch die Rechtszuteilung gerechtfertigt, wenn sie nicht missbräuchlich ist („Qui iure suo utitur, neminem laedit“)84. Die Unzulässigkeit der Rechtsausübung könne hierbei entweder aus der objektiven Verfehlung der sozialen Zweckbestimmung oder aus einem Verstoß gegen Treu und Glauben im individuellen Fall folgen85. Hinsichtlich der Rechtsausübung wird dementsprechend differenziert zwischen dem individuellen Rechtsmissbrauch, bei dem der Gläubiger dem Schuldner gegenüber bei der Rechtsausübung im Einzelfall „das Treugebot gegenüber dem Verpflichteten oder Sittengebot“ missachtet, und dem institutionellen Rechtsmissbrauch, bei dem die Ausübung eines Rechts unter Ausnutzung der Form zweck- oder funktionswidrig gegen den Rechtsgedanken und Zweckzusammenhang eines Rechtsinstituts verstößt86. 1. Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien als Abwägungsposten beim individuellen Rechtsmissbrauch Der individuelle Rechtsmissbrauch ist „gekennzeichnet durch die besondere Treuwidrigkeit einer am Rechtsverhältnis beteiligten Person“87. Hiernach ergeben sich individuelle Schranken der Ausübung von Rechten aus dem konkreten Rechtsverhältnis. Beim individuellen Rechtsmissbrauch sei das „strenge Recht“ aufgrund der aus der persönlichen Beziehungen der Parteien oder eines Vertrauen auslösenden Vorverhaltens im Wege des § 242 BGB durch „Billigkeitsrecht“ zu durchbrechen88. Der Grund hierfür liegt im Verhalten des Gläubigers, der im konkreten Fall nach einer Abwägung gegen Treu und Glauben verstößt89. Bei dieser Abwägung können insbesondere subjektive Merkmale, wie Absichten und die Gesinnung, berücksichtigt werden, da diese Auskunft über die Schutzwürdigkeit der Beteiligten liefern90. Mitunter „machen erst bestimmte missbilligenswerte Absichten den Unwert des Verhaltens aus“91. Subjektive Kriterien haben beim individuellen Rechtsmissbrauch somit eine zentrale Bedeutung bei der Abwägung der Legitimität einer bestimmten Rechtsausübung vor dem Hintergrund der Grundsätze von Treu und Glaube. 84

Esser, Schuldrecht, § 34 2., S. 113. Esser, Schuldrecht, § 34 2., S. 113. 86 Grundl. Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (150 ff. insbes, S. 151); Esser, Schuldrecht, § 34 6. und 7., S. 115 ff. (Zitat); Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 76 f.; Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1279); so auch schon in BGHZ 3, 94 (104). 87 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (636); s. auch Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217. 88 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (150). 89 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217; Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 210. 90 Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 243. 91 Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 215. 85

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2. Die eingeschränkte Wirksamkeit zur Missbrauchsverhinderung des institutionellen Rechtsmissbrauchs aufgrund Außerachtlassung subjektiver Kriterien Kennzeichnend für den Institutionsschutz ist, dass er nicht dem Interesse der Person des Rechtsträgers dient, sondern dem Zweck des betroffenen Rechtsinstituts92. Der institutionelle Rechtsmissbrauch verletze nicht nur Individualinteressen, sondern den „ordre public“93. Beim institutionellen Rechtsmissbrauch folge der nicht zu gewährende Rechtsschutz des Gläubigers aus der zweckwidrigen Ausübung des Rechts94. Raiser formuliert, dass „das Recht in jedem Rechtsinstitut ein typisches Lebensverhältnis, eine im soziologischen Sinne institutionalisierte Verhaltensweise, also ein sinnhaftes, von menschlichem Leben erfülltes soziales Gebilde durch rechtliche Anerkennung zugleich wertet und dieser Wertung entsprechend ordnet“95. Das Rechtsinstitut sei – in Kurzform – ein vom objektiven Recht geordnetes typisches Lebensverhältnis. Es sei Aufgabe des Privatrechts, auch diese Institutionen durch objektives Recht zu schützen96. Der Grad der Zweckbindung eines Rechtsinstituts könne je nach Typ verschieden stark ausfallen97. Ein institutioneller Rechtsmissbrauch liegt danach vor, wenn ein Recht zwar nach dem Wortlaut zusteht, nach der Funktion der Norm bestehende immanente Schranken jedoch überschritten werden98. Ein solcher Missbrauch ist mitunter dadurch gekennzeichnet, dass ein Recht gegenüber einem rechtlich schlechter geschützten Gegner unter Ausnutzung formaler Mittel in Anspruch genommen wird, ohne den vom Gesetz gewollten Interessenausgleich und Zweckzusammenhang zu berücksichtigen99. Bei einem bestehenden Schuldverhältnis sei es der einfachste Weg, den institutionellen Rechtsmissbrauch über § 242 BGB zu lösen; er könne jedoch auch durch teleologische Auslegung der den Vorteil gewährenden Norm aufgelöst werden100. Die aus dem institutionellen Rechtsmissbrauch folgende Einschränkung der individuellen

92 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (159); Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 13; Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 3. 93 Esser, Schuldrecht, § 34 8., S. 117. 94 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (152); Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217; Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 212. 95 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (148); im Kontext der Ehe als Rechtsinstitut und Institution Müller-Freienfels, Ehe und Recht, S. 58 ff. 96 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (148); Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 211. 97 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (164). 98 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 77; Esser, Schuldrecht, § 34 8., S. 117. 99 Esser, Schuldrecht, § 34 7., S. 116. 100 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (152).

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Rechtsausübung müsse nicht erst aus dem Verbot sittenwidrigen Handelns abgeleitet werden, sondern sei dem Recht nach Sinn und Zweck bereits immanent101. Auf subjektive Voraussetzungen komme es beim institutionellen Rechtsmissbrauch grundsätzlich nicht an, sondern lediglich darauf, ob nach objektiven Merkmalen gegen den Sinn und Zweck des Rechtsinstituts verstoßen wird102. Im Rahmen des Steuerrechts wird lediglich ein institutioneller Rechtsmissbrauch in Frage kommen, da es nicht auf einen Interessenkonflikt im Rahmen eines Rechtsgeschäfts zwischen zwei Parteien ankommt, sondern auf die rechtliche Würdigung einer steuerlichen Gestaltung durch Behörden oder Richter, durch die der auf privatrechtlicher Ebene erzielte Gewinn besteuert wird103. Die Voraussetzungen eines institutionellen Rechtsmissbrauchs sind häufig nicht präzise und trennscharf genug definiert, um damit alle Umgehungs- und Missbrauchskonstellationen zu erfassen, weshalb in der Praxis wegen eines institutionellen Rechtsmissbrauchs nur bei einem mit Treu und Glauben „unvereinbaren, schlechthin untragbaren Ergebnis“ eine Ausnahme vom formal geltenden Recht gemacht wird104. Zwar erfolgt auch bei einem institutionellen Rechtsmissbrauch die Feststellung des Verstoßes gegen den Sinn und Zweck eines Rechtsinstituts erst aus dem Bezug zum konkreten Einzelfall105. Anders als beim individuellen Rechtsmissbrauch werden beim institutionellen Rechtsmissbrauch jedoch die subjektiven Merkmale nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl diese auch bei der Abwägung der Rechtsausübung am Normtelos Aufschluss über die Schutzwürdigkeit des Verhaltens durch die potenziell missbrauchte Norm gewähren könnten. Je nachdem, weshalb und mit welchen Zielen ein bestimmtes Recht geltend gemacht wird, kann die Rechtsausübung noch vom Normtelos gedeckt sein oder diesem widersprechen. Die praktische Wirksamkeit des institutionellen Rechtsmissbrauchs als Mittel der Normbehauptung wird auch durch die Nichtberücksichtigung subjektiver Merkmale auf Ausnahmefälle begrenzt, in denen eine Abweichung von der formalen Rechtslage als „zwingend“ erscheint106.

101 Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (167); ähnlich Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 212. 102 Esser, Schuldrecht, § 34 6., S. 115; Raiser, in: Summum ius summa iniuria, S. 145 (166). 103 Vgl. Crezelius, in: Festschrift Gosch, S. 47 f. 104 BGH v. 16. 02. 1954 – V BLw 60/53, BGHZ 12, 286; BGH v. 03. 12. 1958 – V ZR 28/57, BGHZ 29, 6 (10); BGH v. 27. 10. 1967 – V ZR 153/64, BGHZ 48, 396 (398) zur Formnichtigkeit; BAG v. 18. 7. 2012 – 7 AZR 443/09, NJW 2013, 1254 (1259) zur „Kettenbefristung“ von Arbeitsverträgen; vgl. auch Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217; Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 48. 105 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217. 106 Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217; BAG v. 23. 11. 2006 – 8 AZR 349/06, NZA 2007, 866 (869).

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3. Das Verhältnis von Rechtsmissbrauch zu Gesetzesumgehung Nach Teichmann handelt es sich beim institutionellen Rechtsmissbrauch um kein selbstständiges Rechtsinstitut, sondern lediglich um ein Problem der Normauslegung; institutioneller Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung seien somit identisch zu behandeln107. Zum Verhältnis von Rechtsmissbrauchsverbot und Gesetzesumgehung wird von anderen vertreten, die Gesetzesumgehung sei lediglich ein Unterfall des Rechtsmissbrauchsverbots, das neben der Gesetzesumgehung noch andere Fallgruppen wie die der Schikane und die des venire contra factum proprium umfasse108. Die Gleichsetzung von Gesetzesumgehung und Institutsmissbrauch wird von anderen Teilen der Literatur hingegen abgelehnt, da so nur ein Rechtsinstitut mit ungeklärten, wertungsbedürftigen Voraussetzungen durch ein anderes Rechtsinstitut mit ebenso ungeklärtem Inhalt ersetzt werden würde109.

VI. Das disparate Bild der Bedeutung subjektiver Kriterien bei der Bewertung eines Missbrauchs von Steuergesetzen Der Gestaltungsmissbrauch zur Umgehung steuerrechtlicher Vorschriften wird mitunter als ein Unterfall der Gesetzesumgehung bezeichnet110. Für das Steuerrecht gilt die Besonderheit der wechselseitigen Beziehung zwischen Zivilrecht und Steuerrecht: Steuerlich relevante Sachverhalte werden in zivilrechtlicher Form gestaltet und unterliegen deshalb einer Vorprägung durch das Zivilrecht111. Während der Steuerpflichtige bei steuerbewusster Sachverhaltsgestaltung durch zivilrechtliche Gestaltungen einen individuellen Steuervorteil in der Form einer geringeren Steuerlast anstrebt, versucht das Steuergesetz, Steuergleichheit zu erzielen112. Die Einschränkung der Steuerlast durch Vermeidungsstrategien kann aus „fehlender Systematik, Formulierungsschwäche, Widersprüchlichkeiten und Detailfülle des geltenden Steuerrechts“ resultieren113. Es ist dabei die steuerrechtliche Besonderheit zu berücksichtigen, dass es keinen Sachverhalt gibt, der seiner Natur nach besteuert

107

Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 77. So Reuss, Forum Shopping in der Insolvenz, S. 221. 109 Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 48; Heeder, Fraus legis, S. 110 ff. (insbes. 114), speziell im IPR sei eine Gleichsetzung abzulehnen (S. 115); ähnlich auch Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 13 ff. 110 P. Fischer, StuW 1995, 87 f.; Teichmann, JZ 2003, 761; Englisch, in: Tipke/Lang, § 5 Rn. 116. 111 Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, S. 52; Kirchhof, StuW 1983, 173 (181). 112 Kirchhof, JZ 2015, 105 (110); vgl. auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 9 ff. 113 Kirchhof, JZ 2015, 105 (110); vgl. auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 3. 108

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werden müsste114, sondern die Entscheidung darüber, was besteuert werden soll, wirtschafts- und sozialpolitischer Natur ist115. Nach Kirchhof beginnt das Problem der Gesetzesumgehung dort, „wo die auf den Einzeltatbestand bezogene Wortauslegung endet und die auf die Gesamtheit des Gesetzes bezogene systematische und teleologische Auslegung beginnt“116. Ein früherer Steuerpositivismus mit strenger Formbindung ist danach „tot“117. Die Methodik der rechtlichen Erfassung und Würdigung von Steuerumgehung ist umstritten. Die Auslegung oder teleologische Reduktion einer Norm soll der Prüfung des § 42 AO vorgelagert sein118. In der neueren Rechtsprechung des BFH sei deshalb eine Tendenz erkennbar, der teleologischen Anwendung der Norm den Vorzug vor der Anwendung des § 42 AO zu geben119. Vor diesem Hintergrund findet im Steuerrecht eine Diskussion zur dogmatischen Behandlung der Steuerumgehung und der normativen Bedeutung der Generalklausel in § 42 AO und deren Vorgängernormen zwischen Vertretern der Innentheorie und der Außentheorie statt. 1. Die vermeintliche Nichtberücksichtigung subjektiver Kriterien nach der Innentheorie Nach den Vertretern der „Innentheorie“ soll die Steuerumgehung durch entsprechende Auslegung, teleologische Reduktion und Rechtsfortbildung der „umgangenen“ Normen bekämpft werden120. Nach Enno Becker sei Umgehungsbekämpfung im Steuerrecht eine reine Auslegungs- bzw. Interpretationsfrage, die keiner besonderen Missbrauchsklausel bedürfe121. Auch im steuerlichen Kontext finde eine „Selbstbewahrung des Steuergesetzes aus eigener Kraft“ statt122. Eine besondere Rechtsfigur der Gesetzesumgehung oder eine Missbrauchsklausel wie § 42 AO sei überflüssig, da es sich lediglich um eine Frage der Rechtsgeltung handele123. Das umgangene Gesetz werde durch teleologische Auslegung oder

114

Flume, StbJB 1967/68, 63 (64). Hensel, in: Festgabe Zitelmann, S. 219 (223). 116 Kirchhof, StuW 1983, 173 (174). 117 Tipke, StuW 2008, 377 (384). 118 Hey, Beihefter zu DStR 3 2014, 8 (13); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1149 f.). 119 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1150). 120 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 1, 69, 72 ff., 106; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 2; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 224 ff.; P. Fischer, StuW 1995, 87 f.; ders., in: Festschrift Reiss, S. 621 (633 f.); ders., FR 2001, 1212 (1213 ff.); Gassner, in: Festschrift Kruse, S. 183 (185 ff.). 121 Becker, StuW 1924, Sp. 145 ff.; ders., StuW 1924, Sp. 441 ff. 122 P. Fischer, StuW 1995, 87 (88) zu BGHZ 110, 47 (64) unter expliziter Bezugnahme auf Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69; s. auch P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (622). 123 Danzer, Die Steuerumgehung, S. 83. 115

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Rechtsfortbildung auf den konkreten Sachverhalt angewandt124. Die Gesetzesumgehung und somit auch die Steuerumgehung sei eine reine Frage der Normanwendung, die an die Rechtsverbindlichkeit der gesetzlichen Regelung und deren Durchsetzbarkeit aus eigener Kraft anknüpft125. Nach der „Innentheorie“ hat die Generalklausel des § 42 AO keine eigenständige Bedeutung, sondern nur eine „Appellfunktion“, da das darin explizit formulierte Missbrauchsverbot dem Steuerrecht bereits immanent sei126. Vertreter der Innentheorie lehnen das Erfordernis einer Missbrauchsabsicht ab und wollen das nach den Regeln der Auslegung gefundene Ergebnis nicht aufgrund saldierender außersteuerlicher Gründe revidieren127. Da die Innentheorie nicht auf subjektive Wertungen abstellt, führe sie nach ihren Befürwortern zu mehr Rechtssicherheit und vermeide eine willkürliche richterliche Wertung128. 2. Mögliche Inbezugnahme subjektiver Kriterien nach der Außentheorie Nach Vertretern der „Außentheorie“ soll die Generalklausel des § 42 AO ein eigenständiger Steuertatbestand mit determinierten Voraussetzungen sein, der das Steuergesetz für den Missbrauchsfall von außen erweitert129. Hensel formulierte bereits 1923: „Die echte Steuerumgehung fängt genau dort an, wo die Auslegungskunst zu versagen beginnt. Die Lücke des Gesetzes, die Nichtübereinstimmung zwischen Gesetzeszweck und (in sich widerspruchslosem) Wortlaut, die sich der Umgeher zunutze macht, kann gar nicht durch Auslegung des nun einmal nicht zutreffenden Rechtssatzes überbrückt werden“130. Was darüber hinausgeht, sei Gesetzesänderung, nicht Gesetzesauslegung. Gesetzesänderungen könnten nur durch den Gesetzgeber, nicht jedoch durch den Richter erfolgen131. Zum Verhältnis von Auslegung und Missbrauchsnorm hat der Gesetzgeber dementsprechend im Rahmen der Neufassung des § 42 AO formuliert: „Die Anwendung des § 42 AO kommt in 124 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 77, 106; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 2, 8 ff., 35; Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 224 ff.; P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (634). 125 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 214 f. 126 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 35, 214; P. Fischer, FR 2001, 1212 (1215); Gassner, in: Festschrift Kruse, S. 183 (185 ff.). 127 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (633 f.); ders., FR 2001, 1212; ders., FR 2007, 857 (860 f., 862); Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 2, 35, 39 ff., 214 f. 128 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 39. 129 Kruse, StbJb 1978/79, 443 (447 ff.) („§ 42 AO ist keine überflüssige, sondern eine notwendige Vorschrift“); Drüen, StuW 2008, 154 (158 ff.); Clausen, DB 2003, 1589 (1589 f., 1596); Heuermann, StuW 2004, 124 ff.; Hey, Beihefter zu DStR 3 2014, 8 (9 f.); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1147 f.). 130 Hensel, in: Festgabe Zitelmann, S. 219 (243 ff.). 131 Hensel, in: Festgabe Zitelmann, S. 219 (243).

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Betracht, wenn die Möglichkeit der Auslegung einer materiellen Steuernorm endet.“132 Die Schaffung des § 5 RAO 1919 und die späteren gesetzlichen Missbrauchsregelungen sollen zeigen, dass der Gesetzgeber eine ausdrückliche Generalnorm für unentbehrlich hielt133. Spätestens mit der Einführung der Tatbestandsmerkmale „unangemessene rechtliche Gestaltung“, „Gesamtbild der Verhältnisse“ und „beachtlich“ in § 42 AO ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber sich der Außentheorie anschließe134. Dies komme insbesondere auch durch die Formulierung in § 42 Abs. 2 S. 2 AO und den darin angesprochenen außersteuerlichen Gründen zum Ausdruck135, die subjektive Kriterien darstellen. Nach der Außentheorie können solche subjektive Kriterien in die Bewertung mit einbezogen werden136.

3. Die Bedeutung subjektiver Missbrauchskriterien zur Erfassung der wirtschaftlichen Realität nach der Judikatur des BFH Die Judikatur des RFH und des BFH zur Notwendigkeit einer subjektiven Missbrauchskomponente war historisch nicht einheitlich. Der RFH hatte zu einer Steuerumgehung i. S. d. § 6 StAnpG auf die „Absicht einer Umgehung“ und die „wahren wirtschaftlichen Absichten der Beteiligten“ abgestellt137. Auch einige Entscheidungen des BFH verlangten den Nachweis einer Umgehungsabsicht138. In anderen Fällen hat der BFH eine antizipierte Rückgängigmachung der Geschäfte als Missbrauchskriterium bewertet139. In der Entscheidung vom 08. 03. 2017 stellt der IX. Senat maßgeblich auf den „wirtschaftlichen Zweck“ der Gestaltung, die „speziellen Kenntnisse“ des Steuerpflichtigen, den „Willen des Steuerpflichtigen“, ein „zielgerichtetes“ und „gemeinsames Vorgehen“ bzw. „zielgerichtetes Hinwirken“ 132

S. 80 f. 133

BT-Drucks. 16/6290 v. 4. 9. 2007, Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2008 (JStG 2008),

Wendt, in: DStJG 33 (2010), S. 116 (118). Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148); Hahn, DStZ 2008, 483 ff.; Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (50 ff.). 135 Hey, Beihefter zu DStR 3 2014, 8 (9 f.); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 136 Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148); Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 (61). 137 RFH v. 29. 4. 1942 – VI 101/42, RStBl. 1942, 497; RFH v. 20. 1. 1944 – III 38/43, RStBl 1944, 435; s. dazu auch Thoma, in: Festschrift Bühler, S. 234 (244 f.). 138 BFH v. 5. 3. 1986 – I R 201/82, BFHE 146, 158 (aus der Erwähnung des Missbrauchs in § 6 Abs. 1 StAnpG ergebe sich die Notwendigkeit der „Steuerumgehungsabsicht“ als „Tatbestandsmerkmal“, auf die anhand objektiver Merkmale geschlossen werden könne); BFH v. 5. 2. 1992 – I R 127/90, BStBl. 1992, 532 (der Missbrauch i.S.d. § 42 AO 1977 erfordere eine zweckgerichtete Handlung „zur Umgehung“ eines Steuergesetzes, weshalb eine „Umgehungsabsicht“ festzustellen sei); BFH v. 19. 8. 2003 – VIII 8 R44/01, DStR 2004, 948, 950 („Missbrauchsabsicht“); BFH v. 18. 3. 2004 – III R 25/03, BStBl. 2004, 787 („Missbrauchsabsicht“ bei einvernehmlich geplant aufgespaltenen Gestaltungen). 139 BFH v. 31. 7. 1984 – IX R 3/79, BStBl. II 1985, 33 ff. („Ring-Darlehn“); BFH v. 28. 11. 1990 – X R 109/89, BStBl. II 1991, 327 ff.; s. Schön, in: DStJG 33 (2010), S. 29 ff. 134

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für den Nachweis einer Steuerumgehung ab, sowie darauf, ob „lediglich formal ein Inhaberwechsel“ bezweckt wird140. Andere Entscheidungen des BFH gingen demgegenüber davon aus, dass § 42 AO a. F. nicht notwendigerweise ein subjektives Element enthalte141. Es fällt auf, dass diese Uneinheitlichkeit auf die inkongruenten Ansichten der Senate zurückzuführen ist: Der 1., 3. und 9. Senat stellen auf subjektive Kriterien ab, während der 5. jedoch auf sie verzichtete142. Sofern der BFH eine Missbrauchsabsicht verlangte, genügt es, wenn objektive Tatsachen diese indizieren143. Nach der Neufassung des § 42 AO ist jedenfalls nach Abs. 2 S. 2 die Würdigung außersteuerlicher Gründe als subjektives Merkmal in der Missbrauchsprüfung ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben, sodass der Verzicht auf die Berücksichtigung subjektiver Kriterien in Zukunft contra legem wäre144. 4. Folgerungen Im Steuerrecht bedarf es zu einer wirksamen Missbrauchsverhinderung der Berücksichtigung subjektiver Kriterien des Gestalters, da diese entscheidenden Aufschluss über den tatsächlichen Gehalt einer Steuergestaltung und somit über deren Schutzwürdigkeit liefern. Die Innentheorie vermag es nicht, das Erfordernis subjektiver Kriterien aus dem Telos der potenziell umgangenen Norm abzuleiten. Im Gegenteil wird von Vertretern der Innentheorie die legitimierende Relevanz außersteuerlicher Gründe per se in Frage gestellt: „Dem Steuerpflichtigen wird es letztlich gestattet, die Normativität des Steuergesetzes auszuhebeln, wenn ihm nur hinreichend triftige außersteuerliche Gründe für seine Gestaltung einfallen. Es hängt dann wesentlich vom Ideenreichtum des Steuerpflichtigen ab, ob er sich durch außersteuerliche Gründe vom Vorwurf des Missbrauchs salvieren kann.“145 Dem widerspricht nunmehr der deutsche Gesetzgeber durch die Reformierung des allgemeinen Missbrauchsverbots in § 42 AO explizit, da eine Berücksichtigung wirtschaftlicher Gründe des Steuerpflichtigen verbindlich vorgeschrieben wird. Dennoch wird auch weiterhin von Vertretern der Innentheorie geltend gemacht, § 42 AO verlange keine über die im Wege der Auslegung der Steuernorm gefundenen Voraussetzungen, insbesondere sei es nicht notwendig, die außersteuerlichen Motive des

140

BFH v. 08. 03. 2017 – IX R 5/16, BFHE 257, 211 (216 f.). Vgl. BFH v. 1. 6. 1989 – V R 74/87, BFH/NV 1990, 131; BFH v. 23. 2. 1989 – V B 60/88, BFHE 155, 503; vgl. auch Niemann, Der allgemeine Missbrauchsvorbehalt nach der Rechtsprechung des EuGH und seine Auswirkung auf die Anwendung des § 42 AO, S. 311. 142 Hey, StuW 2008, 167 (170). 143 BFH v. 5. 3. 1986 – I R 201/82, BFHE 146; BFH v. 5. 2. 1992 – I R 127/90, BStBl. 1992, 532; BFH v. 10. 9. 1992 – V R 104/91, BFHE 169; BFH v. 19. 8. 2003 – VIII 8 R44/01, DStR 2004, 948, 950; BFH v. 18. 3. 2004 – III R 25/03, BStBl. 2004, 787. 144 Vgl. Drüen, Tipke/Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 34 f. 145 P. Fischer, FR 2001, 1212; s. auch dens., in: Festschrift Reiss, S. 621 (631). 141

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Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, ohne jedoch auf den insoweit klaren gegenteiligen Wortlaut in Abs. 2 S. 2 einzugehen146. Die Frage, in welcher Form subjektive Kriterien für eine wirksame Missbrauchsverhinderung zu berücksichtigen sind – ob als Exkulpationsmöglichkeit durch das Vorbringen außersteuerlicher Gründe (wie nach § 42 AO) oder etwa als missbrauchsindizierender Abwägungsposten –, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Für eine rationale Missbrauchsverhinderung ist die klare Definition dieser subjektiven Missbrauchskomponente von grundlegender Bedeutung. Dies zeigt sich besonders bei einem Motivbündel, wenn also neben den steuerlichen Motiven weitere Ziele für die Gestaltung ausschlaggebend waren. Hier vermag weder die objektive Theorie noch die Innentheorie eine rationale Lösung aufzuzeigen: Werden bei einer steuerlich relevanten Gestaltung neben mehreren unternehmerischen Zwecken (wie etwa die Effizienzsteigerung in der Produktion, Vertrieb oder Verwaltung) auch die Steuerersparnis beabsichtigt, ist nicht ersichtlich, wie die potenziell umgangene Steuernorm „aus eigener Kraft“ zwischen legitimen und missbräuchlichen Gestaltungen abgrenzen kann. Entscheidend ist vielmehr das Verhältnis der verschiedenen Motive zueinander. Der relevante Maßstab muss dabei für eine vorhersehbare und rationale Missbrauchsverhinderung von der Judikative oder Legislative verbindlich aufgezeigt werden.

VII. Die Berücksichtigung des Subjektiven als notwendiges Kriterium einer wirksamen Missbrauchsverhinderung 1. Das Verhältnis des Normtelos zu subjektiven Kriterien und vermeintliche Nichtberücksichtigung des Subjektiven nach objektiven Theorien Zuzustimmen ist der objektiven Theorie insoweit, als die Bestimmung einer Gesetzesumgehung bzw. eines Rechtsmissbrauchs zunächst von der Subsumtion unter die objektiven Tatbestandsmerkmale ausgehen muss und dabei Sinn und Zweck des jeweiligen Gesetzes zu beachten sind. Jedoch sind die Vertreter der objektiven Theorie oftmals nicht konsequent, indem sie zwar die Notwendigkeit einer Umgehungsabsicht abstreiten, untergründig jedoch auf subjektive Komponenten – ein gewisses Bewusstseinsmoment – in ihrer Argumentation abstellen147. So beschreibt Huber die Gesetzesumgehung als Handlung, die zwar nicht mehr unter den Wortlaut einer Norm fällt, „der Zweck der Norm würde allerdings ihre Anwendung auf die Handlung rechtfertigen; der Handelnde hat sein Verhalten bewußt gerade so eingerichtet, daß es vom Tatbestand der Norm nicht erfaßt wird, weil die Norm ihm nachteilig ist; er sucht also, die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut und dem Zweck 146 Vgl. Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 37 ff., 185, 315. 147 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (170).

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der Norm zu seinem Vorteil auszunutzen („Normvermeidung“)“148. Der innere Widerspruch zum erklärten Anliegen eines rein objektiven Umgehungsverständnisses „dürfe in der Diskrepanz zwischen dem Anschauungsmaterial, das die Umgehungspraxis bietet einerseits und dem selbstgestellten Anspruch an die Theoriebildung andererseits zurückzuführen sein. Wer mit ihrer Beurteilung befasst ist, hat Fälle absichtlicher Umgehung vor Augen.“149 Gestaltungen, die die Frage nach dem Vorliegen einer Gesetzesumgehung aufwerfen, „werden regelmäßig nicht zufällig, sondern bewußt zum Zwecke der Normvermeidung gewählt“150. Wie selbst Teichmann ausführt, suchten die Parteien nach einer Lösung, durch die die von der Norm gesetzten Schranken trotz wirtschaftlich identischen Ergebnisses vermieden werden sollen151. Dieses ,Suchen‘ und ,Auswählen‘ möglicher Handlungsalternativen kann nur aufgrund subjektiver Überlegungen erfolgen. Auch der BGH berücksichtigt bei der Bewertung den Zweck der gewählten Konstruktion, die Rechtsfolge der Unwirksamkeit zu verhindern152. Daher spielen auch nach diesen vermeintlich objektiven Ansätzen subjektive Momente durchaus eine erhebliche Rolle, wenn berücksichtigt wird, dass die Parteien, bevor sie ihre Gestaltung umsetzen, von vorneherein planen, den von der betroffenen Norm sanktionierten Erfolg zu erzielen und dementsprechend den Sachverhalt gestalten153. Auch räumt Teichmann ein, dass mit Hilfe der Analogie nicht alle Gesetzeslücken geschlossen werden können, da Gestaltungen denkbar seien, die weder dem Sinnbereich noch dem Ähnlichkeitsbereich der Norm unterfallen154. Fällt ein Sachverhalt nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich einer Norm oder besteht keine Gesetzeslücke, die durch Analogie geschlossen werden kann, so soll das betroffene Rechtsgeschäft ohne Beschränkung zulässig sein155. Die objektive Theorie stößt daher hinsichtlich ihrer Kraft zur Normbehauptung an ihre Grenzen, wenn Sachverhalte zwar subjektiv nachweisbar missbräuchlich gestaltet werden, diese jedoch nach Auslegung oder Analogieschluss nicht mehr der entsprechenden Norm untergeordnet werden können. Eine rein objektive Normanwendung würde ferner zwangsläufig auch Fälle erfassen, „in denen gar nicht geplant war, den von der Norm sanktionierten Erfolg auf einem konstruktiven Umweg zu verwirklichen“156. 148

Huber, JurA 1970, 784 (797) (Hervorhebung durch den Verfasser). Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (170). 150 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (170). 151 Teichmann fasst diesen Vorgang, in: Festschrift Bartholomeyczik, S. 377 (386), folgendermaßen zusammen: „Stößt für die Parteien ein bestimmter Plan auf gesetzliche Schwierigkeiten, so wird man nach einer wirtschaftlich in gleicher Weise brauchbaren Lösung suchen, die jedoch die durch die Norm gesetzten Schranken vermeidet“. 152 BGH v. 9. 2. 1990 – V ZR 274/88, BGHZ 110, 230 (234). 153 So auch Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (169 ff.). 154 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 89. 155 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 106. 156 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (170). 149

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2. Die Bedeutung subjektiver Kriterien für eine rationale Missbrauchsmethodik Wenn Teichmann Sachverhalte in den Fokus stellt, die von den Parteien „gleich gewollt sind“, wird gerade die Problematik nicht zur Kenntnis genommen, bei der zwar objektiv formal betrachtet zwei gleiche Vorgänge vorliegen, diese jedoch auf unterschiedlichen Intentionen beruhen und deswegen gerade keine gleichen Konstellationen vorliegen, die wegen ihrer ,formalen Gleichheit‘ identisch zu behandeln wären. Wenn subjektive Momente keine Rolle spielen sollen, so ist auch nicht nachzuvollziehen, dass Teichmann dem widersprechend ausführt, ein Missbrauch, „das ergibt sich aus dem Wesen dieses Rechtsinstituts, kann ausgeschlossen sein, wenn beachtliche Beweggründe zu dem Verhalten der Parteien Anlaß gaben“157. Wenn es auf subjektive Absichten grundsätzlich nicht ankommt, kann es keine Rolle spielen, ob (1) überhaupt Beweggründe vorliegen und (2) diese beachtlich oder unbeachtlich sind. Die Zivilrechtsordnung knüpft in vielen Fällen bei rechtlichen Handlungen erhebliche Konsequenzen an die Motivationen und Vorstellungen der Beteiligten: Formal gleiche Verträge werden abhängig von den Motiven und der Kenntnis der Parteien unterschiedlich bewertet, da diese Motive und Kenntnisse Aufschluss über die Schutzwürdigkeit und Legitimation der Parteieninteressen gewähren158. Subjektive Kriterien erlangen bspw. Bedeutung: für die Willenserklärung159, in der Form individueller Vorstellungen einer Vertragspartei als Anfechtungsgrund wegen Irrtums oder arglistiger Täuschung nach §§ 119, 123 BGB160, als subjektive Merkmale bei Wucher nach § 138 Abs. 2 BGB161, für die Kenntnis eines Sachmangels nach 157

Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 95. So BGH NJW 1989, 2050; BGH NJW 2011, 2953 (2954); BGH NJW 2012, 2793 (2795) zur fehlenden Schutzwürdigkeit des Käufers bei Kenntnis des Sachmangels. 159 Grundl. Bartholomeyczik, in: Festschrift Ficker, S. 51; Eisenhardt, JZ 1986, 875; Schmidt-Salzer, JR 1969, 281. Überblick über die Bedeutung des Rechtsbindungswillen bei Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, Vor. § 116 Rn. 23 (Willenserklärung ist nur dann „fehlerfrei“, wenn der Erklärende Rechtsbindungswillen und -bewusstsein hat). Zur Notwendigkeit des Erklärungsbewusstseins BGHZ 109, 171 (177); BGH NJW 1995, 953. Überblick zur Diskussion der Folge mangelnden Erklärungsbewusstseins und Rechtsscheinfällen im Kontext der Stellvertretung Canaris, Vertrauenshaftung, S. 457 ff. 160 Während bei § 119 BGB die unbewusste Nichtübereinstimmung von Wille und Erklärung Anknüpfungspunkt der Anfechtung ist (Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, § 119 Rn. 1) wird durch § 123 Abs. 1 BGB die rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung geschützt (Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, § 123 Rn. 1). Eine Täuschung setzt dabei das vorsätzliche Erwecken eines Irrtums voraus, BGH NJW 2007, 3057 (3059); Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, § 123 Rn. 13. 161 Siehe zur uneinheitlichen BGH-Judikatur zu den subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, § 138 Rn. 129 ff. Eindeutig hingegen die subjektive Komponente des Wuchers nach Abs. 2 („Ausbeutung“), die als bewusste Ausnutzung der Situation zwar keine Absicht, jedoch Kenntnis der Umstände und der Verwerflichkeit verlangt, RGZ 60, 9 (11); RGZ 86, 296 (300); 158

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§ 442 BGB162, für die Kenntnis eines Mangels der Mietsache nach § 536b BGB163, für die Kenntnis der Nichtschuld nach § 814 BGB164, für die verschärfte Haftung bei Kenntnis nach § 819 Abs. 1 BGB165, für die vorsätzliche sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB166, für das Parteiinteresse im Gestionsrecht167 und den gutgläubigen Erwerb nach den §§ 932 ff. BGB168. In all diesen Fällen ordnet der Gesetzgeber bei ,objektiv‘ gleichem Sachverhalt unterschiedliche Rechtsfolgen an, abhängig davon, welche Intentionen und Kenntnisse die Parteien haben. Es ist also nicht richtig, dass Normbehauptung immer unabhängig von subjektiven Motiven und losgelöst von einem ,persönlichen Vorwurf‘169 stattfindet. Es werden in den genannten Gesetzesbeispielen bei objektiv gleicher Sachlage völlig konträre Rechtsfolgen angeordnet, die von einem subjektiven Kriterium (Kenntnis/Täuschung/Bösgläubigkeit) abhängen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass auch der Gesetzgeber mit der Normierung der „Lehre von der verdeckten Sacheinlage“ in § 27 Abs. 3 S. 1 AktG zwar keine Umgehungsabsicht fordert, neben dem objektiven Erfordernis (bei wirtschaftlicher Betrachtung entspricht die Bareinlage einer Sacheinlage) jedoch auch als „subjektives Merkmal“170 die vorherige Abrede der Beteiligten verlangt, dass die Bareinlage wirtschaftlich betrachtet im Ergebnis in anderer Form als Geldleistung

BGH NJW 1982, 2767 (2768); BGH NJW 1985, 3006 (3007); Armbrüster, Münchener Kommentar zum BGB7, § 138 Rn. 154. 162 Die Kenntnis des Käufers lässt seine Schutzwürdigkeit entfallen, vgl. BGH NJW 1989, 2050; BGH NJW 2011, 2953 (2954); BGH NJW 2012, 2793 (2795); Westermann, Münchener Kommentar zum BGB7, § 123 Rn. 4. 163 S. dazu Häublein, Münchener Kommentar zum BGB6, § 536b Rn. 4 ff. 164 Erforderlich ist positive Kenntnis der fehlenden Leistungsverpflichtung, BGH NJW 1969, 1165 (1167); BGH NJW 1978, 2392 (2393); BGHZ 113, 62 (70); Schwab, Münchener Kommentar zum BGB6, § 814 Rn. 12; Stadler, Jauernig Kommentar zum BGB16, § 814 Rn. 3. 165 § 819 Abs. 1 BGB verlangt positive Kenntnis der Tatumstände und grundsätzlich die richtige rechtliche Würdigung der Rechtslage, BGHZ 118, 383 (392); BGH NJW 1998, 2433 (2434); Stadler, Jauernig Kommentar zum BGB16, § 819 Rn. 3; Schwab, Münchener Kommentar zum BGB6, § 819 Rn. 2 ff. 166 Es bedarf zwar keiner Kenntnis der Sittenwidrigkeit, jedoch eines Bewusstseins der Tatsachen, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt, BGH NJW 2005, 2991 (2992); Teichmann, in: Jauernig Kommentar zum BGB16, § 826 Rn. 5; Wagner, Münchener Kommentar zum BGB6, § 826 Rn. 24. 167 Zum Streit, ob es beim fremden Geschäft der Geschäftsführung ohne Auftrag auf die objektive Zuständigkeit (so Wollschläger, Die Geschäftsführung ohne Auftrag, S. 52 ff.) oder die subjektiv gewollte Fremdnützigkeit (so Wittmann, Begriff und Funktion der Geschäftsführung ohne Auftrag, S. 72 ff.) ankommt, statt vieler Florstedt, Recht als Symmetrie, S. 109 ff. und ders., FR 2016, 1 (6). 168 S. dazu Oechsler, Münchener Kommentar zum BGB6, § 932 Rn. 38. 169 Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 69, 73. 170 So explizit Bayer, in: K. Schmidt/Lutter, AktG3, § 27 Rn. 63.

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erbracht werden kann oder soll171. Das subjektive Element eines Missbrauchs besteht also nicht zwangsläufig in einem Umgehungsvorsatz, sondern kann an die subjektiv verfolgten Ziele der Beteiligten anknüpfen. Gerade die unterschiedlichen mit einer Gestaltung verfolgten Ziele rechtfertigen unter Beachtung des Gleichheitssatzes – da formal gleiche Sachverhalte bei verschiedener Motivlage gerade nicht gleich sind – beide Konstellationen unterschiedlich zu behandeln, je nach dem, ob die Voraussetzungen geschaffen wurden, um einen vorgesehenen Vorteil einer Norm in unzulässiger Weise zu erreichen, oder eine Gestaltung auf legitimen Beweggründen beruht und deshalb der vorgesehene Vorteil zu gewähren ist. Eine Gesetzesumgehung darf nicht allein von der Absicht abhängig gemacht werden, eine bestimmte Regelung zu umgehen, da nicht Umgehungsabsicht oder die Rechtskenntnis, sondern die missbilligte Intention bei der Gestaltung Anknüpfungspunkt des subjektiven Missbrauchsvorwurfes ist172. Zuzustimmen ist Teichmann deshalb insoweit, als es für die Bewertung einer möglichen Gesetzesumgehung grundsätzlich nicht auf die Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Gestaltung ankommen sollte, da hierdurch der Rechtskundige im Ergebnis gegenüber einem nicht Rechtskundigen benachteiligt wird. Sofern jedoch eine Umgehungsabsicht vorliegt, sollte diese bei der Würdigung nicht von vorneherein unberücksichtigt bleiben, sondern in der Abwägung der Legitimität berücksichtigt werden. In Fällen des Rechtsmissbrauchs ist es häufig nicht das Primärziel oder die tragende Absicht, ein bestimmtes Gesetz zu umgehen, sondern angestrebt wird ein bestimmter rechtlicher oder wirtschaftlicher Erfolg. Gleichwohl kann für eine richtige Würdigung des Sachverhalts auf die Berücksichtigung subjektiver Kriterien nicht grundsätzlich verzichtet werden. Anknüpfungspunkt eines Missbrauchsvorwurfes ist die Intention, durch gezielte, missbräuchliche Sachverhaltsgestaltung in den Genuss der positiven Rechtsfolge einer vorteilhaften Rechtsnorm zu gelangen oder eine negative Rechtsfolge vermeiden zu wollen. Das subjektive Element sollte sich also auf die Erlangung eines eigentlich nicht zustehenden Vorteils bzw. auf die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung richten und nicht nur auf eine bewusste Umgehung bzw. auf eine Art ,Vorsatz‘ hinsichtlich des objektiven Umgehungs- bzw. Missbrauchstatbestands. 171 Zwar verlangt die Lehre der verdeckten Sacheinlage nach überwiegender Meinung in subjektiver Hinsicht keine Umgehungsabsicht, wie sie noch in RGZ 152, 292 (300 f.) gefordert wurde, vgl. BGHZ 110, 47, 63; Pentz, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz3, § 27 Rn. 94. Es wird jedoch nicht gänzlich auf subjektive Voraussetzungen verzichtet, da für eine Umgehung auf die übereinstimmenden Absichten der Parteien abgestellt wird, durch das mehraktige Vorgehen den wirtschaftlichen Erfolg einer Sacheinlage herbeiführen zu wollen, s. BGHZ 132, 133 (139 f. und 2. LS); Henze, ZHR 154 (1990), 105 (114); Ulmer, ZHR 154 (1990), 128 (142) und Pentz, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz4, § 27 Rn. 98 f. Zu den Voraussetzungen des nun normierten Rechts Bayer, in: K. Schmidt/Lutter, AktG3, § 27 Rn. 59 ff. (explizit: „Die Abgrenzung kann daher nur unter Einbeziehung eines subjektiven Merkmals erfolgen.“ Rn. 63); Benz, spricht in diesem Kontext vom „Erfordernis eines subjektiven Elements“, in: Spindler/Stilz, Aktiengesetz3, § 27 Rn. 166. 172 So wohl auch Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (171 f.).

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Aufschlussreich scheint auch ein vergleichender Seitenblick auf Parallelen im Strafrecht. Hier entscheidet das subjektive Element zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatztaten mit erheblichen Auswirkungen auf den Strafrahmen173. Verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Ungleichbehandlung objektiv identischer Sachverhalte sind hier wegen der unterschiedlichen subjektiven Vorstellungen der Beteiligten nicht gegeben. In diesem Kontext sei auch auf die (umstrittene) Actio Libera in Causa hingewiesen, nach der eine Strafnorm wegen des planmäßigen subjektiv intendierten Vorgehens des Täters trotz formal gegebener Schuldunfähigkeit angewendet werden kann174. Obwohl diese strafrechtlichen Überlegungen nicht direkt auf die zivilrechtliche und steuerrechtliche Wertung übertragen werden können, bieten sie doch Erkenntnisse, die auch im Zivil- und Steuerrecht berücksichtigt werden sollten. In diesem Sinne wäre die Beachtung einer mit negativen Rechtsfolgen verbundenen subjektiven Komponente im Sinne des Strebens nach einem zweckwidrigen Vorteil nicht nur als zusätzliche Voraussetzung eines Missbrauchs zu verstehen – wie sie die klassische subjektive Theorie vorsieht –, sondern eine in der Gesamtbewertung zu berücksichtigende missbrauchsindizierende Komponente, die als Abwägungsposten dient. Im Steuerrecht wird die Bedeutung subjektiver Beweggründe u. a. durch § 41 AO verdeutlicht, nach dem für die Besteuerung „steuerrechtlich der wirkliche Wille maßgeblich ist“, der sich in einem wirtschaftlichen Ergebnis manifestiert175. Wird durch ein Scheingeschäft ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt, so ist das verdeckte – also das von den Parteien gewollte – Rechtsgeschäft für die Besteuerung maßgebend. Auch im Rahmen der wirtschaftlichen Zurechnung nach § 39 AO kommt es darauf an, was die Beteiligten wirtschaftlich gewollt haben176. Besonders im Steuerrecht ist also nicht lediglich auf den objektiven Sachverhalt abzustellen, sondern es ist zusätzlich der wirkliche Wille der Beteiligten zu ermitteln und bei der Bewertung zu berücksichtigen, da diese subjektiven Kriterien zu einer vorhersehbaren Würdigung des Sachverhalts beitragen. 3. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung subjektiver Kriterien Eine Aufgabenzuteilung an den Richter, missbräuchliches Verhalten nur auf der Grundlage des Gesetzeszweckes ohne Berücksichtigung subjektiver Erwägungen der Beteiligten zu bewerten, führt oft nicht zu einer dem Gesetzgeberwillen ent173

Die höhere Strafbewehrung vorsätzlicher Delikte wird überwiegend aus der bewussten Entscheidung des Täters gesehen, sich gegen das jeweils geschützte Rechtsgut zu wenden, Joecks, Münchener Kommentar zum StGB2, § 16 Rn. 11; Sternberg-Lieben/Schuster, Schönke/ Schröder StGB, § 15 Rn. 7. 174 Perron/Weißer, Schönke/Schröder StGB, § 20 Rn. 33 ff. (zum „Doppelvorsatz“ Rn. 36 f.); Streng, Münchener Kommentar zum StGB2, § 20 Rn. 114 ff. („Vorsatz bezüglich des ganzen Geschehens“ Rn. 141). 175 Offerhaus, FR 2011, 878 (880). 176 Drüen, Tipke/Kruse, § 39 Rn. 24a.

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sprechenden Normanwendung. Dies hat sich vor allem bei der Anwendung des § 42 AO a.F. gezeigt, bei dem die restriktive Anwendung der vormaligen Generalnorm nicht immer zu einer vom Gesetzgeber gewollten und normativ formulierten Steuerpolitik und zufriedenstellenden Abwehr der Steuerumgehung geführt hat177. Das BVerfG hat die Finanzgerichte deswegen in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der erbschaftsteuerlichen Betriebsvermögensverschonung an ihre Aufgabe zur Bekämpfung der Steuerumgehung erinnert: „Steuergesetze, die entgegen ihrer Zwecksetzung steuermindernde Gestaltungen in erheblichem Umfang zulassen, können von Anfang an verfassungswidrig sein. Lässt ein Steuergesetz Gestaltungen durch den Steuerpflichtigen zu, die zu Steuerminderbelastungen führen, wie sie vom Gesetzgeber erkennbar nicht bezweckt und gleichheitsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, erweist es sich insoweit als von Anfang an verfassungswidrig. Gerade im Steuerrecht ist das Bestreben verbreitet und im Grundsatz auch hinzunehmen, die eigenen Rechtsverhältnisse im Rahmen der Privatautonomie so auszugestalten, dass Steuererleichterungen durch entsprechende Gestaltung der relevanten Tatbestandsmerkmale nach Möglichkeit in Anspruch genommen oder in entsprechender Weise Steuerbelastungen vermieden werden. Sofern solche Gestaltungen keinen Missbrauch i. S. v § 42 AO darstellen, sind sie zulässig und zu berücksichtigen. Sie können allerdings die Wirkung der jeweiligen gesetzlichen Regelung, die Anlass und Ziel dieser Gestaltung ist, in einer Weise einengen bei steuerbegründenden Normen oder ausdehnen bei Steuerbefreiungen, dass der Gesetzeszweck seine Tauglichkeit als Rechtfertigungsgrund einer Ungleichbehandlung verliert. Relevanz für die Gültigkeit einer Norm erlangen steuerliche Gestaltungen allerdings nur, wenn sie nicht ersichtlich auf den atypischen Einzelfall beschränkt sind; unerwünschte, wenn auch nicht rechtsmissbräuchliche Gestaltungen im Einzelfall berühren die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht. Ob der Gesetzgeber diese nach der Intention des Gesetzes unerwünschten Gestaltungen vorhersehen konnte, ist dabei unerheblich. Sofern sie durch die Fachgerichte nicht als missbräuchliche Gestaltung i. S. d. § 42 AO sanktioniert werden, ist das Gesetz auch unter Berücksichtigung solcher Anwendungsmöglichkeiten Gegenstand verfassungsrechtlicher Überprüfung. Die Finanzgerichte sind allerdings bei der Auslegung und Anwendung des § 42 AO nach Möglichkeit gehalten, mit Hilfe dieser Bestimmung über den Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Steuerrecht solchen Gestaltungspraktiken entgegenzuwirken, die sonst zur Verfassungswidrigkeit einer Norm führen“178.

Probleme einer willkürfreien, dem Gesetzgeberwillen entsprechenden „objektiven“ Rechtsanwendung ergeben sich auch im steuerrechtlichen Kontext trotz der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG) zunächst aus einem 177 Vgl. Drüen, Tipke/Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 1. So bedauerte die damalige Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium der Finanzen Hendricks in einer Rede im Deutschen Bundestag, dass ihr „kein Fall aus dem Unternehmenssteuerrecht bekannt [ist], in dem unser oberstes Finanzgericht diese Vorschrift zur Anwendung gebracht hätte“ BT-Protokoll 16/63, 6209 (D). S. auch Hüttemann, DStR 2015, 1146. Nach Wienbracke zeuge die Neufassung des § 42 AO von einem „grundlegenden Vertrauensverlust“ in die finanzrichterliche Rechtsprechung im Kontext der Steuerumgehung, DB 2008, 664 (666). 178 BVerfG v. 17. 12. 2014 – 1 BvL 21/12, BStBl II 2015, 50 Rn. 254 f. (Hervorhebung durch den Verfasser).

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nur schwer objektivierbaren Gesetzgeberwillen und daneben aus dem Wandel von Funktion und Sinn einer Norm. Auch die ,objektive‘ Auslegung findet stets vor dem Hintergrund der „sozialen, politisch und weltanschaulich fundierten Wertgrundlage der Gesamtrechtsordnung“ statt179. Ein vermeintlich objektiver Gesetzgeberwille ist deshalb häufig nur schwer eindeutig zu bestimmen und kann im Laufe der Zeit einer Entwicklung unterliegen. Wie das BVerfG bestätigt, kann die Auslegung einer Norm und die damit einhergehende Feststellung von Sinn und Zweck nicht auf dem zum Entstehungszeitpunkt gegebenen Stand stehenbleiben180. Die Bedeutung eines Gesetzes ist vielmehr stets im Umfeld der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftspolitischen Anschauungen zu betrachten, weshalb sich mit deren Wandel auch der Norminhalt ändern kann181. Der Rechtsanwender kann sich also bei der späteren Telosermittlung von den ursprünglich vom Gesetzgeber verfolgten Normzwecken lösen. Dies kann sich ändernden Wertmaßstäben und Gerechtigkeitsbildern geschuldet sein182. Im Rechtsfindungsprozess bei der Ermittlung des vermeintlich ,objektiven‘ Gesetzeszwecks können dabei eigene subjektive Wertungen mit einbezogen werden183. Als Folge werden häufig vom Rechtsanwender – bewusst oder unbewusst – subjektive Wertungen, bisweilen sogar „subjektive Normsetzungsakte“, als angeblicher „objektiver ,Wille des Gesetzes‘“ angeführt184. Diese tatsächlichen und rechtlichen Fehlerquellen können sich auch in Missbrauchskonstellationen auf die teleologische Interpretation auswirken und zu entsprechender Rechtsunsicherheit führen. Die objektive Theorie, bei der die Freiheit des Richters zur Normanwendung als Garant der Normbehauptung angesehen wird, der – wie Heck formulierte – in „denkendem Gehorsam“ dem tatsächlichen Willen des Gesetzgebers zur Anwendung verhelfen soll185, führt im Ergebnis ohne Berücksichtigung der subjektiven Absichten des Gestalters zu einer zweifelhaften Stärkung der Judikative, die – je nach Zeitgeist – Umgehungsfällen mit Auslegung und Analogiebildung unter Zugrundelegung der gerade herrschenden Norminterpretation begegnet186. Anstatt subjektive Umstände des Einzelfalls als Erkenntnisquelle bei der Rechtsanwendung nach „Recht und Gesetz“ mit zu berücksichtigen, beschränkt sich eine rein ,objektive‘ 179

Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 434 ff. (Zitat S. 437). BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287). 181 BVerfG v. 14. 02. 1973 – 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 (287). 182 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 520. 183 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1327. 184 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 519. 185 Heck, AcP 112 (1914), 1, 19 ff., 50 ff. (Zitat 50). Es sei Aufgabe des Richters, dem Gesetzeswillen zur Anwendung zu verhelfen und dabei „nicht nur die Blankette auszufüllen, sondern auch die vorhandenen Gebote interessengemäß zu ergänzen und eventuell zu berichtigen“ (22); vgl. zur Aufgabe des Richters auch Teichmann, Die Gesetzesumgehung, S. 18 und dens. JZ 2003, 761 (766). 186 S. die zutreffende Kritik bei Florstedt, ZBB 2013, 81 (88). 180

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Rechtsanwendung zu Unrecht wegen der vermeintlichen Gefahr einer Gesinnungsjurisprudenz auf teleologische Interpretation, die keineswegs frei von subjektiven Wertungseinflüssen ist. Bei Missbrauchskonstellationen kann demgegenüber die Berücksichtigung der bei einer Gestaltung vorhandenen Motive einen Beitrag zu einer rationalen Normanwendung leisten, die dem Gesetzgeberwillen entspricht. Gerade in Grenzfällen zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen birgt eine solche Feststellung der Missbräuchlichkeit durch ,freie‘ teleologische Würdigung durch den Richter erhebliche Risiken für die Planungssicherheit der Beteiligten, wenn im Voraus nicht klar ersichtlich ist, wie die Judikative einen konkreten Fall normativ bewerten wird. Die konkrete Norminterpretation unterliegt dabei für gewöhnlich dem persönlichen Gerechtigkeitsverständnis des jeweiligen Normanwenders, wie von Sir Schiemann – ehem. Richter am EuGH – beschrieben: „It is common for an experienced judge to look at a set of papers, to understand the broad nature of the dispute before him, to have an intuitive reaction as to how it should be resolved and yet initially to be unclear in his own mind as to the best legal path which enables him to arrive at the conclusion which seems to him to be appropriate.“187 Eine derart zielgerichtete, freie Norminterpretation ohne vorgegebenes Prüfungsmuster gefährdet im Grenzbereich zwischen legaler Sachverhaltsgestaltung und Missbrauch die Planungssicherheit und Gleichbehandlung, wenn identische Sachverhalte von verschiedenen Richtern aufgrund divergierender Gerechtigkeitsvorstellungen und unterschiedlicher teleologischer Interpretation nicht einheitlich bewertet werden188. Die objektive Theorie vermag insbesondere nicht zu erklären, weshalb bei einem Missbrauch im steuerrechtlichen Kontext nach nunmehr expliziter Anordnung des Gesetzgebers (§ 42 AO Abs. 2 S. 2) Motive des Gestalters verbindlich zu berücksichtigen sind, subjektive Kriterien bei Missbräuchen im übrigen Rechtssystem jedoch nicht berücksichtigt werden sollen. Eine solche Zersplitterung der Missbrauchsbehandlung in den verschiedenen Rechtsgebieten erschwert eine rationale und vorhersehbare Missbrauchsbehandlung und verstärkt die Heterogenität in der deutschen Missbrauchsdogmatik.

187

S. viii.

Sir Schiemann, in: Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market,

188 Sir Schiemann weist in Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. viii darüber hinaus darauf hin, dass selbst bei gleichen Gerechtigkeitsvorstellungen verschiedene dogmatische Begründungsmodelle angeführt werden: „Different judges, whose instincts as to the just result are the same, will employ analyses which differ from another. Some simply forego any profound analysis.“ S. zur Gefahr zweckgeleiteter teleologischer Interpretation auch Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, passim.; dern., StuW 2007, 314 (316 f.).

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VIII. Folgerungen Die Erfüllung des Geltungsanspruchs, der einem normativen Sollen immanent ist, kann auf verschiedenen methodischen Wegen erreicht werden, wie an den deutschen Methoden der Normbehauptung ersichtlich wird. Unterschiede ergeben sich bei den für die Normbehauptung zu berücksichtigenden Kriterien, die bei der Würdigung eines Sachverhalts herangezogen werden sollen. Nach objektiven Ansichten sollen subjektive Kriterien generell nicht berücksichtigt werden, sie sind dabei jedoch häufig nicht konsequent, da untergründig subjektive Momente bei der Bewertung mit einfließen. Dahingegen beschränken sich subjektive Ansichten oft auf das Erfordernis einer Umgehungsabsicht, obwohl subjektive Kriterien auch in anderer Form vorliegen können. Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien zur Missbrauchsfeststellung ist nicht nur als Legitimation für die Entziehung des formalrechtlich vorgesehenen Vorteils geboten. Das Abstellen auf die Intentionen der Beteiligten kann vielmehr ein geeignetes Mittel zur gerechten Feststellung eines Missbrauchs sein, indem legitime und missbräuchliche Erwägungen für eine Sachverhaltsgestaltung miteinander verglichen und abgewogen werden. Eine solche Würdigung wirkt sich auch positiv auf die Planungs- und Rechtssicherheit aus, wenn der Steuerplaner im Voraus bei möglicherweise nicht legitimen Gestaltungen seine steuerlichen und außersteuerlichen Beweggründe für eine Gestaltung gegeneinander abwägen kann. Dies zeigt sich vor allem bei einem Motivbündel des Gestalters, wenn neben dem Steuervorteil auch weitere Ziele verfolgt werden. Unterschiede ergeben sich daneben aus der Perspektive der Würdigung: Entweder wird die Sachverhaltsgestaltung an dem umgangenen Gesetz oder an dem missbrauchten Gesetz gemessen. Insgesamt fällt dabei ein Fehlen klarer Prüfungsstrukturen und Abwägungsregelungen auf. Stattdessen wird gemeinhin für die Normbehauptung auf die ,freie‘ teleologische Auslegung und Rechtsfortbildung durch den Richter vertraut. Ein derartiges Vorgehen kann, wie es auch die Ausführungen des BVerfG deutlich machen, mitunter dazu führen, dass der Geltungsanspruch, der einem normativen Sollen immanent und vom Gesetzgeber angelegt ist, nicht erfüllt wird und es so zu Beeinträchtigungen der Gleichbehandlung und Planungssicherheit kommen kann. Es ist deswegen eine vorhersehbare, anhand konsensfähiger Bewertungskriterien erfolgende und kohärente Missbrauchsmethodik erforderlich, für die das unionsrechtliche Missbrauchsverbot klare Abwägungskriterien und Prüfungsstrukturen bereitstellen muss.

§ 2 Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England

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§ 2 Die Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England aus rechtsvergleichender Perspektive Die Heterogenität in der nationalen Missbrauchsmethodik mit ihren negativen Konsequenzen für eine rationale und vorhersehbare Missbrauchsbehandlung wird noch verstärkt, wenn neben dem in sich bereits disparaten Bild der deutschen Missbrauchsmethodik exemplarisch die Missbrauchsbehandlung in Frankreich und England betrachtet wird. Zwar weisen die dort berücksichtigten Kriterien wie Telos der umgangenen bzw. missbrauchten Norm Parallelen zum deutschen Verständnis auf. Insbesondere die Bedeutung subjektiver Kriterien und deren Maßstab unterscheiden sich jedoch von der vorherrschenden Auffassung in Deutschland und auch innerhalb der beiden als Vergleichsmaßstab dienenden Rechtsordnungen sind Details umstritten. Es soll bei der Untersuchung dieser Rechtsordnungen insbesondere die Möglichkeit extensiver bzw. reduzierender Rechtsanwendung über die Grenzen des Wortlauts hinweg aufgezeigt werden und untersucht werden, welche Rolle dabei subjektive Motive zur Erfassung von Missbräuchen spielen. Als Vergleichsmaßstab bieten sich Frankreich aufgrund der dortigen traditionell schwächeren Stellung des Richters und England als common law Rechtssystem mit besonderer Bedeutung der richterlichen Fallentscheidung an.

I. Die Missbrauchsmethodik nach französischem Verständnis 1. Die Rolle des Richters im System der französischen Gewaltenteilung Nach traditionellem Verständnis hat der Richter in Frankreich nicht die Funktion einer gleichberechtigten dritten Gewalt im System der Gewaltenteilung, sondern vielmehr nur die Aufgabe, als bouche de la loi (Mund des Gesetzes) das Gesetz anzuwenden, und er unterliegt dabei einer strengen Gesetzesbindung189. Als Folge des Umbruchs im französischen Rechtssystem in jüngerer Vergangenheit hat sich auch das Selbstverständnis der Judikative geändert. Das Unionsrecht und dessen Anwendungsvorrang führten zu einem funktionellen Wandel der Befugnisse des Richters gegenüber dem französischen Gesetzgeber: Der Richter ist nicht mehr auf die gerichtliche Anwendung des legislativen Gesetzes beschränkt, sondern er darf das Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht untersuchen und bei einer Kollision niederrangigeres Recht unangewendet lassen, was auch als „Be-

189

Babusiaux, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 24 Rn. 27.

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freiung des französischen Richters von der Unterwerfung des Jochs des (französischen) Gesetzes“ beschrieben wird190. 2. Die Auslegung des Gesetzes durch den Richter In Frankreich hat die Wortlautauslegung eine besonders wichtige Bedeutung. Die Rechtsanwendung folgt einem zweistufigen Modell: (1) Zunächst erfolgt eine Wortlautauslegung (interpretation grammaticale bzw. literale), ein eindeutiger Gesetzestext hat die direkte Anwendung zur Folge und es ist keine weitere Auslegung erforderlich191. Es darf nach dem Verständnis des ,acte clair‘ bzw. ,sens clair‘ nicht von einer eindeutigen Regelung abgewichen werden, wenn die Regelung nicht mit einer anderen Rechtsvorschrift von mindestens gleichem Rang kollidiert192. Als Konsequenz des argumentum e contrario folgt, dass der Anwendungsbereich einer gesetzlichen Regelung auch nicht auf eindeutig dem Wortlaut nicht unterfallende Konstellationen ausgeweitet werden darf193. (2) Ist der Wortlaut hingegen mehrdeutig, berücksichtigt die ,logische Interpretation‘ (interprétation logique) weitere Kriterien und forscht nach dem Willen des Gesetzgebers und geht auf die Historie, den Kontext und Ziele der Norm ein194. Eine darüber hinausgehende Interpretation des Richters sei keine Rechtsanwendung, sondern „,freie‘ Rechtsfindung des Richters“195. 3. Contra legem Rechtsanwendung und teleologische Reduktion Nach dem sens clair Verständnis darf ein eindeutiger Anwendungsbereich einer Rechtsvorschrift nicht durch den Rechtsanwender im Wege der Auslegung eingeschränkt oder erweitert werden. „Steuergesetze, deren Sinn klar und eindeutig ist, müssen dem Buchstaben getreu angewandt werden, und […] es ist nicht erlaubt, unter dem Vorwand der Interpretation Unterscheidungen in sie einzufügen, die sie nicht gemacht haben.“196 Dieses Reduktionsverbot gilt, mit einigen Ausnahmen im 190 Babusiaux, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 24 Rn. 8 f., 27 ff., 36 f.; s. auch Canivet, Droit et socie´te´ 1992, 133 (137 ff.). 191 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 248. 192 Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 57 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 249. 193 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 250. 194 Babusiaux, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 24 Rn. 5; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 234 ff. 195 Babusiaux, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 24 Rn. 5 ff. 196 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 254; s. auch Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 98 f.

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Zivilrecht, in allen Rechtsgebieten197. Mitunter nimmt die Rechtsprechung dennoch ausnahmsweise eine Extension des Anwendungsbereichs auf nicht dem Wortlaut unterfallende Konstellationen vor, wobei in diesen Fällen methodisch aus den veröffentlichen Entscheidungen häufig nicht ersichtlich ist, warum eine Ausdehnung der Regelung vorgenommen wird198. Insbesondere bei belastenden Regelungen darf jedoch zulasten des Betroffenen weder der Anwendungsbereich über den klaren Wortlaut hinaus ausgedehnt noch dieser reduziert werden199. 4. Fraude á la loi Charakteristisch für die französische Rechtsordnung ist ein allgemeines Konzept der Missbrauchsbekämpfung200. Um trotz der starken Wortlautbindung Missbräuchen wirksam begegnen zu können, steht dem Rechtsanwender in Frankreich das von Literatur und Rechtsprechung entwickelte Institut des fraude á la loi als Mittel zur Verfügung, missbräuchlichen Gestaltungen die gewünschte Rechtsfolge verwehren zu können. Nach französischem Verständnis wird nicht strikt zwischen Umgehung nachteilhafter Normen einerseits und Missbrauch vorteilhafter Normen andererseits unterschieden, sondern beide Erscheinungsformen werden einheitlich als fraude á la loi bezeichnet201. In Frankreich wird das Problem der Gesetzesumgehung (fraude à la loi) überwiegend nicht als Frage der Gesetzesinterpretation, sondern als eigenständiges Rechtsinstitut verstanden, „das den Achtungsanspruch der Rechtsordnung aufrechterhalten soll.“202 Es wird dann benötigt, wenn die Gestaltung nach den Auslegungsmethoden nicht mehr dem Anwendungsbereich der umgangenen Norm zugeordnet werden kann203. Für das Vorliegen des Rechtsinstituts des fraude á la loi muss es sich (1) um eine zwingende Vorschrift handeln, (2) es muss Umgehungsabsicht vorliegen und es muss (3) zur Umgehung ein wirksames Mittel genutzt

197 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 254 f.; vgl. auch Meder, Missverstehen und Verstehen: Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, S. 17 ff. 198 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 250 f.; vgl. auch Henninger, Europa¨ isches Privatrecht und Methode, S. 132, 138. 199 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 261. 200 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 39. 201 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 82. 202 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 257 (Zitat, Hervorhebung durch den Verfasser); s. auch Ripert, Georges: Le de´clin du droit: e´tudes sur la le´gislation contemporaine, S. 113; Ferid/Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht, Band 1/1 Rn. 1 F 657; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (388); Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 29; Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 80. 203 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 85.

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werden204. Nach der Konzeption steht dieses Verständnis der subjektiven Theorie deutscher Umgehungstradition sehr nahe. Umstritten ist hinsichtlich des Institutes des fraude á la loi, ob die subjektive Komponente ausschließlich auf die Umgehung gerichtet sein muss oder ob es ausreicht, wenn die Umgehung eines der Motive oder der überwiegende Beweggrund ist205. Das Erfordernis der Umgehungsabsicht wird mitunter aus der Stellung des Rechtsinstituts zwischen Moral und Recht abgeleitet, die die Rechtsordnung vor unlauterer Missachtung schützen soll206 : „La fraude est située au confluent de la morale et du droit“207. Die Notwendigkeit der subjektiven Komponente ist jedoch auch in Frankreich nicht unumstritten208. Durch das Institut des fraude á la loi soll die bezweckte vorteilhafte Rechtsfolge ausgeschlossen werden, wenn die Voraussetzungen durch ,Kunstgriffe‘ erreicht werden.209 Es wird jedoch kritisiert, dass die Kriterien des fraude á la loi im Einzelfall eine Differenzierung zwischen legaler Tatbestandsgestaltung und Gesetzesumgehung nur schwerlich ermöglichen und diese Methodik „bei Abgrenzungsfragen ins Schwimmen“ gerate210. Als Folge des fraude á la loi wird die geltend gemachte, vorteilsgewährende Rechtsnorm trotz Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen nicht angewendet, stattdessen gelangt die umgangene Norm zur Anwendung211. Im Code Civil sind daneben außerdem verschiedene spezielle Missbrauchsverbote vorgesehen, die bei Umgehungskonstellationen die Gewährung der formal vorgesehenen Rechtsfolge ausschließen212.

204 Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 735 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 257; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (388 f.); s. auch Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 29. 205 Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 375 (389); Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 81. 206 Vgl. von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 70; Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 738; Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 81. 207 Josserand, Les mobiles dans les actes juridiques du droit privé, S. 232; s. auch Boyer, Bibliothe`que de l‘e´cole des chartes. 1998, 13 (30). 208 Vgl. Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (388 f.); Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 736 f.; von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 74 f. 209 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 258; Schammo, 14 ELJ (2008), 351 (355); Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (389) („Tricks“); Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 739. 210 Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, S. 30; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (389 f., 392). 211 Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (391 f.); Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 747 ff. 212 S. etwa Art. 262 – 2, 911, 1167, 1353, 1432, vgl. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 258; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (388); Ghestin/Goubeaux, Traité de droit civil. Introduction générale, S. 747; Ferid/Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht, Band 1/1 Rn. 1 F 654.

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Daneben besteht die Figur des abus de droit, das die unzulässige Rechtsausübung unter Verletzung Rechte anderer zum Inhalt hat213. Der Übergang beider Institute ist fließend214. Da die Voraussetzungen des abus de droit im Einzelnen, insbesondere das Erfordernis einer subjektiven Komponente, sowohl in der Literatur als auch in der Judikatur stark umstritten sind, herrscht insoweit eine gewisse Rechtsunsicherheit215. Außerdem ist nicht geklärt, ob es sich bei einem abus de droit um eine Beschränkung der subjektiven Rechte des missbräuchlich Rechtsausübenden handelt oder das Institut einen eigenständigen außervertraglichen Haftungsgrund darstellt216. 5. Missbrauchsverhinderung im Steuerrecht Insbesondere im Steuerrecht muss bei einem klarem Gesetzeswortlaut eine buchstabengetreue Gesetzesanwendung erfolgen217. Nach dieser Methodik ist auch eine Analogie steuerbegründender oder steuerverschärfender Vorschriften zu Lasten des Steuerpflichtigen untersagt218. Um dennoch gegen Steuerumgehungen (évasion fiscale) vorgehen zu können, sind im französischen Rechtssystem normierte Missbrauchsverbote vorgesehen. Art. L 64 des Livre des Procédures Fiscales (LPF) ermächtigt die Finanzverwaltung unter dem Titel ,Procédure de l‘abus de droit fiscal‘ bei einem Missbrauch von Steuergesetzen missbräuchliche Konstruktionen des Steuerpflichtigen nicht zu berücksichtigen, wenn eine „fiktive oder betrügerische Gestaltung, die die wahre Tragweite des Geschäfts verschleiern soll“, vorliegt219. Indem der Conseil d’État den Anwendungsbereich der Vorgängervorschrift über den engen Anwendungsbereich von Scheingeschäften auf weitere Fälle der Steuerumgehung ausweitete, übertrug er das Institut des fraude á la loi auf das Steuerrecht, sodass dieses Konzept auf Umgehungsstrategien übertragen wurde, die nicht mehr von Art. L 64 a.F. umfasst wurden220. Selbst wenn keine betrügerische oder 213

Schammo, 14 ELJ (2008), 351 (355). Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (390); Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 50; Schammo, 14 ELJ (2008), 351 (355). 215 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 47; Schurig, in: Festschrift Ferid, S. 384 (388). 216 Vgl. Ferid/Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht, Band 1/1 Rn. 1 C 145. 217 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 267. 218 Cour de cassation v. 27. 10. 1975, Bull. Civ. III. Nr. 309, 234 („en particulier elle ne saurait être étendue par analogie“); Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 268; Lasry, Études et Documents Conseil D’Ètat 1955, 58 (66 f.). 219 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 270. 220 CE, Plén., v. 10. 6. 1981, Nr. 19079, RJF 9/81 Nr. 787; Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 40; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 270; Frommel, 43 Revue internationale de droit compare´ 214

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fiktive Gestaltung vorlag, sollte es sich nach Auffassung der Judikative um einen Missbrauch handeln, wenn ausschließliches Ziel der Gestaltung die Steuervermeidung oder -verringerung war und kein wirtschaftlicher Zweck verfolgt wurde221. Der französische Gesetzgeber reagierte auf diese Rechtsprechung und erweiterte den Anwendungsbereich der Missbrauchsvorschrift222. Die 2008 reformierte Norm definiert einen abus de droit im steuerrechtlichen Kontext und hat folgenden Wortlaut: „Afin d‘en restituer le véritable caractère, l‘administration est en droit d‘écarter, comme ne lui étant pas opposables, les actes constitutifs d‘un abus de droit, soit que ces actes ont un caractère fictif, soit que, recherchant le bénéfice d’une application littérale des textes ou de décisions à l’encontre des objectifs poursuivis par leurs auteurs, ils n’ont pu être inspirés par aucun autre motif que celui d’éluder ou d’atténuer les charges fiscales que l’intéressé, si ces actes n’avaient pas été passés ou réalisés, aurait normalement supportées eu égard à sa situation ou à ses activités réelles.“

Eine Besteuerung entsprechend der Substanz und nicht der zivilrechtlichen Form ist demnach möglich, (1) wenn die Transaktion einen ,künstlichen Charakter‘ (caractère fictif) hat oder (2) die Transaktion in Anbetracht der wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen ausschließlich beabsichtigt, das nachteilhafte Steuergesetz zu umgehen, und der Steuerpflichtige dazu die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut der Steuervorschrift und den Zielen des Gesetzgebers ausnutzt. Wodurch sich ein künstlicher Charakter auszeichnet oder wie sich dieser von der zweiten Variante unterscheidet, wird nicht näher spezifiziert. Der zweite Missbrauchstatbestand hat eine objektive Komponente – die Ausnutzung der Diskrepanz zwischen Telos und Wortlaut – und eine subjektive Komponente – das alleinige Motiv, die Steuerschuld zu minimieren223. Diese subjektive Komponente schränkt in ihrer konkreten Ausformung die Wirksamkeit zur Normbehauptung indes ein, da der Beweis des ausschließlichen Motivs des Steuerpflichtigen, die Steuerschuld zu reduzieren, nur schwerlich zu erbringen ist, da ein gut beratener Steuerpflichtiger beliebige Nebenmotive vorbringen kann. Liegen die Voraussetzungen des Art. L 64 LPF vor, können die Finanzbehörden die zivilrechtliche Gestaltung für die steuerliche Würdigung umqualifizieren224. Frankreich hat als Hochsteuerland außerdem verschiedene spezielle steuerrechtliche Missbrauchsvorschriften erlassen, um die Gewinnverlagerung in Länder

(1991), 585 (587 ff.); s. auch Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (86). 221 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 270; Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (87). 222 Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (87); Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 40. 223 Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (87); Schammo, European Law Journal 14 (2008), 351 (356). 224 Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 97.

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mit niedrigeren Körperschaftssteuersätzen zu verhindern225. Zum Gesamtkonzept gehören Generalnorm, Hinzurechnungsbesteuerung, Gesellschafter-Fremdfinanzierungs- und Verrechnungspreisregelungen226. 6. Folgerungen Traditionell ist der Richter in Frankreich nicht dazu befugt, Gesetze über die Grenzen des Wortlauts zu Lasten des Gestalters extensiv oder reduzierend anzuwenden. Die zur Missbrauchsverhinderung dienenden, allgemeinen Mittel der Normbehauptung, das Institut des fraude à la loi und die Missbrauchsklausel in Art. L 64 LPF, berücksichtigen nach vorherrschendem Verständnis sowohl den Telos des Gesetzes als auch die Motive des Handelnden. Die objektive Komponente, der Verstoß gegen die Ziele des Gesetzgebers durch Ausnutzung der Diskrepanz zum Wortlaut, kann im Voraus mitunter nur schwer eindeutig vorherzusagen sein, da keine strukturierten Abwägungsgebote vorgesehen sind. Dies kann sich negativ auf die Planungs- und Rechtssicherheit auswirken. In subjektiver Hinsicht ist es wie nach deutschem Verständnis nicht unumstritten, ob es nach der Konzeption des fraude á la loi einer subjektiven Komponente bedarf. Für den Missbrauch von Steuergesetzen hat der französische Gesetzgeber die verbindliche Berücksichtigung subjektiver Kriterien nunmehr explizit vorgeschrieben. Darüberhinaus sind sich Befürworter der subjektiven Komponente des fraude á la loi nicht einig, ob es für einen Missbrauch – wie nach Art. L 64 LPF – das alleinige Motiv des Gestalters sein muss, einen Steuervorteil zu erzielen bzw. das nachteilhafte Gesetz zu umgehen, oder ob ein überwiegendes Motiv der Steuerersparnis bereits missbrauchsbegründend ist. Diese Unklarheiten hinsichtlich des Erfordernisses der subjektiven Komponente des fraude á la loi erschweren eine rationale Missbrauchsverhinderung und tragen zu einer heterogenen Missbrauchsbehandlung – je nach Rechtsgebiet und Methodenverständnis – bei. Eine wirksame Missbrauchsverhinderung wird darüberhinaus durch das nach Art. L 64 LPF vorgesehene Erfordernis eines ausschließlichen unlauteren Motivs deutlich erschwert.

II. Die Missbrauchsmethodik nach englischem Verständnis Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland umfasst das englische, schottische und nordirische Rechtssystem mit jeweils eigenständigen

225

Überblick bei Zielke, RIW 2015, 415; s. auch Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/ Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (86). Frankreich hatte im Jahr 2016 mit einem kombinierten Steuersatz von 34.43 % den zweithöchsten Wert innerhalb der OECD, abrufbar unter http://stats.oecd.org. 226 Zielke, RIW 2015, 415 (422); Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 (86).

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Gerichtsorganen227. Aufgrund der dominierenden Rolle des englischen Rechts beschränkt sich die Analyse der Missbrauchsverhinderungsmethodik auf dieses Rechtssystem. Im Gegensatz zur kontinentalen Rechtstradition kodifizierter Rechtssysteme setzt sich das englische Recht als common law aus Fallrecht mit vertikaler Präjudizienbindung, durch die Gerichte grundsätzlich an Entscheidungen höherer Instanzen gebunden sind, und parlamentarischem Gesetzesrecht zusammen228. Eine vertikale Bindung an frühere Entscheidungen gleicher Instanzen ist zur Verhinderung von Rechts- und Planungsunsicherheit grundsätzlich verbindlich, Gerichte können jedoch ausnahmsweise von früheren Entscheidungen abweichen, was jedoch nur sehr selten geschieht229. 1. Fallrecht im Common Law Die Präjudizienbindung basiert stets auf real entschiedenen Fällen. Normativ verbindlich ist die ratio decidendi, also die von der Judikatur als maßgeblich erachteten Tatsachen und daraus gezogene rechtliche Schlussfolgerung, nicht hingegen dictum und obiter dictum230. Methodisch war lange Zeit umstritten, ob Gerichte im Common Law rechtsschöpferisch tätig werden oder lediglich bereits bestehendes Recht offenbaren und auf den Sachverhalt anwenden231. Nach der bis ins 18. Jahrhundert vorherrschenden Offenbarungstheorie setzten Richter kein neues Recht, sondern zeigten bereits im Volk existierendes Recht auf232. Als Folge des schneller werdenden sozialen Wandels und der darauf reagierenden Anpassung des Rechts stieß die Illusion eines unveränderlichen, im Volk existierenden Rechts auf Kritik, sodass heute weithin eine rechtsschöpferische Tätigkeit der Gerichte anerkannt ist233. 2. Kodifizierte Gesetze a) Die Funktion parlamentarischer Gesetze Traditionell sollten parlamentarisch erlassene Gesetze anders als auf dem Kontinent nicht bestimmte Sachbereiche abstrakt kodifiziert umfassend reglementieren, sondern sie waren Reaktionen auf Fallrecht, das sich als nicht sachgerecht oder 227

Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 1. Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 2 ff.; Zander, The Law-Making Process, S. 208 ff. 229 Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 5. 230 Zander, The Law-Making Process, S. 254 f.; Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 6 f. 231 Zander, The Law-Making Process, S. 287 ff. 232 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 204; Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 10. 233 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 204; Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 11. 228

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impraktikabel erwiesen hat234. Heute sind zwar viele Sachgebiete insbesondere im privaten Wirtschaftsrecht umfassend gesetzlich reguliert, die normativen Regelungen knüpfen jedoch vielfach an vorhergehendes Fallrecht an und verwenden dessen Termini und Konzepte und die Vorbilder aus der Judikatur können zur Schließung gesetzlicher Regelungslücken herangezogen werden235. Die Judikatur akzeptiert jedoch die Entscheidungsprärogative des Gesetzgebers und korrigiert bewusst getroffene legislative Entscheidungen nicht durch divergierendes Fallrecht236. b) Die Auslegung parlamentarischer Gesetze Aufgrund der tragenden Bedeutung der doctrine of parliamentary sovereignty unterliegt die Auslegung von parlamentarisch erlassenen Gesetzen klassischerweise einer strengen Wortlautbindung, nach der das ausdrückliche Gesetz in niedergeschriebener Weise anzuwenden ist237. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts beschränkten sich Gerichte im age of strict literalism bei der Auslegung parlamentarischer Gesetze auf die mögliche Bedeutung des Gesetzeswortlauts nach natürlichem Sprachgebrauch238. Nach modernem Verständnis ist durch den sog. purposive approach auch der Sinn und Zweck einer Regelung maßgeblich239. Der traditionellen Rolle der Wortlautgrenze kommt indes auch heute noch große Bedeutung zu, da eine Auslegung nach Sinn und Zweck nur innerhalb des Bedeutungsspielraums der parlamentarisch niedergelegten Gesetzesformulierung möglich ist240. Vorangegangene Auslegungsentscheidungen parlamentarischer Gesetze durch die Judikative entfalten eine Bindungswirkung nur hinsichtlich der Rechtsfolgen (matters of law), die sich aus der Bedeutung eines Rechtsbegriffs ergeben, nicht jedoch hinsichtlich Sachfragen (matters of fact), also der Bewertung, ob ein Sachverhalt unter die Bedeutung des Rechtsbegriffs zu subsumieren ist241. Um die richtige Auslegung von auf Unionsrecht basierendem nationalem Recht sicherzustellen, verpflichtet sec. 3(1) ECA nationale Gerichte per Gesetz, die vom

234

Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 12. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197 f.; Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 12. 236 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 213 f. 237 Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 13. 238 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 780. 239 Vgl. Pepper vs. Hart, AC 1993, 593 (617); Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 17; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 789. 240 Stock vs. Frank Jones (Tripton) Ltd, 1 WLR (1978), 231 (236 ff.); Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 17. 241 Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 20 f. 235

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EuGH entwickelte Methodik zur Auslegung des Unionsrechts auf nationaler Ebene anzuwenden242. c) Teleologische Reduktion und Extension parlamentarischer Gesetze Bei einem eindeutigen Wortlaut sollen der Tradition des literal approach entsprechend die Intentionen des Gesetzgebers nur aus dem klaren Gesetzestext abgeleitet werden243. Nach dieser literal rule ist sowohl eine extensive Auslegung eines eindeutigen Anwendungsbereichs als auch eine Reduktion einer eindeutigen Bestimmung untersagt244. In eine unmissverständlich normierte Vorschrift dürften danach keine weiteren Voraussetzungen des Anwendungsbereichs durch Auslegung hinzugefügt werden, die über die tatbestandlich vorgesehenen Bedingungen hinausgehen, oder Tatbestandsmerkmale unberücksichtigt bleiben. Die Judikatur beachtet das Verbot teleologischer Reduktion und Extension parlamentarischer Gesetze zwar regelmäßig, sie ist jedoch nicht immer einheitlich. Einige Entscheidungen erachteten eine Reduktion des Anwendungsbereichs für zulässig, wenn der Regelungszusammenhang oder der Telos des Gesetzes dies erfordert, selbst wenn dies zu Unwägbarkeiten im Einzelfall führt245. Im Steuerrecht wurde insbesondere eine Reduktion zugunsten des Steuerpflichtigen akzeptiert, um offensichtlich ungerechte Ergebnisse zu vermeiden246. Auch Analogiebildungen zulasten des Steuerpflichtigen wurden von der Judikatur lange Zeit als unzulässig erachtet: „[…] the Crown does not tax by analogy but by statute“247.

242 Sec. 3(1) ECA: „For the purposes of all legal proceedings any question as to the meaning or effect of any of the Treaties, or as to the validity, meaning or effect of any EU instrument, shall be treated as a question of law (and, if not referred to the European Court, be for determination as such in accordance with the principles laid down by and any relevant decision of the European Court).“ Vgl. dazu Schillig, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 25 Rn. 25. 243 R vs. Judge of the City of London Court, 1 QB (1892), 273 (290); Zander, The LawMaking Process, S. 127; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1003; Franz, Allgemeine Regeln zur Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, S. 113 ff. 244 Hardcastle/Craies, A treatise on the construction and effect of statute law, S. 75 ff.; Maxwell, On the interpretation of Statutes, S. 3 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1025. 245 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1025; Stock vs. Frank Jones (Tipton) Ltd, 1 WLR. (1978), 231 (235). 246 Vgl. Luke vs. IRC., AC 1963, 557 (584 f.) („wholly unreasonable result“); Vinelott, 3 Statute Law Review (1982), 78 (81 ff.) („obvious injustice“); Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1062 f. 247 Vgl. Ormond Investment Co. Ltd. vs. Betts, AC 1928, 143 (158); s. dazu Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 830.

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3. Die Behandlung von Gesetzes- und Steuerumgehung a) Traditionelles Verständnis der strengen Wortlautbindung Viktorianische Gerichte nahmen dem strict literalism entsprechend sogar offenkundige Umgehungsgeschäfte hin, sofern eine missbrauchsverhindernde Auslegung nur unter extensiver Wortlautauslegung möglich wäre248 : „ […] you may avoid doing that which is prohibited by the Act of Parliament and you may do something else equally advantageous to you which is not prohibited by the Act of Parliament“249. Auch das substance over form Konzept wurde zunächst abgelehnt: „This so-called doctrine of „the substance“ seems to me to be nothing more than an attempt to make a man pay notwithstanding that he has so ordered his affairs that the amount of tax sought from him is not legally claimable.“250 Eine unwirksame Verhinderung der Steuerumgehung aufgrund strenger Wortlautbindung wurde als das geringere Übel angesehen: „Parliament in its attempts to keep pace with the ingenuity devoted to tax avoidance may fall short of its purpose. That is a misfortune for the taxpayers who do not try to avoid their share of the burden, and it is disappointing to the Inland Revenue, but the Court will not stretch the terms of taxing Acts in order to improve on the efforts of Parliament and to stop gaps which are left open by the statute. Tax avoidance is an evil. But it would be the beginning of much greater evils if the courts were to overstretch the language of the statutes in order to subject to taxation people of whom they disapproved.“251 Lange basiert die gesetzgeberische Unterbindung von Steuerumgehungen nicht auf einer Generalklausel, sondern auf speziellen Antiumgehungsgesetzen in jährlichen Finance Acts, die sich gegen eng umschriebene Umgehungskonstellationen richteten252. Aus dieser ausschließlich spezialgesetzlichen Missbrauchsverhinderung bildete „sich ein überkompliziertes Geflecht von Bestimmungen heraus, das genau die Ungereimtheiten und Widersprüche produzierte, die den für die Steuerumgehung fruchtbaren Boden abgaben“253. b) Abkehr von der strikten Wortlautbindung als Bedingung der wirksamen Verhinderung von Steuerumgehung Eine Abkehr von einem strengen Formalismus im Steuerrecht zur Verhinderung von Umgehungskonstellationen erfolgte erst in den sechziger Jahren des 20. Jahr248 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 813; Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 57. 249 Yorkshire Railway Wagon Co. vs. Malcure, 21 ChD (1882), 309 (318). 250 IRC vs. Duke of Westminster, AC 1936, 1 (20). 251 Vestey’s (Lord) Executors vs. IRC, 1 All ER (1949), 1108 (1120). 252 Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 62; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1065; P. Fischer, StuW 1995, 87 (90). 253 Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 77 ff., 81 f., 156, 327 f.; P. Fischer, StuW 1995, 87 (90).

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Erster Hauptteil

hunderts254. Ab den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren Gerichte dann auch dazu bereit, dem wirtschaftlichen Hintergrund einer Gestaltung eine höhere Bedeutung zukommen zu lassen, da die strenge Wortlautbindung zu unbefriedigenden Ergebnissen führte255. Final zeigte sich die Wende der Judikatur in der RamsayEntscheidung des House of Lords aus dem Jahr 1982. Eine komplizierte Gestaltungsvariation bezweckte einzig einen Steuervorteil, indem sich im Wege einer UTurn-Gestaltung einzelne Teilakte insgesamt gegenseitig aufhoben256. Die zentrale Passage lautet: „Given that a document or transaction is genuine, the court cannot go behind it to some supposed underlying substance. […]. This is a cardinal principle but it must not be overstated or overextended. While obliging the court to accept documents or transactions, found to be genuine, as such, it does not compel the court to look at a document or a transaction in blinkers, isolated from any context to which it properly belongs. If it can be seen that a document or transaction was intended to have effect as part of a nexus or series of transactions, or as an ingredient of a wider transaction intended as a whole, there is nothing in the doctrine to prevent it being so regarded: to do so is not to prefer form to substance, or substance to form. It is the task of the court to ascertain the legal nature of any transaction to which it is sought to attach a tax or a tax consequence and if that emerges from a series or combination of transactions, intended to operate as such, it is that series or combination which may be regarded.“257 „That does not introduce a new principle: it would be to apply to new and sophisticated legal devices the undoubted power and duty of the courts to determine their nature in law and to relate them to existing legislation. While the techniques of tax avoidance progress and are technically improved, the courts are not obliged to stand still. […] To force the courts to adopt, in relation to closely integrated situations, a step by step, dissecting, approach which the parties themselves may have negated, would be a denial rather than an affirmation of the true judicial process. In each case the facts must be established, and a legal analysis made: legislation cannot be required or even be desirable to enable the courts to arrive at a conclusion which corresponds with the parties‘ own intentions.“258 Jedoch waren sich Richter in Folgeentscheidungen uneinig und es blieb daher in der Folgezeit unklar, wo die Grenze zwischen legaler Steuerplanung und rechtswidriger Steuerumgehung verläuft und wie die Aufgabenverteilung zur Missbrauchsverhinderung zwischen Judikatur und Legislative abgesteckt ist259. 254 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1065. 255 Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 169. 256 W.T. Ramsay Ltd. vs. IRC, AC 1982, 300 (322); dazu ausf. Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 182 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1065 und P. Fischer, StuW 1995, 87 (92 f.). 257 W.T. Ramsay Ltd. vs. IRC, AC 1982, 300 (323 f.). 258 W.T. Ramsay Ltd. vs. IRC, AC 1982, 300 (326). 259 Vgl. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1068; Nevermann, Justiz und Steuerumgehung, S. 201 ff., 214; vgl. zur Rolle der Künst-

§ 2 Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England

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c) General anti-abuse rule des Finance Act 2013 als notwendiges Mittel zur Bekämpfung der Steuerumgehung Da die zu detaillierten speziellen Missbrauchsregelungen eine Vielzahl von Umgehungsplanungen zur Folge hatten, bedurfte es auch in England einer allgemeinen gesetzlichen Missbrauchsverhinderungsregelung, um wirksam gegen Steuerumgehung vorzugehen260. 2013 wurde durch den Finance Act 2013 im Vereinigten Königreich eine allgemeine Missbrauchsverhinderungsklausel eingeführt. Part 5 regelt in Sect. 206 – 215 „the general anti-abuse rule“ (Sect. 206 Abs. 2). Sect 206 Abs. 1 lautet: „206 General anti-abuse rule (1) This Part has effect for the purpose of counteracting tax advantages arising from tax arrangements that are abusive. […]“

Der Anwendungsbereich erstreckt sich nach Abs. 3 auf income tax, corporation tax, capital gains tax, petroleum revenue tax, inheritance tax, stamp duty land tax und annual tax on enveloped dwellings. Die Voraussetzungen eines abusive tax arrangements werden in Sect. 207 benannt: „(1) Arrangements are ,tax arrangements‘ if, having regard to all the circumstances, it would be reasonable to conclude that the obtaining of a tax advantage was the main purpose, or one of the main purposes, of the arrangements. (2) Tax arrangements are ,abusive‘ if they are arrangements the entering into or carrying out of which cannot reasonably be regarded as a reasonable course of action in relation to the relevant tax provisions, having regard to all the circumstances including— (a) whether the substantive results of the arrangements are consistent with any principles on which those provisions are based (whether express or implied) and the policy objectives of those provisions, (b) whether the means of achieving those results involves one or more contrived or abnormal steps, and (c) whether the arrangements are intended to exploit any shortcomings in those provisions. (3) Where the tax arrangements form part of any other arrangements regard must also be had to those other arrangements. (4) Each of the following is an example of something which might indicate that tax arrangements are abusive— (a) the arrangements result in an amount of income, profits or gains for tax purposes that is significantly less than the amount for economic purposes, (b) the arrangements result in deductions or losses of an amount for tax purposes that is significantly greater than the amount for economic purposes, and

lichkeit in der Judikatur auch Franz, Allgemeine Regeln zur Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, S. 117. 260 Freedman, General Anti-Avoidance Rules (GAARs), S. 5 ff.

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Erster Hauptteil (c) the arrangements result in a claim for the repayment or crediting of tax (including foreign tax) that has not been, and is unlikely to be, paid, but in each case only if it is reasonable to assume that such a result was not the anticipated result when the relevant tax provisions were enacted. […]“

Zur Auslegung dieser general anti-abuse rule durch die Gerichte ordnet Sect. 211 unter der Überschrift „Proceedings before a court or tribunal“ nach Abs. 2 a) die Berücksichtigung der „HMRC‘s guidance about the general anti-abuse rule that was approved by the GAAR Advisory Panel at the time the tax arrangements were entered into“ an, die dadurch eine besondere Rolle erlangt, die über die gewöhnliche Bedeutung von Gesetzesmaterialien hinausgeht261. Obwohl die Missbrauchsvorschrift darauf abstellt, ob „the main purpose, or one of the main purposes“ der Steuervorteil ist, soll es sich bei der Prüfung der Voraussetzung eines „tax arrangements“ aufgrund der Formulierung „reasonable to conclude“ um einen „objective test“ handeln, da es nicht darauf ankommen soll, was ein bestimmter Steuerpflichtiger subjektiv mit der Gestaltung beabsichtigte, sondern „a reasonable conclusion would be that obtaining a tax advantage was the main purpose, or one of the main purposes, of the arrangements“262. In der Praxis soll eine Diskrepanz zwischen tatsächlicher subjektiver Intention und der aufgrund objektiver Anhaltspunkte festgestellten Intention jedoch äußerst selten vorkommen263. Eine Definition von „the main purpose“ oder „one of the main purposes“ wird nicht vorgenommen. Stattdessen soll auf die gewöhnliche Wortbedeutung abgestellt werden264. Ob die Gestaltung als „the main purpose“ den Steuervorteil hat, soll für gewöhnlich nicht schwer zu ermitteln sein, da entweder die Gestaltung ohne den steuerlichen Vorteil überhaupt nicht gewählt worden wäre oder außersteuerliche Gründe im Verhältnis zum Steuervorteil zweitrangig sind265. Schwieriger kann sich die Feststellung erweisen, ob der Steuervorteil „one of the main purposes“ ist. „In this context, what this test is seeking to establish is whether a transaction which would otherwise have occurred has been reshaped, or has been entered into under different terms and conditions, in order to change significantly the tax result that would otherwise have arisen, and where the desired tax result is itself a substantial objective. The reshaping or difference in terms and conditions may be obvious and contrived; but this would not necessarily be the case and quite subtle changes may be involved (for example, in an appropriate context, simply changing the accounting date of a company in order to take advantage of transitional rules 261

Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 141 f.; Freedman, General Anti-Avoidance Rules (GAARs), S. 14. 262 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.3. 263 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.3. 264 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.4. 265 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.5.

§ 2 Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England

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introducing new provisions).“266 Die Schwelle des Anwendungsbereichs des Merkmals „tax arrangements“ ist bewusst niedrig gesetzt und umfasst daher viele Gestaltungen, die zu einem Steuervorteil führen267. Als Filter zur Unterscheidung legitimer Steuerplanung und missbräuchlicher Gestaltungen soll das Merkmal „abusive“ in Abs. 2 dienen, was eine weit höhere Hürde aufweist und als „core of the GAAR legislation“ bezeichnet wird268. Eine Steuergestaltung ist nach dem sog. double reasonableness test abusive, wenn die gewählte Sachverhaltsgestaltung in Anbetracht der zugrundeliegenden Steuerregelung vernünftigerweise nicht gewählt werden würde. „It is not for the judge (or the GAAR Panel) to decide what they think would have been reasonable but for them to decide what could have been reasonably regarded as reasonable.“269 Zur Bestimmung, ob dies der Fall ist, sind in der Regelung besondere Umstände aufgezeigt, die bei der Bewertung zu berücksichtigen sind. Eine gezielte Sachverhaltsgestaltung ist dabei nicht missbräuchlich, wenn vernünftige Schritte unternommen werden, um ein von der Steuervorschrift angedachtes Ergebnis hervorzurufen, das der Gesetzgeber fördern will270. Entscheidend ist somit die wirtschaftliche Substanz einer Gestaltung, die eine gewählte zivilrechtliche Form aufgrund von good business reasons in der steuerlichen Betrachtung als vernünftig legitimiert271. 4. Folgerungen Trotz der starken Stellung des Richters im common law Rechtssystem ist die Judikative in England traditionell sehr zurückhaltend, parlamentarische Gesetze über die Wortlautgrenze zulasten des Bürgers anzuwenden. Die Nichtvorhersehbarkeit von Ausnahmen hat negative Auswirkung auf die Planungssicherheit und zeugt von Schwächen in der Rationalität der Missbrauchsmethodik, da keine klare Dogmatik die Voraussetzungen einer reduzierenden oder extensiven Rechtsanwendung für Missbrauchskonstellationen verbindlich aufzeigt. Auf die mangelnde Missbrauchsresistenz der Rechtsordnung reagierte der Gesetzgeber im Steuerrecht zunächst mit umfassenden, speziellen Missbrauchsvorschriften. Diese hatten jedoch nicht den gewünschten Erfolg, Steuerumgehungen 266 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.6. 267 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.7. 268 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.9, C5.1. 269 Freedman, General Anti-Avoidance Rules (GAARs), S. 11. 270 HM Revenue and Customs (HMRC) General Anti Abuse Rule (GAAR) guidance (Approved by the Advisory Panel with effect from 30 January 2015), C3.9, C5.6.2. 271 S. zur Bedeutung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise in der englischen Rechtsprechung Franz, Allgemeine Regeln zur Bekämpfung von Steuerumgehung in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, S. 141.

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Erster Hauptteil

wirksam zu verhindern, sondern zeigten ,Angriffsflächen‘, an denen sich aggressive Steuerplanungen orientieren konnten. Es entwickelten sich ausgereifte Gestaltungsstrukturen, die unter Einhaltung der Wortlautgrenzen besonderer Missbrauchsklauseln die Steuerpflicht senken konnten. Diese auf eine Vielzahl von speziellen Vorschriften vertrauende Missbrauchsverhinderungskonzeption bot zwar eine hohe Rechtssicherheit, da die Besteuerung eindeutig vorhergesagt werden konnte. Sie entsprach jedoch nicht dem Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung, da Gestaltungen mit gleicher wirtschaftlicher Substanz aufgrund divergierender zivilrechtlicher Form unterschiedlich behandelt wurden. Diese Schwäche einer Missbrauchsverhinderung, die ausschließlich auf spezielle Missbrauchsregelungen vertraut, spricht für die Sinnhaftigkeit einer prinzipienorientierten Missbrauchsmethodik und führte letztlich zur allgemeinen Missbrauchsverhinderungsregelung in Sect. 206 im Finance Act 2013. Bei dieser allgemeinen Missbrauchsverhinderungsregelung fällt die wesentliche Bedeutung subjektiver Kriterien zur Verhinderung von Steuerumgehungen auf. Der vorgeschriebene Abwägungsmaßstab, nach dem die subjektive Komponente der Definition eines tax arrangements bereits vorliegt, wenn der Steuervorteil one of the main purposes ist, wurde niedrig gewählt und wird dadurch in der Praxis häufig erfüllt sein. Inwieweit das Korrektiv des abusive tests eine rationale und rechtssichere Missbrauchsverhinderung gewährleisten kann, bleibt trotz des double reasonableness tests als substanzorientierte Bewertung der Gestaltung abzuwarten. Die konkrete Anwendung der Regelung durch die Gerichte steht noch aus und kann mitunter sehr stark von dem jeweiligen Fall und dem jeweiligen Richter abhängen272.

III. Vergleich der Missbrauchsverhinderung nach französischem und englischem Verständnis Sowohl nach französischem als auch nach englischem Verständnis ist eine extensive Auslegung zulasten des Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht möglich. In beiden Rechtsordnungen gibt es eine Regelungsprärogative des Gesetzgebers für Missbrauchsfragen. Zur Verhinderung von Steuerumgehungen soll dementsprechend in beiden Rechtssystemen nach neuerer legislativer Entwicklung eine allgemeine Missbrauchsverhinderungsregelung dienen, die auf eine unzureichende Missbrauchsverhinderung durch reine Auslegung und spezielle Missbrauchsregelungen reagierte. Nach beiden normierten Missbrauchsverhinderungskonzeptionen spielen subjektive Kriterien eine wesentliche Rolle, um den tatsächlichen wirtschaftlichen Gehalt von Steuergestaltungen greifbar zu machen. Im Detail unterscheiden sich beide legislative Ansätze jedoch. Zunächst wird ein unterschiedlicher Maßstab gewählt.

272

Velarde Aramayo, EC Tax Review 2016, 4 (7).

§ 2 Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England

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Während in Frankreich nach Art. L. 64 LPF ausschließlich die Steuerumgehung bzw. Steuerreduzierung beabsichtigt werden muss, genügt es in England nach Sect. 206 bereits, wenn eines der Hauptmotive der Steuervorteil ist. Der subjektive Abwägungsmaßstab unterscheidet sich damit erheblich voneinander, was sich auch auf die Funktion der Missbrauchsverhinderung auswirkt. Während der Beweis des ausschließlichen Beweggrundes eines Steuervorteils in der Praxis nur schwerlich zu erbringen ist, wird die Missbrauchsschwelle nach englischem Verständnis derart niedrig gesetzt, dass auch Gestaltungen, die überwiegend legitime Gründe verfolgen, in subjektiver Hinsicht als missbräuchlich einzustufen sind, wenn einer der Hauptbeweggründe die Steuerumgehung ist. Dies macht eine weitere Stufe in der Missbrauchsprüfung – den double reasonableness test – als Korrektiv notwendig. Auch ansonsten unterscheiden sich die Missbrauchsregelungen voneinander. Während die französische Regelung den künstlichen Charakter der Steuergestaltung in den Mittelpunkt stellt, ist nach englischem Verständnis die abusiveness ausschlaggebend, die sich aus der – substanzorientiert zu ermittelnden – Vernunft der gewählten Gestaltung ergibt. Es werden somit nach beiden Konzeptionen unterschiedliche Methoden gewählt, um die formal legitime Steuergestaltung an den Zielen der Steuerregelungen zu messen, um bei einem Verstoß eine Steuerumgehung annehmen zu können. Die detaillierten gesetzlichen Regelungen sowohl des französischen als auch des englischen Textes lassen erkennen, dass die jeweiligen Gesetzgeber einer „Innentheorie“ eine klare Absage erteilten, weil diese keine ausreichende Kraft zur Normbehauptung aufwies. Stattdessen wurden genau beschriebene Tatbestandsmerkmale als Missbrauchsvoraussetzungen normiert.

IV. Folgerungen Aus der exemplarischen Untersuchung der Missbrauchsverhinderungsmethoden der Rechtsordnungen der genannten Mitgliedstaaten lassen sich wichtige Schlüsse für eine wirksame europäische Methode der Normbehauptung ziehen. Während Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch in Deutschland traditionell regelmäßig im Rahmen der Auslegung durch richterliche Rechtsfortbildung im Wege analoger Rechtsanwendung und teleologischer Reduktion bekämpft wurden, ist nach französischem und englischem Verständnis eine derartig extensive Auslegung parlamentarischer Gesetze über die Grenzen des Wortlauts hinweg zu Lasten des Bürgers, wenn überhaupt, nur in sehr engen Grenzen möglich. Stattdessen wird dort insbesondere im Steuerrecht – wie auch in Deutschland – auf normierte allgemeine Missbrauchsklauseln vertraut, die durch explizite Benennung von Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen ein vom Gesetzgeber angeordnetes Mittel der Normbehauptung zur Verfügung stellen. In ihrer konkreten Ausgestaltung unterscheiden sich die nationalen allgemeinen Missbrauchsverhinderungsregeln bisweilen erheblich, da sowohl der Umfang teleologischer Bewertung als auch die vorgegebene Abwägung subjektiver Komponenten voneinander abweichen.

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Erster Hauptteil

Entgegen dem traditionellen deutschen Methodenverständnis einer rein objektiven Missbrauchsverhinderung lässt sich in der jüngeren Entwicklung der nationalstaatlichen – insbesondere steuerrechtlichen – Missbrauchsbekämpfung der Mitgliedstaaten jedoch eine deutliche Tendenz hin zur verbindlichen Berücksichtigung subjektiver Kriterien verzeichnen. Sowohl die legislative Änderung der deutschen Missbrauchsverhinderungsregelung in § 42 Abs. 2 AO als auch die ihr entsprechenden Neuerungen der nationalen Regelungen durch die Neufassung von Art. L 64 LPF in Frankreich und durch die Einführung von Sect. 206 im Finance Act 2013 in England führten dazu, dass nunmehr alle Generalklauseln explizit das Vorhandensein bestimmter subjektiver Tatbestandsvoraussetzungen verlangen, um eine Steuerumgehung richtig erfassen zu können. Diese parallele Entwicklung in den verschiedenen Mitgliedstaaten ist Ausdruck einer Wandlung in der juristischen Wahrnehmung subjektiver Kriterien für die Missbrauchsbekämpfung und stellt zugleich eine Reaktion auf die mangelnde Missbrauchsresistenz der Rechtsordnungen dar, deren Regelungskraft durch reine Auslegung insbesondere im steuerrechtlichen Kontext nicht gewährleistet wurde, da durch strukturierte Gestaltungsvarianten unter Einhaltung der gesetzlichen Wortlautgrenzen Normbefehle ausgehöhlt wurden. Während traditionell subjektiven Anknüpfungspunkten der vermeintliche Makel einer Gesinnungsjurisprudenz anhaften soll, trägt die heutige Anknüpfung an subjektive Intentionen, die anhand objektiver Umstände juristisch erfassbar werden, der Erkenntnis Rechnung, dass subjektive Kriterien elementar für eine substanzorientierte juristische Bewertung steuerlich relevanter Gestaltungskonstruktionen sind. Es lässt sich somit bereits nach der exemplarischen Untersuchung der genannten nationalen Missbrauchsverhinderungsmethoden festhalten, dass auch eine europäische Missbrauchsmethodik, auf den mitgliedsstaatlichen Entwicklungen aufbauend, neben der teleologischen Würdigung einer Gestaltungsvariante an den Gesetzeszielen auch subjektive Umstände für eine zutreffende Missbrauchsfeststellung berücksichtigen muss. In welcher konkreten Gestalt dies letztendlich zu erfolgen hat, lässt sich jedoch nicht allein aus den nationalen Missbrauchsverhinderungsregelungen schließen, da diese zum einen stets an den jeweiligen nationalen Rechtssystemen orientiert sind und zum anderen in den verschiedenen Mietgliedstaaten derart unterschiedlich sind, dass eine unionsweit homogene Missbrauchsverhinderung nicht allein durch Abstellen auf diese heterogenen nationalen Missbrauchsklauseln sichergestellt werden kann. Es bedarf daher vielmehr einer autonomen unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik, die zwar den Erkenntnisstand der nationalen Rechtssysteme berücksichtigen sollte, jedoch für eine homogene Anwendung eines eigenständigen Missbrauchsverbots bei grenzüberschreitenden Transaktionen den Besonderheiten eines multinationalen Rechtssystems gerecht werden muss. Eine umfassende Missbrauchsverhinderung lässt sich – wie der nicht geglückte Versuch einer Vielzahl besonderer Missbrauchsverhinderungsregelungen in England gezeigt hat – nur durch eine allgemeine Missbrauchsmethode gewährleisten, die unter Benennung objektiver und subjektiver Abwägungskomponenten die Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Missbrauchs für eine einheitliche su-

§ 2 Missbrauchsverhinderung in Frankreich und England

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pranationale Rechtsanwendung verdeutlicht und dadurch eine europaweit einheitliche Anwendung des Unionsrechts auch für eine Vielzahl von Missbrauchskonstellationen gewährleisten kann.

Zweiter Hauptteil

Die Implementierung des allgemeinen Missbrauchsverbots als Mittel der Normbehauptung im europäischen Primärrecht § 3 Die Bedeutung der Judikatur des EuGH für die Entwicklung eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots I. Aufgabe des EuGH zur Entwicklung einer Missbrauchsmethodik zur Wahrung des Unionsrechts Für die Entwicklung der unionsrechtlichen Missbrauchsdogmatik kommt der Judikatur des EuGH eine überragende Bedeutung zu. Im kodifizierten Primärrecht finden sich mit Ausnahme des in Art. 102 und 104 AEUV geregelten Sonderbereichs des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung keine Aussagen zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot1. Während sich im Sekundärrecht vielfach Hinweise auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot finden2, hat der Unionsgesetz1 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 19; Englisch, StuW 2009, 3. 2 Vgl. Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 v. 18. Dezember 1995; Art. 1 Abs. 2 der (Mutter-Tochter)-Richtlinie 2011/96/EU; Art. 131 (Mehrwertsteuersystem-) Richtlinie 2006/112/EG („Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“) und Art. 158 Abs. 2 („Mitgliedstaaten, die von der in Abs. 1 Buchstabe a vorgesehenen Möglichkeit der Steuerbefreiung Gebrauch machen, treffen die erforderlichen Maßnahmen, um eine korrekte und einfache Anwendung dieser Befreiung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch zu verhindern.“) und hierzu die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer; in der Richtlinie 2011/16/EU Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung heißt es in Art. 23 Abs. 2: „Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission alle sachdienlichen Informationen, die für die Bewertung der Wirksamkeit der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Einklang mit dieser Richtlinie bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung notwendig sind.“; Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom Art. 14 Abs. 1 („Über die allgemeinen Vorschriften für die steuerbefreite Verwendung steuerpflichtiger Erzeugnisse gemäß der Richtlinie 92/12/EWG hinaus und unbeschadet anderer Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Voraussetzungen, die sie zur Sicherstellung der korrekten und ein-

§ 3 Die Bedeutung der Judikatur des EuGH

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geber neben Öffnungsklauseln zur Ermächtigung nationaler Gesetzgeber zur Implementierung nationaler Missbrauchsverhinderungsregelungen3 nur wenige konkret ausformulierte Missbrauchsklauseln geschaffen, die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Missbrauchsverbots mit im Detail unterschiedlicher Ausprägung explizit vorgeben4. Diese Ausformulierungen der Missbrauchsregelungen im Sekundärrecht erfolgten erst Jahrzehnte nach den ersten Urteilen des EuGH zur Missbrauchsproblematik5 und sind maßgeblich von dieser Judikatur geprägt6. Deshalb ist für ein umfängliches Verständnis des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots die Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs und eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit den wichtigsten Entscheidungen von großer Bedeutung. Es gibt eine Vielzahl von Urteilen des Gerichtshofes – dem „Motor der europäischen Integration“7 –, die sich auf Unionsebene mit dem Missbrauchsverbot und den Voraussetzungen eines Missbrauchs beschäftigen. Auch im europäischen Recht stellt sich – wie auch im nationalen Recht – die Frage, wie ein etwa bestehendes Missbrauchsverbot dogmatisch zu begründen und konkret ausgestaltet ist. Neben der Lösung über reine Auslegung und Analogiebildung kommt auch im Unionsrecht ein fachen Anwendung solcher Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und -vermeidung oder Missbrauch festlegen, die nachstehenden Erzeugnisse von der Steuer“), Art. 20 Abs. 2 („Ist ein Mitgliedstaat der Ansicht, dass andere als die in Abs. 1 genannten Energieerzeugnisse zum Verbrauch als Heizstoff oder Kraftstoff bestimmt sind oder als solche zum Verkauf angeboten bzw. verwendet werden oder anderweitig Anlass zu Steuerhinterziehung, -vermeidung oder Missbrauch geben, so setzt er die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis. Diese Bestimmung gilt auch für elektrischen Strom. Die Kommission leitet die Mitteilung innerhalb eines Monats nach ihrem Erhalt an die anderen Mitgliedstaaten weiter. Ob für die betreffenden Erzeugnisse die Bestimmungen der Richtlinie 92/12/EWG über die Kontrolle und Beförderung angewendet werden, wird nach dem in Artikel 27 Abs. 2 genannten Verfahren entschieden.“) und Erwägungsgrund 22; Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83/EWG zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke („Die Mitgliedstaaten befreien die von dieser Richtlinie erfaßten Erzeugnisse von der harmonisierten Verbrauchsteuer nach Maßgabe von Bedingungen, die sie zur Sicherstellung einer korrekten und einfachen Anwendung solcher Steuerbefreiungen sowie zur Vermeidung von Steuerflucht, Steuerhinterziehung oder Mißbrauch festlegen, sofern die betreffenden Erzeugnisse […]“). 3 Vgl. Art. 1 Abs. 2 (Mutter-Tochter-)Richtlinie 90/435/EWG vom 23. 7. 1990; Art. 5 der Richtlinie 2003/49/EG (Gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren), vom 3. 6. 2003. 4 Statt vieler Florstedt, FR 2016, 1; Bergmann, StuW 2010, 246; vgl. aus der Judikatur EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 50. S. noch ausführlich unten, § 9, § 11. 5 Vgl. Englisch, StuW 2009, 3 (4) unter Hinweis auf das erste Urteil des EuGH zum Missbrauch im Jahr 1974 (EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131); s. zur Historie der Judikatur ausf. unten, § 5. 6 Florstedt, FR 2016, 1 (5 ff.). 7 Englisch, StuW 2009, 3.

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Zweiter Hauptteil

eigenständiges Rechtsinstitut mit vom EuGH und vom Unionsgesetzgeber näher determinierten Voraussetzungen in Betracht. Dogmatisch bedeutsam ist dabei, ob (1) ein Missbrauch des Unionsrechts bereits tatbestandlich den Anwendungsbereich unionsrechtlicher Freiheiten ausschließt, oder ob (2) der Missbrauch zwar nicht den Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Freiheiten einschränkt, sondern gewissermaßen als Korrektiv das missbräuchliche Berufen auf unionsrechtliche Regelungen auf einer anderen Prüfungsebene verhindert. Die auf Unionsebene in diesem Zusammenhang verwendeten Begrifflichkeiten sind durch nationale Methodentradition bereits vorgeprägt und kommen in den verschiedenen Sprachfassungen unterschiedlich zur Geltung. Während die deutsche Dogmatik zwischen ,individuellem‘ und ,institutionellem Rechtsmissbrauch‘ unterscheidet, wird in englischer Sprache zwischen ,abuse of rights‘ und ,abuse of law‘, im französischen Rechtskreis zwischen ,abuse de droit‘ und ,fraude à la loi‘ differenziert8. Beim ,individuellen Rechtsmissbrauch‘ (bzw. ,abuse of rights‘, ,abuse de droit‘) handelt es sich um eine missbräuchliche Ausnutzung eines bestehenden Rechts, wohingegen der ,institutionelle Rechtsmissbrauch‘ (bzw. ,abuse of law‘, ,fraude à la loi‘) die missbräuchliche Erlangung einer Rechtsposition betrifft9. Steuerrechtlich relevant ist die Kategorie des ,institutionellen Rechtsmissbrauchs‘ (bzw. ,abuse of law‘, ,fraude à la loi‘). Während der individuelle Rechtsmissbrauch auf Kosten bestimmter Individuen ausgeübt wird, geht der institutionelle Rechtsmissbrauch zu Lasten der gesamten Gesellschaft10. „Abuse of law committed in the tax field have been said to harm the Treasury as a whole“11. Da weder der Gerichtshof noch das geschriebene Unionsrecht klar zwischen beiden Kategorien unterscheiden12, sondern häufig auf Urteile der jeweils anderen

8 Schammo, European Law Journal 14 (2008), 351 (354 ff.); Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 28, 32 ff. S. auch bereits § 1, § 2. 9 Die auf Unionsebene verwendeten Begriffe sind dabei nicht gleichbedeutend mit ihrem Verständnis auf nationaler Ebene, sondern stellen eigenständige Begriffe des Unionsrechts mit autonomer Konzeption dar, s. Schlussanträge Generalanwalt Szpunar v. 20. 5. 2014 – Rs. C202/13 – Sean Ambrose McCarthy, ECLI:EU:C:2014:345, Rn. 112. Vgl. zu Unterschieden beider Missbrauchskonzepte Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 4, 27 ff., insbes. S. 30. 10 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 27. 11 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 30 (Zitat); ähnl. Pistone, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: From (Before) Emsland-Stärke 1 to Halifax (and Beyond), in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 381. 12 de la Feria, Common Market Law Review 45 (2008), 395 f.; Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 27 ff. Diese mangelnde Differenzierung stieß auf einige Kritik in der Literatur, s. nur Whittaker, Comments on ,Abuse of Law‘ in European Private Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 253 (258 f.) und Pistone, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: From (Before) Emsland-Stärke 1 to Halifax (and Beyond), in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 381.

§ 3 Die Bedeutung der Judikatur des EuGH

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Fallgruppe verwiesen wird, soll auch auf Urteile zur Kategorie des individuellen ,Rechtsmissbrauchs‘ (bzw. ,abuse of rights‘, ,abuse de droit‘) eingegangen werden. Der Rechtsprechung kommt auch deswegen besondere Bedeutung in dieser Frage zu, da es zur Kategorie des ,institutionellen Rechtsmissbrauchs‘ (bzw. ,abuse of law‘, ,fraude à la loi‘) im geschriebenen Primärrecht keine Anhaltspunkte gibt. Im kodifizierten Primärrecht finden sich in Art. 102 und 104 AEUV lediglich Hinweise auf den Sonderbereich des ,faktischen‘ Rechtsmissbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, bei dem nicht die Rechtsausübung im eigentlichen Sinne, sondern der Missbrauch bestimmter Positionen im allgemeinen rechtlichen Umfeld missbilligt wird13. Da sich dieser Sonderbereich des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen erheblich vom allgemeinen unionsrechtlichen Missbrauchsverbot unterscheidet und bei allgemeinen Missbrauchsfällen nicht vom EuGH angesprochen wird, ist der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nicht Teil der weiteren Untersuchung. Bei der Analyse der EuGH-Judikatur soll insbesondere auf die Bedeutung subjektiver Kriterien eingegangen werden, da ein Teil der Literatur nach wie vor der Auffassung ist, trotz einer Tendenz hin zu subjektiven Kriterien sei nicht ersichtlich, dass der Gerichtshof stets das Bestehen eines subjektiven Missbrauchskriteriums verlange und falls doch ein solches notwendig sei, ist umstritten, wie dies konkret ausgestaltet ist14. Relevant sind insbesondere das Verhältnis subjektiver Kriterien zum Normtelos, der Nachweis subjektiver Kriterien und der Maßstab des subjektiven Missbrauchsvorwurfs bei einem Motivbündel.

II. Institutionelle Grenzen der EuGH-Gerichtsbarkeit zur Entwicklung einer autonomen Missbrauchsmethodik 1. Unionsrechtlicher Kompetenzrahmen als Grundlage der Zuständigkeit des Gerichtshofs Eine vom EuGH entwickelte autonome unionsrechtliche Missbrauchsmethodik kann nur innerhalb der institutionellen Begrenzung der Gerichtsverfassung des Gerichtshofs entwickelt werden15. Zunächst ist der Gerichtshof nur innerhalb des von der begrenzten Einzelermächtigung geprägten Kompetenzrahmens der Union und der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) zur

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Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 19. So von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 98, 308 f.; Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137 (142); Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324. 15 Vgl. Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (379). 14

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Zweiter Hauptteil

Auslegung und Behauptung des Unionsrechts berufen; innerhalb dieser Zuständigkeit jedoch mit ausschließlicher Auslegungskompetenz16. 2. Keine besondere Steuergerichtsbarkeit nach der Gerichtsverfassung Die Gerichtsverfassung des EuGH sieht auf Unionsebene keine besondere Steuergerichtsbarkeit vor. Dennoch sind auch innerhalb von Bereichen, in denen den Mitgliedstaaten ihre originäre Kompetenz weiterhin zusteht, wie etwa dem Bereich der nationalen direkten Steuern, primärrechtliche Grundfreiheiten und damit auch die Kompetenz des EuGH zu berücksichtigen17. In anderen Bereichen unionsrechtlicher Zuständigkeiten, wie im Mehrwertsteuerrecht, wird die Funktion des EuGH über den Schutz des Primärrechts hinaus auch als „letztinstanzliches europäisches Steuergericht“ beschrieben18. Während der Gerichtshof den nationalen Gerichten zwar Auslegungsvorgaben erteilen kann, sind letztverantwortlich die nationalen Gerichte zur Anwendung des Unionsrechts auf den Einzelfall zuständig. Eine wirksame Normbehauptung des Unionsrechts kann daher institutionell letztendlich nur durch ein Zusammenspiel nationaler Gerichte mit dem EuGH gelingen19. 3. Praktische Grenzen der Gerichtsbarkeit des EuGH Der Großteil der Entscheidungen des EuGH zur Auslegung und Präzisierung des Unionsrechts erging im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV durch die Gerichte der Mitgliedstaaten, nur ein kleiner Teil beruht auf Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 256, 258 ff. AEUV20. Der Gerichtshof kann wegen des vom Vorabentscheidungsverfahren bezweckten Kooperationsverhältnisses nicht eigenständig abstrakte dogmatische Vorgaben zur Entwicklung eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zur Wahrung des Unionsrechts machen, sondern er ist aufgrund der Vorlageabhängigkeit an die „richtigen“ Vorlagen im Rahmen der richterlichen Zusammenarbeit mit nationalen Gerichten gebunden21. Als Folge war die Präzisierung der Missbrauchsdogmatik abhängig von den weithin

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Vgl. Gosch, DStR 2007, 1553 (1558); Hey, StuW 2010, 301 (303). Gosch, DStR 2007, 1553 (1558); Hey, StuW 2010, 301 (302). 18 Birkenfeld, StuW 1998, 55 (73); Hey, StuW 2010, 301 (302). 19 Vgl. Gosch, DStR 2007, 1553 (1557); Drüen/Kahler, StuW 2005, 171 (173 ff.); Lambrecht, StuW 2006, 201 (214 f.). 20 EuGH Jahresbericht 2014, S. 100; s. auch Wißmann, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht16, § 267 AEUV Rn. 2; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje7 (Hrsg.), Art. 267 AEUV Rn. 14. 21 Wegener, in: Calliess/Ruffert5 (Hrsg.), Art. 267 AEUV Rn. 1; Hey, StuW 2010, 301 (302); Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union57, Art. 267 Rn. 4. 17

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„zufällig“22 zu entscheidenden konkreten Sachverhalten. Dies erschwerte die Schaffung eines geschlossenen und umfassenden methodischen Systems der Missbrauchsverhinderung durch unionsrechtlich autonome Konzeption erheblich. Außerdem gibt der Gerichtshof bei einem Verstoß nationaler Normen gegen das Unionsrecht keinen Formulierungsvorschlag, wie eine unionsrechtskonforme Norm konkret ausgestaltet werden müsste, sondern stellt nur die Unionsrechtswidrigkeit der nationalen Regelung fest, ohne sie jedoch zu verwerfen23. Es bleibt Aufgabe der Mitgliedstaaten, eine nationale, unionsrechtskonforme Regelung unter Berücksichtigung der Auslegungshinweise des Gerichtshofs selbst zu ermitteln, was häufig mehrere Lösungswege offen lässt24. Werden auf nationaler Ebene unterschiedliche Umsetzungen des Unionsrechts gewählt, kann dies bei fehlender Kongruenz zu Regulierungsarbitrage führen25.

§ 4 Die Auslegung des Unionsrechts als Ausgangspunkt der Normbehauptung I. Auslegungsmethoden des EuGH Nach Art. 19 EUV „sichert [der EuGH] die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Da weder primäres noch sekundäres Unionsrecht Vorschriften darüber enthält, wie der EuGH das europäische Recht auszulegen hat, ist der Gerichtshof „in principle free to choose the method of interpretation that best serves the EU legal order“26. Das Unionsrecht ist für eine einheitliche, dem Gleichheitssatz entsprechende Auslegung autonom, „ausschließlich aus eigenen Rechtsquellen unter Verwendung der unionsrechtlich gebotenen Methoden“, ohne Zugrundelegung eines nationalen Vorverständnisses zu ermitteln27. Dabei bedient sich der EuGH verschiedener Auslegungsmethoden, die weder isoliert betrachtet werden dürfen noch einer hierarchischen Ordnung folgen, sondern einer „complex 22 Hey, StuW 2010, 301 (303); s. auch Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje7 (Hrsg.), Art. 267 AEUV Rn. 5. 23 Hey, StuW 2010, 301 (303); Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje7 (Hrsg.), Art. 267 AEUV Rn. 89 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert5 (Hrsg.), Art. 267 AEUV Rn. 49 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union57, Art. 267 Rn. 104 ff. 24 Hey, StuW 2010, 301 (303). 25 S. dazu noch ausf. unten, § 5 III. 9., § 10 I. 26 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (6). 27 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 335 ff.; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 49; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (16); Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 21 – 60; Florstedt/ Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (377); vgl. auch EuGH v. 14. 12. 2006 – Rs. C-316/05 – Nokia, ECLI:EU:C:2006:789, Rn. 21.

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balancing exercise“ bedürfen, „which must be carried out in a pluralist environment allowing for a mutual exchange of ideas“28. Die Unionsrechtsordnung benötigt – wie jedes Rechtssystem – eine autonome Methodik der Missbrauchsverhinderung, zu der unter anderem die Auslegungsmethoden gehören. Auch in der Europäischen Union findet Normbehauptung zunächst im Wege der Auslegung des Unionsrechts statt. Weder im Primärrecht noch im Sekundärrecht sind Auslegungsmethoden vorgegeben, weshalb der Gerichtshof eine unionsrechtliche Methodik zur Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen entwickeln musste29. Führt bereits die Auslegung zu dem Ergebnis, dass der geltend gemachte unionsrechtliche Vorteil dem Betroffenen nicht zusteht, so kommt es auf ein zusätzliches unionsrechtliches Missbrauchskonzept nicht an. Beruft sich eine Partei auf Unionsrecht, so ist daher zunächst stets zu prüfen, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Nur dann kann die vorteilhafte Rechtsfolge der Unionsnorm eintreten. In zahlreichen potenziell missbräuchlichen Sachverhalten prüfte der EuGH deshalb zunächst, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der unionsrechtlichen Regelung erfüllt wurden. War dies nicht der Fall, so schloss der Gerichtshof schon auf der Ebene der Auslegung des Tatbestandes die Anwendung der unionsrechtlichen Norm und die Gewährung des daraus resultierenden Vorteils aus. In diesen Sachverhalten wird schon das „internal limit“ des Gesetzes selbst überschritten, so dass es auf eine etwa missbräuchliche Geltendmachung des „external“ Rechts nicht mehr ankam30. Kann man bei einem möglicherweise missbräuchlichen Sachverhalt bereits durch Auslegung des Unionsrechts die darin vorgesehene Rechtsfolge verwehren, bedarf es keines Rückgriffs auf das Missbrauchsverbot mehr. Die Analyse der Bedeutung der Auslegung für die Missbrauchsfeststellung und ihr Verhältnis zum Missbrauchsverbot hat besondere Relevanz, da in der Literatur mitunter geltend gemacht wird, Missbrauchsfeststellung sollte nur im Wege der Auslegung stattfinden und nach der „aberration made in Emsland Stärke and Halifax, also the ECJ seems to be back on track of making the finding of abuse a question of interpretation“31.

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Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3. Herresthal, ZEuP 2009, 598 (601 ff.). 30 Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of Case-Law and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107 (114). 31 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 260 (Zitat), 316. 29

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1. Wortlaut Auch im Unionsrecht beginnt die Auslegung mit der Interpretation des Normtextes32, der „soweit wie möglich im Licht des Wortlauts“ auszulegen ist33. Die Wortlautinterpretation kann definiert werden als Interpretation der üblichen Wortbedeutung34. Da die Wortlautinterpretation durch die Gerichte im Voraus mit hoher Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden kann, soll sie am besten dem Grundsatz der Rechtssicherheit entsprechen35, weshalb der Gerichtshof bei einer besonderen Bedeutung der Vorhersehbarkeit die Wortlautinterpretation den anderen Interpretationsmethoden gegenüber vorziehen kann36. Die im Primär- und Sekundärrecht fixierten Wortlaute werden in ihrer im Wortlaut verkörperten Form nach Art. 297 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV veröffentlicht und sind in ihrem Wortlaut nach Art. 55 Abs. 1 EUV verbindlich37. Die verschiedenen Textfassungen unterschiedlicher Sprachen unterliegen dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Textfassungen38, weshalb eine klare, eindeutige Wortlautgrenze mitunter schwer zu ermitteln ist39. Allerdings wird die Funktion der Wortlautinterpretation durch die aus dem französischen Recht teilweise übernommene sens clair-Doktrin eingeschränkt, nach der ein klarer Rechtstext nicht ausgelegt werden könne40. Der EuGH hat diese Doktrin in seine Rechtsprechung übernommen, wenn „die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig [ist], dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt“41. Die Wortlautinterpretation stößt dann an ihre Grenzen, wenn verschiedene Sprachfassungen divergierende Wortbedeutungen enthalten oder wenn der Wortlaut nicht die wahre Bedeutung einer Regelung zum Ausdruck bringt, weil bspw. ein unionsrechtlich autonomes Konzept zum Ausdruck gebracht werden soll, das trotz gleichen Wortlauts einem abweichenden nationalen Vorverständnis unterliegt und deshalb beide Konzepte

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Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 357 ff., 373 ff.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. II, S. 1256; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 114 ff. 33 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 45. 34 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (8). 35 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (8). 36 Vgl. EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-462/06 – Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline, ECLI:EU:C:2008:299, Rn. 28 ff.; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (9). 37 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 373. 38 EuGH v. 6. 10. 1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 18; Lenaerts/ Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (10). 39 Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 50. 40 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 359. 41 EuGH v. 6. 10. 1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 16 (Zitat), zu diesen Voraussetzungen Rn. 17 ff.

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unterschiedliche Bedeutungen aufweisen42. Dies ist insbesondere beim Rechtsmissbrauchsbegriff der Fall43. Im Ergebnis sieht heute keine europäische Rechtsordnung eine alleinige Auslegung nach dem bloßen Wortlaut vor44. 2. Historische Auslegung Der Stellenwert der historischen Auslegung im EU-Recht ist unklar45. Teilweise wird dem historischen Element eine „zentrale Rolle“ zugesprochen46. Nach anderer Auffassung kommt der historischen Auslegung in der bisherigen Praxis nur eine untergeordnete Bedeutung zu47. Die Berücksichtigung von Gesetzgebungsmaterialien im EU-Recht ist in diesem Zusammenhang problematisch48. Materialien des Primärrechts waren lange Zeit nicht zugänglich, so war bspw. die Entstehungsgeschichte der Verträge von Rom legislatorisch nicht nachvollziehbar49. Es wird einerseits vorgetragen, aus einigen Formulierungen des EuGH lasse sich ein Vorrang der historischen Auslegung gegenüber teleologischen oder systematischen Argumenten ableiten50. Nach anderer Auffassung sei auf die Historie nur dann abzustellen, wenn ein Abstellen auf den Inhalt der Materialien im Normtext anklingt51. Selbst wenn Materialien zum Primärrecht veröffentlicht oder sonst genutzt werden 42 EuGH v. 6. 10. 1982 – Rs. 283/81 – C.I.L.F.I.T., ECLI:EU:C:1982:335, Rn. 19; Lenaerts/ Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (7, 14). 43 Vgl. zur unionsrechtlichen Autonomie dieses Begriffs Schlussanträge Generalanwalt Szpunar v. 20. 5. 2014 – Rs. C-202/13 – Sean Ambrose McCarthy, ECLI:EU:C:2014:345, Rn. 112. 44 Florstedt, ZBB 2013, 81 (82). 45 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 378 ff. 46 Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 32; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (14); Leisner, EuR 2007, 689. 47 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 356; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7 Rn. 33 ff. m.w.N. 48 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 389 ff. 49 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 394. 50 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 379 zu EuGH v. 13. 4. 2011 – Rs. T-576/08 – Deutschland / Kommission, ECLI:EU:T:2011:166, Rn. 106 und EuGH v. 31. 3. 1998 – verbundene Rs. C-68/94 und C-30/95 – Frankreich u. a. / Kommission, ECLI:EU:C:1998:148, Rn. 168. Ein derartiges Vorrangverhältnis kann aus den angeführten Fundstellen wohl richtigerweise nicht geschlossen werden, sondern vielmehr nur, dass die verschiedenen Auslegungsmethoden sich ergänzend verwendet werden sollten. 51 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 386 unter Hinweis auf EuGH v. 19. 3. 1996 – Rs. C-25/94 – Kommission/Rat, ECLI:EU:C:1996:114 in dem es in Rn. 38 heißt: „Eine solche Erklärung kann nämlich nicht zur Bestimmung der Tragweite des Ratsbeschlusses herangezogen werden, wenn der Inhalt dieser Erklärung im Wortlaut des Beschlusses keinen Niederschlag findet und somit keine rechtliche Bedeutung hat“ (bezugnehmend auf EuGH v. 26. 2. 1991 – Rs. C-292/89 – Antonissen, ECLI:EU:C:1991:80, Rn. 18).

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könnten, seien diese für die Auslegung regelmäßig unergiebig52. Vermittelnd soll die Historie bei der Auslegung von Sekundärbestimmungen berücksichtigt werden können, bei der Auslegung der Verträge jedoch eine untergeordnete Rolle einnehmen53. Dies hat sich bei späteren Verträgen, bei denen die Entstehung besser nachvollziehbar war, geändert54. Der EuGH geht heute bei textlichen Änderungen davon aus, dass der Unionsgesetzgeber diese bewusst und begründet vornimmt, sodass bis zum Beweis des Gegenteils auch ein Bedeutungsunterschied vermutet wird55. 3. Systematische Auslegung Bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Regelung ist nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Kontext zu berücksichtigen56. Unionsrecht wird nach der systematischen Auslegung „im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts“ interpretiert57. Die systemkonforme Auslegung fragt nach der Funktion einer Regelung im gesamten unionsrechtlichen Normgefüge58. Auch im Unionsrecht hat die systemkonforme Auslegung von Rechtsakten verschiedenen Ranges die Bedeutung einer Vorrangregel, nach der niederrangigere Normen entsprechend höherrangigem Recht auszulegen sind59. Es sind dabei bisweilen der Zusammenhang der jeweiligen Textstelle mit den verschiedenen Absätzen einer Bestimmung oder anderen Bestimmungen der selben Norm von Bedeutung60. Begriffe des EU-Rechts sollen

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Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 395; EuGH v. 12. 4. 2005 – Rs. C-61/03 – Kommission / Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2005:210, Rn. 29 zur Auslegung des EAGVertrags. 53 Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 21 – 62; vgl. in diesem Sinne EuGH v. 12. 4. 2005 – Rs. C-61/03 – Kommission / Vereinigtes Königreich, ECLI:EU:C:2005:210, Rn. 29. 54 EuGH v. 27. 11. 2012 – Rs. C-370/12 – Pringle, ECLI:EU:C:2012:756, Rn. 135. 55 EuGH v. 1. 6. 1961 – Rs. 15/60 – Simon, ECLI:EU:C:1961:11, Rn. 4. 56 EuGH v. 17. 11. 1983 – Rs. 292/82 – Merck, ECLI:EU:C:1983:335, Rn. 12; EuGH v. 30. 1. 1997 – Rs. C-340/94 – de Jaeck, ECLI:EU:C:1997:43, Rn. 17; s. auch Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 21 – 61; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (11). 57 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 394 (Zitat)ff.; vgl. auch EuGH v. 8. 6. 1995 – Rs. C-389/93 – Dürbeck, ECLI:EU:C:1995:174, Rn. 38; grundl. zur systematischen Auslegung des Unionsrechts Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 ff.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 216 ff. 58 Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7 Rn. 22; Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 21 – 61. 59 Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 216 f.; Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882 (895 f.); s. in diesem Kontext zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 8 Rn. 3 ff. 60 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 394 f.

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einheitlich so ausgelegt werden, dass kein Konflikt zwischen der Interpretation des in Frage stehenden Begriffs und dem Gesamtsystem der EU-Rechtsordnung entsteht61. Auch wenn es um die Auslegung nationaler Normen geht, besteht nach der Rechtsprechung des EuGH ein klares Interesse daran, dass aus dem Unionsrecht übernommene Bestimmungen einheitlich auszulegen sind, um Auslegungsunterschiede zu verhindern, sofern sich nationale Rechtsvorschriften nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten62. 4. Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung spielt in den Entscheidungen des EuGH eine besonders wichtige Rolle, wenn nach Ziel und Zweck der Grundfreiheiten oder der relevanten Sekundärvorschrift gefragt wird63. a) Telosermittlung auf Unionsebene Bei der Telosermittlung auf Unionsebene ist entscheidend, ob es nur auf den Zweck der Norm selbst ankommt oder ob auch übergreifende Zwecke des jeweiligen Gesetzes, des Rechtsgebiets oder der ganzen Rechtsordnung zu berücksichtigen sind64. Im Rahmen der teleologischen Auslegung fragt der Gerichtshof sowohl nach den Zielen des EU-Vertrages als auch nach den Zielen der spezifischen Sekundärnormen65. Ausgangspunkt ist die „teleologische Grundstruktur des Gemeinschaftsrechts“, d. h. die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes (Art. 3 Abs. 2, 3 EUV) mit der dafür notwendigen Niederlassungs-, Waren- und Kapitalverkehrs61 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (16); EuGH v. 17. 11. 1983 – Rs. 292/82 – Merck, ECLI:EU:C:1983:335, Rn. 12; EuGH v. 30. 1. 1997 – Rs. C-340/94 – de Jaeck, ECLI:EU:C:1997:43, Rn. 17. 62 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 32; EuGH v. 15. 1. 2002 – Rs. C-43/00 – Andersen og Jensen, ECLI:EU:C:2002:15, Rn. 18; EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 33; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 21. 63 Insbes. EuGH v. 28. 5. 1974 – Rs. 3/74 – Pfützenreuter, ECLI:EU:C:1974:60, Rn. 8; EuGH v. 19. 9. 2000 – Rs. C-156/98 – Deutschland / Kommission, ECLI:EU:C:2000:467, Rn. 53; EuGH v. 29. 11. 2001 – Rs. C-202/99 – Kommission / Italien, ECLI:EU:C:2001:646, 2. LS und Rn. 23; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 55; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-199/08 – Eschig, ECLI:EU:C:2009:538, Rn. 38; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, S. 364 ff. (insbes. S. 394); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 456 ff. 64 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457. 65 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 25; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 42; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 71; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 15, 35; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 35, 37; vgl. auch ; Everling, DStJG 11 (1988), S. 51 ( 60); Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 52.

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freiheit66. Bei der Ermittlung des Telos ist zum einen zu fragen, welchen Zweck die auzulegende Norm selbst verfolgt; zum anderen ist der übergreifende Zweck des Gesetzes und des Rechtsgebiets, dem die Norm angehört, zu berücksichtigen67. Dabei kann der Zweck der Sekundärregelung, etwa ein Fiskal- oder Sozialzweck, vom Primärziel der Wirtschaftsintegration abweichen oder dieses im Detail ergänzen68. Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang teilweise auf die „integrationspolitischen Ziele des EU-Vertrages“, aber auch auf deren Konkretisierung durch spezifische Verordnungs- oder Richtlinienzwecke ab, nicht jedoch auf das zur Umsetzung erfolgte nationale Recht69. Der Unionstelos und der Telos der zur Umsetzung der unionsrechtlichen Regelung erfolgten nationalen Regelung können mitunter stark divergieren, wenn z. B. das Mehrwertsteuersystem integrationspolitische Ziele verfolgt (Schaffung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen, Durchsetzung der Grundfreiheiten und des Vertrags), das deutsche Umsatzsteuergesetz hingegen auf die Erzielung von Einnahmen gerichtet ist70. b) Subjektive vs. objektive Telosermittlung Unterschiede ergeben sich aus der Perspektive, aus der der Telos einer Norm zu ermitteln ist, entweder aus der subjektiven Perspektive des historischen Gesetzgebers oder der objektiven Perspektive der Bedeutung der Norm selbst71. Dogmatisch gehen Vertreter der „objektiven Theorie“ von einer Verselbstständigung des Gesetzes aus, sodass der Telos einer Norm zum Entscheidungszeitpunkt objektiv zu ergründen ist72. Nach Vertretern der „subjektiven Theorie“ könne ein Text selbst keinen Willen und damit auch keinen Zweck oder kein Ziel haben, maßgeblich sei die subjektive Regelungsabsicht des Gesetzgebers73. Der ursprüngliche Normzweck wird durch 66

Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1280). Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457. 68 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (377); Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 56. 69 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (377 auch Zitat); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 456 ff.; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 52; Jansen, ZJS 2011, 482. 70 Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 37 ff. 71 S. grundl. Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 8 ff.; vgl. auch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529; zur nationalen Methodik Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, S. 32 ff. und 316 ff. und Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (321 ff.). 72 Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (322 ff.); im nationalen Recht mit Argumenten für die objektive Theorie Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriffe, S. 428 ff. (insbes. 429); Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, S. 316 ff.; vgl. auch Darstellung bei Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457 ff. 73 Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 12 Rn. 18; Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 9 ff., 41 ff., 53; zur subjektivhistorischen Auslegung Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (13 ff.); Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (321). 67

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historische Untersuchung der Umstände im Zeitpunkt des Normerlasses ermittelt, da dieses objektive ursprüngliche Normverständnis dem Verständnis entspricht, das der Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm hatte74. Divergenzen in der praktischen Auswirkung werden dadurch abgemildert, dass objektive und subjektive Theorie nicht in einem streng alternativen Verhältnis stehen, sondern ergänzend im Sinne einer „Vereinigungstheorie“ herangezogen werden können, wenn bei der Auslegung sowohl der Wille des historischen Gesetzgebers als auch ein objektiver normativer Wille, wie er im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist, berücksichtigt werden75. Der EuGH berücksichtigt mitunter den Begriff „Wille des Unionsgesetzgebers“76 und beruft sich auf Vorstellungen und Absichten des Gesetzgebers77. Wie der Gerichtshof formuliert hat, schließe nach ständiger Rechtsprechung „die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts aus, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck […] auszulegen“78. Gesetze sind somit nach dem normativen Willen des Gesetzgebers auszulegen79. Der EuGH versucht den Willen des Gesetzgebers unter anderem dadurch zu ermitteln, dass er auf die Erwägungsgründe des Sekundärrechts verweist und die Historie der Gesetzgebung einschließlich der Begründung von Richtlinienvorschlägen berücksichtigt80. Das Primärrecht der EU ist nach überwiegender Auffassung „von einer besonderen Dynamik geprägt und auch entsprechend auszulegen“81. c) Metateleological approach Die wohl jüngste Ausprägung teleologischer Auslegung ist der sog. Metateleological approach, der „refers to a particular systemic understanding of the EU legal

74

Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 462. Riesenhuber, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 11 Rn. 11; Herresthal, ZEuP 2009, 598 (606 f.); Canaris, JZ 2011, 879 (886 f.); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457 ff. (insbes. S. 458); Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (325 ff.). 76 EuGH v. 27. 1. 2011 – Rs. C-168/09 – Flos, ECLI:EU:C:2011:29, Rn. 38 (Zitat); ähnlich auch EuGH v. 16. 6. 2011 – verbundene Rs. C- 65/09 und Rs. 87/09 – Gebr. Weber, ECLI:EU:C:2011:396, Rn. 46. 77 EuGH v. 14. 10. 2010 – Rs. C-243/09 – Günter Fuß, ECLI:EU:C:2010:609, Rn. 54; EuGH v. 23.2.210 – Rs. C-310/08 – Ibrahim, ECLI:EU:C:2010:80, Rn. 46. 78 EuGH v. 7. 7. 2011 – Rs. C-445/09 – IMC Securities BV, ECLI:EU:C:2011:459, Rn. 25. 79 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 383. 80 EuGH v. 23. 4. 2009 – Rs. C-533/07 – Falco Privatstiftung und Rabitsch, ECLI:EU:C:2009:257, Rn. 20 ff.; EuGH v. 16. 12. 2008 – Rs. C-127/07 – Societe Arcelor Atlantique et Loraine u. a., ECLI:EU:C:2008:728, Rn. 31, 64. 81 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 475. 75

§ 4 Die Auslegung des Unionsrechts

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order that permeates the interpretation of all its rules“82. Hiernach soll nach dem konstitutionellen Telos der EU gefragt werden, which may „provide a thicker normative understanding of the law beyond the decision in the case [at] hand“83. Unter diesem konstitutionellen Telos seien allgemeine Prinzipien zu verstehen, die hauptsächlich zwei Ziele verfolgen: (1) Soweit die EU-Institutionen bewusst zu keinem einheitlichen Ergebnis gekommen sind, sei es Aufgabe des EuGH, diese Lücken durch allgemeine Prinzipien zu füllen. (2) Diese Prinzipien sollen dem dynamischen Charakter des Integrationsprozesses Rechnung tragen und zu einer besseren Angleichung der Union führen84. 5. Auslegung unter Berücksichtigung des Rechts der Mitgliedstaaten Obwohl EU-Recht autonomes Recht ist, berücksichtigt der EuGH mitunter auch das Recht der Mitgliedstaaten. Dementsprechend „hat der Gerichtshof in Erfüllung der ihm durch Art. 164 des Vertrages übertragenen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern, über eine solche Frage nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, insbesondere indem er auf die Grundprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegebenenfalls auf allgemeine Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreift“85. Je größer die Übereinstimmung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist, desto größer ist auch die Bereitschaft des EuGH, deren Rechtsprinzipien bei Auslegungsfragen zu berücksichtigen86. Bei Diskrepanzen beschra¨ nkt sich der EuGH nicht nur darauf, „seinen Quellen nur ein mehr oder weniger arithmetisches „Mittel“ zwischen den verschiedenen innerstaatlichen Lo¨ sungen zu entnehmen, sondern wu¨ rde diejenigen Lo¨ sungen auswählen, die ihm im Hinblick auf die Vertragsziele als die besten oder, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen will, als die fortschrittlichsten erscheinen“87. Eine derartige Anknüpfung an nationale Privatrechtsbegriffe birgt jedoch aufgrund der Heterogenität der Rechtssysteme der 28 Mitgliedstaaten, die allesamt unterschiedliche Zivilrechtsbegriffe und unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden, 82

Maduro, 1 Eur. J. Legal Stud. (2007), 138 (140). Maduro, 1 Eur. J. Legal Stud. (2007), 138 (143). 84 Maduro, 1 Eur. J. Legal Stud. (2007), 138 (144); Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (34 ff.); vgl. auch Lasser, Judical Deliberations: A Comparative Analasys of Judical Transparency and Legitimacy, passim. 85 EuGH v. 5. 3. 1996 – verbundene Rs. C-46/93 und Rs. C-48/93 – Brasserie du Pecheur und Factortame, ECLI:EU:C:1996:79, 2. LS und Rn. 27 ff. (Hervorhebung durch den Verfasser); vgl. auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (45 ff.). 86 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (49). 87 Schlussanträge Generalanwalt Lagrange v. 4. 6. 1962 – Rs. 14/61 – Hoogovens, ECLI:EU:C:1962:19, S. 570 f. 83

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und der unterschiedlichen Umsetzung von Unionsrecht in den verschiedenen Mitgliedstaaten die Gefahr einer Zersplitterung bei der europäischen Rechtsanwendung, der es durch autonome Unionsrechtsmethodik zu begegnen gilt88.

II. Die Missbrauchsverhinderung durch Auslegungsmethodik 1. Rechtsfortbildung und Analogieschlüsse durch den EuGH Eine wirksame Normbehauptung des Unionsrechts gegen etwaige Missbräuche im Wege der Auslegung ist maßgeblich von der Zulässigkeit und den Grenzen von Rechtsfortbildung und Analogie im Unionsrecht abhängig. Es kommt insbesondere darauf an, inwieweit unionsrechtliche Bestimmungen und Freiheiten im Wege der Analogie über den Wortlaut hinaus oder im Wege der teleologischen Reduktion den Wortlaut einschränkend auf missbräuchliche Sachverhaltsgestaltungen zu Lasten der Wirtschaftsteilnehmer angewendet werden können. a) Möglichkeit der Rechtsfortbildung im Unionsrecht Den Begriff der „Rechtsfortbildung“ verwendete der EuGH lange Zeit in seinen Urteilen nicht explizit89. In seiner neueren Judikatur jedoch hat der Gerichtshof „abweichend von dem nach den geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen engen verfahrensrechtlichen Rahmen bereits im Wege richterlicher Rechtsfortbildung Vorschriften über die Zuständigkeit oder das Verfahren trotz ihres zwingenden Charakters abgeändert, wobei er sich im Wesentlichen auf Gründe der Verfahrensökonomie und einer geordneten Rechtspflege stützt“90 und „im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung aufgestellte Regel angewandt“ hat91. Im Unionsrecht findet – anders als nach nationalem Verständnis – keine am Wortlaut orientierte klare Abgrenzung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung statt, sondern der Gerichtshof spricht allgemein von „Interpretation“ bzw. „Auslegung“92.

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Vgl. grundl Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 394 f. Grundl. zur Rechtsfortbildung im unionsrechtlichen Kontext vgl. statt vieler, Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, passim.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, passim. 90 EuGH v. 10. 7. 2014 – Rs. T-401/11 – Livio Missir Mamachi di Lusignano / Kommission, ECLI:EU:T:2014:625, Rn. 70. 91 EuGH v. 10. 7. 2014 – Rs. T-401/11 – Livio Missir Mamachi di Lusignano / Kommission, ECLI:EU:T:2014:625, Rn. 71. 92 Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 394; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 12 Rn. 2; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 503 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (5). 89

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b) Die Bedeutung der Wortlautgrenze und contra legem Interpretation Wenn der Wortlaut einer Regelung klar und eindeutig formuliert wurde, ist der Gerichtshof sehr zurückhaltend bezüglich einer contra legem Interpretation, da eine Auslegung der Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut aufgrund der Prinzipien von Rechtssicherheit und interinstitutionellem Gleichgewicht nach Art. 13 Abs. 2 EUV nicht stattfinden soll93. Das Verbot der contra legem Auslegung besagt, dass der Gerichtshof eine gesetzgeberische Entscheidung nicht durch seine eigene ersetzen darf und deswegen keine Auslegung oder Rechtsfortbildung entgegen dem normierten Wortsinn und Zweck einer unionsrechtlichen Regelung vornehmen soll94. c) Keine teleologische Reduktion zu Lasten des Unionsbürgers Trotz der hohen Bedeutung der Wortlautgrenze ist eine teleologische Reduktion des Unionsrechts durch den Gerichtshof grundsätzlich möglich95. Eine solche teleologische Reduktion setzt voraus, dass der Wortlaut einer unionsrechtlichen Bestimmung entgegen dem Willen des Gesetzgebers zu weit geraten ist96. Sie soll jedoch „bisher (scl. 2012) aber noch nie vom EuGH bejaht“ worden sein97. Die Zurückhaltung des EuGH, eine teleologische Reduktion im steuerrechtlichen Kontext anzuwenden, zeigte sich in der Rechtssache Zadelhoff, in der der Gerichtshof bestimmt, dass Begriffe, die die Steuerbefreiung nach Art. 13 der Sechsten Richtlinie umschreiben, zwar als Ausnahmen vom allgemeinen Grundsatz, nach dem jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger für Entgelt erbringt, mehrwertsteuerpflichtig ist, eng auszulegen sind, „eine enge Auslegung darf die Steuerbefreiung 93

EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 45; EuGH v. 15. 7. 2010 – Rs. C-582/08 – Kommission / Großbritannien, ECLI:EU:C:2010:429, passim. insbes. Rn. 48; EuGH v. 22. 12. 2008 – Rs. C-48/07 – Les Vergers du Vieux Tauves, ECLI:EU:C:2008:758, Rn. 44; EuGH v. 28. 2. 2008 – Rs. C-263/06 – Carboni e derivati, ECLI:EU:C:2008:128, Rn. 48; EuGH v. 8. 12. 2005 – Rs. C-220/03 – EZB / Deutschland, ECLI:EU:C:2005:748, Rn. 31; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (19) fu¨ hren hierzu aus: „Stated simply, the ECJ will never ignore the clear and precise wording of an EU law provision.“, bzw. „of course, the general principle of interpretation must not trespass on the limit of ,contra legem‘“ (20). 94 Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 8 Rn. 36. 95 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (36); Schlussanträge Generalanwalt Trstenjak v. 15. 5. 2009 – Rs. C-199/08 – Eschig, ECLI:EU:C:2009:310, Rn. 80; wohl auch Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 23. 4. 2009 – Rs. C-7/08 – Har Vaessen Douane Service BV, ECLI:EU:C:2009:259, Rn. 41 ff. (insbes. 45) und Schlussanträge Generalanwalt Albers v. 6. 6. 2000 – Rs. C-434/98 P. – Rat der Europäischen Union / Silvio Busacca u. a. und Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften, ECLI:EU:C:2000:298, Rn. 25. 96 Schlussanträge Generalanwalt Trstenjak v. 15. 5. 2009 – Rs. C-199/08 – Eschig, ECLI:EU:C:2009:310, Rn. 80. 97 Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 174.

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jedoch nicht auf eine Weise beschränken, die sich nicht auf den Wortlaut der fraglichen Vorschrift stützt. Eine solche Auslegung würde nämlich den Zielen des Mehrwertsteuersystems, insbesondere Rechtssicherheit zu gewährleisten, zuwiderlaufen“98. d) Keine Analogie zu Lasten des Unionsbürgers Der Gerichtshof spricht nur selten explizit von Analogie, da er nicht – wie im deutschen Recht – zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet, sondern der französischen Methodik einer umfassenden ,interpretation‘ folgt99. Das bedeutet jedoch kein generelles Verbot der analogen Rechtsanwendung auf Unionsebene100. Auch im Unionsrecht werden durch Analogiebildung unionsrechtliche Bestimmungen auf nicht vom Tatbestand erfasste, ähnliche Tatbestände angewendet101. In der Rechtssache Krohn/Balm hat der Gerichtshof die Voraussetzungen einer Analogie im Unionsrecht dargelegt: Wirtschaftsteilnehmer können sich in Ausnahmefällen auf eine entsprechende Anwendung einer den Sachverhalt eigentlich nicht erfassenden Unionsregelung berufen, wenn dargelegt wird, dass die eigentlich geltende Regelung (1) „zum einen der Regelung, auf deren analoge Anwendung sie sich berufen, weitgehend entspricht“ – also eine vergleichbare Interessenlage vorherrscht, und (2) „zum anderen eine Lücke entha¨ lt, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist und die durch die entsprechende Anwendung geschlossen werden kann“102 – was nach nationalem Verständnis einer unvorhergesehenen Regelungslücke entspricht. An diesen Voraussetzungen hat der EuGH in der Folge festgehalten und dieses Vorgehen als „ständige Rechtsprechung“ definiert103. Zu beachten ist jedoch, dass diese Formulierung lediglich explizit von 98

EuGH v. 5. 7. 2012 – Rs. C-259/11 – Zadelhoff, ECLI:EU:C:2012:423, Rn. 40. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 503. 100 Englisch, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 12.31, S. 552; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 202. 101 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, passim.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 239; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 147; vgl. grundl. zur Methodik Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft6, S. 381 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriffe, S. 472 ff. 102 EuGH v. 12. 12. 1985 – Rs. 165/84 – Kohn / Balm, ECLI:EU:C:1985:507, Rn. 14. 103 EuGH v. 15. 12. 1994 – Rs. T-489/93 – Unifruit Hellas EPE / Kommission, ECLI:EU:T:1994:297, Rn. 57 (Zitat) mit Verweis auf EuGH v. 11. 7. 1978 – Rs. 6/78 – Union française de Céréales, ECLI:EU:C:1978:154, Rn. 4 und EuGH v. 12. 12. 1985 – Rs. 165/84 – Kohn / Balm, ECLI:EU:C:1985:507, Rn. 14; s. auch EuGH v. 26. 10. 2006 – Rs. C-248/04 – Koninklijke Coöperatie Cosun, ECLI:EU:C:2006:666, 1. LS, Rn. 48, 51 f. („Schließlich kann sich zwar ein Wirtschaftsteilnehmer in Ausnahmefällen auf die analoge Anwendung einer Verordnung, die seinen Fall eigentlich nicht erfasst, mit Erfolg berufen, wenn er nachweist, dass die für ihn geltende rechtliche Regelung derjenigen, deren analoge Anwendung er fordert, weitgehend entspricht und darüber hinaus eine Lücke aufweist, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist und durch analoge Anwendung geschlossen 99

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einer Analogie zugunsten des Wirtschaftsteilnehmers spricht. In der Rechtssache Ze Fu Fleischhandel104 entschied der Gerichtshof über die Möglichkeit einer belastenden Analogie von Verjährungsvorschriften. Es stand zur Frage, ob es mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist, zum Schutz der finanziellen Interessen der Union entsprechend der Verordnung Nr. 2988/95 eine „analoge“Anwendung von längeren nationalen Verjährungsfristen zur Rückforderung einer zu Unrecht gezahlten Ausfuhrerstattung anzuwenden, obwohl eine längere Verjährungsfrist eine nachteilige Analogie zu Lasten des Wirtschaftsteilnehmers darstellt105. Der Gerichtshof entschied, dass „jede ,analoge‘ Anwendung einer Verjährungsfrist für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein muss“106. Eine Analogie zu Lasten von Wirtschaftsteilnehmern ist demnach nur mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar, wenn sie vorhersehbar ist. Ein strenges Analogieverbot gilt nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere im Strafrecht107. Ähnliches gilt nach ständiger Rechtsprechung für Ausnahmevorschriften, die eng auszulegen sind108. Allerdings macht der EuGH hiervon Ausnahmen, wenn übergeordnete Werte des Unionsrechts dies erfordern109. Auch im steuerrechtlichen Kontext betont der Gerichtshof die Aufgabe des Unionsgesetzgebers, belastende Steuervorschriften „klar und deutlich“ auszugestalten, sodass der Steuerpflichtige seine „Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann“110. Der Gerichtshof lehnt dementsprechend die Möglichkeit zur Analogiebildung im Unionssteuerrecht und Abgabenrecht grundsätzlich ab111.

werden kann“); s. zu den vom Gerichtshof aufgestellten Voraussetzungen auch Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 147 ff. 104 EuGH v. 5. 5. 2011 – verbundene Rs. C-201/10 und C-202/10 – Ze Fu Fleischhandel, ECLI:EU:C:2011:282. 105 EuGH v. 5. 5. 2011 – verbundene Rs. C-201/10 und C-202/10 – Ze Fu Fleischhandel, ECLI:EU:C:2011:282, Rn. 21 f. 106 EuGH v. 5. 5. 2011 – verbundene Rs. C-201/10 und C-202/10 – Ze Fu Fleischhandel, ECLI:EU:C:2011:282, Rn. 32, 52. 107 EuGH v. 29. 3. 2011 – Rs. C-352/09 P – Thyssen Krupp Nirosta GmbH, ECLI:EU:C:2011:191, Rn. 80. 108 EuGH v. 12. 5. 2001 – C-441/09 – Kommission / Österreich, ECLI:EU:C:2011:295, Rn. 44; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 320 f. 109 EuGH v. 29. 6. 1988 – Rs. 58/87 – Rebmann, ECLI:EU:C:1988:344, Rn. 16. 110 EuGH v. 9. 7. 1981 – Rs. 169/80 – Zollverwalgung / Gondrand Frères, ECLI:EU:C:1981:171, Rn. 17 (Zitat). Dieser Grundsatz wurde mehrfach wiederholt EuGH v. 13. 2. 1996 – Rs. C-143/93 – van Es Douane Agenten, ECLI:EU:C:1996:45, Rn. 27 m.w.N. und zur „ständigen Rechtsprechung“, vgl. Arnauld, Rechtssicherheit, S. 503. 111 Arnauld, Rechtssicherheit, S. 503, 531; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. I, S. 379 f.; Neuner, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 12 Rn. 40.

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Zweiter Hauptteil

2. Missbrauchsverhinderung durch Auslegungsmethodik bei Einhaltung der Wortlautgrenze Sofern der EuGH bereits durch Auslegung die Gewährung des unionsrechtlichen Vorteils ablehnt, kommt der Gerichtshof nach der von ihm verwendeten Dogmatik nicht mehr zu einer Prüfung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Es wird in diesen Fällen bereits der Anwendungsbereich der vorteilsgewährenden Norm durch Auslegung begrenzt112. Dem EuGH stehen dabei zur Missbrauchsverhinderung zwei mögliche Vorgehensweisen zur Verfügung: Entweder eine enge Auslegung, um Missbräuche schon auf dieser Ebene auszuschließen oder eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs in Verbindung mit dem danach zu prüfenden regulierenden Missbrauchsverbot, wie sie z. B. von Generalanwalt Maduro favorisiert wird113. a) Wortlaut als Grenze der engen Auslegung des Anwendungsbereichs von Unionsrecht In einigen Fällen hat der Gerichtshof bereits den Anwendungsbereich des Unionsrechts bei illegitimen Gestaltungen abgelehnt: (1) So hat der EuGH in der Rechtssache Planzer zur Auslegung des Begriffs „Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit“ i. S. v. Art. 1 Nr. 1 der Dreizehnten Richtlinie114 diesen als den Ort definiert, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur all112 Whittaker, Comments of ,Abuse of Law‘ in European Private Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 253 (259). 113 Generalanwalt Maduro formuliert in seinen Schlussanträgen v. 28. 2. 2008 – Rs. C-311/ 06 – Cavallera, ECLI:EU:C:2008:130, Rn. 24 f.: „Daher hängt alles von der Auslegung des Begriffs „Diplom“ im Sinne der Richtlinie 89/48 ab. Nach enger Auslegung ist eine Entscheidung zur Anerkennung der Gleichwertigkeit nicht mit einem Diplom im Sinne der Richtlinie 89/48 gleichzusetzen […]. Nach einer weiten Auslegung kann dagegen eine solche Entscheidung als Diplom im Sinne der Richtlinie 89/48 betrachtet werden. Würde der zuletzt dargestellten Ansicht gefolgt werden, so stellte sich allerdings notwendigerweise im Hinblick auf den Gemeinschaftsgrundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken die Frage, ob sich Herr Cavallera auf die durch die Richtlinie 89/48 verliehenen Rechte berufen kann. Schon jetzt ist einzuräumen, dass die Wahl einer engen oder einer weiten Auslegung der Richtlinie 89/48 dem Gerichtshof zwei gleichwertige Möglichkeiten bietet, da die weite Auslegung mit einer Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken verbunden ist. Diese Betrachtungsweisen stellen, wie nachgewiesen werden wird, zwei Wege dar, die der Gemeinschaftsrichter unterschiedslos beschreiten kann, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Ich bevorzuge allerdings eine weite Auslegung dieser Regelung und insbesondere des Begriffs „Diplom“. Eine solche Wahl bietet nicht nur den Vorteil, die Beurteilungsbefugnis der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Voraussetzungen für den Zugang zu den von der Richtlinie 89/48 erfassten Berufen und für deren Ausübung zu wahren, sondern vermeidet vor allem, wie ich im Folgenden darlegen werde, dass Situationen, die vollständig vom Ziel der Freizügigkeit erfasst werden, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 89/48 ausgeschlossen werden.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 114 Dreizehnte Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige.

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gemeinen Leitung dieser Gesellschaft getroffen und die Handlungen zu deren zentraler Verwaltung vorgenommen werden, und dazu entschieden, dass fiktive Ansiedlungen wie „Briefkastenfirmen“ oder „Strohfirmen“ nicht als Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit angesehen werden können115. (2) In der Rechtssache RAL hat der Gerichtshof im mehrwertsteuerlichen Kontext über die konzerninterne Aufspaltung des Betriebs von Geldspielautomaten entschieden, bei der Eigentum an den Maschinen und deren Betrieb mit dem Ziel getrennt wurden, auf die Geldspielautomatendienstleistungen keine Mehrwertsteuer entrichten zu müssen und die entrichtete Vorsteuer erstattet zu bekommen. Dabei wurde geltend gemacht, dass „der Ort der Leistungserbringung“ das steuerbegünstigte Guernsey sei, da hier der Gesellschaftssitz war. Der Gerichtshof hingegen stellte fest, dass „Ort der Leistungserbringung“ der Ort ist, an dem die Leistung tatsächlich bewirkt wird und nicht der Ort des Sitzes der Gesellschaft116. Somit wurde dieser Gestaltung schon im Wege der Auslegung der Richtlinienbegriffe die Anerkennung des unionsrechtlichen Vorteils verweigert. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass sich der Gerichtshof bei der Auslegung der in Frage stehenden Begriffe im Rahmen der möglichen Wortlautgrenzen bewegt. Von systematischen und teleologischen Überlegungen geleitet verwehrt der EuGH den illegitimen Gestaltungen die Subsumtion unter den Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Regelung. Dabei geht er bei seiner Auslegung jedoch weder über den möglichen Wortlaut der Unionsregelung hinaus noch musste der Wortlaut im Wege einer teleologischen Reduktion eingeschränkt werden. Im Rahmen der Auslegung des Anwendungsbereichs berücksichtigt der Gerichtshof dabei keine subjektiven Kriterien der Beteiligten. b) Weite Auslegung mit anschließendem Missbrauchskorrektiv als sachgerechte Missbrauchsmethodik zum Schutz der Wirksamkeit des Unionsrechts Der weiten Auslegung mit anschließendem Missbrauchskorrektiv folgte der Gerichtshof in einer Vielzahl von Entscheidungen zu Gestaltungen im Grenzbereich zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen, wie an einigen Beispielen dargestellt werden soll: (1) Allgemein hat der Gerichtshof formuliert, dass „Bestimmungen, in denen ein fundamentaler Grundsatz wie der der Freizügigkeit verankert ist, weit auszulegen sind“117. 115 EuGH v. 28. 6. 2007 – Rs. C-73/06 – Planzer, ECLI:EU:C:2007:397, Rn. 60 ff.; ähnl. EuGH v. 2. 5. 2006 – Rs. C-341/04 – Eurofood IFC, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 35. 116 EuGH v. 12. 5. 2005 – Rs. C-452/03 – RAL, ECLI:EU:C:2005:289, Rn. 34. 117 EuGH v. 19. 10. 2004 – Rs. C-200/02 – Zhu und Chen, ECLI:EU:C:2004:639, Rn. 31.

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Zweiter Hauptteil

(2) In der Rechtssache Levin hat der EuGH den Begriff des Arbeitnehmers weit ausgelegt, unabhängig von den Absichten des Arbeitnehmers118. Auch in der Rechtssache TV10 nahm der EuGH eine weite Auslegung des Begriffs Dienstleistungen vor, deren Anwendungsbereich nicht von den bei ihrer Vornahme verfolgten Zwecken abhänge119. (3) In den Rechtssachen Emsland–Stärke120 und Eichsfelder Schlachtbetrieb121 stand zur Frage, ob Waren bei anschließendem Reimport überhaupt exportiert wurden. In beiden Fällen ging der Gerichtshof zunächst von einem Export aus, da die formalen Kriterien erfüllt wurden122, und nahm daher eine weite Auslegung des Begriffs mit anschließendem Missbrauchskorrektiv vor. (4) In den Rechtssachen Inspire Art und Segers nahm der Gerichtshof eine weite Auslegung der Niederlassungsfreiheit vor, nach der deren Anwendungsbereich unabhängig von den Intentionen der Beteiligten auszulegen sei123. Zur Niederlassungsfreiheit stellte der Gerichtshof klar, dass bei einer möglicherweise missbräuchlichen Gestaltung nicht schon der Anwendungsbereich des Unionsrechts eingeschränkt werde und dieser Anwendungsbereich damit „sehr weit gefasst“124 ist, sondern missbräuchliche Praktiken erst die Einschränkungen von Grundfreiheiten rechtfertigen können: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass es fu¨ r die Anwendung der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit ohne Bedeutung ist, dass eine Gesellschaft in einem Mitgliedstaat nur errichtet wurde, um sich in einem zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, in dem die Gescha¨ ftsta¨ tigkeit im Wesentlichen oder ausschließlich ausgeübt werden soll. Die Gru¨ nde, aus denen eine Gesellschaft in einem bestimmten Mitgliedstaat errichtet wird, sind nämlich, sieht man vom Fall des Betruges ab, fu¨ r die Anwendung der Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit irrelevant.“125 118

EuGH v. 23. 3. 1982 – Rs. 53/81 – Levin, ECLI:EU:C:1982:105, Rn. 16 f., 21. EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 15 f.; vgl. auch Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 35. 120 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 47. 121 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 25 f. 122 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 46 f.; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 25 f., 33. 123 EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 95; EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16. 124 EuGH v. 17. 9. 2009 – Rs. C-182/08 – Glaxo Wellcom, ECLI:EU:C:2009:559, Rn. 46. 125 EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 95 f. (Zitat); so auch schon EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs.79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16 und EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 17 f. 119

§ 4 Die Auslegung des Unionsrechts

113

(5) In der Rechtssache Halifax hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob Umsätze i. S. d. Sechsten Richtlinie vorliegen, „wenn sie ausschließlich in der Absicht getätigt werden, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen“126. Der Gerichtshof formulierte hierzu, „aus der Analyse der Definitionen der Begriffe des Steuerpflichtigen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten [werde] deutlich, dass sich der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten auf einen weiten Bereich erstreckt und dass es sich dabei um einen objektiv festgelegten Begriff handelt, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird“127. Der Begriff der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ i. S. d. Sechsten Richtlinie ist daher weit zu verstehen und nur objektiv, unabhängig von subjektiven Kriterien zu bestimmen128. Dies gelte auch für den Begriff der „innergemeinschaftlichen Lieferung“, der unabhängig vom Zweck und Ergebnis der betreffenden Umsätze zu verstehen sei129.

III. Folgerungen Normbehauptung auf Unionsebene beginnt stets mit der Auslegung der Begriffe der vorteilsgewährenden Unionsbestimmung nach den etablierten Auslegungsmethoden des EuGH. Bei der Versagung des unionsrechtlichen Vorteils durch den EuGH im Wege der Auslegung handelt es sich tatsächlich nicht um eigentliche Missbrauchsfälle, da bereits die Voraussetzungen der vorteilsgewährenden Unionsvorschrift durch die gewählte Sachverhaltsgestaltung nicht erfüllt werden. In den vom EuGH auf dieser Ebene als illegitim befundenen Konstellationen wird schon der geltend gemachte Versuch abgelehnt, den gestalteten Sachverhalt unter die vorteilsgewährende Regelung zu subsumieren. Der EuGH verwendet die enge Auslegung lediglich dann als Mittel der Normbehauptung, wenn nicht einmal formal die sich aus der Auslegung ergebenden Tatbestandsmerkmale einer Norm erfüllt werden. Lässt die mögliche Wortlautgrenze eine Interpretation zu, nach der illegitimen Gestaltungen in diesen Fällen aufgrund teleologischer und systematischer Aspekte bereits die Berufung auf unionsrechtliche Vorteile verwehrt werden kann, so ist dies ein vom EuGH verwendetes Mittel, unionsrechtlichen Regelungen ihren Geltungsanspruch zu verschaffen.

126

EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 44, 49 ff. EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 55 (Hervorhebung durch den Verfasser); s. hierzu auch Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (334); Vanistendael, EC Tax Review 15 (2006), 192. 128 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 55 f. (Hervorhebung durch den Verfasser). 129 EuGH v. 27. 9. 2007 – Rs. C-409/04 – Teleos, ECLI:EU:C:2007:548, Rn. 38; EuGH v. 7. 12. 2010 – Rs. C-285/09 – R., ECLI:EU:C:2010:742, Rn. 39. 127

114

Zweiter Hauptteil

Etwas anderes gilt jedoch, wenn die entsprechende Sachverhaltsgestaltung den nach Auslegung des Wortlauts notwendigen Voraussetzungen der Norm entspricht. Eine Auslegung entgegen dem klaren Wortlaut einer unionsrechtlichen Bestimmung wird vom EuGH nur sehr zurückhaltend in besonderen Ausnahmesituationen vorgenommen130. Beachtlich ist hierbei, dass der Gerichtshof weder den Zweck noch das Ziel der Gestaltung berücksichtigt. In den Fällen, in denen durch Gestaltungen zumindest die formalen Voraussetzungen einer Norm erfüllt werden, ergeben sich weitaus schwierigere Bewertungsfragen. Hier wendet der Gerichtshof eine weite Auslegung des Anwendungsbereichs der Unionsregelung mit anschließender Korrektur auf Ebene der Missbrauchsprüfung an. Dem Gerichtshof ist bei seiner Missbrauchsbehandlung durch weite Auslegung des Anwendungsbereichs mit anschließendem Missbrauchskorrektiv auch deswegen beizupflichten, weil Unionsnormen nur auf diese Art und Weise – dem effet utile-Gedanken entsprechend – ihre volle Wirksamkeit entfalten können, da anderenfalls auch Konstellationen vom Anwendungsbereich der vorteilhaften Unionsregelung ausgeschlossen werden könnten, die „vollständig vom Ziel“ der Unionsfreiheit erfasst werden131. Dabei ist auch von Bedeutung, dass weder teleologische Reduktion noch Analogiebildung zu Lasten von Unionsbürgern ausdrücklichen Anklang in der Judikatur des Gerichtshofs gefunden haben. Dahingegen wurde das Missbrauchsverbot als Rechtfertigungsgrund zur Einschränkung unionsrechtlicher Freiheiten durch den Gerichtshof anerkannt. Sofern durch entsprechende Gestaltungen die Wortlautgrenze einer unionsrechtlichen vorteilhaften Norm eingehalten wird – was regelmäßig bei Missbrauchskonstellationen der Fall sein wird – findet Normbehauptung gegenüber missbräuchlichen Gestaltungen nach dem Vorgehen des Gerichtshofs somit nicht bereits auf Ebene der Auslegung des Anwendungsbereichs der Unionsregelung statt, sondern erst auf der folgenden Ebene der Missbrauchsprüfung durch das allgemeine Missbrauchsverbot.

§ 5 Die historische Entwicklung der europäischen Missbrauchsjudikatur Im Folgenden sollen die Entwicklung der Missbrauchsrechtsprechung nachgezeichnet und die wesentlichen Aussagen hinsichtlich der Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Missbrauchs dargestellt und analysiert werden. Das Missbrauchsverbot erhielt im Laufe der Rechtsprechungshistorie immer mehr Konturen, die sich durch Wiederholungen und Bezugnahmen auf frühere Urteile verfestigten. In der Zeitspanne zwischen 2000 bis 2009 erwähnen 339 Urteile den Begriff ,abuse‘ oder eine Abwandlung hiervon, gegenüber 44 in der Zeit zwischen 1954 bis 1969; in 130

Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 188 f. Vgl. Schlussanträgen Generalanwalt Maduro v. 28. 2. 2008 – Rs. C-311/06 – Cavallera, ECLI:EU:C:2008:130, Rn. 24 f. 131

§ 5 Historische Entwicklung

115

der Zeit von 1980 bis 1989 nannte nur jede neunzehnte Entscheidung den Begriff ,abuse‘, wohingegen in der Zeit von 2000 bis 2009 bereits jede zehnte Entscheidung den Begriff ,abuse‘ gebrauchte132. Allein aus dieser numerischen Steigerung wird die wachsende Bedeutung des unionsrechtlichen Missbrauchskonzeptes deutlich.

I. Die zunächst fehlende Konturierung der unionsrechtlichen Missbrauchsdogmatik zu Beginn der EuGH-Judikatur 1. Van Binsbergen – Urteil vom 3. Dezember 1974, Rechtssache 33/74 Van Binsbergen / Bedrijfsverenigung voor de Metaalnijverheid Im Urteil Van Binsbergen entschied der EuGH über die Auslegung der Art. 59 und 60 des EWG-Vertrages und die Reichweite des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft. Auf den Missbrauch von Unionsrecht ging der EuGH lediglich in einem obiter dictum ein. Die nationalen Berufsausübungsregelungen eines Mitgliedstaates über die Erbringung von Dienstleistungen dürften danach nicht durch die Ansässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat umgangen werden133. Der Gerichtshof testierte den Mitgliedstaaten dazu das Recht, Missbrauchsvorschriften zu erlassen, nach denen Konstellationen, die auf die Umgehung nationaler Anforderungen abzielen, den nationalen Vorschriften unterworfen werden134. Aus der dabei verwendeten Formulierung „um sich den Berufsregelungen zu entziehen“135 folgt, dass der EuGH seit Beginn der Missbrauchsjudikatur auf die Vorstellung und Ziele des Gestalters und somit auf subjektive Kriterien abstellt. 2. Leclerc – Urteile vom 10. Januar 1985, Rechtssache 229/83, vom 11. Juli 1985, Rechtssache 299/83 und vom 10. Juli 1986, Rechtssache 95/84 Leclerc / Au Blé Vert – Leclerc I Leclerc / Syndicat des libraires de Loire-Oce´an – Leclerc II Boriello / Darras und Tostain – Boriello In den Rechtssachen Leclerc I, Leclerc II und Boriello hatte der Gerichtshof darüber zu Befinden, ob nationale Rechtsvorschriften, die die Festlegung von 132

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 13. EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 10 ff. 134 EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13. 135 EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13 (Hervorhebung durch den Verfasser). 133

116

Zweiter Hauptteil

Buchpreisen durch Verleger oder Importeure vorsehen, mit den Vorschriften über den freien Wettbewerb sowie Art. 3 Buchstabe f und 5 EWG-Vertrag in Einklang stehen136. Eine unzulässige Beschränkung von Unionsrecht liegt nach der Judikatur des EuGH insoweit dann nicht vor, „wenn sich aus objektiven Umständen ergeben sollte, daß die betreffenden Bücher alleine zum Zweck ihrer Wiedereinfuhr ausgeführt worden sind, um eine gesetzlichen Regelung wie die hier vorliegende zu umgehen“137. Der EuGH fragt, indem er den Zweck der Gestaltung in den Vordergrund stellt, bei einem möglichen Missbrauch nach den Absichten der Betroffenen und stellt somit maßgeblich auf subjektive Kriterien ab. Auch Generalanwalt Darmon stellt bei Fällen des Reimports bei der Qualifizierung als Gesetzesumgehung auf die Absicht des Einzelhändlers zum Zeitpunkt des Exports ab und definierte solche Gestaltungen, bei denen die Ausfuhr nur zum Zwecke der Wiedereinfuhr vollzogen wird, als „künstliches Handelsgeschäft“138.

3. Lair – Urteil vom 21. Juni 1988, Rechtssache 39/86 Sylvie Lair / Universität Hannover Sylvie Lair, eine französische Staatsangehörige, die zunächst als Bankangestellte in der Bundesrepublik Deutschland arbeitete, dann für einen gewissen Zeitraum überwiegend arbeitslos war und schließlich an der Universität Hannover das Studium begann, beantragte die Förderung des Lebensunterhalts nach dem BAföG, welche ihr jedoch verwehrt wurde. Es stellte sich dem Gerichtshof im Missbrauchskontext die Frage, ob die Gewährung einer solchen Förderung im Aufnahmestaat von der Ausübung des Berufes für eine gewisse Dauer abhängig gemacht werden könne, um dadurch auch dem Missbrauch vorzubeugen139. Der Gerichtshof lehnte die Abhängigkeit einer sozialen Vergütung von einem von den Mitgliedstaaten vorgesehenen bestimmten starren Zeitraum der Berufstätigkeit ab140 und stellte zur Missbrauchsverhinderung vielmehr auf die Umstände des Einzelfalles ab: Ein Arbeitnehmer könne sich dann nicht auf die für ihn vorteilhaften gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen berufen, „wenn sich anhand objektiver Merkmale nachweisen ließe, daß sich ein Arbeitnehmer nur in der Absicht in einen Mitgliedstaat begibt, dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit eine Förderung für Studenten in 136 EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 1; EuGH v. 11. 7. 1985 – Rs. 299/83 – Leclerc II, ECLI:EU:C:1985:326; EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 95/84 – Boriello, ECLI:EU:C:1986:301. 137 EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27 (Hervorhebung durch den Verfasser). 138 Schlussanträge Generalanwalt Darmon v. 3. 10. 1984 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1984:301, Rn. 17. 139 EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 40 ff. 140 EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 42.

§ 5 Historische Entwicklung

117

Anspruch zu nehmen“141. Ein solcher Missbrauch sei jedoch bei einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit nicht der Fall. Der EuGH stellte zur Feststellung eines Missbrauchs von Unionsrecht somit auf die nachweisbaren Absichten des Handelnden ab, die bestehende Regelung durch gezielte Sachverhaltsgestaltung zu umgehen. Maßgeblich sind demnach subjektive Kriterien. 4. Direct Cosmetics Ltd – Urteil vom 12. Juli 1988, verbundene Rechtssachen 138/86 und 139/86 Direct Cosmetics Ltd / Commissioners of Customs and Excise und Laughtons Photographs Ltd / Commissioners of Customs and Excise In den verbundenen Rechtssachen Direct Cosmetics Ltd und Laughtons Photographs Ltd jeweils gegen Commissioners of Customs and Excise ging es um die Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer hinsichtlich bestimmter, möglicherweise missbräuchlicher Geschäfte beider Firmen. Der EuGH unterschied in diesem Urteil zwischen den Begriffen der Steuerumgehung und der Steuerhinterziehung. Der Gerichtshof stellte dazu zunächst fest, dass der Begriff der Steuerumgehung in Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff sei und die Definition daher nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten stehen könne142. Für die Steuerumgehung genüge die Erfüllung des „rein objektiven Tatbestands“, wohingegen für die Steuerhinterziehung auch eine darüberhinausgehende „Absicht“ notwendig sei143. Aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie folge, dass die Steuerumgehung einen rein objektiven Charakter habe und der Gesetzgeber im Verhältnis zur Steuerhinterziehung bewusst auf die Voraussetzung der Absicht der Steuerersparnis verzichtet habe. Dies folge auch aus dem Mehrwertsteuersystem, das unabhängig von den Vorstellungen des Steuerpflichtigen vor allem auf eine objektive Wirkungsfähigkeit abziele144. Diesen Verzicht auf die Berücksichtigung subjektiver Kriterien für die Definition der Steuerumgehung leitete der Gerichtshof dabei hauptsächlich aus der Gegenüberstellung zum Begriff der Steuerhinterziehung ab, ohne dabei näher auf die Natur der Steuerumgehung oder deren einzelne Tatbestandsmerkmale einzugehen. Die Nichtberücksichtigung subjektiver Erwägungen und das ausschließliche Abstellen auf objektive Merkmale beruhte in dieser Judikatur vor allem auf praktischen Erwägungen, um das Mehrwertsteuersystem möglichst effizient zur Anwendung bringen zu können. Eine 141 EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43 (Hervorhebung durch den Verfasser). 142 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 20. 143 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 21 (Hervorhebung durch den Verfasser). 144 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 23.

118

Zweiter Hauptteil

ausführliche, differenzierte dogmatische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Steuerumgehung auf unionsrechtlicher Ebene fand zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht statt. Es ist dementsprechend nicht ersichtlich, warum der EuGH damals in dieser Entscheidung zur Steuerumgehung subjektive Intentionen bei Steuergestaltungen nicht berücksichtigte, obwohl er in seiner früheren Judikatur zu anderen Fällen der Gesetzesumgehung subjektive Kriterien als maßgeblichen Gesichtspunkt der Missbrauchsfeststellung erklärte. 5. TV10 – Urteil vom 5. Oktober 1994, Rechtssache C-23/93 TV10 SA / Commissariaat voor de Media a) Sachverhalt Das niederländische Gesetz zur Regelung der Verbreitung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen (Mediawet) sah unterschiedliche Regelungen für inländische Rundfunksendungen und Rundfunksendungen vor, die aus dem Ausland ausgestrahlt werden.145 TV10, eine in Luxemburg niedergelassene Sendeanstalt, deren Geschäftsführung überwiegend von niederländischen Staatsangehörigen ausgeübt wurde, verbreitete ihre Rundfunkprogramme nach luxemburgischen Rechtsvorschriften in Luxemburg und den Niederlanden, wobei das Zielpublikum das niederländische war und die Werbemittel aus den Niederlanden stammten146. Hieraus folgerte die zuständige niederländische Behörde, dass sich TV10 in Luxemburg niedergelassen habe, um sich den niederländischen nationalen Rundfunkvorschriften zu entziehen, und behandelte die Sendeanstalt als Folge nicht als ausländische, sondern als niederländische Gesellschaft. b) Würdigung durch den Gerichtshof aa) Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit Der EuGH hatte die Frage zu beantworten, ob auch eine Sendeanstalt, die sich in einem Mitgliedstaat niedergelassen hat, um sich den strengeren nationalen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zu entziehen, bei ihrer Tätigkeit unter den Begriff der „Dienstleistungen“ i. S. d. Art. 59 und 60 des Vertrages fällt und falls dies der Fall ist, ob in solchen Fällen Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit wegen eines Missbrauchs möglich sind. Das niederländische Gericht hatte dabei – wie auch die zuständige Behörde – bereits festgestellt, dass TV10 die Absicht hatte, sich der niederländischen Regelung zu entziehen und eine Gesetzesumgehung

145 146

EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 3. EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 6.

§ 5 Historische Entwicklung

119

deshalb vorliege147. Sowohl der Gerichtshof als auch Generalanwalt Lenz gingen insoweit davon aus, dass es sich bei der in Frage stehenden Sendetätigkeit um „Dienstleistungen“ i. S. d. Regelung handele, auch wenn der Zweck verfolgt wurde, sich den Rechtsvorschriften für inländische Sendeanstalten zu entziehen148. bb) Missbrauch als Legitimation der Beschränkung der Grundfreiheit Hinsichtlich der Beschränkungsmöglichkeit der Dienstleistungsfreiheit bei Gestaltungsmissbräuchen stellte Generalanwalt Lenz zunächst fest, „daß ein Mitgliedstaat berechtigt ist, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, daß sich ein Dienstleistungserbringer, dessen Tätigkeit ganz oder vorwiegend auf diesen Mitgliedstaat ausgerichtet ist, auf die Dienstleistungsfreiheit beruft, um sich die berufliche Betätigung reglementierenden Vorschriften zu entziehen“149. Um einen solchen Missbrauch festzustellen, müsse zunächst geprüft werden, ob die Dienstleistungsfreiheit in Anspruch genommen wird, um sich den nationalen geltenden Regelungen zu entziehen. Es sei entscheidend, ob es sich bei diesem Kriterium um ein subjektives Merkmal handelt, das insbesondere bei juristischen Personen kaum nachweisbar wäre, oder ob das Entziehen aufgrund objektiver Umstände erkennbar sein müsse150. Da eine Gesetzesumgehung bzw. ein Missbrauch regelmäßig von einer „dies bezweckenden Absicht“ getragen werde, die „zweifellos ein subjektives Element darstellt“, liege ein subjektives Kriterium nahe, dessen Einbeziehung bei der Bewertung von Umgehungen durch natürliche Personen möglich sei151. Jedoch könne eine juristische Person selbst keine subjektive Haltung entwickeln und sei deshalb auch nicht dazu in der Lage, „ethisch verantwortlich“ zu handeln152. Daneben bestünden aufgrund der erheblichen Unterschiede in den nationalen Zurechnungsnormen, durch die das Handeln der Organe den juristischen Personen zugeordnet werden, keine gemeinschaftsweit einheitliche Zurechnungsmöglichkeit einer Umgehungsabsicht, weshalb bei der Gesetzesumgehung durch juristische Personen nicht auf die subjektive Absicht, sondern auf objektive Kriterien abgestellt werden solle153. 147

EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 9. EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 35. 149 Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 53. 150 Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 57. 151 Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 59. 152 Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 60. 153 Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 60 f. 148

Rn. 15 f.; TV 10, TV 10, TV 10, TV 10, TV 10, TV 10,

120

Zweiter Hauptteil

Der EuGH hingegen nahm eine solche Differenzierung zwischen juristischen und natürlichen Personen nicht vor, sondern attestierte den Mitgliedstaaten lediglich das Recht, Maßnahmen gegen Gestaltungen zu erlassen, wenn die Sachverhaltsgestaltung zum Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit führe, „um es dieser Anstalt zu ermöglichen, sich den Regelungen zu entziehen, die auf sie anwendbar wären, wenn sie im Gebiet des ersten Staates niedergelassen wäre“154. c) Folgerungen Sowohl der Gerichtshof als auch der Generalanwalt gingen davon aus, dass eine Missbrauchsabsicht nicht schon den Anwendungsbereich der möglicherweise missbrauchten unionsrechtlichen Grundfreiheit beschränkt, sondern der Missbrauch erst auf Ebene der Rechtfertigung der Beschränkung legitimierende Bedeutung erlangt. Der EuGH stellt zur Missbrauchsfeststellung wiederum auf die subjektive Absicht und den Zweck einer Sachverhaltsgestaltung ab. Dabei differenzierte er für die Maßgeblichkeit subjektiver Kriterien – anders als zunächst noch Generalanwalt Lenz in TV 10 – auch nicht zwischen Gestaltungen durch natürliche oder juristische Personen. 6. Paletta – Urteil vom 2. Mai 1996, Rechtssache C-206/94 Brennet AG / Vittorio Paletta In der Rechtssache Paletta äußerte sich der Gerichtshof im Rahmen einer Streitigkeit über einen potenziell bestehenden krankheitsbedingten Lohnfortzahlungsanspruch zu den Voraussetzungen, die an den Nachweis eines missbräuchlichen Verhaltens gestellt werden dürfen155. Der Gerichtshof wiederholte zunächst, dass nach seiner Rechtsprechung „die mißbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist“156. Daher dürfen nationale Gerichte einen Missbrauch „auf der Grundlage objektiver Kriterien“ feststellen, um dem Betroffenen gegebenenfalls „die Berufung auf das einschlägige Gemeinschaftsrecht zu verwehren“157. Bei der Würdigung des möglicherweise missbräuchlichen Verhaltens müssten jedoch die „Ziele der fraglichen Bestimmung“

154 EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 26 (Hervorhebung durch den Verfasser). 155 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 2. 156 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 24 mit Verweis auf EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 21; EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43 und EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rn. 21. 157 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25.

§ 5 Historische Entwicklung

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beachtet werden158. Der Gerichtshof gab den nationalen Gerichten hierbei Vorgaben, wie der Nachweis eines Missbrauchs zu erbringen ist. Sofern es gerade das Ziel einer Gemeinschaftsregelung ist, Beweisschwierigkeiten für den Betroffenen zu vermeiden, so darf diesem nicht die Beweispflicht für das Nichtvorliegen eines Missbrauchs auferlegt werden, selbst wenn „ernsthafte Zweifel“ für einen Missbrauch sprechen159. Dagegen ist es der Gegenpartei nicht verwehrt, Umstände vorzubringen, die einen Rechtsmissbrauch nachweisen können160. Da der Gerichtshof im konkreten Fall schon das Vorliegen der objektiven Missbrauchsvoraussetzungen ablehnte, kam es folglich systemkonform nicht mehr auf möglicherweise erforderliche subjektive Kriterien an. 7. Leur-Bloem – Urteil vom 17. Juli 1997, Rechtssache C-28/95 A. Leur-Bloem / Inspecteur der Belastingdienst / Ondernemingen Amsterdam 2 Im Urteil Leur-Bloem hatte der Gerichtshof Gelegenheit, sich zur Auslegung der Missbrauchsklausel in Art. 11 Abs. 1 Buchstabe a der (Fusions-)Richtlinie 90/434/ EWG161 zu äußern. Der EuGH stellte dabei fest, dass er auch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten zur Auslegung von Vorschriften zuständig ist, die das Gemeinschaftsrecht zwar nicht unmittelbar regeln, bei denen nationale Rechtsvorschriften jedoch auf gemeinschaftsrechtlichen Regelungen beruhen und durch die Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie rein innerstaatliche Sachverhalte und der Richtlinie direkt unterfallende Sachverhalte gleich behandelt werden, da die auf Gemeinschaftsrecht basierenden Bestimmungen oder Begriffe – unabhängig von den Voraussetzungen, unter denen sie angewandt werden – einheitlich ausgelegt werden sollen, um so Auslegungsunterschiede in der Zukunft zu verhindern162. Auch bei Missbrauchsverboten in unionsrechtlichen Missbrauchsklauseln kommt es nach der Auslegung durch den EuGH maßgeblich auf die mit einer Gestaltung verfolgten Zwecke und somit subjektive Kriterien an. Das Vorliegen eines Missbrauchs ist dabei insbesondere von den Intentionen des Gestalters abhängig, die aufgrund objektiver Kriterien – „vernünftige wirtschaftliche Gründe“ – unter Würdigung aller Besonderheiten des Einzelfalles und Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu ermitteln sind163. Wird mit einer Fusion lediglich ein 158

EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25. EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 26. EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 26. 160 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 27. 161 Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen; s. ausf. unten, § 9 I. 162 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 27, 32, 34. 163 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 40. 159

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horizontaler Verlustausgleich zwischen den Gesellschaften bezweckt, stellt dies keinen über das Streben nach einem steuerlichen Vorteil hinausgehenden vernünftigen wirtschaftlichen Grund dar164. Ein Missbrauch liegt jedoch danach nicht vor, wenn nachweislich vernünftige wirtschaftliche Gründe überwiegen. Durch das Abstellen auf subjektive Kriterien wird nun die frühere, in Direct Cosmetics Ltd165 aufgestellte Unterscheidung zwischen Steuerumgehung, die bei rein objektiven Merkmalen gegeben sein sollte, und Steuerhinterziehung, die darüber hinausgehende subjektive Absichten verlangte, aufgegeben. Auch bei der Steuerumgehung kommt es nunmehr maßbeglich auf subjektive Kriterien an. 8. ICI – Urteil vom 16. Juli 1998, Rechtssache C-264/96 Imperial Chemical Industries plc (ICI) / Kenneth Hall Colmer (HM Inspector of Taxes) Der EuGH hatte in seinem ICI-Urteil darüber zu befinden, ob eine Regelung wie die englische, die einen Steuervorteil an die Voraussetzung knüpfte, dass eine Holdinggesellschaft nur oder überwiegend Aktien von im betroffenen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaften hält, gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 52 EG-Vertrag verstößt166. Dabei stellte der EuGH zunächst fest, dass die einzelnen Mitgliedstaaten zwar für die direkten Steuern zuständig sind, jedoch dabei die Regelungen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere die Niederlassungsfreiheit, berücksichtigen müssen167. Nationale Regelungen, die für die steuerliche Behandlung an den Sitz der kontrollierten Tochtergesellschaften anknüpfen, stellen eine Ungleichbehandlung dar, die – um nicht gegen Gemeinschaftsrecht zu verstoßen – gerechtfertigt sein muss168. Der EuGH stellt zur Gefahr der Steuerumgehung insoweit fest, dass die in Frage stehenden Regelungen „nicht speziell bezwecken, rein künstliche Konstruktionen, die auf eine Umgehung des Steuerrechts […] gerichtet sind,“ dem Steuervorteil zu entziehen, sondern abstrakt alle Fälle unabhängig von den konkreten Gründen umfassen, bei denen die überwiegende Anzahl der Tochtergesellschaften eines Konzerns ihren Sitz außerhalb des Mitgliedlandes der Muttergesellschaft haben169. Dies bedeute jedoch an sich noch keine Steuerumgehung, da 164

EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 47. EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 21. 166 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 18. 167 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 19 f. mit Verweis auf EuGH v. 14. 2. 1995 – Rs. C-279/93 – Schumacker, ECLI:EU:C:1995:31, Rn. 21; EuGH v. 11. 8. 1995 – Rs. C-80/94, Wielockx, ECLI:EU:C:1995:271, Rn. 16; EuGH v. 27. 6. 1996 – Rs. C-107/94 – Asscher, ECLI:EU:C:1996:251, Rn. 36; EuGH v. 15. 5. 1997 – Rs. C-250/95 – Futura Participations und Singer, ECLI:EU:C:1997:239, Rn. 19. 168 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 23 f. 169 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26 (Hervorhebung durch den Verfasser). 165

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die Tochtergesellschaften dem Steuerrecht des Mitgliedstaates ihres Gesellschaftssitzes unterworfen sind170. Eine Steuerumgehung (als besonderer Fall des Missbrauchs von Unionsrecht) ist danach entscheidend vom subjektiven Element – dem angestrebten Zweck – abhängig. Der EuGH stellte zur Bestimmung einer Steuerumgehung insbesondere auf die verfolgte Absicht ab und fragte damit für die Feststellung einer Steuerumgehung wiederum nach subjektiven Kriterien. 9. Centros – Urteil vom 9. März 1999, Rechtssache C-212/97 Centros Ltd / Zentralverwaltung für Handel und Gesellschaften Der EuGH hatte im Rahmen seines Centros-Urteils zu entscheiden, ob eine Zweigniederlassung auch dann von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist, wenn die gesamte Geschäftstätigkeit der Gesellschaft am Ort der Zweigniederlassung stattfindet und die Gründung eines Gesellschaftssitzes in einem anderen Mitgliedstaat lediglich in der Absicht erfolgt, nationale Eigenmittelvorschriften zu umgehen171. Der EuGH stellte mit Bezugnahme auf das Segers172-Urteil fest, dass die Errichtung einer Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat selbst dann unter das Gemeinschaftsrecht fällt, wenn der Sitz der Gesellschaft zwar in einem Mitgliedstaat gewählt wird, die Geschäftstätigkeit jedoch ausschließlich am Sitz der Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt werden soll173. Diese Konstellation falle auch dann unter die Niederlassungsfreiheit i. S. d. Art. 52 und 58 EGVertrag, wenn diese Konstruktion nur gewählt wird, um nationale Eigenmittelvorschriften zu umgehen174. Eine solche Umgehung könne nämlich nicht den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit einschränken, sondern lediglich nationale Maßnahmen zur Verhinderung eines möglichen Missbrauchs von Gemeinschaftsrecht rechtfertigen175. Ziel der Niederlassungsfreiheit sei es, Gesellschaften eines Mitgliedstaates zu ermöglichen, mittels Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten tätig zu werden176. Deshalb liege für sich gesehen noch kein Missbrauch vor, wenn bewusst die zur Verfügung stehende Gesellschaftsform eines anderen Mitgliedstaates gewählt wird, die mehr Freiheiten einräumt, und anschließend die Geschäftstätigkeit im betroffenen Mitgliedstaat über eine Zweig170 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26 (Hervorhebung durch den Verfasser). 171 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 13 f. 172 EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308. 173 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 17. 174 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 18. 175 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 18. 176 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 26.

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niederlassung ausgeführt wird, denn das „Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu errichten und in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen zu gru¨ nden, folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom EGVertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit“177. „Daß eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, keine Gescha¨ ftsta¨ tigkeiten entfaltet und ihre Tätigkeit ausschließlich im Mitgliedstaat ihrer Zweigniederlassung ausübt, belegt zudem nach Randnummer 16 des Urteils Segers noch kein mißbra¨ uchliches und betrügerisches Verhalten, das es dem letzteren Mitgliedstaat erlauben wu¨ rde, auf diese Gesellschaft die Gemeinschaftsvorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anzuwenden.“178 Aus der Argumentation des Gerichtshofs folgt, dass die Absicht, nationale Regelungen zu umgehen, unschädlich ist, wenn diese Umgehung nationaler Rechtsvorschriften gerade durch die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift ermöglicht werden soll und daher schon objektiv kein Missbrauch gegeben ist. Wenn das Gemeinschaftsrecht besondere Freiheiten eröffnet, dann ist die Absicht, diese Freiheiten auszunutzen, nicht missbräuchlich, solange diese Verhaltensweise mit den Zielen der betroffenen Gemeinschaftsnorm in Einklang steht, selbst wenn dies bedeutet, dass dabei nationale belastende Vorschriften umgangen werden. Auf subjektive Missbrauchskriterien kommt es demnach nicht an, wenn schon objektiv kein missbräuchliches Verhalten festgestellt werden kann. Nationale Maßnahmen, die Grundfreiheiten wie die Niederlassungsfreiheit einschränken, sind nach dem EuGH nur dann zulässig, wenn sie (1) nicht diskriminierend sind, (2) zwingenden Gründe des Allgemeininteresses entsprechen, (3) zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und (4) erforderlich sind179. Es dürfen nur dementsprechende, „geeigneten Maßnahmen“ getroffen werden, „um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen“180. 10. Diamantis – Urteil vom 23. März 2000, Rechtssache C-373/97 Dionysios Diamantis / Griechischer Staat, Anstalt für Unternehmensneuordnung (OAE) In der Rechtssache Diamantis hatte der Gerichtshof über die Voraussetzungen einer missbräuchlichen Ausübung des sich aus Art. 25 der Zweiten Richtlinie 77/71/ EWG181 ergebenden Rechts zu entscheiden, wonach jede Kapitalerhöhung von der 177

EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 27. EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 29. 179 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 34. 180 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 38 (Hervorhebung durch den Verfasser). 181 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten. 178

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Hauptversammlung beschlossen werden muss, sowie unter welchen Voraussetzungen eine nationale Missbrauchsklausel für die Missbrauchsfeststellung angewendet werden kann182. Ein Missbrauch des durch Art. 25 der Zweiten Richtlinie gewährten Rechts liegt nach dem EuGH vor, wenn der Aktionär sich auf dieses Recht beruft, „um widerrechtliche und mit dem Zweck dieser Vorschrift offensichtlich unvereinbare Vorteile zu Lasten der Gesellschaft zu erlangen“183. Um den gemeinschaftsrechtlich gewährten Vorteil aufgrund eines derartigen Missbrauchs verwehren zu können, müssten nationale Gerichte bei der Anwendung einer nationalen Missbrauchsbestimmung das missbräuchliche Verhalten aufgrund „objektiver Kriterien“ feststellen, wobei die Zwecke der unionsrechtlichen Bestimmung beachtet werden müssen und die Anwendung der Missbrauchsbestimmung „die Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen“ dürfen184. Es sei Aufgabe der nationalen Gerichte zu prüfen, ob die nationale Missbrauchsbestimmung mit diesen Vorgaben vereinbar ist, wobei die vom Gerichtshof aufgestellten, „für die Beurteilung dieser Frage geeigneten Auslegungskriterien“ beachtet werden müssen185. Der EuGH geht also davon aus, dass ein Missbrauch des Unionsrechts von nationalen Gerichten anhand von nationalen Missbrauchsbestimmungen geprüft werden kann, wobei dabei die Zwecke der gemeinschaftsrechtlichen Regelung und die hierzu erfolgte Auslegung des Gerichtshofs beachtet werden muss. Es müssen demnach bei der Anwendung nationaler Missbrauchsbestimmungen bei der Sanktionierung eines Missbrauchs des Unionsrechts die vom Gerichtshof aufgestellten Grenzen einer Missbrauchsfeststellung beachtet werden. Auch subjektive Kriterien werden berücksichtigt, wenn der Gerichtshof ausführt, ein Missbrauch des Rechts aus Art. 25 der Zweiten Richtlinie liege dann vor, wenn sich der Aktionär auf dieses Recht beruft, „um widerrechtliche und mit dem Zweck dieser Vorschrift offensichtlich unvereinbare Vorteile zu Lasten der Gesellschaft zu erlangen“. Insofern stellt der Gerichtshof auch bei einem individuellem Rechtsmissbrauch auf die mit der Geltendmachung des Rechts verfolgte schädliche Absicht ab.

182

EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 1, 31. EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33 mit Verweis auf EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 28. 184 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34. 185 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 36. 183

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II. Ausdifferenzierte Missbrauchsdogmatik durch Benennung konkreter Missbrauchskriterien 1. Emsland-Stärke – Urteil vom 14. Dezember 2000, Rechtssache C-110/99 Emsland-Stärke GmbH / Hauptzollamt Hamburg-Jonas a) Sachverhalt Die Emsland-Stärke GmbH führte in mehreren Sendungen stärkehaltige Produkte aus Deutschland in die Schweiz aus und erhielt hierfür auf Antrag von der Beklagten eine Ausfuhrerstattung. Empfänger der Lieferungen waren zwei in der Schweiz ansässige Gesellschaften, die vom selben Personenkreis wie Emsland-Stärke geführt wurden. Die Rechnungsadresse war bei allen Sendungen die Adresse einer der beiden schweizerischen Gesellschaften. Nach Gewährung der Ausfuhrerstattung durch die deutschen Zollbehörden stellte sich heraus, dass bei einigen Lieferungen die in die Schweiz exportierten Produkte unmittelbar nach der Abfertigung für den freien Verkehr in der Schweiz unverändert und mit denselben Transportmitteln zurück nach Deutschland importiert, bei anderen Lieferungen unmittelbar nach Italien weiter exportiert wurden, wobei die dabei vorgesehenen Eingangsabgaben entrichtet wurden. Da die zu entrichtenden Eingangsabgaben lediglich in etwa der Hälfte der zu erzielenden Ausfuhrerstattungen entsprachen, entstand ein Gewinn in Höhe dieser Differenz186, weshalb die deutsche Zollbehörde die gewährten Ausfuhrerstattungen von Emsland-Stärke zurückverlangte. Die einschlägige Verordnung über die Ausfuhrerstattung bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen187 sah jedoch keine Bestimmung als Rechtsgrundlage zur Rückgewähr bereits gewährter Ausfuhrerstattungen vor188. Der EuGH hatte somit zu entscheiden, ob die Rückgewähr der bereits erfolgten Ausfuhrerstattungen auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs gestützt werden konnte. b) Vorbringen der Kommission Die Kommission verwies in ihrer Stellungnahme hinsichtlich des Rechtsmissbrauchs zunächst auf die Regelung des Art. 4 Abs. 3 der Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft189. Der dieser Regelung 186

EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 27. Verordnung Nr. 2730/79 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen in der durch die Verordnung Nr. 568/85 geänderten Fassung. 188 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 3. 189 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. 12. 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften: „Handlungen, die nachgewiese187

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zugrundeliegende Rechtsgedanke zum Rechtsmissbrauch, der in fast allen Mitgliedstaaten existiere und auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Anwendung finde, sei hierbei Ausdruck eines in der Gemeinschaftsordnung geltenden „allgemeinen Rechtsgrundsatzes“, selbst wenn der EuGH diese Formulierung nicht ausdrücklich anerkannt habe190. Das Vorliegen dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Rechtsmissbrauchs verlange nach Auffassung der Kommission drei Elemente: (1) ein objektives Element, nach dem die Voraussetzungen zur Anwendbarkeit einer Norm, die formal eingehalten wird, nachweislich „künstlich geschaffen“ wurden. Diese Künstlichkeit sei dann gegeben, wenn Handelsgeschäfte keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen, sondern ausschließlich eine staatliche Vergünstigung bezweckt werde. Ob das objektive Element vorliege, bedürfe einer Einzelfallanalyse, bei der sowohl der Sinn und Zweck der Regelung als auch das Verhalten eines „umsichtigen Wirtschaftsteilnehmers“ in der entsprechenden Situation zu berücksichtigen sei. (2) Daneben sei ein subjektives Element notwendig. Eine Gestaltung müsse danach „in erster Linie“ absichtlich gewählt worden sein, um sich einen zweckwidrigen finanziellen Vorteil zu verschaffen. (3) Das dritte Element sei die verfahrensrechtliche Beweislast, die bei der national zuständigen Verwaltung liege. Es sei hierbei jedoch in „extremen Mißbrauchsfällen“ ein „prima-facie-Beweis“ möglich, der ggf. zu einer Beweislastumkehr führen könne191. c) Würdigung durch den Gerichtshof Der EuGH stellte in seiner Würdigung zunächst fest, dass alle „formalen Voraussetzungen“ für die Gewährung der Ausfuhrerstattung erfüllt worden seien192. Er wiederholte jedoch seine Rechtsprechung, nach der Gemeinschaftsrecht keine missbräuchlichen Praktiken schütze193. aa) Missbrauchsvoraussetzungen Das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs setze voraus, dass „eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemein-

nermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird“; s. ausf. unten, § 9 II. 190 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 37 f.; so auch Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – EmslandStärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. 191 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 39 (auch Zitat). 192 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 46. 193 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51.

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schaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde“194. Daneben sei ein subjektives Element notwendig, „nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“195. Das subjektive Element könne u. a. durch den Nachweis eines „kollusiven Zusammenwirkens“ zwischen den beteiligten Parteien festgestellt werden. Im konkreten Fall könne dieses kollusive Verhalten im Zusammenwirken zwischen Emsland-Stärke als Ausführer, der die Erstattung erhält, und den Schweizer Gesellschaften liegen, die die Wiedereinfuhr erbringen. Es sei jedoch Aufgabe der nationalen Gerichte, das Vorliegen beider „Elemente“ festzustellen. Für den Nachweis seien dazu, solange die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrecht davon nicht beeinträchtigt wird, nationale Vorschriften entscheidend196. Generalanwalt Alber bezeichnet ein solch kollusives Zusammenwirken zwischen Ausführer und Wiedereinführer, das von Beginn an den Reimport beabsichtigt, als „,Scheingeschäft‘ zum Zwecke der unberechtigten Ausnutzung gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsregeln“197. Nach Generalanwalt Alber sei das subjektive Element des Missbrauchs eine unentbehrliche Voraussetzung für einen Rückgewähranspruch, der auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt ist198. bb) Rechtsfolge eines Missbrauchs und Rechtssicherheit Emsland-Stärke trug u. a. vor, dass die Rückgewähr der Ausfuhrerstattung schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht gerechtfertigt sei. Sofern das objektiv feststellbare Kriterium, die Abfertigung der Waren zum freien Verkehr in einem Drittstaat, erbracht wurde, müsse dies zum Beweis der Ausfuhr genügen, da anderenfalls „erhebliche Rechtsunsicherheit“ für den Exporteur bestünde, da dieser nicht beeinflussen könne, ob der Abnehmer der Waren die Produkte letztendlich zurückführen werde199. Dieser Argumentation erteilte der EuGH eine klare Absage. Sofern ein Missbrauch festgestellt wird, verstoße die Rückzahlungspflicht gerade nicht gegen „rechtsstaatliche Grundsätze“, da die Voraussetzungen zur Gewährung des Vorteils missbräuchlich geschaffen wurden200. Generalanwalt Alber formuliert hierzu in seinen Schlussanträgen treffend: „Das rechtsmißbräuchlich handelnde 194 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52 (Hervorhebung durch den Verfasser). 195 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53 (Hervorhebung durch den Verfasser). 196 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 54. 197 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 74. 198 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. 199 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 22. 200 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56.

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Rechtssubjekt verwirkt insofern den einem redlich handelnden Wirtschaftsteilnehmer von der Rechtsordnung garantierten Schutz.“201 Ein Missbrauch durch den Ausführer sei auch dann möglich, wenn das Produkt vom Käufer im Drittland an ein „ihm personell und wirtschaftlich verbundenes“ Unternehmen weiterverkauft wird, bevor es wieder in die Gemeinschaft importiert wird202. Eine derartige Gestaltung spreche für das Vorliegen eines willkürlichen Charakters, den die nationalen Gerichte festzustellen haben. d) Folgerungen Der EuGH fasste nun erstmals die Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs und dessen Prüfungsreihenfolge zusammen. Es wird sowohl ein objektives als auch ein subjektives Element gefordert. In den Definitionen dieser beiden Elemente durch den EuGH und die Kommission ergeben sich jedoch Unterschiede. Während der EuGH als objektives Element den Verstoß der Gestaltungen gegen das „Ziel“ der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung sieht, verlangt die Kommission als objektives Element, dass die Voraussetzungen der Norm „künstlich“ geschaffen wurden. Demgegenüber verlangt der EuGH als subjektives Element die Absicht, sich den gemeinschaftsrechtlichen Vorteil durch „willkürliche“ Gestaltung zu sichern, während die Kommission die Absicht verlangt, einen „zweckwidrigen Vorteil“ zu erlangen. Die englische Fassung spricht dabei von ,artificially‘, die französische von ,artificiellement‘, sodass ,willkürlich‘ wohl auch als künstlich verstanden werden kann. Die Auffassung des EuGH ist hierbei vorzugswürdig, da der Zweck der in Frage stehenden Norm gerade objektiv, unabhängig von den individuellen Vorstellungen des Handelnden zu bestimmen ist. Dagegen ist die Intention bei der Schaffung der Bedingungen dafür entscheidend, ob diese „willkürlich“ zur Erreichung des angestrebten Vorteils gestaltet wurden. Beachtenswert ist überdies, dass der EuGH und die Kommission die Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchs weder davon abhängig machen, ob die umgangene Norm eine gemeinschaftsrechtliche oder nationale Bestimmung ist, noch ob die vorteilhafte Norm, auf die sich der Handelnde beruft, als Grundfreiheit oder sekundärrechtliche Bestimmung ausgestaltet ist. Es werden vielmehr generell anwendbare Voraussetzungen aufgezeigt, die auf einen – wie von der Kommission explizit formulierten – „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ hindeuten, der alle Erscheinungsformen des Rechtsmissbrauchs umfassen soll. Dieser Grundsatz kann als Rechtsgrundlage für die Rückforderung bereits erbrachter Leistungen dienen.

201

Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. 202 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56, 58.

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2. Lankhorst-Hohorst – Urteil vom 12. Dezember 2002, Rechtssache C-324/00 Lankhorst-Hohorst GmbH / Finanzamt Steinfurt In der Rechtssache Lankhorst-Hohorst hatte der EuGH über die Vereinbarkeit von § 8a KStG in der von 1996 bis 1998 gültigen Fassung mit der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG zu entscheiden. § 8a KStG sah vor, dass Vergütungen für Fremdkapital, das von einem nicht zur Anrechnung von Körperschaftsteuer berechtigten wesentlichen Anteilseigner eingebracht wurde, als verdeckte Gewinnausschüttungen gelten, wenn sie einem Fremdvergleich nicht standhalten. Nicht zur Steueranrechnung berechtigt waren ausländische Anteilseigner, öffentlichrechtliche Körperschaften und förderungswürdige Körperschaften203, während deutsche Muttergesellschaften nur in Ausnahmefällen von der Körperschaftsteuer freigestellt und daher grundsätzlich anrechnungsberechtigt waren204. In diesem Kontext wiederholte EuGH zunächst seine „ständige Rechtsprechung“, wonach die Mitgliedstaaten zwar für direkte Steuern zuständig sind, dabei jedoch das Gemeinschaftsrecht beachten müssen und insbesondere keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit stattfinden dürfe205. Eine vom Sitz der Muttergesellschaft abhängige Behandlung, wie es § 8a KStG vorsah, stelle eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, die nach Art. 43 EG grundsätzlich verboten sei206. Eine solche diskriminierende Maßnahme sei nur ausnahmsweise möglich, wenn ein legitimes, mit dem EG-Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird, die belastende Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist und „durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt“ wird207. Zu einer etwaigen Rechtfertigung der deutschen Regelung verwies der EuGH zunächst auf seine „ständige Rechtsprechung“, „wonach Steuermindereinnahmen nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen sind“, durch die gegen Grundfreiheiten verstoßende Maßnahmen gerechtfertigt werden können208. Solange die betroffenen Gesellschaften zumindest dem Steuerrecht des Niederlas-

203

Rn. 4. 204

EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749,

EuGH Rn. 23. 205 EuGH Rn. 26. 206 EuGH Rn. 32. 207 EuGH Rn. 33. 208 EuGH Rn. 36.

v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749,

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sungssitzes unterliegen, sei keine Gefahr der Steuerumgehung gegeben209. Eine Maßnahme sei nur dann durch die Gefahr der Steuerumgehung gerechtfertigt, wenn die Rechtsvorschrift speziell bezweckt, „rein künstliche Konstruktionen, die darauf gerichtet sind, der Anwendung des deutschen Steuerrechts zu entgehen“, von einem Steuervorteil auszuschließen210. Diese Untersuchung beinhaltet eine subjektive Komponente, die vom individuellen Ziel und Zweck der Gestaltung abhängig ist. Es kommt daher auf die im Einzelfall vorherrschende Situation an. Da die deutsche Regelung nicht nur auf derartige Fälle begrenzt war, sondern alle Sachverhalte, in denen die Muttergesellschaft ihren Sitz außerhalb der Bundesrepublik hat, umfasste, konnte sie die Diskriminierung nicht rechtfertigen. 3. Ninni-Orasche – Urteil vom 6. November 2003, Rechtssache C-413/01 Franca Ninni-Orasche / Bundesminister für Wissenschaft, Verkehr und Kunst Der EuGH hatte in der Rechtssache Ninni-Orasche zu entscheiden, ob auch eine zeitlich befristete Beschäftigung von zweieinhalb Monaten in einem anderen Mitgliedstaat die Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 48 EG-Vertrag begründet und ob sich Umstände aus der Zeit vor oder nach der Beschäftigung auf diese Arbeitnehmereigenschaft auswirken, wie eine Aufnahme der Beschäftigung erst nach einigen Jahren nach der Einreise, der Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung unmittelbar nach Beendigung einer auf kurzen Zeitraum befristeten Beschäftigung und die Bemühung um ein anderes Beschäftigungsverhältnis kurz nach dem Ende der zeitlich befristeten Anstellung bis zum Antritt des Studiums211. Der EuGH stellte fest, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ i. S. d. Art. 48 EG-Vertrag nur anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Beteiligten charakterisieren212. Aus diesem Verständnis des EuGH geht hervor, dass unionsrechtliche Begriffe wie „Arbeitnehmer“ als Tatbestandsvoraussetzungen nur anhand objektiver Kriterien zu bestimmen sind. Ein Missbrauch dieser Regelung liege dann vor, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates „nur in der Absicht in einen anderen Mitgliedstaat“ auswandert, um dort nach sehr kurzer Arbeitszeit eine Studienförderung in Anspruch zu nehmen213. Es sei hierbei Sache der nationalen Gerichte festzustellen, ob eine Beschäftigung nur ausgeübt wurde, um von der Studienförderung des anderen 209 EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37. 210 EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37 (Hervorhebung durch den Verfasser). 211 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 18. 212 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 24. 213 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 36 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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Zweiter Hauptteil

Mitgliedstaates zu profitieren214. Es dürfe aus der Befristung der Beschäftigung alleine jedoch „nicht zwingend geschlossen werden“, dass die Arbeitslosigkeit freiwillig erfolgte215. Es können insoweit zur Feststellung der Umgehungsabsicht die konkreten Umstände – Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung kurz nach Ende der Beschäftigung, Suche nach neuer Beschäftigung und deren Art – jedoch auch die weiteren Motive und Gründe berücksichtigt werden216. Vorliegend sei zu beachten, dass Ninni-Orasche nach Österreich kam, um mit ihrem österreichischen Ehemann zusammen zu leben217. 4. Gemeente Leusden und Holin Groep – Urteil vom 29. April 2004, verbundene Rechtssachen C-487/01 und C-7/02 Gemeente Leusden und Holin Groep BV / Niederländischer Finanzminister Der EuGH hatte im Rahmen der verbundenen Rechtssachen Gemeente Leusden und Holin Groep, in denen um den Vorsteuerabzug der Mehrwertsteuer gestritten wurde, über die Auslegung der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern218 und die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit zu entscheiden.219 Nach dem Vorbringen des Gerichtshofs sind die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit Teil der Gemeinschaftsordnung und müssen sowohl von den Gemeinschaftsorganen als auch von den Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung gemeinschaftsrechtlicher Befugnisse beachtet werden220. Zwar stünde der Grundsatz der Rechtssicherheit „nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes“ grundsätzlich der Rückwirkung für Sachverhalte vor dem Veröffentlichungszeitpunkt entgegen. Diese Rückwirkung sei jedoch ausnahmsweise möglich, wenn sie zur Erreichung des angestrebten Zieles notwendig ist und das „berechtigte Vertrauen“ der Betroffenen hinreichend beachtet wurde221. Ein Steuerpflichtiger könne mithin kein berechtigtes Vertrauen auf die Aufrechterhaltung

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EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 41. EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 42. 216 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 46. 217 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 47. 218 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage. 219 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 1. 220 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 57. 221 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 59. 215

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gesetzlicher Rahmenbedingungen haben, die Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbräuche ermöglichen222. Ein solcher Missbrauch liege vor, wenn „eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht vorhanden ist, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“223. Ob ein Missbrauch trotz Einhaltung aller „formalen Bedingungen“ vorliegt, macht der Gerichtshof somit wiederum von einem objektiven und einem subjektiven Element abhängig. Die Rückgewähr eines Vorteils, der durch einen Missbrauch rechtswidrig erlangt wurde, verstoße nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze, sondern sei lediglich die Folge der Feststellung eines Missbrauchs224. Selbst wenn einem Steuerpflichtigen, obwohl er durch die Ausnutzung einer Rechtsvorschrift oder Gesetzeslücke – ohne dass dadurch ein Missbrauch vorliegt – weniger Steuern zahlen muss, nach nationalem Recht keine Steuerumgehung vorgeworfen werden könne, verletze die Aufhebung dieses rechtlichen Rahmens kein gemeinschaftsrechtlich geschütztes Vertrauen, da eine solche Maßnahme geboten sei, um das Ziel der Bekämpfung der Steuerumgehung zu erreichen225. Außerdem habe der niederländische Staat die notwendigen Mitteilungen veröffentlicht, damit der Betroffene nicht von den Modalitäten der Durchführung der Gesetzesänderung in seinem berechtigten Vertrauen verletzt wird226. 5. Eichsfelder Schlachtbetrieb – Urteil vom 21. Juli 2005, Rechtssache C-515/03 Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH / Hauptzollamt Hamburg-Jonas Der EuGH hatte in der Rechtssache Eichsfelder Schlachtbetrieb zu entscheiden, ob die in der Verordnung über die gemeinsame Durchführung für Ausfuhrerstat222 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 77. 223 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52 f. 224 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56. 225 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 79 f. 226 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 81.

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Zweiter Hauptteil

tungen227 notwendige Voraussetzung, also die Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die Abfertigung zum freien Verkehr im Bestimmungsland, auch dann erfüllt ist, wenn das Erzeugnis nach Zahlung der Einfuhrabgaben in einem Drittland einer wesentlichen Be- oder Verarbeitung unterzogen wird, anschließend in die Gemeinschaft reimportiert wird und dabei die Importzölle im Drittland rückerstattet werden228. Im Kontext eines möglichen Missbrauchs wiederholt der Gerichtshof seine zweistufige Missbrauchsprüfung, nach der der Nachweis eines Missbrauchs „zum einen voraussetzt, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und dass er zum anderen ein subjektives Element voraussetzt, nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“229. Das objektive Element des Missbrauchs liegt in der Verfehlung des Ziels der Gemeinschaftsregelung, was durch eine Gesamtbetrachtung der objektiven Umstände durch die nationalen Gerichte festzustellen ist. Daneben ist als subjektives Element erforderlich, dass die Voraussetzungen dieses Vorteils durch die Gestaltung gerade absichtlich, „künstlich“ bzw. „willkürlich“ geschaffen werden. Es sei hierbei nach den „Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Effektivität des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt wird“ – Sache der nationalen Gerichte, das Vorliegen der „Tatbestandsvoraussetzungen“ eines Missbrauchs festzustellen230. Beachtlich ist insoweit, dass der Gerichtshof selbst von Tatbestandsvoraussetzungen des zu prüfenden Rechtsmissbrauchs spricht. Eine Rückzahlung der Ausfuhrerstattung könne dann angeordnet werden, wenn das nationale Gericht nach diesen Voraussetzungen einen Missbrauch durch den Exporteur feststellt231. 6. Ungarn / Slowakische Republik – Urteil vom 16. Oktober 2012, Rechtssache C-364/10 Ungarn / Slowakische Republik

227

Artikel 17 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. 11. 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen. 228 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 25. 229 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52. 230 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40. 231 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 42.

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In der Rechtssache Ungarn gegen die Slowakische Republik hatte der Gerichtshof u. a. darüber zu entscheiden, ob die Slowakische Republik das in Art. 21 Abs. 1 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG232 verankerte Recht auf Freizügigkeit missbraucht hat, indem slowakische Behörden dem ungarischen Präsidenten Sólyom unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2004/38/EG die Einreise in ihr Hoheitsgebiet versagten233. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Slowakische Republik zwar, wie sie selbst eingeräumt habe, gegen die Richtlinie 2004/38/EG verstoßen habe, indem sie in ihrer Verbalnote an den ungarischen Präsidenten zu Unrecht auf diese Richtlinie Bezug nahm234. Jedoch reiche dieser Umstand zum Nachweis eines Rechtsmissbrauchs nicht aus235. Der Gerichtshof habe insoweit bereits entschieden, „dass der Nachweis eines Missbrauchs zum einen voraussetzt, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und dass er zum anderen ein subjektives Element voraussetzt, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden“236. Da in der Verbalnote des slowakischen Außenministeriums keine Entscheidung i. S. d. Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG zu sehen sei und eine solche Herrn Sólyom selbst auch nicht nach Art. 30 der Richtlinie mitgeteilt wurde, seien insoweit schon die formalen Bedingungen der Richtlinie nicht eingehalten worden237. Daneben habe die Slowakische Republik die Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinie nicht künstlich geschaffen, da das bloße Berufen auf die Richtlinie in der Verbalnote offenkundig nicht dazu führen könne, dass die Richtlinie auf Sachverhalte angewendet wird, auf die sie nicht anwendbar ist238. 232 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbu¨ rger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/ 148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG. 233 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 1, 53. 234 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 56. 235 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 57. 236 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58 (Hervorhebung durch den Verfasser) mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52 f. und EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39. 237 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 59. 238 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 60.

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Zweiter Hauptteil

7. O. und B. – Urteil vom 11. März 2014, Rechtssache C-456/12 O. und B. / Minister für Immigration, Integration und Asyl In den Rechtsstreiten O. bzw. B. gegen den niederländischen Minister für Immigration, Integration und Asyl war durch den Gerichtshof zu beantworten, inwieweit Mitgliedstaaten aus der Richtlinie 2004/38/EG239 und Art. 21 Abs. 1 AEUV dazu verpflichtet sind, einem Drittstaatsangehörigen das Aufenthaltsrecht zu gewähren, wenn er Familienmitglied eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates ist und beide Familienmitglieder in den Heimatmitgliedstaat des Unionsbürgers zurückkehren, nachdem der Unionsbürger vom Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV Gebrauch gemacht hat240. Im Missbrauchskontext wies der Gerichtshof dabei ausdrücklich darauf hin, dass Unionsrecht bei missbräuchlichen Praktiken nicht anwendbar sei241. Der Nachweis eines solchen Rechtsmissbrauchs setze voraus, „dass eine Gesamtwu¨ rdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“242. Zur Feststellung eines Missbrauchs unionsrechtlicher Bestimmungen wird somit erneut eine zweistufige Missbrauchsprüfung mit objektivem und subjektivem Element vorgegeben. Der Gerichtshof fragt nach den Absichten, die zur Ausübung des Freizügigkeitsrechts geführt haben. Sofern sich der Unionsbürger lediglich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat, um dadurch ein Aufenthaltsrecht für seinen Familienangehörigen in seinem Heimatstaat zu bezwecken, so dürfe das Unionsrecht einen solchen Rechtsmissbrauch nicht schützen. 8. Torresi – Urteil vom 17. Juli 2014, verbundene Rechtssachen C-58/13 und C-59/13 Angelo Alberto Torresi, Pierfrancesco Torresi / Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata

239 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbu¨ rger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/ 148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG. 240 EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 1 f., 33. 241 EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58. 242 EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58 mit Verweis auf EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58.

§ 5 Historische Entwicklung

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In den verbundenen Rechtssachen Torresi hatte der Gerichtshof darüber zu befinden, ob die zuständigen Verwaltungsstellen eines Mitgliedstaates unter Berufung auf einen Rechtsmissbrauch die Eintragung in das Verzeichnis der niedergelassenen Rechtsanwälte verweigern dürfen, wenn der Staatsangehörige dieses Mitgliedstaates zunächst einen Universitätsabschluss der Rechtswissenschaften in seinem Herkunftsstaat erwirbt, sich anschließend in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erhalten, und danach in seinen Heimatmitgliedstaat zurückkehrt, um dort unter der im anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung dem Beruf des Rechtsanwalts nachzugehen243. In dieser Entscheidung wiederholt der Gerichtshof die von ihm aufgestellten Voraussetzungen des Rechtsmissbrauchs und den dazu vorgegebenen zweigeteilten Prüfungsaufbau. Die Feststellung „einer missbräuchlichen Praxis“ verlange wiederum „das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements“244. Zur Feststellung des objektiven Elements „muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der in der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde“245. Hinsichtlich des subjektiven Elements „muss die Absicht ersichtlich sein, sich einen ungerechtfertigten Vorteil aus der Unionsregelung dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“246. Selbst wenn bei einer planmäßigen Gestaltung des Sachverhalts die Absicht besteht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil zu verschaffen und nationale Vorschriften zu umgehen, ist dies an sich nicht missbräuchlich, wenn die Erlangung 243

EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 14, 34. Die Richtlinie 98/5/EG, die nach Art. 1 Abs. 1 „die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als Selbständiger oder abhängig Beschäftigter in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtern“ soll, bestimmt in Artikel 3, dass „jeder Rechtsanwalt, der seinen Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben möchte als dem, in dem er seine Berufsqualifikation erworben hat“, „sich bei der zuständigen Stelle dieses Mitgliedstaats eintragen zu lassen“ hat und dazu nach Abs. 2 die zuständige Stelle des Aufnahmestaates „die Eintragung des Rechtsanwalts anhand einer Bescheinigung über dessen Eintragung bei der zuständigen Stelle des Herkunftsstaats“ vornimmt. Nach dem italienischen Umsetzungsgesetz der Richtlinie 98/5/EG kann der Antragssteller, der die Eintragung eines solchen Titels in der dazu vorgesehenen Sonderabteilung des Rechtsanwaltsverzeichnisses begehrt, eine Beschwerde beim Consiglio Nazionale Forense (Ausschuss der gesamtstaatlichen Rechtsanwaltskammer) einlegen, wenn der zuständige Ausschuss der Bezirksrechtsanwaltskammer nicht innerhalb von 30 Tagen über den Antrag befindet. 244 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 44 mit Verweis auf EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 31. 245 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45 mit Verweis auf EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 32. 246 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45 mit Verweis auf EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58.

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Zweiter Hauptteil

dieses Vorteils nicht gegen Ziele der diesen gewährenden unionsrechtlichen Regelung verstößt247. Um durch einen möglichen Verstoß gegen die Ziele der unionsrechtlichen Regelung das objektive Element feststellen zu können, wird zunächst das fragliche Verhalten am Maßstab der aus den Erwägungsgründen und Bestimmungen der Richtlinie abzuleitenden Ziele geprüft. Selbst wenn die formalen Tatbestandsvoraussetzungen der unionsrechtlichen Bestimmung gezielt geschaffen werden, um durch die daraus folgende Berufung auf unionsrechtliche Vorteile nationale Regelungen zu umgehen, kann dieser Umstand, obwohl er eine Umgehungsabsicht beinhaltet, keinen Missbrauch begründen, wenn die Berufung auf Unionsrecht und die daraus folgende Unanwendbarkeit nachteiliger nationaler Vorschriften gerade durch die unionsrechtliche Vorgabe ermöglicht werden soll.

III. Besondere Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Missbrauchsjudikatur im steuerrechtlichen Kontext 1. Halifax u. a. – Urteil vom 21. Februar 2006, Rechtssache C- 255/02 Halifax plc, Leeds Permanent Development Services Ltd, County Wide Property Investments Ltd / Commissioners of Customs & Excise a) Sachverhalt In der Rechtssache Halifax u. a. hatte der Gerichtshof über die Möglichkeit eines Abzugs der Mehrwertsteuer bei Zahlungen innerhalb des Halifax-Konzerns zu entscheiden, die in der Absicht getätigt wurden, die Steuerbelastung zu verringern248. Die Leistungen der Bank Halifax plc. waren überwiegend von der Mehrwertsteuer befreit. Daher wurden ihr lediglich 5 % der als Vorsteuer geleisteten Mehrwertsteuer erstattet249. Halifax errichtete für ihre geschäftliche Tätigkeit vier Call Center im Vereinigten Königreich auf Grundstücken, die sie entweder langfristig gepachtet hatte oder an denen sie eigentumsähnliche Nutzungsrechte hatte250. Da der Halifax Bank selbst lediglich 5 % der auf die Bauarbeiten zu entrichtenden Mehrwertsteuer erstattet worden wären, entwarfen ihre Steuerberater eine Gestaltung, bei der durch eine Verkettung von Rechtsgeschäften, die verschiedene Gesellschaften des HalifaxKonzerns betrafen, letztendlich die gesamte Vorsteuer zurückverlangt werden

247 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 52. 248 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 2. 249 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 12. 250 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 15.

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139

konnte251. Die dabei beteiligten Unternehmen waren alle hundertprozentige Tochtergesellschaften der Halifax252. Im ersten Schritt gewährte Halifax einer ihrer Tochtergesellschaften ein Darlehen, mit dem diese die Liegenschaften erwerben konnte und die Erschließung und die notwendigen Bauarbeiten finanzierte253. Im zweiten Schritt wurde vereinbart, dass die Tochtergesellschaft selbst geringfügige Bauarbeiten auf diesen Grundstücken ausführen sollte, wobei Halifax für diese Arbeiten tatsächlich nur 5 % der Vorsteuer geltend machen konnte254. Diese Tochtergesellschaft schloss schließlich mit einer anderen Tochtergesellschaft des HalifaxKonzerns einen Vertrag, durch den sich Letztere verpflichtete, die Bauarbeiten auf den Grundstücken auszuführen255. Als Gegenleistung zahlte die Tochtergesellschaft, der das Darlehen von Halifax gewährt wurde, aus diesem 44 Mio. GBP an die andere Tochtergesellschaft als Anzahlung für die Bauarbeiten, in der 6,6 Mio. GBP MwSt. enthalten waren256. Die zwischengeschaltete Gesellschaft beantragte daraufhin die Erstattung der gezahlten Mehrwertsteuer in Höhe der 6,6 Mio. GBP257. All diese Transaktionen fanden am selben Tag statt. Halifax verpachtete die Grundstücke danach an die erste Tochtergesellschaft und die zweite Tochtergesellschaft ließ die Bauarbeiten von unabhängigen Bauunternehmern ausführen. Die britische Finanzverwaltung war der Ansicht, dass nach einer Gesamtbetrachtung Halifax die Leistungen von den unabhängigen Bauunternehmern und nicht von den zwischengeschalteten Gesellschaften empfing und somit die Mehrwertsteuer lediglich in Höhe ihres normalen Satzes in Abzug bringen könne258. Das nationale Gericht stellte insoweit fest, dass die Umsätze zwischen Halifax und den Tochtergesellschaften nur stattgefunden hätten, um die Mehrwertsteuer zu umgehen259. Es war danach „die Absicht der Halifax [und ihrer Tochtergesellschaften] durch die Umsetzung eines willkürlich gestalteten Steuervermeidungsplans einen Steuervorteil zu erlangen“260.

251

Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 11. 252 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 14. 253 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 18. 254 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 19. 255 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 20. 256 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 21. 257 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 22. 258 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 33. 259 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 42. 260 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 42.

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Zweiter Hauptteil

b) Würdigung durch den Gerichtshof aa) Anwendbarkeit des Mehrwertsteuersystems und Auslegung des Begriffs „wirtschaftliche Tätigkeit“ Der EuGH hatte zunächst zu entscheiden, ob solche Umsätze, die „ausschließlich in der Absicht getätigt werden“, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen und „sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgen“, überhaupt als „wirtschaftliche Tätigkeit“ zu verstehen sind und daher dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie261 unterliegen262. Dazu stellte der Gerichtshof fest, dass der Begriff der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ weit zu verstehen sei und nur objektiv, unabhängig vom Zweck und Ziel der Transaktion zu bestimmen ist263. Würde man schon bei der Feststellung eines Umsatzes auf die verfolgte Absicht abstellen, könnten die Ziele des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, Rechtssicherheit und Erleichterung der Anwendung, nicht erreicht werden, weshalb ein Umsatz objektiv zu bestimmen ist264. Daher handelt es sich auch um Umsätze im Sinne der Sechsten Richtlinie, wenn sie in der alleinigen Absicht erfolgen, einen Steuervorteil zu erzielen265. bb) Missbrauchsvoraussetzungen im steuerrechtlichen Kontext Im nächsten Schritt prüfte der Gerichtshof jedoch, ob es dem Steuerpflichtigen verwehrt ist, einen Vorsteuerabzug geltend zu machen, wenn die entsprechenden Umsätze missbräuchlich waren266. Der EuGH wiederholte hierzu seine „ständige Rechtsprechung“, nach der ein missbräuchliches oder betrügerisches Berufen auf das Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist267. Generalanwalt Maduro bezeichnete dieses Missbrauchsverbot in seinen Schlussanträgen als „einen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beherrschenden Grundsatz“, bei dem entscheidend auf den „teleologischen Geltungsbereich“ der Gemeinschaftsregelung abzustellen ist268. 261 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in ihrer durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung. 262 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 44. 263 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 55 f. (Hervorhebung durch den Verfasser). 264 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 57. 265 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 60. 266 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 61. 267 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68 mit Verweis auf EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33 und EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 32. 268 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 69 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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Ein Missbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, wenn Umsätze „nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen“269. Der Gerichtshof sprach hierbei sogar von einem „grundsätzlichem Verbot missbräuchlicher Praktiken“, das auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gelte270. Es sei gerade das Ziel der Sechsten Richtlinie, Steuerumgehung und Missbräuche zu verhindern271. Dabei sei jedoch auch das Gebot der Rechtssicherheit zu berücksichtigen, nach dem Rechtsakte bestimmt und vorhersehbar sein müssen, wobei insbesondere bei finanziell belastenden Maßnahmen der Umfang der Belastung „genau zu erkennen“ sein müsse272. Sofern die Sechste Richtlinie einem Steuerpflichtigen die Wahl zwischen steuerfreien Umsätzen und besteuerten Umsätzen offen lässt, müsse dieser nicht den Umsatz wählen, der eine höhere Besteuerung auslöst273. Es bestehe vielmehr für den Steuerpflichtigen „das Recht, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält“274. Ein Missbrauch setze zum einen voraus, dass Gestaltungen „trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen […] einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe“275. Generalanwalt Maduro formulierte dazu, dass das Steuerrecht nicht zu einer Art „rechtlicher Wilder Westen“ werden dürfe, in dem ein Verhalten rechtmäßig ist, solange es „im Einklang mit einer streng formalistischen Auslegung der Bestimmung steht“276. Der Gerichtshof verlangt als zweites Kriterium des Missbrauchs, dass „aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein“ müsse, „dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil be-

269 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69 (Hervorhebung durch den Verfasser) mit Verweis auf EuGH v. 11. 10. 1977 – Rs. 125/76 – Cremer, ECLI:EU:C:1977:148, Rn. 21; EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rn. 21 und EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51. 270 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 70; Generalanwalt Maduro folgerte aus der Missbrauchsrechtsprechung des Gerichtshofes einen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“, verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 64. 271 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 71. 272 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 72. 273 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73. 274 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73, so schon verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85. 275 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS. 276 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 77.

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Zweiter Hauptteil

zweckt wird“277. Ein Missbrauch liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht vor, wenn die gewählten Gestaltungen „eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung von Steuervorteilen“278. Dabei sei es Sache der nationalen Gerichte, nach den nationalen Beweisregeln die Voraussetzungen einer missbräuchlichen Praxis festzustellen279. Diese müssten „den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze“ feststellen280. Das nationale Gericht könne dazu „den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, die in den Steuerplan einbezogen sind“281. Sofern ein solcher Missbrauch festgestellt wird, darf als Folge dieser Feststellung lediglich die gewährte Leistung – hier die abgezogene Vorsteuer – rückwirkend zurückgefordert werden und keine darüberhinausgehenden Sanktionen verhängt werden, die einer „klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage bedürfen“282. Daher muss als Folge die Lage herbeigeführt werden, die ohne die missbräuchlichen Umsätze bestanden hätte283. c) Folgerungen Generalanwalt Maduro hatte in seinen Schlussanträgen gefordert, dass bei der Feststellung des vom Gerichtshof in seiner Emsland-Stärke-Judikatur geforderten subjektiven Elements des Missbrauchs nicht auf die tatsächlichen „subjektiven Absichten“ des Gestalters abgestellt werden sollte, sondern die „Künstlichkeit“ aus einer „Reihe von objektiven Umständen“ gefolgert werden sollte284. Es käme nämlich nicht auf die „gegenwärtigen Absichten“ an, sondern darauf, dass es „für die Tätigkeit objektiv gesehen keine andere Erklärung gibt, dass durch sie ein Steuervorteil verschafft wird“285, weshalb er von „zwei objektiven Kriterien spricht“286. Eine solche Differenzierung nimmt der Gerichtshof hingegen nicht vor, sondern er 277

LS. 278

EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75, 86 und 2.

EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75. EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76 mit Verweis auf EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40. 280 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 81. 281 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 81 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 58. 282 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 93, 95. 283 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 94. 284 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 70. 285 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 70. 286 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 91. 279

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erklärt, dass der Zweck der Gestaltung im Wesentlichen in der Steuerumgehung liegen muss und dies aus objektiven Umständen zu schließen ist. Aus dieser Rechtsprechung kann geschlossen werden, dass auf die tatsächlichen Absichten des Steuerpflichtigen abgestellt wird und diese aus objektiven Anhaltspunkten abgeleitet werden müssen. Beachtlich ist, dass der Gerichtshof von einem „grundsätzlichen Verbot“ des Missbrauchs spricht. Der Gerichtshof schreibt dabei auch für mögliche Steuerumgehungen eine zweistufige Missbrauchsprüfung vor. Aus dieser Rechtsprechung lassen sich außerdem Kriterien ableiten, die für das Vorliegen des subjektiven Elements einer Steuerumgehung sprechen. Diese Feststellung unterliegt dabei den Beweisregeln der nationalen Rechtsordnungen, wobei auch hier das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Gemeinschaftsrechtsprechung berücksichtigt werden müssen. 2. Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas – Urteil vom 12. September 2006, Rechtssache C-196/04 Cadbury Schweppes plc, Cadbury Schweppes Overseas Ltd / Commissioners of Inland Revenue a) Sachverhalt Cadbury Schweppes hatte als Muttergesellschaft des Cadbury Schweppes Konzerns ihren Gesellschaftssitz im Vereinigten Königreich287. Teil dieses Konzerns waren auch zwei in Irland ansässige Tochtergesellschaften, die dort einem Steuersatz von lediglich 10 % unterlagen288. Das englische Gericht stellte fest, dass diese Tochtergesellschaften „zu dem alleinigen Zweck“ in Irland gegründet wurden, Gewinne aus der internen Konzernfinanzierung der dortigen niedrigen Steuer zu unterwerfen289. Das britische Steuergesetz sah insoweit vor, dass Muttergesellschaften unter bestimmten Voraussetzungen die Gewinne der von ihr kontrollierten ausländischen Gesellschaften zugerechnet werden und diese im Vereinigten Königreich zu versteuern sind290. Insbesondere sollte eine Besteuerung erfolgen, wenn das Besteuerungsniveau im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft weniger als

287 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 13. 288 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 13 f. 289 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 18. 290 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 2, 5 ff., 29, 32.

Schweppes und Cadbury Schweppes Schweppes und Cadbury Schweppes Schweppes und Cadbury Schweppes Schweppes und Cadbury Schweppes

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Zweiter Hauptteil

75 % der im Vereinigten Königreich geltenden Gewinnbesteuerung entspricht291. Da in Irland ein solches „niedrigeres Steuerniveau“ herrschte und keine der in der Regelung vorgesehenen Ausnahmen griff, verlangten die britischen Finanzbehörden die Zahlung der Körperschaftsteuer auf die von der Tochtergesellschaft erzielten Gewinne292. Es stellte sich dem Gerichtshof die Frage, ob diese Regelung eine unzulässige Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit darstellt. b) Würdigung durch den Gerichtshof aa) Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit Der Gerichtshof wiederholte zunächst, dass sich Angehörige eines Mitgliedstaates nicht missbräuchlich auf Gemeinschaftsvorschriften berufen dürfen, um sich dem nationalen Recht zu entziehen293. Ein Missbrauch liege jedoch „nicht schon allein deshalb“ vor, weil ein Steuerpflichtiger beabsichtigt, von dem vorteilhaften Steuerrecht eines anderen Mitgliedstaates zu profitieren294. Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit könne allein aus dem Ziel der Gründung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat, steuerliche Vorzüge zu genießen, kein Missbrauch der Grundfreiheit geschlossen werden295. Daher begründe das Ziel von Cadbury Schweppes, durch die Gründung der Tochtergesellschaften in Irland das dortige vorteilhafte Steuerrecht nutzen zu wollen, noch keinen Missbrauch, sodass sich die Gesellschaft grundsätzlich auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann296. Der EuGH ging im Folgenden auf seine „ständige Rechtsprechung“ ein, nach der die Mitgliedstaaten zwar für die direkten Steuern zuständig sind, sie bei der Ausübung dieser Befugnis jedoch das Gemeinschaftsrecht beachten müssen297. Die in Frage stehende Regelung differenziere bei der steuerlichen Behandlung von erzielten Gewinnen nach dem im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft geltenden Be-

291 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 7, 58. 292 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 19 f. 293 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35. 294 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 36. 295 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 37. 296 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 38. 297 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 40 mit Verweis auf EuGH v. 7. 9. 2004 – Rs. C-319/02 – Manninen, ECLI:EU:C:2004:484, Rn. 19 und EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 29.

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steuerungsniveau298. Sofern Tochtergesellschaften im Vereinigten Königreich oder einem Mitgliedstaat ansässig sind, in dem kein „niedrigeres Besteuerungsniveau“ herrscht, werden die von der Tochtergesellschaft erzielten Gewinne der Muttergesellschaft nicht zugerechnet, wohingegen bei einem Sitz in einem Mitgliedstaat, der eine solche niedrige Besteuerung vorsieht, die von der Tochtergesellschaft erwirtschafteten Gewinne im Vereinigten Königreich von der Muttergesellschaft zu versteuern sind299. Ein derartiger steuerrechtlicher Nachteil stelle eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, die nur durch „zwingende Gründe des öffentlichen Interesses“ gerechtfertigt werden kann, wobei die Beschränkung geeignet und erforderlich sein muss, ein solches Ziel zu erreichen300. bb) Missbrauch als Legitimation der Beschränkung der Grundfreiheit Der Gerichtshof stellte fest, dass Steuerausfälle keine „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses sind, die eine Beschränkung einer vom Vertrag eingeräumten Freiheit rechtfertigen können“, und dass Mitgliedstaaten keine Regelungen erlassen dürfen, durch die Steuervorteile, die durch die Gründung einer Tochtergesellschaft in einem Mitgliedstaat mit niedrigeren Steuern entstanden sind, im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft abgeschöpft werden301. Außerdem begründe allein die Zweitniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat keine Vermutung einer Steuerhinterziehung302. Bei der Bewertung des fraglichen Verhaltens komme es insbesondere auf das mit der vorteilhaften Regelung verfolgte Ziel an303. Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit, die es ermöglichen soll, Zweitniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten gründen zu können, um dort der wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen zu können, sei eine „tatsächliche Ansiedlung notwendig“, bei der die Gesellschaft in dem Mitgliedstaat auch wirtschaftlich tätig wird304. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zur Missbrauchsbekämpfung sei nur dann zulässig, wenn sie spezifisch darauf abzielt, „Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, 298 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 43. 299 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 44. 300 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 46 f. 301 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 49. 302 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 50. 303 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 52. 304 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 53 f.

– Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes

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Zweiter Hauptteil

jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten“, der national geltenden Gewinnbesteuerung zu entgehen305. Solche Verhaltensweisen könnten insbesondere bestehen, wenn Verluste innerhalb eines Konzerns zu der Gesellschaft verschoben werden, bei der die Verluste aufgrund des höheren nationalen Steuersatzes den höchsten wirtschaftlichen Wert haben306. Hierdurch werde die Steuerzuständigkeit des Mitgliedstaats für auf ihrem Hoheitsgebiet erfolgte wirtschaftliche Tätigkeit gefährdet und die ausgewogene Aufteilung der Steuerbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt307. Das Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung verlange neben dem „subjektiven Element, das in dem Streben nach einem Steuervorteil besteht, […] dass aus objektiven Anhaltspunkten hervorgeht, dass trotz formaler Beachtung der im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Voraussetzungen der mit der Niederlassungsfreiheit verfolgte Zweck“ nicht erreicht wird308. Falls eine Gesellschaft im Aufnahmestaat tatsächlich einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, so entspricht die Gründung, unabhängig vom Vorliegen des Motivs der Steuervermeidung, der wirtschaftlichen Realität309. Ob eine Gesellschaft tatsächlich wirtschaftlich tätig wird, muss aufgrund objektiver Umstände nachprüfbar sein, wozu insbesondere das Vorhandensein von „Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen“ spricht310. Sofern die Gesellschaft nach dieser Feststellung lediglich eine „fiktive Ansiedlung“ darstellt, die im Aufnahmemitgliedstaat keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, so stellt die Gründung dieser Gesellschaft eine „rein künstliche Gestaltung“ dar, wie es insbesondere bei einer „Briefkastenfirma“ oder „Strohfirma“ der Fall ist311. 3. Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation – Urteil vom 13. März 2007, Rechtssache C-524/04 Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation / Commissioners of Inland Revenue

305 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 55 (Hervorhebung durch den Verfasser). 306 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 56. 307 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 56. 308 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 64 (Hervorhebung durch den Verfasser). 309 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 65 f. 310 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 67. 311 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 68.

Schweppes Schweppes Schweppes Schweppes Schweppes Schweppes Schweppes

§ 5 Historische Entwicklung

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Der EuGH entschied im Wege eines Musterverfahrens, ob die steuerliche Behandlung von Darlehenszinsen im Vereinigten Königreich, die von einer im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaft an eine nicht in diesem Mitgliedstaat ansässige, zum selben Konzern gehörende Gesellschaft gezahlt wurden, einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellt312. Die englischen Regelungen über Unterkapitalisierung sahen vor, dass Darlehenszahlungen von einer inländischen Tochtergesellschaft an eine gebietsfremde Muttergesellschaft, die mindestens 75 % der Anteile an der Tochtergesellschaft hält, als Gewinnausschüttungen zu qualifizieren waren und damit ausgeschlossen werden sollte, dass die Kosten dieses Darlehens vom steuerpflichtigen Gewinn abgezogen werden können313. Dahingegen waren Darlehenszahlungen dann nicht als Gewinnausschüttung zu qualifizieren, wenn sowohl die Tochtergesellschaft als auch die sie beherrschende Muttergesellschaft im Vereinigten Königreich ansässig waren314. Der Gerichtshof wiederholte zunächst, dass die nationalen Gesetzgeber für die direkten Steuern zuständig sind, diese bei der Ausübung dieser Steuerhoheit jedoch das Gemeinschaftsrecht beachten müssen315. Zwar erkannte der Gerichtshof die Gefahr an, dass innerhalb eines Konzerns Gewinne in die Mitgliedstaaten transferiert werden könnten, in denen die niedrigste Besteuerung der Gewinne anfällt316. Eine nationale Regelung, durch die Darlehenszahlungen innerhalb einer Unternehmensgruppe abhängig vom Sitz der Muttergesellschaft unterschiedlich besteuert werden, stelle jedoch eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, da die Ausübung der Niederlassungsfreiheit in diesem Mitgliedstaat weniger attraktiv gemacht werde317. Die Regierung des Vereinigten Königreichs machte zwar geltend, dass die Regelungen zur Unterkapitalisierung auf die Bekämpfung der Steuerumgehung durch die Gestaltung von künstlichen Konstruktionen ziele und diese Maßnahme auch erforderlich sei, um dieses Ziel zu erreichen318. Der Gerichtshof erkannte insoweit auch an, dass die Niederlassungsfreiheit nach ständiger Rechtsprechung durch solche Maßnahmen beschränkt werden dürfe, die speziell Gestaltungen verhindern 312 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 2, 16 f. 313 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 4 ff., 23, 38. 314 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 4 ff., 23, 38. 315 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 24. 316 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 60. 317 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 61 ff. 318 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 71.

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Zweiter Hauptteil

sollen, bei denen durch „rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen“ nationale Rechtsvorschriften, wie die zur Besteuerung, umgangen werden sollen319. Es könne jedoch nicht alleine aus der Ansässigkeit der zum Konzern gehörenden Darlehensgeberin in einem anderen Mitgliedstaat geschlossen werden, dass ein solcher Missbrauch vorliegt320. Künstliche Konstruktionen können bei Gestaltungen vorliegen, durch die Verluste innerhalb eines Konzerns auf die Gesellschaft transferiert werden, die im Mitgliedstaat mit den höchsten Steuersätzen ansässig ist, und daher die Verlustzuschreibung die höchste Wirkung entfaltet321. Außerdem ermögliche es eine Unterkapitalisierungspraxis, bei der eine Tochtergesellschaft durch Fremdkapital und nicht durch Eigenmittel finanziert wird, Gewinne durch Zinsen vom Sitzstaat der Tochtergesellschaft in den Sitzstaat der Muttergesellschaft zu transferieren, in dem ggfs. ein niedrigerer Steuersatz herrscht und somit im Ergebnis weniger Steuern zu entrichten sind322. Indem von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft gezahlte Darlehenszinsen als ausgeschüttete Gewinne qualifiziert werden, können solche künstliche Gestaltungen, deren einziges Ziel die Steuerumgehung ist, verhindert werden323. Es sind jedoch nur solche nationalen Vorschriften erforderlich, um Missbräuche zu verhindern, die lediglich rein künstliche Gestaltungen zur Steuerumgehung betreffen und nicht alle Situationen erfassen, in denen eine Muttergesellschaft unabhängig von den konkreten Gründen ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat324. Eine weniger einschneidende Methode zur Bekämpfung missbräuchlicher Konstruktionen sei es, nur den Betrag als ausgeschütteten Gewinn zu qualifizieren, der den marktüblichen Wert des Darlehenszinses übersteigt, den die Tochtergesellschaft im freien Wettbewerb hätte zahlen müssen325. Aus dieser Rechtsprechung ergeben sich Kriterien, die objektiv und nachprüfbar für die Bewertung als „künstliche Konstruktion“ herangezogen werden können. Insbesondere 319 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 74, 72 mit Verweis auf EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 57; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 51. 320 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 73. 321 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 75. 322 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 76. 323 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 77. 324 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 79. 325 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 80.

§ 5 Historische Entwicklung

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die Marktüblichkeit der Gestaltung – also das at arms length Prinzip – deutet darauf hin, dass keine künstliche Konstruktion vorliegt. Ein Darlehenszins, der aufgrund der Beziehungen zwischen den Gesellschaften diesen freien Marktwert übersteigt, ist ein „objektives, für Dritte nachprüfbares Kriterium, um feststellen zu können, ob der fragliche Vorgang ganz oder teilweise eine rein künstliche Konstruktion darstellt“, die hauptsächlich der Steuerumgehung dient326. Bei der Prüfung, ob eine rein künstliche Konstruktion vorliegt, muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, wirtschaftliche Gründe für die zur Frage stehenden Gestaltung vorzubringen, und falls eine künstliche Konstruktion festgestellt wird, darf lediglich der Betrag als Gewinnausschüttung qualifiziert werden, der den marktüblichen Preis übersteigt327. 4. Kofoed – Urteil vom 5. Juli 2007, Rechtssache C-321/05 Hans Markus Kofoed / Ministerium für Steuern a) Sachverhalt Im Rechtsstreit zwischen Herrn Kofoed und dem dänischen Ministerium für Steuern ging es um die Auslegung der Fusionsrichtlinie328 insbesondere hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs durch einen grenzüberschreitenden Anteilstausch zur Umgehung nationaler Steuern329. Herr Kofoed und Herr Toft waren die einzigen Gesellschafter der Cosmopolit Holding ApS, einer dänischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung330. Die beiden Gesellschafter brachten ihre gesamten Gesellschaftsanteile an dieser dänischen Gesellschaft in die Dooralong Ltd ein, eine irische Gesellschaft mit beschränkter Haftung, und erhielten im Austausch dafür sämtliche Gesellschaftsanteile an der irischen Gesellschaft331. Da sie die einzigen Gesellschafter von Dooralong Ltd waren und diese alle Anteile an Cosmopolit hielt, waren die Herren Kofoed und Toft an der dänischen Gesellschaft nun nicht mehr direkt, sondern nur noch mittelbar allein beteiligt. Kurz nachdem die Gesellschaftsanteile von Cosmopolit Holding an die irische Gesellschaft übergegangen waren, schüttete die dänische Gesellschaft ihren Gewinn an die irische Gesellschaft aus, die wiederum wenige Tage später auf ihrer Hauptversammlung beschloss, nahezu den gesamten 326 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 81. 327 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 82 f. 328 Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 u¨ ber das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen. 329 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 1 f. 330 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 14. 331 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 16 ff.

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Zweiter Hauptteil

von der Tochtergesellschaft erzielten Gewinn an die beiden Gesellschafter auszuschütten332. Der Austausch der Gesellschaftsanteile und die Gewinnausschüttung erfolgten kurz vor Inkrafttreten eines neuen dänisch-irischen Doppelbesteuerungsabkommens, das eine weniger günstige Besteuerung von Dividendenausschüttungen für dänische Steuerpflichtige vorsah333. Herr Kofoed berief sich bei der Veranlagung seiner Einkommensteuer in Dänemark hinsichtlich des Anteilstauschs auf die von der Fusionsrichtlinie vorgesehene Steuerfreistellung334. Auch die Gewinnausschüttung der Dooralong Ltd. war nach dem damals geltenden Doppelbesteuerungsabkommen in Dänemark steuerfrei335. b) Würdigung durch den Gerichtshof aa) Anwendungsbereich der Fusionsrichtlinie Der EuGH hatte zunächst zu entscheiden, ob in einem derart gelagertem Fall überhaupt ein „Austausch von Anteilen“ i. S. d. Art. 2 d vorliegt und insbesondere ob eine Gewinnauszahlung der übernehmenden Gesellschaft bei der Berechnung der Barauszahlung zu berücksichtigen ist336. Der Gerichtshof folgte insoweit den Schlussanträgen von Generalanwältin Kokott337, nach denen eine „bare Zuzahlung“ nur bei einer verbindlichen, echten Gegenleistung vorliegt, die zusätzlich zum Erhalt der Gesellschaftsanteile vereinbart wurde, unabhängig von den Gründen und Motiven, seien diese „finanzieller, wirtschaftlicher oder rein steuerlicher Art“338. Daher ist eine solche Gewinnausschüttung nicht lediglich wegen der zeitlichen Nähe oder eventuell bestehender „betrügerischen Absicht“ als „bare Auszahlung“ zu qualifizieren, sondern es müsse „in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände“ geprüft werden, ob die Zahlung „den Charakter einer verbindlichen Gegenleistung im Erwerbsvorgang aufweist“339. Da eine solche Vereinbarung im Ausgangsverfahren nicht bestanden

332

EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 18 f. Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 4. 334 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 20. 335 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 31. 336 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 23. 337 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 44 ff., 52 f. 338 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 28 ff. 339 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 32; Generalanwältin Kokott sprach in ihren Schlussanträgen von „einer objektiven Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls“, Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 46. 333

§ 5 Historische Entwicklung

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hatte, war die Gewinnausschüttung folglich nicht als „bare Zuzahlung“ zu qualifizieren340. bb) Missbrauchsklausel als Ausprägung des allgemeinen Missbrauchsverbots Der Gerichtshof hatte sodann zu entscheiden, ob ein Missbrauch des Unionsrechts vorlag, da der Anteilstausch keine wirtschaftlichen Gründe hatte, sondern ausschließlich mit dem Ziel der Steuerersparnis erfolgte341. Der Gerichtshof stellte hierzu fest, dass die Missbrauchsklausel des Art. 11 Abs. 1 a „den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ widerspiegelt, „wonach Rechtsmissbrauch verboten ist“342. Er wiederholte weiter, dass betrügerisches oder missbräuchliches Berufen auf Normen des Gemeinschaftsrechts nicht gestattet sei und das Gemeinschaftsrecht missbräuchliche Praktiken nicht schütze, „die nicht im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs, sondern nur zu dem Zweck durchgeführt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen“343. Der Gerichtshof folgte der Generalanwältin sodann darin, dass sowohl das Fehlen eines „konkreten geschäftlichen Anlasses“ für den Anteilsaustausch, das Ziel der Steuereinsparung, der „enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Gewinnausschüttung und dem durchgeführten Austausch“ und die „Kenntnis der kurz bevorstehenden Änderung des dänisch-irischen Doppelbesteuerungsabkommens“ auf einen Missbrauch der von der Richtlinie ermöglichten Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen344. cc) Anwendung der Missbrauchsklausel auf nationaler Ebene Es war weiter zu entscheiden, ob die Missbrauchsklausel des Art. 11 Abs. 1a der Richtlinie auch ohne eine spezifische Umsetzung ins nationale Recht anwendbar ist345. Die Mitgliedstaaten seien insoweit zwar dazu verpflichtet, alle erforderlichen nationalen Maßnahmen zu ergreifen, um die Wirksamkeit der Richtlinie bestmöglich

340

EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 33 ff. EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 23, 36. 342 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38. 343 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38 mit Verweis auf EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 24; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68 f.; EuGH v. 6. 4. 2006 – Rs. C456/04 – Agip Petroli, ECLI:EU:C:2006:241, Rn. 19 f. und EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35. 344 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 39 (Hervorhebung durch den Verfasser) mit Verweis auf Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 59. 345 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 40. 341

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Zweiter Hauptteil

zu gewährleisten346. Außerdem dürfe wegen des Grundsatzes der Rechtssicherheit eine Richtlinie selbst keine Verpflichtungen des Einzelnen begründen, auf die sich die Mitgliedstaaten berufen können347. Es stünde jedoch im Ermessen der Mitgliedstaaten zu entscheiden, welche nationalen Mittel die Umsetzung der Richtlinie am besten gewährleisten348. Daher muss ein nationaler Gesetzgeber zur Umsetzung einer Richtlinie nicht tätig werden, wenn sich aus der nationalen Rechtsordnung für den Einzelnen klar ergibt, welche Rechte und Pflichten auf nationaler Ebene bestehen349. Einer spezifischen nationalen Regelung zur Übernahme der Richtlinienbestimmung bedürfe es zur Umsetzung in bestimmten Fällen dann nicht, wenn sich aus dem „allgemeinen rechtlichen Kontext“ (zu dem nach der Generalanwältin auch „allgemeine Grundsätze des nationalen Verfassungs- oder Verwaltungsrechts“ gehören) die nationale Anwendung der Richtlinienbestimmungen hinreichend klar ergibt350. Es sei dabei Sache des nationalen Gerichts zu prüfen, ob die nationale Rechtsordnung „eine Bestimmung oder einen allgemeinen Grundsatz kennt, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist, oder andere Vorschriften über Steuerhinterziehung oder -umgehung, die im Einklang mit Art. 11 Abs. 1 a der Richtlinie 90/434 ausgelegt werden könnten und somit die Besteuerung des fraglichen Anteilsaustauschs rechtfertigen könnten“351. Das nationale Gericht müsse auch über das Vorliegen der Voraussetzungen dieser nationalen Vorschrift entscheiden352.

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EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 41. EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 42; Generalanwältin Kokott verwies in ihren Schlussanträgen auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die Rechtssicherheit „in besonderem Maße bei Vorschriften, die finanzielle Konsequenzen haben können“ zu beachten ist, Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 49, 67 mit Verweis auf u. a. EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 43. 348 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 43. 349 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 44. 350 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 44 mit Verweis auf Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 62. 351 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 46 mit Verweis auf Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 63. Eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung könne sogar „zu Lasten des Einzelnen“ gehen, da eine auf nationalem Recht basierende „mittelbare Anwendung des Gemeinschaftsrechts zulasten des Einzelnen“ zulässig sei. Lediglich eine unmittelbare Anwendung der belastenden Missbrauchsklausel des Art. 11 Abs. 1 a der Richtlinie 90/434 zulasten des Einzelnen sei ausgeschlossen, Rn. 65 f. „Sofern eine nationale Umsetzung jedoch nicht erfolgt ist, dürften sich nationale Behörden gegenüber dem Einzelnen auch nicht „auf einen etwa bestehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“ berufen, nach dem Rechtsmissbrauch verboten ist. Wenn nämlich dieser Grundsatz durch eine Richtlinie spezifiziert und konkretisiert wurde, dürfe nicht auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zurückgegriffen werden, dessen Inhalt weniger eindeutig und bestimmt ist, da so die Harmonisierung und die Rechtsicherheit gefährdet würden“, Rn. 67. 352 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 47. 347

§ 5 Historische Entwicklung

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5. Part Service – Urteil vom 21. Februar 2008, Rechtssache C-425/06 Ministero dell‘Economia e delle Finanze / Part Service Srl Im Urteil Part Service hatte der Gerichtshof zu entscheiden, ob ein „Umsatz“ im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie353 missbräuchlich ist, wenn er „im Wesentlichen einen Steuervorteil bezweckt“ oder ob zur Feststellung eines Rechtsmissbrauchs „keine anderen wirtschaftlichen Gründe als die Erlangung eines Steuervorteils“ vorliegen dürfen354. Der Gerichtshof ging bei seiner Bewertung zunächst auf Art. 13 der Sechsten MwSt-Richtlinie ein, der den Mitgliedstaaten bezüglich der Befreiung von der Mehrwertsteuer die „Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen“ aufgibt355. Dazu wiederholte er seine Rechtsprechung des Halifax-Urteils356, wonach eine missbräuchliche Praxis vorliegt, wenn: „- die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten MwSt-RL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe; - aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.“

Aus dieser Darstellung folgt eine zweistufige Prüfung, bei der zunächst objektiv die Zielverfehlung der Richtlinie untersucht wird und erst daran anschließend die subjektive Komponente geprüft wird, die aufgrund „objektiver Anhaltspunkte“ zu bestimmen ist. Der Gerichtshof führte präzisierend weiter aus, dass aus der Halifax-Rechtsprechung aufgrund der missverständlichen Formulierung in Rn. 82, in der der Gerichtshof feststellte, „dass mit den im Ausgangsverfahren fraglichen Umsätzen einzig ein Steuervorteil bezweckt wurde“, nicht gefolgert werden dürfe, dass für die Bejahung einer missbräuchlichen Praxis die ausschließliche Absicht eines Steuervorteils verlangt werde, sondern im Halifax-Verfahren ausschließlich ein Steuervorteil bezweckt wurde und somit die notwendige Schwelle („im Wesentlichen“) sogar überschritten wurde357. Deshalb sei eine „missbräuchliche Praxis“ i. S. d. Sechsten MwSt-Richtlinie bereits dann gegeben, „wenn mit dem fraglichen Umsatz 353 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. 5. 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage. 354 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 1, 40. 355 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 41. 356 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74 f. 357 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 44.

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Zweiter Hauptteil

oder den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll“358. Anschließend war zu beantworten, ob die streitgegenständliche Aufspaltung von Verträgen eine missbräuchliche Praxis darstellt359. Es stand insoweit zur Frage, ob ein Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten gegeben ist, wenn ein für gewöhnlich einheitlicher Leasing- und Finanzierungsvertrag von mehreren zum selben Konzern gehörenden Gesellschaften in separate Leasing-, Finanzierungs- und Versicherungsvermittlungsverträge aufgespalten wird, sodass dadurch nur die Gebrauchsüberlassung der Mehrwertbesteuerung unterliegt und nicht auch die damit verbundenen Verträge mehrwertsteuerpflichtig sind360. Dazu stellte der Gerichtshof zunächst fest, dass – sofern ein Unternehmer die „Wahl zwischen steuerfreien und besteuerten Umsätzen“ hat – nach der Sechsten MwSt-Richtlinie nicht die Umsätze mit der höchsten Besteuerung gewählt werden müssten, sondern der Steuerpflichtige vielmehr das Recht habe, „seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält“361. Sofern hingegen „ein Umsatz aus mehreren Leistungen“ bestehe, sei fraglich, ob diese Leistungen einheitlich oder getrennt zu beurteilen sind362. Aus Art. 2 der Sechsten MwSt-Richtlinie ergebe sich zwar, dass jeder Umsatz regelmäßig als eigenständige Leistung anzusehen sei363. Jedoch könnten „formal unterschiedliche“ Leistungen als ein einheitlicher Umsatz anzusehen sein, wenn sie „nicht selbstständig sind“364. Dies sei beispielsweise der Fall, „wenn schon nach einer nur objektiven Analyse festgestellt wird, dass eine oder mehrere Einzelleistungen eine Hauptleistung bilden und die andere Einzelleistung oder die anderen Einzelleistungen eine oder mehrere Nebenleistungen bilden, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen“365. Eine Nebenleistung sei insbesondere gegeben, wenn sie für den Kunden „keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen“366. Eine einheitliche Leistung sei auch dann gegeben, wenn mehrere Einzelleistungen „so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre“367. 358 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 45 (Hervorhebung durch den Verfasser). 359 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 46. 360 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 2. 361 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 47 mit Verweis auf EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73. 362 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 48. 363 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 50. 364 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 51. 365 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 52. 366 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 52. 367 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 53.

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Es sei wiederum Aufgabe der nationalen Gerichte festzustellen, ob mehrere Einzelleistungen einen einheitlichen Umsatz darstellen, wobei auch eine mögliche missbräuchliche Praxis zu beachten sei368. Der Gerichtshof gab dem vorlegenden Gericht dazu Hinweise, die bei der Prüfung eines Missbrauchs zu berücksichtigen sind. Im vorliegenden Fall sei u. a. zu beachten, dass (1) beide Gesellschaften derselben Unternehmensgruppe angehörten, (2) der Leasingvertrag in die Gebrauchsüberlassung und die Finanzierung aufgespalten wird, (3) dadurch die Leistung der Leasinggesellschaft auf die Vermietung des Kfz reduziert wird, (4) der Gesamtbetrag der Leasinggebühren kaum den Kaufpreis des Fahrzeugs übersteige, (5) die Leistungen isoliert betrachtet wirtschaftlich nicht rentabel zu sein schienen, „so dass die Überlebensfähigkeit des Unternehmens durch die mit den Dienstleistungsempfängern geschlossenen Verträge allein nicht sichergesellt werden kann“369. Zur Feststellung einer missbräuchlichen Praxis sei wiederum zunächst durch das nationale Gericht zu prüfen, „ob es sich bei dem angestrebten Ergebnis um einen Steuervorteil handelt, dessen Gewährung mit einem oder mehreren Zielen der Sechsten MwSt-RL unvereinbar wäre, und dann, ob dies der wesentliche Zweck der vertraglichen Vereinbarung war“370. Hierzu könne berücksichtigt werden, „dass das erwartete Ergebnis die Erlangung des Steuervorteils ist, der mit der Befreiung der von der Leasinggesellschaft ihrem Vertragspartner überlassenen Leistung nach Art. 13 Teil B Buchst. a und d der Sechsten MwSt-Richtlinie verbunden ist“371. Die Vermietung von Fahrzeugen im Wege eines Mietkaufvertrages stelle eine Dienstleistung i. S. d. Art. 6 und 9 der Sechsten MwSt-Richtlinie dar, weshalb die Bemessungsgrundlage grundsätzlich nach Art. 11 Teil A Abs. 1 der Richtlinie zu bestimmen ist372. Eine Aufspaltung der Verträge scheine mit dem „Zweck des Art 11 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie, also der Besteuerung all dessen, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Dienstleistungsempfänger erhält oder erhalten soll, unvereinbar zu sein“373. Bei der Würdigung des Vorliegens des subjektiven Elements könne das nationale Gericht „den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, da solche Umstände zeigen, dass im Wesentlichen die Erlangung eines Steuervorteils angestrebt wurde, auch wenn es im Übrigen um die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele gegangen sein mag, die auf Erwägungen des Marketings, der Organisation und der Sicherheitsleistung beruhten“374. Es sei also die Aufgabe der nationalen Gerichte „im Licht der im vorliegenden Urteil enthaltenen 368 369 370 371 372 373 374

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 54 f. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 57. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 59. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 61. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 60. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 62.

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Zweiter Hauptteil

Auslegungshinweise zu bestimmen“, ob die fraglichen Umsätze eine missbräuchliche Praxis darstellen375. 6. Ampliscientifica u. a. – Urteil vom 22. Mai 2008, Rechtssache C-162/07 Ampliscientifica Srl und Amplifin SpA / Ministero dell‘Economia e delle Finanze und Agenzia delle Entrate In der Rechtssache Ampliscientifica prüfte der EuGH, ob eine nationale Regelung unionsrechtskonform ist, die eine vereinfachte gemeinsame Mehrwertsteuererklärung von Mutter- und Tochtergesellschaft davon abhängig macht, ob die Muttergesellschaft bereits seit Beginn des der Mehrwertsteuererklärung vorausgehenden Jahres mindestens 50 % der Anteile an der Tochtergesellschaft gehalten hat376. Der Gerichtshof hatte dabei im Missbrauchskontext zu entscheiden, ob eine solche gesetzliche Regelung gegen die Vorgaben des Rechtsmissbrauchsverbots oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstößt377. Dazu stellte der Gerichtshof fest, dass das Rechtsmissbrauchsverbot „insbesondere im Bereich der Mehrwertsteuer darauf abzielt, dass die Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen“378. Ein Missbrauch nach diesem „Grundsatz“ liege bei „rein künstlichen, jeder wirtschaftlichen Realität baren Gestaltungen“ vor, „die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen“379. Eine nationale Regelung, die eine steuerlich vorteilhafte gemeinsame Veranlagung der Mehrwertsteuer davon abhängig macht, dass eine gewisse Kontinuität der geschäftlichen Tätigkeit der Wirtschaftsteilnehmer und ihren Umsätzen vorliegt, könne zu dem Nachweis führen, dass nicht lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird, sondern die gemeinsame Mehrwertsteuererklärung auf „einer längerfristigen wirtschaftlichen Entscheidung beruht“ und somit nicht gegen das Rechts-

375

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 63. EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 32, 2. LS. 377 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 24. 378 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27 mit Verweis auf EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69 f. 379 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 28 mit Verweis auf EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 55. 376

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missbrauchsverbot verstößt380. Auch der vorgesehene Zeitraum von bis zu zwei Jahren, während dessen die Verbindung der Gesellschaften bestanden haben muss, um die vereinfachten Mehrwertsteuermodalitäten zu ermöglichen, sei in Anbetracht des „Ziels der Bekämpfung von Betrug und fiktiven rechtlichen Gestaltungen“ verhältnismäßig381. 7. Weald Leasing – Urteil vom 22. Dezember 2010, Rechtssache C-103/09 The Commissioners for Her Majesty‘s Revenue and Customs / Weald Leasing Ltd In der Rechtssache Weald Leasing entschied der Gerichtshof über die Bedeutung des in seiner vorherigen Rechtsprechung (Halifax, Part Service und Ampliscientifica) verwendeten Begriffs „missbräuchliche Praxis“382. Der EuGH wiederholte hierzu zunächst, dass die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen könne, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, und dieses „grundsätzliche Verbot missbräuchlicher Praktiken“ auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gelte383. Es sei jedoch zu beachten, dass die Wahl eines Unternehmers zwischen steuerfreien und besteuerten Umsätzen auf „einer Reihe von Gesichtspunkten, insbesondere auf steuerlichen Überlegungen im Zusammenhang mit dem objektiven Mehrwertsteuersystem“ beruhen könne384. Sofern ein Steuerpflichtiger die Wahl zwischen zwei Umsätzen hat, schreibe ihm die Sechste Richtlinie nicht vor, den Umsatz wählen zu müssen, der die höhere Steuerpflicht auslöst. „Der Steuerpflichtige hat vielmehr das Recht, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen ha¨ lt“385. Auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer müssten für die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis zwei Bedingungen vorliegen: Zum einen müssten die Umsätze einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft386. Zum anderen müsste aus objektiven Anhaltspunkten ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird387.

380 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 30. 381 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 31. 382 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 1. 383 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 26. 384 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27. 385 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27. 386 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 29. 387 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 30.

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Das nationale Gericht hatte bereits festgestellt, dass mit den streitgegenständlichen Leasingumsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wurde388. Für eine missbräuchliche Praxis sei darüberhinaus jedoch noch eine Zielverfehlung erforderlich389. Dazu führte der EuGH aus, dass auch Leasingumsätze in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie fallen und ein daraus resultierender Steuervorteil an sich noch keinen den Zielen der Richtlinie zuwiderlaufenden Steuervorteil zur Folge hat. Eine Staffelung der zu entrichtenden Steuerschuld stelle keinen illegitimen Steuervorteil dar, wenn die auf die Leasingumsätze entfallende Mehrwertsteuer in vollem Umfang ordnungsgemäß entrichtet wird390. Ein Verstoß gegen die Ziele der Sechsten Richtlinie könnte sich lediglich aus den konkreten Vertragsbestimmungen der in Frage stehenden Leasingumsätze ergeben, wenn nämlich die festgesetzte Miethöhe außergewöhnlich niedrig sei und „nicht der wirtschaftlichen Realität“ entspreche391. Außerdem müsse das nationale Gericht überprüfen, ob die Zwischenschaltung eines Dritten ein Hindernis für die Anwendung der Unionsbestimmungen bildet392. Der „Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken“ finde überdies auch bei einem Verstoß gegen nationales Recht Anwendung, wenn diese Bestimmungen auf den Vorgaben des Unionsrechts beruhen und zur Umsetzung der Sechsten Richtlinie erlassen wurden393. Der Gerichtshof äußerte sich daneben zur Rechtsfolge einer missbräuchlichen Praxis. Sofern ein Missbrauch festgestellt wird, müssen die missbräuchlichen Umsätze in der Weise neu definiert werden, „dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte“394. Dabei dürfe bei der vorgenommenen Neudefinition nicht über das zur genauen Erhebung der Mehrwertsteuer Erforderliche hinausgegangen werden395. 8. Foggia – Urteil vom 10. November 2011, Rechtssache C-126/10 Foggia – Sociedade Gestora de Participac¸ o˜es Sociais SA / Staatssekreta¨ r fu¨ r Steuerangelegenheiten

388

EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 19,

389

EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 32. EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 33 f. EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 39. EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 40 f. EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 42. EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 48,

31. 390 391 392 393 394

50. 395

EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 52.

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In der Rechtssache Foggia396 hatte der Gerichtshof über die Auslegung der Missbrauchsklausel von Art. 11 Abs. 1a der Fusionsrichtlinie397 zu entscheiden, um zu bewerten, ob diese der steuerlichen Verlustübertragung bei einer Fusion zweier Gesellschaften, die zum selben Konzern gehören, entgegensteht398. Von der in der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit hatte Portugal Gebrauch gemacht und durch nationale Regelung die Übertragung steuerlicher Verluste bei Fusionen etc. versagt, wenn der entsprechende Vorgang als hauptsächlichen oder einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerumgehung hatte, was als erwiesen galt, wenn die Vorgänge nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen beruhten. Dem Gerichtshof stellte sich die Frage, ob eine Fusion zweier zum selben Konzern gehörenden Gesellschaften auf „vernünftigen wirtschaftlichen Gründen“ i. S. d. Art. 11 Abs. 1a der Richtlinie 90/434 beruht, wenn die Fusion einen positiven Einfluss auf die Strukturkosten des Konzerns hat, selbst wenn die aufgenommene Gesellschaft keine wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet, keine Gesellschaftsbeteiligungen hält und der aufnehmenden Gesellschaft lediglich hohe Verluste überträgt399. Da es sich bei beiden Gesellschaften um solche des portugiesischen Rechts handelte und die der Umsetzung der Richtlinie dienenden Normen nationale Gesetze waren, hatte der Gerichtshof zunächst zu beantworten, ob er auch zur Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift zuständig ist, die bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt anwendbar ist400. Nach portugiesischem Recht waren sowohl rein innerstaatliche als auch grenzüberschreitende Umstrukturierungen denselben Rechtsnormen unterworfen, nach denen die steuerliche Vergünstigung sowohl bei rein innerstaatlichen als auch bei grenzüberschreitenden Fusionen versagt werden konnte, wenn keine wirtschaftlichen Gründe vorlagen. Der Gerichtshof stellte für derartige Konstellationen fest: „Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu etwaigen Wettbewerbsverzerrungen kommt, besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein klares Interesse der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder 396

EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718. Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen. Nach Art. 11 Abs. 1a der Fusionsrichtlinie kann ein Mitgliedstaat die steuerlichen Vorteile der Richtlinie versagen, „wenn eine Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder ein Austausch von Anteilen als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat. Vom Vorliegen eines solchen Beweggrundes kann ausgegangen werden, wenn die Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder ein Austausch von Anteilen nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht“. 398 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 1 f. 399 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 30. 400 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 19. 397

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Zweiter Hauptteil

Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern“401.

Dabei sei es Aufgabe der nationalen Gerichte, die Tragweite der Verweisung auf das Unionsrecht zu beurteilen402. Hinsichtlich der Fusionsrichtlinie stellte der Gerichtshof klar, dass das darin vorgesehene Steuersystem samt der davon umfassten steuerlichen Vorteile unabhängig davon anzuwenden sind, ob die Gründe der Umstrukturierung „finanzieller wirtschaftlicher oder rein steuerlicher Art sind“403. Die Motive der Handelnden sind jedoch dann entscheidend, wenn auf nationaler Ebene von der in Art. 11 Abs. 1a vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, steuerliche Vergünstigungen in darin umschriebenen Fällen nicht zu gewähren404. Die Vermutung, dass die Umstrukturierung als hauptsächlichen oder einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung als Ziel verfolgt, werde dadurch begründet, dass „der Vorgang nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen wie etwa der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften beruht“405. Aus dem „Wortlaut und den Zielen des Art. 11 sowie den Zielen der Richtlinie 90/434 im Allgemeinen“ folge, dass unter „vernünftigen wirtschaftlichen Gründen“ nicht lediglich „das bloße Streben nach einem rein steuerlichen Vorteil“ verstanden werden dürfe406. Sofern bei einer Fusion neben steuerlichen Überlegungen weitere Beweggründe vorherrschen, können vernünftige wirtschaftliche Gründe vorliegen, solange die steuerlichen Gründe nicht überwiegen: „Daher kann eine Fusion, die auf mehreren Beweggründen beruht, zu denen auch steuerliche Überlegungen zählen können, jedoch vorausgesetzt, dass diese im Rahmen des beabsichtigten Vorgangs nicht überwiegen, einen vernünftigen wirtschaftlichen Grund haben“407. Bei der Prüfung der vorherrschenden Beweggründe durch die nationalen Behörden dürfe nicht lediglich auf „vorgegebene allgemeine Kriterien“ abgestellt 401 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 21 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 32; EuGH v. 15. 1. 2002 – Rs. C-43/00 – Andersen og Jensen, ECLI:EU:C:2002:15, Rn. 18 und EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 33. 402 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 22. 403 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 31 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 36; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 30. 404 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 32 mit Verweis auf EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 42. 405 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33 in diesem Sinne auch schon EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 38 f. und EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 37. 406 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 34 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 47. 407 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 35 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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werden, sondern es müsse „in jedem Einzelfall eine Gesamtuntersuchung des betreffenden Vorgangs“ stattfinden408. Bei dieser Gesamtuntersuchung müsste berücksichtigt werden, dass die Gesellschaft selbst nicht mehr geschäftlich tätig war, sie keine Beteiligungen hielt und dass beabsichtigt war, die steuerlich noch nicht geltend gemachten Verluste auf die aufnehmende Gesellschaft zu übertragen409. Jedoch sei keiner dieser Anhaltspunkte alleine dazu in der Lage, die Absicht einer Steuerumgehung festzustellen, da auch eine Fusion mit einer Gesellschaft ohne wirtschaftliche Tätigkeit oder eigene Aktiva auf wirtschaftliche Gründe gestützt sein könne und dies auch bei einer Fusion mit einer Gesellschaft der Fall sein könne, die hohe steuerlich noch nicht berücksichtigte Verluste aufweist, da die Übernahme von solchen Verlusten von der Richtlinie gestattet werde410. Jedoch kann die Höhe der Verluste und der Umstand, dass die Herkunft der Verluste nicht klar feststeht, bei derartigen Fusionen auf eine Steuerumgehung hinweisen411. Es stand weiter zur Frage, ob die aus der Fusion folgende Reduzierung der Verwaltungs- und Geschäftsführungskosten einen vernünftigen wirtschaftlichen Grund im Sinne einer „Umstrukturierung“ oder „Rationalisierung“ nach Art. 11 Abs. 1a der Richtlinie 90/434 darstellen412. Hierzu führte der Gerichtshof aus, dass Art. 11 Abs. 1a als Ausnahme der von der Richtlinie 90/434 aufgestellten Steuervorschriften „unter Berücksichtigung seines Wortlauts, seines Zwecks und seines Kontextes eng auszulegen ist“413. Aus der Formulierung „insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung“ folge, dass diese Vorgänge „Beispiele für vernünftige wirtschaftliche Gründe darstellen und im Einklang mit diesem letzteren Begriff auszulegen sind“414. Sofern eine „Umstrukturierung“ oder „Rationalisierung“ nicht lediglich einen steuerlichen Vorteil bezweckt, sondern tatsächlich zu einer Reduzierung der Verwaltungs- und Geschäftsführungskosten des Konzerns führt, könne eine Fusion auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen basieren415. Vernünftige wirtschaftliche Gründe liegen jedoch dann nicht vor, wenn die durch die Fusion erzielten Strukturkosteneinsparungen im Verhältnis zu den zu erwartenden Steuervorteilen – im vorliegenden Falle in Höhe von mehr als 2 Millionen E – „völlig nebensächlich“ sind416. Da jede Fusion zur Vereinfachung der Konzernstruktur und daher zur Einsparung von Verwaltungs- und Geschäftsführungskosten führe, können diese Einsparungen 408

EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 37. EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 38. 410 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 39 ff. 411 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 42. 412 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 43. 413 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 44 (Hervorhebung durch den Verfasser). 414 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 45. 415 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 46 f. 416 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 47. 409

162

Zweiter Hauptteil

nicht generell als vernünftige wirtschaftliche Gründe aufgefasst werden, ohne dass andere Beweggründe – insbesondere das Streben nach einem Steuervorteil – berücksichtigt werden, da ansonsten Art. 11 Abs. 1a „ihren Sinn und Zweck verlieren“ würde, der gerade darin besteht, „die finanziellen Interessen der Mitgliedstaaten zu wahren“417. Die Missbrauchsklausel spiegele insoweit den „allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts“ wider, „wonach Rechtsmissbrauch verboten ist. Die Anwendung der Unionsvorschriften kann nicht so weit reichen, dass missbräuchliche Praktiken, d. h. Vorgänge geschützt werden, die nicht im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs, sondern nur zu dem Zweck durchgeführt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen“418. Daher müsse das nationale Gericht „in Ansehung sämtlicher Merkmale des von ihm zu entscheidenden Rechtsstreits prüfen“, ob die vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien für die Vermutung einer Steuerumgehung i. S. d. Art. 11 Abs. 1a vorliegen. Im Falle einer Fusion, bei der sich zwei zum selben Konzern gehörende Gesellschaften zusammenschließen, könne davon ausgegangen werden, dass keine „vernünftigen wirtschaftlichen Gründe“ vorliegen, „wenn die aufgenommene Gesellschaft keine Tätigkeit entfaltet, keine Beteiligung hält und der aufnehmenden Gesellschaft nur hohe Verluste unklaren Ursprungs überträgt, auch wenn sich dieser Vorgang für den Konzern wegen der Einsparung bei den Strukturkosten positiv auswirkt419. 9. RBS Deutschland – Urteil vom 22. Dezember 2012, Rechtssache C-277/09 The Commissioners for Her Majesty‘s Revenue & Customs / RBS Deutschland Holdings GmbH a) Sachverhalt In der Rechtssache RBS Deutschland hatte der Gerichtshof über eine doppelte Nichtbesteuerung von Leasingumsätzen wegen deren unterschiedlicher Qualifizierung in zwei Mitgliedstaaten als Lieferung von Gegenständen bzw. als Dienstleistung zu entscheiden. RBS Deutschland (RBSD) war eine in Deutschland ansässige Bankund Leasingdienstleistungen erbringende Gesellschaft, die zur Royal Bank of Scotland Group gehörte, im Vereinigten Königreich jedoch keine Niederlassung unterhielt, sondern dort für Zwecke der Mehrwertsteuer als gebietsfremde Steuerpflichtige registriert war420. Die im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaften Vinci plc und RBSD schlossen mehrere Verträge mit dem Ziel ab, Lea417 418 419 420

EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 48 f. EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 50. EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 52. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 12.

§ 5 Historische Entwicklung

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singfinanzierungen zu gewähren. Dazu erwarb RBSD im Vereinigten Königreich Personenkraftwagen von Vinci Fleet Service (VFS), einer Tochtergesellschaft von Vinci, die wiederum die Kraftfahrzeuge bei im Vereinigten Königreich ansässigen Autohändlern gekauft hatte421. RBSD vereinbarte mit VFS eine Verkaufsoption für diese Fahrzeuge, nach der VFS der RBSD das Recht einräumte, von ihr zu einem bestimmten Termin den Rückkauf dieser Fahrzeuge verlangen zu können. Daneben schloss RBSD mit Vinci einen Leasingvertrag mit einer verlängerbaren Laufzeit von zwei Jahren ab, wonach RBSD als Leasinggeberin und Vinci als Leasingnehmerin der im Vertrag aufgeführten Kraftfahrzeugen tätig werden sollten422. Bei Vertragsablauf sollte Vinci der RBSD den gesamten Restwert der Fahrzeuge vergüten. Sofern RBSD jedoch (wie von den Parteien erwartet) die Fahrzeuge an Dritte weiterveräußerte, sollte Vinci den Differenzbetrag zwischen dem Verkaufspreis der Fahrzeuge und dem Restwert erhalten bzw., wenn dieser negativ ausfiel, schulden423. Nach britischem Recht galt ein Leasing insoweit nur dann als Lieferung von Gegenständen, wenn als Bedingung der Vereinbarung das Eigentum am Leasinggegenstand mit Ablauf des Vertrags übergehen sollte424. Die gezahlten Leasingraten unterlagen deshalb im Vereinigten Königreich nicht der Mehrwertsteuer, weil die im Rahmen der Leasingvereinbarungen getätigten Umsätze nach britischem Recht als Dienstleistung behandelt wurden und die britischen Steuerbehörden diese Dienstleistungen als in Deutschland bewirkt ansahen, da der Dienstleistende dort seinen Sitz hatte425. In Deutschland wiederum wurden die fraglichen Umsätze als Lieferung von Gegenständen eingestuft und galten damit als im Vereinigten Königreich bewirkt426. Deshalb unterlagen die Leasingumsätze auch hier nicht der Mehrwertsteuer. Im Ergebnis wurde in beiden Mitgliedstaaten keine Mehrwertsteuer auf die Leasingentgelte erhoben, sondern lediglich die Erlöse aus dem Verkauf der Fahrzeuge nach Ausübung der Verkaufsoption im Vereinigten Königreich der Mehrwertsteuer unterworfen427. Bei den britischen Steuerbehörden machte RBSD die gesamte von VFS beim Erwerb der Fahrzeuge angefallene Mehrwertsteuer als Abzug der Vorsteuer geltend428. Die Steuerbehörden versagten jedoch die Erstattung der Vorsteuer und verlangten die Rückzahlung der bereits gutgeschriebenen Vorsteuerbeträge.

421

EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 13 f. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 16. 423 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 16. 424 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 11. 425 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 20, s. auch Rn. 26. 426 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 20, s. auch Rn. 26. 427 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 21, s. auch Rn. 26. 428 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 22. 422

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Zweiter Hauptteil

b) Würdigung durch den Gerichtshof aa) Recht auf Vorsteuerabzug trotz Nichtbesteuerung der Folgeumsätze Der EuGH hatte zu entscheiden, ob ein Mitgliedstaat den Vorsteuerabzug für in diesem Mitgliedstaat beim Erwerb von Gegenständen angefallenen Mehrwertsteuer verweigern kann, wenn diese Gegenstände in einem anderen Mitgliedstaat verwendet wurden und die Ausgangsumsätze in diesem Mitgliedstaat wegen einer unterschiedlichen Umsetzung der Richtlinie dort nicht der Mehrwertsteuer unterlagen und auf der folgenden Stufe somit keine Mehrwertsteuer erhoben wurde429. Dazu führte der Gerichtshof aus, das Recht auf Abzug der Vorsteuer bei in einem anderen Mitgliedstaat auf der folgenden Stufe getätigten Umsätzen hänge davon ab, ob dieses Recht bestehen würde, wenn alle Umsätze in demselben Mitgliedstaat getätigt worden wären430. Das Recht auf Vorsteuerabzug könne also nicht davon abhängen, ob auf den Ausgangsumsatz im betreffenden Mitgliedstaat tatsächlich Mehrwertsteuer entrichtet wurde, da durch unterschiedliche Umsetzung des Mehrwertsteuersystems in den verschiedenen Mitgliedstaaten dem Steuerpflichtigen nicht das Recht auf Erstattung der Vorsteuer genommen werden dürfe, wenn für Geschäfte auf der folgenden Stufe keine Mehrwertsteuer erhoben wird431. Der EuGH erklärte zwar, dass es in mancher Hinsicht inkohärent erscheinen könne, davon auszugehen, dass ein Steuerpflichtiger den Vorsteuerabzug geltend machen kann, obwohl er auf der folgenden Stufe keine Mehrwertsteuer entrichtet hat432. Dies rechtfertige es jedoch nicht, die Bestimmungen der Richtlinie über das Abzugsrecht der Vorsteuer unangewendet zu lassen. Der Wortlaut der Bestimmung in Art. 17 Abs. 3a der Richtlinie lasse sich nämlich nicht dahingehend auslegen, bei Umständen, wie denen des Ausgangsverfahrens, das Recht auf Vorsteuerabzug verweigern zu können433. bb) Missbräuchliche Praxis durch Regulierungsarbitrage? Der Gerichtshof hatte sodann zu entscheiden, ob sich aus dem „Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken“ eine andere Würdigung aufgrund von Regulierungsarbitrage ergeben könnte434. Dazu führte er zunächst aus, die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen sei ein Ziel, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert werde435. 429

EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 28 f.,

430

EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 32. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 41 f. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 44. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 45. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 47. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 48.

34. 431 432 433 434 435

§ 5 Historische Entwicklung

165

Er verwies auf seine vorherige Halifax-Rechtsprechung, nach der „die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer zum einen voraussetzt, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sei, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird436. Im vorliegenden Fall seien die Umsätze zwischen Parteien erfolgt, die nicht rechtlich miteinander verbunden waren; im Übrigen stehe bereits fest, dass diese Umsätze nicht künstlich sind und im normalen Handelsverkehr getätigt wurden437. Unter diesen Umständen könne es nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden, wenn eine Gesellschaft einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft Dienstleistungen erbringt und die fraglichen Dienstleistungen „tatsächlich im Rahmen einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit erbracht“ werden438. Steuerpflichtige könnten außerdem die „Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung ihrer Steuerlast am besten geeignet erachten, im allgemeinen frei wählen“439. Sofern ein Unternehmer die Wahl zwischen besteuerten und steuerfreien Umsätzen hat, könne diese auf einer Reihe von Umständen, „insbesondere auf steuerlichen Überlegungen im Zusammenhang mit dem objektiven Mehrwertsteuersystem beruhen“; der Gerichtshof habe „insoweit festgestellt, dass der Steuerpflichtige, wenn er die Wahl zwischen verschiedenen Umsätzen hat, das Recht hat, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen ha¨ lt“440. Die Ausnutzung von Diskrepanzen in der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in einzelnen Mitgliedstaaten ist somit legitim, soweit die Transaktionen tatsächlich im Rahmen einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit im normalen Handelsverkehr getätigt werden. 10. SICES u. a. – Urteil vom 13. März 2014, Rechtssache C-155/13 Societa` Italiana Commercio e Servizi srl (SICES) in Liquidation, Agrima KG D. Gritsch Herbert & Gritsch Michael & Co., Agricola Lusia srl, Romagnoli Fratelli SpA, Agrimediterranea srl, Francesco Parini, Duoccio srl, Centro di Assistenza Doganale Triveneto Service srl, Novafruit srl, Evergreen Fruit Promotion srl / Zollagentur Venedig 436

EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 50. 438 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 52 (Hervorhebung durch den Verfasser). 439 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 53. 440 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 54. 437

166

Zweiter Hauptteil

In der Rechtssache SICES u. a. hatte der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung von Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007441 über die Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs zu entscheiden442. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die streitgegenständlichen Knoblauchhandelsgeschäfte keine durch Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007 verbotene Übertragung von Rechten aus A-Lizenzen darstellten, sondern nicht von dieser Bestimmung erfasste Transaktionen betrafen, bei denen Waren im Rahmen rechtmäßig erhaltener A-Lizenzen rechtsgültig zunächst an den Einführer verkauft wurden und nach der Einfuhr von diesem zurückveräußert wurden und somit alle formalen Voraussetzung für die Gewährung des Präferenzzolls erfüllt wurden443. Weil das Handelsgeschäft bezweckte, sich Knoblauch zu verschaffen, der im Rahmen des durch die Verordnung vorgesehenen Zollkontingents importiert wurde, sei jedoch zu prüfen, ob die Bestimmung des Art. 6 Abs. 4 der Verordnung Nr. 341/2007 derartigen Handelstätigkeiten entgegenstehe, wenn diese einen Rechtsmissbrauch darstellen444. Dazu wiederholte der Gerichtshof zunächst seine ständige Rechtsprechung, nach der „eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt“ sei, da das Unionsrecht keine „missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern“ decke, „d. h. Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen“445. Die Feststellung einer solchen missbräuchlichen Praxis verlange „das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements“446. Zum Nachweis des objektiven Elements „muss sich aus einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde“447. Die Feststellung des subjektiven Elements setze voraus, „dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein muss, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils bezweckt wird. Denn das Missbrauchs441 Verordnung (EG) Nr. 341/2007 der Kommission vom 29. März 2007 zur Eröffnung und Verwaltung von Zollkontingenten sowie zur Einführung einer Einfuhrlizenz- und Ursprungsbescheinigungsregelung für aus Drittländern eingeführten Knoblauch und bestimmte andere landwirtschaftliche Erzeugnisse. 442 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 1, 27. 443 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 24 ff. 444 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 27 f. 445 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 15, 29 f. mit Verweis auf EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33 und EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68 f. 446 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 31. 447 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 32 mit Verweis auf EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52 und EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39.

§ 5 Historische Entwicklung

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verbot ist nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils. Der Beweis für das Vorliegen des subjektiven Elements kann u. a. durch den Nachweis des rein künstlichen Charakters der Umsätze erbracht werden“448. Es sei Sache der nationalen Gerichte festzustellen, ob die „Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens“ erfüllt sind, wobei der Gerichtshof „Klarstellungen“ vornehmen könne, um den nationalen Gerichten eine „Richtschnur“ vorzugeben449. Die Prüfung des Vorliegens eines Rechtsmissbrauchs verlange insoweit, dass das nationale Gericht „alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der betreffenden Einfuhr vorangehenden und nachfolgenden Handelstätigkeiten“450. Hinsichtlich des objektiven Elements schließt der Gerichtshof zunächst das mit der Verordnung Nr. 341/2007 verfolgte Ziel aus den Erwägungsgründen, dass, um eine marktbeherrschende Stellung eines einzelnen Einführers zu vermeiden, der Wettbewerb zwischen den Importeuren bei der Verwaltung der Zollkontingente zu wahren sei451. Durch die streitgegenständlichen Gestaltung werde dieses Ziel jedoch nicht erreicht, da der Importeur, dessen Kontingent zur Einfuhr von Knoblauch aus der A-Lizenz bereits erschöpft ist, sich zum Präferenzzoll eingeführten Knoblauch beschaffen kann und dadurch seinen Markteinfluss über das ihm zugewiesene Kontingent hinaus ausweiten kann452. Zur Feststellung des subjektiven Elements müsse das nationale Gericht, „um annehmen zu können, dass mit den betreffenden Handelstätigkeiten im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils für den Käufer in der Union bezweckt war“, prüfen, ob der Einführer den „Vorsatz“ hatte, „dem Käufer einen solchen Vorteil zu verschaffen, während die Handelstätigkeiten jeglicher wirtschaftlicher oder kommerzieller Rechtfertigung für diese Einfuhr entbehrten“453. Für eine wirtschaftliche oder kommerzielle Rechtfertigung spreche, wenn der vereinbarte Verkaufspreis dem Einführer einen „bedeutenden Gewinn“ ermögliche und wenn der Importeur aufgrund sonst eintretender Sanktionen ein Interesse daran hat, sein Kontingent zur Einfuhr auszuschöpfen454. Daher würden die in Frage stehenden Handelstätigkeiten, selbst wenn sie durch „den Willen des Käufers motiviert sind, in 448 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33 mit Verweis auf EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53 und EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 62. 449 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34. 450 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34 und LS. 451 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 35. 452 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 36. 453 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 37. 454 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 37.

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Zweiter Hauptteil

den Genuss des Präferenzzolls zu kommen, und die betreffenden Einführer sich dessen bewusst sind“, nicht zwangsläufig der wirtschaftlichen Realität entbehren455. Es müsse positiv festgestellt werden, dass die in Frage stehende Gestaltung „künstlich mit dem wesentlichen Ziel geschaffen“ wurde, „vom Vorzugstarif zu profitieren“456. Der „künstliche Charakter“ der Transaktion könne sich zum einen aus der Risikoverteilung ergeben, wenn der Einführer und Inhaber der A-Lizenz keinerlei Geschäftsrisiko trage, sondern dieses tatsächlich vom Käufer getragen werde, und zum anderen aus der Gewinnverteilung, wenn die Gewinnspanne des Importeurs geringfügig ist oder die Waren unter dem Marktpreis in der Union an den Käufer veräußert werden457.

IV. Folgerungen Zu Beginn der Missbrauchsjudikatur hat sich der Gerichtshof zunächst vorwiegend mit Einzelproblemen hinsichtlich eines möglichen Missbrauchs des Unionsrechts befasst. Es ging zunächst darum, festzustellen, ob ein Missbrauch bereits den Anwendungsbereich des Unionsrechts und seiner Grundfreiheiten einschränkt oder ob ein Missbrauch den Eingriff in diese Freiheiten rechtfertigt. Dabei wurde durchgängig die Bedeutung subjektiver Momente für die Missbrauchsfeststellung betont. Es ist demnach unzutreffend, wenn Seiler ausführt, dass bis zur EmslandStärke-Entscheidung die Missbrauchsfeststellung durch den EuGH – der Innentheorie entsprechend – nur im Wege teleologischer Auslegung vollzogen wurde und bis dahin kein subjektives Element notwendig war458. Das subjektive Element war stattdessen stets Teil der insoweit kontinuierlichen Missbrauchsjudikatur. Es bestand jedoch lange Zeit noch kein derart konturiertes Missbrauchskonzept, das durch eindeutige Tatbestandsvoraussetzungen eine unionsweit einheitliche, rationale Missbrauchsfeststellung gewährleisten konnte. Ein Wendepunkt trat dann durch die Emsland-Stärke-Entscheidung ein. Erstmals gab der EuGH ein verbindliches Prüfungsmuster mit Tatbestandsvoraussetzungen vor, deren Inhalt und Nachweis in der folgenden Judikatur näher bestimmt und ausdifferenziert wurden. Erst diese verbindliche Methodik ermöglichte eine kohärente und belastbare Missbrauchsverhinderung und stellte ein Mittel zur wirksamen Verteidigung der Unionsrechtsordnung zur Verfügung. Im späteren Verlauf der Judikatur traf der Gerichtshof weitere Konkretisierungen der Missbrauchskonzeption im Bereich virulenter Probleme im steuerrechtlichen Kontext, da hier die Unterscheidung zwischen legitimer Gestaltung des wirtschaftlichen Sachverhalts und missbräuchlicher Ausnutzung der formalen Wortlautgrenzen gerade im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Steuerpla455

EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 39. EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 39. 457 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 39 (Hervorhebung durch den Verfasser). 458 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 259 f. 456

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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nungssicherheit und einheitlicher Rechtsanwendung für ein faires Funktionieren des Binnenmarktes besondere Bedeutung erlangte. Dabei rückte der Gerichtshof auch keineswegs von seiner Missbrauchsfeststellung durch objektives und subjektives Element ab, wie exemplarisch in den Entscheidungen SICES u. a.459 und RBS Deutschland460 deutlich wird461.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Aus der Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH zum Missbrauchsverbot lassen sich verschiedene Folgerungen ziehen. Die zentrale Aussage des Gerichtshofs für die weitere Analyse ist dabei die „ständige Rechtsprechung“, nach der „die missbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist“ bzw. „eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt“ ist462. „Die Anwendung des Unionsrechts kann nämlich nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich aus dem Unionsrecht

459

EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 37. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49. 461 So aber unzutreffend Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 260, der in der jüngeren Judikatur eine Abkehr vom subjektiven Element hin zu einer reinen Auslegungsfrage sieht. S. dagegen noch ausf. unten, § 6 V., VI. 462 So schon anklingend in EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 21; EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43 und EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rn. 21 und explizit ab EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 24; EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/ 03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 32; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/ 05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658, Rn. 41 f.; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 29; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 42; EuGH v. 14. 4. 2016 – Rs. C-131/14 – Malvino Cervati, ECLI:EU:C:2016:255, Rn. 32; EuGH v. 28. 7. 2016 – Rs. C-423/15 – Kratzer, ECLI:EU:C:2016:604, Rn. 37; EuGH v. 8. 6. 2017 – Rs. C-54/16 – Vinyls Italia SpA, ECLI:EU:C:2017:433, Rn. 51. 460

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Zweiter Hauptteil

Vorteile zu erzielen“463. Das Unionsrecht schützt keine natürlichen oder juristischen Personen, die durch Sachverhaltsgestaltungen künstlich unter den Anwendungsbereich vorteilhaften Unionsrechts fallen wollen464. Im Folgenden soll der Inhalt dieses unionsrechtlichen Missbrauchsverbots näher untersucht werden.

I. Vom EuGH aufgestellte Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots Das Missbrauchsverbot bezieht sich im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Konstellationen, „in denen der Begriff des Missbrauchs vom Gerichtshof untersucht wurde. Erstens, wenn Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts missbra¨ uchlich geltend gemacht werden, um sich den nationalen Rechtsvorschriften zu entziehen. Zweitens, wenn sich missbra¨ uchlich auf Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts berufen wird, um Vorteile auf eine Weise zu erlangen, die mit dem Ziel und dem Zweck eben dieser Bestimmungen im Widerspruch steht.“465 In beiden Konstellationen wendet der Gerichtshof das gleiche Prüfungsverfahren an. Der Gerichtshof hat den nationalen Gerichten zur Bestimmung eines Rechtsmissbrauchs ein Prüfungsmuster vorgegeben, an das sich nationale Gerichte zu halten haben und in dem die vom Gerichtshof aufgestellten „Tatbestandsvoraussetzungen eines solchen missbräuchlichen Verhaltens“466 abgeprüft werden müssen. Zunächst muss ein unionsrechtlicher Bezug vorliegen (Absch. II.) und es müssen die formalen Voraussetzungen einer möglicherweise missbrauchten unionsrechtlichen Bestimmung erfüllt sein (Absch. III.). Hinsichtlich der sich daran anschließenden Prüfungskriterien eines möglichen Missbrauchs hat sich im Laufe der Judikatur ein immer konturierteres Vorgehen des Gerichtshofs herausgestellt. In der Rechtssache Emsland – Stärke gingen sowohl die Kommission als auch der EuGH erstmals explizit davon aus, dass zur Feststellung eines Rechtsmissbrauchs verschiedene Elemente – das objektive (Absch. IV.) und das subjektive (Absch. V.) Element – kumulativ erfüllt sein müssen, was in einem gestuften Aufbau zu prüfen ist467. Während 463 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 30. 464 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (330). 465 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 63. 466 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40 (Hervorhebung durch den Verfasser) (Zitat); von „Tatbestandsvoraussetzungen“ sprechen auch EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76; EuGH v. 6. 4. 2006 – Rs. C-456/04 – Agip Petroli, ECLI:EU:C:2006:241, Rn. 24; EuGH v. 11. 1. 2007 – Rs. C-279/05 – Vonk Dairy Products, ECLI:EU:C:2007:18, Rn. 34; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34. 467 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 39, 52 ff.; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 31.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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der EuGH und die Kommission über den Inhalt im Detail noch unterschiedlicher Auffassung waren468, hat der Gerichtshof an seiner damals getroffenen Grundaussage festgehalten, dass ein Rechtsmissbrauch voraussetzt, dass „eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde“469. Daneben sei ein subjektives Element notwendig, „nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“470. Dabei ist die potenziell missbräuchliche Gestaltung nicht isoliert zu bewerten, sondern es müssen „alle relevanten Umstände des Einzelfalls“ berücksichtigt werden, zu denen auch die zeitlich vorangehenden und nachfolgenden Wirtschaftstätigkeiten gehören471. Der Gerichtshof sieht somit eine zweistufige Missbrauchsprüfung vor, in der der objektive Zweckbezug und die subjektiven Intentionen separat zu untersuchen sind. Die ausdrückliche Benennung der Missbrauchsvoraussetzungen und Prüfungsfolge dient im Ergebnis einer kohärenten Missbrauchsverhinderung.

II. Unionsrechtlicher Bezug Zur Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots muss zunächst ein unionsrechtlicher Bezug gegeben sein. Dieser liegt immer dann vor, wenn ein Sachverhalt direkt dem Geltungsbereich der Unionsrechtsordnung unterliegt und die Bewertung der Gestaltung deswegen aufgrund unionsrechtlicher Regelung stattfindet472. 468

S. oben, § 5 II. 1. EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52 (Hervorhebung durch den Verfasser). 470 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53 (Hervorhebung durch den Verfasser). 471 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34 und LS. 472 Die Zuständigkeit der Union richtet sich nach dem in Art. 5 EUV niedergelegten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Der Geltungsbereich richtet sich nach den durch die Unionsrechtsordnung geregelten Fallgestaltungen, vgl. EuGH v. 26. 2. 2013 – Rs. C617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105, Rn. 19; vgl. auch Bast, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union57, Art. 5 EUV Rn. 9 f.; Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 7 – 9 ff.; Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 99 ff.; zur Bedeutung des grenzüberschreitenden Bezugs vgl. auch Reimer, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.30, S. 174; EuGH v. 26. 1. 1999 – Rs. C-18/95 – Terhoeve, ECLI:EU:C:1999:22, Rn. 26 f. und Demleitner, SteuK 2011, 360. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor, „wenn der vom Schutzbereich der Kontrollkompetenz erfasste Faktor (die Ware, der Arbeitnehmer, die Dienstleistung, das Kapital, der Unionsbürger) tatsächlich eine Grenze zwischen Mitgliedstaaten innerhalb des Binnenmarktes überschritten hat, dieser Sachverhalt der gleichzeitigen rechtlichen Beurteilung zweier mitgliedstaatlicher Rechtssysteme unterfällt und bei der Personenfreizügigkeit zusätzlich eine unterschiedliche 469

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Zweiter Hauptteil

Das Rechtsmissbrauchsverbot findet aber auch bei reinen Inlandssachverhalten, die durch nationales Recht geregelt sind, Anwendung, wenn das Unionsrecht zwar nicht direkt anwendbar ist, ein Mitgliedstaat eine aus dem Unionsrecht stammende Bestimmung jedoch auch für rein innerstaatliche Sachverhalte in nationales Recht übernommen hat und somit innerstaatliche und grenzüberschreitende Sachverhalte gleichbehandelt, da nur so dem Bedürfnis einer einheitlichen Auslegung und Anwendung von aus dem Unionsrecht stammenden Bestimmungen Rechnung getragen werden kann473. Der „Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken“ findet außerdem bei einem Verstoß gegen nationales Recht Anwendung, wenn diese Bestimmungen auf den Vorgaben des Unionsrechts beruhen und zur Umsetzung einer Unionsregelung erlassen wurden474. Wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach dem Unionsrecht richten, „um insbesondere zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu etwaigen Wettbewerbsverzerrungen kommt, besteht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein klares Interesse der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um Auslegungsunterschiede zu verhindern“475. Daraus folgt eine umfassende Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Auslegung der Voraussetzungen und Rechtsfolgen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auch bei der Anwendung auf rein innerstaatliche Sachverhalte.

III. Formale Erfüllung der Voraussetzungen einer vorteilsgewährenden Unionsvorschrift Die Gewährung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Vorteils setzt voraus, dass sich ein möglicherweise Berechtigter auf eine vorteilsgewährende Vorschrift des Unionsrechts (internal abuse) oder eines anderen Mitgliedstaates (cross-border abuse) beruft476. Es wird also jeweils versucht, entweder durch die Wahl des Unionsrechts oder die Wahl des Rechts eines anderen Mitgliedstaates die anderweitig geltenden nationalen oder unionsrechtlichen Regelungen zu umgehen. Die Voraussetzungen dieser vorteilhaften nationalen oder Unionsregelung müssen formal Staatsangehörigkeit gegeben ist“, Lippert, der grenzüberschreitende Sachverhalt im Unionsrecht, S. 428. 473 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 27, 32, 34. 474 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 42. 475 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 21 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 32; EuGH v. 15. 1. 2002 – Rs. C-43/00 – Andersen og Jensen, ECLI:EU:C:2002:15, Rn. 18 und EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 33. 476 Auch als „gain-seeking choice of law“ beschrieben, vgl. die Darstellung bei Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 79 ff.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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eingehalten werden477. Werden nicht einmal die formalen Bedingungen der Regelung eingehalten, so wird bereits tatbestandlich die Gewährung des Vorteils verwehrt478. Normbehauptung findet hier bereits durch Auslegung statt, sodass es auf das Missbrauchsverbot nicht ankommt. Bei missbräuchlichen Gestaltungen, bei denen der Wortlaut der Voraussetzung der unionsrechtlichen Bestimmung eingehalten wird, kann hingegen eine Auslegung im Rahmen der Wortlautgrenze nicht zu einer wirksamen Normbehauptung führen479, sondern in diesen Fällen kommt es entscheidend auf das Missbrauchsverbot für die Erfüllung des Geltungsanspruchs an, der dem unionsrechtlichen Sollen immanent ist.

IV. Das objektive Element als ausdifferenzierter teleologischer Prüfungsmaßstab Die objektive Dimension des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots wurde bisher verhältnismäßig unkontrovers diskutiert, da sie eng mit der teleologischen Auslegungsmethode verwandt ist und insoweit überwiegend als vertraut und etabliert angesehen wird480. In der jüngeren Literatur hat sich demgegenüber ein ausdifferenzierteres Verständnis herausgebildet. Das objektive Element „is by far the most abstruse component of the concept of abuse of law; curiously it is also the least debated in the scholarship on the abuse of Union law.“481 Die einzelfallbezogene Missbrauchsprüfung misst in objektiver Hinsicht die gewählte Gestaltung an den mit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung verfolgten Zielen482. Es muss dazu zunächst als Anknüpfungspunkt der Missbrauchsprüfung die maßgebliche Regelung bestimmt werden (Absch. IV. 1.), deren Ziele ermittelt werden (Absch. IV. 2.), bevor anschließend ein Verstoß gegen diese Ziele geprüft werden kann (Absch. IV. 3.). Bei der Prüfung des objektiven Elements muss festgestellt werden, ob der Gestalter die Freiheit haben sollte, das einschlägige Recht durch entsprechende Gestaltung des Sachverhalts zu wählen483. Der Gerichtshof stellte schon früh klar, dass ein Rechtsmissbrauch dann nicht vorliegen kann, wenn eine Richtlinie objektive Voraussetzungen aufstellt, die die Erreichung eines unionsrechtlichen Ziels sicherstellen sollen, und diese Voraussetzungen durch den konkreten Sachverhalt erfüllt 477

EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52. EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 59. 479 S. dazu oben, § 4 II. 480 S. Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (225). 481 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 93. 482 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 42; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 52, 64. 483 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 93. 478

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Zweiter Hauptteil

werden, da in diesen Fällen das Verhalten gerade dem Zweck der Richtlinie entspricht484. Ein Missbrauchsvorwurf kann nur dann in Betracht kommen, wenn eine Privatperson oder eine Gesellschaft versucht, eine aus dem Unionsrecht stammende Rechtsposition zu einem anderen Zweck in Anspruch zu nehmen als dem vom Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel485. „[T]he question solved by the teleological assessment is whether choices of law made by private individuals are desirable or not. In other words, the teleological assessment consists on determining wheter Union citizens ought to be granted the freedom to choose the law governing their transactions.“486 Wahlrechte oder Gesetzeslücken können dazu ausgenutzt werden, soweit dadurch die Schwelle zum Missbrauch nicht überschritten wird487. Es kommt zur Bestimmung des objektiven Elements also darauf an, die normativen Grenzen der Rechtswahl durch Sachverhaltsgestaltung aufzuzeigen. Das objektive Element des Missbrauchsverbots soll die legitime Rechtswahl, die der Unionsgesetzgeber bewusst ermöglichen wollte, vom Rechtsmissbrauch unterscheiden488. Bei einem möglichen Missbrauch wird – mit Ausnahme von Betrugsfällen – nicht schon der Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eingeschränkt489, sondern die Ausübung dieser Freiheit wird erst im Rahmen der Rechtsmissbrauchsprüfung bewertet, da die Frage des Anwendungsbereichs von Grundfreiheiten eine andere ist als die Möglichkeit von Mitgliedstaaten, Maßnahmen gegen den Missbrauch von Unionsrecht vorzunehmen490.

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EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31, Rn. 26 f.; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 47 ff. 485 Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (450). 486 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 94. 487 Vgl. EuGH v. 6. 4. 1995 – Rs. C-4/94 – BLP Group, ECLI:EU:C:1995:107, Rn. 25; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 47; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/ 09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 55; EuGH v. 3. 9. 2014 – Rs. C-589/12, ECLI:EU:C:2014:2131, Rn. 48; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/ 02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 79; verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85; s. auch Englisch, StuW 2009, 3 (12) m.w.N. S. ausf. im steuerrechtlichen Kontext noch unten § 10 I. 3. 488 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 96 f. 489 S. oben, § 4. 490 EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 95 ff.; EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 17; zur objektiven Beschreibung des Begriffs „Arbeitnehmer“ EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 24.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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1. Normativer Anknüpfungspunkt des objektiven Elements Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot unterscheidet sich durch einen eingeschränkten Anknüpfungspunkt der teleologischen Zielermittlung von der nationalen Missbrauchsmethodik. Exemplarisch ist nach deutschem steuerrechtlichen Methodenverständnis das maßgebliche Kriterium, „ob ein mit der Gestaltung einhergehender steuerlicher Vorteil dem Zweck der um- oder ergangenen Norm widerspricht“491. Es ist nach den Wertungen des Gesetzgebers zu fragen, die den jeweils maßgeblichen steuerlichen Vorschriften zugrunde liegen492. Nach nationalem Verständnis, wie bspw. bei der steuerlichen Würdigung nach § 42 AO, kommt als Bezugspunkt also sowohl der Zweck des Gesetzes in Frage, dessen nachteilige Steuerrechtsfolge umgangen werden soll, als auch der Zweck einer Norm, deren Steuervergünstigung erschlichen werden soll493. Nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot hingegen kann sowohl bei der Umgehung nationalen Rechts als auch bei einem Missbrauch des Unionsrechts ausschließlich das möglicherweise missbrauchte Unionsgesetz Anknüpfungspunkt der teleologischen Missbrauchsprüfung sein. Wird nämlich durch die Berufung auf Unionsrecht eine nationale Regelung umgangen, kann der Zweck dieser nationalen Regelung vom EuGH bei der Feststellung des Normzwecks der Unionsregelung nicht beachtet werden, da der Unionstelos nicht vom nationalen Gesetz abhängig ist, sondern sich ausschließlich autonom aus Unionsrecht ergibt und der Gerichtshof nicht zur Auslegung nationalen Rechts befugt ist494. Bei der Zielermittlung wird nicht nur auf die Ziele der konkreten, möglicherweise missbrauchten Einzelvorschrift abgestellt, sondern es wird auch nach den Zielen der Gesamtregelung gefragt, der die Einzelbestimmung entlehnt ist. Im unionsrechtlichen Regelungssystem besteht demnach der Vorteil, nicht auf die Telosermittlung einer Einzelnorm beschränkt zu sein, deren Ziele mitunter deutlich schwieriger zu ermitteln sind, sondern es kann auf die Ziele der Gesamtregelung zurückgegriffen werden, die sich häufig aus den Erwägungsgründen in der Präambel ableiten lassen. Maßgeblich sind also sowohl das Ziel der Binnenmarktförderung als auch die Ziele der diese konkretisierenden Sekundärregelungen495. Da zur Erfüllung des objektiven Elements ausreichend ist, dass eines dieser Ziele verletzt wird496, muss keine Gesamtabwägung aller verfolgten Ziele stattfinden. Das objektive Element des Missbrauchs ist demnach bereits erfüllt, wenn die Gewährung der Rechtsfolge der Ein491

Englisch, in: Tipke/Lang, § 5 Rn. 127 (Hervorhebung durch den Verfasser). BMF-Schreiben v. 31. 1. 2014 IV A3-S 0062/14/10002 (Anwendungserlass zur Abgabenordnung), Nr. 2.2 zu § 42 AO. 493 Englisch, in: Tipke/Lang, § 5 Rn. 116. 494 Siehe oben, § 4. 495 Florstedt, FR 2016, 1 (5); Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (377); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457; Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 56. 496 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58. 492

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zelvorschrift gegen eines der einschlägigen Ziele der konkreten Bestimmung, der Sekundärregelung oder der Binnenmarktförderung verstößt. 2. Ermittlung des Normziels Um einen Normzielverstoß feststellen zu können, muss zunächst das Ziel oder müssen die Ziele der möglicherweise missbrauchten unionsrechtlichen Bestimmung ermittelt werden497. Erst danach kann geprüft werden, ob ein Verstoß gegen ein Ziel der Unionsregelung vorliegt. Das Ziel oder die Ziele sind durch Auslegung der Regelung zu ermitteln, die die möglicherweise missbrauchten Unionsbestimmungen enthält498. Diese Ziele werden bei Sekundärregelungen maßgeblich durch Auslegung der Erwägungsgründe in der Präambel der Sekundärregelung abgeleitet499. Im Kontext der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung des Mehrwertsteuersystems sei es beispielsweise gerade ein Ziel der Regelung, Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuche zu bekämpfen500. Die Zielfeststellung unionsrechtlicher Regelungen unterliegt dabei häufig klareren Vorgaben als in vielen Mitgliedstaaten, da im Unionsrecht verfolgte Ziele und Zwecke in den Präambeln explizit vorgegeben werden501. Dennoch sind die mit einer Unionsregelung verfolgten Ziele keineswegs immer eindeutig und deshalb ist auch eine Zielfeststellung durch den EuGH mitunter schwer vorherzusagen502. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn der Zweck einer Regelung schlicht in der Gewährung eines eben darin vorgesehenen Rechts liegt, da ausschließlich eine rechtlich geschützte Freiheit gewährleistet werden soll und keine darüber hinausgehenden sozioökonomischen Ziele verfolgt werden503. Im Folgenden sollen exemplarisch vom Gerichtshof im Kontext eines möglichen Missbrauchs untersuchte Regelungsziele unionsrechtlicher Bestimmungen analysiert werden.

497

EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 42; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 62 f. 498 S. ausf. zur Telosermittlung oben, § 4 II. 499 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 35; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 35, 37; Florstedt, FR 2016, 1 (5). S. zur Auslegung oben § 4 I. 500 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 71. 501 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (225). 502 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (225). 503 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (225).

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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a) Niederlassungsfreiheit Der Gerichtshof hat als ein Ziel der heute in Art. 49 ff. AEUV normierten Niederlassungsfreiheit anerkannt, „den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu erlauben, in einem anderen Mitgliedstaat eine Zweitniederlassung zu gründen, um dort ihren Tätigkeiten nachzugehen und so die gegenseitige wirtschaftliche und soziale Durchdringung auf dem Gebiet der selbstständigen Erwerbstätigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu fördern. Zu diesem Zweck will die Niederlassungsfreiheit es den Staatsangehörigen der Gemeinschaft ermöglichen, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen ihrer Herkunft teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen. In Anbetracht dieses Zieles der Eingliederung in den Aufnahmemitgliedstaat impliziert der Niederlassungsbegriff im Sinne der Bestimmungen des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in diesem Staat auf unbestimmte Zeit. Daher setzt sie eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem voraus.“504 Die Niederlassungsfreiheit soll es ermöglichen, Zweitniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten gründen zu dürfen, um dort der wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen zu können, dazu sei jedoch eine „tatsächliche Ansiedlung notwendig“505. Kernelement ist somit die tatsächliche Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit am Ort der Niederlassung. Ob eine Gesellschaft tatsächlich wirtschaftlich tätig wird, muss anhand objektiver Anhaltspunkte nachprüfbar sein, wobei insbesondere das Vorhandensein von „Geschäftsräumen, Personal und Ausrüstungsgegenständen“ berücksichtigt werden kann506. Sofern die Gesellschaft nach dieser Feststellung lediglich eine „fiktive Ansiedlung“ darstellt, die im Aufnahmemitgliedstaat keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, so stellt die Gründung dieser Gesellschaft eine „rein künstliche Gestaltung“ dar, wie es insbesondere bei einer „Briefkastenfirma“ oder „Strohfirma“ der Fall ist507. Derartige „Briefkastenfirmen“ sind zwar möglicherweise gesellschaftsrechtlich, nicht jedoch steuerrechtlich anzuerkennen, da an diesem Ort keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit stattfindet, die der Steuer unterworfen ist508. Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit könne jedoch allein aus dem Ziel der Gründung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat, steuerliche Vorzüge zu 504

EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 53 f. (Hervorhebung durch den Verfasser); s. grdl. zu den Zielen der Niederlassungsfreiheit Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 534 f. 505 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 53 f. 506 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 67. 507 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 68. 508 Kokott, FR 2008, 1041 (1042).

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Zweiter Hauptteil

genießen, kein Missbrauch der Grundfreiheit geschlossen werden509. Ein Missbrauch der Niederlassungsfreiheit liege „nicht schon allein deshalb“ vor, weil ein Steuerpflichtiger das Ziel hat, von vorteilhaften Steuerregelungen eines anderen Mitgliedstaates zu profitieren510. Demgemäß begründe bspw. das Ziel einer Gesellschaft, durch die Gründung einer Tochtergesellschaft in Irland dem dortigen vorteilhaften Steuerrecht unterfallen zu wollen, noch keinen Missbrauch, sodass die Gesellschaft sich trotz dieses Zieles grundsätzlich auf die Niederlassungsfreiheit berufen könne511. b) Dienstleistungsfreiheit Der Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 ff. AEUV gilt grundsätzlich unabhängig von den bei Ausübung der Dienstleistung vorhandenen Motiven. Sowohl der Gerichtshof als auch Generalanwalt Lenz gehen bspw. davon aus, dass es sich bei einer Sendetätigkeit um eine „Dienstleistung“ i. S. d. Grundfreiheit handeln kann, obwohl der Zweck verfolgt wird, sich den Rechtsvorschriften zu entziehen, die für inländische Sendeanstalten gelten512. c) Arbeitnehmerfreizügigkeit Auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 ff. AEUV wird unabhängig von subjektiven Vorstellungen des Arbeitnehmers gewährt. Der EuGH erklärte, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ i. S. d. Art. 48 EG-Vertrag nur anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Beteiligten charakterisieren513. d) Anerkennung von Berufsqualifikationen In der Rechtssache Torresi entschied der Gerichtshof unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 98/5/EG und dessen sechsten Erwägungsgrund, dass durch die Richtlinie die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtert werden solle und der Uniongesetzgeber durch einheitliche Voraussetzungen zur 509

EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 37. 510 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 36. 511 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 38. 512 EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 15 f.; Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 35. 513 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 24.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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Eintragung in das Rechtsanwaltsverzeichnis Ungleichheiten und Hindernisse für die Freizügigkeit vermeiden wolle514. Dazu nehme Art. 3 „eine vollständige Harmonisierung der Voraussetzungen für die Ausübung des mit dieser Richtlinie verliehenen Niederlassungsrechts vor“, weshalb die Bescheinigung der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats, in dem die Qualifikation erlangt wurde, die einzig notwendige Voraussetzung zur Eintragung im Aufnahmemitgliedstaat sei515. In einer Konstellation, bei der sich ein Unionsbürger, nachdem er einen Universitätsabschluss erworben hat, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und anschließend in den Ursprungsmitgliedstaat zurückkehrt, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der im Ausland erworbenen Bezeichnung auszuüben, liege gerade ein Fall vor, in dem das Ziel der Richtlinie erreicht wird516. 3. Verfehlung eines unionsrechtlichen Normziels Die Gesamtwürdigung der objektiven Umstände muss ergeben, dass trotz Einhaltung der formalen Kriterien der Norm das unionsrechtliche Ziel verfehlt wird517. Die Prüfung bezieht sich bei mehraktigen Gestaltungen dabei nicht auf Einzelschritte, sondern es werden alle vorangehenden und nachfolgenden Transaktionen zusammen bewertet518.

514 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 35, 37. 515 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 38 ff. 516 EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 47 ff. 517 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/ 12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 15, 32; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 36; EuGH v. 14. 4. 2016 – Rs. C-131/14 – Malvino Cervati, ECLI:EU:C:2016:255, Rn. 33; EuGH v. 28. 7. 2016 – Rs. C-423/15 – Kratzer, ECLI:EU:C:2016:604, Rn. 39; EuGH v. 8. 6. 2017 – Rs. C-54/16 – Vinyls Italia SpA, ECLI:EU:C:2017:433, Rn. 52; Florstedt, ZBB 2013, 81 (88); ders., FR 2016, 1 (5); Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1288). 518 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34 und 2. LS.

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Zweiter Hauptteil

a) Keine Verfehlung bei berechtigter Wahrnehmung unionsrechtlicher Rechtspositionen Eine Verfehlung des Normzwecks und somit ein Missbrauch des Unionsrechts scheidet immer dann aus, wenn das fragliche Verhalten gerade durch eine Unionsregelung (Grundfreiheit/Richtlinie/Verordnung) ermöglicht werden soll519. Die Absicht, nationale Regelungen zu umgehen, ist stets unschädlich, wenn das Gemeinschaftsrecht besondere Freiheiten eröffnet und die Intention lediglich darauf gerichtet ist, diese Freiheit auszunutzen, auch wenn dies bedeutet, dass nationale belastende Vorschriften nicht anwendbar sind, sofern dies mit den Zielen der betroffenen Gemeinschaftsnorm korrespondiert und somit schon objektiv kein Rechtsmissbrauch gegeben ist. Daher kommt es auf eine möglicherweise missbräuchliche Absicht nicht an, wenn schon nach objektiver Betrachtung keine missbräuchliche Praxis vorliegt520. Die Motive, die einer Sachverhaltsgestaltung zugrunde liegen, sind für die Prüfung des objektiven Elements grundsätzlich nicht zu beachten, sondern spielen erst auf der Ebene des subjektiven Elements der Missbrauchsprüfung eine Rolle, wenn zuvor eine Zielverfehlung objektiv festgestellt wurde. Ein Missbrauch kann nämlich nicht vorliegen, wenn eine Gestaltung in der Ausübung des von einer Grundfreiheit gedeckten Verhaltens besteht521. So soll es bspw. von den Zielen der Freizügigkeit gedeckt sein, wenn Privatpersonen nur deswegen in einem Mitgliedstaat ein Kind zur Welt bringen, weil sie für das Kind die dortige Staatsbürgerschaft erlangen wollen522. Eine Absicht, nationale Regelungen zu umgehen, schade beispielsweise auch dann nicht, wenn bewusst die zur Verfügung stehende Gesellschaftsform eines an519 EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31, Rn. 26 f.; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 47 ff. Zum Recht, eine günstige Rechtsordnung für die Gesellschaftsform zu wählen, s. EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 27 und hierzu Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137; Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of Case-Law and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107 (115); Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 154 f. 520 So ist bspw. die Absicht, eine Gesellschaft nur in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Gründung tätig werden zu lassen, bedeutungslos, sofern die Voraussetzungen des Gründungsmitgliedstaates erfüllt werden, EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16; ähnlich auch zur Gleichbehandlung von Tochtergesellschaften, deren Muttergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind, EuGH v. 8. 3. 2001 – verbundene Rs. C-397/98 und C-410/98 – Metallgesellschaft u. a., ECLI:EU:C:2001:134, Rn. 52; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 96; vgl auch EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25 ff. 521 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 47 ff. 522 EuGH v. 19. 10. 2004 – Rs. C-200/02 – Zhu and Chen, ECLI:EU:C:2004:639, Rn. 34.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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deren Mitgliedstaats gewählt wird, die mehr Freiheiten einräumt, und anschließend die Geschäftstätigkeit im betroffenen Mitgliedstaat über eine Zweigniederlassung ausgeführt wird, weil diese Freiheit gerade von der Niederlassungsfreiheit und deren Zielen gewährleistet werde, selbst dann, wenn in dem Mitgliedstaat des Sitzes der Gesellschaft keinerlei Geschäftstätigkeit ausgeführt wird523. Es widerspricht nicht der Niederlassungsfreiheit, wenn eine natürliche oder juristische Person beabsichtigt, von der in einem anderen Mitgliedstaat als dem seiner Ansässigkeit geltenden vorteilhaften Steuerrechtslage zu profitieren; dies allein reicht für sich nicht aus, um auf eine missbräuchliche Ausnutzung dieser Freiheit zu schließen524. Sofern eine Tochtergesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht – was insbesondere bei einer fiktiven Ansiedlung z. B. durch Briefkastenfirmen oder Strohfirmen nicht der Fall ist –, so entspricht die Gründung trotz der möglicherweise gegebenen Absicht zur Vermeidung der nationalen Steuer der wirtschaftlichen Realität, was eine rein künstliche Gestaltung ausschließt525. Indem die Möglichkeit auf Unionsebene eröffnet wurde, die Rechtsordnung der Gesellschaftsgründung frei zu wählen, deuten statistische Untersuchungen auf einen regulatorischen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten hin, bei dem innerhalb der Union vermehrt Gesellschaftsgründungen in Mitgliedstaaten mit flexibleren Gesellschaftsrechtssystemen stattfinden526. Im Gesellschaftsrecht werde dadurch eine „regulatory arbitrage“ ermöglicht527.

523

EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 27, 29; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 138. 524 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 36 f. 525 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 68; EuGH v. 2. 5. 2006 – Rs. C-341/04 – Eurofood IFC, ECLI:EU:C:2006:281, Rn. 34 f. 526 Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of Case-Law and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107 (108). Ringe weist in diesem Kontext auf die besondere Attraktivität des englischen Gesellschaftsrechtssystems hin. Dies habe zum Entstehen von Agenturen in Deutschland geführt, die darauf spezialisiert sind, bei der Gründung von Gesellschaften englischen Rechts zu beraten. Nach eigenen Angaben fand zeitweise jede dritte Gesellschaftsgründung in Deutschland nach englischem Recht statt, vgl. Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of CaseLaw and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107 (115 ff.) m.w.N. 527 Vella, Sparking Regulatory Competition in European Company Law: A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 128.

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Zweiter Hauptteil

b) Zielverfehlung bereits bei Verstoß gegen eines der Ziele Eine Zweckverfehlung liegt bereits dann vor, wenn von mehreren Zielen einer Regelung nur ein Ziel verletzt wird528. Nachdem der EuGH in der Rechtssache Part Service geprüft hatte, ob ein Umsatz i. S. d. der Richtlinie vorliegt und diesen bestätigt hatte, war zu untersuchen, ob dieser „Umsatz“ als missbräuchliche Praxis gegen die Ziele dieser Richtlinie verstößt. Der Gerichtshof fragte danach, ob es sich bei dem angestrebten Ergebnis um einen Steuervorteil handelt, dessen Gewährung mit „einem oder mehreren Zielen der Sechsten Richtlinie“ unvereinbar wäre, und dann, ob dies der „wesentliche Zweck“ der vertraglichen Vereinbarung war529. Das objektive Element als Facette der teleologischen Interpretation fragt dabei ausschließlich nach den Zielen einer Unionsregelung und beschränkt sich somit auf die „teleological interpretation stricto sensu“530. Zur Feststellung des objektiven Missbrauchselements können deshalb die übrigen vom EuGH verwendeten Ausprägungen der teleologischen Interpretation531 – wie effet utile532 und consequentialist interpretation533 – ausgeblendet werden. „Es handelt sich [beim objektiven Element] tatsächlich um ein zweckgerichtetes Kriterium, anhand dessen der Zweck und die Ziele der angeblich missbrauchten Gemeinschaftsregelung mit dem Zweck und dem Erfolg verglichen werden, die durch die betreffende Tätigkeit erreicht worden sind.“534 4. Folgerungen Das objektive Element des Missbrauchs ist dann nicht erfüllt, wenn durch die Sachverhaltsgestaltung – unabhängig von den dabei vorherrschenden Motiven – das Ziel einer vorteilsgewährenden Unionsregelung gefördert oder erreicht wird und es dem Gestalter wegen dieser Binnenmarktförderung gerade freistehen soll, sich durch 528

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58. 530 Vgl. EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-101/01 – Lindqvist, ECLI:EU:C:2003:596, Rn. 50; so bezeichnet von Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (32) („objectives it pursues“). 531 Vgl. zur Distinktion und Ausprägung der verschiedenen vom EuGH verwendeten teleologischen Auslegung neben den oben dargestellten statt vieler Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice: Towards a European Jurisprudence, 1993, passim. und Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (32). 532 Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (32) („effectiveness of the EU law provision in question“). 533 Vgl. folgebezogene Interpretation EuGH v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/ENEL, ECLI:EU:C:1964:66, S. 1269, 1275; EuGH v. 22. 10. 1987 – Rs. 314/85 – Foto-Frost, ECLI:EU:C:1987:452, Rn. 15; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (32) („consequences that follow from an interpretative choice“). 534 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 88. 529

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

183

entsprechende Gestaltung in den Regelungsbereich der Unionsvorschrift ,einzuwählen‘. Die Wahrnehmung von bewusst zur Verfügung gestellten Wahlmöglichkeiten lässt einen Missbrauch demnach ausscheiden, solange das fragliche Verhalten dem objektiven Inhalt und den Zielen der die Wahlfreiheit ermöglichenden Unionsregelung entspricht. Das objektive Element des Missbrauchs misst eine möglicherweise missbräuchliche Gestaltung nur am Telos der eventuell missbrauchten Unionsvorschrift, nicht an dabei etwa „umgangenen“ nationalen Vorschriften. Die Missbrauchspru¨ fung berücksichtigt bei Gestaltungen, die aus mehreren Teilschritten bestehen, das Gesamtgeschehen und nicht nur die Einzelschritte. Als Ziele, gegen die eine Gestaltung verstoßen kann, kommen sowohl die Ziele einer einzelnen Bestimmung, aber auch die Ziele der diese Bestimmung enthaltenden unionsrechtlichen Gesamtregelung (VO/RL) und letztendlich sogar die Ziele der Binnenmarktförderung, die durch die Regelung konkretisiert werden kann, in Betracht. Bei der Zielermittlung kann maßgeblich auf die Erwägungsgründe und von der Judikatur in der Vergangenheit anerkannte Zielfeststellungen abgestellt werden. Für das Vorliegen des objektiven Elements des Missbrauchs ist bereits ausreichend, dass eines von mehreren Zielen verfehlt wird. Gegen eine Zielverfehlung spricht, wenn eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit die fragliche Gestaltung legitimiert. Die Absicht, eine nationale Regelung zu umgehen, ist auf Ebene des objektiven Elements grundsätzlich irrelevant und wird erst auf Ebene des subjektiven Elements berücksichtigt, da eine Prüfung an den Zielen einer Regelung rein objektiver Natur ist. Besteht eine dem Richtlinienziel entsprechende tatsächliche wirtschaftliche Aktivität, so ist für die Anwendung der Grundfreiheiten die Absicht des Steuerzahlers unbedeutend535. Dieses ausdifferenzierte unionsrechtliche Verständnis der teleologischen Missbrauchsprüfung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Normbehauptung im Unionsrecht. Im Rahmen des objektiven Elements findet nur eine „eingeschränkte“ teleologische Auslegung der Bestimmung statt, da lediglich nach den Zielen der Regelung gefragt wird und darüber hinausgehende Aspekte der teleologischen Auslegung (wie effet utile und consequentialist interpretation) nicht berücksichtigt werden müssen. Während nach traditioneller teleologischen Auslegung eine umfassende Gesamtabwägung aller Ziele und Zwecke stattfindet, genügt es nach unionsrechtlichem Verständnis zur Erfüllung des objektiven Elements, wenn die Verfehlung eines der unionsrechtlichen Ziele festgestellt wird. Da keine Gesamtabwägung vorgenommen wird, kann eine Zielverfehlung in vielen Fällen rationaler und objektiver festgestellt werden. Die Feststellung der Zielverfehlung unterliegt daher weniger dem jeweiligen subjektiven Telosverständnis des individuellen Rechtsanwenders, sondern erfolgt anhand historisch belegter Zielfeststellungen, wie sie u. a. aus den Erwägungsgründen durch die Judikatur abgeleitet wurden, und somit im Ergebnis objektiver und vorhersehbar. 535

Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (591).

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Zweiter Hauptteil

Da dieser ,Grobfilter‘ des objektiven Elements nach unionsrechtlichem Verständnis weiter gefasst ist als bei der teleologischen Auslegung nach deutschem Verständnis, dient nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot das subjektive Element als Korrektiv, um legitime Gestaltungen von missbräuchlichen Praktiken abzugrenzen. Das subjektive Element wird dadurch in seiner Bedeutung im Rahmen der Missbrauchsprüfung aufgewertet.

V. Die Bedeutung des subjektiven Elements für die Erfassung der wirtschaftlichen Realität 1. Inhalt des subjektiven Elements nach der Rechtsprechung des EuGH Seit Beginn seiner Missbrauchsjudikatur im Jahr 1974 bis heute hat die Rechtsprechung des EuGH erkennen lassen, dass subjektive Erwägungen – das subjektive Element – fundamentaler Bestandteil der unionsrechtlichen Missbrauchswürdigung sind536. Allerdings forderte der Gerichtshof schon früh, dass ein Rechtsmissbrauch und insbesondere auch dessen subjektive Komponente anhand objektiver Umstände zu bestimmen sind537. Vom nationalen Methodenverständnis geprägt wird teilweise als subjektives Element eine Umgehungsabsicht als notwendig erachtet, nach der der Tatbestand der 536 EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 26; EuGH v. 17. 10. 1996 – verbundene Rs. C283/94, C-291/94 und C-292/94 – Denkavit u. a., ECLI:EU:C:1996:387, Rn. 31; EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 40 ff.; EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 28; EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 36; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 53; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 57; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 64; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 28; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33 ff.; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 61, 64. 537 EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

185

umgangenen nachteiligen Norm bewusst vermieden wird bzw. der Tatbestand der erschlichenen vorteilhaften Norm bewusst herbeigeführt wird538. Nach anderer Ansicht soll eine Missbrauchsabsicht erforderlich sein, die vorliegt, wenn der Betroffene beabsichtigt, Unionsrecht konträr zu seiner Zweckrichtung zum eigenen Vorteil auszunutzen539. Auf Unionsebene hat sich jedoch mittlerweile ein tiefgreifendes, ausdifferenzierteres Verständnis zum subjektiven Element des Missbrauchsverbots herausgebildet. Während lange Zeit die Bedeutung und die Voraussetzungen des subjektiven Elements unklar waren, hat sich seit der Emsland-Stärke-Judikatur540 ein konkretes Verständnis über die Tragweite und Voraussetzungen subjektiver Momente herauskristallisiert. Dieses subjektive Element ist danach gegeben, wenn aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass im Wesentlichen ein ungerechtfertigter bzw. widerrechtlicher Vorteil bezweckt wird541. Zwar spricht der Gerichtshof von der „Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil“ zu verschaffen542. Damit ist jedoch keine klassische Umgehungsabsicht gemeint, sondern eine zweckgerichtete Sachverhaltsplanung543. Häufig wird vom Gerichtshof dazu auf die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung abgestellt, wenn verlangt wird, dass die entsprechenden Voraussetzungen einer Unionsbestimmung „willkürlich“ oder „künstlich“ geschaffen wurden544. Das subjektive Element des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots verwendet dazu die Metapher der „künstlichen Konstruktion“, um legitime von illegitimen Intentionen abzugrenzen. Es heißt auch, dass der ob538 Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 222. 539 Niemann, Der allgemeine Missbrauchsvorbehalt nach der Rechtsprechung des EuGH und seine Auswirkungen auf die Anwendung des § 42 AO, S. 216; vgl. auch Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 264. 540 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695. 541 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; ähnl. Formulierung in EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45; EuGH v. 14. 4. 2016 – Rs. C-131/14 – Malvino Cervati, ECLI:EU:C:2016:255, Rn. 34; EuGH v. 28. 7. 2016 – Rs. C423/15 – Kratzer, ECLI:EU:C:2016:604, Rn. 40; EuGH v. 8. 6. 2017 – Rs. C-54/16 – Vinyls Italia SpA, ECLI:EU:C:2017:433, Rn. 52. 542 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53. 543 Fleischer, JZ 2003, 865 (872). 544 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/ 10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45.

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Zweiter Hauptteil

jektiv nicht den Zielen der Regelung entsprechende steuerliche Vorteil „der wesentliche Zweck der vertraglichen Vereinbarung“ sein muss545. Das subjektive Element liegt in der Intention, einen regulatorischen Vorteil zu erlangen, wobei dieser Vorteil im Unionsrecht (internal abuse of law) oder auf nationaler Ebenen (cross-border abuse of law) vorgesehen sein kann546. Eine solche missbräuchliche Absicht liegt dann nicht vor, wenn die in Frage stehende Gestaltung eine andere Erklärung als die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn überwiegend wirtschaftliche Gründe für die gewählte Konstruktion sprechen547. Eine willkürliche bzw. künstliche Gestaltung hat außer dem regulatorischen Vorteil – wie z. B. dem eines unionsrechtlich vorgesehenen Steuervorteils – keine vernünftige Erklärung; sie entspricht deshalb bei Nichtberücksichtigung dieses Vorteils nicht der ökonomischen Rationalität548. Der Binnenmarkt wird durch künstliche Konstruktionen nicht gefördert, da diese typischerweise vermeidbare Kosten enthalten oder zumindest keinen über den regulatorischen Vorteil hinausgehenden sozioökonomischen Nutzen bringen, weshalb ein derartiges Vorgehen nicht auf Kosten der Gemeinschaft vom Unionsrecht geschützt werden soll549. 2. Rückschluss auf das subjektive Element anhand objektiver Tatsachen zur Objektivierung subjektiver Merkmale Bei der Berücksichtigung subjektiver Kriterien bestehen Beweisprobleme, da Absichten, Pläne und Motive nur schwer feststellbar sind, „der Blick in das Innenleben der Beteiligten nicht möglich ist“ und die Parteien ihre Absichten nicht offenlegen werden, wenn ihnen daraus Nachteile entstehen können550. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss das subjektive Missbrauchselement daher anhand objektiver Anhaltspunkte ermittelt werden können551. Der Gerichtshof hat erklärt, es sei Sache des nationalen Gerichts, den Nachweis für das Vorliegen beider Missbrauchselemente nach nationalem Recht zu erbringen, 545

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 57. Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 79. 547 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75. 548 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 85; Costello, Citizen of the Union: Above Abuse?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 321 (326). 549 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 86. 550 Cahn, in: Festschrift Karsten Schmidt, S. 157 (173). 551 EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69. 546

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird552. Der EuGH hat außerdem entschieden, dass die nationalen Behörden die Beweislast für die Künstlichkeit einer missbräuchlichen Gestaltung tragen553. Hierzu können auch Beweise aus einem parallel geführten Strafverfahren herangezogen werden554. Sofern es gerade Ziel der Gemeinschaftsregeln ist, Beweisschwierigkeiten für den Betroffenen zu vermeiden, darf diesem nicht die Beweispflicht für das Nichtvorliegen eines Missbrauchs auferlegt werden, selbst wenn „ernsthafte Zweifel“ für das Vorliegen eines Missbrauchs sprechen555. Sowohl die Kommission als auch Generalanwalt Alber gingen davon aus, dass die Beweislast grundsätzlich „auf Seiten der zuständigen nationalen Verwaltung liege. Allerdings sei in extremen Mißbrauchsfällen auch ein „prima-facie-Beweis“ möglich, der gegebenenfalls zu einer Beweislastumkehr führe.“556 Aus der Heterogenität der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen können sich Divergenzen hinsichtlich der Beweislast des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ergeben557. Im prozessualen Zusammenhang sind für die Wirksamkeit des Unionsrechts die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität zu berücksichtigen558. Der Grundsatz der Äquivalenz besagt, dass die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die für entsprechende innerstaatliche Klagen559. Der Grundsatz der Effektivität hat zum

552 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 54; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 41; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 72 ff.; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 52; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 65. 553 EuGH v. 9. 7. 2009 – Rs. C-397/07 – Kommission/Spanien, ECLI:EU:C:2009:436, Rn. 30; s. auch Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 162. 554 EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 62 ff. 555 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25 ff. 556 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 39; ähnlich schon Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – EmslandStärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 83. 557 Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 59. 558 Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 53, 58 f. 559 EuGH v. 8. 3. 2011 – Rs. C-240/09 – Lesoochranárske Zoskupenie, ECLI:EU:C:2011:125, Rn. 48.

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Zweiter Hauptteil

Inhalt, dass die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden darf560. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, wie bei der in der EU völlig unterschiedlichen Behandlung juristischer Personen subjektive Merkmale festgestellt werden können561. Wer berechtigt ist, für juristische Personen im Außenverhältnis in Erscheinung zu treten, wird auf Unionsebene durch die Publizitätsrichtlinie562 vereinheitlicht563. Geht es um den Rechtsmissbrauch im Zusammenhang mit der Gründung einer Gesellschaft, so sind die Absichten der Gründer maßgebend564. Beruft sich eine Gesellschaft im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit darauf, dass sie eine tatsächliche Ansiedlung und tatsächliche Betätigung vorgenommen hat, ist ihr Gelegenheit zu geben, dies nachzuweisen, da sie „hierzu am ehesten in der Lage ist“565. Hat die Gesellschaft derartige Beweise vorgelegt, müssen die zuständigen nationalen Behörden, wenn sie die tatsächliche Lage der ausländischen Gesellschaft anders beurteilen wollen, auf die Mechanismen der Zusammenarbeit und des Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen zurückgreifen566. 3. Die Objektivierung der Künstlichkeitsmetapher und weitere Indizien zur Bestimmung des subjektiven Elements Der Gerichtshof zeigt den nationalen Gerichten verschiedene Indizien auf, die als Kriterien einzeln oder kombiniert vorliegen können und anhand derer auf das subjektive Element des Missbrauchs geschlossen werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei die vom EuGH verwendete Künstlichkeitsmetapher als Kriterium für das Vorliegen des subjektiven Elements. Die künstliche Natur einer Gestaltung dient als 560 EuGH v. 8. 3. 2011 – Rs. C-240/09 – Lesoochranárske Zoskupenie, ECLI:EU:C:2011:125, Rn. 48. 561 S. zur Problematik bereits Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/ 93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 60. 562 Richtlinie 2009/101/EG v. 16. 9. 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten. 563 Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1287). 564 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 27; Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1287). 565 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 70. 566 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 71. S. dazu auch die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG und dazu jüngst den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU (COM/2016/025 final).

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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objektivierter Nachweis der subjektiven Intention567. Die Kommission führt in diesem Kontext aus, dass der Nachweis einer künstlichen Konstruktion dem Vergleich von Form und Substanz entspricht568. Das eigentliche Problem besteht dabei häufig darin, echte wirtschaftliche Tätigkeit von künstlichen Konstruktionen abzugrenzen569. Der Gerichtshof hat neben der künstlichen Konstruktion auch andere Indizien zur Bestimmung des subjektiven Elements entwickelt, die teils im Zusammenhang mit der künstlichen Konstruktion stehen und teilweise keinen direkten Bezug auf sie nehmen. a) Künstliche Konstruktion Die künstliche Konstruktion570 oder der künstliche Charakter der Transaktion571 ist der häufigste, aber nicht der alleinige Ausgangspunkt der Missbrauchsprüfung im Rahmen des subjektiven Elements. Der Nachweis der subjektiven Komponente kann durch das Vorliegen eines „rein willkürlichen Charakters“ einer Gestaltung oder eines „rein künstlichen Charakters“ des Rechtsgeschäfts erbracht werden572. Aus der künstlichen Konstruktion wird nach den Vorgaben des EuGH geschlossen, dass der Gestalter die Absicht hatte, sich einen ihm nicht zustehenden Vorteil zu verschaffen. „In fact it appears that the purpose test is a proxy for economic reality. If the essential reason for the transaction is not commercial then it can be said to be ,artificial‘ or not ,genuine‘.“573 Der Gerichtshof hat eine Reihe von Abwägungskriterien herausgearbeitet, die für das Vorliegen einer künstlichen Konstruktion und damit für das Vorliegen des subjektiven Elements sprechen.

567 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (226). 568 Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbeka¨ mpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer) v. 10. 12. 2007, KOM(2007) 785 endgültig S. 5. 569 Kokott, FR 2008, 1041. 570 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 39 f.; vgl. auch Englisch, StuW 2009, 3 (13). 571 EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27 f. 572 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53, 58 (Zitat), hierbei ist zu beachten, dass die englische Fassung von ,artificially‘, die französische von ,artificiellement‘ spricht, sodass ,willkürlich‘ auch als künstlich verstanden werden kann; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 81; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 62. 573 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (374).

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Zweiter Hauptteil

b) Wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit Für das Vorliegen einer künstlichen Konstruktion spricht, wenn keine wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt wird, insbesondere wenn kein entsprechendes Personal und keine Geschäftsausstattung vorhanden sind574. c) Aufspaltung eines einheitlichen Rechtsgeschäfts Ferner kann für einen Missbrauch sprechen, wenn gewöhnlich einheitliche Verträge künstlich bzw. wirklichkeitsfremd aufgespalten werden, um die Besteuerungsgrundlage zu verringern575. So hat der Gerichtshof zu einem Umsatz, der ein Leistungsbu¨ ndel darstellt, entschieden, dass eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, um festzustellen, ob zwei oder mehr getrennte Leistungen vorliegen oder eine einheitliche Leistung erbracht wird576. Zum einen ergebe sich aus Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie der Grundsatz, dass jeder Umsatz als separate, selbstständige Leistung zu betrachten ist, zum anderen dürfe im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems ein Umsatz, der in einer wirtschaftlich einheitlichen Leistung besteht, nicht künstlich aufgespalten werden577. d) Keine vernünftigen wirtschaftlichen Gründe Liegen keine vernünftigen wirtschaftlichen Gründe für eine Gestaltung vor, so spricht dies für das Vorliegen einer künstlichen Konstruktion, einer Steuerumgehung oder einer Steuerhinterziehung578. Gleiches gilt, wenn es keinen „konkreten geschäftlichen Anlass“ für eine Transaktion gibt579. Das Streben nach einem steuer-

574 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 66 f., 75; vgl. auch Schlussanträge Generalanwalt Wathelet v. 16. 9. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:606, Rn. 84. 575 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 53. 576 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-231/94 – Faaborg-Gelting Linien, ECLI:EU:C:1996:184, Rn. 12 ff.; EuGH v. 25. 2. 1999 – Rs. C-349/96 – CPP, ECLI:EU:C:1999:93, Rn. 28 ff.; EuGH v. 26. 10. 2005 – Rs. C-41/04 – Levob, ECLI:EU:C:2005:649, Rn. 19. 577 EuGH v. 25. 2. 1999 – Rs. C-349/96 – CPP, ECLI:EU:C:1999:93, Rn. 29; EuGH v. 26. 10. 2005 – Rs. C-41/04 – Levob, ECLI:EU:C:2005:649, Rn. 20. 578 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 40; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 55; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 82 f.; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 37; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 37. 579 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 39 mit Verweis auf Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 59.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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lichen Vorteil stellt keinen vernünftigen wirtschaftlichen Grund dar580. Gegen das Vorliegen vernünftiger wirtschaftlicher Gründe spricht, wenn das erkennbar gewollte Ergebnis sich durch einfachere und kostengünstigere Gestaltungen (etwa durch die Vermeidung von irrationalen, kostspieligen Umwegen) hätte erreichen lassen581. Der Gerichtshof berücksichtigt bei seiner Bewertung, ob „reasonable parties“, die dasselbe ökonomische Ziel verfolgen, eine derartige Struktur gewählt hätten582. „An articifial construction, by contrast, is one which creates the form of a business establishment without its substance, a simulacrum which does not represent the economic reality.“583 Insoweit entspricht die wirtschaftliche Substanz nicht ihrer rechtlichen Form584. Für das Vorliegen einer künstlichen Konstruktion spricht, wenn nach Abzug des regulatorischen Vorteils kein weiterer „genuine socioeconomic benefit“ verbleibt585. Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit bspw. drückt sich die Künstlichkeit einer Gestaltung durch das Fehlen von „economic rationale“ aus, „and so can only be explained in the light of the aim to circumvent the law“586. Die Bezugnahme auf die ,wirtschaftliche Vernunft‘ bietet jedoch nur eine eingeschränkte Möglichkeit zu einer objektiven Bewertung der Vorgänge. Was vernünftig ist, lässt der Gerichtshof weitestgehend offen und dies lässt sich auch nur schwer allgemeinverbindlich umschreiben. Selbst unvernünftige Entscheidungen können legitime Ziele verfolgen oder im Ergebnis zu einem nicht vorhergesehenen Vorteil führen. Dieses Kriterium sollte bei der Missbrauchsprüfung deshalb nicht isoliert, sondern nur zusammen mit anderen Kriterien berücksichtigt werden. e) Fremdvergleich/Marktpreis Teilweise stellt der Gerichtshof bei der Prüfung einer möglicherweise künstlichen Konstruktion auf einen Fremdvergleich ab: Sofern marktübliche Konditionen vereinbart wurden, spricht dies gegen das Vorliegen eines Missbrauchs; andererseits sprechen nicht dem freien Wettbewerb entsprechende Konditionen für einen Miss-

580

EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 47. Englisch, StuW 2009, 3 (13); Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 86. 582 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (374). 583 Lyal, Cadbury Schweppes and Abuse: Comments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 427 (433). 584 Vgl. zum Verhältnis von substance and form Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (375 ff.); Wüstemann/Wüstemann, Substance and form, Working Paper 2012, passim. 585 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 85. 586 Costello, Citizen of the Union: Above Abuse?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 321 (323). 581

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Zweiter Hauptteil

brauch587. Zinsen, die nicht denen des freien Marktes entsprechen, sind ein klarer Hinweis auf eine künstliche Konstruktion588. f) Unangemessene Gewinnaufteilung oder unangemessene Risikoverteilung Bei der Beteiligung von mehreren Parteien oder Personen lässt sich die Unangemessenheit einer Gestaltung mitunter aus der Risiko- und Gewinnverteilung der Beteiligten und den dabei erzielten Gewinnspannen ableiten589. Trägt eine Partei kein Geschäftsrisiko, da das Risiko tatsächlich von einer anderen Person getragen wird, oder ist die Gewinnspanne angesichts der Verkaufs- und Weiterverkaufspreise geringfügig, so spricht dies für eine Künstlichkeit der fraglichen Transaktionen590. g) Verlustausgleich zwischen Konzerngesellschaften Ein Verlustausgleich zwischen verschiedenen Konzerngesellschaften aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten, der nur aus steuerlichen Gründen erfolgte, stellt keinen über einen Steuervorteil hinausgehenden vernünftigen wirtschaftlichen Grund dar591. h) Enger zeitlicher Zusammenhang von Maßnahmen und Kenntnis bevorstehender nachteiliger Gesetzesänderungen Auf einen Missbrauch deutet weiter ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen verschiedenen Maßnahmen hin. So spreche im Rahmen einer Fusion der „enge zeitliche Zusammenhang zwischen Gewinnausschüttung und dem durchgeführten Austausch“ und auch die „Kenntnis der kurz bevorstehenden Änderung“ eines Doppelbesteuerungsabkommens für eine missbräuchliche Praxis592. 587 EuGH v. 29. 5. 1997 – Rs. C-63/96 – Skripalle, ECLI:EU:C:1997:263, Rn. 26 f.; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 80 f.; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 29 f.; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 37. 588 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 81; Schön, IStR 2011, 777 ff. 589 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 39; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 67. 590 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 37; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 66 f. 591 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 48; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 75. 592 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 39 mit Verweis auf Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 59.

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i) Transaktionen „nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte“ Für das subjektive Element sprechen Transaktionen, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte vorgenommen werden, sondern die erfolgen, um aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen593. Umsätze erfolgen bspw. nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, wenn ein Steuerpflichtiger oder eine Gruppe untereinander verbundener Steuerpflichtiger Umsätze in einer Umsatzkette tätigen, die zusammen einen willkürlich herbeigeführten Sachverhalt bilden, dessen Zweck es ist, die erforderlichen Voraussetzungen für die Rückerstattung der Vorsteuer zu schaffen594. j) Rechtliche, wirtschaftliche oder personelle Verflechtungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern Für die Feststellung eines Missbrauchs muss der Rechtsanwender „die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, da solche Umstände zeigen, dass im Wesentlichen die Erlangung eines Steuervorteils angestrebt wurde, auch wenn es im Übrigen um die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele gegangen sein mag, die auf Erwägungen des Marketings, der Organisation und der Sicherheitsleistung beruhten“595. Gegen einen Missbrauch kann hingegen bei potenziell missbräuchlichen Transaktionen sprechen, dass zwischen den Beteiligten keine rechtlichen oder wirtschaftlichen Verbindungen bestanden596. Bei Rechtsgeschäften zwischen Familienangehörigen oder nahestehenden Personen bestehe eine gewisse abstrakte Gefahr der Steuerhinterziehung oder -umgehung597. Ähnlich ist für den Gerichtshof bei der Qualifizierung gezahlter Darlehenszinsen zwischen Konzerngesellschaften als Gewinnausschüttung die wirtschaftliche Verflechtung Missbrauchsindiz598. Wenn die Darlehenskonditionen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft nicht denen des „freien Wettbewerbs“ entsprechen, sei dies „ein objektives, für Dritte nachprüfbares Kriterium, um feststellen zu können, ob der fragliche geschäftliche Vorgang ganz oder teilweise eine rein künstliche Konstruktion darstellt, die im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, der Anwendung des Steuerrechts dieses Mitgliedstaats zu entge-

593 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 30; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; vgl. auch Englisch, StuW 2009, 3 (13). 594 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 66. 595 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 62 (Zitat); EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 58; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 81. 596 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 50. 597 EuGH v. 29. 5. 1997 – Rs. C-63/96 – Skripalle, ECLI:EU:C:1997:263, Rn. 25. 598 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 75 ff.

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hen“599. Die Missbrauchsbekämpfung bei konzerninternen Transaktionen kann bei derartigen Konstellationen, in denen Gesellschaftsstrukturen eines Konzerns missbraucht werden, um ein günstiges Recht in Anspruch nehmen zu können, durch das Konzept des ,lifting the corporate veil‘ gelöst werden600. Hierbei werden Tochtergesellschaften, obwohl sie rechtlich selbstständige juristische Personen sind, als wirtschaftliche Einheit angesehen601. In der Rechtssache Part Service war für den EuGH für das Vorliegen eines Missbrauchs entscheidend, dass (1) beide Gesellschaften derselben Unternehmensgruppe angehörten, (2) der Leasingvertrag in die Gebrauchsüberlassung und die Finanzierung aufgespalten wurde, (3) dadurch die Leistung der Leasinggesellschaft auf die Vermietung des Kfz reduziert wurde, (4) der Gesamtbetrag der Leasinggebühren kaum den Kaufpreis des Fahrzeugs überstieg und (5) die Leistungen isoliert betrachtet wirtschaftlich nicht rentabel zu sein schienen, „sodass die Überlebensfähigkeit des Unternehmens durch die mit den Dienstleistungsempfänger geschlossenen Verträge allein nicht sichergestellt werden kann“602. k) Kollusives Zusammenwirken Auf das Vorliegen des subjektiven Elements könne u. a. der Nachweis eines „kollusiven Zusammenwirkens“ zwischen den beteiligten Parteien hindeuten, wie bspw. bei einem Zusammenwirken zwischen Ausführer und Wiedereinführer von Waren603. Gleiches gilt für die Einbeziehung Dritter bei der Umgehung von Zollschranken604. Hingegen kann die fehlende Einwirkungsmöglichkeit einer Partei bei einer mehraktigen Transaktion einen Missbrauch ausschließen. Ein Missbrauch kann somit nicht in jedem Fall angenommen werden, in dem eine zunächst exportierte Ware später wieder reimportiert wird. Sofern der Exporteur nach der Lieferung der Ware nicht mehr über ihren Verbleib entscheiden kann, verstieße es gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn dem Exporteur gewährte Ausfuhrerstattungen bei einem nachträglichen Reimport, der nicht von ihm veranlasst wurde, zurückverlangt werden könnten, da die Waren nur dem Einwirkungsbereich des Abnehmers unterliegen605. Anders ist jedoch der Fall zu beurteilen, wenn der Exporteur selbst an der missbräuchlichen U-Turn-Gestaltung beteiligt ist606. 599 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 80 f. 600 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 111. 601 EuGH v. 2. 4. 1998 – Rs. C-296/95 – EMU Tabac, ECLI:EU:C:1998:152, Rn. 47. 602 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 57. 603 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53. 604 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 31 ff.; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 61 ff. (insbes. 64). 605 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 35 f.

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l) Mangelnde Kontinuität in der geschäftlichen Praxis Fehlende Kontinuität der geschäftlichen Tätigkeit von Wirtschaftsteilnehmern kann als Indiz für eine missbräuchliche Praxis gewertet werden. In dem entschiedenen Fall hat der Gerichtshof für den konkreten Vorgang im Zusammenhang mit der vereinfachten Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren der Geschäftsverbindungen als genügend angesehen, um einen Missbrauch abzulehnen, weil hierdurch ausreichende Kontinuität der wirtschaftlichen Betätigung zum Ausdruck käme607. m) Unterschiedlicher Sitz der Gesellschaften und Verlegung des Wohnsitzes Ist die Muttergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen als die Tochtergesellschaft, deutet dies für sich allein nicht auf eine mögliche Steuerumgehung hin, da die Gesellschaften dem Steuerrecht des jeweiligen Sitzstaates unterliegen608. Auch aus der Verlegung des Wohnsitzes von einem in ein anderes Mitgliedsland könne für sich allein noch nicht auf Steuerflucht geschlossen werden609. 4. Verhältnis beachtlicher sonstiger und rein regulatorischer Beweggründe Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich wichtige Anhaltspunkte für das Verhältnis beachtlicher sonstiger sozioökonomischer Beweggründe zu der Absicht der Parteien, einen regulatorischen Vorteil zu erlangen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dabei im Detail teilweise uneinheitlich. Dennoch lassen sich aus den Formulierungen des Gerichtshofs, insbesondere aufgrund einer Verfestigung in der jüngeren Rechtsprechung, Rückschlüsse und konkrete Vorgaben für den heute im Unionsrecht geltenden Maßstab subjektiver Kriterien ziehen.

606 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 37. 607 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 30 f. 608 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44 f.; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 50; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 73; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 27; EuGH v. 29. 11. 2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, ECLI:EU:C:2011:785, Rn. 85 f. 609 EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 51.

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a) Ausschließlicher Beweggrund regulatorischer Vorteil Wird eine Handlung durchgeführt „nur“ in der Absicht, sich einen sonst nicht zustehenden Vorteil zu verschaffen, so ist die Erfüllung des subjektiven Elements des Missbrauch klar und offensichtlich gegeben610. Exemplarisch formulierte der Gerichtshof in der Rechtsache Halifax zunächst, dass missbräuchliche Praktiken vorliegen, wenn Umsätze „nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen“611. Diese Aussage darf jedoch nicht dahingehend interpretiert werden, dass das subjektive Element nur dann vorliegt, wenn ausschließlich der regulatorische Vorteil angestrebt wird. Vielmehr ist in diesen Fällen stets vom Vorliegen des subjektiven Elements auszugehen. b) Wesentlicher Beweggrund regulatorischer Vorteil als Maßstab zur Erfassung der wirtschaftlichen Realität Wenn der Gerichtshof formuliert, dass Gestaltungen nicht vom Unionsrecht geschützt werden, die nur in der Absicht getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss des unionsrechtlichen Vorteils zu gelangen, könnte diese als notwendiger Maßstab eines Missbrauchs verstanden werden. Jedoch stellt diese Formulierung in der subjektiv extrem missbräuchlichen Konstellation lediglich die Legitimation des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots an sich dar und ist insoweit als Argumentationsfigur und nicht als Bestimmung des notwendigen Maßstabs („nur“) zu verstehen. Diese Formulierung „nur zu dem Zweck“ wird im selben Urteil Halifax wieder revidiert, in dem es heißt, dass es für einen Missbrauch genügen soll, wenn „im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt“ wird612. In der Rechtssache Part Service wurde der Gerichtshof wegen seiner ambivalenten Aussagen im Halifax-Urteil explizit danach gefragt, ob ein Umsatz auch dann missbräuchlich ist, wenn er „im Wesentlichen einen Steuervorteil bezweckt“ oder nur dann, „wenn keine anderen wirtschaftlichen Gründe als die Erlangung eines Steuervorteils“ vorliegen613. Der Gerichtshof stellte klar, dass es ausreicht, wenn „im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll“614. In der nachfolgenden Rechtssache Ampliscientifica u. a. formuliert der Gerichtshof zwar wieder, dass das Rechtsmissbrauchsverbot „insbesondere im Bereich der Mehrwertsteuer darauf abzielt, dass die Anwendung des 610

EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 36. 611 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69. 612 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS. 613 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 1, 40. 614 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 1, 45; vgl. auch Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (342).

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Gemeinschaftsrechts nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen“615. Dabei verweist der Gerichtshof jedoch explizit auf seine HalifaxRechtsprechung616, zu der er bereits die Klarstellung vorgenommen hat, dass der Maßstab „im Wesentlichen“ ausreichen solle. Den Maßstab „im Wesentlichen“ hat der Gerichtshof seitdem vielfach bestätigt und verwendet ihn auch in seiner neueren Rechtsprechung, wenn er formuliert, es müsse für das Vorliegen des subjektiven Missbrauchselements „im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils bezweckt“ werden617. 5. Folgerungen Bei der Prüfung des subjektiven Missbrauchselements werden die einer Sachverhaltsgestaltung zugrundeliegenden Motive der Beteiligten bewertet. Entscheidend ist, ob überwiegend valide sozioökonomische Ziele verfolgt werden, oder ob im Wesentlichen der regulatorische Vorteil angestrebt wird. Es werden also die Gründe einer Gestaltung untersucht und miteinander abgewogen. Das subjektive Element ist dann erfüllt, wenn bei dieser Abwägung illegitime Motive überwiegen. Anders als teilweise angenommen indiziert das Vorliegen des objektiven Elements grundsätzlich nicht bereits das Vorliegen des subjektiven Elements. Der Schluss auf die einer Gestaltung zugrundeliegenden Motive muss vielmehr aufgrund objektiver Umstände positiv festgestellt werden. Dazu sind sowohl die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung als auch die tatsächlich erzielten Vorteile zu ermitteln. Der Gerichtshof hat eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die ausgehend von der Metapher der künstlichen Konstruktion bei der Abwägung einzeln oder zusammen zu berücksichtigen sind. Diese Kriterien müssen stets im konkreten Einzelfall überprüft werden, wozu die Ziele der Gestaltung individuell ermittelt und mit den für eine Entscheidung relevanten Kriterien verglichen werden. Durch die Vielzahl der vom Gerichtshof beurteilten Fälle und dabei aufgestellten Kriterien hat sich mittlerweile der Inhalt des subjektiven Elements ausdifferenziert und konturiert.

615

EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27 (Hervorhebung durch den Verfasser). 616 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27 verweist auf EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69 f. 617 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 30 f., 39; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 22. 3. 2012 – Rs. C-153/11 – Klub, ECLI:EU:C:2012:163, Rn. 49; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 37; EuGH v. 17. 7. 2014 – Rs. C272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rn. 39.

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Zweiter Hauptteil

Durch die Möglichkeit des Gestalters, seine diesbezüglichen Motive gegeneinander abzuwägen, bevor er einen Sachverhalt gestaltet, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu in der Lage, vorhersehen zu können, ob er bei dem vorhandenen Motivbündel das subjektive Element des Missbrauchsverbots erfüllen wird. Durch die vom EuGH entwickelten Voraussetzungen des subjektiven Elements, dieses vom Rechtsanwender positiv anhand objektiver Umstände nachweisen zu müssen und die vom Gerichtshof entwickelten objektiven Abwägungskriterien als Missbrauchsindizien heranziehen zu müssen, ermöglicht das subjektive Missbrauchselement des Missbrauchsverbots im Ergebnis eine Objektivierung der Normbehauptung durch Subjektivierung der Missbrauchsprüfung.

VI. Die Notwendigkeit des subjektiven Elements des Missbrauchsverbots Das vom EuGH explizit geforderte subjektive Element stieß sowohl bei einigen Generalanwälten als auch in der Literatur auf Kritik, die im Folgenden untersucht werden soll. 1. Ansichten der Generalanwälte Die Ansichten der Generalanwälte zur Notwendigkeit subjektiver Absichten der Beteiligten zur Missbrauchsfeststellung waren nicht immer einheitlich. Einige Generalanwälte kritisierten zunächst noch das Abstellen auf subjektive Kriterien618. Nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Maduro zur Rechtssache Halifax dürfte sich das subjektive Element nicht nach den nur schwer fassbaren subjektiven Absichten der Beteiligten richten619. Die meisten Generalanwälte befürworteten jedoch die Berücksichtigung subjektiver Kriterien und folgten den Formulierungen des Gerichtshofs620. Generalanwalt Alber formuliert: „Unabdingbare Voraussetzung 618

Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 70 f.; nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Geelhoed v. 27. 2. 2003 – Rs. C-109/01 – Akrich, ECLI:EU:C:2003:112, Rn. 173 sind subjektive Kriterien nicht zweckmäßig; kritisch zur Berücksichtigung subjektiver Kriterien bei juristischen Personen, Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 60. 619 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 70. 620 Schlussanträge Generalanwalt Darmon v. 7. 6. 1988 – Rs. 81/87 – Daily Mail, ECLI:EU:C:1988:286, Rn. 9; Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 53, 59; Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 6. 2. 1997 – Rs. C-56/96 – VT4, ECLI:EU:C:1997:61, Rn. 37 f.; Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80; Schlussanträge Generalanwältin Szpunar v. 20. 5. 2014 – Rs. C-202/13 – Sean Ambrose McCarthy, ECLI:EU:C:2014:345, Rn. 123; Schlussanträge Generalanwalt Mengozzi v. 12. 6. 2014 –

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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bei einem generalklauselartigen bzw. einem auf allgemeine Rechtsgrundsätze gestützten Rückgewähranspruch ist daher das subjektive Element der Mißbrauchsabsicht621.“ 2. Kritik aus der Literatur Das allgemeine Erfordernis des subjektiven Elements zur Missbrauchsfeststellung stieß in der Literatur zum Teil auf erhebliche Kritik622. Es wurde erklärt, die Aspekte der Rechtssicherheit und Gesetzmäßigkeit würden gegen die Anwendung subjektiver Elemente bei der Missbrauchsfeststellung sprechen623. Für Ottersbach sei der Nachweis eines subjektiven Elements für die Missbrauchsbestimmung weder geeignet noch notwendig, sodass der Nachweis eines Missbrauchs nicht von derartigen Absichten abhängen könne624. Nach Eidenmüller sei nach den Vorgaben des Gerichtshofs weder klar, ob für einen Missbrauch der Nachweis eines subjektiven Elements verlangt werde, noch – falls ein subjektives Element notwendig wäre – wie

Rs. C-491/13 – Mohamed Ali Ben Alaya, ECLI:EU:C:2014:1933. Rn. 50; Schlussanträge Generalanwältin Sharpston v. 5. 2. 2015 – Rs. C-607/13 – Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:67, Rn. 93, 100. 621 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. 622 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (449); Koutrakos, The Emsland-Stärke Abuse of Law Test in the Law of Agriculture and Free Movements of Goods, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 203 (209); Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23); Ziegler, „Abuse of Law“ in the Context of Free Movement of Workers, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 295 (307 f.); Spaventa, Comments on Abuse of Law and the Free Movement of Workers, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 315 (317); Lyal, Cadbury Schweppes and Abuse: Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 427 (430 ff.); Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137 (142); Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 63 ff.; von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 98, 308; Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324. 623 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (449); Koutrakos, The Emsland-Stärke Abuse of Law Test in the Law of Agriculture and Free Movements of Goods, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 203 (209); Arnull, What is a General Principle of EU Law in de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23); Ziegler, „Abuse of Law“ in the Context of Free Movement of Workers, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 295 (307 f.); Spaventa, Comments on Abuse of Law and the Free Movement of Workers, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 315 (317); Lyal, Cadbury Schweppes and Abuse: Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 427 (430 ff.). 624 Ottersbach, Rechtsmißbrauch bei den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, S. 41.

200

Zweiter Hauptteil

der Inhalt dieser subjektiven Voraussetzung ausgestaltet sei625. Ähnlich geht von Lackum davon aus, die Rechtsprechung des EuGH zur Notwendigkeit eines subjektiven Elements sei äußerst uneinheitlich. Es sei „nicht nachvollziehbar, in welchen Fällen der EuGH, die Kommission, die Generalanwälte […] die objektive oder subjektive Theorie […] vertreten“626. Das Abstellen auf die jeweiligen Absichten des Steuerpflichtigen würde nach Böing dem „Harmonisierungsauftrag des EG-Vertrages zuwiderlaufen“627. Nach Fischer werde die Rechtsgeltung von „umgangenen“ Normen durch die Notwendigkeit eines subjektiven Elements einer Missbrauchsabsicht „relativiert“628. Lang kritisiert, allein Gegenstand und Zweck eines Gesetzes seien erheblich und die Relevanz der teleologischen Interpretation dürfe nicht von zusätzlichen subjektiven Elementen abhängen629. Nach Englisch „kann dem Gerichtshof insbesondere im Hinblick auf die vermeintlich durchgängige Erforderlichkeit einer subjektiven Missbrauchsabsicht nicht gefolgt werden“630. Stattdessen sei eine Differenzierung in Fallgruppen geboten, von denen einige zur Missbrauchsfeststellung subjektive Kriterien verlangten, andere jedoch nicht631. Obwohl auch nach Englisch das subjektive Element in der Missbrauchsjudikatur des EuGH mittlerweile als „firmly established“ anzusehen ist, schlägt er nunmehr vor, de lege ferenda das subjektive Element des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots aufzugeben632. Nach Seiler ist die Berücksichtigung des subjektiven Elements ,gefährlich‘ und dürfe bei der Missbrauchsfeststellung keine Rolle spielen633. Die Notwendigkeit eines subjektiven Elements wurde insbesondere für Fälle des institutionellen Rechtsmissbrauchs abgelehnt634. Es wird zwar erklärt, dass dieser institutionelle Rechtsmissbrauch nach der deutschen Zivilrechtslehre als Missbrauch zu verstehen sei635. Anschließend wird vorgeschlagen, im Europarecht in diesen Fällen durch Auslegung bereits die Berufung auf die Grundfreiheiten und damit die Anwendbarkeit der Norm zu versagen636. Denn hier werde eine Grundfreiheit nur „pro forma“ ausgeübt, „das zugrunde liegende Binnenmarktziel hingegen ver625 Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137 (142). 626 von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 309. 627 Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324. 628 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (623). 629 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (448 f.). 630 Englisch, StuW 2009, 3 (5). 631 Englisch, StuW 2009, 3 ff. 632 Englisch, National Measures to Counter Tax Avoidance under the Merger Directives, S. 37. 633 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 221. 634 Englisch, StuW 2009, 3 (5 ff.); Fleischer, JZ 2003, 865 (872); Baudenbacher, ZfRV 2008, 205 (215); s. auch Schubert, Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 161. 635 Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.). 636 Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.).

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

201

fehlt“637. Die einschlägige Grundfreiheit erfasse den missbräuchlichen Vorgang gar nicht638. Methodisch komme dies einer „teleologischen Reduktion der jeweiligen Grundfreiheiten“ sehr nahe639. Daher könne es auf eine Missbrauchsabsicht nicht ankommen640. In derartigen Fällen sei bereits die Anwendbarkeit der europarechtlichen Grundfreiheit abzulehnen641. 3. Die Bedeutung des subjektiven Elements für eine wirksame Missbrauchsverhinderung Der Kritik am Erfordernis subjektiver Kriterien bei der Missbrauchsfeststellung liegt häufig das Verständnis zugrunde, das im nationalen Rechtskreis als „objektive Theorie“ bezeichnet wird, nach der ein Missbrauch lediglich eine Frage der Rechtsgeltung ist, die nur durch Auslegung, Analogie und teleologische Reduktion zu lösen sei642. Deshalb weist dieses Verständnis dieselben Schwächen auf, wie sie zur nationalen Methodik bereits dargelegt wurden643. Die einer Sachverhaltsgestaltung zugrundeliegenden Motive sollten nicht generell unberücksichtigt bleiben, da diese subjektiven Kriterien Aufschluss über ihre Legitimität bieten, wenn die Gestaltungen wegen der außersteuerlichen Ziele dem Gesetzgeberwillen entsprechen. Auch nach einer „rein objektiven“ Missbrauchsbehandlung wird der Verzicht auf die Berücksichtigung subjektiver Kriterien nicht strikt durchgehalten644. Der EuGH hingegen berücksichtigt subjektive Kriterien und differenziert klar zwischen der teleologischen Bewertung im objektiven Missbrauchselement und dem subjektiven Element eines Missbrauchs im Rahmen der Missbrauchsprüfung645. Dem subjektiven Kriterium kommt „zentrale Bedeutung für das richtige Verständnis des Missbrauchsverbots“ zu646. Im Folgenden soll eine Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten Aufschluss über die Bedeutung subjektiver Kriterien für eine vorhersehbare und anhand konsensfähiger Bewertungskriterien erfolgende Normbehauptung bieten.

637

Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.). Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.). 639 Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.); ähnl. von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 307 f. 640 Englisch, StuW 2009, 3 (5, 7); Ottersbach, Rechtsmißbrauch bei den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, S. 41; kritisch auch Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (590). 641 Englisch, StuW 2009, 3 (5 f.). 642 S. oben, § 1 III. 643 S. oben, § 1 VII., VIII. 644 S. oben, § 1 VII. 645 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 92. 646 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 152. 638

202

Zweiter Hauptteil

a) Unzulässige Beschränkung unionsrechtlicher Freiheiten durch einschränkende Auslegung Wenn vorgeschlagen wird, bei Missbrauchsfällen bereits den Anwendungsbereich der unionsrechtlichen Bestimmung – ähnlich einer teleologischen Reduktion – einzuschränken, widerspricht dies dem grundlegenden Anliegen des EuGH, in der Unionsrechtsordnung vorgesehene Freiheiten möglichst weit und umfassend zu gewähren647. Zwar soll der Gerichtshof grundsätzlich zur teleologischen Reduktion648 und Analogiebildung649 berechtigt sein. Dennoch ist in der Judikatur klar zu erkennen, dass der EuGH diese Mittel zu Lasten von Unionsbürgern wenn überhaupt nur sehr zurückhaltend anwendet650. Wie im Rahmen der Untersuchung der Normbehauptung im Wege der Auslegung dargelegt wurde, hat sich der EuGH bewusst dazu entschieden, keine enge Auslegung des Anwendungsbereichs unionsrechtlicher Bestimmungen vorzunehmen, sondern den Anwendungsbereich weit zu bestimmen und stattdessen eine anschließende Missbrauchsprüfung als Korrektiv im Rahmen der Rechtfertigung einer Beschränkung dieser Freiheiten vorzunehmen651. Auf diesem Wege können die unionsrechtlichen Freiheiten dem effet utileGrundsatz entsprechend möglichst weit und umfassend gewährt werden. Außerdem ist es so möglich, im Rahmen der Missbrauchsprüfung zur Rechtfertigung einer 647 EuGH v. 19. 10. 2004 – Rs. C-200/02 – Zhu und Chen, ECLI:EU:C:2004:639, Rn. 31; EuGH v. 23. 3. 1982 – Rs. 53/81 – Levin, ECLI:EU:C:1982:105, Rn. 16 f., 21; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 15 f.; vgl. auch Schlussanträge Generalanwalt Lenz v. 16. 6. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:251, Rn. 35; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 46 f.; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 25 f., 33; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 95; EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16; EuGH v. 17. 9. 2009 – Rs. C182/08 – Glaxo Wellcom, ECLI:EU:C:2009:559, Rn. 46; EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 17 f.; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 44, 49 ff. 648 S. ausf. oben, § 4 II.; außerdem Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (36); Schlussanträge Generalanwalt Trstenjak v. 15. 5. 2009 – Rs. C-199/ 08 – Eschig, ECLI:EU:C:2009:310, Rn. 80; wohl auch Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 23. 4. 2009 – Rs. C-7/08 – Har Vaessen Douane Service BV, ECLI:EU:C:2009:259, Rn. 41 ff. (insbes. 45) und Schlussanträge Generalanwalt Albers v. 6. 6. 2000 – Rs. C-343/98 P. – Rat der Europäischen Union / Silvio Busacca u. a. und Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften, ECLI:EU:C:2000:298, Rn. 25. 649 S. ausf. oben, § 4 II.; außerdem EuGH v. 11. 7. 1978 – Rs. 6/78 – Union française de Céréales, ECLI:EU:C:1978:154, Rn. 4; EuGH v. 12. 12. 1985 – Rs. 165/84 – Kohn / Balm, ECLI:EU:C:1985:507, Rn. 14; EuGH v. 15. 12. 1994 – Rs. T-489/93 – Unifruit Hellas EPE / Kommission, ECLI:EU:T:1994:297, Rn. 57; EuGH v. 26. 10. 2006 – Rs. C-248/04 – Koninklijke Coöperatie Cosun, ECLI:EU:C:2006:666, 1. LS, Rn. 48, 51 f.; vgl. auch Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, passim.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 239; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 147. 650 S. oben, § 4 II. 651 S. oben, § 4 II.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

203

Beschränkung von aus der Unionsrechtsordnung resultierenden Rechten sowohl subjektive Kriterien als auch Verhältnismäßigkeitserwägungen zu berücksichtigen. b) Das durchgängige Erfordernis subjektiver Kriterien in der Judikatur des EuGH Teilweise wird vorgetragen, aus der Judikatur lasse sich kein klarer Schluss auf das verbindliche Erfordernis des subjektiven Elements ziehen, da die Rechtsprechung nicht eindeutig sei652. Dabei wird zum einen verkannt, dass der EuGH nur in den Fällen, in denen ein Missbrauch schon auf Stufe des objektiven Elements abgelehnt wurde, auf subjektive Kriterien nicht einging, weil der EuGH wegen seiner Prüfungsreihenfolge nicht mehr auf das subjektive Element einzugehen hatte. Zum anderen ist diese Auffassung durch die mittlerweile ergangene umfangreiche Judikatur überholt, da sich inzwischen eine gefestigte Rechtsprechung zu Notwendigkeit und Inhalt des subjektiven Elements herausgebildet hat653. Zum individuellen Missbrauch von Unionsrecht wird vorgebracht, „dass der Gerichtshof das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs in seiner jüngsten Entscheidung Dimantis allein anhand einer Interessenabwägung prüft und auf subjektive Merkmale gänzlich verzichtet“ hätte654. Dabei wird jedoch übersehen, dass der EuGH zur Feststellung eines Missbrauch des Rechts aus Art. 25 der Zweiten Richtlinie darauf abstellt, ob der Aktionär sich auf dieses Recht beruft „um widerrechtliche und mit dem Zweck dieser Vorschrift offensichtlich unvereinbare Vorteile zu Lasten der Gesellschaft zu erlangen“655. Aus der Formulierung „um […] zu“ geht klar die Notwendigkeit einer entsprechenden erforderlichen Absicht und somit die Berücksichtigung subjektiver Merkmale hervor.

652 So von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 98, 308; Eidenmüller, Abuse of Law in the Context of European Insolvency Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 137 (142); Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324; anders etwa Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 153. 653 S. aus der jüngeren Judikatur EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 57; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 64; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 28; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33 ff.; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 61, 64. 654 Englisch, StuW 2009, 3 (20). 655 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33.

204

Zweiter Hauptteil

c) Positive Feststellung des subjektiven Elements Als Kritik am subjektiven Element wird vorgetragen, bei einem institutionellen Missbrauch von EG-Grundfreiheiten könne es auf „eine Missbrauchsabsicht im Sinne doloser Erschleichung des Gemeinschaftsrechtsschutzes“ grundsätzlich nicht ankommen656. Entscheidend könne nur sein, ob die Gestaltung den Zweck der jeweiligen Grundfreiheit objektiv verwirklicht657. Subjektive Vorstellungen könnten lediglich dann eine Rolle spielen, wenn nach objektiver Betrachtung prima vista eine Verfehlung des Binnenmarktziels vorliegt, der Betroffene jedoch „in gutem Glauben“ seine Grundfreiheit ausübt658. Dazu sei die Intention notwendig, „sich die ökonomische Möglichkeit des Binnenmarktes zunutze zu machen, nicht negativ das Fehlen sonstiger Motive“659. Im Ergebnis muss also auch nach dieser Methode eine Prüfung der Motive des Handelnden vorgenommen werden, sodass auch hier subjektive Kriterien eine Rolle spielen und legitime Intentionen einen Missbrauch ausscheiden lassen. Eine dem zugrunde liegende Vermutung des subjektiven Elements, wenn das objektive Element erfüllt ist, widerspricht den klaren Vorgaben des EuGH, nach denen das subjektive Element anhand objektiver Umstände positiv festgestellt werden muss660. Subjektives und objektives Element sind nach dem Prüfungsweg des Gerichtshofs in einer zweistufigen Prüfung separat festzustellen, sodass eine Prüfung am Normtelos rein objektiv stattfinden soll und subjektive Kriterien erst im Rahmen des subjektiven Elements Bedeutung erlangen. Sofern ein Missbrauch geltend gemacht wird, muss derjenige, der sich auf den Missbrauch beruft, die objektiven und subjektiven Tatsachen darlegen und beweisen, die einen Missbrauch ausmachen661. Aus der Verwirklichung des objektiven Elements kann nicht ohne Weiteres die Erfüllung des subjektiven Elements gefolgert werden. Dem Betroffenen muss es stets möglich sein, Gründe vorzubringen, die einen Missbrauch ausschließen662.

656

Englisch, StuW 2009, 3 (7). Englisch, StuW 2009, 3 (7). 658 Englisch, StuW 2009, 3 (7 f.); ähnl. Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 317. 659 Englisch, StuW 2009, 3 (8). 660 EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75. 661 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (398 f.). 662 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (399). 657

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

205

d) Notwendigkeit der Berücksichtigung subjektiver Kriterien bei mehraktigen Gestaltungen Auch die nach Fallgruppen differenzierende Missbrauchsdogmatik räumt für Fallgruppen der Gesetzesumgehung und der Gesetzeserschleichung ein, „dass sie sich nicht mehr allein durch eine an der Teleologie der Norm orientierte Anwendung derselben bewältigen lassen.“663 Es wird die Bedeutung subjektiver Kriterien bei aus mehreren Teilakten bestehenden Gesamtplangestaltungen betont664. Dies deckt sich mit der Auffassung des EuGH, nach der „die Prüfung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis verlangt, dass das vorlegende Gericht alle relevanten Tatsachen und Umsta¨ nde des Einzelfalls berücksichtigt, und zwar einschließlich der der betreffenden Einfuhr vorangehenden und nachfolgenden Handelstätigkeiten.“665 Zur Berücksichtigung der Teilakte der Gesamtgestaltung ist eine gesonderte Ermittlung eines subjektiv gefassten Gesamtplans nicht erforderlich. Eine aus mehreren Teilakten bestehende Sachverhaltsgestaltung, die sich als „künstlich“ herausstellt, lässt nach der Judikatur des EuGH auf das für einen Missbrauch notwendige subjektive Element schließen. e) Keine Sanktion durch Berücksichtigung subjektiver Elemente Sofern vorgebracht wird, subjektive Kriterien dürften bei der Bewertung einer Sachverhaltsgestaltung nicht berücksichtigt werden, da illegitime Absichten nicht „sanktionswürdig“ seien666, wird verkannt, dass es sich bei der Rechtsfolge eines Missbrauchs nach unionsrechtlichem Verständnis nicht um eine ,Sanktion‘ handelt, sondern als Folge der Feststellung eines Rechtsmissbrauchs ein Vorteil versagt oder zurückgefordert wird, der durch einen Missbrauch rechtswidrig erlangt wurde, was nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstößt667. Eine darüber hinausgehende Sanktion bedürfte als Voraussetzung einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage668.

663 664 665

LS. 666

Englisch, StuW 2009, 3 (10). Englisch, StuW 2009, 3 (11 f.). EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34 und 2.

von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 308. EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78. 668 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 93, 95; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 29 f.; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 73 f. 667

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Zweiter Hauptteil

f) Positiver Einfluss des subjektiven Elements auf die Binnenmarktförderung und Verwirklichung der Verträge Der Vorwurf, die Berücksichtigung subjektiver Kriterien würde die Verwirklichung der Verträge gefährden und der Harmonisierung des Binnenmarktes zuwiderlaufen669, ist unzutreffend. Eine weite Auslegung mit anschließendem Missbrauchskorrektiv führt zunächst zu einer den Verträgen entsprechenden, möglichst weiten Anwendung des Unionsrechts und dadurch zur Harmonisierung des Binnenmarktes. Die Intentionen einer Gestaltung bieten im Rahmen der Missbrauchsprüfung Aufschluss darüber, ob durch die Sachverhaltsgestaltung maßgeblich ein illegitimer Vorteil erlangt werden soll oder ob durch die Verfolgung sozioökonomischer Motive ein binnenmarktförderndes Verhalten stattfindet. Durch subjektiv missbräuchliches Verhalten wird weder der Binnenmarkt noch die Verwirklichung der Verträge gefördert, sodass die Berücksichtigung subjektiver Kriterien zur Missbrauchsfeststellung nicht die Verwirklichung der Verträge verhindert, sondern diese vielmehr fördert, da das Unionsrecht kein missbräuchliches Verhalten schützen soll670. g) Keine „Willkür in der Rechtsanwendung“ durch Berücksichtigung des subjektiven Elements Nach Seiler begründe das Abstellen auf die Motive des Betroffenen die Gefahr, dass Gerichte und Steuerbehörden die Bewertungsmöglichkeit hinsichtlich des Vorliegens der notwendigen Voraussetzungen ausnutzen könnten671. Da subjektive Missbrauchselemente regelmäßig weit formuliert seien, könnten sie fast immer als erfüllt angesehen werden, wenn Gerichte oder Steuerbehörden dies wollten672. Außerdem könne die Notwendigkeit des subjektiven Elements dazu führen, dass die Gerichte dem teleologischen Argument keine ausreichende Berücksichtigung mehr zukommen lassen würden, sondern einen Verstoß gegen das objektive Element

669 Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324; von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht, S. 308. 670 S. exemplarisch EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 32; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/ 05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658, Rn. 41 f.; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 29; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 42. 671 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 212. 672 Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 221.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

207

schlicht beim Vorliegen des subjektiven Elements annehmen könnten673. Zunächst wird hinsichtlich der Missbrauchsmöglichkeit durch die Rechtsanwender verkannt, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot einen klaren Maßstab hinsichtlich des subjektiven Missbrauchselements vorgibt. Darüber hinaus hat der Gerichtshof die Voraussetzungen des subjektiven Elements immer weiter differenziert und objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen des subjektiven Missbrauchsvorwurfs herausgearbeitet. Es bestehen deshalb keine über die ohnehin als Teil der richterlichen Tatsachenwürdigung möglichen Beurteilungsspielräume. Das Argument, die zuständigen Gerichte würden nicht hinreichend zwischen den subjektiven und objektiven Missbrauchsvoraussetzungen differenzieren können, unterstellt zu Unrecht mangelnde Objektivität und Kompetenz der Gerichte. Darüber hinaus hat der Gerichtshof explizit klargestellt, dass objektives und subjektives Element separat voneinander festzustellen sind und grundsätzlich kein Rückschluss auf das objektive Element aufgrund des Vorliegens des subjektiven Elements vorgenommen werden darf674. h) Berücksichtigung subjektiver Kriterien zur Missbrauchsfeststellung auf nationaler Ebene Das Abstellen auf subjektive Kriterien ist auch auf nationaler Ebene keineswegs fremd, da die meisten steuerrechtlichen Antimissbrauchsklauseln oder Missbrauchsverbote der Mitgliedstaaten die Motive des Gestalters berücksichtigen675. Saydé formuliert treffend: „abusive practices constitute first and foremost attempts to elect a favourable law“676. Der EuGH stellt deswegen sowohl bei Missbräuchen des Unionsrechts (internal abuse of law) als auch bei Missbräuchen der Rechtsordnung anderer Mitgliedstaaten (cross-border abuse of law) maßgeblich auf die Absicht ab, künstlich einen regulatorischen Vorteil erlangen zu wollen677.

673

Seiler, GAARs and Judicial Anti-Avoidance in Germany, the UK and the EU, S. 212. EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 75. 675 Englisch, National Measures to Counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 37; s. auch die country reports von Pickup, Liptak, Arnold, Evans und Schön, in: Freedman (Hrsg.), Beyond Boundaries: Developing Approaches to Tax Avoidance and Tax Risk Management, S. 9 ff.; Mone`s/Durand/Mandelbaum/Klein/Niemann, 19 EC Tax Review (2010), 85 ff. und Manzitti/Lasarte/Benitez/Airs, 19 EC Tax Review (2010), 123 ff.; s. zur Bedeutung außersteuerlicher Gründe als subjektive Kriterien im Rahmen des § 42 Abs. 2 S. 2 AO Hey, Beihefter zu DStR 3 2014, 8 (9 f.); Hüttemann, DStR 2015, 1146 (1148). 676 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 79. 677 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 79. 674

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Zweiter Hauptteil

4. Das subjektive Element und die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung Die Bedeutung des subjektiven Elements für eine rationale Missbrauchsverhinderung wird besonders deutlich, wenn die hieraus resultierende positive Auswirkung auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung mit in Betracht gezogen wird. a) Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung im Unionsrecht Das Phänomen des Missbrauchs ist ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Konflikts zwischen den Grundsätzen der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung, die im Falle missbräuchlicher Gestaltungen gegeneinander abgewogen werden müssen678. Die Rechtsfolgenanordnung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, die formal vorgesehene Rechtsfolge nicht eintreten zu lassen, steht im Spannungsverhältnis mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit, die als allgemeine Grundsätze Teil der Unionsrechtsordnung sind679 : „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von den Unionsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen, beachtet werden.“680 Das Gebot der Rechtssicherheit besagt, dass Rechtsakte bestimmt und vorhersehbar sein müssen681. „Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen.“682 Ein besonderes Problem für Rechtsfolge, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz ergibt sich aus komplexen Gestaltungen, die aus mehreren, gelegentlich zeitlich 678

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 215, 217. S. exemplarisch EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 57 und aus der Literatur statt vieler Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 109, 211, 310 ff. m.N. 680 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 57; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-201/08 – Plantanol, ECLI:EU:C:2009:539, Rn. 46; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-144/14 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiaga˘ Andrei, ECLI:EU:C:2015:452, Rn. 33 (Zitat). 681 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 72; EuGH v. 22. 11. 2001 – Rs. C-301/97, Niederlande / Rat der Europäischen Union, ECLI:EU:C:2001:621, Rn. 43; EuGH v. 10. 9. 2009 – Rs. C-201/08 – Plantanol, ECLI:EU:C:2009:539, Rn. 46; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-144/14 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiaga˘ Andrei, ECLI:EU:C:2015:452, Rn. 34. 682 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 72 (Zitat); EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-144/14 – Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiaga˘ Andrei, ECLI:EU:C:2015:452, Rn. 33. 679

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

209

gestreckten Transaktionen bestehen. Nach den Vorgaben des EuGH ist die zu prüfende Gestaltung nicht isoliert zu bewerten, sondern es müssen „alle relevanten Umstände des Einzelfalls“ berücksichtigt werden, zu denen auch die zeitlich vorangehenden und nachfolgenden Handelstätigkeiten gehören683. Sofern sich eine Gestaltung aus missbräuchlichen und nicht missbräuchlichen Teilakten zusammensetzt, so trifft die Rechtsfolgenanordnung des Missbrauchsverbots grundsätzlich nur die missbräuchlichen Teilakte684. Es geht im Ergebnis also nicht darum zu bewerten, ob missbräuchliche Praktiken erlaubt sein sollten oder nicht, sondern um die Frage, ob als ,Sanktion‘ des Missbrauchs das vorteilhafte Gesetz auf die in Frage stehende Gestaltung angewendet werden sollte oder die Berufung auf den geltend gemachten Vorteil verwehrt werden muss685. Die Rückforderung eines Vorteils, der durch einen Missbrauch rechtswidrig erlangt wurde, verstößt daher nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze, sondern stellt lediglich die Folge der Feststellung eines Rechtsmissbrauchs dar686. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stehen nach ständiger Rechtsprechung zwar „im Allgemeinen“ einer Rückwirkung auf Sachverhalte vor dem Veröffentlichungszeitpunkt entgegen; eine Rückwirkung sei jedoch ausnahmsweise möglich, wenn dies zur Erreichung des angestrebten Zieles erforderlich ist und das berechtigte Vertrauen des Betroffenen hinreichend beachtet wird687. Ein Steuerpflichtiger kann dabei kein „berechtigtes Vertrauen in die Aufrechterhaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen haben, die die Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbräuche ermöglichen“688. Auf dieser Grundlage darf jedoch lediglich der tatsächlich gewährte Vorteil rückwirkend zurückverlangt werden, jedoch keine darüber hinausgehende Sanktion verhängt werden, da für solche eine „klare und unzweideutige Rechtsgrundlage“ vorausgesetzt wird689. Zoll- und Steuerbehörden können also rückwirkend die Rückzahlung erstatteter Beträge oder Nachzahlungen

683

LS.

EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34 und

684 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (542); verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 97. 685 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 99. 686 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78. 687 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 59. 688 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 77. 689 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 93, 95; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 29 f.; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 73 f.

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Zweiter Hauptteil

ohne gesonderte Rechtsgrundlage verlangen, da es sich insoweit nur um die Folge einer Missbrauchsfeststellung handelt690. In diesem Sinne ist es geboten, nur den über dem Marktwert liegenden, missbräuchlichen Teil einer Gestaltung abzuschöpfen691. Sollen Zinsen für gewährte Darlehen in Gewinnausschüttungen umqualifiziert werden, ist dies dahingehend zu beschränken, als dass sie „nur insoweit in ausgeschüttete Gewinne umqualifiziert werden dürfen, als sie den Betrag übersteigen, der ohne eine besondere Beziehung zwischen den Vertragspartnern oder zwischen diesen und einem Dritten vereinbart worden wäre“692. Wenn die nach nationalem Recht geltenden Verjährungsfristen dieses Rechts nicht verstrichen sind, so könne die Erhebung der Klage „nach einer gewissen Zeit“ kein „ernsthafter und ausreichender Anhaltspunkt für einen Rechtsmissbrauch“ sein693. b) Die positive Auswirkung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf die Rechtssicherheit Zunächst haben bei einer einheitlichen, auf dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot beruhenden Missbrauchsmethodik, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen umgesetzt wird, „die Steuerpflichtigen nicht zuletzt die Gewähr, dass die betreffenden Maßnahmen mit dem Unionsrecht in Einklang stehen.“694 Eine hieran orientierte Missbrauchsmethodik bietet dem Steuerpflichtigen Sicherheit, mit der gewählten Steuerplanung nicht gegen das Unionsrecht zu verstoßen. Wie bedeutsam diese Sicherheit ist, zeigt etwa die beihilferechtliche Entscheidung der Kommission, Irland zu verpflichten, 13 Mrd. E Beihilfe als unrechtmäßig gewährte Steuervergünstigungen von Apple zurückfordern zu müssen695. Die immer wieder gegen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot – insbesondere dessen Berücksichtigung des subjektiven Elements – vorgetragene Kritik lautet, dass

690 EuGH v. 29. 2. 1996 – Rs. C-110/94 – Inzo, ECLI:EU:C:1996:67, Rn. 24 f.; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 95; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 56. 691 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 80. 692 EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 83; Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (345). Die englische Version spricht bezeichnend von „had the relationship between the parties or between those parties and a third party been one at arm‘s length“. 693 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 38 f. 694 Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 695 Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 30. 8. 2016, IP/16/2923.

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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hierdurch die Rechtssicherheit beeinträchtigt würde696. Entgegen den kritischen Stimmen aus der Literatur führt ein Abstellen auf subjektive Kriterien nicht zu einer Schwächung der Rechtssicherheit oder Gleichheit der Rechtsanwendung. Im Gegenteil bietet die Berücksichtigung der Intentionen sogar die Möglichkeit einer „Objektivierung durch Subjektivierung“697. Die reine teleologische Rechtsanwendung führt in Fällen der ,Grauzone‘ zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen aufgrund der unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Rechtsanwender nicht immer zu vorhersehbaren Ergebnissen, da oft schon der Zweck einer Norm nicht eindeutig und einheitlich ermittelt wird: „Admittedly, it is not always a straightforward exercise to determine statutory purpose, but this is a general difficulty of modern legal methodology for which the taxpayer’s advisors should have been trained, and which will ultimately be resolved on a case-by-case basis by the competent higher and supreme courts.“698 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verlangt ein „berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen“699. Ein Gestalter kann aber kein berechtigtes Vertrauen auf die Aufrechterhaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen haben, die Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbräuche ermöglichen700. Wenn also eine Gestaltung überwiegend darauf abzielt, einen unionsrechtlichen Vorteil auf Kosten der Gemeinschaft zu erlangen, ohne dass darüber hinausgehende, saldierende Motive vorliegen, kann der Gestalter hinsichtlich des subjektiven Elements kein berechtigtes Vertrauen auf die Gewährung dieses Vorteils haben701. Die bei einer Sachverhaltsgestaltung vorliegenden Motive, die anhand objektiver Umstände nachweisbar sind, 696 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (449); Koutrakos, The Emsland-Stärke Abuse of Law Test in the Law of Agriculture and Free Movements of Goods, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 203 (209); Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23); Ziegler, „Abuse of Law“ in the Context of Free Movement of Workers, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 295 (307 f.); Spaventa, Comments on Abuse of Law and the Free Movement of Workers, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 315 (317); Lyal, Cadbury Schweppes and Abuse: Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 427 (430 ff.). 697 Diese Konzeption wurde im Bilanzsteuerrecht geprägt von Florstedt/Wüstemann/ Wüstemann, StuW 2015, 374 (384); vgl. im Kontext des Missbrauchsverbots auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 522 (539). 698 Englisch, National Measures to Counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 8. 699 BVerfG v. 5. 3. 2013 – 1 BvR 2457/08, BVerfGE 133, 143 Rn. 41. 700 EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 77. 701 Vgl. Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (399 (Zitat) und 405), „by invoking abuse of law, the principle of legal certainty can be set aside given that a person who has the intention to abuse cannot invoke legal certainty“.

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Zweiter Hauptteil

bieten einen konkreten Abwägungsposten: Es wird die Absicht, einen rein regulatorischen Vorteil zu erlangen, mit den sonstigen, sozioökonomischen Beweggründen abgewogen. Wer eine Gestaltung konzipiert, muss wissen, dass andere, über den regulatorischen Vorteil hinausgehende Gründe vorliegen müssen, um in den Anwendungsbereich der vorteilhaften Rechtsnorm zu gelangen, wenn die Gestaltung in objektiver Hinsicht nicht den Zielen der fraglichen Regelung entspricht. Obwohl objektiv gleiche Konstruktionen wegen unterschiedlicher subjektiver Vorstellungen ungleich behandelt werden, führt das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nicht zu einer Schwächung der Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung. Es ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Alternative zum Missbrauchsverbot unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien in einer wirksamen Rechtsordnung nicht in einer rein positivistischen Rechtsanwendung mit Scheuklappen gegenüber Missbrauchsfällen liegen kann. Eine solche positivistische Vorgehensweise würde zwar wohl die größte Rechtssicherheit bieten, sie stellt jedoch insbesondere aufgrund des konkurrierenden und gleichwertigen Gebots der Gleichbehandlung keine rechtsdogmatisch befriedigende Alternative dar. Als Vergleichsmaßstab zum Missbrauchsverbot in seiner vom EuGH entwickelten Ausgestaltung dient vielmehr eine Missbrauchsbehandlung, die der objektiven Theorie entsprechend nur auf teleologische Auslegung, Analogie und teleologische Reduktion vertraut. Diese Alternative zum Missbrauchsverbot führt jedoch weder zu einer größeren Rechtssicherheit noch zu einer verbesserten Gleichbehandlung. Während das unionsrechtliche Missbrauchsverbot vom EuGH klar aufgezeigte Kriterien und Prüfungsmuster – sowohl für die Bestimmung des objektiven Elements als auch hinsichtlich der Prüfung des subjektiven Elements – vorgibt, ist ein derartiges vorgezeichnetes und konturiertes Prüfungsmuster für eine teleologische Anwendung entgegen Wortlautgrenzen nicht entsprechend konkret vorgezeichnet. Entgegen der Kritik aus der Literatur liegt die Hauptquelle für Rechtsunsicherheit beim unionsrechtlichen Missbrauchsverbot nicht in der Bestimmung des subjektiven Elements, sondern in der teleologischen Komponente702. Die Rechtssicherheit wäre bei einer Lösung nur im Wege der teleologischen Auslegung, Analogiebildung und teleologischen Reduktion deshalb im Ergebnis sogar weit mehr gefährdet. Diese Methoden liegen allein in der Hand des jeweiligen Rechtsanwenders und führen zu erheblicher Unsicherheit für den Gestalter, da ein kohärenter Ausgang dieser rechtlichen Bewertung nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden kann, wenn unterschiedliche Rechtsanwender in den verschiedenen Mitgliedstaaten divergierende Schlussfolgerungen ziehen. Dahingegen wurde die zur Bestimmung des subjektiven Elements herangezogene Metapher der künstlichen Konstruktion durch den Gerichtshof in einer Vielzahl von Entscheidungen konkretisiert und muss anhand ob-

702 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 193 („with the doctrine of abuse, legal uncertainty originates in the teleological interpretation of rigid norms“).

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

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jektiver Kriterien nachweisbar sein703. Der Nachweis des subjektiven Elements anhand objektiver Tatsachen ist nicht weniger objektiv als die Bestimmung des objektiven Elements oder die teleologische Auslegung einer Norm, sondern bietet aufgrund seiner Objektivierung höhere Rechtssicherheit. Der Rechtsanwender hat bei einer nachträglichen Missbrauchsprüfung zur Feststellung des subjektiven Elements den tatsächlich erzielten Vorteil zu berücksichtigen, sodass wenn lediglich der regulatorische Vorteil und kein darüber hinausgehender sozioökonomischer Vorteil erzielt wird, in der Regel von einer künstlichen Gestaltung ausgegangen werden kann704. Diese ,Sichtbarmachung‘ der Bedeutung subjektiver Kriterien führt an sich bereits zu einem Fortschritt der Missbrauchsmethodik, da auch vermeintlich „rein objektive“ Ansätze unterschwellig doch subjektive Motive des Gestalters berücksichtigen705. Erst wenn die Berücksichtigung subjektiver Merkmale offen sichtbar gemacht wird, kann eine objektive Auseinandersetzung mit den vorliegenden Motiven und ihrer Bedeutung hinsichtlich der Legitimität der gewählten Gestaltungsvariante erfolgen. Demgegenüber ist die Missbrauchsprüfung im Wege der teleologischen Auslegung, Analogiebildung und teleologische Reduktion eine Quelle für Rechtsunsicherheit, da es häufig im richterlichen Beurteilungsspielraum steht, ob die aus der formalen Rechtsanwendung folgende Ungleichbehandlung derart gravierend ist, eine Norm entgegen ihrem klaren Wortlaut und unter Verletzung des Rechtssicherheitsgebots auszulegen, der Richter also zu entscheiden hat, „whether legal certainty deserves to be sacrificed on the altar of legal congruence“706. Bei einer solchen Missbrauchsbehandlung wird nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersehbar sein, wie ein Richter die verschiedenen Aspekte bei seiner Entscheidung abwägen wird und welche teleologischen oder analogen Rechtsanwendungen erfolgen. Es ist auch nicht sicher, ob unterschiedliche Richter bei ähnlicher oder gleicher Konstellation zu identischen Ergebnissen gelangen werden. Auch nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot wird eine Gestaltung zunächst am Ziel der vorteilsgewährenden Bestimmung gemessen. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot löst die teleologische Interpretation als Quelle der Rechtsunsicherheit nicht auf, aber es mildert die aus der teleologischen Überprüfung folgende Rechtsunsicherheit ab, indem für das objektive Element des Missbrauchsverbots klare Aussagen hinsichtlich der teleologischen Prüfungsfolge, zur Bestimmung der Ziele der Norm und Verstößen hiergegen vorgegeben werden. Es lässt sich beim objektiven Element des Missbrauchsverbots im Ergebnis eine Objektivierung der Telosprüfung verzeichnen, die durch ihre Struktur und den aus der 703 S. Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 196 und ausf. oben, § 6 V. 3. 704 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 196; vgl. schon verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 70 f. 705 S. oben, § 1 VII. 1. 706 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 196, s. auch S. 203.

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Zweiter Hauptteil

Judikatur folgenden Abwägungskriterien unabhängiger vom subjektiven Gerechtigkeitsempfinden des jeweiligen Rechtsanwenders wird. Dies ist für eine unionsweit kohärente Missbrauchsverhinderung in den verschiedenen Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Rechtskulturen elementar. Daher ist sowohl der Gestalter im Vorfeld der Gestaltung als auch der Rechtsanwender bei der nachträglichen Prüfung einer Gestaltung bei Zugrundelegung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots besser dazu in der Lage, die Legitimität einer Gestaltung rational bestimmen zu können, ohne eine letztinstanzliche teleologische Auslegung der entsprechenden Regelung für den konkreten Sachverhalt abwarten zu müssen. c) Legitimationswirkung der Gleichbehandlung als Beschränkungsposten der Rechtssicherheit bei Missbräuchen des Unionsrechts Der in Art. 18 AEUV und Art. 20 GRC verankerte und von der EuGH-Judikatur erläuterte allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, „dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“707. Durch das unionsrechtliche Missbrauchsverbot soll zur Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die Diskrepanz zwischen formaljuristischer und tatsächlicher Realität aufgelöst werden. Da missbräuchliche Praktiken nicht schutzwürdig sind, verwirkt der rechtsmissbräuchlich Handelnde den Schutz, der einem redlich handelnden Wirtschaftsteilnehmer von der Rechtsordnung garantiert wird708. Auf den Vertrauensschutz kann sich nur derjenige berufen, der sich in gutem Glauben auf ein ihm zustehendes Recht beruft709. Wer das Recht missbraucht, kann sich nicht auf fehlende Vorhersehbarkeit der rechtlichen Beurteilung seiner Gestaltung im Sinne einer bloß formalen Anwendung des Rechts berufen710. Wenn ein Missbrauch festgestellt wurde, kann im Ergebnis der Grundsatz der Rechtssicherheit zugunsten der Gleichbehandlung eingeschränkt werden711.

707 EuGH v. 10. 4. 2008 – Rs. C-309/06 – Marks & Spencer II, ECLI:EU:C:2008:211, Rn. 51. 708 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. 709 Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 328; vgl. auch EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 77. 710 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (405). 711 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (396).

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

215

5. Das subjektive Element als Fortschritt der Methodik der Missbrauchsverhinderung Die unionsrechtliche Missbrauchsmethodik erkennt die elementare Funktion subjektiver Kriterien für eine zutreffende Würdigung potenziell missbräuchlicher Sachverhaltsgestaltungen an. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass für eine rationale Bewertung potenziell missbräuchlicher Gestaltungsvarianten nicht auf die Berücksichtigung der einer Gestaltung zugrunde liegenden subjektiven Intentionen verzichtet werden kann. Als Folge wird die Bedeutung des subjektiven Elements im Rahmen der Missbrauchsprüfung zu Recht aufgewertet. Während das objektive Element des Missbrauchsverbots eine noch nicht abgeschlossene Präzisierung durch die Judikatur des Gerichtshofes erfahren hat, um Gestaltungsvarianten an den Zielen des Unionsrechts zu messen, fungiert das subjektive Element aufgrund seiner durch die Rechtsprechung erfolgten Konturierung heute als entscheidendes Kriterium bei der Abgrenzung von legitimen Gestaltungen zu missbräuchlichen Praktiken. Bereits die Kohärenz in der unionsweiten Missbrauchsverhinderung gebietet insoweit die Berücksichtigung und klare Benennung subjektiver Missbrauchskriterien. Wie dargestellt werden sowohl nach französischem, englischen als auch nach deutschem Rechtssystem subjektive Kriterien regelmäßig bei der Würdigung potenziell missbräuchlicher Konstellationen berücksichtigt. Zur Verhinderung von Steuerumgehungen etwa soll nach diesen Rechtsordnungen entsprechend der neueren legislativen Entwicklung jeweils eine allgemeine Missbrauchsverhinderungsregelung unter Berücksichtigung subjektiver Kriterien dienen. Nach diesen normierten Missbrauchsverhinderungskonzeptionen spielen subjektive Kriterien eine wesentliche Rolle, um den tatsächlichen wirtschaftlichen Gehalt von Gestaltungen greifbar zu machen. Diese Normierung allgemeiner Missbrauchsverhinderungsreglungen unter Bezugnahme auf subjektive Umstände ist eine Reaktion auf die unzureichende Missbrauchsverhinderung im Wege teleologischer Auslegung und spezieller Missbrauchsregelungen. Wie im Rahmen der Analyse der im deutschen Rechtskreis vorherrschenden Missbrauchsmethodik aufgezeigt wurde, ist die vermeintlich objektive Theorie keineswegs frei von subjektiven Wertungseinflüssen des jeweiligen Rechtsanwenders. Hier liegt die Gefahr einer irrationalen Missbrauchsmethodik in der dem subjektiven Gerechtigkeitsverständnis des jeweiligen Normanwenders unterworfenen, vermeintlich ,objektiven‘ Rechtsanwendung712. Dahingegen bedingt das nunmehr strukturierte subjektive Missbrauchselement im Unionsrecht durch konkrete Benennung und Präzisierung seiner Voraussetzungen eine Objektivierung der vermeintlich subjektiven Missbrauchsprüfung. Bereits die Sichtbarmachung der Berücksichtigung subjektiver Kriterien führt hier zu einer Rationalitätssteigerung in der Methodik, da so die untergründig auch bei vermeintlich ,rein objektiven‘ Missbrauchstheorien berücksichtigten subjektiven Kri-

712

S. oben, § 1.

216

Zweiter Hauptteil

terien713 klar benannt, präzisiert und abgewogen werden können. Die subjektiven Umstände des Einzelfalls, die vorherrschenden Motive, können hier als objektive Erkenntnisquelle Aufschluss über eine rationale, ,gerechte‘ und dem Gesetzgeberwillen entsprechende Normanwendung leisten. Identische Sachverhalte, die von den selben Motiven getragen werden, werden durch Systematisierung und Objektivierung der subjektiven Missbrauchsprüfung auch von unterschiedlichen Rechtsanwendern in den verschiedenen Mitgliedstaaten selbst bei divergierenden Wertvorstellungen einheitlich bewertet. Diese Objektivierung der subjektiven Missbrauchsprüfung wird zunächst dadurch erreicht, dass nach der Rechtsprechung des EuGH das subjektive Missbrauchselement anhand objektiver Anhaltspunkte ermittelt werden muss714. Daneben führten die in jahrzehntelanger Rechtsprechung erfolgte Präzisierung des Inhalts des subjektiven Elements und die Konturierung der auf eine künstliche Konstruktion hinweisenden Indizien zu einem vorhersehbaren und anhand konsensfähiger Bewertungskriterien erfolgenden Vergleich von Form und Substanz einer Gestaltung. Erst dadurch kann eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit von einer missbräuchlichen Berufung auf das Unionsrecht abgegrenzt werden715. Das Abstellen auf die Intentionen des Gestalters ist dabei ein geeignetes Mittel zur gerechten Bewertung eines potenziellen Missbrauchs, indem legitime und missbräuchliche Erwägungen für eine Sachverhaltsgestaltung miteinander verglichen und abgewogen werden. Der jeweils angestrebte wirtschaftliche Erfolg vermittelt in einem Vergleich mit der Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung entscheidenden Aufschluss über ihre Legitimität. Relevant sind diejenigen Intentionen, die sich in dem angestrebten wirtschaftlichen Erfolg manifestieren. Insbesondere der vom Gerichtshof aufgezeigte notwendige Maßstab subjektiver Beweggründe ist für eine wirksame Missbrauchsverhinderung sachgerecht und als rationaler Abwägungspunkt überzeugend. Sofern eine Gestaltung, wie es der Gerichtshof für das Vorliegen des subjektiven Elements fordert, „im Wesentlichen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils bezweckt“716, dient sie überwiegend keiner wirtschaftlichen Funktion und entspricht deshalb nicht der wirtschaftlichen Realität. Eine künstliche Konstruktion entfaltet hierbei keinerlei 713

S. oben, § 1. EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 25; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 69. 715 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung von Maßnahmen zur Missbrauchsbeka¨ mpfung im Bereich der direkten Steuern (innerhalb der EU und im Hinblick auf Drittländer) v. 10. 12. 2007, KOM(2007) 785 endgültig S. 5. 716 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 30 f., 39; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 22. 3. 2012 – Rs. C-153/11 – Klub, ECLI:EU:C:2012:163, Rn. 49; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 37; EuGH v. 17. 7. 2014 – Rs. C272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rn. 39. 714

§ 6 Der Inhalt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots

217

Binnenmarktförderung und entspricht auch keiner ökonomischen Rationalität717. Sie ist dann nicht auf Kosten der Gemeinschaft durch das Unionsrecht zu schützen. Durch diese zutreffende juristische Bewertung der wirtschaftlichen Realität kann die Gestaltung am Normbefehl und den gesetzgeberischen Intentionen gemessenen werden. Dem Gestalter wird es dadurch im Voraus ermöglicht, die Legitimität seiner Gestaltung durch Abwägung der vorherrschenden Motive zu bestimmen, was insbesondere bei einem Motivbündel im Hinblick auf Planungs- und Rechtssicherheitserwägungen für eine rationale Missbrauchsmethodik unerlässlich ist. Im Ergebnis ermöglicht das subjektive Missbrauchselement des Missbrauchsverbots eine Objektivierung der Normbehauptung durch Subjektivierung der Missbrauchsprüfung, die dazu beiträgt, einer Zersplitterung in der Missbrauchsverhinderung und Rechtsanwendung vorzubeugen.

VII. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Missbrauchsverbot Die Rechtsfolge des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots besteht in der Verwehrung bzw. Entziehung der formal vorgesehenen, aber missbräuchlich erlangten, vorteilhaften Rechtsfolge718. Es soll also die Rechtsfolge eintreten, die ohne die missbräuchliche Gestaltung vorläge719. Dabei wird nicht die Wirksamkeit der zugrundeliegenden Rechtsgeschäfte in Frage gestellt, sondern lediglich die Berufung auf das vorteilhafte Unionsrecht verwehrt720.

VIII. Folgerungen Auf Unionsebene hat sich durch das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ein prinzipienorientiertes, effektives Mittel der Normbehauptung etabliert. Dem liegt die Kernthese zugrunde, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das 717

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 86. EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51 ff.; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 42; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 33; EuGH v. 4. 6. 2009 – Rs. C-158/08 – Pometon, ECLI:EU:C:2009:349, Rn. 28 ff.; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 73 ff.; vgl. auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 522 (541 ff.); vgl. im Sekundärrecht Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95; Art. 1 Abs. 2 der (Mutter-Tochter-)Richtlinie 2011/96/EU; Art. 15 Abs. 1 der (Fusions-)Richtlinie 2009/133/EG; Art. 5 Abs. 2 der (Zinsen-Lizenzgebühren-) Richtlinie 2003/49/EG und hierzu Florstedt, FR 2016, 1. 719 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 94. 720 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 98. 718

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Unionsrecht nicht erlaubt ist. Die Voraussetzungen, zu berücksichtigende Kriterien und Folgen des Missbrauchsverbots werden stets durch den EuGH weiterentwickelt und an neu entstehende Probleme angepasst. Es hat sich jedoch mittlerweile ein feststehendes Grundverständnis herausgebildet, das konkrete Vorgaben hinsichtlich des Ablaufs und Umfangs der Missbrauchsprüfung vorgibt und in dieser Form in der Praxis angewendet werden kann. Es werden dabei eine Vielzahl von Kriterien berücksichtigt, die entgegen einem rein objektiven Verständnis maßgeblich auch subjektive Umstände umfassen, die sich als effektiver Abwägungsposten zwischen legitimen und illegitimen Sachverhaltsgestaltungen herausgestellt haben. Im Ergebnis kann als Missbrauch von Unionsrechts die unerwünschte Wahl des geltenden Rechts durch Individuen und juristische Personen verstanden werden, der nicht überwiegend legitime sozioökonomische Intentionen zugrunde liegen, wobei häufig die Voraussetzungen der vorteilsgewährenden Unionsregelung künstlich geschaffen werden721. Missbräuchlich ist ein Verhalten regelmäßig dann, wenn durch Gestaltung des Sachverhalts versucht wird, durch atypische Konstruktionen in den Anwendungsbereich einer Unionsregelung zu gelangen, die der Gesetzgeber nicht erfassen wollte und die nicht den Zielen der Regelung entsprechen722. Die Grundstruktur des Missbrauchsverbots folgt dabei einer zweistufigen Missbrauchsprüfung, bei der objektives und subjektives Element jeweils getrennt positiv festzustellen sind. Auf Ebene des objektiven Elements wird der individuelle Sachverhalt objektiv, grundsätzlich ohne Berücksichtigung von Motiven oder sonstiger subjektiver Aspekte an den Zielen der unionsrechtlichen Regelung gemessen. Danach ist entscheidend, ob das fragliche Verhalten in Widerspruch zu einer Förderung des Binnenmarktes in der jeweils durch die Sekundärregelung konkretisierten Form steht. Es muss sich aus der Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergeben, dass trotz formaler Einhaltung der in der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wird. Entspricht das Verhalten nicht den Zielen der Unionsregelung und liegt demnach keine objektiv schützenswerte Binnenmarktförderung vor, so hängt der Schutz der Gestaltung durch das Unionsrecht von den jeweils subjektiv vorherrschenden Motiven der Beteiligten ab. Diese Intentionen werden im Rahmen des subjektiven Missbrauchselements bewertet, indem die einer Sachverhaltsgestaltung zugrundeliegenden Motive der Beteiligten ermittelt und gegeneinander abgewogen werden. Entscheidend ist, ob überwiegend valide sozioökonomische Ziele verfolgt werden oder ob im Wesentlichen der regulatorische Vorteil angestrebt wird. Das subjektive Element des Missbrauchs ist dann erfüllt, wenn bei einer Abwägung der Intentionen illegitime Motive überwiegen. Überwiegen hingegen sozioökonomische Motive, so liegt eine legitime Gestaltung vor, die die vorteilhafte Rechtsfolge des Unionsrechts auslöst. 721

Ähnl. Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 2, 9. Vgl. Pistone, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: From (Before) EmslandStärke 1 to Halifax (and Beyond), in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 381. 722

§ 7 Unionsrechtliches Missbrauchsverbot auf nationaler Ebene

219

Die Motive müssen anhand von objektiven Anhaltspunkten für Dritte nachprüfbar festgestellt werden. Dazu sind insbesondere die vom EuGH entwickelten, auf einen Missbrauch hindeutenden Kriterien, wie die Metapher der künstlichen Konstruktion, zu berücksichtigen. Dem Betroffenen muss es dabei gestattet sein, entsprechende legitime Gründe für seine Vorgehensweise darzulegen. Das Missbrauchsverbot mit seinen konkreten Vorgaben hinsichtlich Prüfungsweg, -weise und -kriterien löst das Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Gleichbehandlung auf. Durch das missbräuchliche Handeln verwirkt der Gestalter den einem legitim handelnden Wirtschaftsteilnehmer von der Rechtsordnung garantierten Schutz723. Im Ergebnis ist das unionsrechtliche Missbrauchsverbot somit ein wirksames und rationales Mittel der Normbehauptung, das Form und Substanz einer Gestaltung vergleicht.

§ 7 Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf nationaler Ebene I. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch die Mitgliedstaaten Bei der Anwendung des Missbrauchsverbots auf nationaler Ebene müssen zwei wichtige Grundsätze des Unionsrechts berücksichtigt werden: (1) Das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, das verhindern soll, dass ein Mitgliedstaat mit Hilfe von pauschalen Missbrauchsvorwürfen die Integration der Gemeinschaft behindert, und (2) das Prinzip des „effet utile“, d. h. der Entfaltung der vollen Wirkung der Gemeinschaftsnormen724. Dementsprechend müssen Inhalt und Anwendung nationaler Missbrauchsklauseln sicherstellen, „dass die Anwendung einer solchen nationalen Rechtsvorschrift nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen“725. Dieses Gebot der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts führt zur Verpflichtung, unionsrechtlich relevante nationale Missbrauchsverbote unionsrechtskonform zu interpretieren und dazu Inhalt und Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ggfs. in nationale Rechtsnormen „hineinzulesen“726. 723 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 80. Im nationalen Kontext formuliert Heintzen, FR 2009, 599 (602) treffend: „Die Rechtsunsicherheit schafft der Steuerpflichtige durch seine Gestaltung selbst.“. 724 Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1280). 725 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 22 (Zitat); EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34; EuGH v. 12. 3. 1996 – Rs. C.441/93 – Pafitis, ECLI:EU:C:1996:92, Rn. 68; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/ 99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 54. 726 Vgl. zum „Motivtest“ im Kontext der §§ 7 f. AStG a.F. BFH v. 21. 10. 2009 – I R 114/08, BStBl II 2010, 774 im Anschluss an EuGH v. 6. 12. 2012 – Rs. C-298/05 – Columbus Container

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Zweiter Hauptteil

II. Befugnis der Mitgliedstaaten zur Implementierung nationaler Missbrauchsklauseln Seit Beginn der Missbrauchsrechtsprechung testierte der EuGH den nationalen Gesetzgebern das Recht, nationale Missbrauchsvorschriften zu erlassen, um Gestaltungen zur Vermeidung nationaler oder unionsrechtlicher Vorschriften durch eine missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht zu bekämpfen727. Spätestens seit den Entscheidungen Kefalas728und Diamantis729 steht fest, dass nationale Gerichte innerstaatliche allgemeine Missbrauchsbestimmungen anwenden dürfen, um unter Beachtung der europarechtlichen Vorgaben – insbesondere unter Beachtung der Missbrauchsjudikatur des EuGH und dessen Kriterien – einen Missbrauch eines sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechts festzustellen730.

III. Missbrauchsverbot als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung von Grundfreiheiten Aus der Missbrauchsjudikatur des EuGH ergeben sich konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung und Auslegung nationaler Missbrauchsbestimmungen. Der EuGH „hat befunden, dass die Mitgliedstaaten nicht über den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts hinausgehen dürfen, um missbräuchlichem Verhalten entgegenzuwirken. Zudem darf die Anwendung von Missbrauchsbeka¨ mpfungsmaßnahmen nicht zu Ergebnissen fu¨ hren, die mit den im Vertrag verankerten Grundfreiheiten unvereinbar sind.“731 Services, ECLI:EU:C:2007:754 und EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544. 727 So schon in EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; auf das berechtigte Interesse der Mitgliedstaaten, solche Missbrauchsvorschriften zu erlassen, geht der Gerichtshof in der Folgerechtsprechung immer wieder ein, so z. B. EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31, Rn. 25; EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 17; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 26; EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 18; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 136; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/ 13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 43; vgl. zum Steuerrecht Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (340): „the home Member State must be able to counter wholly artificial agreements which undermine its tax jurisdiction in relation to the activities carried out on its territory“; s. auch Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (424). 728 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20 f. 729 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33. 730 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 21; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 34, 36; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 45 ff. 731 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie 25. 11. 2013 COM(2013) 814 S. 6.

§ 7 Unionsrechtliches Missbrauchsverbot auf nationaler Ebene

221

Eine Beschränkung von Grundfreiheiten lässt sich „nur mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird.“732 Nationale Missbrauchsklauseln, die Grundfreiheiten einschränken, sind deswegen nur dann zulässig, wenn sie (1) nicht diskriminierend sind, (2) zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, (3) zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und (4) erforderlich sind733. In sekundärrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts billigt der EuGH abstrakte, starre Fristen, um einen Missbrauch ohne Einzelfallprüfung annehmen zu können734. Dahingegen wird auf nationaler Ebene eine „globale Untersuchung“ jedes Einzelfalles und eine darauf bezogene konkrete Abwägung verlangt, bei der ein Missbrauch nicht schon bei Vorliegen abstrakter Kriterien angenommen werden darf, wenn im konkreten Fall kein Missbrauch festgestellt wird735. Generalklauseln, die ohne Prüfung aller Umstände des Einzelfalls angewendet werden und dem Betroffenen nicht die Möglichkeit einräumen, nachzuweisen, dass kein Missbrauch vorliegt, sind unzulässig736. So mache bspw. eine nationale Regelung, die verallgemeinernd Übertragungen an Gesellschaften mit ausländischen Anteilseignern von Steuervergünstigungen ausschließt, eine Einzelfallprüfung unmöglich737.

732 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 55. 733 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 34; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 33; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 133; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 49; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 35; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 46 f.; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 64; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 20. 734 EuGH v. 17. 10. 1996 – verbundene Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 – Denkavit u. a., ECLI:EU:C:1996:387, Rn. 31; s. auch Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (579). 735 EuGH v. 29. 5. 1997 – Rs. C-63/96 – Skripalle, ECLI:EU:C:1997:263, Rn. 26 f.; EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 40 ff.; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 43; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37 f.; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 120. 736 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 41 ff. (insbes. 44). 737 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 43, 61 f.; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 50.

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Zweiter Hauptteil

IV. Gefahr des Protektionismus Nationale Missbrauchsklauseln bergen die Gefahr des Protektionismus, nationale Interessen unter dem Vorwand der Missbrauchsbekämpfung zu schützen. Dies gilt insbesondere im Steuerrecht, wenn Mitgliedstaaten ihr Steueraufkommen zu Lasten der europäischen Integration sicherstellen wollen738. Die Integration des Binnenmarktes verlangt, dass der Begriff „Missbrauch“ restriktiv verwendet wird, wenn es um die Vereinbarkeit nationaler Missbrauchsbegriffe mit Gemeinschaftsrecht geht739. Unkontrollierbare Spielräume der Finanzverwaltung in diesem Bereich sind zu verhindern, indem die Kriterien „objektiv“ und für Gerichte nachprüfbar sein müssen740.

V. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch nationale Gerichte Wie der EuGH stets bekräftigte, ist es die Aufgabe der nationalen Gerichte, unter Anwendung nationaler Beweisvorschriften einen Missbrauch des Europarechts zu ermitteln und zu ahnden741. Die Anwendung der nationalen Normen darf dabei jedoch nicht dazu führen, dass die Wirksamkeit und Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt wird742. Dies entspricht insoweit dem effet utile Grundsatz der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach dem die volle Wirksamkeit der europäischen Normen gesichert werden muss. Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten ist deshalb derjenigen der Vorzug zu gewähren, die diese Wirksamkeit sicherstellt743.

738 Nach der Studie Protectionism in the G20 (2015) von Barone/Bendini des DirectorateGeneral for External Policies of the Union für das Europäische Parlament findet Protektionismus vermehrt nicht mehr durch Handelsrestriktionen, sondern durch interne Maßnahmen wie die Besteuerung statt. Zum Verhältnis des nationalen Steuerrechts zu europäischen Grundfreiheiten s. Kokott/Ost, EuZW 2011, 496. 739 Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (577). 740 Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (577). 741 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 54; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 41; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 72 ff.; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 52; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34. 742 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222. 743 EuGH v. 15. 7. 1963 – Rs. 34/62 – Deutschland / Kommission, ECLI:EU:C:1963:18, S. 318; EuGH v. 6. 10. 1970 – Rs. 9/70 – Grad, ECLI:EU:C:1970:78, Rn. 12 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 463 ff.

§ 7 Unionsrechtliches Missbrauchsverbot auf nationaler Ebene

223

Eine missbräuchliche Praxis ist demnach im Lichte der in den Urteilen enthaltenen Auslegungshinweise zu bestimmen744, sodass die Vorgaben des Gerichtshofs zu Prüfungsreihenfolge und Umfang des Missbrauchsverbots beachtet werden müssen. Die vom Gerichtshof aufgestellten Elemente des Missbrauchs werden dabei vom EuGH selbst als „Tatbestandsvoraussetzungen“ bezeichnet und sind auf nationaler Ebene für die Normbehauptung des Unionsrechts durch das unionsrechtliche Missbrauchsverbot verbindlich745. Das nationale Gericht muss dazu seine Prüfung auf objektive Kriterien stützen, wobei alle Umstände des Sachverhalts in einer „Gesamtbetrachtung“ zu berücksichtigen sind746.

VI. Folgerungen Zum Nachweis des Missbrauchs sind die nationalen Gerichte zuständig und es kommen die nationalen Beweisregeln zur Anwendung, soweit dadurch die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nicht betroffen wird. Es sind dabei alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen einschließlich der einer Handlung vorausgegangenen und nachfolgenden Maßnahmen. Der Missbrauch von Unionsrecht kann auf Ebene der Mitgliedstaaten anhand nationaler Missbrauchsklauseln überprüft werden, die jedoch im Lichte der Vorgaben der Union anzuwenden sind und insbesondere die vom EuGH aufgestellten Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchs berücksichtigen müssen. Nationale Missbrauchsklauseln, die unionsrechtliche Freiheiten beschränken, müssen sich grundsätzlich gegen künstliche Konstruktionen bar jeglicher wirtschaftlicher Realität richten und eine umfängliche Einzelfallprüfung vorsehen. Grundfreiheiten beschränkende nationale Missbrauchsklauseln entsprechen nur dann den Vorgaben des Unionsrechts, wenn sie nicht diskriminierend sind, zwingenden Gründe des Allgemeininteresses entsprechen, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind. Sofern es Ziel der Gemeinschaftsregel ist, Beweisschwierigkeiten zu vermeiden, darf dem Betroffenen nicht die Beweispflicht für das Nichtvorliegen eines Missbrauchs auferlegt werden.

744

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 63; ähnl. EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 52. 745 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76; EuGH v. 6. 4. 2006 – Rs. C-456/04 – Agip Petroli, ECLI:EU:C:2006:241, Rn. 24; EuGH v. 11. 1. 2007 – Rs. C-279/05 – Vonk Dairy Products, ECLI:EU:C:2007:18, Rn. 34; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34. 746 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 27; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 37 f.

224

Zweiter Hauptteil

§ 8 Die Rechtsnatur des Missbrauchsverbots als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts Im Folgenden soll untersucht werden, wie das unionsrechtliche Missbrauchsverbot dogmatisch einzuordnen ist. In Betracht kommen die Qualifizierung als eine Ausprägung der teleologischen Auslegungsregel bzw. Interpretationsmittel747 oder, wie der EuGH bspw. in der Rechtssache Kofoed formuliert hat, als ein „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“, „wonach Rechtsmissbrauch verboten ist“748. Zwar würden beide Erscheinungsformen regelmäßig den gleichen Effekt haben, da die Vorgaben des EuGH sowohl bei einer Einstufung als Mittel der Auslegung als auch bei der Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes berücksichtigt werden müssten749. Daher werden Entscheidungen im Einzelfall trotz unterschiedlicher dogmatischer Begründung häufig zu gleichen Ergebnissen kommen. Jedoch ist die richtige Einstufung nicht lediglich von dogmatischer Bedeutung, sondern sie hat erhebliche Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung des Missbrauchsverbots und seiner zukünftigen Anwendung und Weiterentwicklung. Sie hat sowohl Bedeutung für die richtige Stelle in der Missbrauchsprüfung als auch hinsichtlich der Weite des Anwendungsbereichs unionsrechtlicher Freiheiten und einen möglichen Ausnahmecharakter bei Missbrauchsfällen. Sofern man in den einzelnen Entscheidungen nur Fälle der Auslegung bzw. Interpretation erkennt, so bleiben sie Einzelfallentscheidungen mit eingeschränkter Bedeutung für andere ähnliche – aber nicht gleich gelagerte – Fälle und eine andere normative Interpretation durch personenverschiedene Richter ist – mit negativen Folgen für Planungs- und Rechtssicherheit – möglich. Betrachtet man die Entscheidungen jedoch im Gesamtzusammenhang und sieht sie als Manifestation eines generellen Rechtsgrundsatzes, kommt diesem breitere Bedeutung für alle Rechtsgebiete und ähnliche Fälle zu, unabhängig von Senaten des EuGH, nationalem Gericht und personeller Besetzung750. Außerdem kann ein allgemeiner Rechtsgrundsatz durch legislative oder judikative Konkretisierung an besondere Probleme in einzelnen Rechtsgebieten speziell angepasst werden.

747 So Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1283); Englisch, StuW 2009, 3 (5); in diesem Sinn Dourado, A Single Principle of Abuse in Europeaan Union Law: A Methological Approach to Rejecting a Different Concept of Abuse in personal Taxation, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 467 (469 f.): „A method of interpreting other EU law principles and rules.“ 748 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38. 749 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Fn. 62; de la Feria, Common Market Law Review 45 (2008), 395 (437 f.); Sørensen, What is a General Principle of EU Law? A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 25 (28). 750 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (564).

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

225

Sofern es sich beim unionsrechtlichen Missbrauchsverbot um ein Mittel der Auslegung handeln sollte, müsste dies in den Urteilen des EuGH erkennbar werden. Ausschlaggebend kann dabei sein, ob der EuGH das Missbrauchsverbot bereits im Rahmen der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen – dann Auslegungsregel – berücksichtigt oder erst später gesondert als eigenständiges Rechtsinstitut behandelt.

I. Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze Zum primären Europarecht zählt das geschriebene Vertragsrecht, das auch als Verfassungsrecht der EU bezeichnet wird751. Auch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gehören zum Primärrecht und genießen „Verfassungsrang“752. Die Gründungsverträge waren von Anfang an lückenhaft753, sie sind auch „heute noch lückenhafter als die nationalen über Jahrhunderte gewachsenen Rechtsordnungen“754. Hinzu kommt, dass es sich beim Unionsrecht um Teilrechtsordnungen mit beschränkten Kompetenzen handelt, die keine allumfassende Regelungsdichte erzeugen können755. Dem EuGH stellte sich in der Sache Fédération Charbonnière756 bereits 1956 die Frage, wie mit nicht ausdrücklich geregelten Rechtsfragen umzugehen sei. Der Gerichtshof erwähnte die allgemein anerkannten Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Diskriminierungsverbots, ohne die Herkunft dieser Grundsätze näher zu erläutern757. Es wurde angenommen, dass es sich dabei um aus dem Gemeinschaftsrecht oder durch rechtsvergleichende Betrachtung abgeleitete Prinzipien handele758. Hierbei ist auch der dynamische Charakter des europäischen Rechts zu 751 Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 23; Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 22 – 007; Bleckmann, Euoparecht, § 6 Rn. 525 ff. (insbes. Rn. 532 „Verfassung der EG“). 752 EuGH v. 3. 9. 2008 – verbundene Rs. C-402/05 und C-415/05 – Kadi und Al Barakaat International Foundation, ECLI:EU:C:2008:461, Rn. 307 f. (zur Klassifizierung als Primärrecht); EuGH v. 15. 10. 2009 – Rs. C-101/08 – Audiolux u. a., ECLI:EU:C:2009:626, Rn. 63; EuGH v. 29. 10. 2009 – Rs. C-174/08 – NCC Construction, ECLI:EU:C:2009:669, 2. LS und Rn. 42 (zum Verfassungsrang); s. auch Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (12). 753 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 325. 754 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 399. 755 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 399. 756 EuGH v. 16. 7. 1956 – Rs. 8/55 – Fédération Charbonnière, ECLI:EU:C:1956:11. 757 EuGH v. 16. 7. 1956 – Rs. 8/55 – Fédération Charbonnière, ECLI:EU:C:1956:11, S. 311. 758 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 326.

226

Zweiter Hauptteil

berücksichtigen. Der bereits in den Gründungsverträgen angelegte Ausbau der Integration, dem auch der EuGH verpflichtet ist759, verlangt eine Ergänzung des geschriebenen Rechts im Bereich ausschließlicher oder konkurrierender Zuständigkeit der Europäischen Union760. Dabei kommt insbesondere den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bei der Ergänzung des Gemeinschaftsrechts erhebliche Bedeutung zu761. Deshalb sichert der Gerichtshof bei der Wahrung des Unionsrechts auch die Einhaltung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts762. Unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen werden juristische Standards verstanden, die hergeleitet werden „from legal rules by way of inductive generalisation“763. Sie haben ausdrücklich ihren Weg in den EU-Vertrag in Art. 6 Abs. 3 EU gefunden, in dem es heißt, die Grundrechte der Konvention zum Schutz der Menschenrechte „sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Der EuGH geht davon aus, dass solche allgemeinen Rechtsgrundsätze dem europäischen Primärrecht inhärent sind, sie haben „constitutional status“764. Allgemeine Rechtsgrundsätze dienen dazu, Lücken des Rechts zu füllen oder unklare Begriffe auszulegen, sie haben aber darüber hinaus eine viel weit reichendere Bedeutung765. Diese „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ werden sowohl vom EuGH selbst angewandt als auch zur Anwendung durch nationale Gerichte vom EuGH ausdrücklich angeordnet766. Auch in der AEUV wird auf allgemeine Rechtsgrundsätze eingegangen, wenn es in Art. 340 Abs. 2 heißt, dass im Bereich der außer759 Bleckmann, in: Gedächnisschrift Constantinesco, S. 61 (67). Die gesamte Rechtsquellenlehre des Unionsrechts werde durch die Integrationsfunktion geprägt, insbesondere der EWG-Vertrag enthalte in seinen Generalklauseln zahlreiche „juristische Integrationsreserven“, die der EuGH im Rahmen seiner Integrationsfunktion nutzen könne. 760 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 326. 761 Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 395; Englisch, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 12.1 ff. 762 EuGH v. 17. 2. 2009 – Rs. C-465/07 – Meki Elgafaji and Noor Elgafaji, ECLI:EU:C:2009:94, Rn. 28. 763 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (Zitat); Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-) Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 ( 237). 764 EuGH v. 29. 10. 2009 – Rs. C- 174/08 – NCC Construction Danmark, ECLI:EU:C:2009:669, Rn. 42; EuGH v. 15. 10. 2009 – Rs. C-101/08 – Audiolux u. a., ECLI:EU:C:2009:626, Rn. 63 zu „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ und Rn. 64 zur Frage, ob es einen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatz der Gleichbehandlung der Aktionäre gibt. 765 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7; Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-)Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 (235, 238). 766 EuGH v. 26. 6. 1997 – Rs. C- 368/95 – Familiapress, ECLI:EU:C:1997:325, Rn. 24.

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

227

vertraglichen Amtshaftung die Union Schäden „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, zu ersetzen hat. Allerdings stellt der EuGH hohe Hürden auf, bevor er einen allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkennt. So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Audiolux erklärt, die bloße Tatsache, dass im Sekundärrecht einige Bestimmungen den Minderheitsgesellschafter schützen, könne für sich allein noch nicht die Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes begründen767. Allgemeine Rechtsgrundsätze, wie Gleichheit, Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit haben sowohl eine interpretative Funktion, dienen jedoch auch als Kriterium um die Rechtmäßigkeit einer unionsrechtlichen Maßnahme zu bewerten768. Dem Gerichtshof wird es durch allgemeine Rechtsgrundsätze ermöglicht, die Legitimität der Union zu verstärken, indem er durch sie die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten an die Werte binden kann, die den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und ihren internationalen Verpflichtungen zugrunde liegen769. Nach Art. 19 Abs. 1 EU-Vertrag hat der Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Verträge die Wahrung des Rechts zu sichern. Die Wahrung des Rechts erfordert auch den Rückgriff auf „allgemeine Rechtsgrundsätze“770. Zu den etablierten allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Europarechts gehören der Gleichbehandlungsgrundsatz,771 der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts772, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz773, der Grundsatz des Vertrauensschutzes774, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung775 und der Vorsorgegrundsatz im Bereich der öffentlichen Gesundheit, Sicherheit und des Umweltschutzes776. 767

EuGH v. 15. 10. 2009 – Rs. C-101/08 – Audiolux u. a., ECLI:EU:C:2009:626, Rn. 64. Farmer, Prohibition of Abuse of (European) Law: The Creation of a New General Principle of EU Law through Tax: A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 3; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 253 ff. 769 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (18). 770 EuGH v. 5. 5. 1996 – verbundene Rs. C-46/93 und C-48/93 – Brasserie de Pêcheur und Factortame, ECLI:EU:C:1996:79, Rn. 27 f. 771 EuGH v. 27. 10. 2009 – Rs. C-115/08 – Land Oberösterreich, ECLI:EU:C:2009:660, Rn. 88 f.; s. dazu Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 7 – 050 f. m.w.N. 772 EuGH v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 – Costa/ENEL, ECLI:EU:C:1964:66, S. 1270; s. dazu Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 360 f. 773 EuGH v. 27. 11. 1991 – Rs. C-199/90 – Italtrade, ECLI:EU:C:1991:445, Rn. 12; s. dazu Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 7 – 033 f., 22 – 040 m.w.N; Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 36, 327. 774 EuGH v. 22. 6. 2006 – verbundene Rs. C-182/03 und C-217/03 – Königreich Belgien und Forum 187 ASBL, ECLI:EU:C:2006:416, Rn. 147; s. dazu Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 458; Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 36, 328. 775 EuGH v. 22. 3. 1961 – Rs. 42/59 – S.N.U.P.A.T., ECLI:EU:C:1961:5, S. 172; s. dazu Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 327. 768

228

Zweiter Hauptteil

Allgemeine Rechtsgrundsätze haben – wie vom Gerichtshof festgestellt – Bedeutung für die gesamte Rechtsordnung des Unionsrechts und können durch unionsrechtliche Rechtsakte konkretisiert werden777. Ein solcher Rechtsgrundsatz muss „ein hinreichendes Maß an institutioneller Verkörperung im […] Recht aufweisen“778. Quellen solcher Rechtsprinzipien können im betroffenen Rechtssystem selbst oder auch in anderen Rechtssystemen, den nationalen Rechtsordnungen und verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten, internationalen Verträgen oder ggf. sogar in „internationally accepted“ Prinzipien liegen779. Die Formulierung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts wurde in diesem Kontext als Ergebnis einer dialektischen Interaktion zwischen nationalem Recht und Unionsrecht beschrieben780. ,Allgemein‘ wird mitunter auch gleichbedeutend mit ,international akzeptiert‘ verstanden781. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz muss „sufficient support“ finden782, er muss „sozial-faktisch anerkannt sein“783 und in der Rechtspraxis tatsächlich ausgeübt werden, etwa durch das Verhalten der Parteien, die sich an sie adressierte Grundsätze halten, oder durch Richterrecht784. Um direkten Effekt zu erhalten, müssen allgemeine Rechtsgrundsätze bedingungslos gewährt und präzise genug formuliert für eine richterliche Rechtsanwendung ausgestaltet sein785. Teilweise wird für die Anerkennung eines eigenständigen europäischen Rechtsinstituts des Missbrauchsverbots verlangt, dass es sich bei dieser Figur um den 776 EuGH v. 9. 9. 2003 – Rs. C-236/01 – Monsanto, ECLI:EU:C:2003:431, Rn. 110 f.; Lenearts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 22 – 039 m.w.N. 777 EuGH v. 19. 1. 2010 – Rs. C-55/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21, Rn. 21, 27, 50; s. dazu Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (11, 15 ff.). 778 Metzger, Extra legem, intra jus: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 552. 779 Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-) Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (236 f.); Bleckmann, Europarecht, § 8 Rn. 734 ff. (insbes. Rn. 741, 746 „Völkerrecht“, Rn. 745 Bezugnahme auf „die amerikanische implied-powers-Doktrin“). 780 De la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XX. 781 Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-) Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 (237). 782 Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-) Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 (237); Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7 Rn. 54. 783 Metzger, Extra legem, intra jus: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 552. 784 Metzger Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-) Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 (237); Metzger, Extra legem, intra jus: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht, S. 552. 785 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (13).

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

229

Ausdruck „allgemeiner Rechtsprinzipien“ der Mitgliedstaaten handelt, die zugleich prägende Prinzipien der Gesamtrechtsordnung der Gemeinschaft sein können786. Hierzu wird vorgebracht, die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen würden nur bedingte Gemeinsamkeiten bieten, da ein solches Verbot missbräuchlichen Verhaltens zwar in einigen Rechtsordnungen als allgemeines Rechtsprinzip anerkannt sei, in anderen Ländern dies jedoch nur mit erheblichen Unsicherheiten und Abweichungen der Fall wäre787. Das Konzept eines Verbots missbräuchlicher Praktiken ist zwar den Rechtsordnungen vieler Mitgliedstaaten inhärent, jedoch weichen diese in den Voraussetzungen, im Umfang und Ausgestaltung voneinander ab788. In einem Bericht an den Europarat wurde dazu noch im Jahr 1990 festgestellt: „The European states have very few points in common as regards the definition of abuse of rights, conditions of implementation, areas of application and, finally, legal effects“789. Dennoch geht die Kommission davon aus, dass das Missbrauchskonzept fast allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemein ist790. Sobald ein von nationalem Recht inspirierter allgemeiner Rechtsgrundsatz in das Unionsrecht übernommen wurde, erhält er ein von nationalen Vorbildern getrenntes Schicksal und muss nicht notwendigerweise dieselbe Bedeutung wie im nationalen Recht der Mitgliedstaaten haben791.

II. Institutionelle Befugnisse des EuGH zur Implementierung allgemeiner Rechtsgrundsätze Im Interesse der Rechtseinheit in Europa hat der Gerichtshof ein Auslegungsmonopol bezüglich des Europarechts, der EuGH ist berechtigt und verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden792. Die Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung wird aus Art. 19 Abs. 1 EUV abgeleitet, der den EuGH nicht nur zur Wahrung des Gesetzes, sondern zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und

786

Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1282). Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1283 f.); Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 95 ff., 200. 788 De la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XXII f.; Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (375 ff.). 789 Voyame/Cottier/Rocha, Abuse of Rights in Comparative Law, in: Europarat, Abuse of Rights and Equivalent Concepts: The Principle and Its Present Day Application, S. 23. 790 S. dazu Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – EmslandStärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 41. 791 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (9). 792 Hey, StuW 2010, 301 (303). 787

230

Zweiter Hauptteil

Anwendung der Verträge verpflichtet793. In diesem Sinne ist der Gerichtshof auch hinsichtlich der Missbrauchsverhinderung zur Auslegung des Unionsrechts berufen794. Das Gemeinschaftsrecht kann dazu im Wege der Rechtsfortbildung weiterentwickelt werden, jedoch nur innerhalb der Grenzen, die der Rechtsfortbildung nach internationalem Methodenverständnis gesetzt sind795. So darf der EuGH nicht in die Verbandskompetenz der Union eingreifen, ferner nicht in die Kompetenz des EuGH im Verhältnis zu anderen Unionsorganen796. Eine Verletzung dieser Grenzen ist bei der Implementierung des Missbrauchsverbots als allgemeinem Rechtsgrundsatz nicht ersichtlich. In diesem Rahmen wäre der EuGH auch befugt, ein eigenständiges Rechtsinstitut des Missbrauchsverbots zu implementieren und fortzuentwickeln. Der Grundsatz, nach dem das Unionsrecht nicht missbraucht werden darf, ist zur wirksamen Wahrung der Ziele und Werte der Union nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu notwendig.

III. Allgemeiner Rechtsgrundsatz oder Mittel der Auslegung? Es wurde bereits dargestellt, dass nach dem nationalen Methodenverständnis umstritten ist, ob die unzulässige Berufung des Anwenders auf eine Norm ein eigenständiges Rechtsinstitut des „Missbrauchs“ mit selbstständigen Voraussetzungen darstellt oder ob es sich beim Missbrauchsverbot lediglich um eine unselbstständige Ausprägung der teleologischen Norminterpretation handelt797. Es verwundert daher nicht, dass es auch im unionsrechtlichen Kontext umstritten ist, ob es sich beim vom EuGH entwickelten europäischen Missbrauchsverbot um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts mit determinierten Voraussetzungen handelt oder ob dieses Missbrauchsverbot lediglich im Rahmen der Gesetzesinterpretation als Auslegungs- bzw. Interpretationsmethode oder Auslegungskriterium zu beachten ist798. Es wird exemplarisch vertreten, der Gedanke des Rechtsmissbrauchs fließe als der Rechtsordnung immanente Wertung bereits bei der

793

Grundl. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, passim. insbes. S. 20 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 510 m.w.N. 794 Arnull, What is a General Principle of EU Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (19). 795 S. zu den Grenzen der Rechtsfortbildungsbefugnis oben, § 4 II. 796 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 394 ff. 797 S. oben, § 1. 798 Vgl. Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (427 ff.); so auch Dourado, A Single Principle of Abuse in Europeaan Union Law: A Methological Approach to Rejecting a Different Concept of Abuse in personal Taxation, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 467 (469 f.).

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231

Auslegung der Vorschrift ein und bestimme durch die Verwirklichung von Sinn und Zweck einer Vorschrift den Umfang subjektiver Rechte799. 1. Ansicht der Generalanwälte und der Kommission Die Stellungnahmen der Generalanwälte waren uneinheitlich und es war daher lange Zeit unklar, ob es sich danach bei dem Verbot des Rechtsmissbrauchs um einen eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsatz oder um einen Ausdruck teleologischer Auslegung des Gemeinschaftsrechts handelt800. a) Auslegungsmethode In seinen Schlussanträgen zur Rechtssache Kefalas ging Generalanwalt Tesauro im Jahr 1998 davon aus, dass ein solcher Rechtsgrundsatz beim damaligen Stand des Gemeinschaftsrechts noch nicht gesichert war801. Zwar sei der Begriff des Rechtsmissbrauchs in den meisten Mitgliedstaaten bekannt, jedoch sei er nicht in allen Rechtsordnungen vorhanden und unterliege in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht den gleichen Voraussetzungen und Anwendungsmodalitäten802. Es könne nicht von einem Bestehen eines Grundsatzes der Gemeinschaftsrechtsordnung ausgegangen werden, weshalb der Missbrauch als Frage der teleologischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen sei803. Generalanwalt Maduro ging zwar in seinen Schlussanträgen zu den verbundenen Rechtssachen Halifax u. a. davon aus, dass sich aus der „Rechtsprechung ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ableiten lässt“804. Der Gerichtshof sei insoweit in seiner Emsland-Stärke-Entscheidung „bei der Formulierung einer differenzierten gemeinschaftsrechtlichen Lehre einen Schritt weiter gegangen“805. Dennoch bezeichnete Generalanwalt Maduro zur dogmatischen Einordnung das Missbrauchsverbot als „ein die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beherrschender Grundsatz“, bei dem entscheidend auf den „te-

799 Ottersbach, Rechtsmißbrauch bei den Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes, S. 63 ff. (Rechtsmissbrauch als Unterfall der teleologischen Auslegung, S. 65). 800 Vgl. Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1282); Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 260. 801 Schlussanträge Generalanwalt Tesauro v. 4. 2. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:41, Rn. 21 ff. 802 Schlussanträge Generalanwalt Tesauro v. 4. 2. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:41, Rn. 22 f. 803 Schlussanträge Generalanwalt Tesauro v. 4. 2. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:41, Rn. 23, 27. 804 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 64. 805 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 66.

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leologischen Geltungsbereich“ der Gemeinschaftsregelung abzustellen sei806. Entsprechend sei nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Maduro zur Rechtssache ING. Auer das Missbrauchsverbot ein „allgemeiner Auslegungsgrundsatz für die gesamte Rechtsprechung des Gerichtshofs“807. Generalanwalt La Pergola zählte in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Centros das Missbrauchsverbot des EuGH zwar einerseits „zu den grundlegenden Prinzipien des Gemeinschaftsrechts“, führte jedoch andererseits weiter aus, dass „die Problematik des Missbrauchs letztlich in eine Definition der inhaltlichen Tragweite der subjektiven Rechtsposition und damit des Bereichs der Befugnisse mündet, die dem Inhaber zugestanden werden. Die Prüfung, ob die konkrete Ausübung eines Rechts missbräuchlich ist oder nicht, bedeutet mit anderen Worten nichts anderes, als die inhaltliche Tragweite des Rechts selbst zu ermitteln“808. Bei diesen Formulierungen ist unklar, ob Generalanwalt La Pergola das Missbrauchsverbot als „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ oder als Auslegungsmethode des Umfangs subjektiver Rechte versteht. b) Allgemeiner Rechtsgrundsatz Generalanwalt Alber ging ebenso wie die Kommission im Jahr 2000 in der Rechtssache Emsland-Stärke809 davon aus, dass es sich beim unionsrechtlichen Rechtsmissbrauchsverbot um einen „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ handele, der in fast allen Mitgliedstaaten existiere und auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Anwendung findet, selbst wenn der EuGH diese Formulierung zu diesem Zeitpunkt nicht ausdrücklich verwendet habe810. Generalanwältin Kokott sprach in der Rechtssache Kofoed von einem „etwa bestehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“, „wonach ein Rechtsmissbrauch nicht zulässig ist“. In der Missbrauchsklausel Art. 11 Abs. 1a der (Fusions-)Richtlinie 90/434 habe „ein solcher Grundsatz“„seinen spezifischen Ausdruck gefunden und eine Konkretisierung erfahren“811. Die Kommission hat im Zusammenhang mit der Öffnungsklausel in Art. 1 Abs. 2 der (Mutter-Tochter-)Richtlinie 90/435/EWG im Vorschlag für eine neue Missbrauchsklausel im Jahr 2013 folgendes erklärt: „Nach der Mutter-TochterRichtlinie in ihrer gegenwärtigen Fassung können die Mitgliedstaaten einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmungen zur Verhinderung von Betrug und Missbrauch 806 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 69. 807 Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 21. 6. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:374, Rn. 17. 808 Schlussanträge La Pergola v. 16. 7. 1998 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1998:380, Rn. 20. 809 Vgl. EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 38. 810 Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 28, 39 ff. und insbes. 62 ff. 811 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 67; s. auch dies., ISR 2017, 395 (396).

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anwenden. Diese Bestimmung ist jedoch so zu verstehen, wie sie vom EuGH ausgelegt wurde. Dieser hat befunden, dass die Mitgliedstaaten nicht über den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts hinausgehen dürfen, um missbräuchlichem Verhalten entgegenzuwirken.“812 Die Kommission geht also hinsichtlich des Missbrauchsverbots explizit von einem „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ zur Missbrauchsverhinderung aus. 2. Aussagen des EuGH zum Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz Auch die Aussagen des EuGH zur dogmatischen Einordnung des Missbrauchsverbots waren nicht immer eindeutig. So wird die Entscheidung Van Binsbergen teilweise auch dahingehend interpretiert, dass der Gerichtshof damals keinen eigenständigen Rechtsgrundsatz des Rechtsmissbrauchs aufstellten wollte, sondern lediglich prüfte, ob der in Frage stehende Sachverhalt überhaupt in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit oder in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fällt813. Klarer werden die Aussagen des EuGH jedoch in späteren Entscheidungen. So sprach der Gerichtshof in der Rechtssache Halifax von einem „grundsätzlichem Verbot missbräuchlicher Praktiken“, das auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gelte814. In der Rechtssache Kofoed ging der Gerichtshof dann so weit zu sagen, dass Art. 11 Abs. 1a der Fusionsrichtlinie 90/434/EWG „den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ widerspiegelt, „wonach Rechtsmissbrauch verboten ist“815. In der Rechtssache Weald Leasing erwähnte der EuGH das „grundsätzliche Verbot missbräuchlicher Praktiken“, das auch auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gelte816. In der Rechtssache RBS Deutschland sprach der Gerichtshof von dem „Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken“817. Auch in der Rechtssache Foggia wies der Gerichtshof darauf hin, „dass Art. 11 Abs. 1a der Richtlinie 90/434 den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist.“818 In der Rechtssache Ampliscientifica u. a. benennt der Gerichtshof das Rechtsmissbrauchsverbot in seinem Tenor819. Nunmehr formulierte der Gerichtshof in der Entscheidung Cussens u. a. sogar: „Der Grundsatz des Verbots missbräuch812

Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie 25. 11. 2013 COM(2013) 814 S. 6 (Hervorhebung durch den Verfasser). 813 Vgl. Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (430). 814 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 70. 815 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38. 816 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 26. 817 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 47. 818 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 50 (Hervorhebung durch den Verfasser). 819 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, 2. LS.

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licher Praktiken […] weist somit den allgemeinen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt.“820 3. Stimmen der Literatur zum Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz Die Rechtsprechung des EuGH zur Statuierung eines europäischen autonomen Missbrauchsverbots in der Form eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts erfuhr in der Literatur sowohl Ablehnung als auch Zustimmung. a) Kritik aus dem Schrifttum Zahlreiche Stimmen insbesondere aus der deutschen Literatur kritisierten die Qualifizierung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts821. Nach Englisch gebe es „kein einheitliches Prinzip des Verbots von Rechtsmissbrauch im Gemeinschaftsrecht“822. Weder gebe es eine Notwendigkeit noch eine Rechtfertigung „for elevating anti-avoidance rules or doctrines adressed at combating the abuse of Union law to the level of a quasiconstitutional general principle“823. Nach Schön und Fischer tendiere die Rechtsprechung des EuGH dazu, die Anwendung des Missbrauchsgedankens zugunsten der Marktfreiheiten „massiv zu begrenzen“824. Fischer führt weiter aus, der EuGH fasse unter den Begriff „Missbrauch“ völlig unterschiedliche Tatbestände „wie den institutionellen Missbrauch von Rechten, wie auch die Gesetzes- und Steuerumgehung andererseits „unter einem Dach“ zusammen, wobei nicht hinreichend zwischen deren Voraussetzungen ausdifferenziert würde; es wird kritisiert, dass der Gerichtshof den Gerichten der Mitgliedstaaten den Rückgriff auf nationale Rechtsmissbrauchsverbote gestatte; der Missbrauchsbegriff sei dogmatisch nicht hinreichend entwickelt, der Begriff „Künstlichkeit“ einer Gestaltung sei „exegetisch nicht belastbar“ und die Anerkennung „außersteuerlich beachtlicher Gründe“ sei nicht auf die Gesamtplanfälle beschränkt und relativiere deshalb die Normativität der Rechtsordnung825. Außerdem würden die Grundfreiheiten zu Lasten der „Struktur 820

EuGH v. 22. 11. 2017 – Rs. C-251/16 – Cussens u. a., ECLI:EU:C:2017:881, Rn. 31. S. statt vieler P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (622 f.); Hahn, IStR 2007, 323 (325); Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23); Englisch, StuW 2009, 3 (22); dens., in: Schaumburg/ Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 12.46; dens., National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 10 ff., 28 ff. 822 Englisch, StuW 2009, 3 (22). 823 Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 28. 824 Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1281); P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (622) (Zitat). 825 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (622 f.). 821

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und Funktionsweise“ der Rechtsordnung vergötzt.826 Zu fragen sei daneben, ob der Missbrauchsbegriff „autonom“ oder durch Verweisung auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu bilden sei827. Im Steuerrecht müssten die Vorgaben der bewährten Rechtstraditionen der nationalen Rechtsordnungen beachtet werden828. Die deutschen dogmatischen Erkenntnisse zum Rechtsmissbrauch und zur Steuerumgehung müssten dazu offensiv nach Europa getragen werden829. Nach Witte gebe es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Rechtsmissbrauchs, da die Mitgliedstaaten nicht von einem einheitlichen Missbrauchsbegriff ausgehen und weil bezüglich der vermeintlich erfassten Sachverhalte eine „undifferenzierte einheitliche Betrachtung vorherrscht“830. Nach Böing sei der Begriff des Gestaltungsmissbrauchs zwar im Gemeinschaftsrecht sowohl im Sekundärrecht als auch in der Rechtsprechung des EuGH anzutreffen. Ein „einheitliches Verständnis“ dieses Begriffs hingegen sei weder durch den europäischen Normgeber noch durch den EuGH herausgebildet worden. Derzeit (scl. 2006) seien nur „Konturen“ einer gemeinschaftsrechtlichen Doktrin des Gestaltungsmissbrauchs erkennbar831. Nach Arnull habe der EuGH in der Rechtssache Kofoed keinen neuen Rechtsgrundsatz geschaffen. Das Missbrauchsverbot sei zu unsicher in seiner Anwendung und könnte zu einer zu weiten Einschränkung der Grundfreiheiten führen. Anders als im Fall Mangold832, in dem der Gerichtshof ausdrücklich die Schaffung eines neuen Rechtsgrundsatzes erklärt habe, sei das Missbrauchsverbot ein Mittel der Auslegung, welches den Umfang der Unionsrechte bestimme und die Umstände, unter denen es eingeschränkt werden könne, festlege833. Fleischer ging zwar davon aus, das Missbrauchsverbot könne als allgemeiner Rechtsgrundsatz aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgeleitet werden, verlangte jedoch 2003 noch, dass der EuGH ein hinreichendes eigenständiges Missbrauchskonzept entwickeln müsse834. b) Zustimmende Stimmen aus dem Schrifttum Viele Stimmen der Literatur begrüßten hingegen die Rechtsprechung des EuGH und erkennen das Bestehen eines autonomen unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit determinierten Voraussetzungen als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts

826

P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (623). P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (626). 828 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (627). 829 P. Fischer, in: Festschrift Reiss, S. 621 (627). 830 Witte, UR 2011, 925 (927). 831 Böing, Steuerlicher Gestaltungsmissbrauch in Europa, S. 324. 832 EuGH v. 22. 11. 2005 – Rs. C- 144/04 – Mangold, ECLI:EU:C:2005:70, Rn. 74. 833 Arnull, What is a General Principle of EU Law?, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 7 (23). 834 Fleischer, JZ 2003, 865 (874). 827

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an835. Nach Niemann und Zimmermann habe sich inzwischen ein fest verankerter Grundsatz des Rechtsmissbrauchs im Gemeinschaftsrecht entwickelt836. Laut Höppner sei es zutreffend, dass Art. 43 EG-Vertrag unter einem „prinzipiellen Missbrauchsverbot“ steht837. Klinke führte aus, dass das europäische Gemeinschaftsrecht zwar nicht expressis verbis ein allgemeines Missbrauchsverbot enthalte, wohl aber einen ungeschriebenen Grundsatz in diesem Sinne838. Sørensen führt aus „it follows that the principle of abuse has been developed over time into a principle with a more general application“839. „The principle of abuse of rights seems to be firmly established in Community law“840. Nach Tridimas ist „abuse of rights a principle of law“841. Metzger schreibt: „The principle is not merely used as a tool of interpretation but as a self-standing principle that can lead to results which run counter to the literal meaning of the rules at hand.“842 Weber erklärt: „The prohibition of abuse of law is a general principle of law“843. Nach Cadbury Schweppes „it was clear that the prohibition of abuse of law was a general principle of Community law in the view of the court“844. Snell stellt zu Recht fest, dass der Gerichtshof für eine wirksame Missbrauchsbekämpfung nur im Wege der Auslegung die legitimen Grenzen der Auslegung überschreiten müsste, da missbräuchliche Gestaltungen typischerweise noch vom Wortlaut der Regelung umfasst werden und dennoch von der Judikative verhindert werden müssten, eine Auslegung entgegen dem Wortlaut jedoch die vom 835

Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1244; Schubert, in: Münchener Kommentar BGB, § 242 Rn. 159; Florstedt, FR 2016, 1 (5 ff.); Vanistendael, EC Tax Review 15 (2006), 192; Pistone, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: From (Before) Emsland-Stärke 1 to Halifax (and Beyond), in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 381; Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 22 – 040; Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 174. 836 Niemann, Der allgemeine Missbrauchsvorbehalt nach der Rechtsprechung des EuGH und seine Auswirkungen auf die Anwendung des § 42 AO, S. 331; Zimmermann, Das Rechtsmißbrauchsverbot im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 227. 837 Höppner geht allerdings von einer den Schutzbereich beschränkenden Wirkung des Missbrauchsverbots aus, in: Festschrift Rädler, S. 305 (320). 838 Klinke, ZGR 2002, 163 (186). 839 Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (427). 840 Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (458); vgl. auch dens., What is a General Principle of EU Law? A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 25 (25 ff.). 841 Tridimas, Abuse of Rights in EU Law: Some Reflections with Particular Reference to Financial Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 169 (191). 842 Metzger, Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-)Construction from Fragments, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 235 ( 251). 843 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (405). 844 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (399).

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Gerichtshof anerkannten Grenzen der Auslegung überschreiten würde845. Es werde durch das Missbrauchsverbot nicht lediglich eine von verschiedenen möglichen Auslegungsvarianten gewählt, sondern es werde vielmehr neues Recht begründet846. Nach Pistone habe die jahrzehntelange Judikatur des Gerichtshofs das Missbrauchsverbot zu einem Grundsatz des Unionsrecht gemacht, der in allen Mitgliedstaaten und Rechtsgebieten gilt847. Vogenauer erklärt: „The doctrine exhibits all the necessary attributes in order for being recognized as a general principle of EUlaw“848. Seit dem Halifax-Urteil stehe nach Lenaerts – dem Präsidenten des EuGH – fest, dass die Rechtsprechung des EuGH zum Rechtsmissbrauch sich nicht nur auf Freizügigkeit und Landwirtschaft, sondern auch auf andere Rechtsgebiete, insbesondere das Gebiet der Steuern erstreckt849. Nach Lenaerts/Van Nuffel zählt das Rechtsmissbrauchsverbot deshalb zu den allgemeinen europäischen Rechtsgrundsätzen850. 4. Die Schwäche einer ,reinen‘ teleologischen Auslegung zur Missbrauchsverhinderung als Begründung für die Qualifizierung als allgemeinem Rechtsgrundsatz Es fällt auf, dass die Kritik an der Implementierung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts mit determinierten Voraussetzungen und Rechtsfolgenanordnung maßgeblich aus der deutschen Literatur stammt und wohl vom traditionellen objektiven Missbrauchsverständnis geprägt ist, nach dem Gesetzesumgehung und Missbrauch keine eigenständigen Rechtsinstitute darstellen. Dieses methodische Vorverständnis erschwert die unvoreingenommene Bewertung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als autonomes Konzept des Unionsrechts, das zwar nationale Missbrauchsverbote und -methoden als Ausgangspunkt der dogmatischen Würdigung missbräuchlicher 845 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (223), verweist dabei auf EuGH v. 16. 6. 2005 – Rs. C-105/03 – Pupino, ECLI:EU:C:2005:386, Rn. 47, in dem es heißt: „Mit anderen Worten darf der Grundsatz konformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen.“ 846 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (223). 847 Pistone, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: From (Before) EmslandStärke 1 to Halifax (and Beyond), in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 381. Ders. führt weiter aus: „the principle of abuse of law should apply regardless of further circumstances: one single concept of abuse in European law (based on the elements indicated in the Halifax decision […]) with one single framework of application, regardless of what tax is involved and with the safeguard of possible different factual elements“, S. 391. 848 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (571). 849 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (333). 850 Lenaerts/Van Nuffel, European Union Law, Rn. 22 – 040.

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Sachverhaltsgestaltungen hatte, mittlerweile jedoch weiterentwickelt wurde, sich verselbstständigt hat und eine eigenständige Rechtsnatur aufweist, die nicht von nationalen Missbrauchsmethoden abhängig ist. Gegen die Einordnung als Auslegungsmethode spricht zunächst, dass der EuGH in den zitierten Urteilen an keiner Stelle klar zu erkennen gegeben hat, dass er das Rechtsmissbrauchsverbot als Interpretationsmittel zur teleologischen Einschränkung der Grundfreiheiten oder anderen Unionsrechts ansieht. Anders ist dies hinsichtlich der Einordnung als allgemeinem Rechtsgrundsatz, die in der inzwischen gefestigten Judikatur des EuGH Bestätigung findet851. Es wurde zwar 2011 noch von Vogenauer vorgetragen, „the precise scope, content and limits of the ,prohibition of abuse of law‘“ seien noch nicht abschließend geregelt852. Dies verwundert jedoch bei einem über Jahrzehnte entwickelten Konzept nicht und schließt die Anerkennung als allgemeinen Rechtsgrundsatz nicht aus, soweit der Rahmen für eine praktische Anwendung präzise genug erkennbar ist. Die Qualifizierung des Missbrauchsverbots als allgemeinem Rechtsgrundsatz bietet dem EuGH als ,Motor der Vereinheitlichung‘ die Möglichkeit, das Missbrauchsverbot weiter zu präzisieren und dieses in der Zukunft an neue Fallkonstellationen anzupassen, die sich aus dem „Katz- und Mausspiel“ zwischen Privaten und dem Staat ergeben. Zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln (z. B. Treu und Glauben nach § 242 BGB, sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nach § 826 BGB aus dem nationalen Recht oder die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUVaus dem Unionsrecht) sind nicht abschließend geklärt und werden trotzdem in der Rechtsprechung angewandt und bei neuen Sachverhaltsvarianten fortentwickelt853. Der Inhalt und die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots wurden, wie dargestellt, in der jahrzehntelangen Rechtsprechung mittlerweile so weitgehend klargestellt, dass insoweit den Bedingungen für die Anerkennung als allgemeinem Rechtsgrundsatz entsprochen wird854.

851

EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 70; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 26; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/ 09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 47; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 50; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, 2. LS; EuGH v. 22. 11. 2017 – Rs. C-251/16 – Cussens u. a., ECLI:EU:C:2017:881, Rn. 21; EuGH v. 6. 2. 2018 – Rs. C-359/16 – Altun u. a., ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 49. 852 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521. 853 Auf Unionsebene wird der Prozess der Konkretisierung von Generalklauseln auch als „Recht im Werden“ beschrieben, vgl. Röthel, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 11 Rn. 48. Generalklauseln sollen dabei durch Flexibilität, Freiräume und Wertungsoffenheit eine gerechte richterliche Einzelfallbeurteilung ermöglichen (Rn. 1). 854 So auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (571).

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

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Für die Einordnung als Mittel der Auslegung würde sprechen, wenn der EuGH das Missbrauchsverbot schon auf Tatbestandsebene unionsrechtlicher Vorschriften berücksichtigen würde. Dies wäre der Fall, wenn der formale Anwendungsbereich unionsrechtlicher vorteilhafter Vorschriften in Missbrauchsfällen „teleologisch reduziert“ werden würde. Um den unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil zu verwehren, berücksichtigt der Gerichtshof den Missbrauch bei potenziell missbräuchlichen Gestaltungen im Graubereich zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen jedoch nicht bereits auf Auslegungsebene des Anwendungsbereichs einer unionsrechtlichen vorteilhaften Norm, sondern erst als Korrektiv im Rahmen der Rechtfertigung einer Beschränkung durch eine eigenständige Missbrauchsprüfung855. Das Missbrauchsverbot erst im Rahmen der Rechtfertigung zur Einschränkung von Unionsrecht anzusiedeln hat den Vorteil, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Missbrauchsfeststellung berücksichtigen zu können856. Dem Missbrauchsverbot kommt dabei ein Ausnahmecharakter für besondere Konstellationen zu, es wird erst berücksichtigt, nachdem der generelle Anwendungsbereich unionsrechtlicher Freiheiten abgesteckt wurde857. Die Vielzahl der mittlerweile ergangenen Entscheidungen und die zahlreichen Einzelregelungen im Sekundärrecht bieten genug „kritische Masse“858, um von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts sprechen zu können. Der EuGH hat das Missbrauchsverbot in seiner bisherigen Rechtsprechung für alle Rechtsgebiete für anwendbar erklärt. Die Entscheidungen des EuGH zum Missbrauchsverbot ergingen sowohl zu primärem859 als auch zu sekundärem860 Europa855

S. neben des Ausführungen oben § 4 II., auch EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 15; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 32; vgl. auch Sørensen, What is a General Principle of EU Law? A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 25 (26). 856 Farmer, Prohibition of Abuse of (European) Law: The Creation of a New General Principle of EU Law through Tax: A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 3 (5). 857 Sørensen, What is a General Principle of EU Law? A Response, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 25 (26). 858 Dazu Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (565). 859 S. exemplarisch EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131; EuGH v. 26. 11. 1975 – Rs. 39/75 – Coenen, ECLI:EU:C:1975:162; EuGH v. 23. 3. 1982 – Rs. 53/81 – Levin, ECLI:EU:C:1982:105; EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/ 83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1; EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362; EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370; EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126; EuGH v. 8. 3. 2001 – verbundene Rs. C-397/98 und C-410/98 – Metallgesellschaft u. a., ECLI:EU:C:2001:134; EuGH v. 5. 11. 2002 – Rs. C-208/ 00 – Überseering, ECLI:EU:C:2002:632; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – LankhorstHohorst, ECLI:EU:C:2002:749; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art,

240

Zweiter Hauptteil

recht und auch zu Richtlinien zur Umsetzung von Primärrecht861. Zahlreiche Entscheidungen zum Steuerrecht erfolgten im Zusammenhang mit Gesellschaftsrecht: Körperschaftssteuervorauszahlungen für Dividenden862, Quellensteuerbefreiung für ausgeschüttete Dividenden863, Besteuerung des Veräußerungsgewinns von Aktien864, ECLI:EU:C:2003:512; EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24; EuGH v. 17. 9. 2009 – Rs. C182/08 – Glaxo Wellcom, ECLI:EU:C:2009:559; EuGH v. 29. 11. 2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, ECLI:EU:C:2011:785. 860 S. z.B. EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383; EuGH v. 27. 9. 1988 – Rs. 81/87 – Daily Mail, ECLI:EU:C:1988:456; EuGH v. 11. 10. 1977 – Rs. 125/76 – Cremer, ECLI:EU:C:1977:148; EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82; EuGH v. 29. 2. 1996 – Rs. C-110/94 – Inzo, ECLI:EU:C:1996:67; EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182; EuGH v. 17. 10. 1996 – verbundene Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/ 94 – Denkavit u. a., ECLI:EU:C:1996:387; EuGH v. 29. 5. 1997 – Rs. C-63/96 – Skripalle, ECLI:EU:C:1997:263; EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369; EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/ 02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-223/03 – University of Huddersfield ECLI:EU:C:2006:124; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301; EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448. 861 S. z.B. EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31; EuGH v. 27. 3. 1985 – Rs. 249/83 – Hoeckx, ECLI:EU:C:1985:139; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810; EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448. 862 EuGH v. 8. 3. 2001 – verbundene Rs. C-397/98 und C-410/98 – Metallgesellschaft u. a., ECLI:EU:C:2001:134. 863 EuGH v. 17. 10. 1996 – verbundene Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 – Denkavit u. a., ECLI:EU:C:1996:387. 864 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704.

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

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Besteuerung der Wertsteigerung von Anteilen865, Besteuerung von Zinszahlungen im Konzern866, gemeinsame Veranlagung zur Mehrwertsteuer im Konzern867, Besteuerung noch nicht realisierter Wertzuwächse des Gesellschaftsvermögens868, Verrechnung von Verlusten im Konzern869, verdeckte Gewinnausschüttung870, Versteuerung latenter Gewinne871, Besteuerung bei Sitzverlegung872 und Gründung von Tochtergesellschaften in Steueroasen873. Auch unabhängig von steuerrechtlichen Fragen erhielt das Missbrauchsverbot Bedeutung für das Gesellschaftsrecht, z. B. im Kontext der Niederlassungsfreiheit874, Gründung von Zweigniederlassungen875, Sitzverlegung876, Kapitalerhöhung877, Zwangserhöhung des Gesellschaftskapitals878, Zinszahlungen im Konzern und verdeckte Gewinnausschüttung879, Verrechnung von Verlusten im Konzern880, Aktienübertragungen auf ausländische juristische Personen881, Tausch von Gesellschaftsanteilen und Gewinnausschüttung882, Leasing und Finanzierungsvereinbarung im Konzern883, Fusionen innerhalb eines Konzerns884, Fusion durch Austausch von Anteilen885. Entscheidungen zum Missbrauchsverbot 865

EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138. EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24. 867 EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301. 868 EuGH v. 29. 11. 2011 – Rs. C-371/10 – National Grid Indus, ECLI:EU:C:2011:785. 869 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370. 870 EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749. 871 EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138. 872 EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658. 873 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544. 874 EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362; EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126. 875 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512. 876 EuGH v. 27. 9. 1988 – Rs. 81/87 – Daily Mail, ECLI:EU:C:1988:456; EuGH v. 5. 11. 2002 – Rs. C-208/00 – Überseering, ECLI:EU:C:2002:632; EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/ 06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658. 877 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222. 878 EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150. 879 EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749. 880 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763. 881 EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704. 882 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408. 883 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108. 884 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718. 885 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704. 866

242

Zweiter Hauptteil

ergingen daneben im Arbeits- und Sozialrecht der Berufsausübung886, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall887, zur Arbeitnehmereigenschaft, Sozialleistungen888 und Berufsausübungsregelungen889. Das Missbrauchsverbot fand auch im Kontext der Freizügigkeit bei Wohnsitzverlegung890 Anwendung. Bei Umgehungen von Steuern oder Zöllen wurde regelmäßig auf das Missbrauchsverbot abgestellt891. Insbesondere bei „U-Turn“-Gestaltungen kam es auf das Missbrauchsverbot an892. Derartige Handlungen erfolgen häufig im Zusammenhang mit Importgeschäften, Exporten und Reimporten893, Einfuhrabgaben und Ausfuhrerstattungen894. Dieser Grundsatz des Missbrauchsverbots wird sogar für die hoheitlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten für anwendbar erklärt895. Das Missbrauchsverbot findet daher den erforderlichen „sufficient support“, da es auch in zahlreichen unionsrechtlichen Regelungen angesprochen wird896, entsprechende sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln das Missbrauchsverbot verankert haben897 und es wie dargelegt, Gegenstand zahlreicher EuGH Entscheidungen ist. 886 EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131; EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322. 887 EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182. 888 EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs. 79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308. 889 EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088. 890 EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131; EuGH v. 27. 3. 1985 – Rs. 249/83 – Hoeckx, ECLI:EU:C:1985:139. 891 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 18; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 28; EuGH v. 9. 7. 2015 – Rs. C-607/13 – Francesco Cimmino u. a., ECLI:EU:C:2015:448, Rn. 58 ff. 892 Englisch, StuW 2009, 3 (9 f.). 893 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491. 894 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491. 895 EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630. 896 Vgl. Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 v. 18. Dezember 1995; Art. 1 Abs. 2 der Mutter-Tochter-RL 2011/96/EU; Art. 131 (Mehrwertsteuersystem-)Richtlinie 2006/112/EG und Art. 158 Abs. 2 und hierzu die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer; Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16/EU zur Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung; Richtlinie 2003/96/EG zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom Art. 14 Abs. 1, 20 Abs. 2 und Erwägungsgrund 22; Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 92/83/EWG zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke. 897 S. dazu unten, § 9, § 11.

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

243

Die Formulierungen sind genereller Natur, wenn abstrakt festgestellt wird, dass nach „ständiger Rechtsprechung“ „die missbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist“ bzw. „eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt“ ist898. Es kann daher von einem „allgemeinen“ Missbrauchsverbot ausgegangen werden, weil sich die EuGH-Judikatur nicht nur auf einzelne Sach- und Rechtsgebiete beschränkt, sondern auf eine Wirkung für eine Vielzahl von Lebens- und Wirtschaftssachverhalte ausgerichtet ist. Das Missbrauchsverbot wurde auf Unionsebene – ohne direkten Rückgriff auf entsprechende Regelungen im Recht der Mitgliedstaaten – entwickelt, ausgehend von dem Verständnis, dass „jede Rechtsordnung, die den Anspruch auf ein Mindestmaß an Vollständigkeit erhebt, Maßnahmen, die ich als Selbstschutzmaßnahmen bezeichnen mo¨ chte, enthalten [muss], um zu verhindern, daß die in ihr begründeten Rechte mißbra¨ uchlich, exzessiv oder sachwidrig ausgeübt werden. Dieses Erfordernis ist dem Gemeinschaftsrecht keineswegs fremd, ist es doch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes mehrmals anerkannt worden.“899 Vorbilder finden sich in den Rechtsordnungen fast aller Mitgliedstaaten900. Entgegen Witte kommt es deshalb nicht darauf an, ob alle Mitgliedstaaten von einem einheitlichen Missbrauchsbegriff ausgehen, da das unionsrechtliche Missbrauchsverbot zwar auf Vorbilder in den Rechtsordnungen der meisten Mitgliedstaaten zurückgriff, mittlerweile jedoch ein autonomes Missbrauchsverständnis auf Unionsebene entwickelt

898 So schon anklingend in EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 21; EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43 und EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rn. 21 und explizit ab EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 24; EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/ 03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 32; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/ 05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658, Rn. 41 f.; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 29; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 42. 899 Schlussanträge Generalanwalt Tesauro v. 4. 2. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:41, Rn. 24 (Zitat); so auch verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 73. 900 S. dazu Schlussanträge Generalanwalt Alber v. 16. 5. 2000 – Rs. C-110/99 – EmslandStärke, ECLI:EU:C:2000:252, Rn. 41.

244

Zweiter Hauptteil

wurde901. Bei der weiteren Entwicklung des Missbrauchsverbots können zwar Erkenntnisse zum Missbrauch und zur Steuerumgehung aus den einzelnen Mitgliedstaaten in die Überlegungen des EuGH mit einfließen. Es ist jedoch bei der Vielzahl an Mitgliedstaaten nicht möglich, bei einem unionsrechtlich autonomen Missbrauchskonzept der Missbrauchsdogmatik eines einzelnen Mitgliedstaates auf Unionsebene besondere Geltung zu verschaffen. Dieser Grundsatz kann als Rechtsgrundlage für die Rückforderung bereits erbrachter Leistungen dienen, was wiederum für die Rechtsnatur des Missbrauchsverbots als allgemeiner Rechtsgrundsatz spricht. Da der Gerichtshof beim unionsrechtlichen Missbrauchsverbot von ,Tatbestandsvoraussetzungen‘902 spricht, deutet dies auf ein eigenständiges Rechtsinstitut hin, da Auslegungsmethoden keine Tatbestandsvoraussetzungen haben. 5. Keine ,teleologische Reduktion‘ des Unionsrechts durch nationale Gerichte als institutionelles Argument für die Einstufung als allgemeinem Rechtsgrundsatz Daneben spricht auch die starke Zurückhaltung des EuGH, eine Vorschrift entgegen ihrem klaren und eindeutigen Wortlaut auszulegen903, für das Bestehen eines eigenständigen Rechtsinstituts. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz mit determinierten Voraussetzungen und vorgesehener Rechtsfolge – wie es beim Missbrauchsverbot der Fall ist – erlaubt die Nichtanwendung einer Norm trotz der formalen Erfüllung ihrer Tatbestandsmerkmale. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wie bei einer Einordnung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als Auslegungs- bzw. Interpretationsmethode das subjektive Element des Missbrauchsverbots dogmatisch berücksichtigt werden kann. Die Auslegung des Anwendungsbereichs unionsrechtlicher Bestimmungen erfolgt nach der Judikatur des EuGH ohne Berücksich901 Schlussanträge Generalanwalt Szpunar v. 20. 5. 2014 – Rs. C-202/13 – Sean Ambrose McCarthy, ECLI:EU:C:2014:345, Rn. 112. 902 EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 40; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 76; EuGH v. 6. 4. 2006 – Rs. C-456/04 – Agip Petroli, ECLI:EU:C:2006:241, Rn. 24; EuGH v. 11. 1. 2007 – Rs. C-279/05 – Vonk Dairy Products, ECLI:EU:C:2007:18, Rn. 34; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 34. 903 S. ausf. oben, § 4 II.; außerdem EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 39; EuGH v. 15. 7. 2010 – Rs. C-582/08 – Kommission / Großbritannien, ECLI:EU:C:2010:429, passim., insbes. Rn. 48; EuGH v. 22. 12. 2008 – Rs. C-48/07 – Les Vergers du Vieux Tauves, ECLI:EU:C:2008:758, Rn. 44; EuGH v. 28. 2. 2008 – Rs. C263/06 – Carboni e derivati, ECLI:EU:C:2008:128, Rn. 48; EuGH v. 8. 12. 2005 – Rs. C-220/ 03 – EZB / Deutschland, ECLI:EU:C:2005:748, Rn. 31; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, Columbia Journal of European Law Vol. 20 (2014), 3 (19 f.) fu¨ hren hierzu weiter aus: „Stated simply, the ECJ will never ignore the clear and precise wording of an EU law provision.“, bzw. „of course, the general principle of interpretation must not trespass on the limit of ,contra legem‘“.

§ 8 Missbrauchsverbot als Rechtsgrundsatz des Primärrechts

245

tigung subjektiver Kriterien904. Auch im Rahmen der teleologischen Auslegung, die nach den Zielen der unionsrechtlichen Bestimmung fragt, kommt es auf subjektive Vorstellungen der Beteiligten grundsätzlich nicht an. Das Ziel einer unionsrechtlichen Bestimmung ist nicht abhängig von den subjektiven Intentionen der Gestalter. Insbesondere lässt sich der vom EuGH entwickelte Maßstab, nach dem legitime Erwägungen illegitime Gründe überwiegen müssen, nicht aus dem umgangenen bzw. missbrauchten Gesetz selbst ableiten, sondern der Maßstab ist Teil der determinierten Voraussetzungen des Missbrauchsverbots als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. Wie Snell zu Recht anmerkt, würde eine Missbrauchsbekämpfung in Form eines Auslegungsmittels häufig die legitimen Grenzen der Auslegung überschreiten, sodass der Implementierung eines eigenständigen Rechtsgrundsatzes als Rechtsgrundlage Legitimationswirkung zukommt905. Aus dem Zusammenspiel der weiten Auslegung unionsrechtlicher Freiheiten und dem Missbrauchskorrektiv als allgemeinem Rechtsgrundsatz mit determinierten Voraussetzungen werden unionsrechtlich garantierte Grundfreiheiten auch nicht „vergötzt“, sondern ihnen wird der ihnen gebührende, möglichst weite Anwendungsbereich gewährt, deren Einschränkung nur als Ausnahme unter den strikten Voraussetzungen des Missbrauchsverbots gerechtfertigt werden kann.

IV. Folgerungen: Allgemeiner Rechtsgrundsatz des Primärrechts Zieht man Bilanz, so ist das Missbrauchsverbot mittlerweile als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts fest etabliert und nicht nur als Interpretationshilfe zur Auslegung des Unionsrechts anzusehen906. Das in langjähriger Einzelfallrechtsprechung entwickelte Missbrauchsverbot des EuGH hat sich mittlerweile zu einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verfestigt, ist schon heute Teil des geltenden Unionsrechts und kann in der Zukunft vom EuGH weiterentwickelt werden. Als allgemeiner Rechtsgrundsatz ist das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als Teil der Primärrechtsordnung anzusehen (Art. 6 EUV). In dieser Rechtsnatur kann es durch Sekundärrecht und Judikatur des EuGH für bestimmte 904 EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 95 f.; so auch schon EuGH v. 10. 7. 1986 – Rs.79/85 – Segers, ECLI:EU:C:1986:308, Rn. 16 und EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 17 f.; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 55 f.; EuGH v. 27. 9. 2007 – Rs. C-409/04 – Teleos, ECLI:EU:C:2007:548, Rn. 38; EuGH v. 7. 12. 2010 – Rs. C-285/09 – R., ECLI:EU:C:2010:742, Rn. 39. 905 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (223). 906 Es heißt dementsprechend nunmehr explizit in EuGH v. 6. 2. 2018 – Rs. C-359/16 – Altun u. a., ECLI:EU:C:2018:63, Rn. 49: „Der in dieser Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist.“

246

Zweiter Hauptteil

Teilbereiche weiter konkretisiert und ausdifferenziert werden. Dies ermöglicht dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot die Wahrnehmung seiner wichtigen Funktion zur Normbehauptung als Selbstschutzmechanismus des Unionsrechts.

Dritter Hauptteil

Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht ist nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot nicht erlaubt1. Es findet – wie dargelegt – als allgemeiner Rechtsgrundsatz in allen Bereichen des Unionsrechts, also auch im Steuerrecht, Anwendung. Da das Missbrauchsverbot wesentlich im Steuerrecht entwickelt wurde2, erhielt es hier besondere Konturen, die im Folgenden untersucht werden sollen. Es ist eine ,Konkretisierung‘ des allgemeinen Missbrauchsverbots durch den Unionsgesetzgeber und den EuGH im steuerrechtlichen Kontext zu verzeichnen3. Wegen der faktischen Bindungswirkung der Judikatur des Gerichtshofs wird dem EuGH in der Literatur mitunter die Funktion eines „zweiten Steuergesetzgebers“ zugeschrieben4. 1 So schon anklingend in EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 – Van Binsbergen, ECLI:EU:C:1974:131, Rn. 13; EuGH v. 5. 10. 1994 – Rs. C-23/93 – TV 10, ECLI:EU:C:1994:362, Rn. 21; EuGH v. 10. 1. 1985 – Rs. 229/83 – Leclerc, ECLI:EU:C:1985:1, Rn. 27; EuGH v. 21. 6. 1988 – Rs. 39/86 – Lair, ECLI:EU:C:1988:322, Rn. 43 und EuGH v. 3. 3. 1993 – Rs. C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rn. 21 und explizit ab EuGH v. 2. 5. 1996 – Rs. C-206/94 – Paletta, ECLI:EU:C:1996:182, Rn. 24; EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-367/96 – Kefalas, ECLI:EU:C:1998:222, Rn. 20; EuGH v. 23. 3. 2000 – Rs. C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150, Rn. 33; EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 51; EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/ 03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 32; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 68; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 35; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/ 05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 38; EuGH v. 8. 11. 2007 – Rs. C-251/06 – ING. Auer, ECLI:EU:C:2007:658, Rn. 41 f.; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C-162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301, Rn. 27; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 29; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 42. 2 De la Feria, Introducing the Principle of Prohibition of Abuse of Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. XV; de la Feria, Common Market Law Review 45 (2008), 395 (418 ff.); Ringe, Sparking Regulatory Competition in European Company Law – The impact of the Centros Line of Case-Law and its Concept of „Abuse of Law“, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 107. 3 So Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 67, zu einer Konkretisierung durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln. 4 Stewen, EuR 2008, 445 m.w.N.

248

Dritter Hauptteil

Der besonderen Ausprägung des europäischen Missbrauchsverbots im Steuerrecht liegt das spezielle Problem des Steuerrechts zugrunde, die für die Besteuerung maßgebliche ökonomische Realitäten im Wege des Privatrechts erfassen zu müssen, obwohl die ökonomische Realität von der rechtlich abbildbaren Realität abweichen kann und die rechtliche Würdigung deshalb nicht immer dem wirtschaftlichen Ergebnis gerecht wird5. Wegen dieser Divergenz zwischen ökonomischer Realität und rechtlicher Ausgestaltung steuerlich relevanter Sachverhalte kommt dem europäischen Missbrauchsverbot eine bedeutende Rolle zu, um dazu beizutragen, diese Lücke zwischen rechtlicher Form und wirtschaftlicher Substanz zu schließen. Die besondere Bedeutung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Steuerrecht lässt sich auch darin erkennen, dass die Vermeidung von Steuerumgehung von der Kommission zum Programm erkoren wurde6 und erklärtes Ziel einiger Sekundärregelungen ist7. Während Mitgliedstaaten einerseits keine Maßnahmen gegen „genuine tax mitigation“ vornehmen dürfen, schützt das EU-Recht jedoch andererseits keine missbräuchlichen Gestaltungen zur Steuerumgehung8. Es kommt für die Abgrenzung legitimer und illegitimer steuerrechtlich relevanter Sachverhaltsgestaltungen auf die unionsrechtliche Unterscheidung zwischen (legaler) Steuerminderung9 und (illegaler) Steuerumgehung an. „To that end, the Court of Justice has developed the concept of ,abuse of law‘“10. Der in Art. 18 AEUV und Art. 20 GRC verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz wird dabei zum „archimedischen Punkt“ erklärt, der auf eine gleichmäßige Besteuerung wirtschaftlich gleicher Sachverhalte 5 Auf nationaler Ebene wurde zur Bewältigung dieser Problematik die von Enno Becker geprägte wirtschaftliche Betrachtungsweise in ihren verschiedenen Ausprägungsformen entwickelt; s. Becker, StuW 1932, Sp. 481; s. zum Verhältnis beider Teilrechtsordnungen und der Fehlerquelle des Zivilrechts für die steuerrechtliche Abbildbarkeit wirtschaftlicher Sachverhalte, Florstedt, Stand und Entwicklung der steuerrechtlichen Mitunternehmerdoktrin, S. 52 ff.; vgl. zur Bedeutung des Verhältnisses von zivilrechtlicher Form und steuerrechtlichem Sinnzusammenhang im Kontext des § 42 AO a.F. Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, S. 211 ff., 226 f. S. zum Verhältnis der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und dem Telos des Steuerrechts Crezelius, in: Festschrift Gosch, S. 47 (49). Zur Methodik einer europäischen wirtschaftlichen Betrachtungsweise für die Bilanzsteuerrechtsordnung und deren Auswirkung auf die juristische Abbildbarkeit ökonomischer Realitäten s. Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374. 6 Vgl. Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final, S. 2 ff. 7 Exemplarisch stellte der EuGH fest, „dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird.“ EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 48 (Zitat); s. auch schon EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 76 sowie EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 71. 8 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (330). 9 Lenaerts, Teise˙ 89 (2013), 219 („,tax mitigation‘ relates to situations where an individual (or a company) seeks, in compliance with the law, to minimise the taxes he or she (or it) pays“). 10 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (330) (Zitat); grundl. zu dieser Differenzierung ders., Teise˙ 89 (2013), 219 (220).

Die Konkretisierung des Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext

249

abzielt11. Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, „dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“12. Die Steuerumgehung stellt nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot einen speziellen Fall des Rechtsmissbrauchs dar, bei dem durch illegitime Steuervermeidungsstrategien versucht wird, einem vorteilhafteren Besteuerungssystem zu unterfallen und dadurch die ansonsten einschlägigen, weniger vorteilhaften Steuerregelungen zu umgehen13. Aus der Judikatur des EuGH zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot und aus dessen Verankerung im Sekundärrecht ergeben sich klare Aussagen zum unionsrechtlich autonomen Verständnis der Steuerumgehung. Wie der Gerichtshof formulierte, ist der Begriff der Steuerumgehung „ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff. Seine Definition steht daher nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten.“14 Der EuGH hat bspw. für Gestaltungen im Zusammenhang mit dem Mehrwertsteuersystem erklärt, die Anwendung des Unionsrechts könne nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Umsätze vom Unionsrecht gedeckt werden, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte stattfinden, sondern zum Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen15. Das Verständnis des Gerichtshofs zum Begriff der Steuerumgehung hat sich im Laufe der Rechtsprechung gewandelt. Zunächst ging der EuGH in der Rechtssache Direct Cosmetics Ltd noch davon aus, die Steuerumgehung (i. S. d. Artikel 27 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG) sei im Gegensatz zum Begriff der Steuerhinterziehung, die das „Merkmal der Absicht“ enthalte, ein „rein objektiver Tatbestand“16. Seit der Leur-Bloem-Rechtsprechung ist der Gerichtshof von dieser Einschätzung jedoch abgerückt und stellt auch bei einer Steuerumgehung maßgeblich auf die subjektiven steuerlichen Motive einer Gestaltung ab17. So werden Steuerumgehungen nunmehr auch als „künstliche Konstruktionen, die auf eine Umgehung des

11

Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (376). EuGH v. 10. 4. 2008 – Rs. C-309/06 – Marks & Spencer II, ECLI:EU:C:2008:211, Rn. 51. 13 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 64 („tax avoidance amounts to an undesirable choice of tax law, by which taxpayers seek to transfer either a tax liability to a low-tax jurisdiction or a tax deduction to a high-tax jurisdiction“). 14 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 20. 15 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 45 f.; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 26. 16 EuGH v. 12. 7. 1988 – verbundene Rs. 138/86 und 139/86 – Direct Cosmetics Ltd, ECLI:EU:C:1988:383, Rn. 21. 17 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 40 ff.; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 50 ff. 12

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Dritter Hauptteil

Steuerrechts […] gerichtet sind“ beschrieben18. Nach unionsrechtlichem Verständnis ist deshalb auch für Missbrauchsfälle im Steuerrecht eine subjektive Komponente notwendig, nach der bei der Prüfung einer potenziellen Steuerumgehung unter anderem die verfolgte Absicht zu ermitteln und somit auf das subjektive Element beim Gestaltungsmissbrauch abzustellen ist19. Das Konzept des Rechtsmissbrauchs umfasst auch nach Auffassung Lenaerts, des Präsidenten des EuGH, im Steuerrecht „both subjective and objective elements. Subjectively, the person or company concerned must have the intention of obtaining a tax advantage by creating wholly artificial arrangements“20. Es sollen im Folgenden die Besonderheiten des durch Legislative und Judikative im steuerrechtlichen Kontext konkretisierten Missbrauchsverbots untersucht werden.

§ 9 Die Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln Die Entwicklung der unionsrechtlichen Missbrauchsmethodik erfolgte zunächst im Rahmen der Judikatur des EuGH und erst Jahrzehnte später im Anschluss daran durch legislatives Sekundärrecht. Durch die Einordnung des Missbrauchsverbots als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts und damit als Primärrecht kann das Verbot, nach dem missbräuchliche Praktiken verboten sind, in bestimmten Rechtsbereichen für deren spezielle Besonderheiten durch sekundärrechtliche ausdrückliche Missbrauchsklauseln konkretisiert werden. Im Sekundärrecht finden sich zwar in vielen Rechtsgebieten Hinweise auf das Missbrauchsverbot21. Ausformulierte Missbrauchsklauseln mit Tatbestand und Rechtsfolge finden sich jedoch überwiegend im Steuerrecht. Auch die hier verwendeten Bestimmungen sind maßgeblich durch die Judikatur des EuGH geprägt. Missbrauchsklauseln finden sich hauptsächlich im Bereich der „binnenmarktrelevanten Richtlinien“ zu direkten Steuern (der Fusionsrichtlinie, der Mutter-TochterRichtlinie und der Zinsen- und Lizenzgebühren-Richtlinie) und regeln vor allem Detailbestimmungen zur Besteuerung multinationaler Konzerne22. Die Miss18 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 50 ff. 19 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370 EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 50 ff. 20 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (341). 21 S. oben, zweiter Hauptteil Fn. 2. 22 Vgl. zur direkten unionsrechtlichen Besteuerung Seiler, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 113 Rn. 50 ff. und zu den dazu verwendeten Missbrauchsklauseln Florstedt, FR 2016, 1 ff.

§ 9 Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots

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brauchsklauseln sollen die Ausnutzung der vorteilhaften Richtlinienbestimmungen für Gestaltungsstrategien zur Reduzierung der Steuerlast durch Steuerumgehungen verhindern23. Der Unionsgesetzgeber hat sich bei diesen ausformulierten Missbrauchsverboten keiner einheitlichen Terminologie bedient24. Trotz dieser uneinheitlichen Terminologie können die verschiedenen Missbrauchsklauseln dennoch als „Ausdruck eines einheitlichen Missbrauchskonzepts“ verstanden werden25. Nach den Vorgaben des EuGH ist auch bei den als Ausnahmefall konzipierten Missbrauchsverboten in sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln eine „globale“ Untersuchung „aller Umstände des Einzelfalls“ vorzunehmen26. Im Folgenden sollen die ausformulierten Missbrauchsklauseln auf ihre Aussagen hinsichtlich des Inhalts des Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext untersucht werden. Dabei sind die Entwicklung der Ausprägung formulierter Missbrauchsklauseln und die konkreten Aussagen hinsichtlich objektiver und subjektiver Voraussetzungen von besonderer Bedeutung.

I. Fusionsrichtlinie 1. Missbrauchsklausel Das erste ausformulierte unionsrechtliche Missbrauchsverbot findet sich in Art. 11 Buchstabe a der (Fusions-)Richtlinie 90/434/EWG vom 23. Juli 199027. Diese Klausel wurde mit minimaler Änderung in der Nachfolgeregelung der Fusionsrichtlinie 90/434/EWG wiederum in Art. 11 Buchstabe a der (Fusions-)Richtlinie 2005/19/EG vom 17. Februar 2005 übernommen28. 23 Staringer/Tüchler, Die Quellensteuerfreiheit nach der Mutter-Tochter-Richtlinie und nach der Zinsen/Lizenzgebühren-Richtlinie und ihre Umsetzung in Österreich, in: Lang/ Schuch/Staringer (Hrsg.), Quellensteuer, S. 281 (305). 24 Grundl. Florstedt, FR 2016, 1 ff.; Bergmann, StuW 2010, 246 (248). 25 Grundl. Florstedt, FR 2016, 1 (3 ff.); s. auch Bergmann, StuW 2010, 246 (249). 26 Thömmes, in: Festschrift Wassermeyer, S. 207 (231). 27 Art. 11 Buchstabe a der (Fusions-)Richtlinie 90/434/EWG vom 23. 7. 1990 lautete: „Ein Mitgliedstaat kann die Anwendung der Titel II, III und IV ganz oder teilweise versagen oder rückgängig machen, wenn eine Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder ein Austausch von Anteilen a) als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat. Vom Vorliegen eines solchen Beweggrundes kann ausgegangen werden, wenn die Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder der Austausch von Anteilen nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht“. 28 Art. 11 der (Fusions-)Richtlinie 2005/19/EG vom 17. 2. 2005 lautete: „Ein Mitgliedstaat kann die Anwendung der Titel II, III, IV und IV ganz oder teilweise versagen oder rückgängig machen, wenn die Fusion, Spaltung, Abspaltung, Einbringung von Unternehmensteilen, der Austausch von Anteilen oder die Verlegung des Sitzes einer SE oder einer SCE a) als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinter-

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Auch in der jüngsten Kodifizierung der (Fusions-)Richtlinie 2009/133/EG findet sich diese Klausel in Art. 15 ohne erhebliche Änderungen zu den Vorgängerregelungen29 : „(1) Ein Mitgliedstaat kann die Anwendung der Artikel 4 bis 14 ganz oder teilweise versagen oder rückgängig machen, wenn einer der in Artikel 130 genannten Vorgänge als hauptsächlichen Beweggrund oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat; vom Vorliegen eines solchen Beweggrundes kann ausgegangen werden, wenn der Vorgang nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht“.

2. Konkretisierung des allgemeinen Missbrauchsverbots durch die Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie Aufgrund der Formulierung „kann“ besteht keine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Missbrauchsklausel in nationales Recht umzusetzen31. Wird die Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie umgesetzt, konkretisiert die Missbrauchsklausel das allgemeine Missbrauchsverbot in mehrfacher Hinsicht für Missbräuche im Kontext der Fusionsrichtlinie: a) Beweggründe der Gestaltung und Maßstab Die Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie knüpft die Missbrauchsfeststellung ausschließlich an den Beweggrund der Steuerhinterziehung oder der Steuerumgeziehung oder -umgehung hat; vom Vorliegen eines solchen Beweggrundes kann ausgegangen werden, wenn einer der in Artikel 1 genannten Vorgänge nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen – insbesondere der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften – beruht;“. Der Anwendungsbereich richtete sich nach Art 1. der (Fusions-) Richtlinie 2005/19/EG: „Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie auf folgende Vorgänge an: a) Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, wenn daran Gesellschaften aus zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind; b) Verlegungen des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft […]“. 29 S. hierzu auch Staringer/Tüchler, Die Quellensteuerfreiheit nach der Mutter-TochterRichtlinie und nach der Zinsen/Lizenzgebühren-Richtlinie und ihre Umsetzung in Österreich, in: Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Quellensteuer, S. 281 (311 ff.). 30 Art. 1 der (Fusions-)Richtlinie 2009/133/EG lautet: „Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie auf folgende Vorgänge an: a) Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, wenn daran Gesellschaften aus zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind; b) Verlegungen des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft (Societas Europaea – SE) im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 u¨ ber das Statut der Europa¨ ischen Gesellschaft (SE) (1) oder einer Europa¨ ischen Genossenschaft (SCE) im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 u¨ ber das Statut der Europa¨ ischen Genossenschaft (SCE) (2) von einem Mitgliedstaat in einen anderen.“. 31 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (455 f.).

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hung. Dieser Tatbestand wird zwar nicht näher definiert, doch als Wertungsmaßstab werden vernünftige wirtschaftliche Gründe als missbrauchsausschließendes Kriterium angeführt. Daneben enthält die Missbrauchsklausel keine weiteren – etwa dem objektiven Missbrauchselement entsprechenden – Vorgaben hinsichtlich der Prüfung der Transaktion an den Zielen der Fusionsrichtlinie. Ob eine zu missbilligende Steuerumgehung vorliegt, soll anhand der subjektiven Beweggründe ermittelt werden. Subjektive Kriterien werden dabei in zweifacher Hinsicht relevant: (1) Zunächst ist das Vorliegen einer Steuerumgehung von den mit der Transaktion verfolgten Zielen abhängig, sodass die good business reasons – die vernünftigen wirtschaftlichen Gründe, wie sie am Ende der Klausel typisierend als Gründe der Umstrukturierung oder Rationalisierung aufgeführt werden – mit dem verfolgten Steuervorteil abzuwägen sind. (2) Daneben soll es bereits genügen, wenn in subjektiver Hinsicht eine solche ermittelte Steuerumgehung den hauptsächlichen oder sogar bereits einen der hauptsächlichen Beweggründe darstellt. Es fällt daher auf, dass die Missbrauchsklausel zur Feststellung eines Missbrauchs ausschließlich nach der Intention der steuermindernden Gestaltung fragt und einzig vernünftige wirtschaftliche Gründe einen Missbrauch ausschließen sollen32. Die zu missbilligenden Beweggründe müssen objektiv nachvollziehbar ermittelt werden können. Der EuGH hat dabei entschieden, dass das alleinige Streben nach einem Steuervorteil oder nach einem horizontalen Verlustausgleich keinen vernünftigen wirtschaftlichen Grund darstellt33. Im Ergebnis wertet die Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie die Bedeutung subjektiver Kriterien deutlich auf, indem das subjektive Element das entscheidende Kriterium der Missbrauchsfeststellung wird. Es kann daraus geschlossen werden, dass im Bereich der Fusionsrichtlinie beim Vorliegen des Beweggrundes der Steuerumgehung eine Zielverfehlung – und damit in objektiver Hinsicht eine missbräuchliche Gestaltung – stets gegeben ist. b) Beweislast für das Vorliegen vernünftiger wirtschaftlicher Gründe Aus der negativen Formulierung der Missbrauchsklausel lässt sich eine Beweislast des Steuerpflichtigen für das Vorliegen vernünftiger wirtschaftlicher Gründe schließen, was auch auf die praktische Überlegung zurückzuführen ist, dass der Nachweis des Nichtvorliegens nur schwer zu erbringen ist und nur der Steuerpflichtige über die wirtschaftlichen Hintergründe einer Gestaltung im Bilde ist34.

32

S. zu den Voraussetzungen auch Fehling, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 17.81 ff. 33 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 47. 34 Terra/Wattel, European Tax Law, S. 693 f.; Fehling, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 17.83 f.

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II. Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften Wie wichtig es dem Unionsgesetzgeber ist, Sachverhalte ihrem wirtschaftlichen Gehalt entsprechend zu erfassen, um missbräuchliche Berufungen auf das Unionsrecht zu unterbinden, zeigt sich, wenn es um den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft geht. Die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 vom 18. Dezember 1995 soll einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen für alle Bereiche der Gemeinschaftspolitik festlegen, um Betrug wirksam bekämpfen zu können. Dazu führt sie Kontrollen und verwaltungsrechtliche Sanktionen ein, um die finanziellen Interessen der Gemeinschaft zu schützen35. Bei der Analyse der Missbrauchsklausel ist zu berücksichtigen, dass sich der Anwendungsbereich der Verordnung nicht speziell auf das Steuerrecht bezieht, sondern allgemein die finanziellen Interessen der Union umfassend schützen soll. Ursprünglich hatte die Kommission hierzu zunächst folgende Fassung der Missbrauchsklausel vorgeschlagen36: „Mißbrauch der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften ist jede Handlung, die darauf abzielt, unrechtmäßig Vorteile zu erlangen, indem durch Scheingeschäfte oder Umgehungshandlungen eine Situation geschaffen wird, die zwar formell die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, jedoch eines echten wirtschaftlichen Beweggrundes entbehrt und den Zielen der betreffenden Gemeinschaftsregelung entgegensteht.“

Eine Missbrauchsbekämpfungsklausel ist letztlich in anderer Form umgesetzt worden und folgendermaßen in Art. 4 Abs. 3 formuliert: „Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, daß der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird.“

Die letztlich verabschiedete Fassung verzichtet auf das Abstellen auf Scheingeschäfte und Umgehungshandlungen und bewertet stattdessen die mit der Gestaltung verfolgten Ziele, indem die Art und Weise der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen auf das abstrakte Merkmal der Künstlichkeit der Sachverhaltsgestaltung hin untersucht wird. Die erlassene Missbrauchsklausel entspricht bereits weitestgehend dem Missbrauchskonzept des Gerichtshofs, wenn in objektiver Hinsicht allgemein die Gewährung des unionsrechtlich vorgesehenen Vorteils der Zielsetzung der Unionsregelung widersprechen muss („Zielsetzung der einschlägigen Gemeinschaftsvorschrift zuwiderläuft“) und in subjektiver Hinsicht die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung im Sinne der künstlichen Konstruktion bewertet wird („indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen 35 Vgl. Erwägungsgründe der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften. 36 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften v. 15. 6. 1994, Kom (94) 214 final, Art. 3 Abs. 1.

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werden“). Die verabschiedete Fassung hat im Verhältnis zu der von der Kommission vorgeschlagenen Version durch ihre abstraktere Formulierung einen weiteren Anwendungsbereich, kann durch entsprechende Auslegung des Begriffs der Künstlichkeit durch den Gerichtshof an neue Erscheinungsformen des Missbrauchs angepasst werden und ist deshalb zur Normbehauptung besser geeignet. Anders als die auf das Steuerrecht spezialisierte Missbrauchsklausel der Fusionsrichtlinie ist die Klausel der Verordnung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union auf einen möglichst weiten Anwendungsbereich gerichtet, sodass im Unterschied zur Klausel der Fusionsrichtlinie keine – etwa auf den Begriff der Steuerumgehung abstellende – Konkretisierung des allgemeinen Missbrauchsverbots vorgenommen wird. Dies unterstreicht die Sonderstellung steuerrechtlich relevanter Missbrauchsklauseln.

III. Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie Auch die (Zins- und Lizenzgebühren-)Richtlinie 2003/49/EG vom 3. Juni 2003 enthält unter der Überschrift „Betrug und Missbrauch“ in Art. 5 Abs. 1 eine Öffnungsklausel für nationale Maßnahmen zur Verhinderung von Missbräuchen und in Abs. 2 eine ausformulierte Missbrauchsklausel37: „(1) Diese Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Betrug und Missbrauch nicht entgegen. (2) Die Mitgliedstaaten können im Fall von Transaktionen, bei denen der hauptsächliche Beweggrund oder einer der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung, die Steuerumgehung oder der Missbrauch ist, den Rechtsvorteil dieser Richtlinie entziehen bzw. die Anwendung dieser Richtlinie verweigern.“

Neben der Öffnungsklausel in Abs. 1, die – der Judikatur des EuGH entsprechend – die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Implementierung nationaler Missbrauchsklauseln bekräftigt, ist in Abs. 2 eine offensichtlich an der Klausel der Fusionsrichtlinie orientierte Missbrauchsklausel vorgesehen, die darlegt, unter welchen Voraussetzungen Mitgliedstaaten die Gewährung der aus der Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie stammenden Vorteile verweigern können. Es kommt als Voraussetzung der Missbrauchsklausel – wie bei der Fusionsrichtlinie – einzig auf den Beweggrund einer Transaktion an, wonach das Motiv einer Steuerhinterziehung, der Steuerumgehung oder eines Missbrauchs die Nichtgewährung der Richtlinienvorteile rechtfertigt. Anders als die Fusionsrichtlinie enthält die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie keine weiteren typisierenden Vorgaben dahingehend, wann die illegitimen Beweggründe vorliegen sollen.

37 Vgl. zu Voraussetzungen der Missbrauchsklausel Staringer/Tüchler, Die Quellensteuerfreiheit nach der Mutter-Tochter-Richtlinie und nach der Zinsen/Lizenzgebühren-Richtlinie und ihre Umsetzung in Österreich, in: Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Quellensteuer, S. 281 (305 ff.).

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IV. Empfehlung der Kommission vom 6. Dezember 2012 betreffend aggressive Steuerplanung Um Missbräuche auf dem Gebiet der unionsrechtlich geschützten direkten Besteuerung zu verhindern, veröffentlichte die Kommission im Jahr 2012 die richtungsweisende Empfehlung zur Verhinderung aggressiver Steuerplanung. 1. Kontext der Empfehlung Aufgrund der immer ausgefeilteren, länderübergreifenden Steuerplanungsstrukturen, die „Gewinne in Staaten mit vorteilhaften Steuersystemen“ verlagern, indem Gestaltungen „die Steuerschuld durch Vorkehrungen senken, die zwar durchaus legal sind, aber zur Absicht des Gesetzes im Widerspruch stehen“38, schlug die Kommission in ihrer Empfehlung betreffend aggressive Steuerplanung ein einheitliches „Grundkonzept“ zur unionssteuerrechtlichen Normbehauptung vor, da einzelstaatliche Bemühungen zur Verhinderung aggressiver Steuerplanung, die darin bestehen, „die Feinheiten eines Steuersystems oder Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehr Steuersystemen auszunutzen, um die Steuerschuld zu senken“, regelmäßig nicht wirksam genug seien und nationale Gesetzgeber häufig nicht rechtzeitig reagieren könnten39. Die aus dieser aggressiven Steuerplanung resultierende doppelte Nichtbesteuerung könnte „zu künstlichen Kapitalflu¨ ssen und künstlicher Mobilität von Steuerpflichtigen im Binnenmarkt fu¨ hren und auf diese Weise dessen ordnungsgemäßes Funktionieren beeinträchtigen und die Steuerbemessungsgrundlagen der Mitgliedstaaten aushöhlen“40. Die Kommission schlug deshalb eine in allen Mitgliedstaaten umzusetzende Missbrauchsklausel auf dem Gebiet der direkten Steuern vor, „mit der auch die Komplexität mehrerer unterschiedlicher Vorschriften vermieden werden sollte“, wobei jedoch „die mit dem Unionsrecht gesetzten Grenzen in Bezug auf Missbrauchsbekämpfungsvorschriften berücksichtigt werden“ müssten41. 2. Allgemeine Missbrauchsklausel Den Mitgliedstaaten wurde empfohlen, um der aggressiven Steuerplanung entgegenzuwirken, auf nationaler Ebene eine allgemeine Missbrauchsbekämpfungsklausel für „inländische und grenzübergreifende“ Gestaltungen zu erlassen. Als 38 Erwägungsgrund 1 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final. 39 Erwägungsgründe 2 und 8 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final. 40 Erwägungsgrund 5 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final. 41 Erwägungsgrund 8 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final.

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Vorbild sollte folgende von der Kommission vorgeschlagene Missbrauchsklausel dienen42 : „4.2. Eine künstliche Vorkehrung oder eine künstliche Reihe von Vorkehrungen, die mit dem wesentlichen Zweck eingeführt wurde, eine Besteuerung zu vermeiden und die zu einem steuerlichen Vorteil führt, bleibt außer Acht. Die nationalen Behörden behandeln solche Vorkehrungen für steuerliche Zwecke entsprechend ihrer wirtschaftlichen Substanz.“

Im Zentrum der vorgeschlagenen Missbrauchsklausel steht die künstliche Vorkehrung, die nach Nr. 4.3 aus einem oder mehreren Schritten bestehen kann und „Transaktionen, Regelungen, Handlungen, Vorgänge, Vereinbarungen, Zusagen, Verpflichtungen oder Ereignisse“ umfasst. Nach Nr. 4.4 soll eine Vorkehrung oder eine Reihe von Vorkehrungen dann als künstlich gelten, „wenn sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hat“. Weiter sind typische Fallgruppen künstlicher Vorkehrungen aufgeführt, die bei der nationalen Missbrauchsprüfung zu beachten seien43. In objektiver Hinsicht sollte nach Nr. 4.5 der Zweck einer Vorkehrung, die Besteuerung zu vermeiden, davon abhängig sein, ob die Gestaltung „Gegenstand, Geist und Zweck der Steuervorschriften unterläuft, die andernfalls gelten würden.“44 Es werden demnach die objektive Zielverfehlung – unter Bezugnahme auf den kaum greifbaren Geist einer Vorschrift – und subjektive Zwecke der Vorkehrung miteinander vermengt. Die Wirksamkeit zur Normbehauptung wird nach der Empfehlung der Kommission deutlich reduziert, da nach Nr. 4.6 eine Vorkehrung nur dann als wesentlichen Zweck habe, die Besteuerung zu vermeiden, „wenn jeder andere Zweck, der der Vorkehrung oder der Reihe von Vorkehrungen zugeschrieben wird oder werden könnte, in Anbetracht aller Umstände des Falls allenfalls als vernachlässigbar gilt“45. Es überrascht daher nicht, dass sich die in der Empfehlung vorgeschlagene Klausel im Ergebnis nicht in dieser Form durchgesetzt hat.

42 Nr. 4.1 der Empfehlung der Kommission vom 6. 12. 2012 betreffend aggressive Steuerplanung C(2012) 8806 final. 43 Die Typisierung umfasst folgende Fallgruppen: „(a) die rechtlichen Merkmale der einzelnen Schritte, aus denen eine Vorkehrung besteht, stehen nicht im Einklang mit der rechtlichen Substanz der Vorkehrung als Ganzes; (b) die Vorkehrung oder die Reihe von Vorkehrungen wird auf eine Weise ausgeführt, die bei einem als vernünftig anzusehenden Geschäftsgebaren in der Regel nicht angewandt würde; (c) die Vorkehrung oder die Reihe von Vorkehrungen umfasst Elemente, die die Wirkung haben, einander auszugleichen oder aufzuheben; (d) die Transaktionen sind zirkulär; (e) die Vorkehrung oder die Reihe von Vorkehrungen führt zu einem bedeutenden steuerlichen Vorteil, der sich aber nicht in den vom Steuerpflichtigen eingegangenen unternehmerischen Risiken oder seinen Cashflows widerspiegelt; (f) der erwartete Gewinn vor Steuern ist unbedeutend im Vergleich zum Betrag des erwarteten steuerlichen Vorteils.“ 44 Um zu bestimmen, ob eine Vorkehrung zu einem steuerlichen Vorteil geführt hat, schreibt Nr. 4.7 vor, die Steuerschuld, die „der Steuerpflichtige angesichts dieser Vorkehrung(en) schuldet, mit dem Betrag zu vergleichen, den derselbe Steuerpflichtige unter denselben Umständen ohne diese Vorkehrung(en) schulden würde.“ 45 Florstedt, FR 2016, 1 (4).

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V. Mutter-Tochter-Richtlinie Eine weitere Kodifizierung einer allgemeinen Missbrauchsklausel in sekundärrechtlichen Steuervorschriften findet sich in der Mutter-Tochter-Richtlinie in ihrer am 27. Januar 2015 geänderten Form. In der Mutter-Tochter-Richtlinie 90/435/EWG vom 23. Juli 1990 war zunächst lediglich eine Öffnungsklausel für nationale Missbrauchsklauseln in Art. 1 Abs. 2 vorgesehen46: „Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegen.“

Da diese Öffnungsklausel nicht die notwendige Wirkung der Normbehauptung zur Folge hatte, schlug die Kommission die Einführung einer neuen allgemeinen Missbrauchsklausel vor, die nicht nur nationale Maßnahmen legitimierte, sondern unionsrechtliche Vorgaben aufstellte, um Missbräuche durch Ausnutzung der Mutter-Tochter-Richtlinie zu verhindern47. 1. Vorschlag der Kommission vom 25. November 2013 zur Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie Aufgrund der aus dem Missbrauch der Mutter-Tochter-Richtlinie ggf. folgenden doppelten Nichtbesteuerung, die zu erheblichen Steuerausfällen der Mitgliedstaaten und Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt führen kann, erkannte die Kommission das Erfordernis, „dringend und koordiniert“ zu handeln, „um steuerliche Schlupflöcher zu schließen“48. Die bisher in der Mutter-Tochter-Richtlinie enthaltene Öffnungsklausel sei „unklar und könnte Verwirrung stiften“49 und war somit kein wirksames Mittel der Missbrauchsverhinderung. Die Kommission schlug deshalb eine den Grundsätzen der Empfehlung betreffend aggressive Steuerplanung entsprechende „umfassendere allgemeine Regel zur Missbrauchsbekämpfung“ vor50, da eine unionsweit einheitliche Missbrauchsbeka¨ mpfungsregel „Steuerpflichtigen und Steuerverwaltungen Klarheit und Rechtssicherheit“ verschaffen würde, insbesondere weil die nationalen Missbrauchsbekämpfungsregelungen un46

Ausf. zur alten Klausel Kofler, Mutter-Tochter-Richtlinie Kommentar, Art. 1 Rn. 61 ff.; s. auch Staringer/Tüchler, Die Quellensteuerfreiheit nach der Mutter-Tochter-Richtlinie und nach der Zinsen/Lizenzgebühren-Richtlinie und ihre Umsetzung in Österreich, in: Lang/Schuch/ Staringer (Hrsg.), Quellensteuer, S. 281 (305 ff.). 47 Zum Verhältnis des Vorschlags der Kommission und der letztendlich verabschiedeten Fassung vgl. Florstedt, FR 2016, 1 (4). 48 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie vom 25. 11. 2013 COM(2013) 814, S. 2. 49 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie vom 25. 11. 2013 COM(2013) 814, S. 3. 50 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie vom 25. 11. 2013 COM(2013) 814, S. 3.

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terschiedlichen Zielen dienen würden und auf „spezielle Probleme des jeweiligen Landes vor dem Hintergrund seines Steuersystems“ zurückgingen51. Durch eine einheitliche Missbrauchsbekämpfung hingegen lasse sich das Problem des „Richtlinienshopping“ beheben, „bei dem sich Gesellschaften fu¨ r ihre Investitionen zwischengeschalteter Unternehmen in Mitgliedstaaten bedienen, in denen die Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung weniger streng sind oder in denen es überhaupt keine Regeln gibt“52. Der Vorschlag der Kommission enthielt eine allgemeine Missbrauchsklausel, die auf dem Vorbild der Empfehlung betreffend aggressive Steuerplanung beruhte und diesem entsprechend durch typisierende Fallgruppenbildung ergänzt werden sollte. Folgende Klausel wurde von der Kommission zur Einführung in die nationalen Rechtsordnungen vorgeschlagen: „(1) Im Falle einer künstlichen Gestaltung oder einer künstlichen Reihe von Gestaltungen, die dem wesentlichen Zweck dient, im Rahmen dieser Richtlinie einen unangemessenen steuerlichen Vorteil zu erlangen, und die Geist, Ziel und Zweck der herangezogenen Steuervorschrift zuwiderläuft, entziehen die Mitgliedstaaten den mit dieser Richtlinie gewährten Vorteil.“53

Die von der Kommission vorgeschlagene allgemeine Missbrauchsklausel enthielt, der Judikatur des EuGH entsprechend, ein subjektives Element (der wesentliche Zweck, einen unangemessenen Steuervorteil zu erlangen) und ein objektives Element (der Steuervorteil müsse dem Geist, Ziel und Zweck der Steuervorschrift zuwiderlaufen). Das subjektive Element orientiert sich zwar insoweit an den Vorgaben des Gerichtshofs, als der wesentliche Zweck in der Erlangung eines Steuervorteils liegen muss. Dieser angestrebte Steuervorteil muss nach dem Vorschlag der Kommission jedoch unangemessen sein. Diese Formulierung ist problematisch, da aus der Klausel nicht hervorgeht, wann der Steuervorteil unangemessen ist und ob diese Unangemessenheit objektiver oder subjektiver Natur ist. Daneben beinhaltet der Vorschlag der Kommission Wertungskriterien zur Bestimmung der Künstlichkeit 51 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie vom 25. 11. 2013 COM(2013) 814, S. 5. 52 Vorschlag der Kommission zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie vom 25. 11. 2013 COM(2013) 814, S. 5. 53 Abs. 2 lautete: „Transaktionen, Regelungen, Handlungen, Vorgänge, Vereinbarungen, Zusagen oder Verpflichtungen gelten als künstliche Gestaltung oder als Teil einer künstlichen Reihe von Gestaltungen, wenn sie die wirtschaftliche Realität nicht widerspiegeln. Zur Feststellung, ob eine Gestaltung oder eine Reihe von Gestaltungen künstlich ist, prüfen die Mitgliedstaaten insbesondere, ob eine oder mehrere der folgenden Situationen vorliegt: a) Die rechtlichen Merkmale der einzelnen Schritte, aus denen eine Gestaltung besteht, stehen nicht im Einklang mit der rechtlichen Substanz der Gestaltung als Ganzes; b) die Gestaltung wird auf eine Weise ausgeführt, die bei einem als vernünftig anzusehenden Geschäftsgebaren in der Regel nicht angewandt würde; c) die Gestaltung umfasst Elemente, die einander ausgleichen oder aufheben; d) die Transaktionen sind zirkulär; e) die Gestaltung führt zu einem bedeutenden steuerlichen Vorteil, der sich nicht in den vom Steuerpflichtigen eingegangenen unternehmerischen Risiken oder seinen Cashflows widerspiegelt.“

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einer Transaktion, da in Abs. 2 die wirtschaftliche Realität der Transaktion hinterfragt wird. Wenn daneben in objektiver Hinsicht auf einen Verstoß gegen „Geist, Ziel und Zweck“ abgestellt wird, ist nicht ersichtlich, weshalb der irreführende Verweis auf den Geist einer Steuervorschrift von dem in der Judikatur vorbereiteten Anknüpfungspunkt der Telosprüfung durch das objektive Element abweicht, der lediglich nach einem Zielverstoß fragt. 2. Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der Mutter-Tochter-Richtlinie Am 27. Januar 2015 wurde die Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der (Mutter-Tochter-)Richtlinie 2011/96/EU erlassen. Nach Erwägungsgrund 2 dieser Änderungsrichtlinie müsse durch die Einführung einer allgemeinen Missbrauchsklausel sichergesellt werden, „dass die Richtlinie 2011/96/EU nicht von Steuerpflichtigen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, missbraucht wird.“ Hieraus folgt, dass zunächst auch missbräuchliche Praktiken vom Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst werden und nicht schon, wie von Kritikern der Einstufung des allgemeinen Missbrauchsverbots als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts gefordert, im Wege der teleologischen Reduktion die Berufung auf den Anwendungsbereich verwehrt wird, sondern erst auf der Stufe der Missbrauchsprüfung die missbräuchliche Gestaltung nicht anerkannt wird. In einigen Mitgliedstaaten seien keine Bestimmungen zur Missbrauchsverhinderung vorhanden und die in den anderen Mitgliedstaaten verwendeten Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder missbräuchlichen Praktiken seien im Detail unterschiedlich streng und jeweils auf die besonderen jeweiligen Steuersysteme der Mitgliedstaaten zugeschnitten, weshalb die Einführung einer „gemeinsamen Deminimis-Missbrauchsbekämpfungsvorschrift in die Richtlinie 2011/96/EU sehr hilfreich sei, um Missbräuche jener Richtlinie zu verhindern und mehr Kohärenz bei ihrer Anwendung in verschiedenen Mitgliedstaaten zu gewährleisten“54. Die Erwägungen orientieren sich dabei an den Vorgaben der EuGH-Judikatur, wenn es heißt: „Die Anwendung von Missbrauchsbekämpfungsvorschriften sollte verhältnismäßig sein und dem besonderen Zweck dienen, Gestaltungen oder eine Abfolge von Gestaltungen, die unangemessen sind, d. h. nicht der wirtschaftlichen Realität entsprechen, zu verhindern.“55 Um diesen Grundsätzen zu entsprechen, müssten die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten zur Missbrauchsfeststellung deshalb „eine objektive Analyse aller relevanten Fakten und Umstände vornehmen“56. 54 Erwägungsgründe 3 ff. der Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der (Mutter-Tochter-) Richtlinie 2011/96/EU. 55 Erwägungsgrund 6 der Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der (Mutter-Tochter-) Richtlinie 2011/96/EU. 56 Erwägungsgrund 7 der Richtlinie 2015/121/EU zur Änderung der (Mutter-Tochter-) Richtlinie 2011/96/EU.

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Aufgrund der Richtlinie 2015/121/EU erhielt Art. 1 der (Mutter-Tochter-) Richtlinie 2011/96/EU eine allgemeine Missbrauchsklausel in folgender Fassung: „(2) Liegt – unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umstände – eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft, so gewähren die Mitgliedstaaten Vorteile dieser Richtlinie nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen. (3) Für die Zwecke von Abs. 2 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge von Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, wie sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. (4) Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder Missbrauch nicht entgegen.“

Die verabschiedete Missbrauchsklausel enthält sowohl objektive als auch subjektive Kriterien, verzichtet jedoch auf die im Vorschlag der Kommission enthaltenen typisierenden Fallgruppen. Dem objektiven Element des allgemeinen Missbrauchsverbots und somit den Vorgaben des EuGH entsprechend wird der beabsichtigte Steuervorteil an den Zielen der Richtlinie und nicht an deren Geist gemessen. Anders als die Missbrauchsklauseln der Fusionsrichtlinie und der Zinsenund Lizenzgebührenrichtlinie ist nach der Missbrauchsklausel der Mutter-TochterRichtlinie nicht die Steuerumgehung, sondern schlicht der Steuervorteil Anknüpfungspunkt der Missbrauchsprüfung. Da dieser Steuervorteil, anders als der Begriff der Steuerumgehung, zunächst wertneutral ist, kann aus ihm noch kein Missbrauch geschlossen werden, sondern für den Nachweis eines Missbrauchs muss ein Zielverstoß erst positiv festgestellt werden. Weitere Vorgaben oder Wertungskriterien zur Bestimmung dieses objektiven Missbrauchselements enthält die Missbrauchsklausel der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht. Dahingegen beinhaltet die Missbrauchsklausel konkrete Vorgaben zur Feststellung der subjektiven Komponente. Zunächst muss der wesentliche oder einer der wesentlichen Zwecke in der Erlangung eines Steuervorteils liegen. Dieser Steuervorteil muss durch eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen erreicht werden. Lohnenswert für die Analyse dieses Merkmals der Missbrauchsklausel ist ein Vergleich mit der englischen und der französischen Fassung, die anstelle des wertungsbedürftigen Begriffs „unangemessen“ schlicht von „not genuine“ bzw. „non authentique“ sprechen. Diese Unangemessenheit der Gestaltung wird in der verabschiedeten Fassung näher definiert, wenn auf das Fehlen triftiger wirtschaftlicher Gründe abgestellt wird. Welche Gründe triftig sind, wird nicht näher bestimmt. Im Ergebnis werden Form und Substanz einer Gestaltung verglichen, wenn es darauf ankommt, ob die angeführten Gründe einer Gestaltung der wirtschaftlichen Realität entsprechen.

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Dritter Hauptteil

Wegen ihrer hohen Bedeutung ist die Umsetzung der Missbrauchsklausel nicht fakultativ. In Art. 2 der Richtlinie 2015/121/EU ist erstmals die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorgesehen, eine unionsrechtliche Missbrauchsregelung in nationales Recht umsetzen zu müssen, wobei ausdrücklich bei der Veröffentlichung der nationalen Bestimmung auf die Richtlinie Bezug genommen werden muss57. Trotz der dargelegten Besonderheiten dieser Klausel hält die Bundesrepublik Deutschland eine Durchführungsmaßnahme zur Umsetzung der Regelung für nicht erforderlich58.

VI. Nationale Maßnahmen zur Umsetzung von sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen Soweit das EU-Recht den Mitgliedstaaten den Inhalt des zur Umsetzung notwendigen nationalen Rechts präzise vorschreibt, gibt es keine Möglichkeiten für den nationalen Gesetzgeber oder die nationale Rechtsprechung, von diesen Vorgaben abzuweichen, es sei denn, solche sind in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen59. Obwohl eine umfängliche Missbrauchsklausel im Bereich der Mehrwertsteuer nicht enthalten ist, sind auch hier die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, das vom EuGH entwickelte unionsrechtliche Missbrauchskonzept anzuwenden, da das Mehrwertsteuersystem den nationalen Gesetzgebern keinen Freiraum zur Entscheidung einräumt, wer von den Mehrwertsteuerregelungen profitieren soll60. Existiert eine ausdrückliche sekundärrechtliche Regelung in Form einer Missbrauchsklausel, besteht zunächst die Pflicht der Mitgliedstaaten, alle nationalen Maßnahmen zu ergreifen, um die „Wirksamkeit der Regelung gemäß ihrer Zielsetzung zu gewährleisten“; es stehe dabei jedoch im Ermessen der Mitgliedstaaten zu bewerten, mit welchen nationalen Mitteln die Richtlinie bestmöglich umgesetzt werden kann61. Zwar „verbietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass Richtlinien selbst Verpflichtungen fu¨ r Einzelne begründen können. Einzelnen gegenüber kann sich ein Mitgliedstaat deshalb nicht auf Richtlinien als solche berufen.“62 Es ist „Sache der Mitgliedstaaten, unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die zur Anwendung dieser Bestimmung erforderlichen Modalitäten festzulegen“63. Ein Mitgliedstaat muss zur Umsetzung der Missbrauchsbestimmung jedoch dann keine 57

Florstedt, FR 2016, 1 (5). Dies bedeutet jedoch nicht, dass auch die zur Überprüfung befugte Kommission sich dieser Würdigung anschließen wird, vgl. http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/NIM/?uri= CELEX:32015 L0121. 59 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (450 ff.). 60 Lang, Cadbury Schweppes’ Line of Case Law from the Member States’ Perspective, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 435 (453). 61 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 41 ff. 62 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 40. 63 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 43. 58

§ 9 Konkretisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots

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eigene Missbrauchsregelung erlassen, wenn sich auf nationaler Ebene aus einer Missbrauchsbestimmung oder einem „allgemeinen Grundsatz“, „wonach Rechtsmissbrauch verboten ist“, hinreichend klar ergibt, unter welchen Voraussetzungen eine Gesetzesumgehung oder ein Missbrauch vorliegt und nach dieser Bestimmung bei richtlinienkonformer Auslegung die Gestaltung auch auf nationaler Ebene als Missbrauch qualifiziert werden kann und daher die Verwehrung des Vorteils gerechtfertigt ist64.

VII. Verhältnis zwischen sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln und allgemeinem Missbrauchsverbot Das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbot kann – wie dargestellt – als allgemeiner Rechtsgrundsatz durch sekundärrechtliche ausdrückliche Missbrauchsklauseln konkretisiert werden. Hier stellt sich die Frage ob, und ggf. in welchem Umfang in derartigen Fällen noch das allgemeine Missbrauchsverbot zur Anwendung kommen kann. Es wird teilweise aus EuGH-Entscheidungen abgeleitet, dass die Existenz von Sonderregelungen den Rückgriff auf das allgemeine Missbrauchsverbot nicht unbedingt ausschließen müsse65. Nach anderer Auffassung ist das allgemeine Missbrauchsverbot des Europarechts subsidiär gegenüber speziellen Missbrauchsbestimmungen. Dies entspreche allgemeiner rechtswissenschaftlicher Methodik (Lex specialis derogat legi generali)66. Nach Generalanwältin Kokott sei der Rückgriff auf das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbot bei speziellen sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen nicht zulässig, da der allgemeine Grundsatz in diesen Fällen „seinen spezifischen Ausdruck gefunden und eine Konkretisierung erfahren“ habe67. Dies wird darauf gestützt, dass nationale Maßnahmen aufgrund abschließend harmonisierten Unionsrechts nach diesem Recht und nicht anhand des Primärrechts zu bewerten seien68. „Ließe man daneben noch den unmittelbaren Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz zu, dessen Inhalt weit weniger klar und bestimmt ist, so bestünde die Gefahr, dass das Harmonisierungsziel der Richtlinie […] unterlaufen und die von ihr bezweckte Rechtssicherheit […] gefährdet wu¨ rde. Im Übrigen wu¨ rde 64 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 45 f.; Generalanwältin Kokott spricht in ihren Schlussanträge v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 62 f. auch vom „allgemeinen rechtlichen Kontext“. 65 So Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (438). 66 Bergmann, StuW 2010, 246 (252); Niemann, Der allgemeine Missbrauchsvorbehalt nach der Rechtsprechung des EuGH und seine Auswirkungen auf die Anwendung des § 42 AO, S. 206. 67 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 67. 68 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 48.

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Dritter Hauptteil

auch das bereits erwähnte Verbot, nicht umgesetzte Richtlinienbestimmungen unmittelbar zu Lasten des Einzelnen zur Anwendung zu bringen, auf diese Weise untergraben.“69 In speziellen Missbrauchsverboten kann der Gesetzgeber Umgehungsgestaltungen typisieren, die dann zum Wohle der Rechtssicherheit einen Rückgriff auf das allgemeine Missbrauchsverbot verbieten70. Sofern das allgemeine Missbrauchsverbot im speziellen Kontext eine Konkretisierung erfährt – wie etwa in der Mutter-Tochter-Richtlinie – und der zu prüfende Sachverhalt dem Tatbestand dieser Richtlinie unterliegt, ist dementsprechend im Ergebnis das konkretisierte und nicht das allgemeine Missbrauchsverbot anzuwenden.

VIII. Folgerungen Der Unionsgesetzgeber hat dem allgemeinen unionsrechtlichen Missbrauchsverbot durch Konkretisierung in sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln im Steuerrecht besondere Konturen verschafft. Während die objektive Missbrauchsprüfung nach den Missbrauchsklauseln teilweise bereits durch den (subjektiv geprägten) Beweggrund der Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung mit abgehandelt wird, verlangt die Mutter-Tochter-Richtlinie durch den Anknüpfungspunkt des wertneutralen Steuervorteils eine eigenständige Telosprüfung, bei der der Verstoß gegen die Ziele der Regelung (dem allgemeinen Missbrauchsverbot entsprechend) positiv festgestellt werden muss. Alle Missbrauchsklauseln im steuerrechtlichen Kontext legen besondere Bedeutung auf das subjektive Element. Diese Maßgeblichkeit subjektiver Kriterien bei steuerlich relevanten, sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln kann insgesamt als Aufwertung des subjektiven Missbrauchselements im europäischen Steuerrecht verstanden werden. Von Interesse ist hierbei die Funktion des subjektiven Elements, durch die Untersuchung der Gründe einer steuerrechtlich relevanten Gestaltung die ökonomische Realität erfassbarer zu machen, als dies bei einer reinen Telosprüfung der Fall wäre: Indem die subjektiven Motive auf ihre Kongruenz mit der wirtschaftlichen Realität hin untersucht werden, wird die zivilrechtlich geprägte Form der Gestaltung mit ihrer ökonomischen Substanz verglichen.

69 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 67. 70 Hey, StuW 2008, 167 (173).

§ 10 Dynamische Präzisierung des Missbrauchsverbots

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§ 10 Die dynamische Präzisierung des primärrechtlichen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht in der Judikatur des EuGH I. Die Konkretisierung des objektiven Elements des allgemeinen Missbrauchsverbots im steuerrechtlichen Kontext 1. Das objektive Element unter der Prämisse des Rechts des Steuerpflichtigen, seine Steuerschuld in Grenzen zu halten Im Steuerrecht steht das Interesse des Steuerpflichtigen, seine Steuerschuld zu minimieren, dem Interesse des Fiskus gegenüber, Einnahmen zu erzielen. Das objektive Element der Steuerumgehung ist deshalb unter der Prämisse zu untersuchen, dass der Gerichtshof dem Steuerpflichtigen „das Recht, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält“, attestierte, wozu er insbesondere zur Verfügung gestellte Wahlrechte oder Gesetzeslücken ausnutzen kann, soweit dadurch die Schwelle zum Missbrauch nicht überschritten wird71. Generalanwalt Maduro hat dazu in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache Halifax treffend formuliert: „Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, ein Geschäft so zu betreiben, dass das Steueraufkommen des Staates möglichst hoch ausfällt. Das Grundprinzip besteht in der Freiheit, sich bei der Führung der Geschäfte fu¨ r den Weg mit der niedrigsten Besteuerung entscheiden zu können, um die Kosten möglichst gering zu halten. Andererseits besteht diese Wahlfreiheit nur innerhalb des Geltungsbereichs der von dem Mehrwertsteuersystem vorgesehenen gesetzlichen Möglichkeiten. Das normative Ziel des Missbrauchsverbots innerhalb des Mehrwertsteuersystems ist es gerade, die Möglichkeiten festzulegen, die die gemeinsamen Mehrwertsteuervorschriften den Steuerpflichtigen offen gelassen haben.“72 Solange der Steuerpflichtige

71 Vgl. EuGH v. 6. 4. 1995 – Rs. C-4/94 – BLP Group, ECLI:EU:C:1995:107, Rn. 25; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73 (Zitat); EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 47; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/ 09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 54; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 79; verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85; s. auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (534), der auf „anomalies and inconsistencies“ im Mehrwertsteuersystem hinweist; Englisch, StuW 2009, 3 (12). 72 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85.

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Dritter Hauptteil

keine unangemessene Gestaltung wählt, darf er die steuereffizienteste Struktur zum Erreichen eines wirtschaftlichen Zieles verwenden73. Das objektive Element des allgemeinen Missbrauchsverbots wird auf Unionsebene für Fälle der Steuerumgehung konkretisiert. Ein Missbrauch setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass Gestaltungen „trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen […] einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe“74. Auch bei Steuernormen ist insoweit zunächst das Ziel des Gesetzes zu ermitteln und insbesondere, ob die Vorteilsgewährung einer Lenkungsfunktion dient, bevor die Sachverhaltsgestaltungen an den Zielen der Unionsregelung gemessen werden können75. In der Rechtssache Part Service genügte es dem EuGH bei der Telosprüfung bereits, wenn „es sich bei dem angestrebten Ergebnis um einen Steuervorteil handelt, dessen Gewährung mit einem oder mehreren Zielen der Sechsten MwSt-RL unvereinbar wäre“76. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich keine Sachverhalte gibt, die per se besteuerungswürdig sind77.

2. Steuerrecht mit Lenkungsfunktion Steuergesetze werden mitunter zur „wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Lenkung“ eingesetzt78. Steuernormen haben eine Lenkungsfunktion, wenn der Gesetzgeber eine durch Steuergesetze bestimmte Wirkung auf die Art und Weise des Verhaltens des Steuerpflichtigen bezweckt, indem Anreize für den Steuerpflichtigen gesetzt werden79. Dazu können Lenkungssteuern, Steuervergünstigungen oder steuerliche Benachteiligungen anderer Form verwendet werden80. Steuernormen mit Lenkungsfunktion sollen durch gezielte Steuerentlastung oder -belastung ein be73 Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 74 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS (Zitat); EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 29; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 36. 75 Almendral, Intertax 33 (2005), 562 (578). 76 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58 (Hervorhebung durch den Verfasser). 77 Crezelius, in: Festschrift Gosch, S. 47. 78 Seer, in: Tipke/Lang, § 1 Rn. 8; grundl. zur Lenkungsfunktion Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, passim., insbes. S. 63 ff.; zur Lenkungsfunktion von EU-Subventionen, Rodi, Die Subventionsrechtsordnung: die Subvention als Instrument öffentlicher Zweckverwirklichung nach Völkerrecht, Europarecht und deutschem innerstaatlichem Recht, passim., insbes. S. 62 ff. 79 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 63. 80 Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 92 ff.; Hey, StuW 2015, 331 (333 ff.) zu EU-Beihilfen und Steuervergünstigungen.

§ 10 Dynamische Präzisierung des Missbrauchsverbots

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stimmtes Verhalten des Steuerpflichtigen herbeiführen81. So soll der Zoll die Warenströme regulieren und Tabak- und Alkoholsteuern werden als Mittel zum Schutz der Volksgesundheit eingesetzt82. Steuervergünstigungen, die außerfiskalische Zwecke verfolgen, legitimieren steuermindernde Sachverhaltsgestaltung, selbst wenn das Hauptziel die Steuerersparnis ist, da durch entsprechendes Verhalten das Ziel der Lenkungsfunktion gerade erreicht wird. Sofern ein Steuerpflichtiger – trotz der alleinigen Absicht, die Steuer zu sparen – Wein oder Bier anstatt hochprozentigen Alkohols konsumiert, so basiert diese Sachverhaltsgestaltung zwar nur auf dem Motiv, Steuern zu sparen, gleichwohl wird durch diese Sachverhaltsgestaltung objektiv das Ziel der Regelung erreicht, da – der Lenkungsfunktion entsprechend – weniger hochprozentiger Alkohol konsumiert wird. Es kommt in derartigen Fällen nicht auf das subjektive Missbrauchselement an, da schon objektiv durch den Sachverhalt die Lenkungsfunktion erfüllt wird, sodass das objektive Missbrauchselement nicht erfüllt sein kann, weil das resultierende Verhalten tatsächlich dem mit der Steuernorm verfolgten Ziel entspricht. 3. Wahlrechte und Lücken Im Rahmen des Rechts, „seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält“, kann der Steuerpflichtige insbesondere zur Verfügung gestellte Wahlrechte oder Gesetzeslücken ausnutzen, soweit dadurch die Schwelle zum Missbrauch nicht überschritten wird83. Die Inanspruchnahme günstiger steuerlicher Rahmenbedingungen kann nicht als missbräuchliche Ausnutzung der Grundfreiheiten bewertet werden84. Auch außerhalb von Steuernormen mit Lenkungsfunktion „gibt es keinen Zweifel an der Legitimität der Ausnutzung gestaltungsabhängiger Belastungsunterschiede“85. Das objektive Element der Missbrauchsprüfung „stellt auch eine Sicherung in den Fällen dar, in denen der einzige Zweck der Tätigkeit darin bestehen kann, die Steuerschuld zu verringern, in denen aber dieser Zweck tatsächlich aus einer Entscheidung zwischen unterschiedlichen 81

Hey, in: Tipke/Lang, § 3 Rn. 21. Seer, in: Tipke/Lang, § 2 Rn. 11 und Englisch, in: Tipke/Lang § 18 Rn. 128. 83 Vgl. EuGH v. 6. 4. 1995 – Rs. C-4/94 – BLP Group, ECLI:EU:C:1995:107, Rn. 25; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73 (Zitat); EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 47; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/ 09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 54; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 79; verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85; s. auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (534), der auf „anomalies and inconsistencies“ im Mehrwertsteuersystem hinweist; Englisch, StuW 2009, 3 (12). 84 Kokott, FR 2008, 1041. 85 Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 14. 82

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Dritter Hauptteil

Steuerregelungen folgt, die der Gemeinschaftsgesetzgeber absichtlich zur Verfügung gestellt hat. Besteht somit zwischen der Anerkennung des vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Anspruchs und den von der betreffenden Rechtsvorschrift angestrebten Zielen und Ergebnissen kein Widerspruch, kann ein Missbrauch nicht festgestellt werden.“86 Es muss demnach zwischen legitimen Handlungsalternativen, wie Wahlrechten zwischen unterschiedlichen Steuerregelungen, die der Unionsgesetzgeber absichtlich zur Verfügung gestellt hat, und missbräuchlicher ,Einwahl‘ in günstiges Steuerrecht unterschieden werden. Aus der Judikatur des EuGH ergeben sich Vorgaben zur Reichweite steuerlicher Wahlrechte und typisierende Fallgruppen dieser unionsrechtlichen Wahlrechte. Insbesondere zum Rechtsmissbrauch im Zusammenhang mit dem Mehrwertsteuersystem gibt es zahlreiche Urteile, auf die zur Abgrenzung zwischen legitimer Ausübung von Wahlrechten und missbräuchlicher Einwahl zurückgegriffen werden kann. Rechtsfragen zur Legitimität der Ausübung von Wahlrechten ergeben sich vor allem zu Auslegungsfragen der in dieser Richtlinie verwendeten Begriffe, zur unterschiedlichen Umsetzung von Richtlinienvorgaben in den Mitgliedstaaten, die Richtlinienbestimmungen nicht wörtlich übernommen haben, und bei Gestaltungen, die den Anfall der Mehrwertsteuer vermeiden oder reduzieren sollen. Im Nachfolgenden sollen vom Gerichtshof untersuchte Fallgruppen für das Recht des Steuerpflichtigen untersucht werden, seine Steuerschuld zu minimieren, indem Wahlrechte genutzt werden. a) Wahlfreiheit im Rahmen des anwendbaren territorialen Steuerrechts Ein Steuerpflichtiger kann durch Gestaltungen seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten das Steuerrecht beeinflussen, dem er unterliegt. Dies hat Auswirkungen auf die Steuerbelastung des Steuerpflichtigen und das Steueraufkommen in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Generalanwalt Maduro ist beizupflichten, wenn er feststellt, dass ein Steuerpflichtiger nicht dazu verpflichtet ist, durch die Gestaltung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit das Steueraufkommen eines Staates zu erhöhen, sondern seine Geschäfte so ausgestalten darf, eine möglichst niedrige, kostengünstige Besteuerung auszulösen, solange er sich bei der Ausübung bestehender Wahlfreiheiten im Rahmen gesetzlich vorgegebener Möglichkeiten bewegt87. Diese Aussage des Generalanwalts Maduro gilt nicht nur für das unionsrechtliche Mehrwertsteuersystem, sondern sie lässt sich auf das gesamte vom Unionsrecht betroffene Steuerrecht verallgemeinern: Der Steuerpflichtige kann im Rahmen der unionsrechtlich garantierten Freiheiten durch entsprechende Sachverhaltsgestaltung und tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit das für ihn vorteilhafteste 86 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 88. 87 Verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C419/02 und Rs. C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 85; s. bereits oben, § 10 I. 1.

§ 10 Dynamische Präzisierung des Missbrauchsverbots

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Steuersystem wählen, zu dem auch das territorial anwendbare Steuerrecht der einzelnen Mitgliedstaaten zählt. Der EuGH hat insoweit entschieden, dass der Steuerpflichtige seinen Wohnort/ Sitz und seine wirtschaftliche Betätigung in einen anderen Staat verlegen kann, mit der Folge, dass nur noch im Aufnahmestaat eine Steuerpflicht besteht. Aus der Verlegung des Wohnsitzes kann für sich allein keine Steuerflucht geschlossen werden88. Der bisherige Sitzstaat kann die dadurch entstehenden Einnahmeausfälle auch nicht durch restriktive Gesetzgebung zu verhindern suchen, da dies gegen den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr verstößt89. Es soll nicht einmal dann ein Missbrauch dieser Freiheiten vorliegen, wenn der Steuerpflichtige seinen Sitz nur deswegen in einen anderen Staat verlegt, um dort in den Genuss der dortigen günstigeren Steuerbelastung zu gelangen, da diese Möglichkeit gerade von der Binnenmarktförderung eröffnet werden soll90. Allein die Tatsache, dass eine natürliche oder juristische Person versucht, aus vorteilhaften nationalen Gesetzen anderer Staaten Nutzen zu ziehen und ungünstigere andere Rechtsordnungen zu vermeiden, rechtfertigt nicht den Missbrauchsvorwurf91. Denn die Wahrnehmung günstigerer Steuersätze eines anderen Mitgliedstaates ist für sich genommen nicht missbräuchlich92. Gesellschaften ist es somit nicht nur gestattet, sich in demjenigen Mitgliedstaat niederzulassen, der die geringsten Restriktionen im Gesellschaftsrecht aufweist. Es ist ihnen auch erlaubt, den Mitgliedstaat auszusuchen, der die geringste Steuerbelastung vorsieht.93 Solange die Mitgliedstaaten die direkten Steuern nicht harmonisiert haben, wird der Steuerwettbewerb von den Binnenmarktvorschriften akzeptiert94. Daher können Unternehmen durch Rechtsgestaltungen das Steuergefälle der nicht harmonisierten Steuersätze und bisher nicht harmonisierten Gewinnermittlungsvorschriften durch tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausnutzen (tax jurisdiction shopping)95. Auch darf der Staat für derartige Fälle keine kompensatorischen Steuern erheben, um die Steuervorteile des anderen Staates dadurch auf88 EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 51. 89 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 51. 90 Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (578 ff.). 91 Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (449). 92 EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 49; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 40. 93 EuGH v. 26. 10. 1999 – Rs. C-294/97 – Eurowings, ECLI:EU:C:1999:524, Rn. 43 f.; EuGH v. 15. 7. 2004 – Rs. C-315/02 – Lenz, ECLI:EU:C:2004:446, Rn. 41, 43. 94 Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (582 f.); s. zur Rolle des EuGH als Garant fairen Steuerwettbewerbs Kokott, ISR 2017, 395 (396). 95 EuGH v. 26. 10. 1999 – Rs. C-294/97 – Eurowings, ECLI:EU:C:1999:524, Rn. 43 f.

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Dritter Hauptteil

zuheben96. Entsprechende Grundsätze hat der EuGH auch in den Rechtssachen ICI, Metallgesellschaft, Lankhorst-Hohorst und Inspire Art angewandt97. Grenzen der Wahlfreiheit ergeben sich dann, wenn Transaktionen in einem Mitgliedstaat dessen Steuerhoheit über den Sachverhalt auslösen. Sobald ein Steuersystem für eine konkrete Gestaltung Geltungsanspruch erlangt, können nur noch die dort vorgesehenen Wahlmöglichkeiten wahrgenommen werden. Es kann deshalb nach dem EuGH erforderlich sein, Gewinne und Verluste steuerlich nur nach dem Recht des Mitgliedstaats zu berücksichtigen, in dem die dort niedergelassene Gesellschaft ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht98. Der EuGH hat auch die Möglichkeit der konzerninternen länderübergreifenden Verlustverlagerung eingeschränkt: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs würde, wenn den Gesellschaften die Möglichkeit eingeräumt würde, für die Berücksichtigung ihrer Verluste im Mitgliedstaat ihrer Niederlassung oder aber in einem anderen Mitgliedstaat zu optieren, die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigt.“99 Es soll Gesellschaften deshalb nicht möglich sein, durch künstliche Gestaltungen Unterschiede zwischen den steuerlichen Bemessungsgrundlagen oder Steuersätzen der verschiedenen Mitgliedstaaten auszunutzen, indem bspw. Einkünfte oder Verluste innerhalb eines Konzerns auf Gesellschaften übertragen werden, an deren Sitz die günstigsten Steuervorschriften gelten100. Der Ort einer wirtschaftlichen Tätigkeit und der Ort ihrer Besteuerung dürfen demnach nicht auseinanderfallen101. Im Ergebnis wird das Wahlrecht bezüglich des territorial anwendbaren Steuerrechts durch den Ort der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit begrenzt. Die Feststellung des Ortes der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit kann sich in der Praxis – wie etwa die BEPS-Diskussion aufgezeigt hat – insbesondere bei multinationalen Konzernstrukturen als problematisch erweisen. Entscheidend ist hier die Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts, also des Ortes, an dem eine wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit stattfindet. Eine Steuergestaltung, bei der der Steuerpflichtige bspw. versucht, Gewinne in Länder mit niedrigen Steuersätzen zu trans96 EuGH v. 26. 10. 1999 – Rs. C-294/97 – Eurowings, ECLI:EU:C:1999:524, Rn. 45; Schlussanträge des Generalanwalts Leger v. 2. 5. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:278, Rn. 40. 97 Dourado, A Single Principle of Abuse in European Union Law: A Methological Approach to Rejecting a Different Concept of Abuse in personal Taxation, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 469 (469 f.). 98 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 45; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 31. 99 EuGH v. 18. 7. 2007 – Rs. C-231/05 – Oy AA, ECLI:EU:C:2007:439, Rn. 55 (Zitat); so auch schon EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 46; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 32. 100 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 49; EuGH v. 18. 7. 2007 – Rs. C-231/05 – Oy AA, ECLI:EU:C:2007:439, Rn. 58 f. 101 Kokott, FR 2008, 1041.

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ferieren bzw. Verluste in Länder mit hohen Steuersätzen, und dies nicht im Rahmen tatsächlicher wirtschaftlicher Tätigkeit geschieht, stellt stets eine missbilligte Rechtswahl dar102. b) Freie Wahl der Organisationsstrukturen und Regulierungsarbitrage Steuerpflichtige dürfen grundsätzlich die „Organisationsstrukturen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung ihrer Steuerlast am besten geeignet erachten, im Allgemeinen frei wählen“103. Außerdem attestierte der Gerichtshof in der Rechtssache RBS Deutschland Steuerpflichtigen das Recht, Diskrepanzen in der nationalen Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben ausnutzen zu können, sofern die dazu fraglichen Dienstleistungen „tatsächlich im Rahmen einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit erbracht“ werden104. Nach britischem Recht galt ein Leasing nur dann als Lieferung von Gegenständen, wenn als Bedingung das Eigentum am Leasinggegenstand mit Ablauf des Vertrags übergehen sollte105. In Deutschland wiederum wurden die fraglichen Umsätze als Lieferung von Gegenständen eingestuft und galten damit als im Vereinigten Königreich bewirkt106. Deshalb unterlagen die fraglichen Leasingumsätze in beiden Mitgliedstaaten nicht der Mehrwertsteuer107. Wenn Geschäfte zwischen Parteien stattfinden, die rechtlich nicht miteinander verbunden sind, und hierbei eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit stattfindet, so können sogar Strukturen gewählt werden, die durch Regulierungsarbitrage zur Vermeidung jeglicher Steuerpflicht führen108. Entscheidend ist dabei jedoch stets, ob die formale Organisationsstruktur auch der tatsächlichen wirtschaftlichen Realität entspricht. Der EuGH erkannte zwar an, dass es in mancher Hinsicht inkohärent erscheine, wenn ein Steuerpflichtiger den Vorsteuerabzug geltend machen könne, obwohl er auf der folgenden Stufe keine Mehrwertsteuer entrichtet hat109. Dies rechtfertige es jedoch nicht, die Bestimmungen der Richtlinie über das Abzugsrecht der Vorsteuer unangewendet zu lassen, da der Wortlaut der Bestimmung insoweit eindeutig sei110. Das Ausnutzen derartiger Qualifikationskonflikte sei nicht als rechtsmissbräuchlich 102

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 107. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 53. 104 S. EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 52 (Hervorhebung durch den Verfasser) und oben, § 5 III. 9. 105 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 11. 106 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 20, s. auch Rn. 26. 107 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 21, s. auch Rn. 26. 108 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 44; vgl. auch Florstedt, FR 2016, 1 (7). 109 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 44. 110 EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 45. 103

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anzusehen111. Es sei im Ergebnis nicht missbräuchlich, wenn Parteien sich diese Diskrepanz der Rechtsordnungen durch Regulierungsarbitrage im Rahmen normaler Handelsgeschäfte zunutze machen112. c) Wahlfreiheit der Umsätze Das Mehrwertsteuersystem bietet dem Steuerpflichtigen mehrere Optionen, in welcher zivilrechtlichen Form Umsätze erbracht werden können. Für einen Unternehmer könne die „Wahl zwischen steuerfreien Umsätzen und besteuerten Umsätzen auf einer Reihe von Gesichtspunkten, insbesondere auf steuerlichen Überlegungen“, beruhen113. Hat der Steuerpflichtige die Wahl zwischen zwei Umsätzen, so schreibe ihm die Sechste Richtlinie nicht vor, den Umsatz zu wählen, der die höhere Mehrwertsteuer nach sich zieht. Der Steuerpflichtige habe vielmehr das Recht, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält114. Es ist demnach nicht zu beanstanden, wenn der Steuerpflichtige sich für einen steuerlich vorteilhaften Leasingumsatz entscheidet, der eine gestaffelte Entrichtung seiner Steuerschuld auslöst, anstatt sich fu¨ r einen Erwerbsumsatz zu entscheiden, der eine direkte Steuerschuld bewirkt und keinen solchen Steuervorteil zur Folge hat, sofern die auf diesen Leasingumsatz entfallende Mehrwertsteuer ordnungsgemäß entrichtet wird115. Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis ergibt sich hierbei nicht aus der Art der Handelsgeschäfte, sondern aus dem Gegenstand, der Zweckbestimmung und Wirkung dieser Umsätze116. Wenn ein Unternehmer Gegenstände least anstatt sie zu erwerben und erzielt er daraus einen Steuervorteil, so ist dies kein Steuervorteil, dessen Gewährung mit den Zielen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts zuwiderläuft, vorausgesetzt, dass die Leasingbedingungen normalen Marktbedingen entsprechen117. 4. Ermittlung des Normziels im Steuer- und Zollrecht Sofern die Sachverhaltsgestaltung nicht einer Lenkungsfunktion entspricht oder eine legitime Ausnutzung von Wahlrechten darstellt, kommt es darauf an, ob der Steuervorteil einem Ziel der unionsrechtlichen Regelung entgegensteht. Auch im 111 112

52. 113

Wäger, DStR 2011, 49 (52). EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 44,

EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73. EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 73 ; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 27; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 54. 115 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 34. 116 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 44. 117 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 45. 114

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Steuer- und Zollrecht muss bzw. müssen, bevor ein Normzielverstoß festgestellt werden kann, zunächst das Ziel oder die Ziele der möglicherweise missbrauchten Bestimmung ermittelt werden. Für die Art und Weise der Zielfeststellung kann grundsätzlich auf die Ausführungen zum allgemeinen Missbrauchsverbot verwiesen werden118. Im Steuerrecht ist jedoch die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die Steuererhebung der fiskalischen Einnahmeerzielung dient und, mit Ausnahme von Ordnungssteuern, Steuernormen häufig keine darüber hinausgehenden Ziele verfolgen119. Im Unionsrecht tritt dazu häufig noch das Ziel der Integration des gemeinsamen Binnenmarktes120. Es haben sich in der steuerrechtlichen Judikatur des EuGH bestimmte Zielfeststellungen herausgestellt, die bei der steuerrechtlichen Behandlung möglicherweise missbräuchlicher Gestaltungen als historisch gefestigte Zielfeststellung herangezogen werden können. Der EuGH hat bei der Prüfung eines Missbrauchs in diesem Kontext folgende Ziele der betroffenen europarechtlichen Regelung bei seiner Missbrauchsprüfung zugrunde gelegt. a) Mehrwertsteuersystem Ein Ziel des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist nach den Ausführungen des Gerichtshofs die „Besteuerung all dessen, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Dienstleistungsempfänger erhält oder erhalten soll“121. Bei der mehrwertsteuerlichen Würdigung eines Leasinggeschäfts könne berücksichtigt werden, „dass das erwartete Ergebnis die Erlangung des Steuervorteils ist, der mit der Befreiung der von der Leasinggesellschaft ihrem Vertragspartner überlassenen Leistung nach Art. 13 Teil B Buchst. a und d der Sechsten MwSt-Richtlinie verbunden ist“122. Die Vermietung von Fahrzeugen im Wege eines Mietkaufvertrages stelle eine Dienstleistung i. S. d. Art. 6 und 9 der Sechsten MwSt Richtlinie dar, weshalb die Bemessungsgrundlage grundsätzlich nach Art. 11 Teil A Abs. 1 der Richtlinie zu bestimmen sei123. Eine Aufspaltung eines einheitlichen Leasingvertrags ist mit dem „Zweck des Art. 11 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie, also der Besteuerung all 118

S. oben, § 6 IV. 2. Flume, StbJB 1967/68, 63 (69). Nach Hüttemann könne dementsprechend „der bloße Fiskalzweck der Besteuerung keine geeignete Grundlage für eine teleologische Rechtsfortbildung steuerrechtlicher Normen darstellen“, DStR 2015, 1146 (1147). Nach Crezelius ist zu berücksichtigen, „dass die Steuernorm auf Einnahmeerzielung angelegt ist, so dass es nicht so liegen kann, dass schlichtweg der Einnahmeerzielungszweck mit der Teleologie der Steuernorm gleichgesetzt wird. Zutreffenderweise geht es bei der teleologischen Auslegung im Steuerrecht darum, welcher Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Norm bei der Abgrenzung der Steuerbarkeitssphäre von der steuerbarkeitsimmunen Sphäre zukommt. Nur dies entspricht dem Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und dem Eingriffscharakter des Steuerrechts.“, in: Festschrift Gosch, S. 47 (49). 120 Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 55 ff. 121 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 60. 122 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 59. 123 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 61. 119

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Dritter Hauptteil

dessen, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Dienstleistungsempfänger erhält oder erhalten soll, unvereinbar“124. Obwohl die Mehrwertsteuersystemrichtlinie keine Vorschrift enthält, „die den genauen Inhalt der von den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck zu ergreifenden Maßnahmen konkretisiert“125, „ist daran zu erinnern, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von den Richtlinien auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer anerkannt und gefördert wird“126. b) Fusionsrichtlinie/Mutter-Tochter-Richtlinie/ Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie Hinsichtlich der Fusionsrichtlinie stellte der Gerichtshof klar, dass das darin vorgesehene Steuersystem samt der davon umfassten steuerlichen Vorteile unabhängig davon anzuwenden ist, ob die Gründe der Umstrukturierung „finanzieller wirtschaftlicher oder rein steuerlicher Art sind“127. Die Motive des Gestalters eines Sachverhalts spielen erst auf der Ebene der Missbrauchsprüfung eine Rolle. Ziel der Fusions- und Mutter-Tochter-Richtlinie ist die „Aufhebung der Behinderung der Niederlassungs- und Freizügigkeitsgarantie“ und zugleich der „Vollzug des Gesamtprogramms des EWG-Vertrags“128. Aufgrund dieser „doppelten Zwecksetzung“ verfolgen diese unionsrechtlichen Steuervorschriften – im Gegensatz zum nationalen Telos – andere Zwecke als die der Einkünfteerzielungsabsicht, weshalb „Überlegungen zu Zweck, Ausmaß und Verhältnismäßigkeit von Steuerbefreiungen und Steuereingriffen“ zu berücksichtigen sind, „was nach deutschem Recht ausgeschlossen wäre“129.

124

EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 60. EuGH v. 12. 2. 2015 – Rs. C-662/13 – Surgicare, ECLI:EU:C:2015:89, Rn. 25. 126 EuGH v. 12. 2. 2015 – Rs. C-662/13 – Surgicare, ECLI:EU:C:2015:89, Rn. 19 (Zitat); EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 76; EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 71; EuGH v. 7. 12. 2010 – Rs. C-285/09 – R., ECLI:EU:C:2010:742, Rn. 36; EuGH v. 27. 10. 2001 – Rs. C-504/10 – Tonarch, ECLI:EU:C:2011:707, Rn. 50; EuGH v. 6. 12. 2012 – Rs. C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rn. 35. 127 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 31 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 36; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 30. 128 Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 55 (Zitat); vgl. auch Kofler, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 14.3 ff.; Fehling, in: Schaumburg/Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Rn. 17.11 ff. 129 Schön, Die Auslegung europäischen Steuerrechts, S. 55. 125

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Der EuGH entschied in der Rechtssache Kofoed, den Schlussanträgen von Generalanwältin Kokott130 folgend, dass ein „Austausch von Anteilen“ i. S. d. Art. 2 d der Fusionsrichtlinie vorlag, da eine „bare Zuzahlung“ nur bei einer verbindlichen, echten Gegenleistung gegeben ist, die zusätzlich zum Erhalt der Gesellschaftsanteile vereinbart wird, wobei die Gründe und Motive irrelevant sind, unabhängig davon, ob diese „finanzieller, wirtschaftlicher oder rein steuerlicher Art“ sind131. Daher ist eine Gewinnausschüttung nicht lediglich wegen der zeitlichen Nähe oder eventuell bestehenden „betrügerischen Absicht“ als „bare Auszahlung“ einzustufen, sondern es müsse „in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände“ geprüft werden, ob die Zahlung „den Charakter einer verbindlichen Gegenleistung im Erwerbsvorgang aufweist“132. Die Motive der Handelnden sind erst dann entscheidend, wenn auf nationaler Ebene von der in Art. 11 Abs. 1a vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, steuerliche Vergünstigungen in darin umschriebenen Fällen nicht zu gewähren133. c) Zollvergünstigungen Zur Feststellung einer Zielverfehlung bestimmte der Gerichtshof in der Rechtssache SICES zunächst aus den Erwägungsgründen das mit der Verordnung Nr. 341/ 2007 verfolgte Ziel, den Wettbewerb zwischen den Importeuren bei der Verwaltung der Zollkontingente zu wahren, um eine marktbeherrschende Stellung eines einzelnen Einführers zu vermeiden134. Durch die im Ausgangsfall gewählte Gestaltung werde dieses Ziel jedoch verfehlt, da der Importeur, dessen Kontingent zur Einfuhr von Knoblauch aus der A-Lizenz bereits erschöpft war, sich zum Präferenzzoll eingeführten Knoblauch beschaffen konnte und dadurch seinen Markteinfluss über das ihm zugewiesene Kontingent hinaus ausweitete135.

130 Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 44 ff., 52 f. 131 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 28 ff. 132 EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408, Rn. 32; Generalanwältin Kokott sprach in ihren Schlussanträgen von „einer objektiven Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls“, Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 46. 133 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 32 mit Verweis auf EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 42. 134 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 35. 135 EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 36.

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Dritter Hauptteil

II. Die Konkretisierung des subjektiven Elements zur Erfassung der wirtschaftlichen Substanz 1. Inhalt des subjektiven Elements im steuerrechtlichen Kontext und Maßstab der Beweggründe einer steuerlichen Gestaltung Das subjektive Missbrauchselement setzt im steuerrechtlichen Kontext zunächst voraus, dass ein Steuervorteil angestrebt wird. Dieser Steuervorteil wird mit den übrigen Beweggründen, die einer Sachverhaltsgestaltung zugrunde liegen, in Verhältnis gesetzt. Bei der Bewertung außersteuerlicher Gründe im Zusammenhang mit dem subjektiven Element einer Steuerumgehung formuliert Grauberg zurecht: „The test of purpose or the determination of the business goal of the taxpayer’s actions refers to the desired results of the transaction, as in principle, it is possible for the same economic result to be achieved with several legal forms. This may be refered to as a subjective element that attempts to identify the taxpayer’s intentions in his taxplanning activity. If the transaction carries no business goal, one may conclude that the form assigned to the transaction is incorrect and that characteristics of abuse of law are present.“136 Das subjektive Missbrauchselement liegt – für die Steuerumgehung konkretisiert – vor, wenn durch die Sachverhaltsgestaltung und der daraus resultierenden Einwahl in eine vorteilsgewährende Unionsvorschrift „im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt“ wird137. Teilweise wird angeregt, beim allgemeinen Missbrauchsverbot den Maßstab „im Wesentlichen“ in vielen Rechtsgebieten anzuwenden, jedoch dann auf den „alleinigen“ Zweck abzustellen, wenn Rechtssicherheitserwägungen von besonderer Bedeutung sind, wie dies im Steuerrecht der Fall ist138. Hiergegen spricht jedoch, dass der Maßstab „im Wesentlichen“ vom EuGH gerade in steuerrechtlichen Entscheidungen angeführt und stets wiederholt wurde139 136

Grauberg, XVI Juridica International (2009), 141 (142). EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 29 f.; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 1, 45; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 30 f., 39; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 22. 3. 2012 – Rs. C-153/11 – Klub, ECLI:EU:C:2012:163, Rn. 49; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 37; EuGH v. 17. 7. 2014 – Rs. C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rn. 39; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 36; vgl. auch Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (342). 138 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (540). 139 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 32 Nr. 1, 45; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 30 f., 39; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 22. 3. 2012 – Rs. C-153/11 – Klub, ECLI:EU:C:2012:163, Rn. 49; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 37 (Zoll); EuGH v. 17. 7. 2014 – 137

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und auch in sekundärrechtlichen Steuerklauseln Eingang gefunden hat140. Es kommt also insbesondere auch im steuerrechtlichen Kontext auf eine Abwägung der steuerlichen und außersteuerlichen Erwägungen an. Selbst wenn wirtschaftliche Gründe (wie solche des Marketings, der Organisation141 und solche der Umstrukturierung oder der Rationalisierung der bei einer Fusion beteiligten Gesellschaften142) vorliegen, genügt es auch nach auf sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln abstellenden Entscheidungen des Gerichtshofs bereits, um einen Missbrauch annehmen zu können, wenn ein Verhalten „als hauptsächlichen oder als einen der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung hat“143. Dies entspricht im Übrigen auch den gängigen Formulierungen der das allgemeine Missbrauchsverbot konkretisierenden sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln144. Einem gut beratenen Steuerpflichtigen wird es selbst bei künstlichsten Konstruktionen regelmäßig gelingen, irgendwelche außersteuerlichen Gründe nachweisen zu können145. Deshalb wäre ein Missbrauchsverbot, das einen Missbrauch lediglich beim Vorliegen des „alleinigen“ Ziels, einen Steuervorteil zu erreichen, annimmt, von nur eingeschränkter Wirksamkeit zur Normbehauptung146. Um das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nicht ,leerlaufen‘ zu lassen, kann das subjektive Element des Missbrauchs also auch im Steuerrecht nicht bereits beim Vorliegen beliebiger anderer Beweggründe verneint werden. Vernünftige wirtschaftliche Gründe, die einen Missbrauch ausschließen können, liegen erst dann vor, wenn sie die steuerlichen Beweggründe bzw. den sonstigen regulatorischen Vorteil „überwiegen“147. Die Behauptung „beliebiger“ anderer Gründe genügt demnach nicht, um die Missbrauchsabsicht zu widerlegen. Vielmehr müssen nach zutreffender Ansicht des EuGH die sozioökonomischen unternehmerischen, vernünftigen wirtschaftlichen Gründe die missbräuchliche Absicht bzw. die steuerlichen Beweggründe als Rs. C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rn. 39; EuGH v. 22. 11. 2017 – Rs. C-251/ 16 – Cussens u. a., ECLI:EU:C:2017:881, Rn. 53; vgl. auch Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (342). 140 Art. 4 Abs. 3 Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften; Art. 5 Abs. 2 (Zinsen-Lizenzgebühren-)Richtlinie 2003/49/EG; Art. 15 Abs. 1 der (Fusions-)Richtlinie 2009/133/EG; Art. 1 (Mutter-Tochter-)Richtlinie 2011/96/EU. 141 EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 19. 142 Vgl. Artikel 15 der (Fusions-)Richtlinie 2009/133/EG. 143 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 38 ff., 48; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33, 36. 144 S. dazu oben, § 9. 145 Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S. 40; Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (375). 146 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (375). 147 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 35.

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Motiv „überwiegen“, um das subjektive Element verneinen zu können148. Sofern bspw. eine „Umstrukturierung“ oder „Rationalisierung“ i. S. d. Fusionsrichtlinie nicht lediglich einen steuerlichen Vorteil bezweckt, sondern tatsächlich zu einer Reduzierung der Verwaltungs- und Geschäftsführungskosten des Konzerns führt, kann eine Fusion auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen basieren149. Vernünftige wirtschaftliche Gründe liegen jedoch insbesondere dann nicht vor, wenn die durch die Fusion erzielten Strukturkosteneinsparungen im Verhältnis zu den zu erwartenden Steuervorteilen – im vorliegenden Falle in Höhe von mehr als 2 Millionen E – „völlig nebensächlich“ sind150. Ist es für einen Missbrauch ausreichend, wenn im Wesentlichen ein Steuervorteil angestrebt wird, so liegt die missbrauchsbegründende Schwelle realitätsnahe und kann in der Praxis objektiver und rationaler angewendet werden151, indem diese steuerlichen Vorteile schlicht mit good business reasons abgewogen werden. Es sind hierbei nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern ggf. auch ideelle Gründe wie familiäre Motive als außersteuerliche Gründe zu berücksichtigen152. Eine derartige Gegenüberstellung von legitimen und illegitimen Beweggründen ist dem unionsrechtlichen Steuerrecht keineswegs fremd. Ein solcher Vergleich wird in den sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln, die auf dem jeweiligen Gebiet das allgemeine Missbrauchsverbot konkretisieren, vom Unionsgesetzgeber angeordnet, um legitime von illegitimen Gestaltungen unterscheiden zu können153. Auch in den Steuerrechtsordnungen einiger Mitgliedstaaten ist eine solche Abwägung bereits Teil des nationalen Steuerrechts. Im Vereinigten Königreich bspw. ist die übliche Formulierung von Antimissbrauchsklauseln „main purpose or one of the main purposes“154. Dieses Verständnis unterscheidet sich erheblich von § 42 Abs. 2 S. 2 AO, der einen Gestaltungsmissbrauch bereits bei beachtlichen außersteuerlichen Gründen entfallen lässt. Nach der Gesetzesbegründung sind die außersteuerlichen Gründe beachtlich, wenn sie „nach dem Gesamtbild der Verhältnisse nicht unwesentlich oder

148 EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 47; EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 45; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 33; vgl. auch Florstedt, FR 2016, 1 (8 f.). 149 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 46 f. 150 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 47; s. dazu Florstedt, FR 2016, 1 (8). 151 Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 219 (227). 152 EuGH v. 6. 11. 2003 – Rs. C-413/01 – Ninni-Orasche, ECLI:EU:C:2003:600, Rn. 47. 153 Florstedt, FR 2016, 1 (3 ff.). 154 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (375 auch Fn. 54); s. außerdem ausf. oben, § 2 II. 3.

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sogar nur von untergeordneter Bedeutung sind“155. Ein „Überwiegen“ der außersteuerlichen Gründe ist also nach diesem Verständnis nicht erforderlich156. Es bestehen demnach zwischen dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot und der deutschen allgemeinen Missbrauchsregelung in subjektiver Hinsicht unterschiedliche Abwägungsgrundsätze. Bei bedeutsamen komplexen Gestaltungen im Grenzbereich zwischen legitimen und illegitimen Gestaltungen wird ein Steuerberater auf die Gefahr der potenziellen Missbräuchlichkeit der in Frage stehenden Gestaltung hinweisen müssen157. Dem Steuerpflichtigen wird es nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot im Voraus möglich sein, seine sozioökonomischen good business reasons für die geplante Gestaltung dem rein steuerlichen Vorteil gegenüberzustellen. Steuerliche Vorteile und sonstige wirtschaftliche Motive lassen sich in der Regel konkret quantifizieren und daher rational und objektiv gegeneinander abwägen. Überwiegen bei diesem Vergleich die legitimen Beweggründe, muss sich der Steuerpflichtige auf die spätere Anerkennung der Gestaltung durch die Behörde verlassen können, sodass dem Gebot der Rechtssicherheit durch hohe Vorhersehbarkeit der zukünftigen Bewertung durch den Rechtsanwender Rechnung getragen wird. 2. Bewertungsprärogative des Gestalters hinsichtlich der Wirkung außersteuerlicher Gründe und Verwendung von Informationen aus dem Internen für das Externe Liegen einer möglicherweise missbräuchlichen Gestaltung sowohl steuerliche als auch außersteuerliche Erwägungen zugrunde, die ihre Wirkung nicht unmittelbar, sondern erst in der Zukunft entfalten sollen, stellt sich die Frage der Bewertungsprärogative für die Wirkung und Bedeutung außersteuerlicher Gründe. Sofern die Steuerbehörde bei der nachträglichen Würdigung der Gestaltung feststellt, dass der tatsächlich realisierte Steuervorteil die außersteuerlichen Vorteile überwiegt, muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass vom Steuerpflichtigen im Wesentlichen ein steuerlicher Vorteil erzielt werden sollte und das subjektive Missbrauchselement somit erfüllt ist: Es kommt für die richtige Abwägung der Beweggründe auf den richtigen Zeitpunkt an, in dem die Beweggründe für eine steuerlich relevante Gestaltung gegen155

Bericht des Finanzausschusses zum JStG 2008, BT-Ducks. 16/7036, S. 24; s. auch Drüen, Tipke/Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 34. Notwendig sei insbesondere nicht ein „triftiger Grund“, wie in § 6 Abs. 3 S. 1 UmwStG vorgesehen. 156 Drüen, Tipke/Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 34 f.; Wendt, in: DStJG 33 (2010), S. 117 (132); Lenz/Gerhard, BB 2007, 2429 (2432). 157 S. zur Pflicht des Steuerberaters nach deutschem Recht zur umfassenden Beratung des Mandanten, zu der auch der Hinweis auf die Gefahr der Nichtanerkennung der Gestaltung gehört, BGH v. 8. 2. 2007 – IX ZR 188/05, DStR 2007, 1098; BGH v. 23. 3. 2006 – IX ZR 140/ 03, DStRE 2006, 958; BGH v. 6. 2. 2003 – IX ZR 77/02, BFH/NV 2003, Beilage 3, 190; OLG Koblenz v. 30. 5. 2012 – 2 U 694/11, DStR 2012, 2147.

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übergestellt werden müssen. Die steuerlichen Beweggründe und good business reasons müssen zum Zeitpunkt der tatsächlichen Sachverhaltsgestaltung (ex ante) und nicht erst zum Zeitpunkt ihrer letztendlichen Wirkung (ex post) gegenübergestellt werden, um der tatsächlichen wirtschaftlichen Entscheidungsfindung Rechnung zu tragen. Bei dieser nachträglichen Bewertung der Gestaltung durch die Steuerbehörden oder Gerichte muss die Gefahr einer hindsight bias berücksichtigt werden. Diese hindsight bias beschreibt das Problem, dass bei der nachträglichen Beurteilung eines bereits vergangenen Sachverhalts dazu geneigt wird, die im Voraus bestehenden Möglichkeiten zur tatsächlichen Vorhersage des zukünftigen Sachverhaltsverlaufs stark überzubewerten158. Dieselbe Problematik besteht parallel bei der Haftung von Gesellschaftsorganen für unternehmerische Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Eingehen von Risiken, die sich letztendlich nicht auszahlen, und wird in diesem Kontext unter dem Begriff der business judgement rule diskutiert159. Das vernünftige Eingehen von Chancen und Risiken ist ein untrennbarer Bestandteil unternehmerischen Handelns160 und muss auch bei der steuerrechtlichen Würdigung einer Gestaltung, bei der unternehmerische Risiken eingegangen werden, berücksichtigt werden. Die Haftung für unternehmerische Entscheidungen knüpft deshalb nicht an das tatsächlich eingetretene Ergebnis einer Entscheidung, sondern an eine Pflichtverletzung bei der Entscheidungsfindung zur Eingehung des Risikos an161. Im Steuerrecht kommt das Abstellen auf eine Pflichtverletzung als Besteuerungsgrundlage nicht in Frage. Die Organhaftung hat jedoch neben einer Ausgleichsfunktion auch eine Steuerungsfunktion162. Vorstand und Aufsichtsrat sollen durch eine mögliche organschaftliche Haftung dazu angehalten werden, gewissenhaft auf eine langfristige Steigerung des Unternehmenswertes hinzuarbeiten, ohne durch unvorhersehbare Haftungsregelungen von der unternehmerischen Tätigkeit abgeschreckt zu werden163. Diese Steuerungsfunktion sollte durch die steuerrecht158 S. H. Schneider, DB 2005, 707 (708); grundl. Kohnert, Grenzen des Rückschaufehlers, passim. Zusammenfassend wird festgestellt: „Unter Rückschaufehler versteht man, daß retrospektive Urteile einer Person darüber, wie sie eine bestimmte Frage beantwortet hat (oder hätte), durch das zwischenzeitliche Bekanntwerden des Ergebnisses (des Ankers) in Richtung auf dieses Ereignis verzerrt sind. Personen geben vor, ,es schon immer gewußt zu haben‘.“ „Dieses Phänomen ließe sich erklären durch ,die Integration des Ankers in die vorhandene Wissensstruktur oder durch eine rationale Urteilsstrategie (Antworttendenz) bei der Rekonstruktion früherer Urteile‘“ (beide Zitate S. 8). 159 Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. 160 Baums, ZGR 2011, 218 (219); Ihrig, WM 2004, 2098. 161 Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar zum AktG, § 93 Rn. 16, 31. 162 Lohse, Unternehmerisches Ermessen, S. 37; Habersack, in: Karlsruher Forum 2009, S. 5 (14); Fleischer, in: Festschrift Wiedemann, S. 827 (829). 163 Lohse, Unternehmerisches Ermessen, S. 37; Fleischer, in: Festschrift Wiedemann, S. 827 (829).

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liche Würdigung nicht relativiert, sondern diese Erkenntnisse sollten entsprechend berücksichtigt werden. Unternehmerische Entscheidungen, die auch steuerrechtlich relevante Sachverhaltsgestaltungen beinhalten können, werden typischerweise unter Unsicherheit, häufig unter Zeitdruck getroffen und ihnen liegt regelmäßig ein prognostisches Element zugrunde164. Ähnlich wie die business judgement rule durch einen »safe harbour« der Risikoaversion von Organmitgliedern für unternehmerische Entscheidungen entgegenwirken soll165, muss auch dem Steuerpflichtigen bei steuerlichen Gestaltungen eine Bewertungsprärogative für die außersteuerlichen Wirkungen einer auch steuerrechtlich relevanten unternehmerischen Gestaltung eingeräumt werden. Allein aus dem Umstand, dass sich im Ergebnis die außersteuerlichen Gründe nicht oder nicht in der geplanten Höhe realisiert haben, kann nicht automatisch geschlossen werden, dass zum Zeitpunkt der Gestaltung keine ausreichenden legitimen Beweggründe vorlagen. In Betracht kommt dies etwa beim Erwerb von Anteilen einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, durch den der steuerlich vorteilhafte Anwendungsbereich der Fusionsrichtlinie eröffnet wird166. Hier können ex ante unternehmerische Motive wie die Steigerung des Marktanteils, Synergieeffekte, Effizienzsteigerung, Verbesserung der Einkaufskonditionen oder Kursgewinne zum Zeitpunkt des Anteilserwerbs steuerliche Motive überwogen haben. Im Nachhinein kann sich jedoch herausstellen, dass der beabsichtigte wirtschaftliche Erfolg nicht in geplanter Weise eintritt, sondern im Ergebnis der steuerliche Vorteil den unternehmerischen Erfolg übersteigt. Gleiches ist für Sachverhalte denkbar, bei denen Konzerne durch einen unterschiedlichen Sitz von Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften oder Betriebstätten aufgrund der Mutter-Tochter-Richtlinie von vorteilhaften Steuersystemen bestimmter Mitgliedstaaten profitieren167. Auch hier können ex ante vernünftige unternehmerische Motive wie Diversifizierung, Vergrößerung des Absatzmarktes, vorteilhafte Produktionsbedingungen und Wachstumspotenzial für die wechselseitigen Geschäftsbeziehungen zwischen den Konzerngesellschaften gesprochen haben, die sich ex post nicht bewahrheitet haben, und deshalb im Ergebnis überwiegend ein Steu164

Spindler, in: Münchener Kommentar zum AktG, § 93 Rn. 36; ders., in: Festschrift Canaris II, S. 403 (413); Fleischer, in: Spindler/Stilz Kommentar zum AktG, § 93 Rn. 60. 165 Lohse, Unternehmerisches Ermessen, S. 37; Mertens/Cahn, in: Kölner Kommentar zum AktG, § 93 Rn. 13; Paefgen, AG 2004, 245 (247). 166 Vgl. EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369; EuGH v. 5. 7. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:408; EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/ 10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718. 167 Vgl. EuGH v. 17. 10. 1996 – verbundene Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 – Denkavit u. a., ECLI:EU:C:1996:387; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24; EuGH v. 22. 5. 2008 – Rs. C162/07 – Ampliscientifica u. a., ECLI:EU:C:2008:301.

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ervorteil erreicht werden. Hier darf die steuerliche Bewertung der Gestaltung nicht vom ex post eingetretenen Erfolg abhängig gemacht werden, sondern von den ex ante zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung vorliegenden Motiven168. Das Steuerrecht knüpft grundsätzlich an das wirtschaftliche Ergebnis eines ökonomischen Prozesses an169. Wenn sich die eingegangenen Chancen und Risiken jedoch anders entwickelt haben, als dies geplant wurde, begründet dies allein noch keinen subjektiven Missbrauchsvorwurf. Dem Gestaltenden muss bei der Bewertung der zukünftigen wirtschaftlichen Wirkung außersteuerlicher Erwägungen daher ein gewisser Ermessensfreiraum eingeräumt werden, der mit dem unternehmerischen Ermessen170 vergleichbar ist. Der Bewertungsfreiraum des Gestalters kann dabei nicht grenzenlos erfolgen, sondern die ex ante vorherrschenden Motive müssen überzeugend und objektiv nachprüfbar vorgetragen werden. In Betracht kommt hierzu die für das europäische Bilanzrecht von Florstedt/Wüstemann/Wüstemann dargelegte Methode, „Informationen aus dem Internen für das Externe“ zu verwenden171. Dazu werden durch den management approach und den business-model approach als „Spielarten einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise im weiten Sinne“ die für die interne Steuerung verwendeten Controlling-Informationen in einer Zweitverwendung als Planungsrechnungen auch für die Bewertung der außersteuerlichen Beweggründe herangezogen172. Dabei werden auf Grundlage der Informationen, die den zuständigen Mitgliedern der Geschäftsleitung zur internen Risikosteuerung zur Verfügung stehen, die Risiken durch das Unternehmen extern so dargestellt, „wie diese im Rahmen des Managementinformationssystems quantitativ erfasst und innerhalb des Unternehmens überwacht werden“173. Bei einem Anteilserwerb, der die Anwendung der Fusionsrichtlinie zur Folge hat, können etwa die internen Modelle zur voraussichtlichen Auswirkung auf den Marktanteil, Synergieeffekte, Kostensenkung durch Effizienzsteigerungen, günstigere Einkaufspreise oder prognostizierte Kursgewinne herangezogen werden. Bei Transaktionen im Anwendungsbereich der MutterTochter-Richtlinie sind die internen Risikomodelle und Planungsrechnungen dazu in der Lage, Aufschluss über die konzernintern zu erwartenden Folgen zu liefern. Andererseits beeinflussen auch die zu erwartenden steuerlichen Auswirkungen die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmensführung und sind in Form der

168

Vgl. auch Bergmann, StuW 2010, 246 (258). Crezelius, in: Festschrift Gosch, S. 47 (48). 170 Hierzu grundl. Lohse, Unternehmerisches Ermessen, passim. 171 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (383); Benecke, Internationale Rechnungslegung und Management Approach, S. 55. 172 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (382 f.); s. auch D. Weber, KoR 2012, 74 (80). 173 KPMG, Offenlegung von Finanzinstrumenten und Risikoberichterstattung nach IRFRS 7, S. 115. 169

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Steuerplanung Bestandteil der allgemeinen unternehmerischen Planung174. Interne steuerliche Modelle wie die Teilsteuerrechnung oder Veranlagungssimulationen bieten Aufschluss über die zu erwartenden Steuereffekte von verschiedenen unternehmerischen Handlungsalternativen175. Zur Überprüfung der subjektiven Motive können die der Steuerverwaltung vorgebrachten good business reasons mit den Daten des internen Reporting und der innerbetrieblichen Steuerplanung verglichen werden176. Die tatsächlichen Geschäftsmodelle und internen Planungen könnten demnach als Ausgangspunkt für die Feststellung außersteuerlicher Gründe zum Zeitpunkt der unternehmerischen, steuerrechtlich relevanten Entscheidung dienen, um somit die wirtschaftliche Substanz mit der Folge einer „Objektivierung durch Subjektivierung“ abzubilden177.

III. Nationale Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerumgehung Auf dem Gebiet der direkten Steuern, auf dem außerhalb der sekundärrechtlichen Sonderregelungen die nationale Regelungskompetenz erhalten geblieben ist178, geht der EuGH zwar prinzipiell von der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten in Steuerangelegenheiten aus, da die Union in diesem Bereich noch keine Kompetenzen habe; bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch die unionsrechtlichen Vorgaben – auch zum Missbrauchsverbot – beachten179. Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerumgehung sind bspw. dann nicht gerechtfertigt, wenn sie „nicht speziell bezwecken, rein künstliche Konstruktionen, die auf eine Umgehung des Steuerrechts […] gerichtet 174

Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, S. 9. Hey, in: Festschrift Kirchhof, S. 1657. 176 Vgl. Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (384). 177 Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374 (383 f.); vgl. auch Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 522 (539). 178 Stewen, EuR 2008, 445 (446). 179 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 19 f. mit Verweis auf EuGH v. 14. 2. 1995 – Rs. C-279/93 – Schumacker, ECLI:EU:C:1995:31, Rn. 21; EuGH v. 11. 8. 1995 – Rs. C-80/94, Wielockx, ECLI:EU:C:1995:271, Rn. 16; EuGH v. 27. 6. 1996 – Rs. C-107/94 – Asscher, ECLI:EU:C:1996:251, Rn. 36; EuGH v. 15. 5. 1997 – Rs. C-250/95 – Futura Participations und Singer, ECLI:EU:C:1997:239, Rn. 19; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 42; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 26; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 44; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 29; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 40; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 25; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 12. 175

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Dritter Hauptteil

sind,“ vom Steuervorteil auszuschließen, sondern abstrakt alle Fälle unabhängig von den konkreten Gründen umfassen, bei denen die überwiegende Anzahl der Tochtergesellschaften eines Konzerns ihren Sitz außerhalb des Mitgliedslandes der Muttergesellschaft haben; denn dies bedeute noch keine Steuerumgehung, da die Tochtergesellschaften dem Steuerrecht des Mitgliedstaates ihres Gesellschaftssitzes unterworfen sind180. Nach Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG grundsätzlich zulässige nationale Vorschriften zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung sind dabei nach den Vorgaben des Gerichtshofs eng auszulegen und dürfen nur dann von den Grundsätzen der in der Richtlinie vorgesehenen Besteuerungsgrundlage abweichen, wenn dies zur Vermeidung der Steuerumgehung unbedingt erforderlich ist181.

IV. Zwingende Gründe des Allgemeinwohls als Einschränkungsmöglichkeit der Grundfreiheiten Eine Einschränkung von Grundfreiheiten ist nach dem europäischen Missbrauchsverbot – wie dargestellt – zulässig bei künstlichen Sachverhaltsgestaltungen, die auf einen illegitimen Steuervorteil abzielen182. Als Rechtfertigungsgrund zur Einschränkung unionsrechtlicher Freiheiten kommen zwingende Gründe des Allgemeinwohls in Betracht. Der EuGH hat in einer Vielzahl von Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass zwingende Gründe des Allgemeinwohls geeignet sein können, eine Beschränkung von Grundfreiheiten durch nationale Rechtsordnungen zu rechtfertigen183. Der Gerichtshof hat die Rechtfertigungswirkung zwingender 180

EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26 (Hervorhebung durch den Verfasser); EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 61; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 37; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 50 ff.; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 51, 55; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 72, 74; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 26; EuGH v. 21. 1. 2010 – Rs. C-311/08 – SGI, ECLI:EU:C:2010:26, Rn. 71 f.; EuGH v. 31.5. 2018 – Rs. C-382/16 – Hornbach-Baumarkt-AG, ECLI:EU:C:2018:366, Rn. 49. 181 EuGH v. 29. 5. 1997 – Rs. C-63/96 – Skripalle, ECLI:EU:C:1997:263, Rn. 24. 182 S. neben den Ausführungen oben unter § 6 auch Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (330). 183 EuGH v. 9. 3. 1999 – Rs. C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126, Rn. 34; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 33; EuGH v. 30. 9. 2003 – Rs. C-167/01 – Inspire Art, ECLI:EU:C:2003:512, Rn. 133; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 49; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 35; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 46 f.; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Liti-

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Gründe des Allgemeinwohls in verschiedenen Fallgruppen näher untersucht und es lassen sich hieraus allgemeine Erkenntnisse im steuerrechtlichen Kontext folgern. 1. Steuerliche Einbußen eines Mitgliedstaats Die Mitgliedstaaten können ihr Steuersystem und die Höhe ihrer Steuersätze grundsätzlich frei gestalten und in diesem Zusammenhang auch Vorschriften verwenden, die Steuerumgehung verhindern sollen184. Steuerliche Einbußen eines Mitgliedstaats, die aus der Ausnutzung des Steuergefälles resultieren, sind jedoch „nach ständiger Rechtsprechung nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses anzusehen“, der eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten durch nationale Maßnahmen rechtfertigen könne185. Drohende Minderungen von Steuereinnahmen führen selbst dann nicht zur Begründung eines Missbrauchs des Unionsrechts, wenn sich eine Sachverhaltsgestaltung das niedrige Steuerniveau in einem anderen Mitgliedstaat zunutze macht186. Auch der bloße Wegzug in ein anderes Mitgliedsland oder die Gründung von Tochtergesellschaften im Ausland aus Steuergründen darf kein Anlass für eine steuerliche Sonderbehandlung sein187. 2. Steuerflucht Zwar erklärte der Gerichtshof noch im Jahr 1986, die Gefahr der Steuerflucht könne keine Ausnahme von Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit zulassen188. In späteren Urteilen, insbesondere in der ICI-Rechtsprechung, nimmt der EuGH jedoch eine Kehrtwende vor und sieht die Bekämpfung der Steuerflucht als Rechtfertigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 64; EuGH v. 17. 1. 2008 – Rs. C-105/07 – Lammers & Van Cleef NV, ECLI:EU:C:2008:24, Rn. 20. 184 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (342); Englisch, in: Tipke/Lang, § 4 Rn. 91, 93. 185 EuGH v. 8. 3. 2001 – verbundene Rs. C-397/98 und C-410/98 – Metallgesellschaft u. a., ECLI:EU:C:2001:134, Rn. 59; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 50; EuGH v. 12. 12. 2002 – Rs. C-324/00 – Lankhorst-Hohorst, ECLI:EU:C:2002:749, Rn. 36; EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 60; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 44; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 49; EuGH v. 7. 9. 2004 – Rs. C-319/ 02 – Manninen, ECLI:EU:C:2004:484, Rn. 49; EuGH v. 17. 9. 2009 – Rs. C-182/08 – Glaxo Wellcom, ECLI:EU:C:2009:559, Rn. 82; vgl. auch Lang, in: Festschrift Spindler, S. 297 (304 f.). 186 EuGH v. 26. 10. 1999 – Rs. C-294/97 – Eurowings, ECLI:EU:C:1999:524, Rn. 43; EuGH v. 26. 3. 2003, Rs. C-422/01– Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 52. 187 EuGH v. 11. 3. 2004 – Rs. C-9/02 – de Lasteyrie du Saillant, ECLI:EU:C:2004:138, Rn. 3, 38; Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (334). 188 EuGH v. 28. 1. 1986 – Rs. 270/83 – Kommission/Frankreich, ECLI:EU:C:1986:37, Rn. 25.

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Dritter Hauptteil

gungsgrund zur Beschränkung von Grundfreiheiten an189. Mittlerweile wird die Gefahr der Steuerflucht in ständiger Rechtsprechung als Rechtfertigungsgrund zur Einschränkung der Grundfreiheiten anerkannt190. Der EuGH erklärte, dass es Verhaltensweisen geben kann, die das Recht der Mitgliedstaaten, ihre Besteuerungszuständigkeit für die in ihrem Hoheitsgebiet durchgeführten Maßnahmen zu sichern, rechtfertigen. Die Gefahr der Steuerflucht besteht etwa dann, wenn Verluste innerhalb eines Konzerns zu der Gesellschaft geleitet werden können, für die das dortige Steuerrecht die höchsten Steuersätze vorsieht und daher die Verrechnung mit den dortigen Gewinnen die Gesamtkonzernsteuer im Ergebnis im stärksten Umfang reduziert191. Die Bekämpfung von Steuerflucht durch Verlusttransfers innerhalb eines Konzerns sei ein legitimes Ziel, das zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht; die hiergegen ergriffenen Maßnahmen müssen jedoch auch erforderlich und verhältnismäßig sein192. Es dürfen dazu nationale Maßnahmen erlassen werden, die „speziell bezwecken, nur zur Umgehung des nationalen Steuerrechts oder zur Steuerflucht geschaffene Sachverhalte von einem Steuervorteil auszuschließen“193. 3. Verhinderung doppelter Verlustanrechnung Der EuGH hat das Recht der Mitgliedstaaten als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung von Grundfreiheiten anerkannt, zu verhindern, dass angefallene Verluste in mehreren Mitgliedstaaten steuerlich geltend gemacht werden194. Dies ist bspw. der Fall, wenn eine Gesellschaft die Verluste ihrer Betriebstätte, die in einem anderen 189 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26 ff.; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 49; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 41; s. auch Wyatt/Dashwood, European Union Law, S. 581 f.; Lang, in: Festschrift Spindler, S. 297 (305). 190 EuGH v. 16. 7. 1998 – Rs. C-264/96 – ICI, ECLI:EU:C:1998:370, Rn. 26 ff.; EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 33; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 2, 16 f.; Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (500); Musil/Fähling, DStR 2010, 1501 (1503). 191 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 49; EuGH v. 12. 9. 2006 – Rs. C-196/04 – Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, ECLI:EU:C:2006:544, Rn. 56; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 60 ff.; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 75 ff. 192 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 53; EuGH v. 13. 3. 2007 – Rs. C-524/04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, ECLI:EU:C:2007:161, Rn. 64. 193 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 57. 194 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 47, 49; EuGH v. 29. 3. 2007 – Rs. C-347/04 – Rewe Zentralfinanz, ECLI:EU:C:2007:194, Rn. 47; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 35.

§ 10 Dynamische Präzisierung des Missbrauchsverbots

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Mitgliedstaat gelegen ist, einmal im Mitgliedstaat des Sitzes der Muttergesellschaft und ein weiteres Mal in dem Mitgliedstaat, in dem sich die Betriebstätte befindet, steuerlich geltend macht195. 4. Wohnsitz, Gesellschaftssitz und Ort der Wirtschaftstätigkeit als Anknüpfungspunkte der Besteuerung Die Grundfreiheiten schützen nicht den Wunsch des Steuerzahlers, das maßgebliche Steuerrecht auszuwählen, ohne dort tatsächlich wirtschaftlicher Tätigkeit nachzugehen. Das Steuerrecht wird vielmehr durch nationale gesetzliche Anknüpfungspunkte, wie Wohnsitz, Sitz der Gesellschaft und wirtschaftliche Aktivitäten bestimmt196. Auch räumen die Grundfreiheiten nicht das Recht ein, Gewinne und Verluste im Konzern, losgelöst vom Entstehungsort und Ansässigkeitsstaat, dort zu versteuern, wo das günstigste Steuerregime herrscht197. Zu differenzieren ist in diesem Zusammenhang insbesondere zwischen der gesellschaftsrechtlichen Behandlung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen in verschiedenen Mitgliedstaaten und der steuerrechtlichen Würdigung derartiger Strukturen198. Sofern eine Gesellschaft in einem Staat keiner tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgeht, sondern eine Zweitniederlassung lediglich eine „fiktive Ansiedlung“ darstellt, so stellt diese Gründung eine „künstliche Gestaltung“ dar, die nicht den Zielen der Niederlassungsfreiheit entspricht, sodass als Folge des Missbrauchs nicht die vorteilhaften Steuerregelungen des Zielmitgliedstaats zur Anwendung gelangen199. 5. Ausgewogene Aufteilung der Besteuerung zwischen den Mitgliedstaaten Der Gerichtshof erkennt die ausgewogene Aufteilung der Besteuerung zwischen den Mitgliedstaaten grundsätzlich als Rechtfertigungsgrund für eine Einschränkung von Grundfreiheiten an200. In diesem Kontext soll es dem Steuerpflichtigen nicht gestattet sein, durch bloßen „Willensakt“ die Besteuerung zwischen den involvierten 195

EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 34 ff. Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (581). 197 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763; Schön, in: Festschrift Reiss, S. 571 (581). 198 Kokott, FR 2008, 1041 (1042); O’Shea, EC Tax Journal 11 (2010), 76 (95 ff.). 199 Lenaerts, 22 Maastricht Journal of European and Comparative Law (2015), 329 (341). 200 EuGH v. 12. 5. 1998 – Rs. C-336/96 – Gilly, ECLI:EU:C:1998:221, Rn. 30; EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 47 ff.; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 41 f.; EuGH v. 21. 1. 2010 – Rs. C-311/08 – SGI, ECLI:EU:C:2010:26, Rn. 69; zustimmend Kokott, FR 2008, 1041 f.; Lang, in: Festschrift Spindler, S. 297 (319 f.); Demleitner, SteuK 2011, 360 (362); Englisch, in: Tipke/Lang, § 4 Rn. 96. 196

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Dritter Hauptteil

Mitgliedstaaten zu verlagern201. In anderen Entscheidungen spricht der EuGH in diesem Zusammenhang von einer Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten, um deren Recht zur Besteuerung der Gewinne zu sichern und die unbegrenzte Möglichkeit, Verluste in Abzug zu bringen, einzuschränken202. Die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis kann es dementsprechend notwendig machen, auf wirtschaftliche Tätigkeiten sowohl für Gewinne als auch für Verluste das Steuerrecht des territorial zuständigen Mitgliedstaates anzuwenden203. Neben den Aussagen des EuGH zur Verhinderung der Steuerflucht und der doppelten Verlustnutzung zeigen auch die Ausführungen zur ausgewogenen Aufteilung der Besteuerung, dass der Gerichtshof dem berechtigten Interesse der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Steuererhebung Rechnung trägt. 6. Steueraufsicht Auch die Wahrung einer wirksamen Steueraufsicht kann als Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung von unionsrechtlichen Freiheiten herangezogen werden204. Mit diesem Rechtfertigungsgrund befasste sich der EuGH in der Rechtssache Skandia und Ramstedt und konkretisierte dessen Voraussetzungen näher. Nach schwedischem Recht konnte eine Versicherung nur dann als Rentenversicherung angesehen werden, wenn sie bei einem in Schweden niedergelassenen Versicherungsunternehmen abgeschlossen wurde205. Die schwedische Regierung rechtfertigte diese Einschränkung mit der Notwendigkeit, eine wirksame Steueraufsicht in zufriedenstellender Weise ausüben zu können206. Der EuGH erkennt zwar das Interesse der Mitgliedstaaten an einer wirksamen Steueraufsicht grundsätzlich an, erklärt jedoch, die vorliegende Regelung verstoße gegen den freien Dienstleistungsverkehr, da eine wirksame Steuerkontrolle auch durch andere Maßnahmen erreicht werden könne, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger stark einschränken als diese nationale Regelung des Ausgangsverfahrens207. Mitgliedstaaten könnten bspw. nach der Amtshilfe-Richtlinie208 die zuständigen Behörden eines 201

Schön, IStR 2011, 777 (779). EuGH v. 18. 7. 2007 – Rs. C-231/05 – Oy AA, ECLI:EU:C:2007:439, Rn. 60; EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 52; vgl. auch Lang, in: Festschrift Spindler, S. 297 (319). 203 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 45. 204 Englisch, in: Tipke/Lang, § 4 Rn. 104; Kokott/Ost, EuZW 2011, 496 (500 f.). 205 EuGH v. 2. 3. 2003 – Rs. C-422/01 – Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 5. 206 EuGH v. 2. 3. 2003 – Rs. C-422/01 – Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 38. 207 EuGH v. 2. 3. 2003 – Rs. C-422/01 – Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 42; s. auch Englisch, in: Tipke/Lang, § 4 Rn. 104. 208 Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/ 202

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anderen Mitgliedstaats um alle Auskünfte ersuchen, die sie für die notwendige Festsetzung der Einkommensteuer benötigen209. Auch könnten sie sich vom Steuerpflichtigen alle Belege vorlegen lassen, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Abzug vorliegen210. 7. Keine Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens mehrerer Rechtfertigungsgründe Es gibt, wie dargestellt, eine Reihe von Rechtfertigungsgründen zur Einschränkung von Grundfreiheiten, die Mitgliedstaaten dazu ermächtigen, Maßnahmen gegen Steuerausfälle vorzunehmen. Der Gerichtshof gab zunächst in der Rechtssache Marks & Spencer zu verstehen, dass „sich aus diesen drei Rechtfertigungsgründen“ eine zulässige Beschränkungsmöglichkeit der in Frage stehenden Grundfreiheit durch nationale Regelungen ergab211, was missverständlicherweise als Notwendigkeit des kumulativen Vorliegens der Rechtfertigungsgründe verstanden werden konnte. Der Gerichtshof stellte jedoch in der Folgerechtsprechung Lidl Belgium klar, dass die Rechtfertigungsgründe nicht kumulativ vorliegen müssen, sondern diese alternativ die Beschränkung unionsrechtlicher Freiheiten rechtfertigen können212.

V. Rechtsfolgen der Steuerumgehung nach der Dogmatik des Missbrauchsverbots 1. Auswirkung auf die zivilrechtliche Wirksamkeit der Gestaltung Wird eine Steuerumgehung nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot festgestellt, so berührt dies grundsätzlich nicht die Wirksamkeit einer zivilrechtlichen Transaktion, sondern es wird lediglich der unionsrechtliche Steuervorteil bzw. EWG. Zur Bekämpfung von Steuerumgehung und aggressiver Steuerplanung hat die Kommission jüngst einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU veröffentlicht (COM/ 2016/025 final), der Teil des Aktionsplan der Kommission für eine fairere Unternehmensbesteuerung (COM(2015) 302) und der angekündigten Initiativen zur Bekämpfung der Steuervermeidung ist, um den nationalen Steuerbehörden „umfassende und relevante Informationen über die Struktur und die Verrechnungspreispolitik multinationaler Unternehmensgruppen sowie über ihre internen Transaktionen mit nahestehenden Unternehmen“ zur Verfügung zu stellen. 209 EuGH v. 2. 3. 2003 – Rs. C-422/01 – Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 42. 210 EuGH v. 2. 3. 2003 – Rs. C-422/01 – Skandia und Ramstedt, ECLI:EU:C:2003:380, Rn. 43. 211 EuGH v. 13. 12. 2005 – Rs. C-446/03 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2005:763, Rn. 51. 212 EuGH v. 15. 5. 2008 – Rs. C-414/06 – Lidl Belgium, ECLI:EU:C:2008:278, Rn. 40 f.

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Dritter Hauptteil

der aus der Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates resultierende Steuervorteil nicht gewährt213. Die Feststellung eines steuerrechtlichen Missbrauchs des Unionsrechts wirkt sich demnach nicht auf die zivilrechtliche Wirksamkeit der Gestaltung aus. 2. Auswirkung auf den unionsrechtlichen Steuervorteil Sofern Steuerbehörden eine missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht feststellen, die einen Steuervorteil zur Folge hätte, können sie den Vorteil versagen oder einen erstatteten Betrag zurückverlangen214. Die dogmatische Methode der Rechtsfolgenanordnung geht dabei nicht klar aus der Judikatur hervor. Es kommen zwei Begründungsmodelle in Betracht215: Zum einen wäre die schlichte Entziehung des Vorteils im Umfang der Missbräuchlichkeit möglich, zum anderen könnte auf den hypothetisch nicht missbräuchlichen Sachverhalt abgestellt werden und dieser als Grundlage der Besteuerung herangezogen werden. Die schlichte Entziehung des Vorteils wird in den meisten Fällen in der Praxis einfacher vorzunehmen sein. Sie ist jedoch dann nicht möglich, wenn ein nicht missbräuchlicher Sachverhalt konstruiert werden muss, um etwa als Bemessungsgrundlage der Besteuerung zu dienen. Die Gestaltung wird hierfür in einer hypothetisch nicht missbräuchlichen Weise neu definiert216, wozu zunächst dieser nicht missbräuchliche Sachverhalt ermittelt werden muss. Im mehrwertsteuerlichen Kontext hat der Gerichtshof dazu formuliert, dass „Umsätze im Rahmen einer missbräuchlichen Praxis in der Weise neu zu definieren sind, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte“217. Es wird somit auf den hypothetisch nicht missbräuchlichen Sachverhalt abgestellt, der ohne die die missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte. Dabei darf bei der vorgenommenen Neudefinition nicht über das zur genauen Erhebung der Mehrwertsteuer Erforderliche hinausgegangen werden218. Probleme können sich indes ergeben, wenn

213

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 98, 100. EuGH v. 3. 3. 2005 – Rs. C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rn. 33. 215 Die Problematik ist vergleichbar mit der Methodik der Rechtsfolgenanordnung nach § 42 Abs. 1 S. 3 AO. Hier wird nach nationalem Verständnis teilweise eine Sachverhaltsfiktion angenommen, wodurch bei einem Missbrauch der Steueranspruch „entsprechend der den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung“ entsteht (so Drüen, Tipke/ Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 35a; ähnl. Englisch, in: Tipke/Lang, § 4 Rn. 134). Nach anderer Auffassung wird dem tatsächlich verwirklichten Sachverhalt eine andere „fingierte“ Rechtsfolge zugeordnet (so Wendt, in: DStJG 33 [2010], S. 116 [133 f.]; Koenig, in: Koenig AO, § 42 Rn. 28). 216 Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EULaw, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (542). 217 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 94 (Zitat) und 98; EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 48. 218 EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 52. 214

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mehrere hypothetisch nicht missbräuchliche Sachverhalte mit unterschiedlichen steuerlichen Folgen denkbar sind219.

VI. Folgerungen Im Steuerrecht hat das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbot aufgrund seiner Bedeutung für eine wirksame Normbehauptung die Funktion, die juristische Form einer Gestaltung mit ihrer wirtschaftlichen Substanz zu vergleichen. Es hat sowohl durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln der Legislative als auch durch die Judikatur eine Konkretisierung erfahren, um dadurch den Herausforderungen grenzüberschreitender aggressiver Steuerplanung besser gerecht werden zu können. Dabei sind grundsätzlich – dem allgemeinen Missbrauchsverbot entsprechend – objektive und subjektive Elemente jeweils positiv festzustellen. Ein Missbrauch steuerrechtlicher Regelungen setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass die Gestaltung bei ihrer Anerkennung trotz formaler Erfüllung der Bestimmungen einen Steuervorteil zum Ergebnis hätte, dessen Gewährung den mit der Bestimmung verfolgten Zielen zuwiderläuft. Das subjektive Element verlangt, dass „im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll“. Ausgangspunkt der Missbrauchsprüfung im Steuerrecht ist dabei der an sich wertneutrale Steuervorteil. Entspricht dieser Steuervorteil einer steuerrechtlichen Lenkungsfunktion oder wird dieser durch die Ausübung legitimer Wahlrechte erreicht, scheidet der Missbrauchsvorwurf bereits auf Ebene des objektiven Missbrauchselements aus. Da das Ergebnis einer steuerrechtlich relevanten Sachverhaltsgestaltung – der Steuervorteil – regelmäßig keinen ausreichenden Aufschluss über die objektive Rechtmäßigkeit einer Gestaltung liefern kann, muss bei der Prüfung am Normtelos die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung, also wie der Steuervorteil erreicht wurde, an den Normzielen der Steuerregelung gemessen werden. Sowohl steuerrechtlich relevante sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln als auch die Judikatur zum Missbrauchsverbot im steuerrechtlichen Kontext legen besondere Bedeutung auf das subjektive Element. Das subjektive Element dient im Steuerrecht der Funktion, bei Sachverhaltsgestaltungen die tatsächliche ökonomische Realität juristisch zu erfassen. Die subjektiven Motive werden dazu auf ihre Kongruenz mit der wirtschaftlichen Realität hin untersucht, um dadurch die zivilrechtliche Form mit ihrer ökonomischen Substanz zu vergleichen. Maßstab des subjektiven Elements ist sowohl im europäischen Steuerrecht als auch nach dem allgemeinen Verständnis zum europäischen Missbrauchsverbot ein Überwiegen illegitimer Motive. Hinsichtlich der in der Zukunft zu erwartenden Wirkung außersteuerlicher Gründe muss dem Gestalter eine gewisse, objektiv nachprüfbare Bewertungsprärogative eingeräumt werden, um die Eingehung vernünftiger unternehmerischer Risiken nicht durch eine sanktionierende Besteuerung 219

S. zum Parallelproblem im deutschen Recht Wendt, in: DStJG 33 (2010), S. 117 (133).

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Dritter Hauptteil

eines Misserfolgs zu verhindern. Dazu können Informationen aus dem Internen für das Externe verwendet werden, indem auf den management approach und den business-model approach als Spielarten einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zurückgegriffen wird. Die der Steuerverwaltung vorgetragenen Beweggründe können dann mit den Daten des internen Reporting und der innerbetrieblichen Steuerplanung verglichen werden. Wird ein Missbrauch des Unionsrechts im steuerrechtlichen Kontext festgestellt, so ist der formal vorgesehene Steuervorteil auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht zu gewähren bzw. zurückzuverlangen. Die Wirksamkeit der zivilrechtlichen Gestaltung wird dabei regelmäßig nicht berührt.

§ 11 Die gebotene Auslegung des allgemeinen Missbrauchsverbots in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken Die neueste Entwicklung einer europaweit vereinheitlichten Missbrauchsverhinderung findet derzeit in der unionsrechtlichen Körperschaftsbesteuerung statt. Im Anschluss an die Entwicklung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in der Judikatur und Ausformung in sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln ist der aktuellste Schritt zur Vermeidung von Steuerumgehung auf Unionsebene die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts vom 12. Juli 2016220. Während die bisherigen legislativen Missbrauchsregelungen auf Spezialbereiche im sekundärrechtlichen Steuerrecht beschränkt waren, soll die Richtlinie durch ein Zusammenspiel von speziellen Missbrauchsbestimmungen und einer allgemeinen Missbrauchsverhinderungsregelung die Umgehung der Körperschaftsteuer auf Unionsebene insgesamt wirksam verhindern. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot hat in dieser Funktion nach seiner Herleitung aus dem Primärrecht durch den Gerichtshof und infolge seiner judikativen und legislativen Präzisierung im steuerrechtlichen Kontext durch die allgemeine Missbrauchsklausel in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken nun eine neue Stufe der Integration erreicht, da das Missbrauchsverbot durch die Richtlinienbestimmung im europäischen Unternehmenssteuerrecht verbindlich umfassend zur Anwendung gelangt. Dies erweitert die Bedeutung des europäischen Missbrauchsverbots für das Steuerrecht erheblich.

220 Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts.

§ 11 Gebotene Auslegung

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I. Hintergrund der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken Die Behauptung des Steuerrechts findet aktuell insbesondere auf internationaler Ebene statt, um grenzüberschreitende Steuerumgehungen in Form der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung zu bekämpfen. Um gegen derartige Steuerumgehungsgestaltungen multinationaler Konzerne wirkungsvoll vorgehen zu können, verfolgen die OECD und die Europäische Union eine gemeinsame Strategie. Ausgangspunkt des Aktionsplans der Kommission für eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung221 vom 17. 6. 2015 war der Bericht der OECD Addressing Base Erosion and Profit Shifting222 aus dem Jahr 2013. Im Januar 2016 erließ die Kommission dann als Teil der „Agenda der Kommission auf dem Weg zu einer faireren, einfacheren und effizienteren Unternehmensbesteuerung in der EU“, die die Unternehmensbesteuerung innerhalb der Union reformieren soll, das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung223. Teil dieses Maßnahmenpakets der Kommission sind (1) eine Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken, die durch verbindlich umzusetzende Maßnahmen gegen aggressive Steuerplanung einen Mindeststandard zum Schutz gegen die Umgehung der Unternehmensbesteuerung einführen soll, (2) die Änderung der Richtlinie zur Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden, um durch neue Transparenzvorschriften die Identifikation und Bekämpfung von Steuervermeidungsmodellen zu ermöglichen, (3) eine Empfehlung zu Steuerabkommen, um Doppelbesteuerungsabkommen durch eine allgemeine Missbrauchsregel und eine neue Definition der Betriebsstätte besser gegen aggressive Steuerplanung zu wappnen, (4) eine Mitteilung über eine externe Strategie für effektive Besteuerung, um einen gemeinsamen Ansatz zur Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Kontext der Besteuerung zu erreichen, und (5) eine Studie zu aggressiver Steuerplanung, um gängige Strategien multinationaler Steuergestaltung zur Verringerung der Steuerlast aufzuzeigen224.

II. Ziel der allgemeinen Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch Mit der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken soll die Besteuerung Ko¨ rperschaftsteuerpflichtiger am tatsächlichen Ort der Gewinner221

COM(2015) 302 final. OECD (2013), Addressing Base Erosion and Profit Shifting. 223 Vgl. Commission Staff Working Document, Communication from the Commission to the European Parliament and the Council – Anti Tax Avoidance Package: Next Steps towards delivering effective taxation and greater tax transparency in the EU v. 18. 1. 2016, COM(2016), 23 final. 224 Vgl. Factsheet der Kommission, Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Steuervermeidung v. 28. 1. 2016, MEMO/16/2265. 222

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wirtschaftung und der Wertschöpfung gewährleistet werden225. Aufgrund von immer wirksameren Steuervermeidungsstrategien sei es „unbedingt erforderlich, dass das Vertrauen in die Fairness der Steuersysteme wiederhergestellt und den Regierungen eine wirksame Ausübung ihrer Steuerhoheit ermöglicht wird“226. „Steuerplanungsstrategien sind außerordentlich differenziert, während sich das Steuerrecht in der Regel nicht rasch genug entwickelt, um alle fu¨ r eine Kontrolle der Steuerplanung erforderlichen besonderen Vorkehrungen vorzusehen. Deshalb ist eine allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch in einem Steuersystem nützlich; trotz Fehlens besonderer Vorschriften zur Bekämpfung der Steuervermeidung kann so gegen missbräuchliche Steuerpraktiken vorgegangen werden.“227 Die einheitliche Einführung einer allgemeinen Regelung zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken soll dem guten Funktionieren des Binnenmarktes dienen und einen einheitlichen „Mindestschutz fu¨ r den Binnenmarkt“ gewährleisten228. Sie zielt insbesondere auf die Verhinderung von Aushöhlungen der Steuerbemessungsgrundlage (Gewinnverkürzung) im Binnenmarkt und der Gewinnverlagerung in Drittländer ab229. Wie dargestellt kann das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbot als allgemeiner primärrechtlicher Rechtsgrundsatz sowohl durch die Judikatur des Gerichtshofs als auch durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln für Besonderheiten bestimmter Rechtsbereiche konkretisiert werden230. Das besondere Problem des europäischen Unternehmenssteuerrechts liegt hierbei darin, die für die Besteuerung maßgebliche ökonomische Realität im Wege des Privatrechts erfassbar machen zu müssen. Die dabei notwendige Anknüpfung an nationale Privatrechtsbegriffe kann aufgrund der Heterogenität in der konkreten Umsetzung in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine Zersplitterung in der europäischen Rechtsanwendung zur Folge haben231. Zur Konkretisierung des allgemeinen Missbrauchsverbots für die europäische Körperschaftsbesteuerung sieht Art. 6 für eine einheitliche Missbrauchsverhinderung deshalb eine ausformulierte, substanzorientierte allge225

Erwägungsgrund 1, Art. 1 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 226 Erwägungsgrund 1 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 227 Vorschlag der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, S. 10. 228 Erwägungsgründe 2 und 3 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 229 Erwägungsgrund 5 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 230 S. oben, § 8, § 9, § 10. 231 Vgl. grundl Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374.

§ 11 Gebotene Auslegung

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meine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch mit Tatbestand und Rechtsfolge vor: „(1) Liegt unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten und Umsta¨ nde eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vor, bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderlauft, so berücksichtigen die Mitgliedstaaten diese bei der Berechnung der Körperschaftsteuerschuld nicht. Eine Gestaltung kann mehr als einen Schritt oder Teil umfassen. (2) Fu¨ r die Zwecke von Absatz 1 gilt eine Gestaltung oder eine Abfolge solcher Gestaltungen in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gru¨ nden vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. (3) Bleiben Gestaltungen oder eine Abfolge solcher Gestaltungen gemäß Absatz 1 unberücksichtigt, so wird die Steuerschuld im Einklang mit nationalem Recht berechnet.“

III. Der Inhalt der allgemeinen Missbrauchsbestimmung Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot hat im Steuerrecht durch den Unionsgesetzgeber und den Gerichtshof besondere Konturen erhalten232. Vor diesem Hintergrund ist auch die allgemeine Missbrauchsverhinderungsregelung in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken unter Bezugnahme auf die jahrzehntelange Entwicklung auszulegen, die maßgeblich durch die Judikatur des EuGH geprägt wurde233. Wie auch sonst im Steuerrecht ist bei der Missbrauchsverhinderung durch die Richtlinienbestimmung nicht nur die formaljuristische Ausgestaltung relevant, sondern das wirtschaftliche Ergebnis eines ökonomischen Prozesses muss anhand tatbestandlicher Vorgaben auf seine Legitimität hin untersucht werden. Entscheidend ist insoweit, ob die rechtliche Form nicht mit der wirtschaftlichen Substanz korreliert. Auch nach der Missbrauchsverhinderungsregelung der Richtlinie sind – dem allgemeinen Missbrauchsverbot entsprechend – bei der Bewertung von aggressiver Steuerplanung objektive und subjektive Missbrauchselemente grundsätzlich jeweils positiv festzustellen, um missbräuchliche Gestaltungsmuster von legitimen Steuermodellen abzugrenzen. 1. Das objektive Element Im Rahmen der Prüfung des objektiven Elements der Missbrauchsregelung muss festgestellt werden, ob der Gestalter die Freiheit haben sollte, das vorteilsgewährende einschlägige Recht durch entsprechende Steuergestaltung wählen zu kön232

So Schlussanträge Generalanwältin Kokott v. 8. 2. 2007 – Rs. C-321/05 – Kofoed, ECLI:EU:C:2007:86, Rn. 67, zu einer Konkretisierung durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln; außerdem, ausf. oben, § 8, § 9, § 10. 233 S. oben, § 9.

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nen234. Ein Missbrauch scheidet dabei nach den Vorgaben des allgemeinen Missbrauchsverbots immer dann von vorneherein aus, wenn eine vorteilsgewährende Regelung objektive Voraussetzungen aufstellt, die die Erreichung des Ziels sicherstellen sollen, und diese Voraussetzungen durch den konkreten Sachverhalt erfüllt werden, da dann das relevante Verhalten gerade dem Zweck der Regelung entspricht235. Ausgangspunkt der teleologischen Missbrauchsprüfung im steuerrechtlichen Kontext ist dabei stets, ob der erzielte Steuervorteil einer steuerrechtlichen Lenkungsfunktion dient oder der legitimen Ausübung eines objektiven Wahlrechts des geltenden Steuerrechts entspricht236. Ist dies der Fall, scheidet der Missbrauchsvorwurf auf Ebene des objektiven Missbrauchselements aus. Die Schwelle zum Missbrauch wird erst dann überschritten, wenn eine vorteilhafte Rechtsposition zweckwidrig in Anspruch genommen wird und der Gestalter sich deshalb nicht in diese vorteilsgewährende Rechtsanwendung einwählen darf237. In objektiver Hinsicht verlangt die allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch für diese Abgrenzung konkret, dass der bezweckte Steuervorteil „dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft“. Diese Formulierung darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss im Kontext der Systematik des allgemeinen Missbrauchsverbots ausgelegt werden: Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsverbots wurde das objektive Element des allgemeinen Missbrauchsverbots durch die Judikatur des Gerichtshofs im Steuerrecht dahingehend konkretisiert, dass missbräuchliche Gestaltungen „trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen […] einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe“238. Ausgangspunkt ist demnach auch im Kontext der Unternehmensbesteuerung die Bestimmung des einschlägigen Normzieles um insbesondere zu ermitteln, ob die gesetzlich vorgesehene Vorteilsgewährung einer Lenkungsfunktion dient, bevor Sachverhaltsgestaltungen an den konkreten Zielen der Unionsregelung gemessen werden können239. Der Anknüpfungspunkt des objektiven Elements ist dabei nach der neuen Richtlinie nicht zwangsläufig das Unionsrecht, sondern es kann auch bei einem Verstoß gegen die Ziele oder Zwecke des nationalen „geltenden“ Steuerrechts erfüllt sein. In methodischer Hinsicht ergibt sich dabei das Problem, dass das Ziel oder der Zweck dieses 234

Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 93. EuGH v. 7. 2. 1979 – Rs. 115/78 – Knoors, ECLI:EU:C:1979:31, Rn. 26 f.; EuGH v. 21. 11. 2002 – Rs. C-436/00 – X und Y, ECLI:EU:C:2002:704, Rn. 44; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 47 ff. 236 Vgl. dazu oben, § 10 I. 237 Sørensen, Common Market Law Review 43 (2006), 423 (450). 238 EuGH v. 21. 2. 2006 – Rs. C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rn. 74, 86 und 2. LS (Zitat); EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 29; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 49; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 36. 239 Almendral, Intertax 33 (2005), 562 (578). 235

§ 11 Gebotene Auslegung

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geltenden nationalen Steuerrechts im Gegensatz zu unionsrechtlichen Vorbildern nicht der Binnenmarktförderung, einer Lenkungsfunktion oder anderen unionsrechtlichen Zielen dienen muss, die über die fiskalische Einnahmenerzielung hinausgehen. Problematisch ist insoweit auch der Maßstab, an dem eine Steuergestaltung in objektiver Hinsicht bewertet werden soll. Denn was nach dem Wortlaut der Missbrauchsverhinderungsregelung unter dem „geltenden Steuerrecht“ zu verstehen ist, definiert die Richtlinie nicht weiter. Die Auslegungsschwierigkeit wird deutlich, wenn man den deutschen Wortlaut mit der englischen und französischen Fassung vergleicht: Während die deutsche Fassung von geltendem Steuerrecht spricht, verwendet die englische Fassung den Begriff „applicable tax law“, die französische „droit fiscal applicable“. Bei dem geltendem Steuerrecht, ,applicable tax law‘, ,droit fiscal applicable‘ könnte es sich einerseits um das formal geltende Steuerrecht handeln, also das vorteilsgewährende Steuerrecht, auf dessen Anwendung sich der Steuerpflichtige beruft und dessen Voraussetzungen formal erfüllt sind. Anknüpfungspunkt der Missbrauchsprüfung wäre dann das potenziell missbrauchte Steuerrecht. Andererseits könnte der Anknüpfungspunkt auch das Steuerrecht sein, das bei Feststellung eines Missbrauchs tatsächlich zur Anwendung gelangt und somit materiell ,gilt‘, wenn die Berufung auf das vorteilsgewährende Steuerrecht wegen Missbrauchs verwehrt wird. Dies wäre dann das potenziell umgangene Steuerrecht. Für diese Auslegungsvariante spricht insbesondere der Formulierungsvorschlag der Kommission, nach dem für einen Missbrauch ein steuerlicher Vorteil bezweckt werden muss, „der Ziel oder Zweck der ansonsten geltenden Steuerbestimmungen zuwiderläuft“, bzw. „the object or purpose of the otherwise applicable tax provisions“ nach englischer Fassung und „l‘objet ou de la finalite´ des dispositions fiscales normalement applicables“ nach französischer Fassung240. Schließlich ist auch denkbar, in objektiver Hinsicht einen Verstoß gegen das geltende Steuerrecht anzunehmen, wenn entweder dem Telos der umgangenen oder dem Telos der missbrauchten Norm widersprochen wird. Dies entspräche etwa dem deutschen Verständnis der steuerlichen Würdigung im Rahmen des § 42 AO, nach der als Bezugspunkt der Telosprüfung sowohl der Zweck des Gesetzes in Frage kommt, dessen nachteilige Steuerrechtsfolge umgangen werden soll, als auch der Zweck einer Norm, deren Steuervergünstigung erschlichen werden soll241.

240 Art. 7 Abs. 1 des Vorschlags der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final (Hervorhebung des Verfassers). 241 Englisch, in: Tipke/Lang, § 5 Rn. 116.

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Dritter Hauptteil

2. Die gebotene Auslegung des objektiven Elements a) Vergleich mit der Formulierung der Mutter-Tochter-Richtlinie Für das richtige Verständnis der Regelung in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken lohnt ein Vergleich mit der Formulierung der offensichtlichen Vorbildregelung in der allgemeinen Missbrauchsklausel der MutterTochter-Richtlinie242. Diese sieht in Art. 1 Abs. 2 zur Erfüllung der objektiven Komponente des Missbrauchsverbots vor, dass die Gestaltung einen steuerlichen Vorteil zu erzielen versucht, „der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft“. Die Missbrauchsklausel soll demnach eine Gestaltung an den konkreten Zielen der unionsrechtlichen Mutter-Tochter-Richtlinie messen. Die Gestaltung wird somit objektiv an den Zielen der konkreten, vorteilsgewährenden Richtlinie gemessen243. Daran anlehnend verlangt die allgemeine Missbrauchsklausel der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken in objektiver Hinsicht in Art. 6 Abs. 1, dass der aus einer steuerlichen Gestaltung resultierende Vorteil „dem Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft“. Das geltende Steuerrecht muss also anders als bei dem Vorbild in der Mutter-Tochter-Richtlinie keine Regelung der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken sein, sondern kann entweder eine unionsrechtliche oder eine nationale Vorschrift sein. Aus dem Vergleich zur Formulierung der Missbrauchsklausel der Mutter-TochterRichtlinie ergibt sich jedoch der Hinweis, dass auf einen Verstoß gegen die Ziele der potenziell missbrauchten, vorteilsgewährenden Regelung, nicht jedoch gegen die Ziele der dabei umgangenen, nachteilhaften Regelung abzustellen ist. b) Rückschlüsse auf den Inhalt des objektiven Elements aus der Entwicklung des Missbrauchsverbots Gesetzesumgehung und Missbrauch beschreiben regelmäßig dasselbe Problem der Rechtsgeltung aus zwei verschiedenen Perspektiven. Durch einen Akt der Sachverhaltsgestaltung soll die Rechtsfolge einer vorteilsgewährenden Norm durch Erfüllung ihrer Tatbestandsmerkmale ausgelöst werden, während durch diesen Akt gleichzeitig der Tatbestand und somit die Rechtsfolge einer nachteiligen Norm umgangen werden soll. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wählt grundsätzlich die Perspektive des potenziell missbrauchten Unionsrechts und verwehrt die positive Rechtsfolge der unionsrechtlichen Bestimmung, wenn diese durch den Akt der Sachverhaltsgestaltung missbraucht wird. Sofern ein Missbrauch festgestellt wird, hat dies regelmäßig nicht nur die Nichtanwendung der missbrauchten, vorteilsgewährenden Unionsregelung zur Folge, sondern gleichzeitig wird als Konsequenz umgangenes nationales Recht oder Unionsrecht angewandt244. Da der EuGH die 242 243 244

S. ausf. oben, § 9 V. Vgl. oben, § 9. S. oben, § 6 VII., § 10 V.

§ 11 Gebotene Auslegung

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Unionsrechtsordnung durch das Missbrauchsverbot vor einer missbräuchlichen Berufung auf das Unionsrecht schützt, wird eine Sachverhaltsgestaltung in objektiver und subjektiver Hinsicht an der potenziell missbrauchten Unionsregelung gemessen. Die allgemeine Missbrauchsverhinderungsklausel der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken darf nun in objektiver Hinsicht keinen Perspektivwechsel vornehmen, wie es der Formulierungsvorschlag der Kommission noch nahelegte. Entscheidend war nach dem Wortlaut des Richtlinienvorschlags nicht, ob die Gewährung des Vorteils gegen ein Ziel der vorteilsgewährenden (unionsrechtlichen oder mitgliedstaatlichen) Regelung verstößt, sondern ob der Vorteil „dem Ziel oder Zweck der ansonsten geltenden Steuerbestimmungen zuwiderläuft“. Maßgebend sollte also der Verstoß gegen den Telos der durch die Sachverhaltsgestaltung umgangenen Regelung sein. Diese Konzeption unterscheidet sich erheblich von Vorbildern in bisherigen sekundärrechtlichen Missbrauchsverboten und dem von der Judikatur entwickelten, zum Primärrecht aufgewerteten Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz245. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsverbots und der Konkretisierung durch Judikatur und Unionsgesetzgeber im steuerrechtlichen Kontext kann sowohl bei der Umgehung nationalen Rechts als auch bei einem Missbrauch des Unionsrechts ausschließlich das möglicherweise missbrauchte Unionsgesetz Anknüpfungspunkt der teleologischen Missbrauchsprüfung sein246. Unter geltendem Steuerrecht i.S.d. Art. 6 der Richtlinie ist daher nicht das potenziell umgangene Steuerrecht zu verstehen, sondern das potenziell missbrauchte, vorteilsgewährende Steuerrecht. Die Gesamtwürdigung der objektiven Umstände muss dabei ergeben, dass trotz Einhaltung der formalen Kriterien der Norm das Ziel der vorteilsgewährenden Regelung verfehlt wird247. Die Prüfung bezieht sich bei mehraktigen Gestaltungen wiederum nicht auf Einzelschritte, sondern es werden alle vorangehenden und nachfolgenden Transaktionen zusammen bewertet. Bei der Zielermittlung wird dementsprechend nicht nur auf die Ziele der konkreten, möglicherweise missbrauchten Einzelvorschrift abgestellt, sondern es wird auch nach den Zielen der Gesamtregelung gefragt, der die Einzelbestimmung entlehnt ist. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass der Telos einer Einzelnorm mitunter deutlich 245

S. oben, § 6, § 9, § 10. S. oben, § 6 IV., § 9, § 10 I. 247 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 52; EuGH v. 29. 4. 2004 – verbundene Rs. C-487/01 und Rs. C-7/02 – Gemeente Leusden und Holin Groep, ECLI:EU:C:2004:263, Rn. 78; EuGH v. 21. 7. 2005 – Rs. C-515/03 – Eichsfelder Schlachtbetrieb, ECLI:EU:C:2005:491, Rn. 39; EuGH v. 16. 10. 2012 – Rs. C-364/10 – Ungarn/Slowakische Republik, ECLI:EU:C:2012:630, Rn. 58; EuGH v. 11. 3. 2014 – Rs. C-456/ 12 – O. und B., ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 15, 32; EuGH v. 17. 7. 2014 – verbundene Rs. C-58/13 und Rs. C-59/13 – Torresi, ECLI:EU:C:2014:2088, Rn. 45; EuGH v. 17. 12. 2015 – Rs. C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rn. 36; Florstedt, ZBB 2013, 81 (88); ders., FR 2016, 1 (5); Schön, in: Festschrift Wiedemann, S. 1271 (1288). 246

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schwieriger zu ermitteln ist und deshalb auf die Ziele der Gesamtregelung zurückgegriffen werden kann, die sich häufig aus den Erwägungsgründen ableiten lassen248. Ausreichend für die Erfüllung des objektiven Elements ist dabei vor dem Hintergrund der Entwicklung des Missbrauchsverbots bereits, wenn eines der Ziele der vorteilsgewährenden Regelung verletzt wird, sodass keine Gesamtabwägung aller verfolgten Ziele stattfinden muss249. Entspricht das Verhalten danach nicht den Zielen der potenziell missbrauchten Regelung und liegt demnach kein objektiv schützenswertes Verhalten vor, so hängt die Legitimität der Gestaltung von den jeweils subjektiv vorherrschenden Motiven der Beteiligten ab. 3. Das subjektive Element Die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken macht deutlich, dass es zu einer wirksamen Missbrauchsverhinderung und rationalen Anwendung von Steuergesetzen über die Wortlautgrenze hinweg zwingend der Berücksichtigung subjektiver Kriterien des Gestalters bedarf, da diese entscheidenden Aufschluss über den tatsächlichen Gehalt einer Steuergestaltung liefern250. Vor diesem Hintergrund besteht auch im Kontext der Unternehmensbesteuerung die Funktion des subjektiven Elements der Missbrauchsregelung darin, durch die Untersuchung der Gründe einer steuerrechtlich relevanten Gestaltung die ökonomische Realität erfassbarer zu machen, indem die formale zivilrechtliche Form mit der tatsächlich subjektiv verfolgten Substanz verglichen wird251. In subjektiver Hinsicht entspricht die Missbrauchsprüfung der Richtlinienregelung weitgehend der allgemeinen Missbrauchsvorschrift der Mutter-TochterRichtlinie252. Vorgesehen ist eine zweifache subjektive Prüfung. (1) Zunächst muss es sich nach Abs. 1 um eine „unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen“ handeln. Abs. 2 definiert eine Gestaltung „in dem Umfang als unangemessen, als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gru¨ nden vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln“. Entscheidend sind demnach – wie in den Vorbildern sekundärrechtlicher Missbrauchsklauseln253 – triftige wirtschaftliche Gründe. Wann diese vorliegen, bleibt wiederum offen. (2) In subjektiver Hinsicht wird weiterhin gefordert, dass die Erzielung des Steuervorteils „der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke“ der Gestaltung ist. Die wichtige Frage, wann ein Zweck wesentlich ist, wird nicht definiert. Die allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch geht jedenfalls insoweit über den vom EuGH nach allgemeinem Missbrauchsverbot im Steuerrecht geforderten Maßstab 248 249 250 251 252 253

S. oben, § 4 I. 4., § 6 IV. 2. EuGH v. 21. 2. 2008 – Rs. C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rn. 58. Vgl. oben, § 2 IV. S. oben, § 10 II. S. oben, § 9 V. S. oben, § 9.

§ 11 Gebotene Auslegung

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hinaus, nach dem das Motiv der Erzielung des Steuervorteils überwiegen muss254. Es genügt nach Art. 6 hingegen, wenn der Steuervorteil einer der wesentlichen Zwecke ist. Eine Gestaltung kann dieses subjektive Kriterium somit bereits erfüllen, wenn nur einer der Hauptbeweggründe der Steuervorteil ist. 4. Die gebotene Auslegung des subjektiven Elements Zwar sieht die allgemeine Missbrauchsverhinderungsregelung in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken prima vista nach ihrem Wortlaut eine dreistufige Missbrauchsprüfung vor: (1) Zunächst muss in dem Steuervorteil der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke liegen. (2) Dieser Steuervorteil muss gegen das Ziel oder den Zweck des geltenden – also des potenziell missbrauchten – Steuerrechts verstoßen. (3) Schließlich muss die Steuergestaltung unangemessen sein, also nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen worden sein, die der wirtschaftlichen Realität entsprechen. Bei genauerer Betrachtung ist die nunmehr sekundärrechtlich verankerte Missbrauchsregelung vor dem Hintergrund der durch die Judikatur für das Steuerrecht konkretisierten Form des allgemeinen Missbrauchsverbots jedoch systemkonform als zweistufige Missbrauchsprüfung auszulegen: Als subjektives Element sieht Art. 6 formal zum einen vor, dass der Steuervorteil der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke ist. Dies stellt prima vista eine Verschärfung des allgemeinen Missbrauchsverbots dar, das ein Überwiegen des Motivs des Steuervorteils fordert. Insoweit könnte die sekundärrechtliche Regelung zunächst eine legitime Konkretisierung des allgemeinen Missbrauchsverbots im körperschaftsteuerlichen Kontext vornehmen. Zum anderen verlangt die subjektive Komponente der Missbrauchsregelung jedoch zusätzlich eine „unangemessene Gestaltung“, die nach Abs. 2 nur in dem Umfang als unangemessen gilt, „als sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gru¨ nden vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln“. Obwohl der Begriff der Unangemessenheit hier prima vista weiter ist, als der der „rein künstlichen Gestaltung“255 ist dieses Merkmal maßgeblich durch die Künstlichkeitsjudikatur des EuGH geprägt und der Unangemessenheitsbegriff ist auch in diesem Sinne auszulegen: Nach dem Richtlinienvorschlag „soll die vorgeschlagene allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch die Kriterien des EuGH für eine künstliche Gestaltung widerspiegeln“256. Eine „rein künstliche“ Gestaltung ist nach Bekundung der Kommission gleichbedeutend mit einer „unangemessen“ Gestal-

254

S. oben, § 6 V. 4., § 10 II. Hey, StuW 2017 248 (260); Musil, FR 2018, 933 (939). 256 Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, S. 10. 255

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tung257. Der Judikatur des EuGH zum europäischen Missbrauchsverbot und den darin entwickelten Kriterien zur Künstlichkeit einer Gestaltung258 kommt daher wesentliche Bedeutung auch für die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie und dessen Unangemessenheitsbegriffs zu. Aus dem Erfordernis, dass Unangemessenheit nur insoweit angenommen werden kann, als die Gestaltung nicht der wirtschaftlichen Realität entspricht, ergibt sich unter Inbezugnahme auf die steuerrechtliche Judikatur des EuGH, dass bei einem Überwiegen außersteuerlicher Motive eine Gestaltung der wirtschaftlichen Realität entspricht und deshalb nicht missbräuchlich ist. Insoweit sind die zur Künstlichkeitsmetapher entwickelten Indizien einer subjektiv missbräuchlichen Gestaltung ausschlaggebend259. Da die Missbräuchlichkeit einer Gestaltung in subjektiver Hinsicht nur bei kumulativem Vorliegen beider subjektiver Komponenten anzunehmen ist – einer der wesentlichen Beweggründe muss der Steuervorteil sein und die Gestaltung muss unangemessen sein –, werden überwiegende triftige wirtschaftliche Gründe die Gestaltung stets legitimieren. Im Ergebnis entspricht diese subjektive Komponente der sekundärrechtlichen Missbrauchsverhinderungsregelung somit dem für das Steuerrecht durch die Judikatur konkretisiertem Maßstab des allgemeinen Missbrauchsverbots, wonach im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werden muss. Daher kann im Übrigen für den Inhalt des subjektiven Elements der Missbrauchsverhinderungsregelung auf die Ausführungen zur Präzisierung des subjektiven Elements im steuerrechtlichen Kontext verwiesen werden260. Diese Auslegung widerlegt auch die in der Literatur aufgeworfene Kritik, nach der es sich bei der Verknüpfung des Unangemessenheitskriteriums mit der wirtschaftlichen Realität tatsächlich nicht um ein subjektives, sondern um ein objektives Kriterium handeln solle261. Hier zeigt sich erneut das unterschiedliche Methodenverständnis der Missbrauchsverhinderung nach deutscher und europäischer Tradition: Das objektive Element bedeutet nach Unionsrecht traditionell die Würdigung der objektiven Gestaltung – ohne Berücksichtigung der Motive – am Normziel. Das subjektive Element bewertet demgegenüber die subjektiv bezweckte Gestaltung anhand objektiver Kriterien, um den tatsächlich angestrebten wirtschaftlichen Gehalt der Gestaltung – die wirtschaftliche Realität – an ihrer Form zu messen262. 257 Erwägungsgrund 9 des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes COM(2016) 26 final. 258 EuGH v. 14. 12. 2000 – Rs. C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rn. 53, 58; EuGH v. 13. 3. 2014 – Rs. C-155/13 – SICES u. a., ECLI:EU:C:2014:145, Rn. 33, 39 f.; vgl. auch Englisch, StuW 2009, 3 (13); s. auch Snell, The Notion of and a General Test for Abuse of Rights, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, 2011, S. 219 (226). 259 S. oben, § 6 V. 3. 260 S. oben, § 6 V., § 10 II. 261 Franz, DStR 2018, 2240 (2241). 262 Man könnte deshalb auch von einer zweifachen objektiven Prüfung sprechen, da auch die subjektive Prüfung der Motive anhand objektiver Kriterien erfolgt, s. oben, § 6 V., § 10 II. 1.

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5. Folgerung: Gesetzliche Normierung des vom EuGH konkretisierten Missbrauchsverbots Auch im europäischen Unternehmenssteuerrecht hat das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in seiner hierfür konkretisierten Form die Funktion, die juristische Form einer Steuergestaltung mit ihrer wirtschaftlichen Substanz zu vergleichen. Ausgangspunkt der Missbrauchsprüfung im Steuerrecht ist dabei stets der an sich wertneutrale Steuervorteil. Ein Missbrauch liegt – wie dargelegt – nach dem allgemeinem Missbrauchsverbot im steuerrechtlichen Kontext in objektiver Hinsicht vor, wenn die Gestaltung bei ihrer Anerkennung trotz formaler Erfüllung der Bestimmungen einen Steuervorteil zum Ergebnis hätte, dessen Gewährung den mit der Bestimmung verfolgten Zielen zuwiderläuft. Das subjektive Element ist erfüllt, wenn im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll. Da das Ergebnis einer Steuergestaltung – der Steuervorteil – regelmäßig keinen ausreichenden Aufschluss über die objektive Rechtmäßigkeit einer Gestaltung liefern kann, wird bei der Prüfung des objektiven Elements die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung an den Normzielen der Steuerregelung gemessen. Dadurch soll die tatsächliche wirtschaftliche Realität der Steuergestaltung juristisch abgebildet werden und mit den Zielen der Steuerregelung verglichen werden. Trotz im Detail abweichender Formulierung entspricht die in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken normierte Missbrauchsverhinderungsregel bei systemkonformer Auslegung exakt der Konzeption des allgemeinen unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in seiner durch den EuGH für den Bereich des Steuerrechts konkretisierten Form263. Dies bedeutet jedoch keinen Stillstand in der Entwicklung der europäischen Steuermissbrauchsverhinderung: Zwar entspricht der Inhalt des durch die Richtlinie normierten Missbrauchsverbots dem aktuellen status quo der judikativen europäischen Normbehauptung. Gleichwohl wird der Anwendungsbereich dieser rationalen Missbrauchsmethodik nun unionsweit auf den gesamten Bereich der Körperschaftsbesteuerung erweitert, um dadurch eine kohärente und effektive Missbrauchsverhinderung zu ermöglichen. Die Richtlinie sieht dazu eine einheitliche Anwendung der allgemeinen Missbrauchsklausel für grenzüberschreitende und rein nationale Sachverhalte vor: „Zudem ist es wichtig, dass die allgemeinen Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch im Inland, innerhalb der Union und gegenüber Drittländern einheitlich angewendet werden, damit sich ihr Anwendungsbereich und die Ergebnisse ihrer Anwendung in inländischen und

Vgl. auch verbundene Schlussanträge Generalanwalt Maduro v. 7. 4. 2005 – Rs. C-255/02, Rs. C-419/02 und C-233/03 – Halifax u. a., ECLI:EU:C:2005:200, Rn. 91. 263 Vgl. die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 1. 3. 2018 – Rs. C-299/16 – Z Denmark, ECLI:EU:C:2018:148, Rn. 101 (Art. 6 als „Ausdruck“ des Verbots missbräuchlicher Praktiken); a.A. Oppel, IStR 2016, 797 (802); Musil, FR 2018, 933 (936); Drüen, Tipke/ Kruse, Vorb. zur Neufassung durch das JStG 2008 § 42 Rn. 41c.

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grenzüberschreitenden Situationen nicht unterscheiden.“264 Der Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in seiner für das Steuerrecht konkretisierten Form erstreckt sich dadurch nunmehr auch verbindlich auf nationale Rechtsordnungen im Bereich der Körperschaftsbesteuerung. Durch einen Vergleich der zivilrechtlichen Form mit der wirtschaftlichen Substanz soll dadurch eine einheitliche, dem Gleichheitsgrundsatz entsprechende Besteuerung ermöglicht werden. 6. Folge der gebotenen Auslegung für eine kohärente Anwendung des allgemeinen Missbrauchsverbots Entgegen der prima vista entgegenstehenden Formulierung der Regelung ist die Missbrauchsverhinderungsklausel in Art. 6 somit im Ergebnis als legislative Normierung des allgemeinen europäischen Missbrauchsverbots in seiner durch den EuGH für das Steuerrecht konkretisierten Form anzusehen. Nur durch diese nach dem System des europäischen Missbrauchsverbots gebotenen Auslegung lässt sich eine wirksame und gleichzeitig dem Gebot der Rechtssicherheit entsprechende Normbehauptung im europäischen Steuerrecht gewährleisten. Durch Rückbezug auf das über Jahrzehnte hinweg entwickelte und konkretisierte System des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots kann eine in der Literatur als Folge der Missbrauchsregelung befürchtete Schwächung der Rechtssicherheit verhindert werden, wonach es wegen des langwierigen Rechtsweges im Unionsrechts einige Jahre dauern würde, bevor der Gerichtshof eine klare und verbindliche Auslegung der neuen Missbrauchsregelung vorgeben wird265. Sieht man in der Missbrauchsverhinderungsregelung in Art. 6 nicht die Schaffung eines neuen Missbrauchsverbots, sondern vielmehr die nun legislativ verbindliche Implementierung des nach der EuGH-Judikatur bereits heute in vielen Teilbereichen des europäischen Steuerrechts bestehenden allgemeinen Missbrauchsverbots für das gesamte Körperschaftsteuerrecht, sind die mittlerweile klaren Auslegungs- und Abwägungsgebote auch bei der Anwendung der Missbrauchsklausel des Art. 6 zugrunde zu legen. Dadurch können die rational bestimmbaren Missbrauchskriterien des europäischen Missbrauchsverbots die Durchsetzungskraft des Unionsrechts auch auf dem Gebiet der Körperschaftsbesteuerung sicherstellen. Infolge dieser gebotenen Auslegung der Missbrauchsregelung, die dem System des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots entsprechend eine zweistufige Missbrauchsprüfung vorschreibt, bleibt auch nicht „offen“, ob und in welcher Form ein subjektives Element für die Missbrauchsfeststellung erforderlich ist266. Außerdem wird dem Steuerpflichtigen bei richtiger Anwendung der Missbrauchsklausel auch 264 Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 265 Vgl. Ce´delle, British Tax Review 2016, 490 (495); ähnl. Hey StuW 2017 248 (249 f.); Musil, FR 2018, 933 (939). 266 So jedoch Haug, DStZ 2016, 446 (453 f.).

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nicht – wie befürchtet – ein „vergleichsweise großer Gestaltungsspielraum“ eröffnet267. Vielmehr wird das für das Steuerrecht konkretisierte Missbrauchsverbot als effektives Mittel der Normbehauptung nun auf die gesamte europäische Körperschaftsbesteuerung übertragen. Es bedarf deshalb, um den Regelungszielen der Richtlinie gerecht zu werden, auch keiner in der Literatur geforderten teleologischen Reduktion der Regelung, die die Missbrauchsverhinderungsregelung „weitgehend wirkungslos“ lassen würde268. Stattdessen ist mit der Richtlinienregelung auch das rationale System des europäischen Missbrauchsverbots unter Berücksichtigung der Auslegung des Gerichtshofs europaweit einheitlich in nationales Recht zu übertragen269.

IV. Institutionelle Konflikte im Rahmen der Auslegung der allgemeinen Missbrauchsbestimmung Obwohl eine einheitliche Missbrauchsbehandlung von Steuerumgehungen nach Unionsrecht und nationalem Recht grundsätzlich sinnvoll ist, um eine möglichst kohärente und vorhersehbare Missbrauchsbehandlung sicherzustellen, da so „Ineffizienz und Verzerrungen in der Wechselwirkung unterschiedlicher nationaler Maßnahmen“270 vermieden werden können, ergeben sich hieraus kompetenzrechtliche Konflikte mit der nationalen Steuerhoheit der Mitgliedstaaten. Die Kompetenz der EU soll sich laut der Erwägungsgründe der Richtlinie – dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EUV entsprechend – aus dem Bedürfnis nach Lo¨ sungen von Ineffizienzen des Binnenmarktes aufgrund grenzüberschreitender Steuerumgehungsgestaltungen ableiten, „die fu¨ r den Binnenmarkt insgesamt tauglich sind“, da nur die in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen einen „Mindestschutz fu¨ r den Binnenmarkt“ garantieren271. Die Richtlinienbestimmung ist nach Art. 11 in nationales Recht zu übernehmen, dabei ist der Wortlaut der Kommission mitzuteilen272. Der Gerichtshof wird dadurch letztverantwortlich zur Auslegung der Regelung für sämtliche Konstellationen berufen: Wie der EuGH in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat, ist der Gerichtshof 267

Vgl. Haug, DStZ 2016, 446 (453 f.). So Lüdicke/Oppel, DB 2016, 549 (554). 269 S. oben, § 6 VI. 4. 270 Vgl. Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 271 Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 272 Art. 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 268

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auch zur Auslegung nationaler Missbrauchsklauseln für rein innerstaatliche Sachverhalte berufen, wenn innerstaatliche Sachverhalte und grenzüberschreitende Konstellationen einheitlich behandelt werden273. Der Gerichtshof ist auch bei Sachverhalten ohne unmittelbaren unionsrechtlichen Bezug zuständig über ein Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, wenn unionsrechtliche Vorschriften „durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt“ werden, da, „wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, ein klares Interesse der Union daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern“274. Der EuGH ist danach auch bei rein innerstaatlichen Konstellationen zur Auslegung nationalen Rechts berufen, wenn es auf die Auslegung der unionsrechtlichen oder darauf beruhenden nationalen Missbrauchsklausel ankommt. Die Prüfung des objektiven Elements der Missbrauchsklausel (Verstoß gegen Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts) wirft insoweit kompetenzrechtliche Fragen auf, wenn es sich bei der potenziell missbrauchten Regelung um nationales Steuerrecht handelt. Die kompetenzrechtliche Grenze der Befugnis des EuGH zur Auslegung des geltenden nationalen Steuerrechts erfolgt aus der Feststellung, „dass der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht befugt ist, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen. Der Gerichtshof ist daher nicht befugt, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist.“275 Eine Ausnahme hiervon ist nur dann vorzunehmen, wenn nationale Normen „eine quasi wörtliche Umsetzung“ von Unionsrecht darstellen276. Bei ,geltendem‘, nationalen direkten Steuerrecht, das regelmäßig nicht auf Unionsrecht beruht, wird dies kaum der Fall sein.

273 EuGH v. 10. 11. 2011 – Rs. C-126/10 – Foggia, ECLI:EU:C:2011:718, Rn. 21 mit Verweis auf EuGH v. 17. 7. 1997 – Rs. C-28/95 – Leur-Bloem, ECLI:EU:C:1997:369, Rn. 32; EuGH v. 15. 1. 2002 – Rs. C-43/00 – Andersen og Jensen, ECLI:EU:C:2002:15, Rn. 18 und EuGH v. 20. 5. 2010 – Rs. C-352/08 – A. Zwijnenburg, ECLI:EU:C:2010:282, Rn. 33. 274 EuGH v. 31. 5. 2011 – Rs. C-271/11 – Techniko Epimelitirio Elladas (TEE) u. a., ECLI:EU:C:2012:696, Rn. 34; EuGH v. 21. 12. 2011 – Rs. C-482/10 – Cicala, ECLI:EU:C:2011:868, Rn. 17 f. 275 EuGH v. 13. 12. 2012 – Rs. C-379/11 – Caves Krier Frères, ECLI:EU:C:2012:798, Rn. 35 f.; s. auch EuGH v. 17. 3. 2011 – verbundene Rs. C-128/10 und C-129/10 – Naftiliaki Etaireia Thasou und Amaltheia I Naftiki Etaireia, ECLI:EU:C:2011:163, Rn. 40; EuGH v. 23. 4. 2009 – verbundene Rs. C-378/07 bis C-380/07 – Angelidaki u. a., ECLI:EU:C:2009:250, Rn. 48; EuGH v. 20. 10. 2005 – Rs. C-511/03 – Ten Kate Holding Musselkanaal u. a., ECLI:EU:C:2005:625, Rn. 25; EuGH v. 4. 10. 1991 – Rs. C-159/90 – Society for the Protection of Unborn Children Ireland, ECLI:EU:C:1991:378, Rn. 31. 276 EuGH v. 10. 10. 2013 – Rs. C-306/12 – Spedition Welter, ECLI:EU:C:2013:650, Rn. 31.

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Wenn keine unionsrechtliche Regelung übernommen wurde, sondern sich Unionsrecht auf nationale Regelungen bezieht, „so ist die Bedeutung von nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes unter Berücksichtigung der Auslegung zu beurteilen, die die nationalen Gerichte diesen Vorschriften geben“277. Maßgeblich ist danach die teleologische Auslegung des nationalen Steuerrechts durch mitgliedstaatliche Gerichte. Da der EuGH insoweit nicht dazu befugt ist, die maßgeblichen nationalen Regelungen teleologisch auszulegen, um einen Zielverstoß gegen das geltende Steuerrecht zu ermitteln, ist er im Rahmen der Auslegung der unionsrechtlichen Missbrauchsbestimmung an die Zielfeststellung durch nationale Gerichte angewiesen und an deren Bewertung gebunden.

V. Ausblick: Die Berücksichtigung subjektiver Kriterien in der teleologischen Missbrauchsprüfung von Steuergesetzen Die objektive Komponente der Missbrauchsverhinderungsregelung stößt hinsichtlich ihrer Kraft zur Normbehauptung dann an ihre Grenzen, wenn Sachverhalte zwar subjektiv nachweisbar missbräuchlich gestaltet werden, ein Verstoß gegen ein Ziel der vorteilsgewährenden Regelung jedoch nicht positiv nachgewiesen werden kann. Die Schwachstelle jeder objektiven Missbrauchsmethodik ist insoweit – wie dargelegt278– stets der nur schwer objektivierbare Gesetzgeberwillen vor dem Hintergrund des Wandels von Funktion und Sinn einer Norm. Diese ,objektive‘ Auslegung der Zielbestimmung findet immer vor dem Hintergrund der „sozialen, politisch und weltanschaulich fundierten Wertgrundlage der Gesamtrechtsordnung“ statt279, weshalb ein vermeintlich objektiver Gesetzgeberwille häufig nur schwer eindeutig zu bestimmen ist. Das objektive Missbrauchselement ist deshalb auch in seiner durch die sekundärrechtliche Missbrauchsregelung konkretisierten Form „by far the most abstruse component of the concept of abuse of law; curiously it is also the least debated in the scholarship on the abuse of Union law.“280 Im Steuerrecht wird diese ohnehin schon virulente Problematik durch die Besonderheiten steuerrechtlicher Teleologie und dem fiskalischen Ziel der Einnahmenerzielung noch erschwert. In Zukunft könnte die Berücksichtigung subjektiver Kriterien im Rahmen dieser teleologischen Würdigung zu einer verbesserten Normbehauptung im Steuerrecht führen.

277

EuGH v. 16. 12. 1992 – verbunden Rs. C-132/91, C-138/91 und C-139/91 – Katsikas u. a., ECLI:EU:C:1992:517, Rn. 39; s. auch EuGH v. 16. 4. 1991 – Rs. C-347/89 – EurimPharm, ECLI:EU:C:1991:148, Rn. 15 f. 278 S. oben, § 1. 279 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 434 ff. (Zitat S. 437). 280 Saydé, Abuse of EU Law and Regulation of the Internal Market, S. 93.

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1. Steuerrechtliche Lenkungsfunktionen und legitime Wahlmöglichkeiten Um gesetzgeberischen Wertungen im steuerrechtlichen Kontext bei der Missbrauchsprüfung Geltung zu verschaffen, werden zunächst die in Frage stehenden Gestaltungen auf ihre Konformität mit steuerrechtlichen Lenkungsfunktionen und legitimen Wahlmöglichkeiten hin untersucht. Eine – motivunabhängige – steuermindernde Sachverhaltsgestaltung, die zwar auf Kosten der Allgemeinheit die Steuerlast des Einzelnen mindert, schließt in diesen Konstellationen jedoch wegen gesetzgeberischer Wertungen bereits die Erfüllung des objektiven Missbrauchselements aus. Dies ist (1) der Fall, wenn der Steuervorschrift eine Lenkungsfunktion zugrunde liegt, also bereits durch die formale Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen das gewünschte Verhalten gefördert wird und deshalb bereits objektiv das Ziel der Regelung erreicht wird. (2) Außerdem ist das Bestreben des Steuerpflichtigen, seine Steuerschuld zu minimieren, dann unbeachtlich, wenn er zur Verfügung gestellte Wahlrechte oder bewusst eröffnete Lücken (anwendbares territoriales Steuerrecht, freie Wahl der Organisationsstrukturen, Wahlfreiheit der Form der Umsätze, Regulierungsarbitrage) ausnutzt, da es im Ermessen des Gesetzgebers steht, solche Gestaltungsvarianten zu eröffnen281. Entspricht die Gestaltung der mit einer steuerrechtlichen Bestimmung verfolgten Lenkungsfunktion oder legitimen Wahlrechten, so ist der Steuervorteil – unabhängig von der Motivlage des Steuerplaners – in den Zielen der Steuerregelung angelegt und daher nicht missbräuchlich. Die Anwendung dieser Konzeptionen auf steuerliche Gestaltungen verletzt nicht den Gleichbehandlungsgrundsatz, weil der Gesetzgeber selbst diese Optionen bewusst eröffnet hat und ein Missbrauch dem Steuerpflichtigen in diesen Fällen daher nicht vorgeworfen werden kann, wenn er von diesen Gestaltungsmöglichkeiten dem Gesetzgeberwillen entsprechend Gebrauch macht282. Eine Verletzung des steuerlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes könnte hierbei lediglich aus dem Gesetz selbst folgen283. Das objektive Missbrauchselement ist in diesen Konstellationen nicht erfüllt, da durch die Sachverhaltsgestaltung – unabhängig von den dabei vorherrschenden Motiven – das Ziel einer vorteilsgewährenden Regelung gerade gefördert bzw. erreicht wird und es dem Gestalter wegen dieser Förderung der Lenkungsfunktion freistehen soll, sich durch entsprechende Gestaltung in den vorteilhaften Regelungsbereich der Vorschrift ,einzuwählen‘.

281 282

S. 17.

S. oben, § 10 I. 3. Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive,

283 Englisch, National Measures to counter Tax Avoidance under the Merger Directive, S.17. Englisch weist darauf hin, dass diese Ungleichbehandlung nicht durch eine Anwendung des Gesetzes entgegen der klaren gesetzlichen Vorgaben behoben werden kann, sondern das Gesetz in solchen Fällen verfassungsrechtlich überprüft werden müsse.

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2. Telosermittlung bei Steuernormen mit ausschließlich fiskalischen Zielen Teleologisch weit schwieriger zu bewerten sind hingegen Steuergestaltungen, bei denen das potenziell missbrauchte, vorteilsgewährende Recht keiner steuerrechtlichen Lenkungsfunktion dient und die gewählte Gestaltung keine legitime Ausnutzung von zur Verfügung gestellten Wahlrechten oder bewusst eröffneten Lücken darstellt. Der positive Nachweis eines Telosverstoßes ist insbesondere dann problematisch, wenn als Maßstab der Missbrauchsprüfung eine vorteilsgewährende Regelung des nationalen Steuerrechts dient. Hier ist die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die Steuererhebung der fiskalischen Einnahmeerzielung dient und, mit Ausnahme von Ordnungssteuern, nationale Steuernormen häufig keine darüber hinausgehenden Ziele verfolgen284. Dies unterscheidet nationale Steuerregelungen maßgeblich von unionsrechtlichen Bestimmungen, die regelmäßig zumindest der Binnenmarktförderung dienen285. Die richtige teleologische Bewertung derartiger Steuergestaltungen ist durch die Judikatur des Gerichtshofs noch nicht beantwortet, da Missbrauchskonstellationen bisher stets vorteilsgewährendes Recht zum Inhalt hatten, das neben der Einnahmenerzielung zumindest auch auf die Integration des Binnenmarktes gerichtet war286. Von hier aus wäre prima vista denkbar, dass durch jede steuerreduzierende Gestaltung dem Telos der fiskalischen Einnahmeerzielung widersprochen wird und somit ein Zielverstoß bei einer Minderung der Steuerlast dann stets gegeben wäre. Diese Denkart verkennt jedoch, dass der aus einer Sachverhaltsgestaltung resultierende Steuervorteil selbst für sich gesehen weder ein Indiz für ein missbräuchliches Verhalten noch für eine legitime Steuerplanung ist, sondern grundsätzlich wertneutral ist. Deshalb kann sich die teleologische Würdigung solcher Gestaltungen an den Zielen der den Vorteil gewährenden Regelung nicht auf das Ergebnis der Gestaltung beschränken, sondern muss auch die wirtschaftlichen Motive und die Art und Weise berücksichtigen, wie dieser Steuervorteil erreicht wurde.

284 Flume, StbJB 1967/68, 63 (69). Nach Hüttemann könne dementsprechend „der bloße Fiskalzweck der Besteuerung keine geeignete Grundlage für eine teleologische Rechtsfortbildung steuerrechtlicher Normen darstellen“, DStR 2015, 1146 (1147). Nach Crezelius ist zu berücksichtigen, „dass die Steuernorm auf Einnahmeerzielung angelegt ist, so dass es nicht so liegen kann, dass schlichtweg der Einnahmeerzielungszweck mit der Teleologie der Steuernorm gleichgesetzt wird. Zutreffenderweise geht es bei der teleologischen Auslegung im Steuerrecht darum, welcher Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Norm bei der Abgrenzung der Steuerbarkeitssphäre von der steuerbarkeitsimmunen Sphäre zukommt. Nur dies entspricht dem Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG und dem Eingriffscharakter des Steuerrechts.“, in: Festschrift Gosch, S. 47 (49). 285 S. oben, § 10 I. 4. 286 S. oben, § 5 III.

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3. Rationalitätssteigerung in der objektiven Missbrauchsprüfung durch subjektive Kriterien a) Subjektiv gewolltes wirtschaftliches Ergebnis als Ausgangspunkt Auf der Grundlage der Entwicklung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots und der dabei zu verzeichnenden Aufwertung subjektiver Kriterien scheint es sinnvoll, im Wege einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise287 und dem Gedankengut einer ,Objektivierung durch Subjektivierung‘288 folgend, subjektive Anhaltspunkte auch im Rahmen der teleologischen Bewertung zu berücksichtigen, wie es bisweilen untergründig auch von vermeintlich rein objektiven Theorien getan wurde, ohne dies jedoch näher zu begründen289. Zu fragen ist insoweit zunächst nach dem mit einer Gestaltung subjektiv tatsächlich gewollten wirtschaftlichen Ergebnis. Wie dargestellt, soll das objektive Element darüber befinden, ob durch entsprechende Sachverhaltsgestaltungen das anwendbare Steuerrecht ausgewählt werden kann, weil der Steuervorteil den Zielen der vorteilsgewährenden Regelung entspricht290. Zwar sind nach dem allgemeinen unionsrechtlichen Missbrauchsverbot grundsätzlich das objektive und subjektive Element jeweils unabhängig positiv festzustellen. Für den Bereich des Steuerrechts haben sich jedoch Interdependenzen zwischen den Missbrauchskriterien, die den Nachweis des objektiven Missbrauchselements ermöglichen, und den Kriterien herausgestellt, die nach dem Gerichtshof gemeinhin für die Bestimmung des subjektiven Elements herangezogen werden. Ausschlaggebend für einen Telosverstoß im Steuerrecht wäre danach eine Divergenz zwischen der objektiven Form einer Gestaltung und der subjektiv tatsächlich bezweckten Substanz einer wirtschaftlich relevanten Sachverhaltsgestaltung. b) Telosverstoß bei Divergenz von objektiver Form und subjektiv bezweckter Substanz Folgt der erzielte Steuervorteil weder aus der Lenkungsfunktion noch aus legitimen Wahlmöglichkeiten, ist für die teleologische Würdigung eines durch Gestaltung erzielten Steuervorteils nicht mehr nur das Resultat – der Steuervorteil – ausschlaggebend. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, welches wirtschaftliche Ergebnis subjektiv bezweckt wird und wie der Steuervorteil dabei erzielt wurde. Nur vor dem Hintergrund dieser subjektiv geprägten Anknüpfung lässt sich die tatsächliche Substanz einer Gestaltung an den objektiven Zielen einer potenziell missbrauchten Steuernorm messen. Während die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung nach dem allgemeinen Missbrauchsverbot vor allem bei der Bewertung 287 288 289 290

S. oben, dritter Hauptteil Fn. 5. Grundl. Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374. § 1 VI., VII. S. oben, § 6 IV., § 10 I.

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des subjektiven Elements berücksichtigt wird („indem die Voraussetzungen künstlich geschaffen werden“291), befasst sich das subjektive Element im Steuerrecht mit der nominalen Abwägung wirtschaftlich legitimer und steuerlicher Beweggründe292. Kriterien zur Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung, die Aufschluss über das subjektiv gewollte wirtschaftliche Ergebnis liefern, sollten im steuerrechtlichen Missbrauchsverbot nicht ignoriert werden, sondern können bei der Prüfung berücksichtigt werden, ob die Gestaltung einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit entspricht, die die ökonomische Realität widerspiegelt, oder als künstliche Gestaltung gegen den Telos der vorteilsgewährenden Steuernorm verstößt. Dem Kriterium der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit wird nach der Missbrauchsdogmatik des EuGH als Antinom die künstliche Gestaltung gegenübergestellt293. Bei der Bewertung einer Sachverhaltsgestaltung wird die wirtschaftliche Substanz als entscheidendes objektiviertes Kriterium des subjektiven Elements herangezogen, um die Künstlichkeit einer Gestaltung zu ermitteln. Insoweit besteht bei dieser Anknüpfung eine gewisse Wechselwirkung zwischen „Zielverstoß“ im Steuerrechtskontext und den Kriterien des subjektiven Elements nach allgemeinem Missbrauchsverbot. Im Steuerrecht sollte das allgemeine Missbrauchsverbot dementsprechend dahingehend konkretisiert werden, dass im Rahmen des objektiven Elements das subjektiv gewollte wirtschaftliche Ergebnis und die dazu verwendete Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung mit den Zielen der vorteilsgewährenden Regelung verglichen werden, indem Wertungskriterien herangezogen werden, die nach allgemeinem Verständnis auf das subjektive Missbrauchselement hindeuten294. Entscheidende Bedeutung kommt hier dem „objektiven Umstand der Künstlichkeit“295 zu. Die Künstlichkeitsmetapher als objektiviertes Kriterium des subjektiven Elements und die sie determinierenden Abwägungsgebote können dazu als nunmehr rationaler – also vorhersehbarer und anhand konsensfähiger Bewertungskriterien erfolgender – Vergleichsmaßstab der formalen Gestaltung mit dem von ihr konkret bezweckten wirtschaftlichen Erfolg am Normtelos und gesetzgeberischen Intentionen bezeichnet werden. Übermäßige, sachlich nicht gebotene Komplexität von Gestaltungen dient häufig keiner wirtschaftlichen Funktion296, sondern in der Regel dazu, dem Normbefehl zu entgehen. Die unnötige Komplexität ist somit eines der objektivierten Kriterien, die das Maß der Künstlichkeit bestimmen. „The level of artificiality is simply one way of judging taxpayer purpose in relation to the ob-

291

S. oben, § 6 V. S. oben, § 10 II. 293 S. oben, § 6 V. 3. 294 Vgl. zu einer Verknüpfung der „wirtschaftlichen Realität“ und einem Normzielverstoß EuGH v. 22. 12. 2010 – Rs. C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rn. 39; EuGH v. 22. 12. 2010 – C-277/09 – RBS Deutschland, ECLI:EU:C:2010:810, Rn. 52. 295 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 155. 296 Florstedt, in: Festschrift Baums, S. 433 (445 f.). 292

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Dritter Hauptteil

jectives of the legislation.“297 Kriterien des allgemeinen Missbrauchsverbots zum subjektiven Element werden dabei nach im Steuerrecht konkretisierter Form des Missbrauchsverbots auf die Bewertung des objektiven Elements übertragen. Weber kommentiert dementsprechend treffend: „Accordingly, it is often the case that when applying both the objective test and the subjective test, the objective circumstances will have to be examined. The result is that these two tests can become somewhat intertwined and difficult to separate from each other.“298 Subjektive Kriterien sind durch die Objektivierung der Künstlichkeitsmetapher unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Substanz somit im Steuerrecht weit mehr als nur Vorsatzindiz. Die Inbezugnahme subjektiver Kriterien für die Feststellung des objektiven Missbrauchselements ist bei genauerer Betrachtung Ausdruck der Aufwertung subjektiver Kriterien in der unionsrechtlichen Missbrauchsdogmatik. Entscheidendes Kriterium der Missbrauchsmethodik im Steuerrecht ist – sowohl in den sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln als auch nach der Konkretisierung durch den EuGH – neben der überwiegenden Intention, Steuern zu sparen, die künstliche Konstruktion des Sachverhalts, die nicht ihrer wirtschaftlichen Substanz entspricht, als Ausdruck illegitimen Verhaltens. Es wird im Ergebnis in zweifacher Hinsicht auf subjektive Kriterien abgestellt, (1) indem das subjektiv gewollte wirtschaftliche Ergebnis und die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung für die objektive Bewertung am Normtelos berücksichtigt werden und (2) indem die steuerlichen Gründe mit legitimen good business reasons in Verhältnis gesetzt werden. Diese subjektiven Kriterien müssen jeweils im Einzelfall objektiv festgestellt und vom Rechtsanwender gewürdigt werden. Ihnen kommt hierbei die Funktion zu, durch die Untersuchung der Gründe einer steuerrechtlich relevanten Gestaltung die ökonomische Substanz erfassbarer zu machen, indem die subjektiven Motive auf ihre Kongruenz mit der wirtschaftlichen Realität hin untersucht werden. Dies ist möglich, indem auf die zur Künstlichkeitsmetapher entwickelten Abwägungskriterien zurückgegriffen wird. In einer Gesamtschau müssen dabei Kriterien wie eine wirklichkeitsfremde Aufspaltung gewöhnlich einheitlicher Verträge, irrational komplexe Strukturen mit vermeidbaren Kosten, die „reasonable parties“ zur Erreichung desselben ökonomischen Ziels nicht gewählt hätten, der Fremdvergleich, eine unangemessene Gewinnaufteilung oder Risikoverteilung der Beteiligten, ein Verlustausgleich zwischen verschiedenen Konzerngesellschaften, ein enger zeitlicher Zusammenhang von Maßnahmen und die Kenntnis bevorstehender nachteiliger Gesetzesänderungen, eine rechtliche, wirtschaftliche oder personelle Verflechtungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern, ein kollusives Zusammenwirken und eine mangelnde Kontinuität in der geschäftlichen Praxis berücksichtigt und miteinander

297 Freedman, The Anatomy of Tax Avoidance Counteraction, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 365 (374). 298 Weber, Abuse of Law in the Context of Indirect Taxation: Why We Need the Subjective Intention Test, When is Combating Abuse an Obligation and Other Comments, in: de la Feria/ Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 395 (397).

§ 11 Gebotene Auslegung

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abgewogen werden299. Wenn diese Abwägung ergibt, dass nicht überwiegend eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit mit der Transaktion ausgeübt wird, die der ökonomischen Realität entspricht, begründet dies einen Verstoß gegen die Ziele der vorteilsgewährenden Fiskalsteuerregelung, sodass in der Regel, bei gleichzeitiger Erfüllung des subjektiven Elements, von einer missbräuchlichen Gestaltung ausgegangen werden kann. Im Ergebnis würde dies eine Gesamtabwägung gesetzgeberischer Wertungen und subjektiver Kriterien bedeuten, bei der das Subjektive – anders als nach klassischen subjektiven Theorien300 – keine zusätzliche Missbrauchsvoraussetzung neben einem Telosverstoß darstellt, sondern Teil des Vergleichs der wirtschaftlichen Substanz mit den Normzielen von auf fiskalische Einnahmen gerichteten Steuergesetzen ist. c) Subjektive Prägung des objektiven Elements der Missbrauchsregelung Eine solche teleologische Gesamtabwägung subjektiver Kriterien und gesetzgeberischer Wertungen könnte in Zukunft mit der nun verabschiedeten Richtlinienbestimmung konkret am Tatbestandsmerkmal der Unangemessenheit einer Gestaltung und dessen näherer Erläuterung in Art. 6 Abs. 2 vorgenommen werden. Der Verstoß gegen „Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts“ sollte insoweit unter Berücksichtigung der für die nunmehr objektivierte und belastbare Künstlichkeitsmetapher entwickelten Kriterien bereits bei dem Vorliegen der von der Richtlinie geforderten Unangemessenheit einer Gestaltung gefolgert werden, da eine unangemessene, künstliche Gestaltung den Zielen der potenziell missbrauchten Steuernorm mangels wirtschaftlicher Substanz widerspricht. Eine derartige Gestaltung liegt nach Art. 6 Abs. 2 in dem Umfang vor, in dem die Gestaltung „nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gru¨ nden vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln“. Die hieran orientierte Gesamtabwägung des subjektiv angestrebten wirtschaftlichen Erfolgs und der Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung – insgesamt ihrer ökonomischen Substanz – an der zivilrechtlichen Form einer Gestaltung begründet bei Divergenz von Substanz und Form die Künstlichkeit der Steuergestaltung und somit einen Verstoß gegen den Telos der Steuervorschrift. Die Künstlichkeitsmetapher und der Verstoß gegen den Normtelos der potenziell missbrauchten Bestimmung stehen in direkter Verbindung301. Nach der Kommission „soll die vorgeschlagene allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbrauch die

299

S. ausf. oben, § 6 V. 3. S. oben, § 1 IV. 301 Vgl. Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (534 ff.); Weber, European Taxation 53 (2013), 251 (255) („overlap between the objective test and the subjective test“); Schammo, 14 ELJ (2008), 351 (368 f.); Cerioni, EBLR 21 (2010), 783 (789 ff.); Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 158. 300

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Dritter Hauptteil

Kriterien des EuGH fu¨ r eine künstliche Gestaltung widerspiegeln“302. Nach dem Richtlinienvorschlag der Kommission ist eine „rein künstliche“ Gestaltung gleichbedeutend mit einer „unangemessen“ Gestaltung303. Auch nach den Erwägungsgründen der Richtlinie soll für die Anwendbarkeit der Missbrauchsklausel ausschlaggebend sein, ob die Steuergestaltung „unangemessen“ ist304. Bei der Abwägung der Gestaltung an den Zielen des geltenden Steuerrechts sollten somit im Ergebnis die die Künstlichkeit definierenden, mittlerweile objektivierten Kriterien herangezogen werden, um den wahren wirtschaftlichen Gehalt einer Gestaltung – die wirtschaftliche Realität – zu ermitteln. Im Rahmen der Prüfung des objektiven Elements werden dazu die subjektiv verfolgten wirtschaftlichen Ziele und die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung mit den Zielen der Regelung verglichen. Entscheidend ist im europäischen Steuerrecht insoweit der „objektive Umstand der Künstlichkeit“305, bei dem das objektivierte Kriterium der künstlichen Konstruktion und die sie determinierenden Abwägungsgebote als rationaler Vergleichsmaßstab der formalen Gestaltung mit dem von ihr konkret bezweckten wirtschaftlichen Erfolg am Normtelos genutzt werden können. Die Abwägung anhand der objektivierten Kriterien der Künstlichkeitsmetapher misst die wirtschaftliche Substanz einer steuerlich relevanten Sachverhaltsgestaltung durch das Maß der Künstlichkeit an den Zielen der potenziell missbrauchten Steuernorm und zeigt insoweit auf, ob die Steuergestaltung unangemessen ist oder der wirtschaftlichen Realität und somit dem Telos der vorteilsgewährenden Steuernorm entspricht. Bei einem hohen Maß der Künstlichkeit wäre insoweit auch von einem Zielverstoß im Sinne der Richtlinie auszugehen. Durch diese Synthese der Künstlichkeitsmetapher und Telosprüfung kann dem Ziel der Richtlinie, „eine Besteuerung an dem Ort der Gewinnerwirtschaftung und der Wertschöpfung zu gewährleisten“306, auf vorhersehbare und unionsweit kohärente Weise entsprochen werden. Auf diese Weise ist es möglich, durch eine Objektivierung des subjektiven Kriteriums der Künstlichkeitsmetapher307 zur Ausfüllung des Merkmals der Unangemessenheit einer Ge302

Vorschlag der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final, S. 10. 303 Erwägungsgrund 9 des Vorschlags der Kommission fu¨ r eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28. 1. 2016, COM(2016) 26 final. 304 Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 305 Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 155. 306 Erwägungsgrund 1 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 307 Vgl. Vogenauer, The Prohibition of Abuse of Law: An Emerging General Principle of EU-Law, in: de la Feria/Vogenauer (Hrsg.), Prohibition of Abuse of Law, S. 521 (538); Klöpfer, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 158.

§ 11 Gebotene Auslegung

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staltung bei der Prüfung des objektiven Elements einen Methodenfortschritt zu erreichen, der insbesondere die Vorhersehbarkeit und damit auch die Rechtssicherheit der einheitlichen Missbrauchsverhinderung sicherstellt308.

VI. Folgerungen Die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken309 trägt wesentlich dazu bei, auf der Grundlage des vom EuGH entwickelten, mittlerweile als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anzusehenden unionsrechtlichen Missbrauchsverbots den Geltungsanspruch des Unionsrechts gegen Steuerumgehungsstrategien zu verteidigen, die die Diskrepanz zwischen dem formalen Wortlaut und den Zielen einer Regelung auszunutzen suchen, und unterstützt damit entscheidend ein wirksames Funktionieren des Binnenmarktes. „In einem Raum hochgradig integrierter Volkswirtschaften bedarf es gemeinsamer strategischer Konzepte und eines abgestimmten Vorgehens, damit der Binnenmarkt besser funktionieren und die BEPS-Initiative maximale Wirkung entfalten kann. Zudem kann nur ein gemeinsamer Rahmen eine Fragmentierung des Marktes verhindern und die derzeitigen Inkongruenzen und Marktverzerrungen beseitigen.“310 Der Richtlinie kommt erhebliche Bedeutung zu, da sie durch die bis 2018311 vorgeschriebene Umsetzung in nationales Recht in die Körperschaftsteuersysteme aller Mitgliedstaaten zu integrieren ist und somit eine kohärente Missbrauchsresistenz erzeugen soll. Für eine wirksame Normbehauptung normiert die allgemeine Missbrauchsverhinderungsregel bei genauer Analyse trotz prima vista im Detail abweichender Formulierung das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbot in seiner durch den EuGH für den Bereich des Steuerrechts konkretisierten Form. Dadurch wird der Anwendungsbereich dieser rationalen Missbrauchsmethodik auf die gesamte unionsrechtliche Körperschaftsbesteuerung erweitert, indem die Richtlinie eine einheitliche Anwendung der allgemeinen Missbrauchsklausel für den Bereich der Körperschaftsbesteuerung, sowohl für grenzüberschreitende als auch rein nationale Sachverhalte, vorsieht. Danach ist eine Aufwertung subjektiver Kriterien zu verzeichnen, da die subjektiv geprägte Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung und dabei insbesondere die 308

S. oben, § 6 VI. 4. Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 310 Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 311 Art. 11 der Richtlinie 2016/1164 des Rates v. 12. 7. 2016 zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts. 309

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Dritter Hauptteil

tatsächliche wirtschaftliche Realität der Gestaltung an den Zielen der Steuerregelung gemessen wird. Entscheidendes Kriterium ist hierbei das Maß der Künstlichkeit einer Steuergestaltung. Die Künstlichkeitsmetapher als objektiviertes Kriterium und die sie determinierenden Abwägungsgebote können die formale Gestaltung anhand des konkret bezweckten wirtschaftlichen Erfolgs am Normbefehl und gesetzgeberischen Intentionen messen. Die konturierte Künstlichkeitsmetapher hat als Fortentwicklung wirtschaftlicher Betrachtungsweise das Potenzial, in der Zukunft im Rahmen des objektiven Elements als objektives Kriterium die Feststellung eines Verstoßes gegen den Telos des geltenden Steuerrechts rational begründen zu können. Eine künstliche und somit unangemessene Gestaltung i.S.d. Art. 6 stellt dann stets einen Verstoß gegen „Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts“ dar. Das Maß der Künstlichkeit einer Gestaltung begründet als objektiviertes Kriterium den Verstoß gegen die Ziele einer Steuernorm unter Berücksichtigung subjektiver Momente, da künstliche Gestaltungen nicht die Anwendung vorteilhafter Steuervorschriften legitimieren und der Binnenmarkt nicht durch sie gefördert wird. Das subjektive Element der allgemeinen Missbrauchsverhinderungsregelung wurde in der Judikatur und in sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen seit Jahrzehnten vorbereitet und konturiert. Die Künstlichkeitsmetapher und die ihr zugrundeliegenden, vom EuGH entwickelten Missbrauchskriterien dienen daher einer effektiven Missbrauchsmethodik im europäischen Steuerrecht.

§ 12 Thesen I. Wirksames Mittel der Normbehauptung 1. Auf Unionsebene hat sich nach anfänglicher Unklarheit in jahrzehntelanger Rechtsprechung mit dem inzwischen gefestigten unionsrechtlichen Missbrauchsverbot als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts ein effektives Mittel der Missbrauchsverhinderung etabliert. Das Missbrauchsverbot trägt dazu bei, den Geltungsanspruch, der einem normativen Sollen immanent ist, im europäischen und nationalen Steuerrecht zu erfüllen. Durch die allgemeine Missbrauchsverhinderungsregelung in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken ist das allgemeine Missbrauchsverbot verbindlich in alle mitgliedstaatlichen Körperschaftsteuersysteme aufzunehmen. 2. Es handelt sich beim europäischen Missbrauchsverbot um ein prinzipienorientiertes Systemverständnis der europäischen Rechtsordnung und insbesondere der Steuerrechtsordnung, das offen ist für die Anwendung auf andere, bislang von der EuGH-Rechtsprechung noch nicht behandelte Missbrauchsvarianten. 3. Auch auf Unionsebene beginnt die Missbrauchsverhinderung mit Auslegung des vorteilsgewährenden Unionsrechts. Der Anwendungsbereich unionsrechtlicher Freiheiten und Rechte ist grundsätzlich weit auszulegen, um dem effet utile-

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Grundsatz entsprechend dem Unionsrecht eine umfassende Wirkung zu verschaffen und durch entsprechende Rechtsprechung und Sekundärrecht die Binnenmarktförderung fortzuentwickeln. Dem Gerichtshof ist beizupflichten, keine teleologische Reduktion vorteilsgewährenden Unionsrechts oder Analogie zulasten des Unionsbürgers bei potenziellen Missbrauchsfällen vorzunehmen, sondern stattdessen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als Rechtfertigungsgrund zur Beschränkung des Unionsrechts anzuwenden. 4. Im Laufe seiner Entstehung hat sich ein immer konturierteres Missbrauchsverständnis entwickelt, das Prüfungsmuster, -umfang und -kriterien klar vorgibt. Infolge der langjährigen, inzwischen etablierten Rechtsprechung des EuGH und der Normierung in ausformulierten sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln ist das Konzept des Missbrauchs zu einer unionsrechtlich autonomen, selbstständigen Methodik des Unionsrechts von erheblicher Bedeutung geworden.

II. Inhalt des objektiven Elements 5. Bei einer formal dem Wortlaut einer vorteilsgewährenden Regelung entsprechenden Gestaltung sind Ausgangspunkt der Prüfung eines etwaigen Missbrauchs die teleologischen Ziele der Grundfreiheiten, der Binnenmarktförderung, der Verträge und der diese konkretisierenden sekundärrechtlichen Regelungen. 6. Das objektive Element des Missbrauchsverbots ist dann nicht erfüllt, wenn durch die Sachverhaltsgestaltung – unabhängig von den Motiven des Gestalters – das Ziel einer vorteilsgewährenden Unionsregelung gefördert oder erreicht wird und es dem Gestalter wegen dieser Binnenmarktförderung gerade freistehen soll, sich durch entsprechende Gestaltung in den Regelungsbereich der Unionsvorschrift ,einzuwählen‘. Die Wahrnehmung von bewusst zur Verfügung gestellten Wahlmöglichkeiten lässt einen Missbrauch demnach ausscheiden, solange das fragliche Verhalten dem objektiven Inhalt und den Zielen der die Wahlfreiheit ermöglichenden Unionsregelung entspricht. 7. Das objektive Element des Missbrauchs misst eine möglicherweise missbräuchliche Gestaltung nur am Telos der eventuell missbrauchten Unionsvorschrift, nicht an dabei etwa „umgangenen“ nationalen Vorschriften. Die Missbrauchspru¨ fung berücksichtigt bei Gestaltungen, die aus mehreren Teilschritten bestehen, das Gesamtgeschehen und nicht nur die Einzelschritte. Als Ziele, gegen die eine Gestaltung verstoßen kann, kommen sowohl die Ziele einer einzelnen Bestimmung als auch die Ziele der diese Bestimmung enthaltenden unionsrechtlichen Gesamtregelung (VO/RL) und letztendlich sogar die Ziele der Binnenmarktförderung, die durch die Regelung konkretisiert werden kann, in Betracht. Bei der Zielermittlung kann maßgeblich auf die Erwägungsgründe des Sekundärrechts und die vom EuGH in seiner Judikatur in der Vergangenheit

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Dritter Hauptteil

anerkannten Zielfeststellungen abgestellt werden. Das objektive Element des Missbrauchs ist bereits dann erfüllt, wenn eines von mehreren Zielen verfehlt wird.

III. Aufwertung des subjektiven Elements 8. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot räumt subjektiven Kriterien – dem subjektiven Element – zu Recht eine besonders wichtige Rolle ein. Der EuGH bedient sich zum Nachweis des subjektiven Elements der Metapher der ,künstlichen Konstruktion‘. 9. Bei der Prüfung des subjektiven Missbrauchselements werden die einer Sachverhaltsgestaltung zugrundeliegenden Motive der Beteiligten ermittelt und bewertet. Entscheidend ist, ob überwiegend valide sozioökonomische Ziele verfolgt werden oder ob im Wesentlichen der regulatorische Vorteil angestrebt wird. Das subjektive Element ist dann erfüllt, wenn bei einer Abwägung illegitime Motive überwiegen. Nur mit Hilfe des subjektiven Elements kann bei einem Motivbündel ermittelt werden, ob eine Gestaltung missbräuchlich ist. 10. Anders als teilweise angenommen indiziert das Vorliegen des objektiven Elements grundsätzlich nicht bereits das Vorliegen des subjektiven Elements. Der Schluss auf die einer Gestaltung zugrundeliegenden Motive muss vielmehr aufgrund objektiver Umstände positiv festgestellt werden. Dazu sind sowohl die Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung als auch die tatsächlich erzielten Vorteile zu ermitteln. Der Gerichtshof hat eine Reihe von Kriterien aufgestellt, die ausgehend von der Metapher der ,künstlichen Konstruktion‘ bei der Abwägung alternativ oder kumulativ zu berücksichtigen sind. Diese Kriterien müssen stets im konkreten Einzelfall überprüft werden. Durch die Vielzahl der vom Gerichtshof beurteilten Fälle und dabei aufgestellten Kriterien hat sich mittlerweile der Inhalt des subjektiven Elements ausdifferenziert und konturiert, sodass sowohl bei vergleichbaren als auch völlig neuen Sachverhalten das subjektive Element rational überprüft werden kann.

IV. Die Sichtbarmachung des subjektiven Elements als Fortschritt für die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung 11. Durch das unionsrechtliche Missbrauchsverbot soll zur Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes die Diskrepanz zwischen formaljuristischer und tatsächlicher – im Steuerrecht insbesondere wirtschaftlicher – Realität aufgelöst werden, weshalb zur Gewährleistung gleicher Rechtsanwendung die Rechtssicherheit beeinträchtigt werden kann. Da missbräuchliche Praktiken nicht

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schutzwürdig sind, verwirkt der rechtsmissbräuchlich Handelnde den Schutz, der einem redlich handelnden Wirtschaftsteilnehmer von der Rechtsordnung garantiert wird. Auf den Vertrauensschutz darf sich nur derjenige verlassen, der sich nicht missbräuchlich auf ein ihm zustehendes Recht beruft. Wer das Recht missbraucht, kann nicht auf fehlende Vorhersehbarkeit der rechtlichen Beurteilung seiner Gestaltung im Sinne einer bloß formalen Anwendung des Rechts vertrauen. Wenn ein Missbrauch festgestellt wurde, kann im Ergebnis der Grundsatz der Rechtssicherheit zugunsten der Gleichbehandlung eingeschränkt werden. 12. Die ,Sichtbarmachung‘ der Bedeutung subjektiver Kriterien führt zu einer Verbesserung der Missbrauchsmethodik, da auch vermeintlich „rein objektive“ Theorien unterschwellig doch subjektive Motive des Gestalters berücksichtigen. 13. Die determinierten Abwägungsleitlinien des im Steuerrecht konkretisierten allgemeinen Missbrauchsverbots schaffen für die steuerliche Gestaltung auch bei komplexen Transaktionen im Wirtschaftsleben genügend Planungssicherheit, um im Voraus vorhersehen zu können, ob die angestrebte Sachverhaltsgestaltung anerkannt werden wird.

V. Anwendung des Missbrauchsverbots 14. Für den Nachweis des Missbrauchs sind die nationalen Behörden und Gerichte zuständig und es kommen die nationalen Beweisregeln zur Anwendung, soweit dadurch die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird. Es sind dabei alle relevanten Tatsachen und Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen einschließlich der einer Handlung vorausgegangenen und nachfolgenden Maßnahmen. Der Missbrauch von Unionsrecht kann auf Ebene der Mitgliedstaaten anhand nationaler Missbrauchsklauseln überprüft werden, die jedoch im Lichte der Vorgaben der Union anzuwenden sind und insbesondere die vom EuGH aufgestellten Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots berücksichtigen müssen. Nationale Missbrauchsklauseln, die unionsrechtliche Freiheiten beschränken, müssen sich grundsätzlich gegen künstliche Konstruktionen bar jeglicher wirtschaftlicher Realität richten und eine umfängliche Einzelfallprüfung vorsehen. Grundfreiheiten beschränkende nationale Missbrauchsklauseln entsprechen nur dann den Vorgaben des Unionsrechts, wenn sie nicht diskriminierend sind, zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind. 15. Nationale Behörden tragen die Darlegungs- und Beweislast fu¨ r die ,Künstlichkeit‘ einer missbräuchlichen Gestaltung. Sofern es Ziel der Gemeinschaftsregel ist, Beweisschwierigkeiten zu vermeiden, darf dem Betroffenen

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Dritter Hauptteil

nicht die Beweispflicht für das Nichtvorliegen eines Missbrauchs auferlegt werden. Der Gestalter muss anschließend das Vorliegen legitimer Motive darlegen und beweisen.

VI. Konkretisierung des allgemeinen primärrechtlichen Missbrauchsverbots im Steuerrecht 16. Im Steuerrecht wurde das allgemeine primärrechtliche Missbrauchsverbot maßgeblich fortentwickelt und hat hier sowohl durch sekundärrechtliche Missbrauchsklauseln als auch durch die Judikatur des Gerichtshofs eine besondere Konkretisierung erfahren. Im europäischen Steuerrecht wurde ein autonomes unionsrechtliches Konzept der Missbrauchsverhinderung ausgestaltet. 17. Der aus einer steuerrechtlich relevanten Sachverhaltsgestaltung resultierende Steuervorteil ist allein weder Indiz für ein missbräuchliches Verhalten noch für eine legitime Steuerplanung. Deshalb kann sich die Würdigung der Gestaltung an den Zielen der den Vorteil gewährenden unionsrechtlichen Regelung nicht auf das Ergebnis der Gestaltung beschränken, sondern muss auch die Art und Weise berücksichtigen, wie dieser Steuervorteil erreicht wurde. 18. Um gesetzgeberischen Wertungen im steuerrechtlichen Kontext bei der Missbrauchsprüfung Geltung zu verschaffen, werden zunächst die in Frage stehenden Gestaltungen daraufhin untersucht, ob sie steuerrechtlichen Lenkungsfunktionen oder legitimen Wahlmöglichkeiten entsprechen. Eine – motivunabhängige – steuermindernde Sachverhaltsgestaltung, die zwar auf Kosten der Allgemeinheit die Steuerlast des Einzelnen mindert, schließt in diesen Konstellationen jedoch wegen bewusster gesetzgeberischer Wertungen hier bereits die Erfüllung des objektiven Missbrauchselements aus, da die Steuergestaltung insoweit nicht den Zielen der Regelung widerspricht. 19. Ein Missbrauch steuerrechtlicher Regelungen setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass die Gestaltung bei ihrer Anerkennung trotz formaler Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen einen Steuervorteil zum Ergebnis hätte, dessen Gewährung einem der mit der maßgeblichen Bestimmung verfolgten Ziele zuwiderläuft.

VII. Besondere Bedeutung des Subjektiven im Steuerrecht 20. Das subjektive Element dient im Steuerrecht der Funktion, bei Sachverhaltsgestaltungen die ökonomische Realität juristisch zu erfassen, indem der tat-

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sächlich beabsichtigte wirtschaftliche Erfolg ermittelt wird. Die subjektiven Motive werden dazu auf ihre Kongruenz mit der wirtschaftlichen Realität hin untersucht, um dadurch die zivilrechtliche Form mit ihrer ökonomischen Substanz zu vergleichen. Dies kann als Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise bzw. substance over form im europäischen Steuerrecht bezeichnet werden. 21. Zur Bestimmung des subjektiven Elements ist eine Abwägung der bei einer Gestaltung vorherrschenden Motive vorzunehmen. Entscheidend ist auch im Steuerrecht, ob überwiegend valide außersteuerliche Ziele verfolgt werden oder ob im Wesentlichen der Steuervorteil angestrebt wird. Es werden also die Gründe einer Gestaltung untersucht und miteinander abgewogen. Das subjektive Element ist auch im Steuerrecht dann erfüllt, wenn bei einer Abwägung illegitime Motive überwiegen. 22. Hinsichtlich der in der Zukunft zu erwartenden Wirkung außersteuerlicher Gründe muss dem Gestalter eine gewisse, objektiv nachprüfbare Bewertungsprärogative eingeräumt werden, um die Eingehung vernünftiger unternehmerischer Risiken nicht durch eine sanktionierende Besteuerung eines Misserfolgs zu verhindern. Dazu können Informationen aus dem Internen für das Externe verwendet werden, indem auf den management approach und den businessmodel approach als Spielarten einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise zurückgegriffen wird. Die der Steuerverwaltung vorgetragenen Beweggründe können dann mit den Daten des internen Reporting und der innerbetrieblichen Steuerplanung verglichen werden. 23. Die Maßgeblichkeit subjektiver Kriterien bei steuerlich relevanten, sekundärrechtlichen Missbrauchsklauseln kann als Aufwertung des subjektiven Missbrauchselements im europäischen Steuerrecht verstanden werden.

VIII. Folge des Missbrauchsverbots im Steuerrecht 24. Wird ein Missbrauch des Unionsrechts im steuerrechtlichen Kontext festgestellt, so ist der formal vorgesehene Steuervorteil auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht zu gewähren bzw. zurückzuverlangen. Die Wirksamkeit der zivilrechtlichen Gestaltung wird dabei nicht berührt.

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Dritter Hauptteil

IX. Die Bedeutung des Missbrauchsverbots und der Künstlichkeitsmetapher für die Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken 25. Durch die Normierung der Generalklausel in der Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts wird die Bedeutung des europäischen Missbrauchsverbots mit seiner Konturierung durch den EuGH erheblich ausgeweitet, da es nun verbindlich in das Körperschaftsteuerrecht aller Mitgliedstaaten aufzunehmen ist. Der allgemeinen Missbrauchsverhinderungsklausel dieser Richtlinie liegt die vom EuGH entwickelte Missbrauchsmethodik zu Grunde und der Gerichtshof ist dazu berufen, die Missbrauchsklausel auszulegen. 26. Für eine wirksame Normbehauptung normiert die allgemeine Missbrauchsverhinderungsregel bei genauer Analyse trotz im Detail abweichender Formulierung das allgemeine unionsrechtliche Missbrauchsverbots in seiner durch den EuGH für den Bereich des Steuerrechts konkretisierten Form. Dadurch wird der Anwendungsbereich dieser rationalen Missbrauchsmethodik auf die gesamte unionsrechtliche Körperschaftsbesteuerung erweitert, indem die Richtlinie eine einheitliche Anwendung der allgemeinen Missbrauchsklausel für den Bereich der Körperschaftsbesteuerung sowohl für grenzüberschreitende als auch rein nationale Sachverhalte vorsieht. 27. Die Künstlichkeitsmetapher als objektiviertes Kriterium und die sie determinierenden Abwägungsgebote können in Zukunft die formale Gestaltung anhand des konkret bezweckten wirtschaftlichen Erfolgs am Normbefehl und gesetzgeberischen Intentionen messen. Unter Berücksichtigung der Kriterien einer künstlichen Konstruktion kann das Missbrauchsverbot dazu beitragen, eine Besteuerung am tatsächlichen Ort der Gewinnerwirtschaftung zu gewährleisten. Hierbei ist eine Aufwertung subjektiver Kriterien zu verzeichnen, da die subjektiv geprägte Art und Weise der Sachverhaltsgestaltung und dabei insbesondere die tatsächliche wirtschaftliche Realität der Gestaltung an den Zielen der Steuerregelung gemessen wird, wozu Wertungskriterien herangezogen werden, die üblicherweise auf das Bestehen des subjektiven Missbrauchselements hindeuten. Entscheidendes Kriterium ist dabei das Maß der Künstlichkeit einer Steuergestaltung. 28. Die ausdifferenzierte Künstlichkeitsmetapher hat als Fortentwicklung wirtschaftlicher Betrachtungsweise das Potenzial, in der Zukunft im Rahmen des objektiven Elements die Feststellung eines Verstoßes gegen den Telos des geltenden Steuerrechts rational begründen zu können. Die Künstlichkeit einer Gestaltung begründet als durch den Gerichtshof in jahrzehntelanger Rechtsprechung objektiviertes Kriterium den Verstoß gegen die Ziele einer Steuernorm unter Berücksichtigung subjektiver Intentionen, da künstliche Gestal-

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tungen nicht die Anwendung vorteilhafter Steuervorschriften legitimieren und der Binnenmarkt nicht durch sie gefördert wird. Eine künstliche und somit unangemessene Gestaltung i.S.d. Art. 6 stellt dann einen Verstoß gegen „Ziel oder Zweck des geltenden Steuerrechts“ dar. Das subjektive Element wurde in der Judikatur und in sekundärrechtlichen Missbrauchsbestimmungen ausführlich vorbereitet und weiterentwickelt. Die Künstlichkeitsmetapher und die ihr zugrundeliegenden, vom EuGH entwickelten Missbrauchskriterien dienen daher einer rationalen Rechtsanwendung in der europäischen Missbrauchsmethodik und tragen dadurch wesentlich zur Normbehauptung im Steuerrecht bei.

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Sachverzeichnis § 42 AO

44, 59, 69, 175

Abus de droit 77 f. Abuse of law 30, 94 Allgemeiner Rechtsgrundsatz 224 f., 228 f., 230, 232, 235, 244 f., 245, 247, 263 – Befugnisse des EuGH zur Implementierung allgemeiner Rechtsgrundsätze 230 Analogie 43, 47 – 51, 54, 64, 77, 106, 108, 201, 212, 317 Anwendung des Missbrauchsverbots 219, 319 Art. 6 155, 166, 226, 245, 273, 294, 298 f., 301, 304, 313, 316, 323 Art. 19 EUV 97 Art. L 64 des Livre des Procédures Fiscales 77 – 79, 90 Aufspaltung eines einheitlichen Rechtsgeschäfts 44, 190 Aufteilung der Besteuerung zwischen den Mitgliedstaaten 287 Außentheorie 43, 59 – 61 Auslegung 26, 34 f., 42 f., 47 – 51, 54, 56, 59 f., 62, 64, 69 f., 72, 74 – 78, 81 – 84, 86, 88 – 90, 93, 96 – 115, 121, 125, 132, 140 f., 149, 152, 159, 166, 168, 172 f., 175 f., 182 – 184, 200 – 202, 206, 212 – 215, 220, 224 f., 227, 230 f., 235, 237, 239, 244 f., 255, 263, 273 f., 292, 298, 301 – 307, 309, 316 Auslegungsbefugnis 35 Auslegungsmethoden des EuGH 97, 113 Autonome Missbrauchsmethode 34 Beschränkung der Grundfreiheiten 119, 145, 220 f., 284, 286 Beweggründe 43, 65, 68, 72, 159 f., 162, 195, 216, 251 – 253, 255, 276 f., 279, 281 f., 292, 302, 311, 321 Beweispflicht 54, 121, 187, 224, 320 Bewertungsprärogative 279, 281, 291, 321

Binnenmarktförderung 175, 182 f., 206, 217 f., 269, 297, 309, 317 business judgement rule 280 f. business-model approach 282, 292, 321 Common law 73, 80, 87 contra legem 44, 62, 107, 237, 244 cross-border abuse 172, 186, 207 Doppelte Verlustanrechnung 286 double reasonableness test 87, 89 Ebene der Mitgliedstaaten 31, 42, 223, 292, 319, 321 Einheitliche Missbrauchsmethode 35 Ermittlung des Normziels 176 Ermittlung des Normziels im Steuer- und Zollrecht 272 Frankreich 32, 73 – 75, 78 f., 89 f., 100, 285 Fraud 30 fraude á la loi 75 – 77, 79 Fremdvergleich 130, 191, 312 Fusionsrichtlinie 149 f., 159 f., 233, 250 – 252, 255, 261, 274 f., 278, 281 f. Gegenläufige Gestaltungen siehe U-Turn General anti-abuse rule des Finance Act 2013 85 Gesamtplan 44 Gesamtwürdigung der objektiven Umstände 127, 133 – 135, 137, 166, 171, 179, 218, 299 Gesetzesumgehung 35, 42 – 44, 46 – 52, 55 – 59, 63 – 67, 70, 75 f., 89, 95, 116, 118 f., 199 – 201, 203, 205 f., 237, 263, 298 Gleichbehandlung 39, 41, 51, 71 f., 180, 208, 214, 219, 226, 249, 318 f. Gleichheitssatz 39, 97 Großbritannien 79, 107, 244

Sachverzeichnis Hindsight bias 280 historische Auslegung

100

Individueller Rechtsmissbrauch 55, 57, 94 Innentheorie 59 f., 62 f., 89, 168 Institutionelle Konflikte 305 institutioneller Rechtsmissbrauch 55, 57 internal abuse 172, 186, 207 Kollusives Zusammenwirken 128, 194 Kommission 25, 28 f., 32 f., 37 f., 92, 100 – 102, 106 – 109, 126, 129, 134, 166, 170, 187, 189, 200, 202, 210, 216, 221, 223, 229, 231 – 233, 244, 248, 254 – 259, 261 f., 285, 289, 293 f., 297, 299, 301 f., 305, 313 f. Künstliche Charakter 168, 189 Künstliche Konstruktion 189 Künstlicher Auslandsbezug 53 Künstlichkeit 127, 142, 187, 191 f., 235, 254, 259, 302, 311, 313 f., 319, 322 Künstlichkeitsmetapher 188, 302, 311 – 314, 316, 322 Lücken

37, 105, 226, 267, 308 f.

Management approach 282, 292, 321 Maß der Künstlichkeit 311, 314, 316, 322 mehraktige Gestaltungen 179, 205, 299 Metateleological approach 104 Missbrauchsabsicht 60 – 62, 120, 185, 200 f., 204, 277 Missbrauchsklauseln 36, 39, 44, 85, 88 – 90, 93, 121, 215, 219 – 223, 243, 247, 250 f., 255, 258, 261, 263 f., 277 f., 291 f., 294 f., 300, 301 f., 304, 305, 307, 312, 316, 317, 319 – 321, 323 Mutter-Tochter-Richtlinie 233, 250 – 252, 255, 258, 260 f., 264, 274, 281 f., 298, 300 Normativer Anknüpfungspunkt des objektiven Elements 175 Objektive Theorie 43, 47, 63, 310 Objektives Element 127, 134, 138, 173 – 175, 182 f., 204, 206, 213, 215, 260, 265 – 267, 295 f., 310, 317

341

Objektivierung 186, 188, 198, 211, 213, 215 f., 283, 310, 312, 314 OECD Addressing Base Erosion and Profit Shifting 293 Öffnungsklauseln 93 Planung des wirtschaftlichen Erfolgs einer Gestaltung 53 Planungssicherheit 36, 72, 79, 217, 224 Primärrecht 92, 95, 98, 100, 104, 225 f., 240, 250, 292, 299 Rahmen normaler Handelsgeschäfte 141, 156, 166, 169, 193, 196 f., 249, 272 Ramsay-Entscheidung 84 Rechtsfolge 27, 30 f., 38, 40, 42 f., 46, 49, 53, 64, 67, 75 f., 98, 128, 158, 175, 205, 208, 217, 219, 244, 250, 290, 295, 298 Rechtsfortbildung 41, 48, 50, 59, 72, 89, 99, 106 – 108, 202, 208, 227, 230, 273, 309 Rechtsklarheit siehe Rechtssicherheit Rechtsmissbrauch 30, 32, 43, 54 – 57, 89, 94, 121, 125, 127, 136 f., 151 f., 162, 166, 171, 173 f., 180, 184, 188, 200, 210, 224, 231 – 234, 237, 245, 263, 268 Rechtssicherheit 33 f., 36, 38, 40, 43 f., 60, 72, 79, 88, 99, 107 – 109, 128, 132, 140 f., 152, 194, 199, 208 – 212, 214, 219, 224, 227, 258, 262 f., 279, 304, 315, 318 Regulierungsarbitrage 33, 97, 164, 271 f., 308 Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken 29, 32, 37, 292 f., 295, 298 – 301, 303, 315 f., 322 Risikoverteilung 168, 192, 312 Schutzmechanismus 26 sens clair 74, 99 spezielle Missbrauchsklauseln 36 Steueraufsicht 288 Steuerflucht 93, 195, 269, 285, 288 Steuerhinterziehung 92, 117, 122, 133, 145, 152, 159 f., 190, 193, 209, 211, 249, 251 f., 255, 260 f., 264, 277, 284 Steuerplanung 25, 28 f., 39, 41, 84, 87, 210, 248, 256 – 259, 283, 289, 291 – 295, 309, 320 f.

342

Sachverzeichnis

Steuerplanungssicherheit 39 – 41, 58, 169, 267, 283 Steuerrecht mit Lenkungsfunktion 266 f., 272, 291, 296 f., 308, 310 Steuertatbestand 26, 60 Steuerumgehung 28, 59 – 61, 69, 77, 83 – 85, 89 f., 92, 117, 122, 131, 133, 141, 143, 147 f., 159, 161 f., 190, 195, 209, 211, 234, 244, 248 f., 253, 255, 261, 264 – 266, 276, 283, 285, 289, 292 subjektive Theorie 43, 52 subjektives Element 62, 67 f., 119, 127 – 129, 133 – 136, 168, 171, 184 – 186, 188, 193, 196 – 198, 199, 200, 203 – 205, 207, 208, 215, 218, 244, 250, 253, 259, 264, 277, 291, 300, 301, 303, 304, 310 f., 316, 318, 320 f., 323 systemkonforme Auslegung 101 Tatbestandsplanung 26 f. Tatbestandsvermeidung siehe Gesetzesumgehung Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots 170 teleologische Auslegung 34 f., 56, 59, 70 – 72, 74, 102, 107, 114, 183, 201, 211 – 214, 244, 273, 307, 309 f., 313, 317 Teleologische Reduktion 82 Telosermittlung 40, 70, 102 f., 175 f., 309 Treu und Glaube 55 U-Turn 44, 84, 194, 242 Umgehungsabsicht 47 f., 51 – 53, 61, 63, 66 f., 72, 75, 119, 132, 138, 184 f. unangemessene Gestaltung 261, 266, 295, 300 f., 316, 323 Unangemessene Gewinnaufteilung 192 Unionsrechtlicher Bezug 171

Verfehlung eines unionsrechtlichen Normziels 179 Verflechtungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern 193, 312 Verhältnismäßigkeit 38, 41, 95, 225, 227, 239, 262, 274 Verlustausgleich 122, 192, 253, 312 vernünftige wirtschaftliche Gründe 121, 160 – 162, 253 vernünftigen wirtschaftlichen Gründe 190, 253, 277 Verordnung über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften 29, 254 Verschleierung des tatsächlichen Vertragstyps 46 Verstoß gegen eines der Ziele 182 Vertrauensschutz 208, 214, 319 Wahlrechte 174, 265, 267 f., 291, 308 Wesentlicher Beweggrund 106, 112, 141, 143, 153 – 155, 157 f., 165 – 167, 170, 185, 193, 196 f., 216, 218, 276, 278 f., 291, 302 f., 318, 321 Wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit 190 wirtschaftliche Betrachtungsweise 38, 248, 282, 292, 310, 321 Wortlaut als Grenze siehe Wortlautgrenze Wortlautauslegung 74, 83, 99 Wortlautbindung 75, 81, 83 f. Wortlautgrenze 52, 81, 87, 99, 107, 110, 113 f., 173, 300 Zersplitterung 32, 35, 42, 71, 106, 217, 294 Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie 255, 274 Zwischenschaltung 45, 158