Graf Benckendorffs Diplomatischer Schriftwechsel: Band 1 1907–1910 [Neue stark verm. Aufl. Reprint 2019] 9783111726885, 9783111042114


168 17 27MB

German Pages 431 [436] Year 1928

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Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Schriftstücke aus den Jahren 1907—1910
1907
1908
1909
1910
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Graf Benckendorffs Diplomatischer Schriftwechsel: Band 1 1907–1910 [Neue stark verm. Aufl. Reprint 2019]
 9783111726885, 9783111042114

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Graf BenckendorfFs Diplomatischer Schriftwechsel Band I: 1007—1910

Graf Benckendorffs Diplomatischer Schriftwechsel Herausgegeben von

B. von Siebert Neue stark vermehrte Auflage der Diplomatischen Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre

Band I 1907—1910

Berlin und Leipzig 1928

Verlag von Walter de G r u y t e r & Co. T o r n t l t C . J . GSschen'scbe Verltgshindlung — J . Gutientag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübntr — Vel« & Comp.

Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 10.

Vorwort. 1921 erschien in unserem Verlage Benno von Sieberts, des ehemaligen Sekretärs der Kaiserlich Russischen Botschaft in London, Werk: „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre." Der schonungslosen, sine ira ac studio geübten Aufhellung der Wahrheit über die Vorgeschichte des Weltkriegs sollten die hier fast durchweg zum ersten Male mitgeteilten Dokumente vornehmlich russischer Herkunft dienen. Insbesondere war es ein Beitrag zur Klärung der Frage nach der Schuld am Kriege. Die Kritik hat diese Aktenveröffentlichung allseitig als eine unschätzbar wertvolle Bereicherung unseres Wissens begrüßt. Zugleich wurden aber auch Verbesserungswünsche geäußert. Benno von Siebert faßte sofort den Plan, ihnen nicht nur gerecht zu werden, sondern das umfangreiche Werk von Grund auf durchzuarbeiten. Nach drei Richtungen wollte er schließlich seine Änderungen erstrecken: 1. Das Material sollte durch eine große Anzahl neuer Schriftstücke ergänzt werden. 2. Die von allen Benutzern als ungeeignet, da das Auffinden erschwerend, empfundene sachliche Anordnung sollte einer rein chronologischen weichen. 3. Der deutsche Text sollte durch nochmalige genaue Vergleichung mit den Texten der Originalsprachen verbessert und verdeutlicht werden. Auch der Gedanke wurde schon von von Siebert erwogen, den einen starken Band in mehrere von geringerem Umfang zu zerlegen und das Ganze unter den Namen des Diplo-

— VI — maten zu stellen, der die meisten Schriftstücke entweder selbst verfaßt oder erhalten hat, des Grafen Alexander von Benckendorff, des langjährigen russischen Botschafters in London. Bei dieser Arbeit hat der Tod am 7. Mai 1926 dem mutigen Wahrheitssucher die Feder aus der Hand genommen. Der Verlag hat es als seine Ehrenpflicht empfunden, das nicht mehr Abgeschlossene zu vollenden. So gibt er aus dem ihm überkommenen Nachlaß die „Diplomatischen Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre" vermehrt, chronologisch geordnet, neu durchgesehen, in drei Bänden unter neuem Titel heraus und hofft, daß das Werk besser noch als vordem seinen hohen Zweck, die Wahrheit zu finden, erfüllen wird. Der Verlag.

Verzeichnis der Schriftstücke aus den Jahren 1907—1910. Nr. Datum 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Absender und Empfänger

1907 Febr. 1. Ministerratsprotokoll Dez. 19. Schreiben Iswolskis an Benckendorff 1908 Juni 18. Schreiben Iswolskis an Benckendorff Aug. 15. Memorandum an die engl. Botschaft Okt. 9. Memorandum des engl. Außenministeriums . . . Nov. 5. Schreiben Iswolskis an Nelidow „25. Schreiben BenckendorfTs an Iswolski Dez. 3. Schreiben Iswolskis an Murawiew 1909 Jan. 28. Telegramm BenckendorfTs an Iswolski Febr. 3. Schreiben BenckendorfTs an Iswolski „ 10. Telegramm BenckendorfTs an Iswolski „ 10. Telegramm BenckendorfTs an Iswolski „ 10. Schreiben BenckendorfTs an Iswolski „ 15. Telegramm Poklewskis an Iswolski ,, 16. Schreiben Poklewskis an Iswolski „ 19. Schreiben Osten-Sackens an Iswolski „ 24. Telegramm Poklewskis an Iswolski „ 26. Mitteilung der franz. Botschaft an das russ. Außenministerium „ 26. Telegramm Steins an Iswolski „ 27. Telegramm Iswolskis an Nelidow Nr. 250 „ 27. Telegramm Poklewskis an Iswolski „ 27. Telegramm Iswolskis an Sergejew Nr. 251 „ 27. Telegramm Iswolskis an Sergejew „ 28. Telegramm Nelidows an Iswolski Nr. 40 „ 28. Telegramm Nelidows an Iswolski Nr. 41

Seite 1 9 11 14 16 17 20 25 27 27 31 32 33 35 36 39 41 43 44 45 46 47 48 48 49

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Datum

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März 2. 2. >f 3. »* 3. it 3. >> 5. >* 5. ft 6. i* M 7. 7. II 8. II 9. II II 11. II 11. II 12. II 13. II 13. II 15. II 16. II 17. II 17.

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17.

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17.

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50 51 52 53 54

II II II II II

17. 17. 19. 22. 23.

55 56 57 58 59 60 61

11 23. II 24. II 26. II 26. II 26. II 27. April! 1.

VIII



Absender and Empfänger

Seite

Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 265. Telegramm Sergejews an Iswolski Schreiben Nelidows an Iswolski Telegramm Sergejews an Iswolski Telegramm Sergejews an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 288. Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 292. Telegramm Poklewskis an Iswolski Telegramm Iswolskis an Sergejew Nr. 296 Telegramm Iswolskis an Sergejew Nr. 301 Telegramm Iswolskis an Sergejew Schreiben Iswolskis an M. von Giers Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 318. Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 319. Telegramm Poklewskis an Iswolski Telegramm Poklewskis an Iswolski Telegramm Strandtmanns an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 337. Telegramm Poklewskis an Iswolski Schreiben Poklewskis an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorfl und Nelidow Nr. 356 Telegramm Iswolskis an Benckendorfl und Nelidow Nr. 363 Telegramm Iswolskis an Benckendorfl und Nelidow Nr. 364 Telegramm Iswolskis an Benckendorfl und Nelidow Nr. 365 Telegramm Sergejews an Iswolski Telegramm Iswolskis an Sergejew Telegramm Poklewskis an Iswolski Nr. 7 Telegramm Poklewskis an Iswolski Nr. 10 Telegramm Iswolskis an Poklewski und Nelidow Nr 409 Telegramm Iswolskis an Poklewski und Nelidow Telegramm Bulatzells an Iswolski Nr. 22 Telegramm Iswolskis an Bulatzell Nr. 425 Telegramm Bulatzells an Iswolski Nr. 24 Telegramm Iswolskis an Bulatzell Nr. 429 Telegramm Poklewskis an Iswolski Nr. 19 Bericht Nelidows an Iswolski Nr. 28

50 51 52 56 57 59 60 60 61 62 63 64 64 65 66 66 68 68 69 70 73 74 75 75 76 77 78 79 80 81 83 84 85 85 86 87

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Datum

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

April „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ Mai „ „

1. 1. 2. 4. 6. 6. 8. 15. 16. 18. 18. 27. 4. 12. 22.

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

„ _„ Juni „ „ „ „ „ „ Juli „ „ „ „ „

25. 28. 3. 5. 7. 8. 22. 25. 30. 2. 2. 3. 13. 13. 14.

92 93 94 95 96 97 98 99 100

„ Aug. „ ,, „ „ Okt. „ „

20. 11. 16. 16. 20. 25. 12. 15. 18.

IX



Absender und Empfänger

Seite

Bericht Nelidows an Iswolski Nr. 30 Schreiben Nelidows an Iswolski Schreiben Bulatzells an Iswolski Telegramm Iswolskis an BenckendorfT Nr. 503 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 2 9 . . Telegramm Benckendorfls an Iswolski Nr. 3 0 . . Telegramm Benckendorfls an Iswolski Bericht Nelidows an Iswolski Telegramm Sementowskis an Iswolski Telegramm Iswolskis an Sementowski Telegramm Iswolskis an Sergejew Bericht Sergejews an Iswolski Nr. 34 Telegramm Sementowskis an Iswolski Telegramm Iswolskis an Sementowski Schreiben Benckendorfls an das russ. Außenministsrium Bericht Sergejews an Iswolski Nr. 38 Schreiben Bulatzells an Iswolski Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 77 . . Telegramm Iswolskis an BenckendorfT Nr. 969. Schreiben Benckendorffs an Iswolski Bericht Sergejews an Iswolski Nr. 44 Schreiben Korffs an Iswolski Bericht Osten-Sackens an Iswolski Nr. 41 Telegramm Benckendorfls an Iswolski Nr. 114. Telegramm Iswolskis an BenckendorfT Nr. 1149 Schreiben Iswolskis an Osten-Sacken Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 125 . Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 146. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 147 . Telegramm Lowthers an das englische Außenministerium Schreiben Benckendorffs an Iswolski Vertrauliche serbische Mitteilung Schreiben Iswolskis an Strandtmann Nr. 759 . Schreiben Benckendorffs an Sasonow Bericht Osten-Sackens an Sasonow Schreiben Iswolskis an BenckendorfT Telegramm Malewskis an Iswolski Telegramm Korostowetz' an Iswolski Telegramm Iswolskis an Korostowetz

89 93 95 97 97 98 99 100 102 102 103 104 105 106 106 108 109 110 111 112 115 116 118 119 120 121 125 126 127 128 129 130 137 139 142 142 143 144 145



Nr.

Datum

101 102 103 104 105 106 107 108

Okt. „ „ „ „ Nov. „ „

27. 27. 28. 29. 30. 3. 4. 4.

109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119

„ „ „ „ „ „ „ „ ,, „ ,,

6. 7. 9. 10. 12. 12. 12. 14. 15. 18. 19.

120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139

,, „ ,, „ „ „ „ „ Dez. „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „

22. 23. 24. 26. 26. 26. 27. 27. 1. 8. 9. 15. 19. 19. 20. 21. 21. 21. 22. 24.

X



Absender und Empfänger

Seite

Bericht Urussows an Iswolski 145 Schreiben Poklewskis an Iswolski 146 Telegramm Hartwigs an Iswolski 147 Bericht Osten-Sackens an Iswolski 148 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 213 149 Schreiben Etters an Iswolski 149 151 Schreiben Iswolskis an Osten-Sacken Instruktionen Iswolskis an Sementowski, Hartwig und Maximow 154 Bericht Tscharykows an Iswolski 156 Schreiben Dolgorukis an Iswolski 159 Schreiben Korffs an Iswolski 160 Schreiben Etters an Iswolski 162 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 218 163 Schreiben Osten-Sackens an Iswolski 163 Bericht Osten-Sackens an Iswolski 165 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 1946 166 Telegramm Korffs an Iswolski 167 Schreiben Iswolskis an Etter 167 Memorandum der engl. Botschaft an das russ. Außenministerium 168 Telegramm Urussows an Iswolski 170 Telegramm Iswolskis an Tscharykow 171 Schreiben Nicolsons an Iswolski 172 Telegramm Hartwigs an Iswolski 174 Schreiben Iswolskis an Tscharykow 175 Telegramm Tscharykows an Iswolski 178 Schreiben Nicolsons an Iswolski 180 Schreiben Iswolskis an Tscharykow 181 Schreiben Nicolsons an Iswolski 182 Schreiben Tscharykows an Iswolski 183 Bericht Nelidows an Iswolski 189 Telegramm Malewskis an Iswolski 190 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 239. 191 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 192 Telegramm Malewskis an Iswolski 194 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 240. 195 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 195 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 198 Telegramm Iswolskis an Tscharykow 199 Telegramm Malewskis an Iswolski 200

— XI Nr.

Datum

140 141 142

Dez. 24. 24. »» 1) 26.

143

1» 28. 1910 Jan. 1. 5. »» 6. »» 13. 13. »» 13. >> M 13. »i 13. 20. 21. ** »i 26. 27. 31. *» $t 31. Febr.. 2. 2. >» >1 2. 3. »» 1» 4. 4. II 5. »I 6. »* 1» 9. 9. >» II 12. t1 12. tt 17. tt 24. tt 26. tt 26. 1t 26. tt 27. tt 27. März 1.

144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178



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1.



Absender and Empfänger Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 243. Bericht Tscharykows an Iswolski Promemoria des russ. Außenministeriums an die engl. Botschaft in Petersburg Telegramm Rosens an Iswolski

Seite 201 202 206 208

Schreiben Nicolsons an Iswolski 209 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 210 Bericht Nelidows an Iswolski 213 214 Bericht Nelidows an Iswolski Schreiben Malewskis an Iswolski 216 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 2291 218 Telegramm Iswolskis an Benckendorfl 218 Schreiben Iswolskis an Benckendorfl 219 222 Bericht Nelidows an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 38 . 223 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 6 . . 225 Telegramm Swerbejews an Iswolski 226 Telegramm Iswolskis an Benckendorfl Nr. 98 . 227 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 99 . 228 Telegramm Hartwigs an Iswolski 229 229 Schreiben Benckendorffs an Iswolski Schreiben Benckendorffs an Iswolski 231 232 Schreiben Nelidows an Iswolski Telegramm Iswolskis an Hartwig 234 Telegramm Tscharykows an Iswolski Nr. 37 . . 235 235 Schreiben Iswolskis an Swerbejew Telegramm Iswolskis an Tscharykow Nr. 136 . 237 Schreiben Iswolskis an Swerbejew 237 Telegramm Tscharykows an Iswolski 238 Telegramm Dolgorukis an Iswolski 239 Telegramm Dolgorukis an Iswolski 240 Schreiben Swerbejews an Iswolski 240 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 245. 244 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 40 . 245 Telegramm Dolgorukis an Iswolski 245 Telegramm Nekljudows an Iswolski 246 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 256. 246 Telegramm Iswolskis an Dolgoruki 246 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 247 Telegramm Osten-Sackens an Iswolski Nr. 17.. 249

— Nr.

Datum

179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219

März „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ April „ „ „ „ „

1. 2. 3. 4. 8. 10. 10. 15. 16. 16. 16. 16. 16. 18. 18. 18. 18. 19. 20. 20. 21. 21. 21. 22. 22. 22. 23. 23. 24. 24. 24. 24. 24. 25. 26. 1. 6. 8. 9. 14. 16.

XII



Absender and Empfänger

Seite

Telegramm Swerbejews an Iswolski Nr. 19 250 Telegramm Swerbejews an Iswolski 251 Schreiben Nekljudows an Iswolski 252 Telegramm Poklewskis an Iswolski Nr. 94 253 253 Telegramm Malewskis an Iswolski Telegramm Swerbejews an Iswolski Nr. 22 254 Schreiben Iswolskis an Benckendorff Nr. 171 . . 255 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 5 1 . . 257 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 5 2 . . 258 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 339 . 259 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 340. 259 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 261 Schreiben Benckendorffs an Iswolski 262 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 5 4 . . 264 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 5 5 . . 264 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 5 6 . . 266 Schreiben Schebekos an Iswolski 266 Telegramm Swerbejews an Iswolski 267 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 362. 268 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 57 . • 268 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 6 1 . . 269 Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 62 . . 27o Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 6 3 . . 271 Telegramm Swerbejews an Iswolski Nr. 27 272 Telegramm Swerbejews an Iswolski 273 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 372 273 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 380 274 Telegramm Poklewskis an Iswolski 275 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 383 276 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 384 276 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 64 277 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 65 277 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 66 277 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 67 278 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 406 279 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 71 280 Telegramm Iswolskis an Etter Nr. 457 281 Telegramm Etters an Iswolski Nr. 75 281 Telegramm Tscharykows an Iswolski 282 Telegramm Poklewskis an Iswolski 283 Telegramm Sasonows an Benckendorff Nr. 492 283

— Nr. 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258

Datum April tt f* tf ft ff ff ff tf tt tt tt tt tt tt

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16. 16. 19. 19. 21. 21. 22. 23. 23. 25. 25. 26. 26. 26. 27. 28.

4. 5. »» 7. tt 10. tt 12. tt ft 12. 12. tt 13. tt 18. tt 18. tt 18. tt 18. tt 19. tt 21. tt 22. tt 24. tt 26. tt 31. tt 31. tt Juni 7. 7. >» 11. »» 11.

Mai

XIII

-

Absender and Empfänger Telegramm Sasonows an Benckendorf! Nr. 493 Telegramm Sasonows an Benckendorf! Nr. 494 Telegramm Benckendorffs an Sasonow Nr. 78 . Telegramm Benckendorffs an Sasonow Nr. 79 . Schreiben Tscharykows an Iswolski Bericht Tscharykows an Iswolski Telegramm Sasonows an Benckendorf! Nr. 523 Telegramm Benckendorffs an Sasonow Nr. 80 . Telegramm Sasonows an Benckendorf! Nr. 531 Telegramm Poklewskis an Sasonow Telegramm Benckendorffs an Sasonow Nr. 82 . Schreiben Benckendorffs an Sasonow Schreiben Dolgorukis an Sasonow Schreiben Benckendorffs an Sasonow Telegramm Tscharykows an das russ. Außenministerium Nr. 200 Telegramm Nelidows an das russ. Außenministerium Nr. 25 Telegramm Benckendorffs an Sasonow Nr. 85 . Telegramm Tscharykows an Sasonow Nr. 60 . . Telegramm Malewskis an Iswolski Schreiben Benckendorffs an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorf! Telegramm Korostowetz' an Iswolski Telegramm Iswolski an Benckendorf! Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 102. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 106. Telegramm Iswolskis an Benckendorf! Nr. 684. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 104. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 107. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 108 . Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 109. Telegramm Iswolskis an Benckendorf! Nr. 695. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 113. Telegramm Iswolskis an Benckendorf! Nr. 717. Schreiben Benckendorffs an Iswolski Telegramm Poklewskis an Iswolski Nr. 292 Telegramm Iswolskis an Benckendorff Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 122. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 125. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 127.

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Juni 14. 15. >* »i 21. 24. 25. »» M 28. >1 28. II 28. 29. »» 1» 29. ff 30. Juli 6. 99 7. 99 8. 99 14. Aug. 3. 99 5. 99 6. »1 15. 9» 17. 99 18.

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XIV



Absender und Empfänger

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Telegramm Benckendorils an Iswolski Nr. 131. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 134. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 147. Schreiben Iswolskis an Benckendorff Nr. 760 . . Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 889. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 157. Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 160. Telegramm Iswolskis an Nelidow Nr. 905 Schreiben Benckendorffs an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 911. Telegramm Nekljudows an Iswolski Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 175. Bericht Nekljudows an Iswolski Telegramm Benckendorffs an Iswolski Nr. 178. Bericht Schtschjoluns an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorff Nr. 1139 Bericht Osten-Sackens an Iswolski Telegramm Iswolskis an Benckendorff Telegramm Sasonows an Benckendorff Schreiben Benckendorffs an Sasonow Telegramm Poklewskis an das russ. Außenministerium 6. Telegramm Poklewskis an das russ. Außenministerium 6. Telegramm Poklewskis an das russ. Außenministerium 7. Schreiben Korffs an Iswolski 8. Telegramm Sasonows an Poklewski 10. Telegramm Poklewskis an Sasonow Nr. 564 . . . 14. Schreiben Sasonows an Kokowzow 26. Telegramm Nekljudows an Sasonow 26. Telegramm Sasonows an Etter Nr. 1420 28. Telegramm Etters an Sasonow Nr. 242 28. Telegramm Sasonows an Etter Nr. 1429 28. Telegramm Sasonows an Sementowski 29. Telegramm Sasonows an Poklewski 1. Telegramm Poklewskis an Sasonow 3. Telegramm Rosens an Sasonow 8. Schreiben Sasonows an Poklewski Nr. 884 11. Schreiben Kokowzows an Sasonow 23. Telegramm Tscharykows an Sasonow

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Telegramm Tscharykows an Sasonow . Telegramm Poklewskis an Sasonow . Telegramm Sasonows an Etter Nr. 1563 . Bericht Urussows an Sasonow . . Bericht Osten-Sackens an Sasonow Nr. 103 Bericht Korostowetz' an Sasonow Nr. 104 . Schreiben Sasonows an Kokowzow , Telegramm Etters an Sasonow Nr. 267 . Schreiben Etters an Sasonow Bericht Sementowskis an Sasonow Nr. 52 Ministerratsprotokoll Schreiben BenckendoriTs an Sasonow Telegramm Sasonows an Malewski Nr. 1742 .. Schreiben Sasonows an Benckendorfl Bericht Korostowetz' an Sasonow Nr. 115 Schreiben BenckendoriTs an Sasonow Telegramm Malewskis an Sasonow Nr. 206 . . . Schreiben BenckendorfTs an Sasonow Telegramm Sasonows an Benckendorff Nr. 1779 Telegramm BenckendoriTs an Sasonow Nr. 279 Telegramm Sasonows an Korostowetz Nr. 1793 Telegramm Korostowetz' an Sasonow Nr. 645 .

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1. Protokoll der Sitzung des russischen Ministerrates vom 1. Februar 1907 über den Abschluss eines Vertrages mit England über persische Fragen unter besonderer Berücksichtigung der Bagdadbahn. Bei Eröffnung der Sitzung brachte der Außenminister in Erinnerung, daß die Frage eines Übereinkommens mit England über persische Fragen bereits erörtert worden sei, aber ausschließlich aus Anlaß eines Darlehens, das der persischen Regierung gewährt werden sollte. Diesmal handele es sich darum, sich über den Vorschlag der englischen Regierung schlüssig zu werden, Persien in Interessensphären zu teilen. Bis in die letzte Zeit habe dieser Gedanke in der russischen öffentlichen Meinung keine Zustimmung gefunden, und in Regierungskreisen wäre man sogar überzeugt, daß Persien ganz unter russischen Einfluß fallen und Rußland bis zum Persischen Meerbusen vordringen müsse, wobei es nötig werden würde, eine transpersische Eisenbahn zu bauen und an den Ufern des genannten Meerbusens eine befestigte Kopfstation zu errichten. Die Ereignisse der letzten Jahre hätten jedoch gezeigt, daß dieser Plan unerfüllbar sei, und hätten bewiesen, daß alles vermieden werden müsse, was zu einem Konflikt mit England führen könne. Das beste Mittel hierzu sei eine Abgrenzung der Interessensphären in Persien. Der Außenminister möchte als überzeugter Anhänger dieses Standpunktes die prinzipielle Meinung der anwesenden Minister über die Zweckmäßigkeit einer derartigen Politik kennen, ehe die VerSlcbert, Benckendorff. I. 1



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Sammlung in die Beratung der von England gemachten konkreten Vorschläge eintritt. Der Ministerrat nahm das Prinzip der Interessensphären als einzig mögliche Grundlage für ein Abkommen mit England an, worauf der Außenminister auf den engen Zusammenhang dieser Frage mit der Bagdadbahn hinwies. Ein Vertrag mit England kann zu den erwarteten Resultaten nur dann führen und die Möglichkeit internationaler Verwicklungen verhindern, wenn dieses Abkommen keine Einwendungen von Seiten Deutschlands hervorruft. Wie die Ereignisse in Marokko bewiesen haben, mißtraut Deutschland allen Vereinbarungen, die ohne sein Wissen abgeschlossen werden, und die in irgendeiner Weise seine Lage als Weltmacht berühren können. Derartige Befürchtungen unsererseits sind um so mehr begründet, als Deutschland bereits seine Aufmerksamkeit auf Persien gelenkt hat und augenscheinlich beabsichtigt, sich daselbst wichtige Interessen zu schaffen. Dies wird durch die Beunruhigung bestätigt, welche im vorigen Sommer in Deutschland infolge eines einfachen Gerüchts über ein angeblich bevorstehendes allgemeines Abkommen zwischen Rußland und England entstand. Diese Aufregung ist durch beruhigende Erklärungen der Kaiserlichen Regierung in dem Sinne beigelegt worden, daß sie sich in Fragen, welche die Interessen Deutschlands direkt berühren, durch kein Abkommen binden wird, ohne sich vorher mit der deutschen Regierung verständigt zu haben. Um uns aber von dieser Seite aus vollständig zu sichern, müssen wir uns unbedingt mit unserem westlichen Nachbar in bestimmterer Weise endgültig verständigen und bis zu einem gewissen Grade unsere gegenseitigen Interessen ebenfalls abgrenzen. Eine solche Verhandlungsbasis bietet die Bagdadbahn, die Rußland bis jetzt auf alle mögliche Weise zu verhindern gesucht hat, wobei es sich auf Frankreich und England stützte. Deshalb muß der Ministerrat jetzt beschließen, ob es für Rußland vorteilhaft sei, von jetzt ab auf eine derartige Politik zu verzichten. Der Finanzminister wies darauf hin, daß die Gerüchte



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über weitgehende wirtschaftliche Absichten Deutschlands in Persien stark übertrieben seien. Seinen Informationen zufolge sind die deutschen Banken, die in erster Linie die deutschen Unternehmungen in Asien finanzieren, derart in Anspruch genommen, daß sie kaum imstande sind, sich neuen Unternehmungen in Persien zuzuwenden, insbesondere jetzt, wo die beständigen Unruhen im Iran kaum günstige Vorbedingungen für Handel und Industrie schaffen. Zwar haben sich einige deutsche Großbanken zu einem neuen Institut, „der Orientalischen Bank", zusammengeschlossen und beabsichtigen, eine Filiale in Teheran zu eröffnen, aber, soweit bekannt, hat die Tätigkeit dieses Institutes in Persien eher informatorischen Charakter, um festzustellen, welche persischen Märkte in Zukunft für Deutschland in Betracht kommen könnten. Immerhin kann die Tatsache des Vorhandenseins deutscher Interessen in Persien nicht geleugnet werden, und das vom Außenminister erwähnte Einverständnis mit Deutschland ist daher im Prinzip entschieden wünschenswert. Was die Bagdadbahn im besonderen anlangt, so wiederholt Kokowzow, daß alle Erwägungen, welche im Lauf der letzten 5 Jahre vom Finanzminister hinsichtlich der Schädlichkeit der im Bau begriffenen Linie für unsere Interessen vorgebracht wurden, auch jetzt noch Gültigkeit haben. Als wichtige Transitlinie zwischen Westeuropa und Indien, welche teilweise die Seeverbindungen ersetzen soll, umgeht diese Bahn unser Gebiet und läßt uns folglich an den Vorteilen des Transitverkehrs nicht teilnehmen. Außerdem wird die Bagdadbahn die Fruchtbarkeit der von ihr durchschnittenen Gebiete Kleinasiens und Mesopotamiens unbedingt erhöhen und auf diese Weise eine neue Konkurrenz für den russischen Getreideexport bedeuten. Eine besondere Gefahr für unsere Herrschaft in Nordpersien bedeuten die Zweiglinien in der Richtung der persischen Grenze, welche deutschen und englischen Industrieerzeugnissen den Zugang zu unserer wirtschaftlichen Interessensphäre ermöglichen werden. Man kann sich jedoch nicht verhehlen, daß wir nicht die l*



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Möglichkeit haben, die Erbauung der Bagdadbahn zu verhindern oder sie lange hinauszuschieben. Das einzige uns zur Verfügung stehende Mittel — die Einwirkung auf Frankreich — ist nicht verläßlich, und es würde uns kaum gelingen, das französische Kapital von der Teilnahme an diesem Unternehmen lange zurückzuhalten. Ebenso muß man den Gedanken aufgeben, mit der Bagdadbahn durch die Erbauung einer neuen Linie konkurrieren zu können, die die russischen Eisenbahnen mit Indien durch Afghanistan verbindet. England wird ohne Zweifel eine solche Linie für gefährlicher als die Bagdadbahn halten und kaum seine Zustimmung zu einem derartigen Projekt geben. Wir müssen uns folglich mit dem Gedanken der Bagdadbahn aussöhnen und um den Preis der Aufgabe unseres Widerstandes von Deutschland Kompensationen zu erlangen suchen. Auf alle Fälle hält es der Minister nicht für wünschenswert, daß Rußland sich an der Bagdadbahn beteiligt. Unsere finanzielle Lage erlaubt uns nicht, uns aktiv zu beteiligen; eine fiktive Beteiligung jedoch durch ein privates Kreditinstitut oder durch eine französische Kapitalistengruppe gibt uns keine Vorteile und keine Möglichkeit einer aktiven Einwirkung. Hierauf bemerkte der russische Botschafter in London, daß England bisher bei der Internationalisierung der Bagdadbahn stets unbedingt an eine russische Beteiligung gedacht hat; unser Verzicht auf ein gemeinsames Vorgehen mit England könnte dieser ganzen Frage eine andere Wendung geben. Der Handelsminister glaubt, daß ein russischer Widerstand in der Bagdadbahnfrage nur dann von Bedeutung sein würde, wenn man die Herstellung der Bahn auf mehrere Jahrzehnte hinausschieben könne. Da dies nicht erreichbar ist, sei es wünschenswert, möglichst vorteilhafte Kompensationen für unsere Zustimmung zu erhalten. Die Bagdadbahn ist den russischen Interessen so schädlich, daß man kaum hoffen darf, Kompensationen zu erhalten, die für uns von realer Bedeutung wären. Man muß sich mit



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sozusagen negativen Kompensationen begnügen, d. h. Versicherungen, den uns zugefügten Schaden nach Möglichkeit zu verringern. In dieser Hinsicht muß man zwischen der Hauptlinie und den Zweigbahnen unterscheiden, die sich der persischen Grenze nähern. Für die russischen Interessen bedeutet die Hauptlinie die Zusammenziehung des Transits aus Europa am Persischen Meerbusen. Dieser Transit berührt, seitdem der Kaukasus im Jahre 1883 geschlossen worden ist, auch jetzt nicht Rußland, so daß unsere Verluste jetzt nur indirekte sein würden. Die erwähnten Zweiglinien jedoch, besonders die persisches Gebiet berührenden, bedeuten für uns eine direkte Bedrohung unseres wirtschaftlichen Einflusses in unserer natürlichen Interessensphäre, da sie die Einfuhr von europäischen Waren auf die nördlichen persischen Märkte erleichtern würden, wo wir bis jetzt geherrscht haben. Deshalb müßten in den bevorstehenden Verhandlungen mit England und Deutschland folgende Bedingungen zugunsten Rußlands als Kompensation seines Widerstandes festgesetzt werden: 1. Deutschland garantiert, daß keine Zweiglinien in der Richtung der persischen Grenze, z. B. Chanikin, gebaut werden sollen. 2. England und Deutschland müßten uns unterstützen, um die von der persischen Regierung bis zum Jahre 1910 übernommene Verpflichtung zu erneuern, daß Persien im Norden keine Bahnen bauen wird, oder daß solche nur mit unserer Zustimmung, folglich auch unter Wahrung unserer Interessen, gebaut werden sollen. 3. Das Abkommen des Jahres 1900 mit der Türkei über Eisenbahnen in Kleinasien muß zu unseren Gunsten weiter ausgebaut werden. Die Vertreter des Kriegsministeriums und des Generalstabes bestätigen einstimmig die Unvereinbarkeit der Bagdadbahn mit russischen strategischen Interessen; die Vorteile, die der Türkei durch diese Bahn erwachsen würden, können nur durch eine entsprechende Entwicklung unseres kaukasi-



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sehen Eisenbahnnetzes und eine entsprechende Verstärkung unserer Truppen in den Grenzgebieten aufgehoben werden. Von anderen Staaten können wir in militärischer Hinsicht keine Kompensationen erhalten. Immerhin sind die Vertreter der genannten Ressorts der Ansicht, daß wir unter gewissen Bedingungen unsere Zustimmung zur Bagdadbahn geben können. Nachdem auf diese Weise festgestellt war, daß es grundsätzlich wünschenswert sei, mit England und Deutschland zu einer Verständigung über die genannten Fragen zu gelangen, ist die Konferenz zu einer eingehenden Würdigung der Vorschläge des Londoner Kabinetts übergegangen. Die Einleitung des von England ausgearbeiteten Vorschlags einer Konvention hat von seiten der Anwesenden keinerlei Einwendungen hervorgerufen. Hinsichtlich der in den Artikeln 1. und. 2. enthaltenen Verpflichtung Rußlands und Englands, „weder für sich noch für ihre Untertanen irgendwelche Konzessionen politischer oder kommerzieller Natur zu fordern und derartige Bestrebungen auch nicht zu unterstützen", hat der Handelsminister vorgeschlagen, diese Bestimmungen dadurch zu ergänzen, daß man auf die Notwendigkeit hinweist, daß sich eine derartige Verpflichtung auch auf die Untertanen dritter Mächte bezieht. Dieser Ansicht haben sich die übrigen Mitglieder der Konferenz angeschlossen. In gleicher Weise hat sich die letztere für die Notwendigkeit ausgesprochen, die im Vorschlag erwähnten „Konzessionen politischen und kommerziellen Charakters" näher zu bestimmen, indem man sie nicht nur in erschöpfender Weise aufzählt, sondern auch als Beispiele auf Banken, Eisenbahnen, Telegraphenlinien, Transportwesen, Versicherungsgesellschaften usw. hinweist. Sodann schlug der Vorsitzende vor, in die Beratung über die konkreten Vorschläge desFinanzministers und des Generalstabs hinsichtlich der Demarkationslinie der Einflußsphäre einzutreten. Nach dem Vorschlag des Finanzministeriums soll diese Linie von Kasri—Schirin nach Khamadan—Teheran— Meshed—Gaudan führen. Das Militärressort möchte diese



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Linie weiter nach Süden vorschieben. Aus diesem Anlaß hat der Chef des Generalstabs erklärt, daß man vom strategischen Standpunkt aus die Grenzlinie Kermanschach im Norden lassend, über Jesd und Khak nach Isphahan führen sollte, um sie an der afghanischen Grenze bei der Ortschaft Kussan endigen zu lassen. Es ist für unsere Interessen äußerst wichtig, daß der gesamte Khorassan in die russische Einflußsphäre einbezogen wird, da wir uns auf diese Weise die in strategischer Hinsicht sehr wichtigen Wege nach Afghanistan, welche durch den nordöstlichen Teil Persiens führen, sichern. Wie die Vertreter des Generalstabs erklärten, hat Sehistan als ein sehr fruchtbares Gebiet und als der natürliche Weg aus Persien nach Indien für England eine so große Bedeutung, daß unser Nachgeben in dieser Frage uns die Möglichkeit bieten wird, bedeutende Zugeständnisse von der englischen Regierung zu erhalten. Man dürfe außerdem nicht aus den Augen lassen, daß die Frage Sehistan aufs engste mit der Frage Afghanistan verbunden ist, welch letztere für die Engländer die größte Bedeutung hat. Seit der Ernennung Lord Kitcheners zum Oberkommandierenden ist der alte Plan der Verteidigung Indiens von Grund auf geändert worden. Es geschieht jetzt alles, um ein möglichst schnelles Vorrücken in der Richtung Hindukusch und womöglich noch weiter zu ermöglichen und auf diese Weise die Verteidigung Indiens außerhalb seiner Grenzen zu verlegen. Die Engländer werden wahrscheinlich bemüht sein, Afghanistan zum Kriegsschauplatz zu machen, und die afghanische Armee, welche sie augenscheinlich gründlich zu reformieren wünschen, wird ihnen als Avantgarde dienen. Gleichzeitig wird Sehistan das Konzentrationsgebiet der von Süden aus vorrückenden indischen Truppen werden. Bei einer derartigen Lage der Dinge müssen wir bei unseren Verhandlungen mit dem Londoner Kabinett zu erreichen suchen, daß Afghanistan tatsächlich einen Puffer zwischen den englischen und russischen Besitzungen bildet, wie dies sich aus den vorhergehenden



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Vereinbarungen ergibt, und nicht ein Aufmarschgebiet gegen uns. Man könnte, deshalb von England verlangen, daß es den status quo in Afghanistan auf Grund der von England selbst seit dem Jahr 1869 gemachten Vorschläge anerkennt, nämlich, daß das Gebiet Afghanistans ein Puffer zwischen England und Rußland in Zentralasien ist, und daß wir das Recht haben, dort wenigstens Handelsagenten zu haben. Der Finanzminister seinerseits erklärte, daß die Linie Kasri—Schirin — Khamadan—Teheran—Meshed—Gaudan vom Finanzministerium im Hinblick auf die Gesamtheit der realen Interessen Rußlands angenommen worden sei. In Anbetracht dessen sei die Linie so geführt worden, daß in unserer Interessensphäre das gesamte Azerbeidjan, Teheran, die Ufer des Kaspischen Meeres und das nördliche Khorassan verbleiben, wo wir bereits eine feste handelspolitische Stellung einnehmen. Die Vertreter des Marineamts schlössen sich der Ansicht Kokowzows an. Die vom Generalstab vorgeschlagene Linie fand die Billigung des Handelsministers, des Adjunkten des Kriegsministers und des Rates des Ministeriums des Auswärtigen Argyropulo. Der Botschafter in London erklärte seinerseits, daß er keine Bedenken dagegen habe, daß man sie der englischen Regierung mitteile. Die Debatten über eine eventuelle Abgrenzung unserer Interessensphären zusammenfassend sagte Iswolski, daß, da wir jetzt im Begriff sind, zu einem Einvernehmen mit England zu gelangen, welches die Absicht verfolgt, gerade die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit ihm aus dem Weg zu räumen, man in der Frage der Demarkationslinie sich nicht ausschließlich von strategischen Erwägungen leiten lassen dürfe. Das Ministerium des Auswärtigen verfolge zurzeit systematisch den Plan, eine Reihe von Abmachungen zu schließen, welche im Endergebnis uns vor Zusammenstößen auf der ganzen Linie unserer asiatischen Front schützen. Aber angesichts der Hinweise des militärischen Ressorts könne man versuchen, die vom Generalstab vorgeschlagene

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Linie unseren Verhandlungen mit England als Höchstforderung zugrunde zu legen. Der Vorsitzende fügte hinzu, daß es vom praktischen Standpunkt aus mehr als wünschenswert sei, sich mit den Engländern zu verständigen, da wir, wenn keine Vereinbarung zustandekommt, bei der jetzigen Lage der Dinge die Festsetzung der Engländer in Sehistan nicht verhindern könnten. Es sei deshalb zweckmäßiger nicht den Versuch zu machen, ihnen Schwierigkeiten in den Weg zu legen, sondern uns möglichst große Zugeständnisse ihrerseits in anderen Punkten dafür auszubedingen. Kokowzow wies, was die Redaktion des englischen Vorschlags anbelangt, daraufhin, man müsse einen Vorbehalt wegen der schon bestehenden russischen Unternehmungen in der zukünftigen englischenSphäre machen und dementsprechend auch hinsichtlich englischer Unternehmungen in unserer Einflußsphäre. Es sei ferner wünschenswert festzustellen, daß eine Abgrenzung von Einflußsphären nicht die vertragliche Pflicht Persiens berührt, die in Rußland aufgenommenen persischen Anleihen mit den Einnahmen aus allen Zollämtern zu garantieren, außer denen in Fars und am Persischen Meerbusen.

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Streng vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 6./19. Dez. 1907. Ich habe mit lebhaftem Interesse Ihre beiden Schreiben vom 6./19. November gelesen, in denen Sie über den Gedankenaustausch über die Bagdadbahn berichten, der neulich in Windsor zwischen Kaiser Wilhelm und Baron Schön einerseits und der englischen Regierung andererseits stattgefunden hat. Ich schätze ganz außerordentlich Sir Edward Greys Haltung, die er auch bei dieser Gelegenheit bewahrt hat,



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ebenso wie die liebenswürdige Mitteilung, die er Ihnen hat zukommen lassen. Ich bitte Sie dem Minister meinen besten Dank zu übermitteln und benutze diese Gelegenheit, um Ihnen in einigen Worten den Standpunkt der Kaiserlichen Regierung in der Bagdadbahnfrage darzulegen. Wie in England und Frankreich, so hat auch in Rußland das deutsche Projekt keine Sympathien gefunden. Ohne von der strategischen Bedeutung dieses Unternehmens zu sprechen, betrachten wir mit Sorge den Einfluß, den eine solche Bahn in den türkischen Nachbarprovinzen des Kaukasus, des Schwarzen Meeres und Persiens ausüben würde. Hauptsächlich hat uns jedoch der Einfluß auf Persien beunruhigt, denn wir können nicht den geringsten Zweifel haben, daß die Erbauung der Bagdadbahn und eine eventuelle Verbindung mit zukünftigen Eisenbahnen in Persien dieses Land dem deutschen politischen Einflüsse und seinen kommerziellen Unternehmungen öffnen würde. Wenn England und Frankreich in dieser Frage eine völlige Handlungsfreiheit bewahrt haben, so ist Rußlands Stellung nicht ganz die gleiche, da das Petersburger Kabinett bei Beginn der russisch-englischen Verhandlungen Berlin die Zusicherung gegeben hat, keinen diese Frage berührenden Entschluß zu fassen, ohne sich vorher mit Berlin in freundschaftlicher Weise ausgesprochen zu haben. Es ist ganz natürlich, daß unsere spezielle Stellung zu Deutschland zu einem Meinungsaustausch geführt hat, der ausschließlich den Zweck verfolgte, unsere vitalen Interessen in Persien sicherzustellen; hat doch selbst England diese Interessen in der mit uns abgeschlossenen Konvention als berechtigt anerkannt. Was Deutschland anlangt, so wollte es uns von unserem grundsätzlichen Widerstand gegen dieses Unternehmen abbringen, und in der Tat haben die finanziellen und technischen Seiten dieser Frage nie den Gegenstand von Verhandlungen zwischen Petersburg und Berlin gebildet.



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Ich beeile mich hinzuzufügen, daß die Verhandlungen zu keinem greifbaren Resultat geführt haben, und daß Rußland keine Verpflichtung übernommen hat, außer der oben erwähnten, die j a den Kabinetten von London und Paris bereits bekannt ist. Dies war die Lage, als wir Sir Edward Greys Mitteilung vom 5./18. November erhalten haben. Sie gibt uns die Hoffnung, daß das Berliner Kabinett in allernächster Zeit mit den drei am meisten interessierten Mächten in Verhandlungen über den Bau der Bagdadlinie treten wird; dadurch wird eine neue Lage geschaffen, die von der Kaiserlichen Regierung ernstlich geprüft werden muß. Ich will hinzufügen, daß wir das Resultat dieser Prüfung dem Londoner Kabinett mitteilen werden, und daß die freundschaftliche Haltung, die dieses uns gegenüber eingenommen hat, einen wirksamen Einfluß auf unsere Entschließungen haben wird. Iswolski.

3. Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 5./18. Juni 1908. Während der Zusammenkunft unseres Kaisers mit König Eduard auf der Reede von Reval bin ich von Seiner Majestät empfangen worden und habe mit dem englischen Unterstaatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Sir Charles Hardinge eine ganze Reihe längerer Unterredungen gehabt. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu Ihrer persönlichen Information vertraulich von einigen Einzelheiten dieses Gedankenaustausches Kenntnis zu geben. Der allgemeine Eindruck, den diese Zusammenkunft hinterlassen hat, ist in politischer Hinsicht ein äußerst günstiger; König Eduard hat seine Genugtuung offen zum Ausdruck gebracht und erblickt in der Zusammenkunft eine



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Bestätigung und Befestigung des zwischen Rußland und England erzielten Übereinkommens sowie ein Pfand für die weitere Solidarität der beiden Regierungen. Mit besonderer Genugtuung betonte Seine Majestät die glückliche Wendung in unserer inneren Politik und die Zustimmung, die die Tätigkeit des Staatssekretärs Stolypin in ernsten Kreisen Englands findet. Die verschiedenen Erklärungen Hardinges zusammenfassend, muß ich vor allem betonen, daß seinerseits kein Versuch gemacht worden ist, den Boden konkreter Abmachungen, sowohl der schon bestehenden als der in Aussicht genommenen, zu verlassen und uns in allgemeine politische Kombinationen zu ziehen. Sir Charles bestätigte, daß das Londoner Kabinett unsere Ansicht durchaus teile, daß die Entrevue in Reval den anderen Staaten keinerlei Beunruhigung einzuflößen brauche; was speziell Deutschland anlangt, so wünscht die englische Regierung aufrichtig, die allerbesten Beziehungen zu ihm zu unterhalten, und glaubt nicht, daß in allernächster Zukunft diese Beziehungen sich aus irgendeinem Grunde verschärfen werden. „Trotzdem", sagte mir Sir Charles Hardinge, „kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur See fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst beunruhigende und gespannte Lage entstehen kann; dann wird zweifellos Rußland der Schiedsrichter der Lage sein; und aus diesem Grunde wünschen wir, im Interesse des Friedens und der Erhaltung des Gleichgewichts, daß Rußland möglichst stark zu Lande und zu Wasser ist." Diesen Gedanken hat Sir Charles mehrere Male wiederholt, wobei er augenscheinlich zu verstehen geben wollte, daß er nicht seine persönliche Meinung, sondern die bestimmte politische Überzeugung des Londoner Kabinetts zum Ausdruck bringe. Zu den einzelnen Rußland und England interessierenden Fragen übergehend, sprach Sir Charles in warmen Ausdrücken von dem glücklichen Resultat der im vorigen Jahre



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unterzeichneten Übereinkommen, dank denen keine einzige in letzter Zeit zwischen Rußland und England entstandene Frage einen gefährlichen oder akuten Charakter angenommen habe. Seinen Worten zufolge hat nur dank der Konvention und der absoluten Loyalität, mit der Rußland seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, der Zwischenfall an der afghanischen Grenze nicht zum Einrücken der indischen Truppen in Afghanistan geführt; das Londoner Kabinett schätzt unsere Haltung um so mehr, als von rein formaler Seite betrachtet die Konvention über Afghanistan, welche bis jetzt vom Emir nicht anerkannt wurde, noch nicht in Kraft getreten ist; die Handlungsweise Rußlands hat der englischen Zentralregierung die Möglichkeit gegeben, den Eifer der anglo-indischen Behörden zu dämpfen; jetzt ist das Londoner Kabinett ganz sicher, daß die Ereignisse an der afghanischen Grenze nicht zum Einrücken in Afghanistan führen werden. In einigen Wochen hofft Sir Charles das formale Einverständnis des Emirs zu erhalten und es uns mitteilen zu können. Was Persien anlangt, so hat mir Sir Charles noch einmal wiederholt, daß seine Regierung fest entschlossen sei, in völligem Einvernehmen mit uns zu handeln. Unser Grenzzwischenfall flößt dem Londoner Kabinett keinerlei Beunruhigung ein; es erkennt vollkommen die Zweckmäßigkeit unserer Handlungen an. Besonders sorgsam ist die Frage der mazedonischen Reformen geprüft worden. Der lebhafte Gedankenaustausch hat zu einem Ergebnis geführt, welches einer endgültigen Lösung sehr nahe scheint. Auf diese Weise sind die ursprünglichen Vorschläge Englands auf ein Maß beschränkt worden, welches, wie man hoffen darf, von den übrigen Mächten angenommen und der Pforte gemeinsam zur Kenntnis. gebracht werden wird. Nachdem ein Einvernehmen mit England erzielt ist, wird das Petersburger Kabinett ein genaues Schema der Reformen ausarbeiten, welches im Falle seiner Annahme dann gemeinsam von allen Staaten beraten



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und zum Ausgangspunkte eines gemeinsamen Schrittes der Botschafter in Konstantinopel gemacht werden soll. Iswolski. 4. Vertrauliches an die großbritannische Botschaft gerichtetes Memorandum. Petersburg, den 2./15. August 1908. Auf den von der britischen Regierung der Kaiserlichen Regierung gemachten Vorschlag, einmütig zum Eisenbahnbau in Persien — vom Endpunkt des russischen Netzes in Djulfa bis Mohammera — zu schreiten, beehrt sich das Kaiserliche Außenministerium der Königlichen Botschaft mitzuteilen, daß es den Vorschlag im Prinzip annimmt und daß es bereit ist, in einen Meinungsaustausch mit der Botschaft über die praktischen Modalitäten der Ausführung des genannten Vorschlags zu treten. In diesem Zusammenhang*erscheint es erwünscht, folgende Erwägungen zu berücksichtigen. Die Königliche Botschaft weiß es, daß ein Abkommen zwischen der russischen Regierung und der des Schahs besteht, kraft dessen keine Eisenbahnkonzession vor dem Jahr 1910 in Persien erteilt werden darf. Mit Rücksicht auf die Wichtigkeit, die die Möglichkeit, zur Verwirklichung der Eisenbahnkonzession ohne Verzug zu schreiten, sowohl für die großbritannische Regierung als auch für Persien haben würde, wäre die russische Regierung bereit, auf diese Abmachung zu verzichten und die persische Regierung zu ermächtigen, sich von jetzt ab von der obengenannten Bestimmung freizumachen. Die Eisenbahnfrage hat für Persien zweifellos einen besonders dringenden Charakter; die gegenwärtige wirtschaftliche Lage des Landes erlaubt ihm jedoch nicht, daran zu denken, die für ein Eisenbahnunternehmen erforderlichen Kosten zu bestreiten.

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Das Kaiserliche Finanzministerium sieht sich aber seinerseits nicht in der Lage, sich am Eisenbahnbau in Persien mit Kapital zu beteiligen. Daher sind wir bereit, dem englischen Vorschlag entgegenzukommen, wenn die finanzielle Seite der Frage mit Hilfe Englands geregelt werden kann. Auch muß berücksichtigt werden, daß infolge der finanziellen Schwierigkeiten, in denen sich der Schah gegenwärtig befindet, die Frage einer ansehnlichen Auslandsanleihe für Persien, wie uns scheint, mit der einer Eisenbahnkonzession eng verbunden ist, und daß diese beiden Fragen eine gleichzeitige Lösung erfordern. Ohne auf die Einzelheiten der Richtung der zu erbauenden Eisenbahnlinien einzugehen, meint das Kaiserliche Ministerium, daß diejenigen Linien, die in den Gebieten Persiens, die durch das russisch-englische Abkommen von 1907 als besonders für die russischen wirtschaftlichen Interessen vorbehalten anerkannt wurden, gebaut werden, der Erhaltung und Entwicklung dieser Interessen werden dienen müssen. Um diesem Zwecke zu entsprechen, müßte die von Djulfa nach Mohammera führende Linie mit Teheran verbunden werden; diese Hauptstadt wäre wieder mit Rescht und Enzeli zu verbinden, wo sich die Errichtung eines guten Hafens als Endpunkt von selbst empfiehlt. Ferner muß die Notwendigkeit des Baues einer Eisenbahn zwischen Askhabad und Mesched ins Auge gefaßt werden. Die Art, in der man zum Bau der verschiedenen Linien in den obengenannten Gebieten schreiten würde, gleichwie die Richtung dieser Linien, werden den russischen Interessen, die davon berührt werden, entsprechen müssen. Wichtig wäre es ferner, gemeinschaftlich nach geeigneten Maßnahmen zu suchen, um zu verhindern, daß der von der englischen Regierung vorgeschlagene Eisenbahnbau bis nach Mohammera der kommerziellen und wirtschaftlichen Stellung schaden könnte, die Rußland in den obengenannten Gebieten gegenwärtig erlangt hat.



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Wahrscheinlich wird es notwendig sein, von diesem Standpunkte aus die Frage der auf die Waren anzuwendenden Tarife zu prüfen. Schließlich erscheint es interessant, die vertraulichen Vorschläge in Erinnerung zu bringen, die dem russischen Botschafter in London, mit Kenntnis des verstorbenen Lord Salisbury, bezüglich eines russisch-englischen Abkommens über den Bau eines Eisenbahnnetzes in Persien, in erster Linie der Bahn Enzeli—Mohammera, gemacht worden sind. Nach Auffassung des Kaiserlichen Ministeriums könnten diese Vorschläge, die in dem abschriftlich beigefügten vertraulichen Schreiben Sir H.Drummond-Wolffs enthalten sind mutatis mutandis den Ausgangspunkt für den beabsichtigten Meinungsaustausch bilden.

5. Memorandum des englischen Ministeriums des Auswärtigen vom 9. Oktober 1908. Die englische Regierung hat das russische Memorandum über Eisenbahnbauten in Persien, welches am 2./15. August dem großbritannischen Botschafter in Petersburg mitgeteilt worden ist, mit vielem Interesse und großer Aufmerksamkeit geprüft. In bezug auf die wahre Natur der englischen Vorschläge scheint ein Mißverständins entstanden zu sein. Indem das Londoner Kabinett sich an die russische Regierung wandte, hatte eB nicht die Absicht, Eisenbahnbauten zu unternehmen, sondern beabsichtigte, ein Einvernehmen zu erzielen, um Eisenbahnkonzessionen für sich zu reservieren, welche sonst zum Nachteile von England und Rußland hätten ausgebeutet werden können. Die englische Regierung mißt einem vollkommenen Einvernehmen mit der russischen Regierung in dieser Frage



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die größte Bedeutung bei; sie ist jedoch der Ansicht, daß eine Übereinkunft, die jetzt von den beiden Mächten mit Persien getroffen werden könnte, vorbeugender Natur sein sollte; die beiden Mächte müßten darauf ausgehen, sich derjenigen Unternehmungen zu versichern, die politische Bedeutung annehmen könnten, und zum Bau der Bahnen erst schreiten, wenn der richtige Augenblick hierfür gekommen ist. Abgesehen von der Unsicherheit der politischen Situation gibt es noch mehrere andere unbekannte Faktoren, welche unter den obwaltenden Umständen ein definitives Eisenbahnprogramm in Persien unzeitgemäß erscheinen lassen, so z. B . das Fehlen von vorbereitenden Arbeiten, in Südpersien wenigstens, ferner die endgültige Zusammensetzung der Bagdadbahn-Gesellschaft und auch die Ungewißheit, ob eine Zweiglinie von Bagdad nach Chanikin gebaut werden wird. Alle diese Erwägungen müssen abgewartet werden, bevor eine Bahn von Djulfa nach Mohammera mit Aussicht auf Rentabilität gebaut werden kann. Die englische Regierung ist der Ansicht, daß England und Rußland aus wichtigen politischen Erwägungen vollkommen berechtigt sind, der persischen Regierung zur Kenntnis zu bringen, daß sie, wenn Bahnen in Persien gebaut werden, für sich das Vorzugsrecht für alle in Aussicht genommenen Konzessionen beanspruchen, und zwar unter denselben Bedingungen, welche der persischen Regierung von dritter Seite angeboten werden.

6.

Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Paris com 23. Oktober/5. November 1908. Sie erhalten mit dem Kurier eine Abschrift meines Schreibens an unseren Botschafter in Berlin über unsere BeS1 e b e r t , BeDckendorß. I.

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Ziehungen zu Deutschland. Die große Bedeutung dieses Schreibens wird Ihnen nicht entgehen. Aus allen meinen Unterredungen in Berlin ergibt sich mit vollkommener Klarheit: In der allgemeinen europäischen Situation hat sich eine radikale Veränderung vollzogen; unter dem Einfluß von politischen, ich möchte sogar sagen, historischen unabwendbaren Notwendigkeiten haben sich die Mächte in zwei verschiedene Gruppen getrennt: auf er einen Seite Deutschland und Österreich-Ungarn — auf der anderen Rußland, Frankreich und England. Italien, durch den Dreibund gebunden, aber gleichzeitig sich zu Frankreich und zu uns hingezogen fühlend, scheint zu zögern; die Türkei wird sich auf die Seite derer stellen, die ihr neues Regime zu stützen verstehen und ihr eine uninteressierte Freundschaft zeigen. Diese neue Situation bietet uns gewiß große Vorteile, was Macht und Sicherheit anlangt, aber sie enthält auch große Gefahren. Kaiser Wilhelm, durch das Gefühl der Isolierung oder, wie er zu sagen beliebt, „der Einkreisung", beunruhigt, wird immer nervöser und ungeduldiger, wie aus seinem letzten englischen Interview hervorgeht. Schließlich wird der latente Gegensatz zwischen den beiden Mächtegruppen durch die abenteuerliche Politik Baron Aehrenthals ganz besonders unterstrichen. Unter diesen Bedingungen ruft die Reise Kaiser Wilhelms nach Österreich bei uns große Beunruhigung hervor. Man versichert, die Militärpartei in Wien sei sehr kriegerisch und treibe zu einem Angriff auf Serbien; an der Spitze dieser Partei stehe der Thronfolger, aber der alte Kaiser widersetze sich allen derartigen Versuchen. Muß man nicht befürchten, daß Kaiser Wilhelm die Militärpartei unterstützen wird ? Inmitten aller dieser Gefahren arbeite ich an der Lösung der bosnischen Krise. Meine Aufgabe wird durch die Gärung in der öffentlichen Meinung Rußlands und in der hiesigen Presse noch ganz besonders erschwert. Diese Gärung hat viele und verwickelte Ursachen; Erwägungen der inneren Politik spielen hier eine große Rolle; wenn man



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diese Bewegung aufmerksam untersucht, kommt man zu dem Schlüsse, daß im Grunde genommen Rußland augenblicklich nicht kriegerisch gestimmt ist, und obgleich man der Regierung in der auswärtigen Politik auch gern Schwierigkeiten bereitet, so ist man hier trotzdem durchaus nicht geneigt, aus Vorliebe für Serbien Krieg zu führen. Aber man gibt sich bei uns nicht Rechenschaft, daß diese geräuschvolle Bewegung in Serbien und in Montenegro Illusionen hervorrufen und diese beiden Länder in ein Abenteuer stürzen könnte, in dem sie isoliert bleiben würden und von Rußland nicht materiell unterstützt werden könnten. Auch glaube ich, daß man anfängt, dieses in Belgrad und in Cetinje einzusehen; das Telegramm von Chomiakow hat dazu beigetragen. Obgleich wir die feste Hoffnung haben, zu einer friedlichen Lösung zu gelangen, müssen wir doch die Möglichkeit plötzlicher Komplikationen voraussehen, und meine erste Aufgabe ist es, mir ein möglichst klares Bild von dem Spiel der politischen Kräfte im gegenwärtigen Zeitpunkte zu machen. Wir kennen den Bündnisvertrag von 1879 zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn sehr gut in all seiner Brutalität, ein Bündnisvertrag, der augenblicklich nicht bloß in defensiver Hinsicht verstärkt worden zu sein, sondern noch eine offensive Spitze auf dem Balkanterrain erhalten zu haben scheint. Aber welches ist der genaue Inhalt der übrigen Vereinbarungen, welche den Dreibund bilden? In dieser Hinsicht finde ich in meinen Archiven keine zusammenhängende Arbeit, und mit dem Tode des Grafen Lambsdorff hat alle mündliche Tradition aufgehört. Es ist sicher, daß man in dieser Hinsicht in Paris besser bewandert ist, und Sie selbst besitzen ja ganz besondere Kenntnisse. Ihre Korrespondenz aus Rom aus den Jahren 1898 bis 1902 enthält wertvolle Hinweise auf neue Vereinbarungen zwischen Frankreich und Italien, welche die Bestimmungen des Dreibundvertrags merklich beeinflussen; aber seitdem haben noch andere Veränderungen der europäischen 2*



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Situation stattgefunden — in erster Linie die Annäherung zwischen England und Frankreich, ein Umstand, der notwendigerweise neue Gesichtspunkte eröffnen muß. In all diesen wichtigen Fragen möchte ich gern Ihre Meinung kennen. Ich möchte vor allem wissen, wie Sie mit Ihrer großen Erfahrung in der europäischen Politik über die Möglichkeiten urteilen, die sich aus der jetzigen Krise ergeben könnten. Es scheint mir, daß die Gefahr eines türkisch-bulgarischen Konfliktes gottlob beseitigt ist. Es bleibt die Gefahr eines austro-serbischen Konfliktes, des gefährlichsten von allen. Wir tun und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um einem solchen Konflikte vorzubeugen; aber wenn er ausbrechen sollte, so würde in demselben Augenblicke die Möglichkeit eines allgemeinen Krieges in nächste Nähe gerückt. Iswolski.

7. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 12./25. November 1908. Meinem gestrigen Schreiben glaube ich einige persönliche Bemerkungen hinzufügen zu müssen. Euere Exzellenz werden bemerkt haben, daß Sir Edward Grey im Laufe seiner Unterredung über Persien einen Ausweg zu finden bestrebt war, der vor allem die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention ausschließt. Eine solche befürchtet er erstens, weil er sie nicht für ein wirksames Mittel hält, und dann vor allem, weil er wegen der Folgen, die eine derartige Intervention für das englisch-russische Übereinkommen haben würde, Besorgnisse hegt. Ich möchte diese Frage von dem einen und von dem anderen Standpunkt aus beleuchten. Eine Tradition, die ich als unglücklich bezeichnen möchte, wiewohl man auch leicht auf sie zurückgreift,



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will, daß eine bewaffnete Einmischung ein unfehlbares Mittel ist, um in der Nachbarprovinz eines asiatischen Landes die Ordnung wiederherzustellen. Es scheint mir, daß in diesem Fall die Lage eine ganz andere ist, und daß es sich um nichts anderes handeln kann, als um die Eroberung unserer ganzen Einflußzone in Persien. Ganz Azerbeidjan ist in Aufruhr, unsere wirtschaftlichen Interessen werden in Mitleidenschaft gezogen; beim ersten Blick scheint unser Ansehen zu leiden. Vor allem, sind unsere wirtschaftlichen Verluste wirklich so groß, und muß der Schutz unserer privaten Interessen wirklich so außerordentlich ernste Folgen nach sich ziehen? Beides erscheint mir recht zweifelhaft, um so mehr, als eine Besetzung durch unsere Truppen, durch die der Handel und ein Teil der Bevölkerung leidet, mir in keiner Weise geeignet erscheint, die gesamten Interessen in irgendeiner Weise zu fördern. An Ort und Stelle würde Ordnung herrschen; aber diese Ordnung müßte man teuer bezahlen und unfehlbar würde überall dort, wo unsere Truppen sich nicht befinden, Anarchie herrschen. Ich glaube, daß unsere wirtschaftlichen Interessen noch viel mehr als heute leiden würden, ebenso unser Prestige, denn die von uns gemachte Anstrengung würde letzten Endes nur dazu führen, daß die Anarchie etwas weiter zurückgedrängt, aber neu angefacht würde; und, offen gesagt, soweit ich nach den mir zur Verfügung stehenden Dokumenten urteilen kann, glaube ich nicht, daß die einzelnen Ereignisse extreme Maßnahmen rechtfertigen. Ich kann nicht den äußersten Fall ausschließen, wenn eine offene Anarchie England notwendigerweise zwingen würde, uns selbst vorzuschlagen, zu Gewaltmaßnahmen zu greifen. Ich glaube aber, daß ein derartiger Zeitpunkt weit entfernt ist, und daß er nur eintreten wird, nachdem alle anderen Mittel versucht und erschöpft worden sind. Auf alle Fälle ist dieser Augenblick noch nicht eingetreten, und ich bin überzeugt, daß zur Zeit eine bewaffnete Einmischung alsbald einen Bruch unserer Vereinbarungen mit England und wahrscheinlich sehr



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große Schwierigkeiten mit der Türkei nach sich ziehen würde. Der türkische Einfluß in Azerbeidjan scheint mir unbestreitbar, vor allem der Einfluß des jetzigen türkischen Regimes. Sir E. Grey hat mir selbst davon gesprochen und gesagt, er sei in dieser Beziehung besorgt gewesen, jetzt sei er aber wieder bedeutend zuversichtlicher. Es scheint mir fast unmöglich, daß unsere Truppen, wenn sie in Persien einrücken, nicht eine Verbindung mit den Truppen des Schah eingehen und in Wirklichkeit dessen Autorität wiederherstellen ebenso wie das von ihm begünstigte Regime. Ich glaube, daß noch so vorsichtige Instruktionen an unsere militärischen Befehlshaber dies nicht verhindern könnten. Dies wird sofort zwischen dem Standpunkt Englands und dem unsrigen eine unüberwindbare Schranke schaffen und die Verantwortung für die Unpopularität und deren Folgen weit über die Grenzen Persiens hinaus auf uns allein fallen lassen. Es gibt einen besonderen Punkt, auf den ich wiederholt die Aufmerksamkeit Sir E. Greys gelenkt habe, nämlich das Asyl, welches mehrere Hunderte russischer Revolutionäre aus dem Kaukasus in Täbris gefunden haben, und die aufrührerische Rolle, die sie daselbst spielen. Ich glaube aber in keinem Fall, daß das Einrücken unserer Truppen es uns ermöglichen wird, uns dieser Elemente zu bemächtigen. Sie werden sich sofort ins Innere zurückziehen und mit neuen Argumenten bewaffnet Gefahren für uns immer weiter und weiter säen. Diese Frage einer bewaffneten Intervention in Persien erscheint mir so wichtig, daß ich mir Vorwürfe machen müßte, wenn ich nicht nochmals die Aufmerksamkeit des Kaiserlichen Ministeriums auf die Folgen lenken würde, die sich für uns aus einem Bruche unseres Übereinkommens mit England und einer neuen Orientierung der englischen Politik ergeben würden. Ich gebrauche absichtlich diese Ausdrucksweise, die,



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wie ich weiß, in Rußland gewöhnlich nicht angewandt wird. Man stellt sich bei uns gern auf den Standpunkt, daß man zwischen einer Annäherung an England und zwischen einer solchen an Deutschland wählen kann. In Wirklichkeit haben wir zwischen einer Isolierung, die ein deutsch-englisches Übereinkommen hervorrufen wird, und einer Annäherung an England zu wählen. Aus politischen Gründen hat England niemals von einem Übereinkommen mit Deutschland sprechen wollen und hat seine Sicherheit in den Ententen mit Frankreich und Rußland gesucht. Andererseits erscheint es mir unmöglich, die deutsche Politik anders als damit zu erklären, daß das Berliner Kabinett jede Gelegenheit benutzt, sie vielleicht erst schafft, um einen Versuch zu machen, die beiden Ententen Englands zu sprengen. Ich komme täglich mehr zu der Überzeugung, daß von dem beständigen Entgegenkommen Deutschlands uns gegenüber und dem immer wieder unterbrochenen und mit Drohungen vermischten Entgegenkommen England gegenüber das Entgegenkommen Deutschlands England gegenüber ernsterer Natur ist. Ich brauche nicht davon zu sprechen, was in einem solchen Falle aus den politischen und nationalen Interessen Rußlands werden würde. Ich glaube, man kann nur in London beurteilen, wie nachdrücklich die Bestrebungen Deutschlands sind, zu einem Einvernehmen mit England zu kommen, namentlich die Bestrebungen Kaiser Wilhelms, welcher einen Fehler nach dem andern begangen hat, hauptsächlich, weil seine persönlichen Schritte resultatlos verlaufen sind und er sich in London einer Mauer gegenüber befunden hat. Aber die Fehler des Kaisers bedeuteten ebenso viele neue Schwierigkeiten, die er sich selbst schaffte. Wenn man annimmt, daß die letzten Ereignisse in Berlin dem Kaiser eine größere Zurückhaltung auferlegen werden, so müßte die deutsche Politik, in dieser Richtung gesteuert, uns um so gefährlicher werden. Man gibt sich hier nicht klar Rechenschaft darüber, was zwischen Österreich und Deutschland vorgeht. Noch neulich



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hatte Sir Edward die Hoffnung, daß der Besuch des deutschen Monarchen der österreichischen Politik einen versöhnlicheren Geist einflößen würde. In Wirklichkeit hat gerade das Gegenteil stattgefunden. Dieser Umstand hat auf die englischen Minister und auf ihre allgemeine Haltung einen bedeutsamen Einfluß ausgeübt, — vielleicht auch auf ihre persönlichen Gefühle. Es ist aber trotzdem richtig, daß, wenn man die englische Mentalität so nimmt, wie sie tatsächlich ist, Deutschland als Land und als Nation günstiger als früher beurteilt wird. Man hat Achtung vor seiner Kraft, seiner Energie, vor den durch seine Arbeit erzielten Resultaten. Man mißtraut noch entschieden der deutschen Regierung, dem Lande selbst aber weniger. Und von Zeit zu Zeit lassen sich viele Stimmen hören, die behaupten, daß im Grunde genommen, Kaiser Wilhelm England gegenüber aufrichtig zu sein scheint. Derartige Stimmen finden sich in der Presse, und die beiden politischen Parteien enthalten nicht unwichtige Elemente, die sich einem solchen Gedankengange anschließen. Keine einzige dieser Stimmen folgert jedoch die Möglichkeit einer Entente mit Deutschland. Nicht nur weil die schon bestehenden Abkommen, von denen das eine jedoch nicht ebenso populär wie das andere ist, dem Engländer genügen, sondern weil die Flottenfrage eine unüberwindliche Schranke bildet. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß diese Schranke schwächer ist, als man annimmt. Es liegt nicht in meiner Kompetenz, über die Stimmung in Deutschland zu sprechen, aber es will mir scheinen, daß dort etwas Ähnliches wie hier vor sich geht. Sir Edward hat mir gesagt, er sei betroffen und sehr erstaunt gewesen, als anläßlich der Diskussion im Reichstage, als die Haltung des Monarchen als Zielscheibe heftiger Angriffe diente, hierbei kein chauvinistischer Ton laut wurde, trotz der außerordentlichen Spannung der Geister in diesem Augenblicke. Sir Edward schließt hieraus auf eine ernste politische Reife.



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Der Schluß, den ich aus obigem ziehen will, ist der, daß, wenn aus irgendeinem Grunde unser Übereinkommen mit England gebrochen würde, trotz der hohen Bedeutung, die England seinen Abmachungen mit Frankreich beimißt, der Boden für ein englisch-deutsches Einvernehmen viel besser geebnet wäre, als man gewöhnlich annimmt. Benckendorff.

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Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Rom vom 20. November/3. Dezember 1908. Ich glaube Ihnen über eine Unterredung berichten zu müssen, die ich mit dem hiesigen französischen Botschafter gehabt habe; Admiral Touchard hat mir, augenscheinlich im Auftrage seiner Regierung, vertraulich mitgeteilt, daß anläßlich des letzten Gasablanca-Zwischenfalles der französische Botschafter in Rom Barrere aus sehr sicherer Quelle erfahren habe, Fürst Bülow und Baron Schön hätten in Rom zu verstehen gegeben, Deutschland habe von Rußland die Zusicherung erhalten, daß es sich in keinem Falle an einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich beteiligen würde. Touchard zufolge hätten auch Sie hiervon gehört, es aber nicht für nötig befunden, diese Angaben zu widerlegen; die französische Regierung, fügte der Botschafter hinzu, schenkt natürlich derartigen Insinuationen keinen Glauben, hält es aber für ihre Pflicht, uns hiervon Mitteilung zu machen, falls wir es nötig finden, die Sprache unserer Vertreter im Auslande in dieser wichtigen Frage festzulegen. Ich erwiderte Admiral Touchard, daß ich bis jetzt in Ihrer Korrespondenz keine Hinweise auf diese Angelegenheit gefunden habe, daß weder unsere allgemeine Haltung, noch die unseres Botschafters in Berlin, den geringsten Anlaß zu



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den von Barröre berichteten Insinuationen gäbe. „Sie wissen", sagte ich, „daß die genauen Bestimmungen unseres Abkommens mit Frankreich niemandem bekannt sind; man weiß wohl, daß dieses Übereinkommen vor allem einen defensiven Charakter hat; aber der casus foederis kann nur den Gegenstand von Mutmaßungen bilden; andererseits muß man in Berlin wissen, daß die Vereinbarungen zwischen Rußland und Frankreich nicht verändert worden sind und immer noch die unveränderliche Grundlage unserer Politik bilden; dies ist noch einmal öffentlich in Reval diesen Sommer bestätigt worden, und Deutschland hat von uns keinerlei Erklärung weder vor noch während des letzten Zwischenfalles verlangt. Es scheint mir übrigens, daß die deutschen Staatsmänner das Bündnis zwischen Rußland und Frankreich als einen ausschlaggebenden Faktor des europäischen Gleichgewichtes betrachten; Fürst Bülow hat diesen Gedanken öffentlich im Parlament zum Ausdruck gebracht; was in Deutschland viel mehr beunruhigt und erregt, ist der Verdacht, daß unsere kürzliche Annäherung an England die Gefahr einer schon abgeschlossenen oder noch abzuschließenden Tripelallianz gegen Deutschland in sich birgt. Ich habe es stets für nötig gehalten, einem derartigen Verdacht entgegenzutreten; ich habe anläßlich meines letzten Besuches in Berlin nicht verfehlt, noch einmal zu wiederholen, daß unsere Abmachungen mit dem Londoner Kabinett nichts enthalten, was nicht öffentlich bekannt ist, und daß wir nicht die Absicht haben oder gehabt haben, einem „neuen" Bündnis gegen irgend jemand beizutreten; ich bin nicht sicher, das Berliner Kabinett überzeugt zu haben, denn auf der Tatsache einer „neuen Gruppierung der Mächte" und der sich hieraus ergebenden Notwendigkeit, das Bündnis mit Österreich enger zu gestalten, basiert die deutsche Regierung ihre Haltung in der bosnisch-herzegowinischen Frage. Indem ich obiges zu Ihrer Kenntnis bringe, bitte ich Sie mich zu benachrichtigen, was zu der von Barrdre mitgeteilten Information hat Anlaß geben können. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen,

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daß es nicht unseren Absichten entsprechen kann, daß an eine Schwächung unserer Bande mit Frankreich geglaubt wird, und ich bin ganz überzeugt, daß auch Sie von diesem Gedanken durchdrungen sind und ihn, wenn nötig, in entschiedenster Weise betonen werden. Iswolski.

9. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 15./28. Januar 1909. Grey teilt mir mit, er habe Cambon erklärt, es liege ihm daran, die französische Regierung davon zu verständigen, daß das Londoner Kabinett der russischen Regierung seine diplomatische Unterstützung in der Frage der Kompensation Serbiens und Montenegros versprochen habe. Grey sagte mir, er habe diesen Schritt getan, um die Lage von jedem Mißverständnis zu klären, die Schwierigkeiten, die sich bei Regelung der zwischen Österreich, der Türkei und Bulgarien schwebenden Fragen ergeben haben, bewiesen aber, daß im Interesse des Friedens verlangt werden müsse, daß die serbischen Forderungen möglichst eingeschränkt werden. Benckendorff.

10. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 21. Januar/3. Februar 1909. Am 8. Februar verlassen König Eduard und die Königin London, um sich nach Berlin zu begeben, von wo Ihre Majestäten wieder direkt hierher zurückkehren. Dieser Besuch gewinnt infolge der jetzigen politischen Lage eine besondere Bedeutung. Indem er auf die Beziehungen zwischen Deutsch-



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land und England zurückwirkt, soll er auch die allgemeine Lage beeinflussen; man muß annehmen, daß dies im Sinne einer Entspannung geschehen wird, wobei ich jedoch den Grad der Entspannung von hier aus nicht beurteilen kann. Dies ist daB Resultat, welches sowohl das Publikum als auch die Presse vor Augen hat, und welches sie um so mehr erwarten, als sie haben erkennen müssen, welchen Gefahren der Friede in letzter Zeit ausgesetzt gewesen ist, wobei die Schuld in großem Maße der englisch-deutschen Spannung zugeschrieben wird. Das Kabinett scheint denselben Wunsch zu hegen, ohne sich jedoch große Illusionen hinsichtlich des erzielbaren Resultates zu machen. Einerseits durch seine Beziehungen zu Frankreich gebunden, die neulich anläßlich des CasablancaZwischenfalles eine ernste, aber überzeugende Probe bestanden haben, andererseits durch seine Beziehungen zu Rußland, hat England gewiß kein Programm aufgestellt, welches in Berlin zwischen ihm und Deutschland allein zu erörtern wäre. Ich zweifle sogar, daß es beabsichtigt, in eine Diskussion derjenigen Punkte einzutreten, die ihm von seiten Deutschlands unterbreitet werden könnten. Ich glaube, daß in dieser Hinsicht sich dasselbe wiederholen wird, wie in London anläßlich des Besuches Kaiser Wilhelms und in Kronberg anläßlich des Besuches König Eduards. In einer Hinsicht jedoch ist die Stimmung der englischen Regierung eine andere und eine bessere. Welches immer die Haltung der deutschen Politik beim Ausbruch der jetzigen Balkankrise gewesen sein mag, so hat doch die englische Regierung heute die Überzeugung gewonnen, daß seit einiger Zeit wenigstens das Berliner Kabinett in Wien zur Mäßigung rät. Dem Kabinett von London liegt zuviel daran, daß Deutschland diese Haltung auch in Zukunft beibehält, um diese Frage nicht zu berühren, und ich glaube sogar, daß eine ernstliche Anstrengung in dieser Hinsicht gemacht werden wird. Dies ist vielleicht die einzige Frage, über die König Eduard



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persönlich sprechen wird. Ich glaube, Seine Majestät ist wenig geneigt, auf die Frage des „Eisernen Ringes" zurückzukommen, der Deutschland angeblich umgibt, wie übrigens auch nicht auf andere Fragen der allgemeinen Politik. Wie ich die Sache verstehe, geht König Eduard nach Berlin, um die Art und Weise, wie er vom Hofe und von der Bevölkerung in Berlin empfangen werden wird, genau zu beobachten und bei seiner Rückkehr ebenso genau zu beobachten, welchen Eindruck der Berliner Empfang in England hervorgerufen haben wird. Und ich bin geneigt anzunehmen, daß der König hofft, dieser Empfang in Berlin werde besser sein, als man gewöhnlich in England annimmt, und daß folglich die moralische Entspannung eine größere sein wird. Aber der König wünscht, nicht selbst über Politik zu sprechen. Ich glaube mehr denn je, daß das notwendige volle Zutrauen fehlt, welches für ganz intime politische Gespräche notwendig ist. Und auch der Augenblick scheint ihm für offiziellere Unterredungen, was seine eigene Persönlichkeit anlangt, schlecht gewählt. Daher überläßt er das Wort seinen Ministern. Ich glaube, ich habe Eurer Exzellenz bereits privatim mitgeteilt, warum König Eduard sich so viel Zurückhaltung auferlegt. Selbst vor der Veröffentlichung im „Daily Telegraph" und den sich hieraus für die Haltung und Stellung Kaiser Wilhelms ergebenden Folgen, hatte man in England, obwohl mit großer Mäßigung, darauf hingewiesen, daß die Rolle des englischen Souveräns zu markant und zu persönlich sei, um mit der Konstitution des Landes in völligem Einklänge zu sein. Die Kritik, der Kaiser Wilhelm in Deutschland unterworfen worden ist, hat augenscheinlich auch auf König Eduard gewirkt, und er wird sicherlich alles tun, um derartige oder vielmehr ähnliche Kundgebungen zu verhindern, denn es ist ausgeschlossen, daß solche Kundgebungen hier dieselbe Form wie in Deutschland annehmen könnten. Die erste Folge ist die, daß der König aus diesem Grunde, und nur aus diesem Grunde, von einem verantwortlichen Mitgliede des Kabinetts begleitet sein wird.



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Wenn man die Lage von London aus beurteilt, so erscheint es wichtig, daß dieser Besuch stattfindet. Wenn er aus dem einen oder anderen Grunde unmöglich gewesen wäre, so hätte sich die allgemeine Lage sehr wahrscheinlich in viel größerem Maße verschlechtert, als sie sich jetzt durch diesen Besuch verbessern wird. In diesem umgekehrten Sinne ist der Besuch gewiß wichtig und unsern Interessen dienlich. Ohne mir ein Urteil über die Stimmung Kaiser Wilhelms und der deutschen Regierung erlauben zu wollen, scheinen jedoch alle Nachrichten über seinen moralischen Zustand darauf hinzuweisen, daß er diesmal weniger Entschlossenheit und persönliche Tätigkeit zeigen wird, als dies sonst anläßlich der Monarchenbesuche der Fall gewesen ist. Ich persönlich hoffe es; denn im entgegengesetzten Falle, d. h. wenn der Kaiser seine frühere Haltung wieder annehmen sollte, als er während der drei in England zugebrachten Wochen beständig und fieberhaft eine englisch-deutsche Annäherung auf Kosten der Übereinkommen Englands mit Frankreich und Rußland herbeizuführen sich bemühte — Bemühungen, welche die Veröffentlichung im „Daily Telegraph" nur teilweise wiedergibt — so würde die Enttäuschung, die er zweifellos erleben müßte, nicht zur Beruhigung der Lage beitragen. Dies hängt ausschließlich von der inneren Lage in Deutschland ab, die ich von hier aus nicht beurteilen kann. Dieses Schreiben war geschrieben, ehe ich noch einmal mit Sir Charles Hardinge gesprochen hatte. Ich habe ihn soeben gesehen. Ich fragte ihn, was ich Eurer Exzellenz über den Besuch König Eduards in Berlin mitteilen solle. Er antwortete mir, daß dieser Besuch stattfinden würde, weil der König ihn schuldig sei, und daß man hoffen dürfe, daß die Zusammenkunft einen beruhigenden Einfluß auf die öffentliche Meinung in beiden Ländern ausüben werde; daß der König dieses Mal von einem Mitgliede des Kabinetts begleitet sein würde, da ein derartiger Wunsch in politischen Kreisen ausgesprochen worden ist; daß Lord Crewe nur die Weisung erhalten habe, gewisse afrikanische Fragen zu besprechen,



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und auf die Rüstungsfrage nur einzugehen, wenn sie von den deutschen Ministern erwähnt würde, dies aber nicht selbst zu tun; daß alle andern diplomatischen Fragen, die die deutsche Regierung aufwerfen würde, von ihm, Hardinge, behandelt werden würden: so z. B . die Balkanfrage, die in dem uns bekannten Sinne erörtert werden würde, die Bagdadbahn oder andere; daß dieser Besuch die allgemeine Politik Englands in keiner Weise verändern könne; daß alles beim Alten bleiben würde. Ganz vertraulich fügte Sir Charles hinzu, daß ein Teil des englischen Publikums Hoffnungen hege, die er für übertrieben hält. Ich kann Ihnen nur erklären, sagte er mir, daß nach unserer Meinung im Foreign Office, solange die Frage der Flottenrüstungen besteht, das an und für sich wünschenswerte Resultat ganz normaler Beziehungen zwischen Deutschland und England unerreichbar sein wird. Benckendorff.

11. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 28. Januar/10. Februar 1909. Grey sagt mir, er sähe keine Anzeichen, daß die deutsche Regierung anläßlich des Berliner Besuches auf die Frage der Bagdadbahn zurückzukommen gedenkt. Wenn dies dennoch geschehen sollte, so würde Hardinge bei der schon gegebenen Antwort verharren, daß das Londoner Kabinett bereit ist, zu Vieren zu verhandeln, nicht aber zu Zweien. Grey hält es jedoch nicht für völlig ausgeschlossen, daß Deutschland diesmal Verhandlungen zu Vieren annimmt, was eine Feststellung unseres Standpunktes notwendig macht. Grey hat mir die Instruktionen, die Crewe und Hardinge gegeben worden sind, wiederholt. E r hat Metternich erklärt, daß das Londoner Kabinett die Frage des Flottenbudgets nicht an-

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regen werde, aber bereit sei, über dasselbe zu sprechen, wenn Deutschland die Initiative dazu ergreife. Im Laufe dieser Unterredung mit Metternich ist die Bagdadbahn nicht erwähnt worden. Benckendorff.

12. Telegramm, des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 28. Januar/10. Februar 1909. Grey hat mir gegenüber seine Befriedigung mit dem deutsch-französischen Marokkoabkommen ausgedrückt. Er ist der Ansicht, daß das Verschwinden dieser Frage aus der Reihe derjenigen Fragen, welche den Frieden beständig bedroht haben, ein wichtiges Unterpfand zur Erhaltung des Friedens ist. Dieses unerwartete Übereinkommen scheint ihm eine Änderung in der Art und Weise des deutschen Vorgehens zu bedeuten, was allen zugute kommen würde. Sein vollständiges Vertrauen in die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und England läßt bei ihm keine Besorgnis wegen eines möglichen Hintergedankens Deutschlands aufkommen. Grey hofft, daß das Gefühl der Isolierung, welches sich in Deutschland immer mehr verbreitete, jetzt nicht mehr so stark sein wird. Er ist damit durchaus zufrieden. Denn obwohl seiner Ansicht nach dieses Gefühl nicht berechtigt war, so hat es doch der deutschen Politik eine Haltung eingeflößt, welche zu einer wirklichen Isolierung hätte führen können. Er sagt mir, der Krieg wäre unvermeidlich geworden, erstens im Falle der wirklichen Isolierung Deutschlands und zweitens, wenn letzteres die Hegemonie in Europa erlangt hätte. Da diese Gefahr nicht mehr besteht, so begrüßt er alles, was die erstere vermindert.. Benckendorff.



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13. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 28. Januar/10. Februar 1909. Seiner Gewohnheit gemäß hat der hiesige französische Botschafter gestern abend sehr vertraulich mit mir gesprochen und mir heute morgen die Abschriften der zwischen Frankreich und Deutschland über Marokko ausgetauschten Schriftstücke mitgeteilt, speziell die Briefe, die nicht veröffentlicht werden sollen. Im letzten Augenblicke hat die französische Regierung den Wunsch ausgedrückt, daß der Brief Baron Schöns, welcher ursprünglich nur den Empfang des französischen Briefes bestätigen sollte und die volle Zustimmung der deutschen Regierung zu dem französischen Standpunkt enthielt, außerdem noch eine Wiederholung der von Deutschland übernommenen Verpflichtungen enthalten sollte; diesem Verlangen hat Baron Schön ohne Zögern nachgegeben. Cambon erzählte mir, daß noch in den ersten Tagen der letzten Woche Pichon ihm geschrieben hätte, daß die deutsche Regierung fortfahre, das Pariser Kabinett zum Abschluß einer Vereinbarung zwischen Deutschland und Frankreich zu drängen, welche die Algeciras-Akte vervollständige; daß die französische Regierung über die letztere ursprünglich nicht hinausgehen wollte, da sie der Ansicht war, daß es sich um ein Abkommen mit gegenseitigen Zugeständnissen handele, daß übrigens Pichon es Jules Cambon anheimstelle, die Frage zu klären. J. Cambon hat die betreffenden Dokumente selbst abgefaßt, die dann von der deutschen Regierung ohne jegliche Diskussion angenommen worden sind. Jules Cambon hat sich hierauf nach Paris begeben, und die Unterschriften wurden ausgetauscht, — wie mir mein französischer Kollege sagte, zum großen Erstaunen der französischen Regierung, welcher plötzlich eine privilegierte Stellung in Marokko von Seiten Deutschlands zugestanden wurde, nachdem gegen eine

Sieb er t, Benckendorfl, I.

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solche früher zu wiederholten Malen von Deutschland Einwendungen erhoben worden waren, welche sogar den Frieden zu bedrohen schienen. Cambon sagte mir, daß man sich jetzt noch in Paris frage, wie man sich diesen plötzlichen Wechsel in der deutschen Haltung erklären solle. Man glaubt zwei Antworten finden zu können. Die erste ist die, daß dieses Manöver die persönliche Stellung des Fürsten Bülow erleichtert, welche in Berlin selbst eine schwierige geworden ist. Für mich ist dies keine sehr überzeugende Erklärung, denn ich kann nicht einsehen, wie derartige bedeutende Zugeständnisse die persönliche Stellung des Fürsten Bülow kräftigen könnten. Das zweite Motiv scheint mir stichhaltiger. Deutschland verzichtet darauf, Frankreich durch Drohungen willfährig zu machen, und entschließt sich zu einem in jeder Beziehung entgegengesetzten Mittel, um den gewünschten Eindruck um so vollständiger zu machen, und, damit er in keiner Weise auf englischen Einfluß zurückgeführt werden könne, mußte das Einvernehmen zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossen sein, noch ehe der englische König in Berlin eintraf. Aus diesem Grunde ist das Abkommen am Vorabend des englischen Besuches unterzeichnet worden. Wie Cambon und die politischen Kreise in Paris annehmen, wünscht Deutschland in hohem Grade, mit England in der einen oder andern Frage, so z. B. bezüglich der Bagdadbahn, ein Übereinkommen zu erzielen. In dieser Hinsicht schien es dem Berliner Kabinett angezeigt, mit Frankreich den Anfang zu machen, um die Verhandlungen mit England mit dem Argument beginnen zu können: „Sie sehen, wir haben uns sogar mit Frankreich, der mit England am engsten befreundeten Macht verständigen können; wollen wir nun dasselbe tun". Ich antwortete Cambon, daß ich nicht glaube, daß Rußland irgendwelche Einwendungen gegen ein Abkommen erheben würde, welches sich zwar nur auf eine weniger wichtige



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Frage beziehe; welche aber bis jetzt ständig zwischen Frankreich und Deutschland geschwebt und folglich eine ständige Gefahr für den Frieden bedeutet habe; ich glaube jedoch, daß die deutsche Regierung noch den Hintergedanken verfolgt, Frankreich die engen Beziehungen zu England entbehrlicher zu machen und sie folglich zu schwächen; in dieser Hinsicht seien die Verhandlungen zwischen Paris und Berlin für uns nicht ohne Bedeutung. Cambon erwiderte mir, daß der Gedanke, dem ich Ausdruck gegeben, sofort auch in einer anderen Form Sir Edward Grey gekommen wäre, der ihm gesagt habe, daß das Abkommen an und für sich eine neue Garantie für den Frieden darstelle und in dieser Hinsicht gewiß zu begrüßen sei; daß er aber nicht glaube, daß die französisch-deutsche Verständigung eine sehr tiefgehende sei und deshalb wohl ein „Fassadenabkommen" bleiben werde. Gambon fügte hinzu, daß man in Paris dieselbe Auffassung habe, da die marokkanische Frage, so wichtig sie auch habe werden können, im Grunde genommen nur sekundäre und koloniale Bedeutung habe, daß aber die wahren Ursachen, die noch lange ein Hindernis für eine wirkliche Intimität zwischen Frankreich und Deutschland bilden würden, viel tiefer und direkter seien, als daß es möglich wäre, sie durch diplomatische Dokumente zu beseitigen. Benckendorff.

14.

Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 2./15. Februar 1909. Ihr Telegramm Nr. 183 erhalten. Nachdem Grey ein Telegramm ähnlichen Inhalts vom englischen Botschafter in Petersburg erhalten hatte, hat er mich zu sich gerufen und mir erklärt, er bedaure aufrichtig, daß die russische Re3*

— 36 — gierung die Meinung hegen könne, daß in der Orientierung der englischen Politik im nahen Osten eine Änderung eingetreten sei. Das Pressecommunique über die Resultate des Berliner Besuches ist in den gewöhnlichen wohlwollenden Ausdrücken gehalten, aber es wird in ihm direkt darauf hingewiesen, daß die Gemeinsamkeit der Ansichten der englischen und deutschen Regierung in Balkanfragen sich auf die Erhaltung des Friedens, des status quo und des neuen Regimes in der Türkei bezieht. Grey erklärte auf das entschiedenste, daß die Politik Englands noch immer dieselbe ist, wie bei Ihrem letzten Besuche in London, daß England gemeinsam mit Rußland im nahen Osten vorzugehen wünscht und wie früher bereit ist, uns seine diplomatische Unterstützung zugunsten Serbiens zuteil werden zu lassen. Andererseits erblicke ich keine Anzeichen irgendeiner Änderung in der englischen Politik, es sei denn, daß England jetzt mehr denn je die Erhaltung des Friedens wünscht. Mit dem nächsten Kurier schreibe ich Ihnen Einzelheiten über den Berliner Besuch, dessen Hauptergebnis darin besteht, daß England die Überzeugung gewonnen hat, Deutschland wolle keinen Krieg und sei bereit, nach Maßgabe seiner Kräfte dep Sache des Friedens zu dienen. Hinsichtlich der Mittel und Wege, einen österreichisch-serbischen Konflikt zu verhindern, hat Grey mir gesagt, er werde mir seine Antwort in der allernächsten Zeit zukommen lassen. Poklewski-Koziell.

15. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 3./16. Februar 1909. Am 31. Januar/13. Februar sind Ihre Majestäten aus Berlin zurückgekehrt, und dieser Besuch ist in der Presse fast der ganzen Welt als sehr befriedigend bezeichnet worden.



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Soviel ich gehört habe, hat diese Reise bei dem König und der Königin den angenehmsten Eindruck hinterlassen, und Sir Charles Hardinge hat mir bestätigt, daß der Empfang sowohl von seiten des deutschen Kaiserpaares, als auch von der Berliner Bevölkerung, ein sehr warmer und herzlicher gewesen ist, und daß die wenigen politischen Gespräche, die er mit dem Reichskanzler und Baron Schön geführt hat, ein liebenswürdiges und versöhnliches Gepräge hatten. Aus meinen weiteren Fragen hat sich jedoch ergeben, daß diese Unterredungen nur einen ganz allgemeinen Charakter hatten, daß man sich sorgsam gehütet hat, solche Fragen zu erwähnen, in denen sich in letzter Zeit ein Gegensatz zwischen den beiden Regierungen gezeigt hatte, und daß deshalb Sir Charles selbst zugibt, dieser Besuch habe zu keinen greifbaren Resultaten geführt. Von seiten der deutschen Regierung sind die Fragen der Flottenrüstungen und der Bagdadbahn gar nicht erwähnt worden, weshalb sie, wie hier vorher beschlossen worden war, auch von englischer Seite nicht aufgeworfen wurden. Fürst Bülow hat viel davon gesprochen, daß er niemals die Ansicht des Wiener Kabinetts geteilt habe, England wolle allgemeine Verwicklungen hervorrufen und benutze zu diesem Zwecke die durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina hervorgerufene Krise. Er hat hierbei Aehrenthal nicht geschont, hat seine Handlungsweise verurteilt und sich über die schwierige Stellung Deutschlands beklagt, welches verpflichtet sei, seinen Bundesgenossen und dessen Politik, der es nicht immer zustimmen könne, zu unterstützen. Der Reichskanzler hat auch seiner lebhaften Freude anläßlich des Marokkoübereinkommens mit Frankreich Ausdruck verliehen; er beteuerte die Friedensliebe der deutschen Politik und wies darauf hin, daß man von Berlin aus schon oft beruhigende Ratschläge in Wien erteilt habe. Er sprach sich für die Erhaltung des status quo auf dem Balkan aus, und als Sir Charles auf die Sympathien Englands zum neuen

— 38 — türkischen Regime hinwies, beteuerte er, daß Deutschland der neuen Ordnung der Dinge in Konstantinopel ebenso wohlwollend gegenüberstehe. Mit einem Wort, Fürst Bülow sagte solche Dinge, die bei seinen englischen Zuhörern nur das angenehmste Echo finden konnten. Eine beunruhigende Note in den Ergüssen des deutschen Reichskanzlers war nur die Erwähnung des Umstandes, daß Österreich augenscheinlich Serbien gegenüber die Geduld zu verlieren beginnt. Er drückte hierbei den Gedanken aus, daß, wenn serbische Banden in Bosnien einbrechen sollten, und Österreich hierdurch veranlaßt würde, in Serbien einzurücken, die Mächte vom Wiener Kabinett die Zusicherung erhalten müßten, daß die Unabhängigkeit und jetzigen Grenzen des slawischen Königreiches unberührt bleiben würden, was Rußland beruhigen und ihm erlauben würde, neutral zu bleiben. Ich bemerkte hierauf Hardinge, daß die letzten Worte des Fürsten Bülow vielleicht den Zweck verfolgten, England auf einen bevorstehenden bewaffneten Zusammenstoß zwischen Serbien und Österreich vorzubereiten; Hardinge war jedoch mit mir nicht einer Meinung und erklärte, der Reichskanzler sei äußerst besorgt, daß ein derartiges Ereignis, selbst wenn die geeigneten Garantien vorlägen, Rußland zu einer Einmischung veranlassen könne. Fürst Bülow hat gleicherweise erklärt, daß Österreich bereit sein wird, Serbien vorteilhaftere Handelsbedingungen und einen Zugang zur Adria zu gewähren; er bestritt aber die Möglichkeit, z. B. Spizza Montenegro zu überlassen, da Kaiser Franz Joseph fest entschlossen sei, auch nicht einen Fußbreit österreichisch-ungarischen Territoriums abzutreten. Den Worten Sir Charles zufolge ist hiermit der Inhalt seiner politischen Unterredungen mit den Führern der deutschen Politik erschöpft, und das Hauptergebnis besteht darin, daß die englische Regierung die Überzeugung gewonnen hat, daß Deutschland den Frieden wünscht, und daß es bereit ist, im kritischen Augenblicke sein ganzes Gewicht auf die Seite



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derjenigen Mächte zu stellen, die die Erhaltung des europäischen Friedens erstreben. England ist natürlich gewillt, diese Stimmung Deutschlands auszunutzen, und vielleicht schon in allernächster Zeit wird es sich erweisen, ob die Worte des Fürsten Bülow aufrichtig gemeint waren. Die öffentliche Meinung Englands hat die Berliner Begegnung mit der größten Sympathie verfolgt, und sowohl in der Presse, als auch in politischen Kreisen, wird die Hoffnung ausgesprochen, daß die Beziehungen zu Deutschland sich ernstlich bessern werden. Aber die rauhe Wirklichkeit schont keine Illusionen, und schon heute wird in der englischen Thronrede die Notwendigkeit erwähnt, die Kredite für die Flottenrüstungen zu erhöhen. In kurzer Zeit wird das radikale Kabinett vorschlagen und das friedlich gestimmte Parlament bewilligen, daß die Steuern zur Deckung dieser Ausgaben bedeutend erhöht werden, und dies wird in dem Bewußtsein geschehen, daß die neuen schweren Opfer die Folge der Flottenrüstungen Deutschlands sind. Derartige Argumente machen tieferen Eindruck auf die öffentliche Meinung, als schöne Worte und aufrichtige Liebenswürdigkeiten. Poklewski-Koziell.

16. Schreiben des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 6./19. Februar 1909. In meinem Telegramm vom letzten Dienstag habe ich Euerer Exzellenz einen kurzen Bericht über meine Unterredung mit dem Staatssekretär über das politische Ergebnis des Besuches König Eduards in Berlin mitgeteilt. Sie wissen bereits, daß kein schriftliches Übereinkommen unterzeichnet worden ist. Alles hat sich auf Unterredungen zwischen dem Reichskanzler und Sir Charles Hardinge beschränkt. Baron Schön hat mir sogar versichert,

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daß zwischen den beiden Monarchen kein Wort über Politik gesprochen worden ist, und erst im Augenblicke der Abfahrt auf dem Bahnhofe, hat König Eduard zu Kaiser Wilhelm gesagt, er finde die Erregung der öffentlichen Meinung und der Presse in England anläßlich der progressiven Vermehrung der deutschen Flotte lächerlich. Der König hätte hinzugefügt: Du hast die Zustimmung des Reichstages zu dem Programm erhalten, das Du für die Seestreitkraft, die Deutschland braucht, aufgestellt hast, und Du mußt dieses Programm ausführen. Was die Unterredungen zwischen Sir Charles Hardinge und dem Fürsten Bülow anbelangt, so bezogen sie sich ausschließlich auf Balkanfragen. Baron Schön zufolge ist weder von der Bagdadbahn, noch von Persien, noch von der Erwerbung von Kohlenstationen in afrikanischen oder asiatischen Gewässern die Rede gewesen. Was den Balkan anlangt, so ist ein völliges Einvernehmen des beiderseitigen Standpunktes festgestellt worden, nämlich die Notwendigkeit, den status quo zu erhalten und vor allem einen Bruch zwischen Österreich, Serbien und Montenegro zu vermeiden. Dies hält Hardinge für die größte Gefahr auf dem Balkan. Nachdem, wie Fürst Bülow sagte, Hardinge sich überzeugt hatte, daß Österreich jede territoriale Kompensation verweigere, hat er auf der Notwendigkeit bestanden, Serbien und Montenegro wirtschaftliche Vorzüge zu gewähren. Er habe sich sogar bereit erklärt, als ein allerdings nur offiziöser Vermittler zwischen Österreich und Serbien aufzutreten, um von letzterem zu erlangen, daß das Belgrader Kabinett sich jeder Handlung enthält, die von der Donaumonarchie als Provokation betrachtet werden könnte. Mit einem Wort, alle beide haben sich bereit erklärt, gemeinsam an der Beruhigung des Balkans zu arbeiten. Hardinge hat den Reichskanzler zum Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich über Marokko beglückwünscht. Das Londoner Kabinett erblicke hierin ein wertvolles Unterpfand für den Frieden und sei bereit, alle wei-



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teren derartigen Bestrebungen zu unterstützen. Diesen Zweck verfolge auch der Besuch König Eduards in Berlin. Die Anwesenheit Seiner Majestät in der deutschen Hauptstadt sei nicht nur ein Beweis seiner freundschaftlichen Gefühle für Kaiser Wilhelm, sondern sei auch ein Deutschland gegebenes Pfand, daß das englische Volk keine Feindschaft ihm gegenüber hege. England wünsche zwischen den beiden Ländern gut nachbarliche Beziehungen zu unterhalten. Der englische Staatssekretär hat hinzugefügt, daß König Eduard durch die Haltung der Berliner Bevölkerung sehr gerührt sei und an den Empfang im Rathause die beste Erinnerung bewahren werde. Dies ist der Inhalt der Unterredung zwischen dem Reichskanzler und dem englischen Unterstaatssekretär — des einzigen politischen Gespräches während des Besuches. Die Presse glaubt mehr zu wissen, und ich habe Ihnen bereits einige Beispiele zukommen lassen. Es ist schwer zu bestimmen, ob die Quelle dieser Enthüllungen Vertrauen verdient. Sollte ich später noch irgendeine Einzelheit erfahren, so werde ich sie Ihnen mitteilen. Die Stellung des Fürsten Bülow bleibt beim Kaiser dieselbe — eine korrekte und etwas reservierte Haltung von seitcn des Souveräns. Osten-Sacken.

17. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 11./24. Februar 1909. Sie erhalten von Nicolson eine Abschrift der englischen Antwort auf die Weigerung Deutschlands, gemeinsame Schritte in Wien zu unternehmen. Hier hat man noch keine endgültige Entscheidung hinsichtlich der weiteren Handlungsweise getroffen, man kann aber annehmen, daß die Weigerung Deutschlands und die offiziöse Veröffentlichung



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in der österreichischen Presse über den geplanten Schritt Englands das Londoner Kabinett veranlassen werden, von Vorstellungen in Wien abzusehen. Grey wird heute von sich aus und ohne vorherige Verständigung mit Frankreich dem österreichischen Botschafter die freundschaftliche und friedliche Absicht des geplanten Schrittes darlegen und wird auf die ernste Beunruhigung Englands hinweisen, welche die Gefahr eines österreichisch-serbischen Zusammenstoßes hier hervorruft, und wird außerdem auch auf alle diejenigen Erwägungen hinweisen, welche das an Cartwright geschickte Telegramm enthält. Es scheint mir, daß die englische Regierung sich über den Ernst der Lage deutlich Rechenschaft gibt. Dieser Eindruck wird durch alle Nachrichten bestätigt, die sie aus offiziellen und privaten Quellen erhält. Trotz des dringenden Wunsches, Serbien zu helfen, ist man sich hier deutlich klar darüber, daß die Anstrengungen der Mächte hauptsächlich darauf gerichtet sein müssen, Serbien vor der Vernichtung zu bewahren, daß man aber ohne einen Krieg von Österreich nicht wird erreichen können, daß es Serbien andere als wirtschaftliche Konzessionen gewährt. Hardinge teilte mir heute als seine persönliche Ansicht mit, daß die allgemeine Lage weniger gespannt wäre, wenn Rußland in Belgrad erklären würde, Serbien könne weder auf territoriale Zugeständnisse, noch auf eine volle Autonomie Bosniens und der Herzogewina rechnen. Da Österreich gerade befürchtet, daß Rußland, vielleicht auch noch einige andere Mächte, die unerfüllbaren serbischen Forderungen unterstützen, so würde ein derartiger Schritt von Seiten Rußlands in Belgrad das Wiener Kabinett in hohem Maße beruhigen und dadurch die Möglichkeit einer friedlichen Lösung erhöhen. Man hat hier wohl bemerkt, daß die russische Regierung auf die englische Anfrage, mit welchen Zugeständnissen Serbien der Ansicht Rußlands nach sich begnügen müßte, noch nicht geantwortet hat. P ö k l e wski-Koziell.



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18.

Mitteilung der französischen Botschaft in Petersburg an das russische Außenministerium vom 13./26. Februar 1909. Die lange Dauer der austro-serbischen Krise und die Ungewißheit, die über den endgültigen Absichten österreich-Ungarns und Rußlands schwebt, rufen in Europa allgemeine Beunruhigung hervor. Diese Lage der Dinge muß die Aufmerksamkeit der französischen Regierung in höchstem Maße auf sich lenken. Die Gefühle Frankreichs für Rußland, sein Festhalten an dem unlösbaren Bündnis, welches die beiden Länder vereint, und die Verantwortlichkeiten, die Frankreich unter diesen Umständen auf sich nimmt, machen es ihm zur Pflicht, unverzüglich in einen Gedankenaustausch mit der russischen Regierung zu treten, um zusammen mit ihr die Richtlinie zu untersuchen, welche sie, unter Berücksichtigung der höheren Interessen beider Länder, einhalten müssen. Die russische Regierung wird sicherlich mit der französischen übereinstimmen, daß sie beide alles tun müssen, um die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes in einer Frage abzuwenden, von der die Lebensinteressen Rußlands nicht direkt berührt werden. Die französische öffentliche Meinung würde nicht verstehen, daß eine derartige Frage zu einem Kriege führen könne, an dem sich die französischen und russischen Armeen beteiligen müßten. Seit dem Abschluß der Allianz haben beide Regierungen und beide Länder sich stets bereit gezeigt, ihren gegenseitigen Verpflichtungen nachzukommen, sobald ihre vitalen Interessen bedroht waren; aber umgekehrt haben sie bei allen anderen Zwischenfällen im internationalen Leben stets danach getrachtet, ihre Anstrengungen im Interesse des Friedens und der Versöhnung zu vereinigen. Dies ist heute der Fall, und dies war auch der Gedanke des russischen Außenministeriums, als es im verflossenen Oktober öffentlich erklärte, daß Rußland, welches immer seine Auf-



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fassung über die Ursache der gegenwärtigen Krise seien, in dieser keinen casus belli erblicke. Seither haben wir nicht aufgehört, gemeinschaftlich nach Mitteln zu suchen, um die Krise zur möglichsten Befriedigung der Balkanstaaten zu lösen, da diesen Staaten die Sympathien sowohl Rußlands als auch Frankreichs zugesichert sind. Alle im Interesse Bulgariens unternommenen Schritte, denen beizutreten die russische Regierung uns nahelegte, sind von uns aufs wirksamste unterstützt worden. Was die serbischen Forderungen anlangt, welche, wie allgemein anerkannt, schwerlich zu rechtfertigen sind, so haben wir Zweifel geäußert, ob es möglich sei, sie zu verwirklichen. Aber wir haben uns der russischen Regierung angeschlossen, um zu verlangen, daß die Frage einer Konferenz unterbreitet würde. Dies ist in Wirklichkeit die einzige Schwierigkeit, für die eine andere Lösung gefunden werden muß, als die vom Belgrader Kabinett hinsichtlich seiner territorialen Kompensationsforderungen beanspruchte. Der Augenblick ist also für Rußland und Frankreich gekommen, diese Frage gemeinschaftlich zu prüfen. Wir bitten die russische Regierung, uns ihre Ansicht mitteilen zu wollen, in der festen Überzeugung, daß die gemeinschaftliche Erörterung der Frage durch die beiden Regierungen es erlauben wird, die gegenwärtige Krise unter Bedingungen zu lösen, die für Frankreich und Rußland in gleichem Maße befriedigend sind.

19. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Cetinje an den russischen Außenminister vom 13./26. Februar 1909. Es sind Maßregeln getroffen worden, um unverzüglich über einen gemeinsamen Feldzugsplan mit Serbien zu beraten; entweder wird ein Vorschlag nach Belgrad geschickt, oder eine kompetente Persönlichkeit hinkommandiert. Stein.



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20. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Paris vom 14./27. Februar 1909 — Nr. 250. Die Mitteilung, die mir die hiesige französische Botschaft gemacht hat, hat bei uns einen peinlichen Eindruck hervorgerufen, den ich dem Admiral Touchard nicht verheimlicht habe. Von den friedlichsten Absichten beseelt, hatten wir uns bereit erklärt, den von Cambon vorgeschlagenen Weg zu betreten, d. h. in Belgrad friedliche Erklärungen zu verlangen und sie nach Wien weiterzugeben. Aber der Kiderlensche Vorschlag, augenscheinlich in Wien inspiriert und von Pichon gebilligt, hat eine ganz andere Bedeutung. E r zielt darauf hin, eine gemeinsame Aktion der Mächte durch eine direkte Abmachung zwischen Wien und Belgrad nach dem Vorbild der österreichisch-türkischen Vereinbarung zu ersetzen. Die Sprache der offiziösen Presse in Österreich läßt hierüber keinen Zweifel. Aber dies ist gleichbedeutend mit der Auslieferung S erbiens auf Gnade und Ungnade an das bis an die Zähne bewaffnete Österreich. Ein derartiger Schritt, wenn in Belgrad unternommen, würde in Rußland allgemeine Entrüstung hervorrufen und einem Konflikt nicht vorbeugen. Keine serbische Regierung könnte sich damit einverstanden erklären. Es muß hervorgehoben werden, daß die Idee einer direkten Verständigung zwischen Österreich und Serbien ganz neu ist und allem widerspricht, was bis jetzt zwischen den Mächten vereinbart wurde. Die Kompensationen, die Serbien und Montenegro zugebilligt werden sollen, bilden Punkt 7 des Konferenzprogramms. Österreich hat sich damit einverstanden erklärt, diesen Punkt mit den Mächten zu erörtern mit der einzigen Einschränkung, daß diese Zugeständnisse nur wirtschaftlicher Natur sein könnten. Um jeden Argwohn zu vermeiden daß Serbien von Rußland ermutigt werde, unerfüllbare Forderungen zu stellen und dadurch die friedliche Lösung der Krise unmöglich zu machen, haben wir soeben nach Serbien tele-



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graphiert und der serbischen Regierung empfohlen, auf etile territorialen Ansprüche zu verzichten, sich bei der Regelung der noch schwebenden Fragen auf die Entscheidung der Mächte zu verlassen und alles zu vermeiden, was als eine Provozierung Österreich-Ungarns ausgelegt werden könnte. Es will uns scheinen, daß die Mächte eine derartige Erklärung, sofern man sie von der serbischen Regierung erhalten könnte, zur Kenntnis des Wiener Kabinetts bringen und es ersuchen sollten, seinerseits seine Absichten zu erklären. Ich teile Ihnen unter Nr. 2 den vollständigen Text meines Telegramms an unsern Belgrader Gesandten mit und bitte Sie, ihn zur Kenntnis Pichons zu bringen und mich von der Ansicht der französischen Regierung zu verständigen. I s w o 1 s k i.

81. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 14./27. Februar 1909. Man ist hier sehr beunruhigt, daß die Verhandlungen zwischen den Mächten zur Vorbeugung eines austro-serbischen Konfliktes nicht vorwärtsschreiten. Augenblicklich mißt man in England der Frage der territorialen Zugeständnisse zugunsten Serbiens in der festen Überzeugung besondere Bedeutung bei, daß das Festhalten an einer solchen Forderung unausbleiblich zum Kriege führen müsse. Hier würde man überhaupt geneigt sein, jeden Vorschlag zu unterstützen, der eine endgültige Verständigung zwischen Österreich und Serbien erleichtern würde, aber unter der Bedingung, daß die gemeinsam vorgehenden Mächte sich deutlich darüber Rechenschaft abgeben, daß man Österreich territoriale Zugeständnisse nicht zumuten könne. Englischen Nachrichten zufolge scheint das neue serbische Kabinett sich klar zu sein darüber, daß die serbischen



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Forderungen unerfüllbar sind, und bereit zu sein, den Vorstellungen der Mächte nachzugeben. Poklewski-Koziell.

22. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 14./27. Februar 1909 — Nr. 251. In Beantwortung der beiden Mitteilungen, die uns der serbische Gesandte am 10. und 13. Februar gemacht hat, bitte ich Sie, folgendes zur Kenntnis der Königlichen Regierung zu bringen. Wir nehmen mit Befriedigung davon Kenntnis, daß die serbische Regierung ihrem Entschlüsse treu bleibt, den von ihr eingenommenen friedlichen Standpunkt nicht zu verlassen, alles zu vermeiden, was zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Serbien und Österreich führen könnte, und keine militärischen Maßnahmen an der Grenze zu treffen. Wir sind überzeugt, daß die vitalen Interessen Serbien, dem wir von jeher die größte Sympathie entgegenbringen, diese Richtlinie mit Notwendigkeit auferlegen, die auch einzig der augenblicklichen allgemeinen Situation entspricht. Wir haben uns andererseits überzeugen können, daß die Mächte nicht geneigt sind, die Idee einer territorialen Vergrößerung Serbiens zu unterstützen. Die Königliche Regierung muß hieraus folgern, daß alle Anstrengungen, die Mächte zur Unterstützung ihrer dahingehenden Forderungen zu bewegen, ergebnislos bleiben werden, und daß Serbien sich die Sympathien der Mächte nur erhalten kann, wenn es darauf verzichtet, auf Forderungen zu bestehen, die zu einem bewaffneten Konflikt mit Österreich führen müßten. Es ist uns ein Bedürfnis, die Königliche Regierung zu warnen, sich einer solchen Gefahr auszusetzen. Wir hoffen, daß Serbien, wie es soeben erklärt hat, seinen Verpflichtungen, dem Rate der Groß-



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mächte zu folgen, treu bleiben wird. Wir glauben gleichzeitig, daß die serbische Regierung unter den obwaltenden Umständen diesen Mächten deutlich erklären müßte, daß sie auf ihre territorialen Forderungen verzichte und sich in allen schwebenden Fragen auf die Entschließungen der Mächte verlasse. Diese könnten dann alle ihre Anstrengungen darauf richten, die serbischen Interessen wahrzunehmen. Abschrift nach Cetinje mitgeteilt. Iswolski.

23. Inhaltsangabe eines Telegramms des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 14./27. Februar 1909. Nach dringendem Anraten, Serbien solle sich zu einem Verzicht auf territoriale Kompensationen entschließen, heißt es: Es ist kaum anzunehmen, daß die bosnisch-herzegowinische Frage in nächster Zukunft gelöst werden wird; unser Standpunkt ist nach wie vor derselbe: er hat in unserm Zirkular vom 9. Dezember Ausdruck gefunden; eine allgemeine Einigung aller Mächte auf der Konferenz ist kaum möglich; die Annexion wird nicht formell sanktioniert werden; Paschitschs Wunsch wird nicht erfüllt werden. Was eine Bahn durch türkisches Territorium anlangt, werden wir bei den Verhandlungen mit der Türkei energisch darauf bestehen.

24. Telegramm des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 15./28. Februar 1909 — Nr. 40. Hinsichtlich des Kiderlenschen Vorschlages ist ein Mißverständnis entstanden. Pichon hat diesen Vorschlag weder

— 49 — angenommen, noch empfohlen. Er hat ihn nur nach London und Petersburg mitgeteilt, um die Ansicht der beiden Kabinette kennenzulernen. Aber er selbst hat die Art und Weise des Vorgehens für unannehmbar gefunden, vor allem das in Aussicht genommene tête-à-tête zwischen Österreich und Serbien. Man hat hier einen neuen Text der in Belgrad zu machenden Vorstellungen soeben aus Berlin erhalten. Ich werde ihn Ihnen zustellen, sobald ich ihn von Pichon mit denjenigen Veränderungen erhalten habe, die er einzuführen für nötig hält, wenn nicht die Folgen Ihres direkten Schrittes in Belgrad, den er vollkommen billigt, weitere Kollektivschritte in Belgrad überflüssig machen. Nelidow.

26. Telegramm des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 15./28. Februar 1909 — Nr. 41. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 40. Beifolgend der in Berlin vorgeschlagene Entwurf einer in Belgrad zu übergebenden Note: Infolge einer Ubereinkunft vom 26. Februar 1909 hat Seine Majestät der Sultan seine Einwilligung gegeben, daß hinfort Bosnien und die Herzegowina zum integrierenden Bestandteile der österreichisch-ungarischen Monarchie gehören sollen, und Seine Majestät der österreichischungarische Kaiser hat auf die militärische Okkupation des Sandschaks von Nowibazar verzichtet, zu der ihn der Berliner Kongreß berechtigte. Die Regierungen Englands, Frankreichs, Italiens und Rußlands lenken die Aufmerksamkeit der serbischen Regierung auf die neue Lage, die sich aus diesem Übereinkommen zwischen den interessierten Mächten ergibt, und geben sich der Hoffnung hin, daß die serbische Regierung unter Verzicht auf alle territorialen Aspirationen außerhalb der Grenzen des Königreichs sich SI e b e r t, Bencltendorff. I. 4



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aller Handlungen enthalten wird, die die Ruhe der benachbarten Monarchie stören könnten „und für die die volle Verantwortung auf Serbien zurückfallen würde"; daß sie eine Richtlinie verfolgen wird, die Serbien zu denjenigen wirtschaftlichen Vergünstigungen verhelfen wird, welcheösterreich „auf Grund einer direkten Übereinkunft zwischen den beiden Mächten" ihm zu bewilligen bereit ist. Für den Fall, daß trotz Ihres direkten Schrittes in Belgrad ein Kollektivschritt der Großmächte daselbst nötig wäre, glaubt Pichon, daß der soeben mitgeteilte Text unter der Bedingung als Grundlage für eine Verständigung dienen könnte, daß die beiden in Anführungszeichen gestellten Sätze weggelassen werden. Er drückt übrigens nur seine persönliche Ansicht aus und wendet sich gleichzeitig auch an die Kabinette von London und Rom. Nelidow.

26.

Telegramm, des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 17. Februar/2. März 1909. — Nr. 265. Ich verweise auf die Telegramme unseres Pariser Botschafters Nr. 40 und 41. Der in Berlin vorgeschlagene Wortlaut ruft selbst mit den von Pichon in Vorschlag gebrachten Weglassungen ernstliche Einwendungen hervor; der Text ist augenscheinlich in Wien redigiert worden, und der ganze erste Teil verrät die Absichten Österreich-Ungarns, das austro-türkische Protokoll als die definitive Regelung der Annexionsfrage annehmen zu lassen. Wir können in keinem Falle diesem Manöver zustimmen. Wir sind der Ansicht, daß dieses Protokoll internationale Bedeutung nur dann beanspruchen kann, wenn es von der Konferenz sanktioniert ist, und wir sehen keinen Grund, dieses Protokoll in der in Aussicht genommenen Note zu erwähnen. Als



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unannehmbar betrachten wir auch den Satz „unter Verzicht auf alle territorialen Aspirationen außerhalb der Grenzen des Königreichs". Kein Land, so schwach und klein es sein möge, kann eine derartig allgemeine Erklärung abgeben. Die Kabinette von Paris und London müssen auch verstehen, wie sehr die Tatsache, daß ein österreichisch-deutscher Vorschlag zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht wird, — so geschickt er auch gefaßt sein mag, — die Möglichkeit einer Versöhnung erschwert. Dies wird uns in die Notwendigkeit versetzen, unsererseits einen Gegenentwurf vorzuschlagen, was vermieden worden wäre, wenn Jules Cambon sich nicht so sehr beeilt hätte, sich den Vorschlag des Barons Schön anzueignen. Wir kennen noch nicht das Resultat unseres letzten Schrittes in Belgrad, und wir können noch nicht beurteilen, ob eine weitere Aktion der Mächte noch nötig sein wird; deshalb enthalten wir uns fürs erste der Formulierung eines Gegenvorschlags. Der französische Botschafter hat mir versichert, Fürst Bülow hätte Cambon erklärt, daß das Berliner Kabinett, wenn der Schritt in Belgrad Erfolg haben würde, sich den andern Mächten anschließen würde, um gemeinsam in Wien zu handeln. Eine solche Erklärung habe ich in keinem von den bisher ausgetauschten diplomatischen Dokumenten gefunden und möchte gern sicher sein, daß dies wirklich der Fall ist. Iswolski.

27.

Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 17. Februar/2. März 1990. Ich habe mich Milowanowitsch gegenüber im Sinne Ihres Telegrammes ausgesprochen. Der von uns der Königlichen Regierung gegebene Rat wird im Ministerrat besprochen, und die Entscheidung mir morgen mitgeteilt werden. Aus meiner Unterredung mit dem Außenminister habe ich den Eindruck, 4*

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daß die Regierung nachgibt. In seiner Antwort wird mir Milowanowitsch, soviel ich bisher beurteilen kann, wahrscheinlich mitteilen, daß Serbien nicht die Absicht hat, irgendwelche kategorische Forderungen territorialer oder wirtschaftlicher Natur zu stellen, so daß es folglich gar nicht nötig hat, auf die ersteren zu verzichten. Serbien legt sein Geschick ganz in die Hände der Großmächte, indem es im voraus ihre Entscheidung annimmt und es ihnen überläßt, zu entscheiden, ob man die serbisch-bosnische Frage gleich lösen oder diese Lösung auf einen günstigeren Zeitpunkt verschieben solle. Jetzt schon direkte Verhandlungen mit Österreich aufzunehmen, hält er nicht für ratsam. Gemäß erhaltenen Instruktionen haben die Vertreter Frankreichs, Englands und Italiens Milowanowitsch nach meinem Besuch bei ihm mitgeteilt, daß ihre Regierungen sich der russischen Ansicht anschließen. Sergej ew.

28. Schreiben des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 18. Februar¡3. März 1909. Admiral Touchard hat Pichon die Bemerkungen mitgeteilt, die Sie ihm über die Lauheit der französischen Diplomatie und speziell der französischen Botschafter in Wien und in Berlin gemacht haben, mit der sie den von der russischen Regierung eingenommenen Standpunkt unterstützt hätten. Über diesen Vorwurf sehr betroffen, hat Pichon mir gegenüber die Aufrichtigkeit und absolute Loyalität hervorgehoben, die seine Politik Rußland gegenüber stets befolgt hat, und sich beeilt, die Handlungsweise der von Eurer Exzellenz beschuldigten französischen Vertreter zu rechtfertigen. Diese hätten, sagte er mir, die erhaltenen Instruktionen befolgt; diese stimmten mit unseren Ab-

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sichten genau überein und, wenn vielleicht Crozier, von dem Glänze der Wiener Gesellschaft, in der er sich eine gute Stellung schaffen will, ein wenig geblendet, sich in der Form weniger energisch gezeigt hätte, als er es vielleicht hätte sein müssen, so gelte dies nicht von Jules Cambon. Dieser hat nicht aufgehört, dem Berliner Kabinett ausdrücklich zu verstehen zu geben, daß Frankreich in dieser Krise der von der russischen Regierung eingeschlagenen Politik in allen Punkten folgen und in loyaler Weise den Allianzvertrag, der es mit Rußland verbindet, einhalten würde. Er hat es so gut verstanden, den Fürsten Bülow davon zu überzeugen, daß in einer kürzlichen Unterredung, in der über mögliche Eventualitäten gesprochen wurde, der Kanzler unter anderem Jules Cambon gesagt hat: „Sie werden sich auf die Seite Rußlands stellen, wie wir auf die Seite Österreichs . . .". Aber es ist klar, daß sowohl die deutsche als auch die österreichische Presse ein großes Interesse daran hat, die Farben zu verdichten und, indem sie sich auf die weniger gespannten Beziehungen zwischen der französischen Diplomatie und den politischen Kreisen Berlins und Wiens bezieht, glauben zu machen, daß Frankreich sich allmählich von seinem Bundesgenossen und Freunde loslöst und sich dem Dreibund nähert. Pichon hat mir bei dieser Gelegenheit die entschiedensten Versicherungen über die Haltung Frankreichs gegeben, falls die jetzige Krise uns zwingen würde, uns aktiv in den österreichisch-serbischen Konflikt einzumischen. „Wir werden unsere Allianz-Verpflichtungen loyal erfüllen", sagte mir der Minister, „und solange ich auf diesem Posten bleibe, wird diese Politik befolgt werden. Aber da dies für beide Länder, die beide den Krieg nicht wünschen, eine außerordentlich ernste Situation schafft, so habe ich es für meine Pflicht gehalten, nach Mitteln zu suchen, um dieser Gefahr vorzubeugen, und nicht zu extremen Entschließungen zu greifen". Er hat mir wiederholt, daß auf Grund aller Nachrichten, über die er verfügt, hauptsächlich die territorialen Ansprüche Serbiens, auf die es ein Recht zu

— 54 — haben behauptet, Österreich in Erregung versetzen und das Wiener Kabinett die Geduld verlieren lassen. Milowanowitch hatte hier zugegeben, daß Österreich auf derartige Forderungen nie eingehen würde; keine einzige der Großmächte zeige sich geneigt, sie zu unterstützen. Es war folglich unnütz und für Serbien gefährlich, darauf zu bestehen, während ein freiwilliger Verzicht seinerseits den Mächten die Möglichkeit gegeben hätte, die wirtschaftlichen Interessen des Königreichs um so energischer zu vertreten. Er glaube, daß ein in diesem Sinne von Rußland ausgehender Schritt für die Serben weniger beleidigend wäre und mehr Aussichten auf Erfolg haben würde, als ein Kollektivschritt der Kabinette. Dies war der Sinn der Mitteilung, die der französische Botschafter Eurer Exzellenz zu machen hatte. Was die Vorschläge Cambons und Kiderlens anbelangt, so hatte der Minister sie weder angenommen, noch empfohlen; er fand namentlich die letzteren für uns weniger annehmbar und hat sie nach Petersburg und London weitergegeben, nur um die Ansicht der Kabinette kennenzulernen und ohne sich in irgendeiner Weise zu verpflichten. Dies sind, Herr Minister, die Erklärungen und die Versicherungen, die mir Pichon in den aufeinanderfolgenden Unterredungen, welche ich mit ihm Ende der letzten Woche gehabt habe, gegeben hat. Ich habe keinen Grund zu zweifeln, daß er durchaus aufrichtig ist, wenn er mir erklärt, die französische Regierung sei fest entschlossen, die Verpflichtungen, die ihr unser Bündnisvertrag auferlegt, auf das genaueste zu erfüllen. Ich höre, daß andere Mitglieder des Kabinetts sich in demselben Sinne geäußert hätten, indem sie betonten, daß, wenn Frankreich anders handelte und seine Verpflichtungen nicht erfüllte, es sich moralisch verurteilen würde und sich in materieller Beziehung, wenn der Krieg einen für Rußland günstigen Ausgang nähme, in Europa isoliert und entehrt sehen würde, während im entgegengesetzten Falle es Deutschland ohne Gnade ausgeliefert wäre, — denn, so sagen die Eng-

- 5 5 länder, wenn Frankreich Rußland gegenüber versagen sollte, so würde dies das Ende der französisch-englischen Entente für immer bedeuten. Indem ich Ihnen dies alles mitteile, kann ich jedoch nicht umhin zu betonen, daß die Möglichkeit eines Krieges vom hiesigen Publikum und der Presse mit sehr verschiedenen Gefühlen betrachtet wird. Die demokratische Republik ist ihrer Natur nach eine Feindin der Kriege. Der Antimilitarismus und der Sozialismus machen in dieser Hinsicht bedeutende Fortschritte. Aber es sind hauptsächlich Tendenzen und Erwägungen merkantiler Natur im französischen Publikum und seine Sorge um die Erhaltung seines außerordentlichen Reichtums, die dazu dienen, hier ultrapazifistische Tendenzen zu entwickeln. Wenn Frankreich angegriffen würde, oder wenn seine direkten, allen verständlichen Interessen in Frage kämen, so würde die Nation handeln. Aber wie die Frage jetzt von der Presse — deren großer Teil mit dem„Temps"an der Spitze von Österreich gewonnen ist — auch hingestellt werden mag, „Europa in einen Krieg zu verwickeln um eines territorialen Streifens wegen, auf den Serbien durchaus kein Recht hat", eine solche Politik wäre in den Augen der Franzosen der verbrecherischste Wahnsinn. Ihr mutiger Schritt in Belgrad, den hier alle begrüßen, dient dazu, dieser Gefahr vorzubeugen, und wenn Österreich seine neuen dreisten Forderungen nach Empfang der Antwort aus Belgrad nicht aufrecht erhält, so darf man mit Recht hoffen, daß die Krise eine friedliche Lösung finden wird. Aber eine energische Aktion der Mächte dürfte wahrscheinlich auch in Wien nötig sein, und wie ich Ihnen gestern telegraphierte, ist Pichon vollkommen einverstanden, sich mit uns und den Engländern zu verständigen, in welcher Form dies geschehen könne, und welche weiteren Folgen dieser Schritt haben müsse. Er ist bereit, zu versuchen, die andern Mächte zur Teilnahme zu veranlassen. Man erwartet hier mit doppeltem Interesse die weiteren Nachrichten aus Belgrad und die Entschließungen der russischen Regierung, die die weitere



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Richtung der diplomatischen Aktion der Kabinette bestimmen werden. Persönlich glaubt der französische Minister des Auswärtigen und seiner Ansicht nach auch sein Londoner Kollege, daß man die Konferenz möglichst bald einberufen müsse. Da die Übereinkunft zwischen Bulgarien und der Türkei in nächster Zeit unter russischer Ägide abgeschlossen werden wird, hofft Pichon, daß die Einladung zur Konferenz ebenfalls in nächster Zeit an die Mächte ergehen könnte. Wie wird diese Einladung in Wien und Berlin aufgenommen werden ? — Dies ist eine Frage, die wahrscheinlich zu schwierigen Verhandlungen führen wird, denn bis jetzt zeigte man sich dort einer Konferenz durchaus abgeneigt, wenn diese sich nicht darauf beschränkt, die zwischen den interessierten Parteien getroffenen Vereinbarungen einfach zu registrieren. Nelidow.

29. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 18. Februar/3. März 1909. Nr. 1. Milowanowitsch ist es nur mit großer Mühe geglückt, seine Kollegen zu der Annahme des in meinem gestrigen Telegramm dargelegten Standpunktes zu bewegen. Der Text der Antwort der Königlichen Regierung auf die russische Mitteilung über die Notwendigkeit eines serbischen Verzichtes auf territoriale Kompensationen ist in meinem Telegramm Nr. 2 wiedergegeben. Wenn Eure Exzellenz diese Antwort als der augenblicklichen Lage entsprechend ansehen, so möchte Milowanowitsch auf Grund dieses Textes eine Zirkularnote an die Großmächte erlassen, indem er sich dabei auf die freundschaftlichen Vorstellungen der russischen Regierung bezieht. Nachdem meine Kollegen von der Absicht des serbischen Außenministers Kenntnis genommen haben, finden sie diese Antwort annehmbar, obwohl sie nicht ohne



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Grund voraussehen, daß Österreich-Ungarn, welches direkte Verhandlungen mit Serbien zu führen wünscht, mit dieser Antwort außerordentlich unzufrieden sein wird. Bei der Übergabe der Antwort bat mich Milowanowitsch Eurer Exzellenz mitzuteilen, daß die serbische Regierung, indem sie sich zu einem für das Land so schweren Verzichte entschloß, unsern Wünschen entgegenzukommen suchte, daß sie aber die Hoffnung nicht verliere, daß die russische Regierung ihrerseits die schon früher übernommene Verpflichtung erfüllen werde und nicht die Absicht habe, ihre Unterschrift unter die Annexion zu setzen. Der Ton der Presse Österreich gegenüber ist bedeutend gemäßigter geworden. Die Unzufriedenheit richtet sich hauptsächlich gegen uns. Sergejew.

30. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 18. Februar/3. März 1909. Nr. 2. Text der serbischen Antwort. „Von der Annahme ausgehend, daß das Verhältnis Serbiens zu Österreich-Ungarn nach der Proklamation der Annexion Bosniens und der Herzegowina in rechtlicher Hinsicht normal geblieben ist, hat die Königliche Regierung durchaus nicht die Absicht, einen Krieg mit der benachbarten Monarchie hervorzurufen, und wünscht durchaus nicht, die rechtlichen Beziehungen zwischen den beiden Mächten und ihre Haltung korrekter Nachbarschaft zu modifizieren. Sie verlangt auch durchaus nicht von Österreich-Ungarn als Folge der bosnisch-herzegowinischen Frage irgendeine Kompensation territorialer, politischer oder wirtschaftlicher Natur. Sofern die bosnisch-herzegowinische Frage als eine interne österreichisch-ungarische oder als eine österreichisch-türkische Frage betrachtet wird, enthält sich Serbien jeder Ein-



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mischung. Serbien hat seine Stimme erhoben und hat seinen Standpunkt in dieser Frage dargelegt nur solange und nur insoweit, als diese Frage einen europäischen Charakter behält. Folglich, wenn die Signatarmächte des Berliner Vertrags zugeben, daß die bosnisch-herzegowinische Frage durch das österreichisch-türkische Abkommen gelöst ist, oder wenn diese Signatarmächte aus irgendeinem Grunde sich in diesem Augenblicke über die Frage nicht äußern wollen, so wird Serbien ihrem Beispiel folgen und sich in Zukunft jeder Diskussion enthalten. Wenn hingegen die Mächte die Prüfung der Fragen, die mit der Anerkennung der Annexion und der neuen Fassung des Artikels 25 des Berliner Vertrags zusammenhängen, in ihre Hände nehmen, so wird Serbien ihnen als einem kompetenten Tribunal seinen Standpunkt unterbreiten, indem es vollkommen und ohne Vorbehalt ihrer hohen Einsicht und Billigkeit vertraut. Was die militärischen Rüstungen Serbiens anlangt, so stehen sie in keinem Zusammenhang mit der bosnisch-herzegowinischen Krise, sondern werden durch unsere allgemeinen Bedürfnisse bedingt, was schon durch die Tatsache bezeugt wird, daß sie auf Grund eines Gesetzes stattfinden, das noch vor der Proklamation der Annexion erlassen wurde. Was die militärischen Maßnahmen anlangt, die die Vorbereitung der Mobilisation und die Sicherung unserer an ÖsterreichUngarn grenzenden Gebiete betreffen, so ist Serbien bereit, die Rüstungen, obwohl sie einen durchaus defensiven Charakter tragen und aufs äußerste Minimum beschränkt sind, zu unterbrechen und rückgängig zu machen, wenn ÖsterreichUngarn seinerseits bereit ist, die normale militärische Lage an seiner serbischen Grenze wiederherzustellen, — oder aber, wenn die Mächte uns garantieren wollen, daß ÖsterreichUngarn uns nicht angreifen wird". Sergejew.



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31.

Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 20. Februar/5. März 1909. — Nr. 288. Ich beziehe mich auf die beiden Telegramme unseres Belgrader Gesandten vom 18. Februar. Die Antwort des Belgrader Kabinetts scheint uns, abgesehen von einzelnen Formfehlern, die vollkommene Zustimmung der Mächte zu verdienen. Wir finden es sehr weise und richtig von der Belgrader Regierung, daß sie beschlossen hat, darauf zu verzichten, von Österreich-Ungarn infolge der Annexion irgend welche territorialen, politischen oder wirtschaftlichen Kompensationen zu verlangen und sich in dieser Hinsicht auf den Beschluß der Mächte zu verlassen. Wir billigen ebenfalls die Absicht der serbischen Regierung, eine Zirkularnote in diesem Sinne an die Mächte zu richten. Andererseits hat uns die österreichisch-ungarische Regierung soeben erklärt, daß sie niemals die Absicht gehabt hätte, eine Vermittlung der Mächte zwischen sich und Serbien zu verlangen, und daß sie auch in Zukunft eine solche Vermittlung nie zulassen werde; es ist folglich wahrscheinlich, daß, wenn die serbische Zirkularnote nur an einen Teil der Mächte gerichtet ist und diese den Versuch machen, sie zur Kenntnis des Wiener Kabinetts zu bringen, dieses sich weigern wird, die Mitteilung entgegenzunehmen, und eine direkte Anfrage Serbiens verlangen wird. Wir glauben, daß das beste Mittel, um aus dieser Sackgasse herauszukommen, darin bestehen würde, daß Serbien die Zirkularnote an alle Signatarmächte des Berliner Vertrags, Österreich-Ungarn und die Türkei inbegriffen, richtete. In diesem Falle wäre es nötig, in dem Texte der serbischen Note Änderungen vorzunehmen, um sie für das Wiener Kabinett annehmbarer zu machen. Unserer Ansicht nach müßte Serbien auch fürs erste den ganzen letzten Teil, der sich auf die serbischen Rüstungen bezieht, weglassen, da diese Frage bis jetzt weder im Laufe der Verhandlungen zwischen den

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Mächten, noch von Ö3terreich-Ungarn selbst aufgeworfen worden ist. Iswolski. 32. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 20. Februar/5. März 1909. — Nr. 292. Fortsetzung meines heutigen Telegrammes Nr. 288. Folgende Bemerkungen wollen wir der serbischen Regierung hinsichtlich der Redaktion der projektierten Zirkularnote unterbreiten: Es will uns scheinen, daß die beiden ersten Sätze der serbischen Note nicht geändert zu werden brauchen. Der dritte, vierte, fünfte und sechste Satz ist unserer Meinung nach gefährlich und könnte den Zusammentritt der Konferenz noch schwieriger machen. Sie könnten durch eine Erklärung ersetzt werden, daß Serbien sich jeder Einmischung in eine Frage enthalten wird, deren Lösung den Signatarmächten des Berliner Vertrags obliegt, in deren Gerechtigkeitssinn Serbien vollkommenes Vertrauen hat. Das Ende des serbischen Textes, das sich auf die Rüstungen bezieht, müßte vollkommen weggelassen werden. Wenn trotzdem die serbische Regierung auf diesen Punkt besteht, so müßte man diesen Teil der Zirkularnote derart fassen, daß ÖsterreichUngarn und die Garantie der Mächte nicht erwähnt werden. Ich bitte Sie, das oben Angeführte zur Kenntnis des Ministers des Auswärtigen zu bringen und ihn nach seiner Ansicht zu fragen. Iswolski. 33. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 21. Februar/6. März 1909. Grey ist mit Ihrem Gedanken einer serbischen Zirkularnote an alle Mächte, in der von Ihnen vorgeschlagenen ge-



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kürzten Form vollkommen einverstanden. Er hat in diesem Sinne schon an Nicolson telegraphiert. Andererseits werden Grey und Pichon der russischen Regierung in nächster Zeit mitteilen, welche Schritte ihrer Ansicht nach in Wien unternommen werden müßten, um die Einberufung der Konferenz zu beschleunigen. Poklewski-Koziell.

34. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 22. Februar/7. März 1909. — Nr. 296. Ich beziehe mich auf meine Telegramme Nr. 288 und 292. Um den Anschein zu vermeiden, daß Serbien sich solchen direkten Verhandlungen mit Österreich-Ungarn entziehen will, die gewöhnlich den Gegenstand von Verhandlungen zwischen zwei Nachbarstaaten bilden, wäre es erwünscht, zu dem zweiten Satze der serbischen Zirkularnote, der mit den Worten „politisch oder wirtschaftlich" endigt, die Worte hinzufügen: „indem die Regierung nach wie vor bereit ist, zusammen mit dem Wiener Kabinett die Fragen zu prüfen, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Staaten betreffen". Die serbische Regierung würde dadurch Europa einen neuen Beweis ihrer friedlichen Absichten geben. Es scheint uns sehr wichtig, daß Milowanowitsch diesen Vorschlag annimmt, hauptsächlich im Hinblick auf die Ankunft von Forgach, der, wie die Presse mitteilt, Verhandlungen mit dem Belgrader Kabinett zu führen beauftragt ist. Teilen Sie dies Milowanowitsch mit. Unsere weiteren Bemerkungen werden wir Ihnen bald mitteilen. Iswolski.



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35. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 22. Februar/7. März 1909. — Nr. 301. Nach Berücksichtigung der verschiedenen Erwägungen, welche den Inhalt der serbischen Zirkularnote bestimmen müssen, glauben wir, daß die Note in endgültiger Fassung folgendermaßen lauten sollte: Von der Annahme ausgehend, daß vom rechtlichen Standpunkt aus die Beziehungen Serbiens zu Österreich-Ungarn nach der Proklamation der Annexion Bosniens und der Herzegowina normal geblieben sind, hat die Königliche Regierung durchaus nicht die Absicht, einen Krieg mit der benachbarten Monarchie hervorzurufen und auch nicht den Wunsch, diese juristischen Beziehungen zu ändern, und ist entschlossen, ihren Verpflichtungen guter Nachbarschaft Österreich-Ungarn gegenüber nachzukommen. Indem sich Serbien jeder Einmischung in eine Frage enthält, deren Lösung den Signatarmächten des Berliner Vertrags zukommt, in deren Gerechtigkeitssinn es volles Vertrauen hat, verlangt Serbien auch nicht von österreich-Ungarn als Folge der bosnisch-herzegowinischen Frage irgendeine Kompensation, sei es territorialer, politischer oder wirtschaftlicher Natur, indem es nach wie vor bereit ist, zusammen mit dem Wiener Kabinett die Fragen zu prüfen, die sich auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern beziehen. Geben Sie gleichzeitig Milowanowitsch zu verstehen, daß man in Anbetracht der Entspannung, die sich in der allgemeinen Situation zu vollziehen scheint, zur Annahme berechtigt ist, daß das Wiener Kabinett davon absehen wird, an Serbien eine Anfrage wegen der Rüstungen zu richten, und daß folglich eine solche Erwähnung in der serbischen Zirkularnote unzeitgemäß und sogar gefährlich erscheint. Wenn jedoch ein derartiger Schritt von seiten der österreichisch-ungarischen Regierung erfolgen sollte, so könnte die Königliche Regierung unter Berufung



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auf die erwähnte Zirkularnote Rußland und die anderen Mächte von diesem Schritt in Kenntnis setzen, um von ihnen neue gute Ratschläge einzuholen. Es versteht sich von selbst, daß die Zirkularnote an alle Signatarmächte, Österreich einbegriffen, gerichtet sein muß. Ich bitte Sie, obiges zur Kenntnis der serbischen Regierung zu bringen und uns von ihrer Entscheidung zu benachrichtigen. Unseren Nachrichten zufolge ist Graf Forgach beauftragt worden, mit der serbischen Regierung über ein Handelsabkommen zu verhandeln. Aehrenthal hat bei dieser Gelegenheit geäußert, es läge ihm fern, Serbien erniedrigen zu wollen, auch soll die Mission Forgach durchaus nicht den Charakter eines Ultimatums haben; andererseits sei es wünschenswert, daß Serbien nicht zu lange zaudere, da das Erlöschen des Handelsvertrages eine provisorische Verlängerung nötig macht; was die wirtschaftlichen Verhandlungen zwischen beiden Ländern anbelangt, so könnten sie auf ein späteres Datum verschoben werden. Aehrenthal hat hinzugefügt, er wolle in keiner Weise einen Druck auf die serbische Regierung in dieser Frage ausüben. Angesichts dieser Versicherung hoffen wir, daß die serbische Regierung die Eröffnungen des österreichischen Vertreters nicht ablehnen wird, indem sie sich anläßlich dieser Verhandlungen auf den Boden normaler kommerzieller Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien stellt. Iswolski.

36. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 23. Februar/8. März 1909. Reden Sie Milowanowitsch zu, die russische Redaktion anzunehmen. Serbien braucht nicht mit der Erklärung zu zögern, daß es sich in die Annexionsfrage nicht einmischen wolle. Juristisch ist dies der einzig unanfechtbare Standpunkt und



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bedeutet nicht, daß Serbien damit das Recht verliert, zu gegebener Zeit die Mächte mit seinen Wünschen bekanntzumachen. Unsererseits können wir nur wiederholen, daß die Tatsache der Annexion letztenendes unsere Zustimmung nicht erhalten wird. Iswolski.

37. Inhaltsangabe eines Schreibens des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Bukarest vom 24. Februar/ 9. März 1909. Der rumänische Gesandte hat mir beruhigende Erklärungen über ein neutrales Verhalten Rumäniens im Falle eines Konfliktes zwischen Serbien und Österreich gegeben. Bei passender Gelegenheit müßte diese Frage von Ihnen aufgeworfen werden, um eine diesbezügliche offizielle Erklärung zu erhalten, auf die man sich in Zukunft gegebenenfalls stützen könnte.

38. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 26. Februar/11. März 1909. — Nr. 318. Der österreichisch-ungarische Botschafter hat mir den Text des österreichisch-türkischen Abkommens übergeben, desgleichen die Abschrift einer Note Aehrenthals. Ich habe die Absicht, den Empfang dieser beiden Schriftstücke zu bestätigen und dabei dem Wiener Kabinett in Erinnerung zu bringen, daß unserer Ansicht nach eine direkte Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei die Notwendigkeit nicht ausschließt, die bosnisch-herzegowinische Frage einer Kon-



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ferenz der Signatarmächte des Berliner Vertrags zu unterbreiten, und hinzuzufügen, daß wir folglich bereit seien, uns schon jetzt mit Österreich-Ungarn und den andern Signatarmächten ins Einvernehmen zu setzen, um eine Konferenz einzuberufen, wclche sich sowohl mit der bosnisch-herzegowinischen Frage als auch mit den andern Punkten des Programmes zu befassen hätte, das schon früher von allen Kabinetten angenommen worden ist. Teilen Sie dies der englischen Regierung mit und benachrichtigen Sie mich, ob das Londoner Kabinett bereit ist, Wien eine analoge Antwort zu geben. Iswolski.

39. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 26. Februar/11. März 1909. — Nr. 319. Die serbische Zirkularnote, die mir heute von dem serbischen Gesandten übergeben wurde, ist trotz einiger redaktioneller Einzelheiten, die unserm Rate entgegen hinzugefügt worden sind, im großen und ganzen zufriedenstellend und müßte es für jeden Unbefangenen sein. Unglücklicherweise haben wir Grund anzunehmen, daß dies nicht die Ansicht des Wiener Kabinetts ist. Wie mir der österreichisch-ungarische Botschafter gesagt hat, wird seine Regierung auf einer anderen Formel bestehen, die das österreichisch-türkische Protokoll erwähnt und die Annexion als eine vollzogene Tatsache anerkennt, die weiter nicht in Frage gestellt werden kann. Eine derartige Forderung des Wiener Kabinetts läßt wenig Hoffnung auf eine gütliche Einigung, denn es erscheint zweifelhaft, daß sich in Serbien eine Regierung finden ließe, die dazu ihre Zustimmung gäbe. Wir haben unsererseits alles nur mögliche getan, um Serbien zu mäßigen; es scheint uns nun dringend notwendig, daß die Kabinette von Paris, 8 1 e b e r t , Benckendorff I .

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London und Rom ihren ganzen Einfluß in Wien und in Berlin geltend machen, um Aehrenthal zu einer versöhnlicheren Haltung zu bewegen. Iswolski.

40. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 27. Februar/12. März 1909. Ihr Telegramm Nr. 319 erhalten. Grey ist der Ansicht, man könne von Serbien nicht verlangen, es solle die Annexion anerkennen, ehe die Signatarmächte des Berliner Vertrags sich auf der Konferenz in dieser Frage ausgesprochen hätten. Er findet auch, daß die letzte serbische Zirkularnote, namentlich wenn Serbien alsbald seine Zustimmung zu direkten Verhandlungen mit Österreich über den Handelsvertrag gibt, das Wiener Kabinett befriedigen sollte. Wenn Mensdorff hier in demselben Sinne wie Berchtold mit Ihnen sprechen wird, wird Grey ihm in kategorischer Form seine Meinung zum Ausdruck bringen und hinzufügen, daß, wenn Österreich immer noch mit Serbien unzufrieden ist, dies nur bedeuten könne, daß Österreich überhaupt nicht zu befriedigen ist. Sollte eine solche Unterredung stattfinden, so wird Grey sofort die englischen Botschafter in Wien, Berlin, Paris, Rom und Petersburg hiervon in Kenntnis setzen. Poklewski-Koziell.

41. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 28. Februar/13. März 1909. In Ergänzung meines gestrigen Telegramms. Gestern hat der österreichische Botschafter in persönlicher Form

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Grey die Bemerkungen Aehrenthals über den Text der serbischen Zirkularnote mitgeteilt, und da von österreichischer Seite die Zurücknahme der Zirkularnote nicht verlangt und diese sogar als ein weiterer Schritt zur friedlichen Regelung der österreichisch-serbischen Beziehungen bezeichnet wurde, so hat auch die Antwort Greys einen viel weicheren Ausdruck gefunden. Mensdorff blieb bei seiner Meinung, daß, wenn Serbien die Frage der Annexion der Entscheidung der Mächte überläßt, es seinen eignen Erklärungen widerspricht, daß die Annexion Bosniens und der Herzegowina an den rechtlichen Beziehungen Serbiens zu Österreich nichts ändert. Das Wiener Kabinett ist der Ansicht, daß die Vereinbarungen der Türkei mit Österreich und Bulgarien die materielle Seite der Verletzung des Berliner Vertrags endgültig regeln und den Signatarmächten nur die formelle Sanktion der stattgefundenen Modifikationen übrigbleibt. Grey bestritt im Prinzip die letztere Auffassung und rechtfertigte den Standpunkt der serbischen Zirkularnote in den in meinem gestrigen Telegramm wiedergegebenen Ausdrücken. Ferner maß der österreichische Botschafter eine besondere Bedeutung der Antwort bei, die Serbien auf den Vorschlag direkter Verhandlungen wegen des Handelsvertrages geben wird, und fügte hinzu, daß Österreich sich nicht mit einem Versprechen Serbiens begnügen könne, freundnachbarliche Beziehungen mit Österreich „weiter zu pflegen", da das Wiener Kabinett, mit den jetzigen Beziehungen unzufrieden, diese zu ändern wünscht. Während der Unterredung hat Mensdorf! kein einziges Mal darauf angespielt, daß Österreich von Serbien eine formale Anerkennung der Annexion verlangen wird. Daher glaubt Grey, daß, wenn Mensdoril nicht speziell den Auftrag hatte, die Form seiner gestrigen Mitteilung an die englische Regierung zu mildern, Österreich-Ungarn sich mit einer günstigen Antwort auf die Vorschläge Forgachs wahrscheinlich begnügen wird, wenn dieser Antwort eine allgemeine Erklärung hinzugefügt wird, daß Serbien gutnachbarliche Beziehungen zu Österreich zu 5*



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unterhalten wünscht. Mensdorff hat angedeutet, die serbische Regierung könnte sich hinsichtlich der Fassung dieser Antwort mit dem österreichischen Gesandten in Belgrad verständigen, und Grey hat keine Bedenken, diesen Vorschlag anzunehmen. Serbien müßte jedoch die Anerkennung der Annexion entschieden ablehnen, wenn diese von ihm bei dieser Gelegenheit verlangt werden sollte. Poklewski-Koziell.

42. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Sofia an den russischen Außenminister vom 28. Februar/13. März 1909. Wie der serbische Geschäftsträger mitteilte, ist der serbische Außenminister Milowanowitch mit seinem zweitägigen Aufenthalt in Sofia sehr zufrieden. Aus seinen Unterredungen mit dem Zaren, den Ministern und anderen politischen Persönlichkeiten hat er den Eindruck gewonnen, daß beide Staaten gemeinsame politische Interessen haben, die auf die Notwendigkeit einer engeren Verbindung hinweisen. Der Zar erwähnte ihm gegenüber den unauslöschbaren Eindruck, den seine Petersburger Reise auf ihn gemacht habe, und wies darauf hin, daß die militärische Kraft und das lebhafte Interesse für das Schicksal der südslawischen Völker in Petersburg wieder auflebe. Alles was vom serbischen Außenminister persönlich gesagt worden ist, stimmt mit dem oben Ausgeführten überein. Straudtmann.

43. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 2./15. März 1909. — Nr. 337. In Beantwortung der Mitteilung des Wiener Kabinetts, die dem österreichisch-türkischen Protokoll beigefügt war,

— 69 — habe ich heute Berchtold eine Note übergeben, in der ich den Empfang der beiden Schriftstücke bestätigte und mich alsdann folgendermaßen äußerte: „Indem der Unterzeichnete Euerer Exzellenz den Gedankenaustausch, der im November und Dezember letzten Jahres zwischen den Kabinetten von Wien und Petersburg stattgefunden hat, in Erinnerung bringt und besonders auf die Mitteilungen vom 9. November und 6. Dezember bezug nimmt, hält er es für Beine Pflicht, nochmals festzustellen, daß nach Ansicht der Kaiserlich Russischen Regierung eine direkte Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei die Notwendigkeit nicht ausschließt, die Frage Bosniens und der Herzegowina einer Konferenz der Signatarmächte des Berliner Vertrags zu unterbreiten. Die russische Regierung ist also bereit, sich schon jetzt mit Österreich-Ungarn und den andern Signatarmächten ins Einvernehmen zu setzen, um das definitive Zusammentreten der Konferenz herbeizuführen, welche sich sowohl mit der bosnisch-herzegowinischen Frage, als auch mit den andern Punkten des von allen Mächten angenommenen Programms zu beschäftigen hätte." Bringen Sie bitte den Inhalt dieser Mitteilung zur Kenntnis der englischen Regierung. Iswolski.

44. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 3./16. März 1909. Grey bedauert außerordentlich, daß die serbische Regierung in ihrer dem Wiener Kabinett gegebenen Antwort die Ratschläge Rußlands und der übrigen Mächte nicht genügend berücksichtigt und versäumt hat, eine vorteilhafte diplomatische Position einzunehmen, die Österreich jeden Vorwand zum Mißvergnügen genommen hätte. Man hat hier keine authentischen Nachrichten über die weiteren Ab-



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sichten Österreichs. Die letzten Berichte des englischen Botschafters in Wien weisen auf eine versöhnlichere Stimmung Aehrenthals hin und Cartwright glaubt sogar, daß Österreich, ehe es zu schroffen Maßregeln gegen Serbien greift, sich noch mit einer Mitteilung an die Mächte wenden wird. Grey hält es für ziemlich wahrscheinlich, daß die serbische Regierung aus Erwägungen der inneren Politik nur einem energischen Drucke der Mächte nachgeben will. Die englische Regierung wird, wenn nötig, sich an einem solchen Druck beteiligen, und sie wird auf jeden Fall in Belgrad mit allen Mitteln jede russische Initiative unterstützen, die bezwecken würde, die serbische Regierung zu einer Antwort zu bewegen, die den Wünschen des Wiener Kabinetts entspricht. Grey glaubt jedoch, diese Antwort müßte sich auf Versicherungen der Friedensbereitschaft, auf die Äußerung des Wunsches gutnachbarlicher Beziehungen und auf die Bereitwilligkeit beschränken, unmittelbare Verhandlungen über Fragen rein wirtschaftlicher Natur aufzunehmen, die die Interessen der beiden Staaten betreffen. Pökle wski-Koziell.

45. Vertrauliches Schreiben des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 4./17. März 1909. Aus meinen während der letzten zwei Wochen übersandten Geheimtelegrammen und aus den Unterredungen mit Sir A. Nicolson wird Euerer Exzellenz der Standpunkt der englischen Regierung zu den verschiedenen Phasen der serbisch-österreichischen Krise bekannt sein, und ich erlaube mir daher diese Frage jetzt nur kurz zu erwähnen. Man war hier überzeugt, daß die serbische Zirkularnote, im Sinne der Ratschläge der russischen Regierung verfaßt, ihren Zweck erreichen würde. Die trockene und abweisende Form aber,

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welche das Belgrader Kabinett diesem diplomatischen Dokument gab, hat auf die englische Regierung keinen sehr günstigen Eindruck gemacht. In Anbetracht dessen jedoch, daß die Zirkularnote wertvolle friedfertige Erklärungen enthält, hoffte Grey, daß die redaktionellen Fehler der serbischen Note durch neue Versicherungen von Seiten Serbiens gutgemacht werden würden; diese hätten dahin gehen sollen, daß Serbien gutnachbarliche Beziehungen mit Österreich zu unterhalten wünscht. Eine solche Gelegenheit bot sich, als Serbien den österreichischen Vorschlag direkter Verhandlungen über den Handelsvertrag zu beantworten hatte. Nach seiner Unterredung mit Mensdorfl, über welche ich seinerzeit Eurer Exzellenz berichtet habe, hatte Grey den Eindruck, daß ein derartiges Vorgehen Serbiens das Wiener Kabinett befriedigt und Serbiens internationale Stellung bedeutend gestärkt haben würde. Serbien hätte auf diese Weise die Möglichkeit gehabt, unter dem Schutz der Mächte die Annexionen nicht anzuerkennen, aber gleichzeitig die Gefahr abzuwenden, auf weitere Forderungen Österreichs eingehen zu müssen. Leider hat die serbische Regierung diese Hoffnung nicht erfüllt. Nachdem Milowanowitch mit Forgach einen Meinungsaustausch über die Redaktion der serbischen Antwort begonnen hatte, schickte er unter Umgehung des österreichischen Gesandten in Belgrad diese Antwort plötzlich nach Wien, und teilte außerdem ihren Inhalt der Presse mit, ehe sie noch dem Wiener Kabinett bekannt geworden war. Abgesehen hiervon war auch die Antwort selbst taktlos: statt freundschaftlicher Versicherungen — die Wiederholung der Ausdrücke der Zirkularnote, die in Wien nicht gefallen hatten, und statt einer kurzen Darlegung der Wünsche Serbiens hinsichtlich des Handelsvertrages — eine lange Lektion an das Wiener Kabinett, wie diese Frage in den beiden Parlamenten der Donaumonarchie behandelt werden soll. Die englische Regierung ist sich natürlich nach wie vor darüber klar, daß Österreich gegen Serbien mehr Nachgiebigkeit und Wohlwollen zeigen könnte. Aber man weiß hier



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sehr wohl, daß zur Beilegung eines Konflikts zwischen zwei Staaten von so verschiedener Größe und Macht, wie Österreich und Serbien, der schwächere mehr guten Willen zeigen müsse, als Serbien dies bis jetzt hat tun wollen. Augenblicklich ist Sir Edward Grey hinsichtlich der Zukunft beunruhigt, doch kann ich nicht sagen, daß er die Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des österreichischserbischen Konfliktes aufgibt. Seiner Ansicht nach hängt die Zukunft ausschließlich davon ab, ob Österreich Krieg oder Frieden will, und er sieht absolut keinen Grund zur Annahme, daß Österreich einen bewaffneten Konflikt herbeizuführen wünscht. Abgesehen davon, das es unmöglich ist, mit Bestimmtheit vorauszusehen, wieviel Staaten in diesen Krieg hineingezogen werden würden, liegt auch ein Kampf mit Serbien allein kaum in den Absichten Aehrenthals, da sogar ein solcher Kampf sehr bedeutende Opfer an Menschen und Material erfordern würde. Auch der englische Botschafter in Wien hat in letzter Zeit mehrmals auf eine versöhnlichere Stimmung im österreichisch-ungarischen Ministerium des Äußern hingewiesen, und deshalb hofft Grey, daß Österreich nicht ohne weiteres zu radikalen Maßnahmen gegen Serbien greifen wird. Er glaubt, daß das Wiener Kabinett jetzt entweder von den Mächten oder aber auch von Serbien selbst Erklärungen erbitten wird, jedoch nicht in der Form eines Ultimatums, und dies wird nicht allein dem Belgrader Kabinett die Möglichkeit geben, sich zu besinnen, sondern auch den Serbien freundschaftlich gesinnten Mächten erlauben, auf dieses einen mäßigenden und beruhigenden Einfluß auszuüben. Wenn diese Hoffnung sich erfüllt, so rechnet die englische Regierung darauf, daß Rußland seine großmütigen Anstrengungen in Belgrad zugunsten des allgemeinen Friedens fortsetzen wird, wobei es stets auf die Unterstützung des Londoner Kabinetts rechnen kann. In letzter Zeit kommt Grey immer mehr und mehr zu der Überzeugung, daß König Peter und die serbische Regierung aus Furcht vor inneren Erschütterungen sich nicht entschließen werden, einem freund-

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schaftlichen Rate Folge zu leisten, sondern zu zeigen wünschen, daß sie zu dieser Nachgiebigkeit durch einen energischen Druck der Mächte gezwungen worden sind. Im Interesse des Friedens wäre die englische Regierung bereit, sich an einem solchen Schritte zu beteiligen, aber natürlich unter der Bedingung, daß er von Rußland gutgeheißen wird. Poklewski-Koziell.

46. Telegramm des russischen Außenministers an die Botschafter in London und Paris vom 4./17. März 1909. — Nr. 356. Der deutsche Botschafter hat hier soeben im Auftrage des Fürsten Bülow einen vertraulichen Schritt unternommen, der zum ersten Male seit dem Ausbruch der Krise auf den Wunsch des Berliner Kabinetts hinzuweisen scheint, ein Mittel zu finden, um die Lage zu entspannen. Graf Pourtalös hat mir erklärt, die deutsche Regierung sei bereit, beim Wiener Kabinett zu sondieren, um zu erfahren, ob dieses einverstanden sei, den Mächten die Übereinkunft mit der Türkei mitzuteilen und ihnen die formelle Sanktion zur Änderung des Artikels 25 des Berliner Vertrages zu unterbreiten. Diese Sanktion könnte auf dem Wege eines Notenaustausches stattfinden. Wenn das Petersburger Kabinett sich dieser Auffassung anschließt, so würde die deutsche Regierung allein oder gemeinsam mit Rußland, die anderen Mächte auffordern, diesen modus procedendi anzunehmen, welcher dem Grundsatz der europäischen Sanktion, den Rußland unterstützt, genügte und letzterem gleichzeitig erlauben würde, in Belgrad eine energischere Sprache zu führen. Ich habe dem Grafen Pourtalös für diese freundschaftliche Mitteilung gedankt und mich darauf beschränkt, zu bemerken, daß der deutsche Vorschlag auf den ersten Blick hin eine Konferenz auszuschließen scheine und Österreich die Möglichkeit gäbe,



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wenn einmal die Annexion von den Mächten anerkannt worden ist, sich der Lösung der anderen Punkte des Programmes zu entziehen und Serbien in seine Gewalt zu bekommen. Ich fügte jedoch hinzu, daß ich den versöhnlichen Geist der Mitteilung des Grafen Pourtates anerkenne, und daß ich den Vorschlag reiflich überlegen würde. Es will mir scheinen, man müsse dies erste Bestreben Deutschlands, eine Entspannung herbeizuführen, ermutigen, und man könnte diesen Vorschlag unter der Bedingung im Prinzip annehmen, daß man dieses Einverständnis von der Form des beabsichtigten österreichischen Schrittes abhängig machen und Garantien für die Einberufung der Konferenz verlangen müßte. Teilen Sie obiges dem Minister des Äußern vertraulich mit. Wenn er meine Ansicht teilt, werde ich eine Antwort in diesem Sinne entwerfen und sie den Kabinetten von Paris und London mitteilen, ehe ich sie nach Berlin absende. Iswolski.

47. Telegramm des russischen Außenministers an die Botschafter in London und Paris vom 4./17. März 1909. — Nr. 363. Wie wir erfahren, ist die serbische Antwort auf die Mitteilung des Grafen Forgach in Wien nicht als befriedigend anerkannt worden. Ohne in die Prüfung der Einzelheiten dieser Antwort eintreten zu wollen, glauben wir feststellen zu müssen, daß diese ohne uns abgefaßt worden ist und keineswegs den Ratschlägen, die in Belgrad erteilt wurden, entspricht; es scheint jedoch, daß das Wiener Kabinett beabsichtigt, die Verhandlungen mit Belgrad fortzusetzen, und es steht zu erwarten, daß Forgach der serbischen Regierung eine neue Mitteilung zukommen lassen wird. Wir haten die Absicht, in diesem Falle unsern ganzen Einfluß geltend zu machen, um zwischen der serbischen Regierung und dsm



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österreichischen Gesandten ein Einvernehmen zustande zu bringen, das sich auf die Abfassung einer beide Teile in gleicher Weise befriedigenden endgültigen Antwort bezieht, und wir hoffen, daß die Regierung, bei der Sie akkreditiert sind, uns im Interesse des allgemeinen Friedens hierbei unterstützen wird. Iswolski.

48. Telegramm des russischen Außenministers an die Botschafter in London und Paris vom 4./17. März 1909. — Nr. 364. Nr. 1. Unter Nr. 2 erhalten Sie den Entwurf meiner Antwort an das Berliner Kabinett, die ich in meinem Telegramm von heute morgen Nr. 356 resümiert habe. Fragen Sie den Minister des Auswärtigen, ob er mit meiner Antwort einverstanden ist. Iswolski.

49. Telegramm des russischen Außenministers an die Botschafter in London und Paris vom 4./17. März 1909. — Nr. 365. Nr. 2. Anbei der in meinem Telegramm Nr. 1 erwähnte Entwurf: Die russische Regierung hat nicht verfehlt, die vertrauliche Mitteilung des Berliner Kabinetts, deren freundschaftlicher Geist vollkommen gewürdigt wird, reiflich zu prüfen. Das Berliner Kabinett kennt alle Anstrengungen, die Rußland gemacht hat, um mäßigend auf die serbische Regierung einzuwirken. Wenn die Ratschläge der Kaiserlichen Regierung nicht in allen Punkten in Belgrad befolgt worden sind, so sind sie auch nicht ergebnislos geblieben, und das Kaiserliche Kabinett ist bereit, in demselben Sinne weiter zu handeln. Unglücklicherweise ist das



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Wiener Kabinett weit davon entfernt, den guten Willen, den Serbien trotz mannigfacher Schwierigkeiten bewiesen hat, anzuerkennen, und zeigt sich immer anspruchsvoller. Den letzten Nachrichten aus Wien zufolge muß man befürchten, daß der Krieg dort endgültig beschlossen ist. Wie dem auch sei, die russische Regierung hat seit Beginn der Krise nichts versäumt, um die friedliche Beilegung der schwebenden Streitfragen zu fördern; sie wird deshalb auch jetzt die Vorschläge des Berliner Kabinetts annehmen und, wenn Österreich einen Schritt in dem von der deutschen Regierung angenommenen Sinne unternimmt, das heißt, wenn es die Mächte um eine durch Notenaustausch zu erfolgende formelle Sanktion der Änderung des Artikels 25 des Berliner Vertrags bittet, so wird die russische Regierung es sich ihrerseits zur Pflicht machen, diesem Schritte mit dem aufrichtigen Wunsche entgegenzukommen, hierin die Grundlagen einer Lösung zu finden, die für alle Signatarmächte des Berliner Vertrags in gleicherweise befriedigend wäre. Iswolski.

60. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 4./17. März 1909. Die Lage verschärft sich. Die Nachrichten, die hier über verstärkte militärische Rüstungen Österreichs eintreffen, können Serbien veranlassen, zu ähnlichen Maßnahmen zu greifen. Diese würden von Österreich jedenfalls als Herausforderung angesehen werden. Andererseits ist die Königliche Regierung auf Grund der von Forgach abgegebenen Erklärung überzeugt, daß Österreich in seiner nächsten Mitteilung offen verlangen wird, Serbien solle vor allem die bosnisch-herzegowinische Frage auf Grund des österreichischtürkischen Protokolls für erledigt erklären, um sich auf diese Weise die Teilnahme an der Konferenz zu erleichtern. Ser-



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bien wird jedenfalls ebenso wie früher antworten, und dann würde der Zusammenstoß unvermeidlich sein. Simitsch glaubt, daß der einzige Ausweg aus dieser kritischen Lage darin besteht, daß die Großmächte auf die eine oder andere Weise Österreich verhinderten, direkt mit Serbien zu verhandeln. Der Minister glaubt, daß dies z. B. durch einen Kollektivschritt der Mächte in Belgrad erreicht werden könnte, wobei dem Belgrader Kabinett vorgeschlagen würde, abzurüsten. Diesem Verlangen würde die Regierung bedingungslos nachgeben und auf diese Weise Österreich in eine äußerst schwierige Situation Europa gegenüber versetzen. So sonderbar diese Ansicht des Ministers auch erscheinen mag, halte ich es dennoch für meine Pflicht, sie Ihnen mitzuteilen. Sergejew.

51. Telegramm, des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 4./17. März 1909. Die Antwort der serbischen Regierung auf die Mitteilung Forgachs hat in Wien nicht befriedigt. Auch die anderen Mächte sind der Ansicht, daß die Antwort den jetzigen Verhältnissen nicht entspricht. Man muß annehmen, daß Österreich jetzt noch energischere Forderungen an Serbien stellen wird. Wir sind sehr erstaunt, daß das Belgrader Kabinett, obwohl es augenscheinlich im Prinzip die Notwendigkeit, Österreich nachzugeben, eingesehen hat, unserm Rat nicht gefolgt ist, sich mit Forgach über die endgültige Antwort zu verständigen, die Österreich befriedigt hätte. Man darf nicht vergessen, daß das Wiener Kabinett bei jeder neuen Forderung seine Ansprüche erhöht, und daß auf diese Weise unsere Aufgabe, Serbien nach Möglichkeit bei den diplomatischen Verhandlungen mit den Mächten zu helfen, außerordentlich erschwert wird. Wie wir schon erklärt

— 78 — haben, kann die serbische Antwort, unter dem Drucke von Zwangsmaßregeln gegeben, auch wenn in ihr ein kategorischer Verzicht auf Bosnien und die Herzegowina enthalten ist, doch nicht eine entscheidende Bedeutung für das Schicksal dieser Provinzen haben. Diese Frage muß ausschließlich von den Mächten entschieden werden, und ihre Ansicht hängt nicht vom Standpunkte der serbischen Regierung ab, sondern stützt sich, wie in Belgrad wohl bekannt, auf Fragen des Rechts und die Notwendigkeit, unter den Mächten ein Einvernehmen zu erzielen. Teilen Sie dies der serbischen Regierung mit und sprechen Sie ihr gegenüber die Erwartung aus, daß sie diese Erwägungen bei der Redaktion der endgültigen Antwort auf die Mitteilung in Betracht ziehen wird, die Forgach wahrscheinlich in nächster Zeit machen wird. Iswolski.

52. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 6./19. März 1909. — Nr. 7. Fortsetzung meines gestrigen Telegramms. Der englische Botschafter in Petersburg ist telegraphisch beauftragt worden, Ihnen die Erwägungen seiner Regierung anläßlich des deutschen Vorschlages und unserer Antwort mitzuteilen. Der allgemeine Eindruck ist der, daß der Vorschlag augenscheinlich in Wien inspiriert worden ist und die Absicht verfolgt, eine Konferenz unnötig zu machen; da die Konferenz auch im Entwurf unserer Antwort nicht erwähnt wird, so würde die Annahme des deutschen Vorschlags dahin führen, daß die Konferenz durch einen Notenaustausch ersetzt würde. England hat sich für eine Konferenz hauptsächlich deshalb ausgesprochen, weil Rußland dies wünschte; wenn die russische Regierung es jetzt für möglich hält, auf diesen Gedanken zu verzichten, so ist auch

— 79 — die englische Regierung bereit, sich mit einem Notenaustausch hinsichtlich folgender Fragen zu begnügen: Bosnien, Herzegowina, Türkei-Bulgarien und die Ungültigkeitserklärung des Artikels 29 des Berliner Vertrags, der sich auf Montenegro bezieht. Grey ist jedoch der Ansicht, die russische Regierung müßte noch mit einer Antwort auf den deutschen Vorschlag warten, bis die augenblickliche österreichisch-serbische Krise eine Lösung gefunden hat. Hardinge machte die Bemerkung, daß die in Ihrer Antwort enthaltenen Worte über die Befürchtung, daß man sich in Wien endgültig für den Krieg entschieden habe, kaum der jetzigen Lage der Dinge entsprechen. Poklewski-Koziell.

53. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 9./22. März 1909. — Nr. 10. Aehrenthal hat dem englischen Botschafter in Wien den Entwurf einer serbischen Note mitgeteilt, die Österreich befriedigen würde. Vor allem wird verlangt, Serbien solle zugeben, daß die Annexion Bosniens die serbischen Rechte nicht verletzt habe, und versprechen, daß es in Zukunft seine bisherige Politik der Opposition und der Proteste gegen die Annexion aufgeben werde. Grey hat in Wien mitteilen lassen, daß eine solche Forderung erniedrigend sei und eine Entschuldigung für das frühere Benehmen bedeute. Aehrenthal bestand auf seinem Standpunkt, gab aber zu verstehen, daß Österreich den englischen Vorschlag annehmen würde, wenn die Mächte, wenn auch einzeln und in nicht offizieller Form, ihre Zustimmung zur Annexion geben würden. Grey meint, daß diese letzte Frage mit dem österreichisch-serbischen Konflikt nicht in Zusammenhang gebracht werden dürfe, und beabsichtigt morgen, falls sich die Lage bis dahin



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nicht geändert haben sollte, Aehrenthal den Entwurf einer Note mitzuteilen. Cartwright wird dabei beauftragt werden, zu erklären, daß dies der letzte Versuch der Mächte ist, Österreich mit Serbien zu versöhnen, und er wird auf die Verantwortung hinweisen, die auf Österreich fallen würde, wenn es so weitgehende Garantien der versöhnlichen Absichten Serbiens abweisen würde. Wenn Aehrenthal den englischen Entwurf annimmt, so müßten die Vertreter der anderen Mächte ihre Zustimmung geben. Hardinge beriet sich heute gleichzeitig mit dem französischen Botschafter und mir, und wir beide haben uns erlaubt, der Meinung Ausdruck zu geben, daß die englische Note nichts enthalte, was der Ansicht unserer Regierungen widersprechen würde. Hardinge und Cambon haben beide sich dahin geäußert, daß man allzu großen Forderungen Aehrenthals mit Festigkeit begegnen müsse. Poklewski-Koziell.

54. Telegramm des russischen Außenministers an die russischen Vertreter in London und Paris vom 10./23. März 1909. — Nr. 409. Ich übersende Ihnen unter Nr. 2 eine neue Mitteilung, welche mir der deutsche Botschafter gemacht hat. Bei dieser Gelegenheit hat Graf Pourtales hinzugefügt, daß eine ablehnende oder sogar ausweichende Antwort unsererseits zur Folge haben würde, daß Deutschland „den Dingen freien Lauf lassen und uns für die Folgen verantwortlich machen würde"; er hat mir gleichzeitig zu verstehen gegeben, daß der Erfolg der englischen Schritte in Wien ausschließlich von unserer Aufnahme des Bülowschen Vorschlages abhänge. Wir haben es also augenscheinlich mit einer keinen Widerspruch zulassenden Aktion zu tun, die zwischen Wien und Berlin vereinbart worden ist und dazu dient, uns vor folgende Alternative zu stellen: unverzüg-



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liehe Regelung der Annexionsfrage durch Notenaustausch oder Einmarsch in Serbien. Angesichts der großen Gefahr, die ein österreichisch-serbischer Konflikt sowohl für uns, als auch für den allgemeinen Frieden bedeuten würde, und um Serbien zu retten, haben wir keine andere Wahl, als den deutschen Vorschlag anzunehmen. Ich habe folglich auf Befehl des Kaisers dem deutschen Botschafter erklärt, daß, wenn das Wiener Kabinett den in der deutschen Mitteilung angedeuteten Schritt macht, die russische Regierung ihn mit der bedingungslosen und formellen Annahme des Vorschlages beantworten würde. Ich habe hinzugefügt, daß wir bei diesem neuen Beweis unseres Willens, die Krise zu lösen, hoffen dürften, daß das Berliner Kabinett seinen ganzen Einfluß aufbieten wird, um Wien zu bestimmen, sich bei den Verhandlungen der Mächte über die serbische Erklärung, welche auf englische Initiative stattfinden, versöhnlich zu zeigen. Wenn Sie das oben Angeführte dem Minister des Auswärtigen mitteilen, seien Sie bitte darauf bedacht, das große Opfer zu betonen, welches wir der Sache des Friedens bringen; die Kabinette von Berlin und Wien verfolgen augenscheinlich das Ziel, eine Konferenz zu vermeiden. Obwohl wir uns in diesem Augenblicke der Erwähnung der Konferenz enthalten, haben wir doch durchaus nicht die Absicht, auf sie zu verzichten, und wir sind der Ansicht, daß der in Berlin vorgeschlagene Notenaustausch diese Möglichkeit nicht ausschließt. Ich ersuche Sie, mir mitzuteilen, wie der Minister des Auswärtigen den Vorschlag des Fürsten Bülow aufzunehmen beabsichtigt. Iswolski.

55. Telegramm des russischen Außenministers an die Vertreter in London und Paris vom 10./23. März 1909. Nr. 2. Der deutsche Botschafter hat mir mündlich und vertraulich folgende Mitteilung gemacht: „Die deutsche S t e b e r t , Benckendortt. I .

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Regierung nimmt mit Befriedigung davon Kenntnis, daß die russische Regierung den freundschaftlichen Geist des von Deutschland unternommenen Schrittes anerkennt, und daß die Kabinette geneigt zu sein scheinen, den ihnen gemachten Vorschlag anzunehmen. Die deutsche Regierung ist bereit, sich schon jetzt an das Wiener Kabinett zu wenden und ihm vorzuschlagen, die Mächte unter Bezugnahme auf die Notifizierung der österreichisch-türkischen Übereinkunft um ihre formelle Zustimmung zur Annullierung des Artikels 25 des Berliner Vertrags zu bitten. Ehe jedoch das Berliner Kabinett diesen Schritt in Wien unternimmt, möchte es die Gewißheit haben, daß das Petersburger Kabinett fest entschlossen ist, den österreichischen Vorschlag anzunehmen und seine bedingungslose formelle Zustimmung zur Annullierung des Artikels 25 zu geben." Im Auftrage des Kaisers habe ich dem Grafen Pourtates mündlich und vertraulich wie folgt geantwortet: „Das Berliner Kabinett hat die Kaiserliche Regierung benachrichtigt, daß es bereit sei, dem Wiener Kabinett vorzuschlagen, die Mächte unter Bezugnahme auf die Notiiizierung der österreichisch-türkischen Übereinkunft, um ihre formelle Zustimmung zur Annullierung des Artikels 25 des Berliner Vertrags zu bitten. Die russische Regierung hat keine Bedenken, zu erklären, daß sie, wenn das Wiener Kabinett eine solche Anfrage an die Mächte richten sollte, nicht verfehlen wird, ihre bedingungslose formelle Zustimmung zu geben. Indem wir diesen neuen Beweis unseres Wunsches, die Krise zu lösen, geben, hoffen wir, daß das Berliner Kabinett seinen ganzen Einfluß aufbieten wird, um Wien zu bestimmen, sich bei den Verhandlungen, welche zwischen den Mächten auf Grund englischer Initiative stattfinden, versöhnlich zu zeigen, um eine Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und Serbien herbeizuführen." Iswolski.

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Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Berlin an den russischen Außenminister vom 11./24. März 1909. — Nr. 22. Die Antwort, die Euere Exzellenz gestern dem Grafen Pourtales gegeben haben, hat in der Wilhelmstraße die größte Befriedigung hervorgerufen. Kiderlen betrachtet sie als die erste Etappe einer friedlichen Lösung der Krise. Berlin hat die Kabinette von Paris, London und Rom benachrichtigt, daß die deutsche Regierung bei Rußland angefragt habe, wie es eine österreichische Anfrage wegen der Anerkennung der österreichisch-türkischen Übereinkunft und der Änderung des Artikels 25 des Berliner Vertrags aufnehmen würde. Da Petersburg eine günstige Antwort gegeben habe, möchte die deutsche Regierung gern wissen, welche Aufnahme ein gleicher Schritt des Wiener Kabinetts in London, Paris und Rom finden würde. Kiderlen ist der Ansicht, daß eine solche Lösung die Möglichkeit des Zusammentritts der Konferenz nicht ausschließt, und daß diese sich außer mit der Sanktion der Annullierung des Artikels 25 auch noch mit der bulgarischen und montenegrinischen Frage zu befassen haben würde. Kiderlen lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen Artikel der „Kölnischen Zeitung", der heute abend erscheinen wird, und dessen Ton, wie ich verstanden habe, bedeutend von dem abweicht, was in letzter Zeit selbst von der offiziösen Presse über unsere Politik geschrieben worden ist. Diese Wendung zum Besseren ist augenscheinlich das Resultat Ihrer Verhandlungen mit Pourtales. Der in Frage kommende Artikel erwähnt in keiner Weise die vorhergehenden Verhandlungen, die Kiderlen nicht in der Presse erörtert zu sehen wünscht. Bulatzell.

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Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in Berlin vom 13./26. März 1909. — Nr. 425. Von der französischen Botschaft in Petersburg mitgeteiltes Telegramm Pichons: „Radolin hat mir die von der russischen Regierung getroffene Entscheidung, die Annullierung des Artikels 25 bedingungslos anzunehmen, mitgeteilt. Er hat mich gefragt, ob wir bereit wären, eine österreichische Anfrage in derselben Weise zu beantworten; er hat hinzugefügt, die deutsche Regierung betrachte den Entschluß des russischen Außenministers als einen wichtigen Schritt zur friedlichen Lösung der Krise, und er glaube, daß das vorgeschlagene Verfahren die in Belgrad in Aussicht genommenen Schritte aufs wirksamste unterstützen würde. Ich habe geantwortet, daß wir keine Bedenken haben zu erklären, daß wir, wenn Österreich uns bitten würde, unsere bedingungslose Zustimmung zu geben, ebenso wie es Rußland getan hat, eine bejahende Antwort geben würden. Aber da diese Antwort unserem Wunsche entspringt, die höheren Interessen des allgemeinen Friedens zu wahren, so bitten wir unsererseits die österreichische Regierung dringend, diese Anfrage nur dann an uns zu richten, wenn die Verhandlungen, die soeben in Wien zur Beilegung des Konfliktes mit Serbien geführt werden, Erfolg gehabt haben werden. Soweit wir wissen, hat Iswolski den von dem österreichischen Außenminister vorgeschlagenen Entwurf der von Serbien verlangten Antwort mit sehr leichten Änderungen angenommen. Es handelt sich folglich nur um einen ganz kurzen Aufschub, und es würde uns sehr freuen, wenn wir dies Zugeständnis von der österreichischen Regierung erhielten". Iswolski.

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Telegramm, des russischen Geschäftsträgers* in Berlin an den russischen Außenminister vom 13./26. März 1909. — Nr. 24. Man hat soeben in Berlin die Antworten erhalten, wie London, Paris und Rom die von Deutschland vorgeschlagene österreichische Anfrage aufnehmen würden. Die römische Antwort wird hier als befriedigend betrachtet. Die aus Paris befriedigt weniger, aber sie schließt die Möglichkeit einer Zustimmung nicht aus. Die Antwort aus London hat in der Wilhelmstraße Enttäuschung hervorgerufen. Man nimmt an, daß die deutschen Botschafter in Paris und London den Gedanken, welcher dem deutschen Vorschlag zugrunde liegt, nicht deutlich genug erklärt haben, nämlich, daß die Anerkennung der Annexion durch die Mächte diesen die gemeinsame Aktion in Belgrad erleichtern würde. Erläuternde Instruktionen sind an Radolin und Metternich abgegangen. Baron Schön hat mir seine Enttäuschung darüber nicht verhehlt, daß der deutsche Schritt in London keinen Erfolg gehabt hat, weil Grey darauf besteht, daß der Schritt der Mächte in Belgrad der Anerkennung der österreichisch-türkischen Übereinkunft vorangehen müsse. Bulatzell.

59. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in Berlin vom 13./26. März 1909. — Nr. 429. Ich lasse Ihnen die Antworten der Kabinette von Paris und London auf den deutschen Vorschlag zukommen. Wir folgern aus ihnen, daß England und Frankreich die Bülowsche Fassung mit einigen Vorbehalten, die aber den Grund der Frage nicht berühren, annehmen. Da die Nachrichten über kriegerische Vorbereitungen Österreichs nach wie vor beunruhigend sind, so scheint es uns notwendig, die Verhand-



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hingen, die in Wien über die Form der serbischen Erklärung geführt werden, möglichst schnell zum Abschluß zu bringen. Wir hoffen, daß Aehrenthal die geringen Änderungen, die nur die Form betreffen, annehmen wird. Ich habe nach Wien telegraphiert, daß wir bereit sind, die Fassung anzunehmen, die Aehrenthal mit Cartwright vereinbaren wird. Bitten Sie Baron Schön, auf Wien einzuwirken, damit die beiden schwebenden Fragen, d. h. die serbische Erklärung und Artikel 25 des Berliner Vertrags, möglichst schnell erledigt werden. Um die öffentliche Meinung zu orientieren, haben wir ein Communiqué veröffentlicht, ohne aber, wie Kiderlen es wünscht, die Verhandlungen mit Pourtalès zu erwähnen. Iswolski.

60. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 14./27. März 1909. — Nr. 19. Streng vertraulich. Cartwright hat gestern telegraphiert, Aehrenthal bäte die englische Regierung dringend, von Entgegnungen auf seine Fassung der serbischen Note abzusehen, da er schon von Ihnen die Zusicherung erhalten hat, daß Rußland im voraus jeden Wortlaut annimmt, der zwischen Wien und London vereinbart wird. Diese Versicherung Aehrenthals hat hier einen außerordentlich unangenehmen Eindruck hervorgerufen. Hardinge meint, daß, wenn diese. Erklärung richtig ist, die letzten englischen Bemühungen, eine günstigere Fassung der serbischen Note herbeizuführen, von vornherein aussichtslos sein mußten. Ich habe gesagt, daß mir nichts derartiges bekannt sei, und daß ich nur den Auftrag habe, die Instruktionen mitzuteilen, die unserm Geschäftsträger in Wien hinsichtlich der endgültigen Redaktion der Note gegeben worden sind. Poklewski-Koziell.



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61. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 19. März/1. April 1909. — Nr. 28. Der Telegraphistenstreik hat neben den Störungen des täglichen Lebens in Frankreich, auch auf die schwebenden politischen Verhandlungen einen außerordentlich ungünstigen Einfluß ausgeübt. Das Telegramm Euerer Exzellenz vom 4./17. März, welches den Bülowschen Vorschlag enthielt und die Grundlage für unsere spätere Anerkennung der Annexion bildete, habe ich erst nach einer Woche erhalten, zusammen mit einigen andern Telegrammen vom 3., 4. und 8. März. Ich habe nur ein Telegramm — ohne Nummer — rechtzeitig erhalten, das den Entwurf Ihrer Antwort auf den Bülowschen Vorschlag enthielt. Den Inhalt habe ich sofort dem Minister des Auswärtigen mitgeteilt; die ganze Angelegenheit und der Entschluß, der gefaßt werden mußte, waren jedoch so wichtig, daß Pichon, der hierüber keine Mitteilung weder aus Berlin noch aus Petersburg erhalten hatte, ohne Kenntnis von Einzelheiten keine bestimmte Ansicht äußern konnte. Trotzdem habe ich Ihnen sofort telegraphiert, daß Pichon Ihre Erwägungen hinsichtlich des Bülowschen Vorschlages vollkommen teilt. Als die telegraphische Verbindung wieder hergestellt war, hatte die ganze Frage unter dem Drucke der deutschen Regierung eine nicht mehr zu ändernde Wendung genommen. Obgleich Ihr Entschluß, die österreichisch-türkische Übereinkunft durch einen Notenaustausch anzuerkennen, von der zwischen Rußland, England und Frankreich getroffenen Abmachung, diese Frage auf einer Konferenz zu erörtern, abweicht, war die französische Regierung damit im großen und ganzen zufrieden, zumal dieser Entschluß zur friedlichen Lösung einer Krise beitrug, die zu einem bewaffneten Zusammenstoß zu führen drohte, dessen Ziel, wie ich Ihnen schon berichtet habe, der Bevölkerung nicht sympathisch war.



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Hier hat man die Größe unseres Opfers vollkommen verstanden, und die öffentliche Meinung dankt Ihnen für den tapfern Entschluß, mit diesem hohen Preise die Erhaltung des europäischen Friedens zu erkaufen. Im hiesigen Auswärtigen Amt war man jedoch unangenehm berührt, daß die russische Regierung, die bisher im Einvernehmen mit London und Paris gehandelt hatte, ihre Zustimmung nicht auch von derjenigen der andern Mächte abhängig machte, und daß die Anerkennung der Annexion Bosniens nicht von der Zustimmung Österreichs zu den Serbien betreffenden Vorschlägen der drei Mächte abhängig gemacht wurde. Auf diese Weise bestand die Gefahr eines Zusammenstoßes weiter, und nur durch die Hartnäckigkeit der englischen Regierung wurde das Wiener Kabinett genötigt, der vorläufigen Lösung des österreichisch-serbischen Konfliktes zuzustimmen. Alle diese Umstände, welche in der Presse einen lebhaften Widerhall gefunden haben, haben in der öffentlichen Meinung Europas zu einem sehr ungünstigen Urteil über uns geführt, und in Verbindung damit haben deutsche und österreichische Zeitungen mit Schadenfreude den glänzenden Erfolg der österreichischen Diplomatie unterstrichen und die vorherrschende Stellung der Doppelmonarchie auf dem Balkan betont. Entsprechend dieser Haltung der Dreibundpresse verlangen die öffentliche Meinung und einflußreiche politische Kreise in Frankreich und nach hier vorliegenden Nachrichten auch in England immer nachdrücklicher, daß zwischen Rußland, Frankreich und England, die im serbischösterreichischen Konflikt gemeinsam vorgegangen sind, eine immer größere Annäherung stattfinden solle. Die weitere Entwicklung der europäischen Lage voraussehend, kommen viele Zeitungen zu dem Schluß, daß die beiden Westmächte zusammen mit Rußland ebenso handeln sollten, wie es Deutschland tat, das sich und seinem Schützling Österreich, einen so glänzenden Erfolg verschafft hat, und darauf bedacht sein müßten, ihre Kräfte planmäßig zu entwickeln, um, wenn sie in der Lage sein werden, eine Herausforderung



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des Dreibundes nicht zu fürchten und — in diesem Falle würde Italien sich vom Dreibunde trennen — ihrerseits Forderungen geltend zu machen, die das politische Gleichgewicht wieder herstellen würden, das jetzt zugunsten Deutschlands und Österreichs verschoben worden ist. Die Erfahrung der letzten fünf Jahre hat gezeigt, daß eine derartige Politik nicht notwendigerweise zum Kriege führen muß. Während der Marokkokrise hat das enge Zusammenhalten des Zweibundes mit England in Algeciras das von Berlin ausgehende Streben nach einer Vormachtstellung zum Stehen gebracht. Auch jetzt ist das Übergewicht der einen Seite ohne Blutvergießen erreicht worden. Es handelt sich nur darum, ein enges Einvernehmen zwischen den Mächten herzustellen und fest entschlossen zu sein, ein weiteres aggressives Vorgehen des Dreibundes nicht zuzulassen, wobei man über genügend starke Kräfte verfügen muß, um Widerstand leisten zu können. Dies ist die Richtung, welche sowohl das Pariser, wie anscheinend auch das Londoner Kabinett ihrer Politik geben wollen, in der festen Überzeugung, daß auch die russische Politik dieses Ziel erstrebt, da die Verschiebung des europäischen Gleichgewichts Rußland am nächsten berührt. Die öffentliche Meinung Frankreichs ist mit einem solchen Plane völlig einverstanden, und sie wird die Regierung unterstützen, obwohl der Wunsch besteht, mit Deutschland in Frieden zu leben und die gegenseitigen kommerziellen und finanziellen Beziehungen zu entwickeln. Nelidow.

62. Vertraulicher Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 19. März/1. April 1909. — Nr. 30. Der von der österreichisch-deutschen Diplomatie in der Frage der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch



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die Habsburger Monarchie erzielte Erfolg stellt nicht allein ein wichtiges politisches Ereignis dar, welches die bisher allgemein anerkannte Unverletzbarkeit der Verträge ohne Einwilligung aller Kontrahenten zerstört hat. Dieses Ereignis hat außerdem das während der letzten 25 Jahre bestehende politische Gleichgewicht gestört und die Vorherrschaft Deutschlands und des von ihm geführten Dreibunds herbeigeführt. Es bedeutet für Rußland einen unbestreitbaren Beweis für die Gefahren, die von jeher alle Vereinbarungen mit der österreichisch-ungarischen Monarchie für uns dargestellt haben. Letztere fühlt sich durch keine Verpflichtungen gebunden, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet, die eigenen Interessen zu fördern. Ohne auf Beispiele entfernter Zeiten hinweisen zu wollen, braucht man nur auf die eilige Anerkennung der Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien — trotz der mit uns bestehenden Vereinbarung — hinzuweisen, ferner auf die Anerkennung der provisorischen bulgarischen Regierung und des Fürsten Ferdinand, wobei das Wiener Kabinett nicht verfehlt hat, diesen gegen Rußland aufzuhetzen. Die Frage der Eisenbahn durch den Sandschak von Nowibazar und die Annexion Bosniens und der Herzegowina sind die letzten Beweise der Hinterhältigkeit der österreichischen Diplomatie, welche der ganzen Welt bekannt geworden sind. Eine nicht mindere Gefahr würde für uns auch eine allzu große Annäherung an Deutschland bedeuten, welches jede politische Vereinbarung nur dazu benutzt, um seine Freunde und Verbündeten den eigenen Zielen und Absichten dienstbar zu machen. Natürlich müssen wir im Hinblick auf unsere geographische Lage mit dem Deutschen Reich in Frieden und gutnachbarlichen Beziehungen leben, aber nur unter der Bedingung der völligen Unabhängigkeit unseres Handelns und unserer Entschlüsse, da unsere politischen Ziele mit denen Deutschlands nicht übereinstimmen. Die letzte internationale Verwicklung, welche soeben einen für uns so ungünstigen Abschluß gefunden, und bei der das Berliner

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Kabinett, wenn nicht die führende, so doch die ausschlaggebende Rolle gespielt hat, ist ein Beweis dafür, daß die aufgeworfene Frage, obgleich die eigenen Interessen Deutschlands dabei nicht berührt waren, von der deutschen Diplomatie als ein Teil der allgemeinen historisch-politischen Bewegung aufgefaßt wurde, die die Unterwerfung des Slawentums unter das Germanentum im Auge hat, und die das Vordringen des Deutschtums in südlicher Richtung verfolgt, um durch Österreich die Vorherrschaft auf dem Balkan zu erringen. Obwohl von mancher Seite, hauptsächlich unter deutschem Einfluß, bei uns die Wichtigkeit der serbischen Sympathien für Rußland in Abrede gestellt und sogar die Möglichkeit der Bildung eines vereinigten südslawischen Reiches unter Führung Österreichs zugegeben wird, so beweist doch der Umstand, daß unsere Rivalen bestrebt sind, uns die Slawen zu entfremden, zwischen ihnen Zwietracht zu säen und sie in ihre Einflußsphäre hineinzuziehen, welche große Bedeutung sie diesem Machtfaktor beimessen, der in unseren Händen einen unverrückbaren Damm gegen den vordringenden Germanismus bilden würde. Die Deutschen und die Ungarn erblicken ihrerseits in den Slawen nicht nur ein minderwertiges Volk, das man unterwerfen und vernichten muß, sondern betrachten auch die von den Slawen bewohnte Balkanhalbinsel als den Weg, der zum Mittelmeer führt, wohin Deutschland schon lange vorzudringen versucht. Dieses Streben der mitteleuropäischen Reiche widerspricht sowohl unseren eignen Absichten als auch den Interessen unserer Bundesgenossen und Freunde, der Franzosen und Engländer. Die letzteren besonders sind darauf bedacht, den Weg zum Suezkanal und nach Indien zu schützen und sie halten es für nötig, jedem Versuche, diesen Weg abzuschneiden, entgegenzutreten. So hatte z. B. das im vorigen Jahre abgeschlossene Übereinkommen mit Spanien über die Erhaltung des status quo in den spanischen Gewässern seinen

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Ursprung in den nach London gelangten Nachrichten, Deutschland beabsichtige eine der spanischen Inseln im Mittelmeer zu erwerben, um dort eine Kohlenstation zu errichten. Für Frankreich wä,re es auch unbequem, wenn deutsche Seestreitkräfte in der Nähe seiner Küste erscheinen würden. Für Rußland wäre angesichts der Vormachtstellung Deutschlands in Konstantinopel die Anwesenheit einer deutschen Flotte im Mittelmeere ebenso gefährlich, wie die vorherrschende Stellung Englands in der Türkei es war, bis das von Ihnen mit London getroffene Übereinkommen die Möglichkeit etwaiger Zusammenstöße zwischen Rußland und England beseitigt hat. Alle diese Umstände weisen darauf hin, wie nötig für uns eine noch engere Annäherung an Frankreich und England ist, um gemeinsam dem weiteren deutschösterreichischen Vordringen auf dem Balkan entgegenzutreten. Ein solcher Widerstand braucht nicht unbedingt zu einem bewaffneten Zusammenstoß mit dem Dreibund zu führen. Ebenso wie Österreich, von Deutschland unterstützt, seine Streitkräfte zusammengezogen und Serbien bedroht hat, ohne auf die berechtigten Forderungen Europas zu hören, könnten auch wir, nachdem unsere militärische Macht wiederhergestellt ist, im Einvernehmen mit Frankreich und England, Österreich-Ungarn im günstigen Augenblicke zwingen, seinen Balkanplänen zu entsagen und den jetzt unterworfenen Serben die Handlungsfreiheit wiederzugeben. Die Erfahrung der letzten Krise hat bewiesen, daß bei der Kriegsbereitschaft in Friedenszeiten diplomatische Fragen nur durch Drohungen und starken Druck gelöst werden können. Die Kunst der Diplomatie besteht darin, den günstigen Augenblick auszuwählen und die günstige allgemeine Lage zu benutzen, um im Bewußtsein der eignen Kraft bis zum Ende durchzuhalten. Auf diese Weise werden wir unbedingt den tiefen Eindruck abschwächen können, den unser Mißerfolg jetzt hervorgerufen hat, und ebenso wird es uns allmählich gelingen, die uns stammverwandten Balkanvölker von dem österreichisch-deutschen Einflüsse zu befreien.

— 93 — Im jetzigen kritischen AugenbUck halte ich es für meine Pflicht, auf die Linie unserer Politik hinzuweisen, die meiner festen Überzeugung nach allein unsern Interessen entspricht und gleichzeitig sowohl von der französischen als auch, wie ich glaube, von der englischen Regierung unterstützt werden wird. Nelidow.

63. Vertrauliches Schreiben des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 19. März/1. April 1909. In der Presse sind in diesen Tagen die für die Regierung äußerst verletzenden Beschuldigungen erhoben worden, Frankreich habe seine Verpflichtungen gegen Rußland nicht erfüllt, und es habe letzteres auf diese Weise gezwungen, den Forderungen des Wiener Kabinetts, das von Deutschland unterstützt wurde, nachzugeben. Pichon hält diese Anschuldigung für völlig grundlos, hat sie durch Havas dementieren lassen und hierbei hervorgehoben, daß sowohl Frankreich, als auch England gemeinsam mit Rußland während der ganzen Krise die von Anfang an beschlossene Politik befolgt haben. Der „Temps" hat diesen Gedanken in dem beigefügten Leitartikel weiter entwickelt. Zu dem, was ich Euerer Exzellenz bereits berichtet habe, glaube ich hinzufügen zu sollen, daß sich die hiesige Regierung nach meinen durchaus sicheren Informationen nicht allein auf diplomatische Maßnahmen beschränkt hat. Der französische Botschafter in Berlin hat die Aufmerksamkeit Pichons darauf gelenkt, daß Deutschland und Österreich so entschieden vorgehen, weil sie überzeugt sind, daß Rußland sich auf keinen Fall zum Kriege entschließen, und daß aller Wahrscheinlichkeit nach England und Frankreich sich einer Teilnahme am Kriege enthalten würden, selbst wenn Rußland in ihn hineingezogen werden sollte. Jules Cambon hat



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hinzugefügt, es wäre notwendig, irgendwelche militärischen Maßnahmen zu treffen, die zeigen würden, daß Frankreich entschlossen ist, seinen Bündnisvertrag mit Rußland zu erfüllen. Außerdem wies er auf den ungünstigen Eindruck hin, den die Worte eines englischen Ministers hervorgerufen hätten, wonach England nicht die Absicht habe, Serbiens wegen Krieg zu führen. Diese Betrachtungen, die hier beim Ausbruch des Telegraphistenstreikes bekannt wurden, sind sofort dem Ministerpräsidenten und mit besonderem Kurier auch nach London weitergegeben worden. Infolgedessen wurde hier sofort die Verfügung getroffen, in den östlichen Armeekorps keine Urlaube zu erteilen, und es wurden verschiedene Truppenbewegungen und andere Maßregeln im Falle einer Mobilisation durchgeführt. In London hat man diese Erwägungen auch beherzigt, und man hat mit der französischen Regierung vereinbart, ein Geschwader zusammenzustellen, das sich im Bedarfsfalle bei Malta zu versammeln hätte. Die englische Admiralität hat auch noch andere Maßregeln im Auge gehabt. Inzwischen haben aber die Telegraphenagenturen ganz Europa von einer geheimen Sitzung des Ministerrats in Zarskoe Selo ausführlich benachrichtigt, in der die Minister der Finanzen, des Handels und des Krieges bewiesen hätten, daß es für Rußland vollkommen unmöglich sei, Krieg zu führen. Eine derartige öffentliche Bloßstellung unserer völligen Machtlosigkeit hat auf unsere Freunde einen niederschmetternden Eindruck gemacht, und sie mußte unsere Gegner ermutigen, an Rußland die rücksichtslosesten Forderungen zu stellen, in der festen Überzeugung, daß wir nachgeben werden. Die gemeinsam mit uns vorgehenden Kabinette von Paris und London haben aus allen diesen Umständen den von mir bereits hervorgehobenen Schluß gezogen, daß Rußland, Frankreich und England mehr denn je auf gemeinsames Handeln bedacht sein und ihre Kräfte sammeln müssen, um ihre Gegner zu überzeugen, daß sie es mit einer politischen Kombination zu tun haben, die sich Ach-

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tung zu verschaffen weiß und ihre berechtigten Forderungen durchsetzen wird. Nur so wird es möglich sein, das zugunsten des Dreibundes gestörte politische Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen und den von uns zeitweilig eingebüßten Einfluß auf die Slawen sowie unsere Stellung auf dem Balkan wiederzugewinnen, die wir benötigen, um die große uns von der Vorsehung vorgezeichnete historische Mission erfüllen zu können. Nelidow.

64. Vertrauliches Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Berlin an den Außenminister vom 20. März/2. April 1909. In Deutschland herrscht augenblicklich eine gehobene Stimmung, da man allgemein überzeugt ist, daß die Balkankrise dank der Energie der deutschen Politik und ihrer unerschütterlichen Treue zum Bundesgenossen eine friedliche Lösung gefunden hat. Deutschland atmet frei auf, da es sich Österreich durch neue Dankbarkeit verpflichtet hat. Die Beziehungen zu Frankreich haben sich seit dem Abschlüsse des letzten Marokkoabkommens befriedigender gestaltet, und in der deutschen Einbildung sieht man bereits die Möglichkeit einer Zusammenkunft zwischen Kaiser Wilhelm und dem Präsidenten der französischen Republik. Die Furcht vor Isolierung beginnt zu schwinden. Deutschland fängt an, sich aus der schwierigen Lage zu befreien, in die es, wie es glaubte, nach Algeciras versetzt wurde. Die Befriedigung ist hier um so größer, als man der Ansicht ist, daß die Stellungnahme Deutschlands während der bosnischen Krise die beste Antwort auf die Bestrebungen seiner Feinde gewesen sei, den deutschen Einfluß im Rate



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der europäischen Mächte zu untergraben. Um sein Prestige wiederherzustellen, hat Deutschland nicht gezögert, sich auf die Seite Österreichs zu stellen und nötigenfalls zu den Waffen zu greifen. Nachdem die Gefahr beseitigt ist, vermeidet es die offiziöse Presse, diese Entschlossenheit zu betonen, obwohl sich in der letzten Kanzlerrede die Andeutung findet, daß Deutschland auch vor dem letzten Mittel nicht zurückgewichen wäre, wenn seine eigenen Interessen und die Österreichs es erfordert hätten. Die Theorie des „bewaffneten Friedens" ist die Grundlage der deutschen Realpolitik, und dieses Prinzip wendet Deutschland hauptsächlich England gegenüber an, wie dies die Debatten über die Flottenbauten gezeigt haben. Unter dem Schatten friedlicher Erklärungen arbeitet man ohne Unterlaß an der Steigerung der Seekriegsbereitschaft. Diese Arbeit verfolgt jedoch bis jetzt hauptsächlich Verteidigungsziele und soll zur Erhaltung des deutschen Ansehens dienen. Die furchtbare Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes mit allen seinen Folgen einsehend, haben die verantwortlichen Führer der deutschen Politik in letzter Zeit im Grunde genommen große Zurückhaltung bewiesen, und der Versuch des Berliner Kabinetts, seine Vermittlerrolle in den Hintergrund zu rücken und die friedliche Lösung der bosnischen Krise der Initiative der russischen Politik zuzuschreiben, ist in dieser Hinsicht bedeutsam. Allen Anzeichen nach richtet sich das Hauptbestreben der deutschen Regierung darauf, die vertraulichen Beziehungen zu Rußland wiederherzustellen und gleichzeitig zu beweisen, daß Deutschland ein wichtiger Faktor der Weltpolitik ist. Bulatzell.



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65. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 22. März/4. April 1909. — Nr. 503. Es will uns scheinen, daß die zustimmende Antwort auf die österreichische Anfrage hinsichtlich des Artikels 25 des Berliner Vertrags von jeder Macht einzeln gegeben werden muß. Wir haben mithin die Absicht, dem österreichisch-ungarischen Botschafter die folgende Antwortnote zu übergeben: „Der Unterzeichnete beehrt sich, Seiner Exzellenz dem österreichisch-ungarischen Botschafter Grafen Berchtold in Beantwortung der Note vom 21. März/3. April d. J. mitzuteilen, daß die russische Regierung ihre Zustimmung zur Annullierung des Artikels 25 des Berliner Traktates g i b t . . . " . Telegraphieren Sie uns bitte, ob die englische Regierung derselben Ansicht ist. Iswolski.

66. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 24. März/6. April 1909. — Nr. 29. Fortsetzung meines vorhergehenden Telegramms. Dieselben Erwägungen haben auch den Wortlaut der englischen Antwort beeinflußt, die gestern Mensdorff zu der Annullierung des Artikels 25 mitgeteilt worden ist. Diese englische Antwort, deren Text Nicolson für Sie telegraphisch mitgeteilt wurde, stellt noch keine definitive Zustimmung dar, da, wenn auch die vom Londoner Kabinett hinsichtlich Serbiens gestellten Bedingungen erfüllt sind, die hinsichtlich Montenegros es noch nicht sind. Diese Antwort stellt eine Bestätigung der durch Artikel 29 bedingten Zusage gemäß den Wünschen Italiens dar. Nach unserer Unterredung, in der ich mich auf die in Ihren letzten Telegrammen enthaltenen S i e b e r t, Beockendorfl. I. 7



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Informationen berufen habe, glaubt Grey, daß die Regelung dieser Frage keinen Schwierigkeiten begegnen wird. Er scheint sehr zu wünschen, daß die Angelegenheit dem Wunsche des Fürsten von Montenegro entsprechend geregelt wird. Benckendorff.

67. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 24. März/6. April 1909. — Nr. 30. Persönlich und streng vertraulich. Ich habe in der hiesigen öffentlichen Meinung gewisse Befürchtungen hinsichtlich der künftigen Orientierung der russischen Politik England gegenüber gefunden, und diese Befürchtungen scheinen mir sogar gewisse Kreise der Regierung ergriffen zu haben. Ich habe gestern eine günstige Gelegenheit benutzt, die sich mir infolge der freundschaftlichen Gesinnung Greys darbot, um ihm, allerdings vertraulich und in meinem eignen Namen, zu sagen, daß alles, was wir über den deutschen Schritt in Petersburg, der übrigens der hier gemachten deutschen Demarche ganz genau gleiche, wissen, trotz der Übei treibungen in der Presse und der Aufregung der öffentlichen Meinung in mir die feste Überzeugung hervorrufe, daß dieser Schritt eine Handlungsweise darstelle, die Rußland nicht leicht vergessen werde, und daß, wenn eines der indirekten Ziele dieses Schrittes darin bestanden habe, Zwietracht zwischen Rußland einerseits und Frankreich und England andererseits zu säen, dieser Zweck sicherlich nicht erreicht worden ist. Ich habe hinzugefügt, daß ich, ohne über Dinge urteilen zu wollen, die außerhalb meiner Kompetenz liegen, der Meinung Ausdruck geben möchte, daß die Pressenachrichten über Ihren Rücktritt jeder Grundlage entbehren. Benckendorff.



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68. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 26. März/8. [ April 1909. Persönlich und vertraulich. Hardinge hat ¡mir 'streng vertraulich ein Telegramm des englischen Botschafters in Petersburg gezeigt, in dem er über die Unterredung mit Ihnen berichtet. Der Eindruck ist sehr stark. Ihre Absicht zu demissionieren bedauert man außerordentlich, ebenso die Zweifel, die Sie über die weiteren Ziele der englischen Politik geäußert haben. Hierzu kann ich versichern, daß die englische Politik nie eine bestimmtere und deutlichere Grundlage gehabt hat. Dies gilt nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Öffentlichkeit. Der Zwischenfall, von dem Sie sprechen, im Laufe dessen die englische Regierung vielleicht mit zu wenig Umsicht gehandelt hat, kann doch in keinem Falle als Anzeichen einer Kursänderung betrachtet werden. Der Gedanke, der Grey geleitet hat, war sicherlich nicht der, die montenegrinische Frage dem Entschlüsse der Mächte zu entziehen. Da Italien zusammen mit England die einzige Macht gewesen ist, die bestimmte Bedingungen hinsichtlich Montenegros gestellt hat, so hat Grey zusammen mit Italien gehandelt. Dies mag ein Mangel an Umsicht und ein Formfehler gewesen sein, aber ich meine, man dürfe deswegen nicht die sehr energische Unterstützung vergessen, die uns England in schwierigen Verhältnissen hat angedeihen lassen. Ich telegraphiere Ihnen dies hauptsächlich in der Absicht, Ihren letzten Eindruck von der englischen Politik richtigzustellen. Meiner festen Überzeugung nach kann dies in keinem Falle ein Grund Ihres Rücktritts sein. In diesem Zwischenfall vermag ich keine wirkliche, grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zu erblicken. Übrigens hat die englische Unterstützung in Cetinje bereits aufgehört, was meiner Ansicht nach dem Zwischenfalle seine richtige Bedeutung gibt. Zum Schlüsse muß ich Sie beschwören, Ihre Folgerungen und 7*

Entschlüsse nochmals genau zu prüfen, denn diese könnten äußerst unheilvolle Folgen für unsere politische Lage nach sich ziehen. Benckendorff.

69. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 2./15. April 1909. Die Gefahr eines bewaffneten Zusammenstoßes wegen der Annexion Bosniens und der Herzegowina durch die Habsburger Monarchie und der Proklamation der bulgarischen Unabhängigkeit scheint beseitigt zu sein. Die wichtigsten internationalen Fragen, die durch das willkürliche Vorgehen des Wiener Kabinetts und der bulgarischen Regierung verursacht worden sind, sind im Prinzip geregelt. Es bleibt nur noch die Erfüllung der diplomatischen Formalitäten, die wohl kaum zu ernsten Verwicklungen führen werden. Die allgemeine Nervosität, die den Gang der Ereignisse in Europa beeinflußt hat, ist vom Gefühl einer gewissen Erleichterung abgelöst worden, das auch auf Börsenund Finanzfragen zurückgewirkt hat. Da dies zeitlich mit den Osterferien des Parlaments zusammengefallen ist, hat die Mehrheit der Minister den Vorwand der Tagung der Provinzialräte, deren Vorsitzende und Mitglieder sie sind, benutzt, um Paris zu verlassen. Auch der Außenminister hat sich nach dem Jura begeben und wollte erst am 11./24. April nach Paris zurückkehren, um am gleichen Tage mit dem Präsidenten nach Nizza abzureisen, wo die feierliche Enthüllung des Denkmales von Gambetta stattfinden soll. Aber das plötzliche Aufflackern von gefährlichen Unruhen in Konstantinopel hat den Ministerpräsidenten veranlaßt, Pichon nach Paris zurückzurufen, der morgen zurückkehren soll. Die beunruhigenden Nachrichten aus der Türkei haben natürlich die kaum beschwichtigte öffentliche Meinung sehr



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erregt. Man befürchtet hier die Möglichkeit einer weiteren Ausdehnung des Aufruhrs und infolgedessen auch bewaffneter Zusammenstöße und Christenverfolgungen auf dem Balkan, was der Aufrollung der orientalischen Frage in ihrem ganzen furchtbaren Umfange gleichkommen würde. Ich kann nicht umhin, meinem Bedauern Ausdruck zu geben, daß dieser Augenblick uns unvorbereitet vorfindet, nicht nur die orientalische Frage in dem für uns erwünschten Sinne zu lösen, sondern sogar uns an ihr wirksam zu beteiligen, denn die Erfahrung aus der Geschichte und das Beispiel der letzten Ereignisse haben wiederum bewiesen, daß derartige Weltfragen ohne Anwendung von Gewalt nicht gelöst werden können. Dieser Wahrheit Rechnung tragend, habe ich während meiner fünfzehnjährigen Tätigkeit als Botschafter in Konstantinopel immer den Standpunkt vertreten, daß Rußland sich für Ereignisse vorbereiten müsse, die zwar, was den Zeitpunkt anbelangt, unbestimmbar, jedenfalls aber unvermeidlich sind. Kurz vor meiner Abreise aus der Türkei schien alles Nötige angeordnet zu sein. Von Seiten unseres Kriegsministeriums und des Admiralstabes waren Vorbereitungen getroffen, um auf die Dinge in der türkischen Hauptstadt einwirken zu können, wenn dort Unruhen ausbrechen sollten. Leider haben wir uns im letzten Sommer während der unter Ihrem Vorsitz abgehaltenen Beratungen davon überzeugen können, daß von diesen Maßregeln nichts mehr übrigbleibt... Erlauben Sie mir jetzt der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß dank Ihren Anstrengungen die nötigen Maßnahmen bereits getroffen worden oder wenigstens als erforderlich anerkannt und ins Auge gefaßt sind, die es Rußland ermöglichen werden, seine historische Mission würdig zu erfüllen und nicht zuzulassen, daß die im nahen Osten in Erscheinung tretende Weltfrage unseren Interessen zuwider geregelt wird. Nelidow.



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70. Telegramm des russischen Gesandten in Sofia an den russischen Außenminister vom 3./16. April 1909. Der serbische Gesandte hat heute dem Ministerpräsidenten erklärt, das Belgrader Kabinett halte es für erwünscht, mit Bulgarien wegen der türkischen Ereignisse in einen Meinungsaustausch zu treten, um eine gemeinsame Aktion zum Schutze der beiderseitigen Interessen einzuleiten. Dieselbe Mitteilung hat Milowanowitsch dem bulgarischen Vertreter in Belgrad gemacht. Malinow hat geantwortet, es sei schwierig, zur Zeit in dieser Sache einen Beschluß zu fassen, da die ganze Aufmerksamkeit der bulgarischen Regierung augenblicklich auf die brennende Frage der Anerkennung der Unabhängigkeit gerichtet sei. Trotzdem würde er gern weitere Erklärungen entgegennehmen, und er bäte Milowanowitsch, ihm seine Ansicht über die eventuellen Ziele der in Aussicht genommenen gemeinsamen Aktion mitzuteilen. Sementowski-Kurillo.

71. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Sofia vom 5.¡18. April 1909. Die serbische Regierung hat uns gebeten, ihre Bemühungen zu unterstützen, mit Bulgarien Verhandlungen über ein gemeinsames Vorgehen in der türkischen Krise einzuleiten. Unsern Standpunkt ersehen Sie aus meinem Telegramm an unsern Belgrader Gesandten. Meinerseits bitte ich Sie, diesen Standpunkt bei den weiteren Verhandlungen zwischen Bulgarien und Serbien im Auge zu behalten. Obwohl ich aus den Worten des hiesigen bulgarischen Gesandten schließen kann, daß seine Regierung bereit ist, die Frage engerer Beziehungen zu Serbien ernstlich in Erwä-



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gung zu ziehen, so müssen wir dennoch infolge der in dieser Frage gemachten Erfahrungen an dem Erfolge derartiger Verhandlungen bis zu einem gewissen Grade zweifeln. Jedoch haben wir Grund, diesmal größeren Erfolg zu erwarten, da man in Bulgarien die volle Unterwerfung Serbiens unter Österreich befürchtet, die für Bulgarien die unmittelbare und gefährliche Nachbarschaft mit Österreich-Ungarn zur Folge haben würde; andererseits hat mir der bulgarische Gesandte die Überzeugung ausgesprochen, daß Bulgarien jetzt eine völlige Einigung mit Serbien in der mazedonischen Frage erreichen könne. Aus all diesem geht hervor, wie vorsichtig die Verhandlungen zwischen Serbien und Bulgarien geführt werden müssen, wobei auch wir nicht allzu aktiv hervortreten dürfen. Iswolski.

72. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 5./18. April 1909. Wir haben stets den Gedanken einer Annäherung zwischen Bulgarien und Serbien mit dem größten Wohlwollen verfolgt und eine gemeinsame Handlungsweise dieser beiden Mächte zur Vermeidung von Mißverständnissen, die den ge» meinsamen slawischen Interessen gefährlich werden könnten gewünscht. Ich habe in diesem Sinne mit dem hiesigen bulgarischen Gesandten gesprochen, der mir versichert hat, daß auch Bulgarien solidarisch mit Serbien zu handeln wünscht. Ich teile dies unserm Gesandten in Sofia mit, da Paprikow die Absicht hat, sich mit dieser Frage nach seiner Rückkehr nach Sofia zu beschäftigen. Es ist erwünscht, daß Serbien in der türkischen Krise die Selbstbeherrschung bewahrt und vor allem nicht Österreich-Ungarn durch seine Handlungen oder unvorsichtige Verhandlungen mit Bulgarien den



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Vorwand gibt, sich aktiv in die türkische Frage einzumischen. Sprechen Sie in diesem Sinne vertraulich mit Milowanowitsch. Iswolski.

73. Bericht des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 14./27. April 1909. — Nr. 34. Die serbischen Sympathien für Bulgarien treten seit der Beendigung des serbisch-österreichischen Konfliktes immer stärker zutage. Die Presse spricht immer lauter von der Notwendigkeit einer Annäherung der beiden Länder und ihres Zusammengehens im Sinne der allgemeinen slawischen Interessen. Dieser Standpunkt wird auch von der serbischen Regierung geteilt. Die Eröffnungen, die in diesem Sinne von dem bulgarischen Vertreter in Belgrad gemacht wurden, sind sehr beifällig aufgenommen worden. Trotzdem haben die schon begonnenen Verhandlungen noch zu keinem positiven Resultat geführt; nicht einmal der Umriß eines Abkommens zwischen den beiden slawischen Staaten ist festgestellt worden. Es wäre am zweckmäßigsten, das frühere Abkommen als Grundlage zu benutzen, welches schon vollkommen ausgearbeitet war, schließlich aber infolge österreichischer Einwirkung nicht durchgeführt wurde. Auf alle Fälle erscheint es erwünscht, die Annäherung ganz allmählich durchzuführen, wobei man zunächst mit weniger wichtigen Anfragen anfangen möge, z. B. der Verbesserung der Eisenbahnverbindungen, der Geldeinheit usw. Fragen politischer Art würden die ersten Verhandlungen erschweren und das endgültige Resultat unnötig in Frage stellen. Aus meinen Unterredungen mit Milowanowitsch ersehe ich, daß die serbische Regierung befürchtet, daß man bei den Verhandlungen gefährliche und schwierige Besprechungen über Mazedonien und die dort herrschende Feindschaft



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zwischen serbischen und bulgarischen Elementen nicht werde vermeiden können. Der Außenminister versicherte mir jedoch, daß den serbischen Konsuln in Mazedonien der Befehl gegeben worden ist, sich jeder Einmischung in die dortigen Unruhen zu enthalten und nötigenfalls im Einvernehmen mit den bulgarischen Agenten zu handeln. Dieser Standpunkt der serbischen Regierung ist in der Erwägung begründet, daß es augenblicklich unzweckmäßig ist, in Mazedonien nationale Fragen aufzuwerfen. Serbien hat die Absicht, sich aller aktiven Maßnahmen zu enthalten. Das Kabinett Nowakowitsch will jetzt ganz korrekt handeln... Sergejew.

74.

Telegramm des russischen Gesandten in Sofia an den russischen Außenminister vom 21. April/4. Mai 1909. In feierlicher Audienz habe ich heute als erster der hiesigen ausländischen Vertreter König Ferdinand mein Beglaubigungsschreiben übergeben. In einer darauf folgenden einstündigen Unterredung hat der König in den wärmsten Ausdrücken von der Unterstützung gesprochen, die Bulgarien in unserm Souverän gefunden hat, und hierbei auf die bulgarische Bereitschaft hingewiesen, die zwischen Ruß1 and und Bulgarien bestehenden herzlichen Beziehungen weiter zu entwickeln. Der Gedanke einer weiteren Annäherung zwischen beiden Ländern werde jetzt in Sofia besprochen, und der König hoffe, daß auch ich mich hieran beteiligen werde. Da ich keine Instruktionen hierzu habe, aus den Worten des bulgarischen Außenministers aber schließe, daß die Frage eines politischen Abkommens zwischen Rußland und Bulgarien grundsätzlich beschlossen ist, antwortete ich dem König in allgemeinen Ausdrücken und wies darauf hin, daß



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es erwünscht sei, daß Paprikow konkrete Vorschläge aus» arbeite. Dadurch scheint es mir, würden wir bei den Verhandlungen in einer günstigen Lage sein. Sementowski-Kurillo.

75. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Sofia vom 29. April/12. Mai 1909. Ihr Telegramm vom 21. April erhalten. Alles, was Sie König Ferdinand hinsichtlich des in Aussicht genommenen politischen Abkommens gesagt haben, findet unsere Zustimmung. Sie können weiter sagen, daß die russische Regierung mit Vergnügen konkrete Vorschläge von seiten Bulgariens prüfen und erwägen wird. Iswolski.

76. Schreiben des russischen Botschafters in London an das russische Außenministerium vom 9./22. Mai 1909. Die Nachrichten, die ich über die innere Situation in Persien aus allen mir zugänglichen Quellen erhalte, sind nicht erschöpfend genug, um mir ein positives Urteil darüber zu erlauben, wie lange unsere Truppen noch auf persischem Gebiet verweilen sollen. Diese Nachrichten genügen jedoch, um mich zu veranlassen, Ihre Aufmerksamkeit auf die wichtige politische Seite dieser Frage zu lenken. Es kann kein Zweifel bestehen, daß das Erscheinen unserer bewaffneten Macht in Täbris im richtigen Augenblick — weder zu früh noch zu spät — nicht bloß seinen Zweck erfüllt hat, nämlich die Ordnung und Sicherheit in der Stadt wiederherzustellen, sondern daß dadurch auch unser



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Prestige erhöht und die letzten Zweifel in unsere wahren Absichten zerstreut worden sind, indem die Ratschläge, die wir zusammen mit England dem Schah gegeben haben, dadurch eine Bekräftigung erfahren haben. Ich fürchte und glaube jedoch, daß dieser gute Eindruck abgeschwächt wird, wenn unsere Truppen länger als durchaus nötig in Persien bleiben. Im Lande selbst würden alle politischen Parteien unseren weiteren Maßnahmen mit Mißtrauen gegenüberstehen; dieser Argwohn würde unseren moralischen Einfluß erschüttern, und wir würden uns in eine Sackgasse begeben: eine energische Aktion zur Aufrechterhaltung der Ordnung, die dort durchaus gerechtfertigt ist, wo unsere Interessen im Spiele stehen, würde, wenn sie länger als nötig dauern sollte, die Aufgabe, die für uns noch wichtiger ist als für England — nämlich die Beruhigung des Landes und die Wiederherstellung der normalen Lage in Teheran — außerordentlich erschweren. Es liegt auf der Hand, daß die Anwesenheit unserer Truppen in Teheran eine antieuropäische Stimmung hervorrufen wird, deren Entwicklung unsere diplomatische Aktion ungünstig beeinflussen könnte. Das Ganze scheint mir eine Frage des Maßhaltens zu sein. Eine russische militärische Aktion im Norden und eine englische im Süden, örtlich und zeitlich begrenzt, ist sicherlich von Nutzen. Die Bedingungen, unter denen England in Buschir hat handeln müssen, sind augenscheinlich viel leichter, aber der Befehl, wieder zurückzugehen, ist, wie Sir Charles Hardinge mir sagte, bereits gegeben worden. Ich fasse meinen Gedanken zusammen: wir müßten unsere Truppen nur so lange in T&bris belassen, als sie dort notwendig sind, und uns streng an unseren bisherigen Grundsatz halten, militärisch nur dort einzuschreiten, wo dies durchaus erforderlich ist. Ich weiß nicht, ob der Augenblick bereits gekommen ist, aber es will mir scheinen, daß eine plötzliche und vollständige Räumung nachteilige Folgen nach sich ziehen könnte. Das beste Mittel, in Persien einen guten Eindruck



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hervorzurufen und die Welt über unsere weiteren Absichten zu beruhigen, wäre meiner Ansicht nach der Entschluß, einen kleinen Teil unserer Truppen zurückzuziehen, sobald die nötige Ordnung wiederhergestellt ist, und bis zur Bildung einer örtlichen Regierung nur eine Abteilung zurückzulassen, die den Charakter einer Sicherheitswache hätte. Die vollständige Räumung müßte dann sobald als möglich folgen, schon um die Übereinstimmung der Handlungen Englands und Rußlands herzustellen, denn dieses erscheint mir durchaus notwendig, um die Verhandlungen zu einem guten Ende zu führen, die nichts anderes bezwecken, als die Ruhe in Persien wiederherzustellen und die englisch-russische Zusammenarbeit zu erhalten. Benckendorff.

77. Bericht des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 12.¡25. Mai 1909. — Nr. 38. Soweit mir bekannt, hat die bulgarische Regierung auf den serbischen Vorschlag ausweichend dahin geantwortet daß der Text des alten Handelsvertrages zwischen Serbien und Bulgarien zum Ausgangspunkte der bevorstehenden Verhandlungen gemacht werden solle. Ohne eine direkte Absage zu geben, hat die bulgarische Regierung angedeutet, daß sie es vorziehe, diese ganze Frage einstweilen noch aufzuschieben. Es ist jedoch zu bemerken, daß gerade auf dieser konkreten Grundlage eine erste Annäherung hätte stattfinden können, um sodann realere Formen anzunehmen. Die Serben wünschen die Verhandlungen als Gleichberechtigte zu führen, während Bulgarien augenscheinlich die serbischen Vorschläge bloß anzuhören wünscht, selbst aber keine Vorschläge macht, was in hiesigen Regierungskreisen verletzend wirkt. Deshalb erscheint die Möglichkeit einer Annäherung, obwohl bei der jetzigen politischen Lage die günstigsten



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Vorbedingungen gegeben sind, wenigstens für die nächste Zukunft recht problematisch... Sergejew.

78. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Berlin an den russischen Außenminister vom 15.J28. Mai 1909. Der Besuch Kaiser Wilhelms in Wien und die Herzlichkeit der Monarchenzusammenkunft wird immer noch von den hiesigen Zeitungen besprochen, die betonen, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn durch neue Bande gekräftigt worden sind. Die Zeitungen sind mit der Festigkeit des Dreibundes zufrieden und weisen auf seine friedlichen Ziele und seine Bedeutung für die Erhaltung des allgemeinen Gleichgewichtes in Europa hin. Die Treue, die Deutschland im Lauf der letzten Balkankrise Österreich gezeigt hat, wird von führenden Organen der hiesigen öffentlichen Meinung hoch gepriesen, und die infolge des gemeinsamen Vorgehens Österreichs und Deutschlands erzielten Resultate werden von ihnen als ein unbestreitbarer Erfolg einer klugen deutschen Politik dargestellt. Das Bestreben, der letzten Monarchenzusammenkunft in Wien eine besondere politische Bedeutung beizulegen, erklärt sich einerseits aus der Absicht der deutschen offiziösen Presse, die Aufmerksamkeit von der ziemlich verwickelten inneren Lage abzulenken, die durch die Durchführung der Finanzreformen hervorgerufen worden ist, und andererseits besteht augenscheinlich der Wunsch, in Anbetracht der sich immer schwieriger gestaltenden Beziehungen zu England zu beweisen, daß Deutschland nicht isoliert ist. Das gegenseitige Mißtrauen zwischen England und Deutschland scheint trotz aller Versuche einer Annäherung, wie Entsendung von Deputationen und Austausch von Begrüßungen und Reden zwischen verschiedenen englischen



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und deutschen Gesellschaften, wobei die Gemeinsamkeit der kulturellen Interessen beider Länder betont wird, nicht zu schwinden, sondern immer tiefere Wurzeln zu schlagen. Symptomatisch ist einerseits die englische Furcht vor einem deutschen Angriff auf England, wie dies in den phantastischen Gerüchten über deutsche Spione und Luftschiffe, die angeblich bis nach London fliegen können, zum Ausdruck kommt. Andererseits sind die beständigen Hinweise auf die Feindseligkeiten der englischen Politik Deutschland gegenüber und die fieberhafte Tätigkeit der deutschen Behörden zur Stärkung der Flotte für den Fall eines Zusammenstoßes mit England für die deutsche Stimmung sehr bedeutsam. Deshalb sucht Deutschland seine Beziehungen zu Frankreich zu verbessern und befürchtet die Möglichkeit einer noch weiteren Annäherung der russischen und englischen Politik, nicht nur in den speziell orientalischen Fragen, sondern auch in solchen, die die Weltpolitik betreffen. Bemerkenswert ist das Urteil der deutschen Presse über unser Vorgehen in Persien, denn die Zeitungen suchen zu beweisen, daß die von uns getroffenen Maßnahmen den Wünschen Englands kaum entsprechen dürften. Bulatzell.

79. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 21. Mai/3. Juni 1909. — Nr. 77. Hardinge ist durch Täbris ergriffen haben, beunruhigt. Er macht ment gefaßt, die für die

die scharfen Maßnahmen, die wir in so z. B. Zerstörung der Häuser, sehr sich auf Interpellationen im ParlaRegierung sehr peinlich sein dürften. Benckendorff.



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80. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 23. Mai/5. Juni 1909. — Nr. 969. Nr. 1. Der englische Botschafter Nicolson hat mir vertraulich den Inhalt zweier Telegramme Greys mitgeteilt. Der Minister weist auf die Beunruhigung hin, die in London durch die unseren Truppen in Täbris zugeschriebenen Handlungen hervorgerufen worden ist. Er befürchtet, daß die Politik des Einvernehmens, die so glücklich von den beiden Regierungen verfolgt wurde, leiden könnte, wenn die briti» sehen Behörden gezwungen werden würden, gegen den Schah aufzutreten, falls die russischen militärischen Behörden gegen die Nationalisten Partei ergreifen würden. Es erscheint ihm erwünscht, die dem russischen General gegebenen Instruktionen nochmals zu bestätigen. Es wäre nützlich, einen Teil der russischen Truppen aus Täbris zurückzuziehen. Grey ist von dem Wunsche beseelt, das engste Zusammengehen mit Rußland in persischen Fragen aufrechtzuerhalten. Er weiß sehr gut, daß dies auch der Wunsch der russischen Regierung ist. Er würde es lebhaft bedauern, wenn er auf eventuelle Fragen im Parlament nicht antworten könnte, daß der russische General seine Instruktionen überschritten hat, und wenn er zugeben müßte, daß die beiden Regierungen nicht mehr im Einvernehmen handeln. Er hofft, daß die ausführlichen Berichte, die die beiden Gesandtschaften aus Täbris verlangt haben, die Lage klären werden. Ich habe nicht verfehlt, dem Botschafter beruhigende Erklärungen abzugeben. Die russischen Truppen ergriffen nicht Partei gegen die Nationalisten. Es habe einen Zwischenfall gegeben; man dürfe aber seine Bedeutung nicht übertreiben. Es sei wahr, daß der russische General es für seine Pflicht gehalten hat, energische Maßregeln gegen Gewalttaten und Räubereien sowie Provozierungen unserer Truppen zu ergreifen. Sonntag abend werde eine besondere Beratung stattfinden, in der dieser Zwischenfall mit dem



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Wunsche, jedes Mißverständnis mit England zu vermeiden, geprüft werden wird. Wenn nötig, würden die Instruktionen General Snarskis nochmals bestätigt werden. Ich selbst sei der Ansicht, und ich werde versuchen, dieser Ansicht Geltung zu verschaffen, daß die Zahl unserer Truppen vermindert werden könne, sobald der neue von Rußland und England empfohlene persische Generalgouverneur an Stelle des unzulänglichen Vizegouverneurs für Täbris ernannt ist, und sobald dieser die Möglichkeit haben wird, die Ordnung und die persönliche Sicherheit der russischen Untertanen und der Ausländer sicherzustellen. Was den Vorfall von Sattar und Baghir im türkischen Konsulat anbelangt, so erscheine es sicher, daß dies das Resultat der Intrigen des türkischen Konsuls sei, und daß unsere Truppen nichts damit zu tun hätten. Die freiwillige Abreise dieser beiden Persönlichkeiten würde viel zur Wiederherstellung der Ruhe beitragen. Ich nehme mit Befriedigung von der Erklärung Greys Kenntnis, daß er überzeugt ist, die russische Regierung wünsche das engste Einvernehmen mit England in allen persischen Fragen aufrechtzuerhalten. Ich habe den Botschafter gebeten, dies seiner Regierung erneut zu versichern. Sie werden von allen Einzelheiten, über die wir aus Täbris Kenntnis erhalten, ebenso wie von den Beschlüssen der bevorstehenden Beratung benachrichtigt werden. Iswolski.

81. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 25. Mai/7. Juni 1909. Bei meinem heutigen Besuch bei Grey kam der Minister gleich auf die persische Frage zu sprechen. Er sagte mir, er habe von Nicolson Telegramme erhalten, die über die mit Euerer Exzellenz stattgefundene Unterredung berichten —



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ich nehme an, es ist dieselbe Unterredung, deren Inhalt Sie mir telegraphisch mitgeteilt haben. Sir Edward sagte mir, er wolle klar betonen, daß, wenn die lange Anwesenheit unserer Truppen in Täbris ihn beunruhige, dies durchaus nicht bedeute, daß die englische Regierung die Erstarkung unseres Einflusses in Nordpersien befürchte; daß dieser natürliche Einfluß in der Konvention vorausgesetzt worden sei, daß er schon früher bestanden hätte und daß England sich ihm durchaus nicht widersetzen wolle. Er sagte mir, er hätte die letzten Ereignisse hauptsächlich vom parlamentarischen Standpunkte aus betrachten müssen, d. h. es sei wichtig für ihn, ständig in der Lage zu sein, bestimmte Fragen im Unterhause durch ebenso bestimmte Erklärungen zu beantworten: er müsse erklären können, daß die Handlungsweise nicht nur der russischen Diplomatie, über die ja kein Zweifel bestehe, sondern auch die Maßnahmen unserer Truppen genau dem von beiden Regierungen festgesetzten Programm entsprächen, daß folglich die beiden Regierungen in völligem Einvernehmen handelten. Dies sei der Fall gewesen, als die russischen Truppen persisches Territorium betraten, um einer Niedermetzelung von Europäern vorzubeugen. Er fügte aber hinzu, daß seine Stellung sehr schwierig werden würde, wenn die russischen Truppen nach Wiederherstellung der Ordnung an Ort und Stelle blieben, da ein solcher Fall durch unser Abkommen nicht vorhergesehen sei; er könne nicht das Gegenteil behaupten und erklären, daß die dauernde russische Okkupation das Resultat eines Übereinkommens sei; das Übereinkommen, das er ebenso wie Sie für unbedingt notwendig halte, wäre dadurch in Frage gestellt und unsere Kooperation gelähmt. Ich habe geantwortet, daß mir die letzten Zwischenfälle noch nicht genügend geklärt erschienen, und daß ich hoffte, daß die Berichte der beiden Konsuln in Täbris neues Licht auf die Ereignisse werfen würden. Sir Edward erwähnte keine Einzelheiten, und ich glaubte, dasselbe tun zu müssen. Ich fügte jedoch hinzu, daß man bedauerlicherSlebert, Benckendorff. I.

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weise feststellen müsse, daß die türkische Diplomatie in dieser Frage die Hand im Spiele gehabt habe. Sir Edward leugnete dies nicht, sagte jedoch, daß es nach Zurückziehung unserer Truppen viel leichter sein würde, von der Türkei zu verlangen, sie solle sich nicht in die persischen Fragen einmischen. Unsere Argumentation, sagte er, wäre unwiderlegbar: Rußland hätte in Täbris und England in Buschir interveniert, nur um die Sicherheit ihrer Staatsangehörigen zu gewährleisten; nach Wiederherstellung der Ordnung hätten sich beide Mächte zurückgezogen und mischten sich nicht in die örtlichen inneren Fragen ein; die Türkei hätte dasselbe zu tun. Hier hielt ich es für nötig, Sir Edward das französische Telegramm vorzulesen, durch das Sie mir Ihre Unterredung mit dem englischen Botschafter mitteilten. Ich fügte eine Paraphrase desselben Telegramms hinzu. Sir Edward sagte, er empfinde dieselben Gefühle wie Sie hinsichtlich der Erhaltung unserer ungetrübten Kooperation in Persien und hätte deshalb mit mir hierüber völlig offen, vertraulich und ohne Rückhalt gesprochen. Zum Schluß sagte ich ihm, ich würdigte die Erklärungen, mit denen er begonnen habe ganz und hätte meinerseits nie daran gedacht, England könne einen anderen Standpunkt einnehmen, als den, daß es eine ganz natürliche Sache sei, daß ein starker russischer Einfluß in unserer Zone bestehe; er befinde sich jedoch im Irrtum, wenn er glaube, daß der Einmarsch unserer Truppen in Persien einen anderen, wichtigeren Zweck verfolgt habe, als den der Wiederherstellung der Ordnung und des Schutzes unserer Staatsangehörigen und der Ausländer in Täbris; dieser Entschluß sei ohne jeden Hintergedanken gefaßt worden. Sir Edward unterbrach mich, um mir zu sagen, daß er durchaus nicht etwas derartiges habe sagen wollen, er habe mir diese Versicherung gegeben, um jeden Verdacht zu zerstreuen, daß die Ratschläge, die er uns ausschließlich im Interesse der Entente erteile, ihm durch englische Eifersucht eingeflößt sein könnten, eine Eifersucht, welche England in keiner Weise hege. B e n c k e n d o r f f .



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82. Bericht des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 26. Mai/8. Juni 1909. — Nr. 44. Die serbisch-bulgarischen Verhandlungen kommen nicht vom Fleck. In serbischen Regierungskreisen schreibt man diese bedauerliche Verzögerung weniger der ablehnenden Haltung der bulgarischen Regierung als der persönlichen Einwirkung König Ferdinands zu. Diese Ansicht wird durch den Umstand bestärkt, daß der bulgarische König bei einer ganzen Reihe von Anlässen deutlich gezeigt hat, daß er den serbischen Bestrebungen nicht entgegenkommen will. So hat er z. B . bei seiner Durchreise durch Belgrad nach Venedig seine Zustimmung zu einem offiziellen Empfange in Serbien nicht gegeben und den Königlichen Zug statt in Belgrad in dem ungarischen Grenzstädtchen Semlin anhalten lassen. Wie ich von Milowanowitsch erfahre, enthielt der Wortlaut der Rede, die Simitsch bei der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens halten sollte, ursprünglich die Worte: „Die slawische Solidarität, die Stimme des Blutes, die gemeinsamen Leiden und Hoffnungen und der unerschütterliche Glaube an unser Schicksal lassen uns den bulgarischen Erfolg als eine wichtige Unterlage unserer gemeinsamen Zukunft begrüßen." Das bulgarische Kabinett hat gegen diese Worte Einspruch erhoben und deren Streichung verlangt. Der serbische Vertreter begnügte sich deshalb mit einer Begrüßung, die in allgemeinen Ausdrücken gehalten war. Diese Ereignisse geben der serbischen Regierung Veranlassung, anzunehmen, daß Bulgarien in seiner Rücksichtnahme auf Österreich zuweit geht und dadurch die Annäherung zwischen den beiden Brudervölkern, die augenblicklich so erwünscht ist, unmöglich macht. Sergejew.





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83. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Rom an den russischen Außenminister vom 9./22. Juni 1909. Seit der Abreise unseres Botschafters, die vor zehn Tagen erfolgte, habe ich nicht mehr Gelegenheit gehabt, Tittoni zu sprechen, der diese ganze Zeit im Parlamente beschäftigt gewesen ist, wo die Debatten über die Budgets der Marine und des Außenministeriums seine Anwesenheit erforderlich machten. Diese außergewöhnliche Arbeit hat ihn sogar veranlaßt, auf seine gewöhnlich alle acht Tage stattfindenden Empfangstage zu verzichten. Dagegen habe ich mich mit Bollati über verschiedene Fragen unterhalten, über die ich mich verpflichtet halte, Bericht zu erstatten, auch wenn die von uns besprochenen Ereignisse schon der Vergangenheit angehören. Vor allem muß ich Ihnen das Bedauern Tittonis übermitteln, Sie nicht in Venedig gesprochen zu haben, wohin Sie, wie er glaubte, nach Ihrem Münchener Aufenthalt kommen würden. Da er sich in Mailand befand, hatte er alle seine Anordnungen getroffen, um Ihnen ganz privatim in Venedig zu begegnen, da die Presse sonst Ihr Zusammentreffen zu allen möglichen Kommentaren benutzt hätte. Man hat mir weiter nicht angedeutet, worüber er sich mit Ihnen besprechen wollte. Ich glaube mich nicht zu irren, daß es sich um seine Verhandlungen mit Aehrenthal über Artikel 29 des Berliner Vertrages und um die Versicherungen handelte, die Euere Exzellenz ihm aus diesem Anlaß haben zukommen lassen. Ich glaube kaum, daß Tittom Ihnen näheres über die letzte Zusammenkunft der Könige von Italien und England in Bajä mitgeteilt hätte. Wie mir Sir Renell Rodd selbst sagte, war die Abmachung getroffen worden, daß im Laufe dieser Begegnung keine politischen Fragen besprochen werden sollten. König Eduard hat anders entschieden. Er hat zwei Unterredungen, die eine mit König Victor Emanuel, die



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andere mit Tittoni gehabt und hierbei jedesmal über dasselbe Thema gesprochen, nämlich über das Gleichgewicht in der Adria und über die Haltung Italiens im Falle eines englisch-deutschen Konfliktes. Der englische Botschafter hat mir versichert, daß weder der König noch Tittoni eine Antwort auf die ihnen gestellten Fragen gegeben hätten, daß aber die besagte Unterredung auf beide augenscheinlich einen großen Eindruck gemacht habe. König Victor Emanuel machte hieraus kein Geheimnis vor Sir Renell als er ihn acht Tage nach der Abreise König Eduards im Quirinal sprach. Sir Renell war seinerseits erstaunt, daß der König die Gelegenheit dieser Audienz, welche er selbst herbeigeführt hatte, nicht benutzt hat, um seinen Besorgnissen über die Unter« redung in Bajä Ausdruck zu geben und um in einen Meinungsaustausch hierüber einzutreten. Was den Eindruck Tittonis anbelangt, so hat mir der französische Botschafter gestern erzählt, der Minister scheine vor allem erstaunt gewesen zu sein, daß König Eduard von der Wahrscheinlichkeit eines baldigen Konfliktes zwischen England und Deutschland gesprochen habe, einer Wahrscheinlichkeit, die Tittoni bis jetzt als eine rein theoretische Frage betrachtet habe, und die ihm plötzlich als wirklich bevorstehend erschienen sei. Barröre gegenüber hat er sich jedes Kommentars enthalten, gab ihm aber gleichzeitig zu verstehen, wie schwer es für Italien sein werde, in einem Konflikte Partei zu ergreifen, in dem es angesichts der Ereignisse nicht einfacher Zuschauer werde bleiben können. Wenn Tittoni schon vor einem Monat Besorgnisse gehabt hat, so scheinen sie sich beim Empfange der Nachricht, daß die Kaiser von Rußland und Deutschland sich in den finnischen Gewässern treffen werden, noch verstärkt zu haben. In Abwesenheit Barreres hat er Legrand gefragt, ob das Pariser Kabinett nicht fürchte, daß die Politik Euerer Exzellenz eine neue Richtung einschlagen könne. Legrand hat mit einer einfachen Verneinung antworten zu müssen geglaubt.



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Ich habe mit Bollati nicht über alle diese Einzelheiten gesprochen. Er schloß die Unterredung ungefähr mit den Worten: „Wir haben ständig mit den Engländern gesprochen, hauptsächlich anläßlich der Verhandlungen über Artikel 29 des Berliner Vertrags; so tun wir es auch jetzt und sprechen nach Bajä ebenso wie vorher." Euere Exzellenz wird selbst die Bedeutung dieser Erklärung verstehen, welche meines Erachtens von der Version Sir Renell Rodds bedeutend abweicht, doch habe ich keinen Grund, an der Aufrichtigkeit des letzteren zu zweifeln. Korff.

84. Bericht des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 12./25. Juni 1909. — Nr. 41. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen den vollen Wortlaut der Rede zu übersenden, die Kaiser Wilhelm Dienstag abend auf dem Schiffe „Deutschland" in der Nähe von Hamburg über seine Begegnung mit dem russischen Kaiser gehalten hat. Die Worte des deutschen Monarchen sind so bedeutsam, daß alle Zeitungsartikel, die in den letzten Wochen erschienen sind, daneben verblassen. Die Ausdrücke, in denen Kaiser Wilhelm von seiner eigenen Friedensliebe und derjenigen unseres Kaisers gesprochen hat, sind von hohen Gefühlen durchdrungen. Ohne auf die Einzelheiten der jetzigen politischen Lage einzugehen, hat Kaiser Wilhelm erklärt, daß „alle Völker des Friedens bedürfen". Deshalb werden beide Monarchen mit Gottes Hilfe an der Festigung und Erhaltung des Friedens arbeiten. Derartige Worte sind schon lange nicht mehr ausgesprochen worden, und das lebhafte Interesse, mit dem sie in allen Schichten der deutschen Bevölkerung aufgenommen worden sind, ist völlig verständlich. Obwohl schon früher die Zeitungen der verschiedenen politischen Richtungen ihre Befriedigung über die



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letzte Kaiserzusammenkunft ausgedrückt haben, hat sich dieses Gefühl jetzt bedeutend gestärkt und bei Beurteilung der heutigen politischen Lage macht sich ein allgemeiner Optimismus bemerkbar. Osten-Sacken.

86. Telegramm, des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 17./30. Juni 1909. — Nr. 114. Grey sagte mir heute, er sei sich völlig klar darüber, wie sehr die allgemeine Lage durch das drohende Vorgehen der Bakhtiaren erschwert sei, und daß er nicht die Absicht habe, über die Möglichkeit einer bewaffneten Intervention Rußlands in Teheran zu sprechen; er wolle nur unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, daß, wenn unsere Truppen die Ordnung in Teheran wiederherstellen, der letzte Rest des Ansehens der persischen Regierung selbst nach Einführung von Reformen schwinden müsse, denn alle unzufriedenen Elemente im Lande würden behaupten, daß der Schah sich in der Gewalt der Ausländer befinde. Die Folge davon würde sein, daß die Unruhen nicht aufhören würden und in den Provinzen vielleicht die örtliche Unabhängigkeit erklärt werden würde, was den Interessen der beiden Mächte außerordentlich schaden würde. Ich antwortete mit zwei Argumenten: 1. die Lage des Schah müsse jetzt, da er die Ratschläge unserer Vertreter angenommen habe, anders beurteilt werden als zu der Zeit, als er sich weigerte, unsern Ratschlägen zu folgen, oder seinen Verpflichtungen nicht nachkam; 2. Rußland habe als Nachbarstaat ganz besondere Verpflichtungen. Auf das erste Argument erwiderte Grey, daß das Vertrauen zum Schah bereits erschüttert sei, da man wisse, daß er sich nur unter unserm Druck zu Reformen entschlossen habe, und daß die Anwesenheit von fremden Truppen den letzten Rest seines Prestiges unter-



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grabe; was unsere besondere Lage als Nachbarstaat anbetreffe, so leugnet er die Wichtigkeit dieses Argumentes nicht, hofft aber, daß die Anwesenheit unserer Truppen in Täbris genüge, um die Ordnung nördlich von Teheran aufrecht zu erhalten, während in Teheran selbst die Kosakenbrigade gegen die Bakhtiaren genügen müßte. Er wiederholte, er teile mir nur seine persönlichen Erwägungen mit. Ich glaube jedoch, daß die Möglichkeit einer Besetzung Teherans ihn viel mehr beunruhigt, als er mir gegenüber hat zugeben wollen. Benckendorff.

86. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 19. Juni/2. Juli 1909. — Nr. 1149. Der englische Geschäftsträger hat mir ein Telegramm Greys mitgeteilt, in dem der Beunruhigung, die durch die Entsendung der russischen Truppen nach Persien hervorgerufen ist, Ausdruck gegeben wird. Er vertritt die Ansicht Barclays, daß diese Truppen eine antirussische und sogar antieuropäische Bewegung auslösen könnten, und daß die persische Kosakenbrigade, von russischen Offizieren befehligt, zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Teheran genüge. Er deutete auch an, wie gefährlich es für uns sei, den Schah mit bewaffneter Hand zu unterstützen, was den Volksunwillen gegen Rußland erwecken und dieses veranlassen würde, eine größere Anzahl von Truppen nach Persien zu schicken. Dies würde England notwendigerweise zwingen, auf die Politik der Entente mit Rußland in Persien zu verzichten. Wenn wir umgekehrt den Ereignissen freien Lauf ließen und uns darauf beschränkten, nötigenfalls das Leben des Schah zu beschützen, so könnte Rußland später eine günstigere Stellung in Persien einnehmen. Ich habe O'Beirne geantwortet, daß wir gar nicht daran dächten, den Schah mit



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Waffengewalt zu unterstützen, noch in irgendeiner Form uns in die inneren persischen Angelegenheiten einzumischen, daß wir aber beunruhigende Nachrichten aus Teheran erhalten hätten, und daß der von denBakhtiaren und den Kaswinschen Revolutionären gegen Teheran gerichtete Angriff schwere Unruhen voraussehen ließe, denen die Kosakenbrigade, die im Augenblick sehr geschwächt sei, nicht gewachsen wäre, wodurch für die Gesandtschaften und die russischen und ausländischen Staatsangehörigen und Unter* nehmungen eine große Gefahr entstünde. Unter diesen Umständen sei es unsere Pflicht, Schutzmaßregeln ins Auge zu fassen, und wir würden eine schwere Verantwortung übernehmen, wenn wir dies nicht täten. Dies werde den Gegen» stand der Erörterungen des heute abend stattfindenden Ministerrates bilden. Zum Schlüsse habe ich dem Geschäfts* träger versichert, daß die Entsendung unserer Truppen in der Richtung Rescht-Kaswin nur zum Schutze unserer Interessen erfolge und nicht, um dem Schah zu Hilfe zu kommen, dessen Geschick wahrscheinlich entschieden sein werde, ehe unsere Truppen ihren Bestimmungsort erreicht haben. Ich werde nicht verfehlen, Ihnen weitere Mitteilungen zukommen zu lassen, sobald der Ministerrat einen Entschluß gefaßt haben wird. Iswolski.

87. Vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Berlin vom 18. Juni/2. Juli 1909. Ich will Ihnen in wenigen Worten den Eindruck mitteilen, den ich während der letzten Zusammenkunft zwischen unserem Monarchen und Kaiser Wilhelm in den finnländischen Gewässern gewonnen habe. Vor allem will ich Ihnen sagen, wie sehr mich die große Veränderung in der Haltung des deutschen Monarchen über-



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rascht hat: während der ganzen Zeit hat er es aufs sorgfältigste vermieden, sowohl mit mir als auch mit unserem Ministerpräsidenten über auswärtige Politik zu reden, desgleichen in den Gesprächen mit Seiner Majestät; erst im letzten Augenblicke nach dem Abschiedsfrühstück auf der „Hohenzollern", als unser Monarch ihn fragte, welche politische Frage ihn in diesem Augenblicke am meisten beschäftige, hat Kaiser Wilhelm ausführlich über die Bewegung gesprochen, welche die Araber des Yemen gegen das Khalifat des Sultans ergriffen hat, was seiner Ansicht nach alle Staaten mit mohammedanischer Bevölkerung interessieren müsse. Über die Beziehungen zwischen England und Deutschland sagte er kein Wort. Zum erstenmal haben wir Kaiser Wilhelm einen Toast in französischer Sprache ablesen sehen, der vorbereitet war und beinahe den Inhalt der Ansprache unseres Monarchen wiederholte, um dessen Wortlaut man uns gebeten hatte. Aber obwohl er sich augenscheinlich dazu zwang, in politischen Fragen die größte Zurückhaltung zu üben, hat Kaiser Wühelm seiner guten Laune und seiner Herzlichkeit freien Lauf gelassen, indem er jeden Augenblick zu beweisen suchte, daß seine persönlichen Gefühle zu unserem Monarchen sich in keiner Weise verändert hätten. General Tatischtschew hatte mir übrigens gesagt, daß Kaiser Wilhelm wahrscheinlich eine solche Haltung einnehmen werde, da er laut in Gegenwart des Generals Baron Schön unmittelbar vor der Abfahrt aus Berlin gesagt hätte: „Ich bin ein konstitutioneller Souverän, Ihre Pflicht ist es, die politischen Unterredungen zu führen." Baron Schön hat in der Tat eine lange Besprechung mit mir gehabt. Wir haben natürlich die durch ÖsterreichUngarn hervorgerufene Krise besprochen, desgleichen die Rolle, die Deutschland dabei gespielt hat, und die Beschwerden Berlins über die Haltung der öffentlichen Meinung und Presse in Rußland. Wie zu erwarten war, hat Schön versucht, das, was die



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deutsche Diplomatie die Legende eines deutschen Druckes auf Rußland nennt, zu zerstreuen und mich davon zu überzeugen, daß Deutschland im Streite zwischen uns und Österreich nur aus freundschaftlichen Gefühlen uns gegenüber interveniert hätte. Ohne mich in eine Polemik über diese Frage einzulassen, habe ich versucht, die Aufmerksamkeit des deutschen Ministers auf die Folgen der letzten Krise zu lenken. Wenn Europa, sagte ich, am Vorabend eines allgemeinen Krieges gestanden habe, und wenn unsere traditionellen Beziehungen zu Deutschland eine zeitweilige Trübung erfahren hätten, so sei ausschließlich Aehrenthal daran schuld. Solange das Wiener Kabinett den mit uns getroffenen Übereinkommen treu blieb, sei alles gut gegangen. Unglücklicherweise hätte Aehrenthal sich das Ziel gesetzt, die zeitweiligen Schwierigkeiten Rußlands auszunützen, um eine ehrgeizige und, ich zögerte nicht es zu sagen, uns gegenüber wenig loyale Politik zu führen. Dürfe man daher erstaunt sein, wenn die Unzufriedenheit der öffentlichen Meinung und der Presse in Rußland sich gegen Deutschland wende, welches zweimal seine völlige Solidarität mit der österreichischen Politik proklamiert und dadurch ihren Erfolg gesichert habe ? Was vor allen Dingen beunruhige, sei die Ungewißheit, ob nicht neue Überraschungen von Seiten Aehrenthals zu erwarten seien. Aber jedes weitere Vordringen Österreichs auf dem Balkan könne einen noch schärferen Konflikt als den des vorigen Winters hervorrufen, und wenn die Donaumonarchie auch jetzt von Deutschland unterstützt werde, so werde es schwer sein, den Frieden Europas zu erhalten. Baron Schön versuchte, die Haltung Deutschlands damit zu erklären, daß es einer neuen Gruppierung der Mächte in Europa gegenüberstehe, und daß es deshalb seine Bande zu Österreich-Ungarn noch enger knüpfen müsse. Ich habe die Gelegenheit benutzt, um ihm nochmals positive Zusicherungen hinsichtlich der Natur unseres Übereinkommens mit England zu geben, eines Übereinkommens, welches keinen allgemeinen Charakter und keine gegen Deutschland gerichtete Spitze

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habe. Ich fügte hinzu, daß man sowohl in Petersburg als auch in Paris fest davon überzeugt sei, daß jeder Versuch, die gegenwärtigen Ententen in Allianzen umzuwandeln, eine ernste Gefahr für den Frieden bedeute, und daß deshalb Deutschland nicht das geringste Mißtrauen gegen Rußland oder Frankreich zu hegen brauche. Schön versicherte mir seinerseits, daß Deutschland durchaus nicht wünsche, Österreich-Ungarn zu neuen Unternehmungen auf dem Balkan zu bewegen, und daß er die persönliche Überzeugung habe, daß Aehrenthal keinen neuen abenteuerlichen Plan hege. Er sagte, er könne mit der größten Befriedigung feststellen, daß die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sich seit dem letzten Marokko abkommen bedeutend gebessert hätten. Den einzigen trüben Punkt bildeten die Beziehungen zu England: in dieser Richtung sei die Atmosphäre mit Elektrizität geladen; Deutschland könne natürlich nicht zulassen, daß eine ausländische Macht den Umfang seiner Flottenrüstungen vorschreibe; auf die Dauer wäre die gegenwärtige Lage gefährlich, und eine freundschaftliche Lösung müsse deshalb gefunden werden. Diese Unterredung hat beinahe zwei Stunden gedauert, ist aber aus dem Rahmen des Allgemeinen nicht herausgetreten und von keiner Seite ist ein konkreter Vorschlag gemacht worden. Der kurze Bericht, der am nächsten Tage in der Presse erschienen ist, war von mir vorgeschlagen und von Baron Schön akzeptiert worden. Dieser hatte übrigeis selbst eine ganz ähnliche Fassung vorbereitet. Ich will noch eine Einzelheit hinzufügen. Ohne Fragen der auswärtigen Politik zu berühren, hat Kaiser Wilhelm sehr ausführlich mit unserem Ministerpräsidenten über verschiedene wirtschaftliche und soziale Fragen gesprochen. 3r hat es versucht, die Gerüchte zu entkräften, die ihn als eirnn Feind der inneren Politik Stolypins und als einen Freund der russischen reaktionären Partei hinstellen. Diese Absicht tritt auch deutlich im letzten Satze seiner Ansprache hervor. Es scheint mir, daß im großen und ganzen das Resultat



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der Begegnung ein sehr befriedigendes ist. Ich glaube, daß die Unzufriedenheit, die man in Berlin gegen uns empfand, beseitigt ist, und daß wir Europa den Beweis dafür geliefert haben, daß Deutschland nach wie vor gute Beziehungen zu Rußland unterhält; dies war besonders wichtig in Anbetracht der bevorstehenden Besuche unseres Monarchen in Frankreich und England. Wahrscheinlich werden sich die Monarchen noch einmal in einem noch zu bestimmenden Ort begegnen, wenn Seine Majestät der Kaiser auf seiner Rückreise aus England den Kieler Kanal passiert. Hinsichtlich Persiens hat mir Baron Schön wiederholt, daß Deutschland in diesem Lande nur wirtschaftliche Ziele verfolge, und daß der deutsche Gesandte in Teheran beauftragt worden sei, sich jeder Handlung zu enthalten, die uns politische Schwierigkeiten verursachen könnte. Ich habe keinerlei Klagen gegen den Grafen Quadt und seine Untergebenen laut werden lassen und mich darauf beschränkt, die Zusicherungen Baron Schöns mit Befriedigung zur Kenntnis zu nehmen. Iswolski.

88. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 20. Juni/3. Juli 1909. — Nr. 125. Ihr Telegramm Nr. 1149 erhalten. In dem mir von Grey mitgeteilten Auszug heißt es nicht, „auf die Politik der Entente mit Rußland in Persien zu verzichten", sondern „wird es uns unmöglich sein, zu behaupten, daß die Politik der Nichteinmischung aufrechterhalten werden kann, und die ganze Richtung der Politik in bezug auf Persien wird ernstlich geändert werden müssen". Die Bedeutung dieses Satzes ist nicht ganz klar; ich bin vorsichtigerweise während unserer gestrigen Unterhaltung auf sie nicht zurückgekommen. Die ganze Unterhaltung läßt mich annehmen,

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daß die Auslegung, die der englische Geschäftsträger dem Satz gegeben hat, verfrüht ist. Benckendorff.

89. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 30. Juni/13. Juli 1909. — Nr. 146. Nr. 1. Grey hat zwei Telegramme von dem englischen Gesandten in Teheran erhalten. Das erste teilte mit, daß Teheran von den Fidais besetzt und daß die Ordnung in der Stadt wenig gestört sei, drückte aber die Befürchtung aus, daß unser Geschäftsträger Sablin daran denke, russische Kavallerie anzufordern. Grey hat O'Beirne telegraphiert und mir das Telegramm gezeigt. Er ist außerordentlich beunruhigt und sagt, daß das Erscheinen russischer Truppen in Teheran in jedemFalle als eine militärische Intervention zugunsten des Schah aufgefaßt werden würde, während gerade das allgemeine Mißtrauen dem Schah gegenüber die Ereignisse hervorgerufen habe. Es würde scheinen, daß der Schah allein durch unsere Truppen gerettet worden sei. Grey meint, dies bedeute den Anfang des Zusammenbruches des Landes mit allen seinen Folgen. Er fragte mich, ob es wahr sei, daß wir noch weitere Truppen in Persien landeten. Er fürchtet, daß eine so große russische Armee das muselmanische Gefühl im ganzen Lande entfachen würde, das schon jetzt den letzten Informationen zufolge außerordentlich erregt sei. Ich erwiderte, daß meiner Überzeugung nach Sablin die russische Kavallerie nur zum Schutze der Gesandtschaften und der europäischen Institutionen herbeirufe, durchaus aber nicht zum Schutze der Regierung des Schah. Nach meinem Besuch hat Grey noch ein weiteres Telegramm erhalten, das er mir mit einem Begleitschreiben zuschickt, dessen Wortlaut ich Ihnen unter Nr. 2 telegraphiere. Das Telegramm teilt einige



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Einzelheiten mit, fürchtet keine Gefahr für die Ausländer und besagt, daß keine Plünderungen vorgekommen seien, und daß Sablin jetzt beruhigt sei. Grey glaubt, daß wir beim kritischen Augenblick angekommen seien, von dem die Zukunft des Landes und die Rolle, die wir dort spielen werden, abhängen. Die Lage scheint mir ernst genug, um erneut die Erklärung abzugeben, daß unsere Truppen sich jeder Einmischung enthalten und sich darauf beschränken würden, die Gesandtschaften und die Europäer zu beschützen, daß die Zahl der nach Teheran beorderten Truppen das allernotwendigste Maß nicht überschreiten würden, und daß sie nur im Fall der dringenden Gefahr dorthin entsandt werden würden. Überhaupt scheint es mir notwendig, noch einmal so klar wie möglich zu bestimmen, worin die Mission unserer Truppen bestehe, und welcher Handlungen sie sich zu enthalten hätten, und endlich festzusetzen, was wir als genügende Bedingung für eine Rückberufung, deren Notwendigkeit wir nicht aus dem Auge verlieren, betrachteten. Dieser Punkt muß meiner Ansicht nach geklärt werden, denn sonst wird das Vertrauen, ich will nicht sagen, zu unserer Regierung, wohl aber zur Wirksamkeit unserer Politik und ihrer Resultate, erschüttert werden. Grey hat mir wiederholt, daß eine Verstärkung der Gesandtschafts- oder Konsulats-Wachen durchaus gerechtfertigt sei. Ich bin auch der Ansicht, daß wir uns dem kritischen Stadium nähern, und daß jede Maßregel, welche als eine Einmischung zugunsten des Schah ausgelegt werden könnte, uns eine schwere Verantwortung aufbürdet. Benckendorff.

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Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 30. Juni/13. Juli 1909. — Nr. 147. Nr. 2. Beifolgend der Wortlaut des Begleitschreibens: „Dies Telegramm von Barclay ist erst nach unserer Unter-



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redung angekommen. Es bestätigt das, was ich gesagt habe. Ich fühle mehr denn je, daß der jetzige Augenblick in Persien kritisch ist. Nur dann, wenn man die rivalisierenden inneren Parteien die Ordnung selbst wiederherstellen läßt und die dazu erforderliche Zurückhaltung und Geduld übt, ist die Wiederkehr normaler Verhältnisse in Persien möglich. Der russische Einfluß in Nordpersien wird dann ungeschwächt bleiben. Rußland wird keine weitere Verantwortung tragen und keine weiteren Opfer bringen, auch wird der Zusammenbruch Persien erspart bleiben. Die Einmischung in den inneren Streit der Parteien in diesem Augenblicke muß zum Zusammenbruch Persiens führen." Benckendorff.

91. Telegramm des englischen Botschafters in Konstantinopel an das englische Außenministerium vom 1./14. Juli 1909. Der britische Generalkonsul in Bagdad teilte telegraphisch mit, daß er heute die Vertreter der Ulemas,Mullah-MohammedKhorassani, den Schwiegersohn von Seyid Abdullah, und Bebihani empfangen hätte. Diese hätten versprochen, sogleich nach Zurückziehung der russischen Truppen aus Persien die Ordnung im Lande wiederherzustellen, wozu sie die nötigen Machtmittel besäßen, und hätten dringend gebeten, England möchte seinen ganzen Einfluß aufbieten, um dies zu erreichen. Sie hätten behauptet, daß die russischen Truppen die reaktionäre Partei unterstützten und das Volk, das jetzt durch diese Maßregeln so erregt worden sei, mißhandelten, daß es einen friedlichen Rat nicht mehr annehmen wolle. Die öffentlichen Gebete in Kerbela und Nejaf seien unterbrochen worden, und bei allen religiösen Zeremonien mache sich eine außerordentliche Erregung bemerkbar. Ulemas hätten davon gesprochen, daß sie nach Persien gehen würden, um das Volk zur Erhebung aufzurufen, doch sei



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dies bis jetzt nicht geschehen, Soweit ich von hier aus urteilen kann, beginnt die Situation kritisch zu werden, und eine Lösung kann nur nach der Zurückziehung der russischen Truppen gefunden werden. Lowther.

92. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 7./20. Juli 1909. Sonnabend morgen brachten die Telegramme der „Times" die Nachricht von der plötzlichen und friedlichen Lösung der Krise in Teheran. Die Telegramme Euerer Exzellenz haben mich gestern nachmittag erreicht, als Grey und Hardinge die Stadt bereits verlassen hatten. Ich mußte übrigens wegfahren, um den Sonntag bei Lord Clarendon auf dem Lande zuzubringen, wo ich dem König begegnen sollte. Meine ersten Eindrücke habe ich folglich aus den Worten des Königs erhalten. Seine Majestät sagte mir, daß die Dinge sich nicht besser hätten entwickeln können, und daß er hoffe, daß der Valiagd zum Schah ausgerufen werden würde, wie wir es verabredet, und daß dies auch das Natürlichste wäre. Der König drückte die Hoffnung aus, daß der Regierungswechsel sich möglichst friedlich vollziehen werde. Gestern habe ich Grey gesehen. Er sprach mir seine hohe Befriedigung aus. Bis jetzt ginge alles gut; nichts Dauerhaftes hätte unter dem entthronten Schah errichtet werden können, er hätte das allgemeine Vertrauen verloren, und das nicht zu Unrecht. Sir Edward erklärt mir, er schätze außerordentlich die Mäßigung und Voraussicht der russischen Regierung in der Frage der Truppensendungen; er wisse, ein wie starker Druck in Teheran auf Sablin ausgeübt worden sei, und sprach von Sablin in anerkennungsvoller Weise. „Ich wiederhole", sagte er, „daß es unseren Interessen widersprechen würde, wenn Rußland seine Popularität in NordS l e b e r t , Benckendorff.

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persien einbüßte; es wäre jedenfalls unpopulär geworden, und sein Prestige hätte nur auf der Macht der Waffen beruht, was eine große Gefahr bedeuten würde. Sir Edward hofft, daß der Schah bald die russische Grenze überschreiten wird, selbst wenn man ihn hierzu auch überreden müßte; er meint, daß die Anwesenheit des entthronten Schahs die Geister nur beunruhigen und Intrigen hervorrufen würde, die im Anfang einer Regierung stets sehr gefährlich seien . . . Zum Schlüsse wiederholte mir Grey, daß er zu seiner großen Befriedigung feststellen könne, daß die Lösung der Krise, sofern die Lage sich nicht veränderte, der ganzen Welt, ganz besonders einigen politischen Kreisen in London, bewiesen habe, daß unsere Zusammenarbeit in Persien erfolgreich sei, und daß sie aus der Krise gestärkt hervorginge. Die gemeinsamen Bemühungen der beiden Regierungen und die Gewandtheit unserer beiden Vertreter in Teheran, sagte er, hätten denjenigen den Boden unter den Füßen weggezogen, die unsere Konventionen wieder anzugreifen begannen, weil sie den englischen Interessen nicht entsprächen. Es handele sich hier um eine wenig zahlreiche, aber sehr lärmende Gruppe. Ich antwortete, es wäre Zeit, die Legende von den rassischen annexionistischen Absichten zu zerstreuen und zu verstehen, daß alle ernsten Leute in Rußland einen solchen Gedanken zurückwiesen. Benckendorff.

93. Vertrauliche serbische Mitteilung vom 28. Juli/11. August 1709.

Damit die Frage der serbisch-bulgarischen Beziehurgen richtig beurteilt werden könne, seien in diesem kurzen Exposé die wichtigsten, für diese Beziehungen charakteristischen Tatsachen angeführt. Es enthält zwei Perioden: 1. Die Epoche



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vom russisch-j apanischen Kriege bis zur türkischen Revolution, 2. die Epoche von den April-Ereignissen bis zur Gegenwart. 1. Während des russisch-japanischen Krieges wurde zwischen Serbien und Bulgarien eine Art Entente abgeschlossen. Obgleich aber unter der Regierung R. Petrows (bis zum Herbst 1906) die serbisch-bulgarischen Beziehungen wenigstens dem Schein nach ihren früheren freundschaftlichen Charakter beibehalten haben, konnte man doch schon eine beträchtliche Erkaltung beobachten. Nach der Regierungsübernahme durch D. Stanciow und besonders nach seiner Wiener und Berliner Reise verloren diese Beziehungen ihren intimen Charakter vollständig und waren in den Jahren 1907/08 sogar dermaßen gespannt, daß zu gewissen Zeitpunkten (Mai und Juni) Serbien Gefahr lief, von Bulgarien angegriffen zu werden. Sogleich nach dem Regierungsantritt Stanciows kündigte die bulgarische Regierung das Geheimabkommen, demzufolge der alte serbisch-bulgarische Handelsvertrag von 1897 bis zum Abschluß eines definitiven Handelsvertrages in Kraft bleiben sollte. Dieser Entschluß der bulgarischen Regierung hatte einen derart starken Rückgang der serbischen Ausfuhr nach Bulgarien (1907) und des Transits durch Burgas und Varna zur Folge, daß die Serbien im Jahre 1906 gewährten Erleichterungen illusorisch wurden. Zur gleichen Zeit begannen in der bulgarischen Presse die Angriffe gegen Serbien und seine mazedonische Politik. Das bulgarische Pressebüro kolportierte alle Erfindungen, die die Wiener Presse über Serbien und sein königliches Haus verbreitete, indem es die öffentliche Meinung Bulgariens auf diese Weise gegen Serbien aufreizte. Der Vorfall der Lehrerin Minka Naumow (Frühjahr 1907), aufgebauscht und ausgebeutet, hatte die öffentliche Meinung Bulgariens im höchsten Grade erregt; der Kriegsminister General Sawow drohte Serbien in einem Gespräch mit dem italienischen Militärattache sogar 9*



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mit dem Kriege. Zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen kam es aber nicht, obwohl die Angriffe gegen Serbien im Mai und Juni ihren Höhepunkt erreicht hatten. Als sich die Angriffe in der zweiten Jahreshälfte etwas gelegt hatten, wurde die feindliche Stimmung andauernd durch tendenziöse Nachrichten über die serbischen Banden in Mazedonien und die Massenausweisung serbischer Arbeiter aus Bulgarien genährt. Die zu Anfang 1908 erfolgte Regierungsübernahme durch die Demokraten zeichnete sich durch keinerlei Besserung der serbisch-bulgarischen Beziehungen aus, da diese den Stambulwisten als ausgesprochene, den Serben feindliche Nationalisten folgten. Die Demokraten verliehen ihrer feindlichen Stimmung einen noch schärferen Charakter. Eine Reihe von vollkommen erfundenen Dingen — der Leichentransport des Generals Petrow, die geisteskranke Lehrerin Iliewa, die Angriffe auf die Militärmagazine, die Vergiftung des Wassers in den Wasserleitungen Sofias, die serbische Propaganda in Mazedonien — alle diese Dinge dienten als Mittel, um einen Sturm von Angriffen gegen Serbien, wie dies im Jahre 1907 der Fall war, hervorzurufen; selbst der bulgarische Außenminister enthielt sich nicht offener Drohungen. Die Mißstimmung Bulgariens gegen Serbien hat gleichviel, welches die Motive sind, die dafür angeführt werden, nur den einen Grund: Die Bulgaren wissen, daß Serbien das einzige Hindernis für ihre These, die mazedonische Frage sei eine ausschließlich bulgarische Frage, bildet. J e mehr das serbische Element seine Lebenskraft beweist, desto mehr wächst die Erregung der Bulgaren. Während sich die gespannten Beziehungen auf diese Weise durch derartige unsinnige und unbegründete Angriffe kundtaten, erhielt die austrophile Tendenz der bulgarischen Außenpolitik einen immer entschiedeneren Charakter. In dieser Epoche, besonders nach der Regierungsübernahme



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durch Baron Aehrenthal, gewannen die Beziehungen Bulgariens zu Österreich-Ungarn an Herzlichkeit. Die türkische Julirevolution brachte im Grunde genommen keine Änderung in den serbisch-bulgarischen Beziehungen, doch verloren diese ihre Schärfe und nahmen einen kühl-korrekten Charakter an. Das konstitutionelle Regime in der Türkei und die lokalen Ereignisse (Ergebung der Banden, Verbrüderung der Nationalitäten) veränderten das Bild der mazedonischen Frage; die Beziehungen Bulgariens zu Österreich behielten ihren Charakter, und das ist wichtig. Die Ereignisse des vergangenen Herbstes haben sogar bewiesen, daß diese Beziehungen noch enger geworden sind. Das österreichisch-bulgarische Zusammengehen, das sich bei der Unabhängigkeitserklärung Bulgariens und der Annexion Bosniens offenbart hatte, war keine Improvisation, sondern stellte das Ergebnis einer zweijährigen von Bulgarien sowie von Österreich-Ungarn geleisteten Arbeit dar. 2. Serbien, das immer viel Sympathie für die Frage der bulgarischen Unabhängigkeit hatte, ergriff, indem es auf alles, was sich zwischen ihm und Bulgarien ereignet hatte, den Schleier der Vergessenheit warf, sogleich nach den letzten Aprilunruhen in Konstantinopel die Initiative zu einem Abkommen mit Bulgarien für den Fall, daß die Unruhen den status quo gefährden sollten. Die serbischen Demarchen wurden auf diplomatischem Wege, als auch durch die Presse gemacht, und diese Arbeit stellte den Hauptgegenstand des vertraulichen Schriftwechsels zwischen den Belgrader Ministern und der serbischen Gesandtschaft in Sofia während der letzten drei Monate dar. Diese Korrespondenz zeigt jedoch klar, daß die bulgarischen offiziellen Kreise sich mit der bloßen Entgegennahme der Erklärungen begnügt haben und ihrerseits auch nicht das geringste Zeichen eines guten Willens zu einer, sei es wirt-



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schaftlichen, sei es politischen Annäherung gaben. Dazu einige Beispiele: Gelegentlich einer Unterredung, die Paprikow während des Aufenthalts des Königs Ferdinand in Wien (der das Gerücht von einer gemeinsamen österreichisch-bulgarischen Aktion hervorrief) mit dem serbischen Minister führte, erklärte der erstere, daß die Ententen zwischen den Balkanstaaten wenig praktische, unausführbare und sogar gefährliche Wünsche darstellten. Als Antwort auf einen Artikel der „Samouprawa" (offiziöses serbisches Organ), der von der Notwendigkeit einer serbisch-bulgarischen Entente sprach, veröffentlichte das offiziöse bulgarische Blatt „Preporetz" einen Artikel, dessen Ton und ungenaue wie illoyale Argumentation die feindliche Stimmung gegen Serbien kundtat. In diesem Artikel wurde offen erklärt, daß das einzige Hindernis für eine serbischbulgarische Entente die serbische Politik in Mazedonien sei, daß Serbien auf Mazedonien verzichten müsse, und daß die serbische Politik eine „Eroberungspolitik", während die Bulgariens eine „Befreiungspolitik" sei. Ein weiterer charakteristischer Fall. In dem urspringlichen Wortlaut der Rede, die der serbische Gesandte anläßlich der Übergabe seines neuen Beglaubigungsschreibens halten sollte, und die Milowanowitsch selbst redigiert hatte in der Absicht, die Auffassung der serbischen Regierung über die serbisch-bulgarischen Beziehungen zu präzisieren, mußte der wichtigste Satz gestrichen weiden, da die zuständigen Kreise in Sofia ihn zu stark ausgeprägt fanden. Bulgarien hat auf den diplomatischen Schritt ausweichend und auf die Annäherungsversuche der Presse aggressiv geantwortet; ferner beginnen charakteristische Erscheinungen zwischen Wien und Sofia sich kundzutun. Als Beispiel könnte angeführt werden: der verlängerte Aufenthalt des Königs, des Ministerpräsidenten, des Kriegsninisters und des Exarchen in Wien, sodann die häufigen Zu-



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sammenkünfte Malinows mit den österreichischen Diplomaten. Auch müssen die Ideen erwähnt werden, die von den Regierungskreisen nahe stehenden Personen zu der Zeit propagiert wurden: „Die Türkei kann nicht reformiert und wieder verjüngt werden, und Serbien muß seiner Existenzbedingungen beraubt werden. Bulgarien muß, der gegenwärtigen politischen Lage Rechnung tragend, die Balkanprobleme im Einklang mit Österreich regeln, wenn es nicht aller seiner Errungenschaften in Mazedonien verlustig gehen will." Wahrscheinlich hat das in Sarajewo erscheinende offiziöse Organ „Die Bosnische Post" mit einem von Lobreden auf König Ferdinand und das bulgarische Volk strotzenden Artikel den Anstoß zu diesem politischen Kurs gegeben mit der deutlich hervortretenden Tendenz, Bulgarien einer Politik entgegenzuführen, die es in einen Konflikt mit allen Balkannationen verwickeln wird. Die Griechen und Serben, heißt es in diesem Artikel, seien der bulgarischen Propaganda in Mazedonien gegenüber vollkommen machtlos, und gerade in Mazedonien sei es, wo die jungtürkische Regierung auf die Probe gestellt werden wird. Die Bulgaren gäben sich über ihre Macht und ihre Aufgabe Rechenschaft, und das sei der Grund dafür, daß die Politiker von Belgrad, Athen und Konstantinopel in Schrecken versetzt werden, wenn sie ihren Blick auf die geographische Karte und das zukünftige bulgarische Reich vom Wardar bis zur Mündung der Maritza, aufs Ägäische Meer und vielleicht noch bis zum Marmarameer richteten. Der Artikel schließt mit einer Voraussage über die Zukunft der Balkanhalbinsel. Die Zukunft, heißt es da, werde in erster Linie von Bulgarien und dann erst von der Türkei abhängen, letzteres auch nur, wenn die jungtürkische Regierung Mazedonien vor einer neuen, noch intensiveren Intervention rette. Mazedonien sei ein Gebiet, wo die panottomanischen Jungtürken und die Panbulgaren entweder Freunde werden müßten oder die einen sich den anderen zu fügen haben würden. Die Bedeutung dieses Artikels erscheint noch größer,



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zumal das bulgarische Pressebüro ihn in alle Zeitungen von Sofia lanciert hat und die etwas später in der „Neuen Freien Presse" abgegebenen Erklärungen Malinows mit den wichtigsten Ideen dieses Artikels vollkommen übereinstimmen. Anläßlich eines Artikels der „Nowoje Wremja", in dem es hieß, daß Bulgarien die Absicht hätte, das Maximum an Erleichterungen für seine Viehausfuhr beim Abschluß eines Handelsvertrags mit Österreich zu verlangen, um auf diese Weise gleichzeitig einer Lösung der sehr peinlichen Frage in den österreichisch-serbischen Handelsvertragsverhandlungen beizutragen, hat Malinow einem Wiener Journalisten erklärt, daß Bulgarien beim Abschluß eines Handelsvertrages mit Österreich-Ungarn sich nur von seinen eigenen Interessen würde leiten lassen. Nicht um Malinow einen Vorwurf zu machen, wird dies angeführt, sondern weil es charakteristisch ist, daß Malinow es für nötig erachtet hat, selbst in Wien zu erklären, daß man den Artikel der „Nowoje Wremja" nicht in dem Sinne auslegen solle, daß zwischen Serbien und Bulgarien auf dem Gebiete der Handelsvertragsverhandlungen Solidarität herrsche. Aus den oben angeführten Tatsachen geht hervor, daß die serbischen Bemühungen in den zuständigen bulgarischen Kreisen nicht nur keine günstige Aufnahme finden, sondern daß die alten, von der bulgarischen Regierung gemachten Schwierigkeiten auch jetzt noch bestehen. Glücklicherweise muß man feststellen, daß alle bulgarischen Politiker mit der offiziellen Politik Bulgariens nicht solidarisch sind, und daß ernste Staatsmänner sogar einen absolut entgegengesetzten Standpunkt bezüglich der Fragen vertreten, die einen direkten Einfluß auf die Natur und Entwicklung der serbisch-bulgarischen Beziehungen haben. Dies läßt hoffen, daß die serbisch-bulgarische Entente nicht unmöglich sein wird. Angesichts dieser Lage der Dinge war Serbien genötigt, sich jeglicher weiteren Aktion, die seiner Würde wider-



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sprechen würde und nicht nur unnütz, sondern auch gefährlich wäre, zu enthalten. Von jetzt ab, wo jegliche diplomatische Verhandlungen und jegliche Pressepolemik aufgehört haben, scheint sich in Bulgarien ein gewisser Umschwung bemerkbar zu machen vorläufig nur in der Presse, doch ist es möglich, daß er später auch in den offiziellen Kreisen zu beobachten sein wird. Serbien wünscht aufrichtig und hofft, daß dieser Umschwung angesichts der politischen Situation auf dem Balkan wie auch der bulgarischen Interessen eine bestimmtere Form annehmen wird, es sei denn, daß Bulgarien sich nicht schon definitiv an Österreich gebunden hat. Jedenfalls bietet der gegenwärtige Moment den befreundeten Mächten die günstigste Gelegenheit, um ihren ganzen Einfluß bei der bulgarischen Regierung für die Verwirklichung der in Frage stehenden Idee einzusetzen.

94. Streng vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in Sofia vom 3./16. August 1909. — Nr. 759. Ihre letzten politischen Berichte, die die wichtige Frage der jetzigen Richtung der bulgarischen Außenpolitik erörtern, habe ich erhalten. Ihre Informationen stimmen mit dem überein, was mir in der vertraulichen Mitteilung der serbischen Regierung, die mir von dem hiesigen serbischen Vertreter übergeben wurde, mitgeteilt worden ist. Wenn man Ihren Brief mit der serbischen Mitteilung vergleicht, so kann man nicht umhin, eine gewisse Übereinstimmung der darin mitgeteilten Nachrichten zu erblicken. Von beiden Seiten wird u. a. auf den bedeutungsvollen Umstand hingewiesen, daß die bulgarische Regierung den Wunsch geäußert habe, daß die in dem Beglaubigungsschreiben des serbischen Gesandten in Sofia enthaltenen Worte über



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die engen Beziehungen zwischen den beiden slawischen Völkern gestrichen würden. Sehr bedeutsam ist die auch aus anderer Quelle bestätigte Erwähnung der Verhandlungen, die jetzt zwischen Bulgarien und Österreich stattfinden, und deren Charakter uns bis jetzt noch nicht genügend bekannt ist. Man kann übrigens mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß in Wien neben den Verhandlungen über rein kommerzielle Fragen, wovon Ihre Unterredung mit Sallabaschew zeugt, auch solche politischer Natur geführt wurden, und zwar wohl kaum in einem für Rußland sehr freundschaftlichen Sinne. Was jedoch Ihren Hinweis auf die Möglichkeit einer Aufteilung Serbiens anbelangt, so erscheint uns eine solche Annahme unwahrscheinlich, da Bulgarien wohl kaum wünscht, der direkte Nachbarstaat Österreich-Ungarns zu werden. In Anbetracht all dieser Umstände kann die russische Regierung der neuen Richtung der bulgarischen Politik nicht teilnahmlos gegenüberstehen, und ich bitte Sie, fürs erste einen vertraulichen, hierauf bezüglichen Meinungsaustausch mit dem bulgarischen Außenminister herbeizuführen. Sie können das Ihnen hiermit zur Verfügung gestellte Material benutzen, ohne jedoch zu erkennen zu geben, aus welcher Quelle es stammt, um dem Minister in freundschaftlicher Weise zu erklären, einen wie ungünstigen Eindruck auf uns einerseits die geheimnisvollen Beziehungen zu Wien und andererseits die offensichtlich unliebenswürdige Haltung dem benachbarten slawischen Staate gegenüber machen. Natürlich halten wir es für unmöglich, daß, solange die bekannten Verpflichtungen zwischen uns und Bulgarien bestehen, letzteres wirklich die Absicht hat, die Abmachungen mit Österreich zu treffen, die in den umgehenden Gerüchten erwähnt werden; doch finden wir, daß die russische Regierung, ohne sich in die inneren Angelegenheiten des Königreichs einmischen zu wollen, das Recht hat, zu erwarten, daß Bulgarien, dem Rußland soeben einen so wich-



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tigen Dienst erwiesen hat, größere Offenheit an den Tag legt. Wir erwarten Ihren ausführlichen Bericht über den Inhalt Ihrer Unterredung mit dem Minister und über den von Ihnen hierbei gewonnenen Eindruck. Iswolski.

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Schreiben des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden Außenminister vom 3./16. August 1909. Euere Exzellenz kennen bereits die sehr zufriedenstellenden Ergebnisse, die die Unterredungen Iswolskis mit den englischen Ministern während des Aufenthalts Ihrer Majestäten in Cowes gezeitigt haben. Abgesehen von Fragen mehr allgemeiner Natur hat ein prinzipielles Einvernehmen über die kretische Frage und über die Beziehungen zur Türkei ohne Schwierigkeit erzielt werden können. Ich will mich hier nur darauf beschränken, einige Einzelheiten über die persischen Angelegenheiten mitzuteilen, über die ich in meinem Telegramm vom 31. Juli/13. August kurz berichtet habe. Auch hier herrschte im Prinzip völliges Einvernehmen. Es handelte sich jedoch darum, die schwierige Frage zu lösen, unter welchen Bedingungen unsere Truppen zurückgezogen werden könnten. Um diese Maßregel zu beschleunigen, brachte das Londoner Kabinett Gründe vor, denen eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen war, doch zeigte es dabei nicht mehr die frühere Hartnäckigkeit. Die öffentliche Meinung in England begann zu fürchten, daß die zeitweilige Anwesenheit der russischen Truppen trotz der guten Absichten der russischen Begierung de facto zu einer ständigen Besetzung Persiens führen könne, was die Frage der strategischen Sicherung der indischen Grenze aufgeworfen und die Wirkung der Konvention gelähmt hätte. Die An-



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Wesenheit unserer Truppen hätte weit über die Gegenden hinaus, in denen sie sich befanden, eine Bewegung auslösen können, die sich im Orient und hauptsächlich in der Türkei verbreitet und sowohl die unsrigen als auch die englischen Interessen bedroht hätte. Außerdem hätte dies in Persien selbst Feindseligkeiten gegen Rußland genährt, was zu weiteren Unterdrückungsmaßnahmen unsererseits geführt hätte. Ohne diesen Erwägungen eine Berechtigung abzusprechen, ist es unserem Minister gelungen, den logischen Beweis zu erbringen, daß, selbst wenn wir jetzt unsere Truppen zurückziehen könnten, sie vielleicht zum zweiten Mal in Persien eindringen müßten, und daß eine zweite Evakuation viel schwieriger vor sich gehen würde als die erste. Grey hat übrigens zugegeben, daß die englischen Befürchtungen durch den Beweis der Uninteressiertheit entwaffnet wurden, den wir dadurch erbrachten, daß wir während des Wechsels des Regimes vor den Toren Teherans haltmachten. Dieser Teil der Unterredung, der Asquith, Sir A. Nicolson und ich beiwohnten, diente nur sozusagen als Einleitung zur Aufstellung unseres weiteren gemeinsamen Programms. Grey begann mit dem Hinweis darauf, daß es England natürlich sehr daran liege, sein Ansehen in seiner Interessensphäre zu erhalten, daß es aber durchaus nicht seinen Zielen entspräche, wenn der russische Einfluß im Norden durch die jetzigen Ereignisse in irgendeiner Weise geschwächt würde; daß es im englischen Interesse liege, daß das russische Ansehen, das berechtigterweise immer selbst vor Abschluß der Konvention bestanden habe, erhalten bliebe, daß folglich die russische Regierung in allen Fragen, in denen die russischen Interessen auf dem Spiele ständen, auf die Unterstützung Englands rechnen könne. Sir Edward führte drei Punkte an: er gibt zu, daß die ausländischen Offiziere in persischen Diensten nur Russen sein könnten; daß der russische Erzieher des jungen Schah nicht durch einen englischen, sei es durch Lindley,

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sei es durch einen anderen, ersetzt werden dürfe; daß England uns helfen werde, die Absichten Zill es, den Thron zu besteigen, zu durchkreuzen. Als Iswolski auf die Anomalie hinwies, daß ein kaukasischer Revolutionär, der russischer Staatsbürger ist, als persischer Polizeiminister fungiere, pflichtete Grey dieser Ansicht bei. Man besprach verschiedene Fragen, u. a. auch die Nationalität der Finanzbeiräte und der Zollbeamten. Die Lösung dieser verwickelten Frage ist aber auf später verschoben worden, nachdem Erwägungen mehr negativer Natur die vollkommene Übereinstimmung unserer Auffassung bestätigt hatten. Was die Zollverwaltung anbelangt, so meinte Grey, es wäre am einfachsten, wenn die verpfändeten Zollämter im Norden von Russen und im Süden von Engländern verwaltet würden. Er selbst führte aber dagegen an, daß ein derartiges Verfahren zu sehr einer Aufteilung Persiens ähneln würde. Bei der Besprechung dieser Frage wurde die Ansicht geäußert, daß man kaum erwarten könne, daß die persische Regierung ohne ausreichende bewaffnete Macht und ohne finanzielle Mittel die nötige Autorität und den genügenden Einfluß haben werde, um die Ordnung im Lande in einem Maß wiederherzustellen, das die Rückberufung unserer Truppen möglich machen würde — was ja der gemeinsame Wunsch unserer beiden Regierungen ist — und daß es daher nützlich und notwendig wäre, unsere Vertreter in Teheran unverzüglich anzuweisen, die Lösung aller in diesem Schreiben erwähnten Fragen, desgleichen auch alle sonstigen Mittel zu überlegen, um das Land zu befrieden und die Ordnung unter dem neuen Regime wiederherzustellen. Dieser letzte Vorschlag ist endgültig angenommen worden, als Iswolski am Tag seiner Abreise noch eine letzte Unterredung mit Sir E. Grey in London hatte. Grey hat mir dies später bestätigt und gesagt, der englische Vertreter in Teheran sei beauftragt worden, sich



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unserem Gesandten zur Verfügung zu stellen, um diese Fragen, die übrigens vom letzteren zur Diskussion gestellt werden sollten, zu prüfen und das Nötige durchzuführen Benckendorff.

96. Bericht des russischen Botschafters in Berlin an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 7./20. August 1909. Die Zusammenkunft Seiner Kaiserlichen Majestät mit Kaiser Wilhelm in Cherbourg und Cowes hat in den Regierungskreisen und der öffentlichen Meinung einen äußerst befriedigenden Eindruck gemacht. Obwohl die Begegnung der beiden Monarchen einen ganz privaten Charakter trug, mißt man ihr hier ernste politische Bedeutung bei, da man sie für ein sicheres Pfand des europäischen Friedens hält, namentlich die Zusammenkünfte in Cherbourg und Cowes. Diese Ansicht gibt der Artikel in der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" wieder. Wie Euere Exzellenz ersehen wollen, schließt dieser Artikel mit der ehrerbietigsten Bewillkommnung der Kaiserlichen Majestäten beim Besuch der deutschen Gewässer. Osten-Sacken.

97. Streng vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 12./25. August 1909. In letzter Zeit hat das Ministerium des Auswärtigen aus verschiedenen Quellen Informationen erhalten, denen zufolge eine gewisse Abkühlung in den Beziehungen zwischen Bulgarien und Serbien eingetreten ist, die angeblich auf



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geheime Verhandlungen zwischen Österreich-Ungarn und Bulgarien zurückzuführen ist. Da wir dieser Frage, die zweifellos eine weitgehende Wirkung auf die Entwicklung der Ereignisse auf dem Balkan haben kann, große Bedeutung beimessen, halte ich es für meine Pflicht, Sie mit den wichtigsten einschlägigen Dokumenten bekanntzumachen, und übermittle Ihnen zu Ihrer persönlichen Information die vertrauliche serbische Mitteilung vom 28. Juli dieses Jahres, sowie die vertraulichen Schreiben unseres Geschäftsträgers in Sofia vom 17. und 28. Juli und die Abschrift meines Schreibens an unseren Geschäftsträger vom 3. August Nr. 759. iBwolski.

98. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 29. September/12. Oktober 1909. Prinz Ito fährt nach Charbin, um unsern Finanzminister zu sprechen. Er hat dabei die Absicht, beruhigende Erklärungen über das letzte japanisch-chinesische Abkommen abzugeben, und wird vielleicht den Versuch machen, den Boden für eine Annäherung zum Schutz der russisch-japanischen Interessen vorzubereiten. Auch wird er die Frage eines endgültigen Abkommens zwischen der ostchinesischen und der südmandschurischen Eisenbahngesellschaft berühren. Obwohl Ito nicht der jetzigen Regierung angehört und seine Mission keine offizielle ist, so hat er doch mit den Mitgliedern des Kabinetts Fühlung genommen. Jedenfalls wird die japanische Regierung seine große Autorität und seinen Ruf eines überzeugten Russenfreundes dazu benutzen, um in der russischen öffentlichen Meinung eine möglichst günstige Stimmung hervorzurufen. Einige Zeitungen weisen schon darauf hin, man könne vielleicht ein russisch-japanisch-chinesisches Übereinkommen in mandschurischen Fra-



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gen erzielen und dadurch ein Gegengewicht gegen amerikanische Gelüste in der Mandschurei schaffen. Malewski-Malewitsch.

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Telegramm des russischen Gesandten in Peking an den russischen Außenminister vom 2./15. Oktober 1909. Die Nachricht von der Ankunft des Prinzen Ito zum Besuch unseres Finanzministers scheint in hiesigen Regierungskreisen starke Beunruhigung hervorgerufen zu haben, da man eine Annäherung zwischen Rußland und Japan zum Schaden Chinas befürchtet. Man spricht wieder von der Möglichkeit, daß wir den südlichen Abschnitt der mandschurischen Eisenbahn verkaufen und ein Abkommen über die Mandschurei unterzeichnen. Es will mir scheinen, daß die chinesische Regierung befürchten muß, daß die ablehnende Haltung einiger Mächte, besonders Rußlands, den chinesisch-japanischen Abmachungen gegenüber im Zusammenhang mit den Protesten der Ausländer in der Charbinschen Frage zu einem engen Einvernehmen zwischen Rußland und Japan führen könne, um die gegenseitigen Interessen in der Mandschurei gegen China und die übrigen Mächte zu schützen. Das Mißtrauen der Chinesen wird wohl noch durch die Erkenntnis bestärkt, daß sie die uns gegenüber am 27. April übernommenen Verpflichtungen nicht einhalten und einen Widerstand an den Tag legen, der uns leicht dazu bewegen könnte, uns die Unterstützung Japans zur Lösung der schwebenden Fragen zu sichern. Falls die Chinesen mir irgendwelche Fragen hierüber stellen, habe ich die Absicht, ausweichend zu antworten und sie nicht zu beruhigen, um sie hierdurch vielleicht zu einer nachgiebigeren Haltung uns gegenüber zu bewegen. Korostowetz.



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100. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Peking vom 5./18. Oktober 1909. Ich teile Ihre Ansicht, daß es nützlich sei, den Chinesen anläßlich der Reise des Prinzen Ito und der Möglichkeit einer Annäherung zwischen Rußland und Japan keine beruhigenden Erklärungen abzugeben. Iswolski.

101. Bericht des russischen Botschafters in Wien an den russischen Außenminister vom 14./27. Oktober 1909. Die Begegnung unseres Kaisers mit dem König von Italien und der Umstand, daß Seine Majestät einen Umweg gemacht hat, um nicht österreichisch-ungarisches Gebiet zu berühren, hat in hiesigen Kreisen außerordentlich verstimmt. Die Regierung hat jedoch aus Ehrgeiz ihren Eindruck sorgfältig verschwiegen und auch auf die Presse eingewirkt, die anläßlich der Monarchenzusammenkunft mehr Mäßigung und Takt gezeigt hat, als man von ihr hätte erwarten können. Immerhin läßt sich in den Gesprächen mit politischen Führern und Vertretern der Presse eine gewisse Verstimmung deutlich erkennen. Die offiziösen Organe mit dem „Fremdenblatt" an der Spitze sprechen dem Ereignis politische Bedeutung ab, andere, mehr oder weniger unter der Kontrolle des Ministeriums des Auswärtigen stehende Organe betonen sogar, daß dies Ereignis ein günstiges sei, da die Annäherung zwischen Rußland und Italien eine diplomatische Garantie für die Erhaltung des allgemeinen Friedens bedeute. Urussow.

81 e b er t, BenckendorlT. I.

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102. Streng vertrauliches Schreiben des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 14.J27. Oktober 1909. Der Unterstaatssekretär des Auswärtigen hat zu mir von der großen Befriedigung gesprochen, mit der die Nachricht von dem Besuche und dem feierlichen Empfang unseres Kaisers in Racconigi von der Regierung und der öffentlichen Meinung in England begrüßt worden sei. Diese Reise sei außerordentlich zeitgemäß gewesen und sei sowohl für Rußland als auch für England und Frankreich, ganz besonders aber für Italien ein bedeutsames Ereignis, da die Beziehungen Italiens zu Österreich sich merklich verschlechterten. In der Abberufung des österreichischen Botschafters, des Grafen Lützow, der angeblich die politischen Ansichten Aehrenthals nicht teile, erblicke man hier einen weiteren Beweis für die Trübung der österreichisch-italienischen Beziehungen. Einzelheiten über die Zusammenkunft in Racconigi sind natürlich in London noch nicht bekannt, und im hiesigen Ministerium urteilt man nur nach den günstigen italienischen, französischen und englischen Pressenachrichten, hauptsächlich jedoch nach der Mitteilung, die Iswolski in Gegenwart Tittonis dem Berichterstatter des „Temps" gemacht hat. Ich möchte hinzufügen, daß Hardinge mir in rein privater Form erklärt hat, er persönlich teile bis zu einem gewissen Grad die Ansicht eines Teiles der europäischen Presse über die etwas merkwürdige Lage, die Italien jetzt hinsichtlich der Mächtegruppierung eingenommen hat. Im Falle von Verwicklungen, hauptsächlich in Fragen des nahen Ostens, müßte Italien entweder seinen Bundesgenossen untreu werden oder gegen seine eigenen nationalen Interessen handeln. Diese Worte bestätigen, wie mir scheint, den wirklich großen Eindruck, den die Zusammenkunft in Racconigi auf hiesige Regierungskreise gemacht hat, die der Ansicht zuzu-



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neigen scheinen, daß Italien von jetzt ab der Entente näher steht als dem Dreibunde. Zum Schlüsse sagte Hardinge noch einmal, daß das soeben in Italien stattgefundene Ereignis in England mit Ungeduld erwartet worden sei, und daß man jetzt nur noch hoffe, daß die in Aussicht genommene Zusammenkunft unseres Kaisers mit dem Sultan nur bis zum nächsten Jahr verschoben, ihr Gedanke aber nicht endgültig fallen gelassen sei. Die Lage der Dinge in der Türkei, fügte er hinzu, beginne gemäß den Berichten des englischen Botschafters in Konstantinopel sich allmählich zu beruhigen, und eine Begegnung unseres Kaisers mit dem neuen Sultan würde jedenfalls die Bedeutung eines sehr wichtigen internationalen politischen Ereignisses haben. Augenscheinlich fährt man hier fort, die Ereignisse in der neuen Türkei mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen, und man befürchtet, daß die letztere noch einmal unter den Einfluß und die Vormundschaft Deutschlands geraten könnte. Poklewski-Koziell.

103. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 15./28. Oktober 1909. Ich benutzte eine private Zusammenkunft mit Paschitsch und Nowakowitsch, um mich ihnen gegenüber Ihrer Instruktion gemäß auszusprechen. Beide sagten, sie verstünden die Wichtigkeit der Annäherung an Bulgarien, sie (die Minister) hätten aber bei der Besprechung der Angelegenheit Bedenken getragen, auf den König, der sich durch die Nichterwiderung seines Besuches durch König Ferdinand tief verletzt fühle, einzuwirken. Dieses Gefühl der Kränkung werde hier von sehr vielen geteilt. Der König hätte sich zudem infolge seines Gesundheitszustandes nicht ohne ein gewisses 10*



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Risiko ins Gebirge begeben können und in Kruschewatz allein auf die Rückkehr seines Gastes von der Exkursion warten müssen. Nach dem Eindruck, den Nowakowitsch gewonnen hat, sei König Ferdinand mit der ihm zuteil gewordenen Liebenswürdigkeit sehr zufrieden gewesen und habe dem Thronfolger große Aufmerksamkeit geschenkt. Der König, der nur von seinem Hofgefolge begleitet gewesen sei, habe beiläufig politische Fragen berührt, wobei er erwähnte, daß Bulgarien viel Veranlassung zur Unzufriedenheit mit Österreich hätte. Hartwig.

104. Bericht des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 16./29. Oktober 1909. Die Urteile der russischen und italienischen Presse, die in der Zusammenkunft von Racconigi eine gegen den Dreibund und hauptsächlich gegen Österreich gerichtete feindliche Manifestation erblicken, sind hier nicht unbemerkt geblieben. Sowohl die Regierung, als auch die offizielle Presse schlagen jedoch bis jetzt einen ruhigen und gemäßigten Ton an. Baron Schön hat erklärt, daß das Berliner Kabinett keine Beunruhigung wegen der russisch-italienischen Freundschaft empfinde. Sowohl die Reden, als auch alle Einzelheiten des Besuches in Racconigi bestärkten ihn in dieser Ansicht. Ebenso äußert sich auch die „Kölnische Zeitung", wobei jedoch ein leichter Unmut zutage tritt, daß die italienische Presse anläßlich dieses Besuches vieles geschrieben hat, waB besser unterblieben wäre. Aber trotz aller dieser Erklärungen scheint in den Regierungskreisen Deutschlands doch eine gewisse Sorge und Beunruhigung zu herrschen, da man nicht weiß, wie die neuen russisch-italienischen Beziehungen auf die Stellung

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Italiens im Dreibund und auf den allgemeinen Gang der europäischen Politik zurückwirken werden. Osten- S a c k e n .

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Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 17./30. Oktober 1909. — Nr. 213. Soeben hat mich der serbische Minister des Auswärtigen Milowanowitsoh besucht. Er rechnet bestimmt damit, daß der Besuch in Racconigi für Serbien günstige Folgen haben werde. Aus seinen Unterredungen mit Grey und Hardinge hat er denselben Eindruck gewonnen, über den ich in meinem Briefe vom 14./27. Oktober über die von Italien jetzt eingenommene internationale Lage berichtet habe. Milowanowitsoh zweifelt daran, daß Österreich-Ungarn sich zu irgendeinem neuen Schritte entschließen werde, um die Bedeutung der Zusammenkunft in Racconigi abzuschwächen, wie Grey dies bis zu einem gewissen Grad zu befürchten scheint. — E r ist geneigt, in der halboffiziellen Reise des bulgarischen Königs nach Serbien den ersten Schritt von seiten Seiner Majestät zu erblicken, um zwischen den beiden benachbarten Königreichen engere Beziehungen herzustellen. Etter.

106. Vertrauliches Schreiben des russischen Geschäftsträgers in London an den Außenminister vom 21. Oktober/3. November 1909. Am 17./30. Okt. habe ich Ihnen telegraphisch über den Eindruck berichtet, den der serbische Außenminister während



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seines Londoner Besuches aus seinen Unterredungen mit Grey und Hardinge über die Stellung Italiens in der internationalen Politik gewonnen hat. Im allgemeinen ist ihm dasselbe gesagt worden, wie mir von seiten Hardinges. Milowanowitsch gegenüber scheint aber Grey ganz besonders auf die Möglichkeit hingewiesen zu haben, daß von Seiten Österreichs ein Schritt erfolgen könne, um den nachhaltigen und günstigen Eindruck abzuschwächen, den der Besuch des russischen Kaisers am italienischen Hofe überall hervorgerufen hat. Diese Befürchtungen scheinen Milowanowitsch übertrieben zu sein; es erscheint ihm unwahrscheinlich, daß Aehrenthal sich zu irgendeinem aktiven Schritt entschließen wird. Der serbische Minister hat mir nicht gesagt, weshalb er nach London gekommen ist; Hardinge jedoch, den ich gestern gesehen habe, erklärte mir, er und Grey fänden Milowanowitsch etwas unruhig, vielleicht auch ein bißchen unternehmungslustig. Es sei ihnen unverständlich, weshalb er hier in London die Frage aufgeworfen habe, daß der Endpunkt der zukünftigen adriatischen Eisenbahn mehr nach Süden verlegt werden solle. Man habe ihm geantwortet, daß England kein direktes Interesse an dieser Angelegenheit habe, die eher Rumänien interessiere, mit dem sich ja Serbien verständigen solle. Außerdem habe der serbische Minister den Wunsch geäußert, man solle die zukünftige Lage des Sandschaks von Nowibazar genau bestimmen, um eine mögliche Besitzergreifung durch Österreich zu verhindern. Hardinge sagte mir nicht, was Grey erwidert hat, doch scheint die Antwort negativer Natur gewesen zu sein, da er mir gleichzeitig mitteilte, daß Tittoni sich mit einem ähnlichen Ersuchen an den englischen Botschafter in Rom gewandt hätte. Tittoni, der dem zwischen Italien und Rußland in Racconigi getroffenen Abkommen über die Erhaltung des status quo auf dem Balkan Rechnung trägt — einem Abkommen, dem England und Frankreich beigetreten sind — scheint es für möglich



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zu halten, auch die anderen Staaten, d. h. Österreich und Deutschland, aufzufordern, diesem Abkommen beizutreten. Hardinge nannte Tittoni einen „äußerst nervösen" Menschen und gab mir zu verstehen, daß die Anregung einer solchen Frage hier für unzeitgemäß und gefährlich gehalten wird. Es will mir scheinen, daß man hier mit dem Milowanowitsch gemachten Hinweis auf die Stellung Italiens und die möglichen Absichten Österreichs nicht nur bezweckte, Serbien von einem unbedachten Schritte zurückzuhalten, sondern auch Italien veranlassen wollte, aus der abwartenden Stellung nicht herauszutreten. In Wirklichkeit hält man wohl auch hier irgendeinen Schritt Aehrenthals als Entgegnung auf die Zusammenkunft in Racconigi für kaum wahrscheinlich . . . Etter.

107. Vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Berlin com 22. Oktober/4. November 1909. Die Zusammenkunft unseres Kaisers mit dem König von Italien in Racconigi hat zu verschiedenen Kommentaren Anlaß gegeben, von denen einige geeignet sind, den Charakter der Zusammenkunft zu entstellen und Argwohn hinsichtlich unserer Politik hervorzurufen. Ich halte es für nützlich, Ihnen einige Einzelheiten mitzuteilen, von denen Sie in Ihren Gesprächen mit Bethmann-Hollweg und Baron Schön Gebrauch machen können. Es ist bekannt, daß die Reise Seiner Majestät der Gegenbesuch auf den Besuch des Königs von Italien in Peterhof im Jahre 1902 ist. Es ist immerhin klar, daß die Zusammenkunft in Racconigi keine einfache Etikettenfrage ist, und daß sie infolge der gegenwärtigen Umstände eine wichtige politische Bedeutung erhält. Diese Bedeutung geht schon



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aus den gewechselten Reden und aus der offiziösen Mitteilung hervor, die ich im Einverständnis mit Tittoni in der Presse veröffentlicht habe. Der Kaiser von Rußland und der König von Italien haben nicht nur ihre persönliche Freundschaft beteuert, sondern auch die vollkommene Übereinstimmung der Ansichten und Interessen der beiden Regierungen. Die Mitteilung in der Presse vervollständigt und ergänzt diesen Gedanken, indem in ihr festgestellt wird, daß Rußland und Italien in ihrer Balkanpolitik dasselbe Ziel verfolgen, d. h. die Kräftigung des politischen status quo in der Türkei, desgleichen die Unabhängigkeit und die normale und friedliche Entwicklung der Balkanstaaten. Ernste und gemäßigte Organe der europäischen Presse haben nicht gezögert, zuzugeben, daß die russisch-italienische Annäherung, so dargestellt, niemanden beunruhigen könne und als eine weitere Garantie der Erhaltung des Friedens betrachtet werden müsse. Unglücklicherweise haben eilige weniger gemäßigte Zeitungen in dieser Annäherung (ine gegen Österreich-Ungarn oder gegen den ganzen Dreibund gerichtete Spitze erblicken wollen. Eine derartige Interpretation muß aufs entschiedenste zurückgewiesen werden. Der Gedanke einer Übereinstimmung der Ansichten md der Interessen Rußlands und Italiens in Balkanfragen ist nicht neu. Er hat schon vor zwei Jahren in politischen Reden, die von Tittoni und mir gehalten wurden, Ausdruck gefunden, und niemand hat damals daran gedacht, eine derartige Auffassung für unvereinbar mit den Verpflichtungen Rußlands und Italiens ihren Bundesgenossen gegenüber zu halten. In der Tat könnten Rußland und Italien sich nur in einem einzigen Falle im Gegensatze zu einer dritten Macht befinden: dann nämlich, wenn sie es mit Bestrebungen zu tun hätten, die den beiden zwischen ihnen vereinbarten Grundsätzen, nämlich denen der Kräftigung des jetzigen politischen status quo in der Türkei und der lor-



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malen und friedlichen Entwicklung der Balkanstaaten widersprächen. Diese beiden Punkte bilden jedoch einen wichtigen Bestandteil des gemeinsamen politischen Programms aller Mächte, und wir sind überzeugt, daß auch Deutschland und Österreich ebenso bereit sind wie Rußland und Italien, diesen Grundsatz mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stützen. Indem ich also bestreite, daß unsere Annäherung an Italien eine gegen Deutschland oder Österreich-Ungarn gerichtete Spitze enthält, drücke ich den Gedanken des Petersburger Kabinettes noch nicht vollkommen aus: ich gehe noch weiter und zögere nicht zu erklären, daß unserer Ansicht nach jeglicher Versuch, das System der Allianzen, auf denen der Friede Europas so lange beruht hat, zu stürzen, eine ernste Bedrohung dieses Friedens bedeuten müßte. Dies ist eine Überzeugung, die ich dem deutschen Reichskanzler und Baron Schön gegenüber zum Ausdruck gebracht habe, und ich kann diesen Punkt nicht stark genug betonen. Ich bin aber auch fest überzeugt, daß das in Frage stehende System uns nicht daran hindern soll, zu den Mächten des Dreibundes die allerfreundschaftlichsten Beziehungen zu unterhalten. Wir bestätigen mit Befriedigung, daß die zweimalige Zusammenkunft zwischen unserem Kaiser und Kaiser Wilhelm dazu beigetragen hat, alle Mißverständnisse zwischen uns und Deutschland zu beseitigen. Leider können wir nicht dasselbe von Österreich-Ungarn sagen, da nicht wir es sind, die diese Beziehungen gestört haben. Wenn wir die sich uns heute bietende Gelegenheit benutzen, um uns Italien zu nähern, so will es uns scheinen, daß die Sache des Friedens und der allgemeinen Harmonie dabei nur gewinnen kann, und wir sind der festen Überzeugung, daß dies auch die Ansicht des Berliner Kabinetts sein wird. Eins will ich noch hinzufügen. Man hat viel über die Reiseroute des Kaisers gesprochen. Seine Majestät hat in der Tat österreichisch-ungarischen Boden vermeiden



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wollen. Sie werden hierüber nicht erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß Österreich-Ungarn bis jetzt keinen Versuch gemacht hat, den Eindruck seiner Politik während der letzten Krise Rußland gegenüber abzuschwächen, einer Politik, die unseren Souverän berechtigterweise verletzt hat. Iswolski.

108. Instruktionen des russischen Außenministers an die russischen Vertreter in Sofia, Belgrad und Cetinje anläßlich der Monarchenbegegnung in Racconigi vom 22. Oktober/4. November 1909. Die Zusammenkunft unseres Kaisers mit dem König von Italien hat als ein bedeutsames Ereignis die Aufmerksamkeit der ganzen politischen Welt auf sich gelenkt, und dies ganz besonders im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den Regierungen Europas, wie sie von der Politik der letzten Jahre bestimmt worden sind. Da es keinem Zweifel unterliegt, daß die Balkanstaaten in dieser Zusammenkunft einen wichtigen Faktor der weiteren Entwicklung der Balkanpolitik erblicken werden, halte ich es für nötig, Ihnen einige nähere Instruktionen zukommen zu lassen. Der Kaiser hat es im vergangenen Herbst für nötig erachtet, dem italienischen Hof einen Gegenbesuch zu machen, nachdem König Victor Emanuel ihn vor einigen Jahren in Peterhof aufgesucht hatte. Die Bande aufrichtiger Freundschaft, welche die beiden Höfe und die beiden Regierungen und Länder verbinden, sind in dem Empfange, der unserem Kaiser zuteil geworden ist, deutlich zum Ausdruck gekommen. Aus dem Wortlaut der Reden, die in Racconigi gehalten worden sind, werden Sie ersehen, daß die immer enger werdenden Beziehungen zwischen beiden



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Ländern sowohl vom König von Italien, als auch vom Kaiser hervorgehoben wurden, wobei gleichzeitig auf die beiderseitigen Bestrebungen, den allgemeinen Frieden zu erhalten, hingewiesen wurde. Dieser Grundgedanke, auf Balkanfragen angewandt, soll Ihnen zur Richtlinie in allen Ihren Gesprächen mit den dortigen politischen Führern dienen. Hierbei wollen Sie beachten, daß während der Beratungen in Racconigi über Balkanfragen sowohl Rußland, als auch Italien auf das bestimmteste erklärt haben, daß sie es für durchaus nötig halten, den augenblicklichen status quo in der Türkei und die Unabhängigkeit und die normale friedliche Entwicklung der übrigen Balkanstaaten zu schützen. Beide Regierungen werden alle ihre Anstrengungen auf die Erreichung dieses Zieles richten. Sie werden sich wohl vollkommen Rechenschaft darüber abgeben, wie wichtig die soeben angeführte Erklärung ist. Die Balkanstaaten müssen sich davon überzeugen, daß eine Verletzung der augenblicklichen politischen Lage auf dem Balkan weder die Zustimmung, noch die Unterstützung Rußlands oder Italiens finden werden, daß die Politik der beiden Großmächte aber gleichzeitig das Ziel verfolgt, das künftige Schicksal der Balkanstaaten und ihre unabhängige Existenz zu sichern. Dies kann natürlich die genannten Balkanstaaten nur in dem Bewußtsein bestärken, daß sie vor irgendwelchen äußeren Angriffen sicher sind, und daß sie alle ihre Kräfte auf die ruhige Entwicklung ihres Staatslebens konzentrieren können. Als Beschützerin aller slawischen Interessen auf dem Balkan hat Rußland stets versucht, in den Balkanvölkern das Bewußtsein zu wecken, daß sie sich zum allgemeinen Wohl so eng wie möglich zusammenschließen müssen. Dies wird auch in Zukunft unser Bestreben sein; doch kann dies in vollem Maße nur dann erreicht werden, wenn die Balkanßtaaten selbst uns in diesen Bestrebungen unterstützen, und deshalb begrüßen wir mit der größten Befriedigung jedes

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Anzeichen einer Annäherung zwischen ihnen. Die Zusammenkunft in Racconigi ist diesen Bestrebungen unbedingt günstig und wird zur weiteren Kräftigung und Entwicklung des Grundsatzes unserer Politik im nahen Osten — „der Balkan für die Balkanstaaten" — beitragen. Iswolski

109. Bericht des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 24. Oktober/6. November 1909. Die Zusammenkunft unseres Kaisers mit dem König von Italien wurde von der türkischen Regierung und der öffentlichen Meinung zuerst als ein für die Türkei günstiges Ereignis angesehen. Die offiziöse Zeitung „Tanin" hat in Erfahrung gebracht, daß die Basis der Einigung zwischen Rußland und Italien die Erhaltung des status quo auf dem Balkan sei, und in einem Artikel vom 19. Oktober die Meinung ausgedrückt, daß die Türkei in diesem Falle in dem genannten Abkommen nur eine neue Unterstützung ihrer Bestrebungen erblicken könne. Diese Ansicht entspricht vollkommen der Mitteilung, die der hiesige italienische Botschafter im Auftrage Tittonis gemacht hat, sowie dem Inhalt meiner Gespräche mit türkischen Politikern. In einem Gespräch mit dem Großwesir sagte mir dieser mit offensichtlicher Befriedigung, daß die Zusammenkunft in Racconigi ein bedeutender Erfolg der russischen Diplomatie über Österreich-Ungarn sei. In diesen Tagen wurden jedoch auch andere Betrachtungen laut. Aus irgendeiner vertraulichen, wahrscheinlich österreichisch-ungarischen Quelle soll die türkische Regierung in Erfahrung gebracht haben, daß man in Racconigi auch mit der Unmöglichkeit, den status quo auf dem Balkan zu erhalten, gerechnet habe, und daß Rußland und Italien sich für diesen Fall Kompensationen auf Kosten der Türkei zu-



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gesichert hätten. In diesem für die Türkei ungünstigen Sinne soll man in Racconigi auch über Kreta gesprochen haben. Der gleichzeitige Besuch des bulgarischen Königs in Serbien und die Gerüchte über die Nichterneuerung des Dreibundes haben diese Beunruhigung noch erhöht. Diese Stimmung findet ihren Ausdruck in dem mir vertraulich mitgeteilten Vorschlag, den der Großwesir dem Minister des Auswärtigen gemacht hat, wie auch in dem zweiten Teil des erwähnten Artikels des „Tanin". Diese Zeitung schreibt, daß Kreise, die für die Richtigkeit ihrer Informationen einstehen, erklären, daß Rußland und Italien sich für den Fall der Verletzung des status quo gewisse Kompensationen gesichert hätten, welche augenscheinlich darin bestehen sollten, daß die Türkei nicht nur zugunsten der Macht, die den Frieden gestört haben würde, sondern auch zugunsten Rußlands und Italiens Zugeständnisse werde machen müssen. Aber auch dieser Deutung der Zusammenkunft in Racconigi gegenüber ist das türkische offiziöse Organ kaltblütig geblieben, indem es in der Tendenz der Großmächte, mit dem Zerfall der Türkei zu rechnen, nur ein neues Argument zugunsten des patriotischen Zusammenschlusses aller Türken erblickt. Den Großwesir hat hierbei augenscheinlich die Frage von Kreta besonders beunruhigt. Der Minister des Auswärtigen hat mit mir im Zusammenhang mit Racconigi über Kreta gesprochen und mich gefragt, wie wir die zwischen Rußland und Italien vereinbarte Aufrechterhaltung des status quo in bezug auf Kreta verstünden. Ich entgegnete, daß dieser status quo derselbe sei, der zurzeit bestehe, und der durch die Anwesenheit der Stationäre der Schutzmächte, welche die türkische Flagge schützen, bestimmt werde. Wenn der Großwesir sagt, daß man falls sich die von ihm aus „guter Quelle" erhaltenen Nachrichten als richtig erweisen sollten, der türkischen Politik eine neue Richtung geben müsse, so ist es nicht klar, was damit gemeint



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ist. Ich bin der Ansicht, man müßte dem hiesigen Großwesir einige Mitteilungen über die Unterhandlungen in Racconigi machen und ihn zu überzeugen suchen, daß das Wort „Kompensation" in Racconigi überhaupt nicht gefallen sei, und daß keine für die Türkei ungünstigen Beschlüsse hinsichtlich Kretas gefaßt worden seien. Der italienische Botschafter ist mit dem obigen Artikel des „Tanin" unzufrieden und beabsichtigt, sich dem Außenminister gegenüber in erwähnter Weise auszusprechen. Auch scheint es mir, daß einige vertrauliche Mitteilungen an die türkischen Botschafter in Rom und Petersburg dazu beitragen werden, die Besorgnisse der Türkei zu beschwichtigen. Der italienische Botschafter, der mit den hiesigen Verhältnissen gut vertraut ist, ist der Ansicht, daß derartige Mitteilungen um so beruhigender wirken müßten, wenn sie durch Vermittlung des Londoner Kabinetts erfolgen würden. Ich schließe mich dieser Ansicht vollkommen an. Was die Reise König Ferdinands nach Serbien anbelangt, dem die Türken immer noch stark mißtrauen, so fragt man sich hier, ob nicht ein Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und dem Text der offiziösen Mitteilung über die russisch-italienischen Verhandlungen in Racconigi der die „normale Entwicklung der Balkanstaaten" erwähnt, bestehe: man fragt sich, ob man in diesem Ausdruck nicht eine Ermutigung der serbischen Aspirationen in Mazedonien erblicken müsse. Da „normale Entwicklung" nur „friedliche Entwicklung" bedeuten kann, und da der erwähnte Text sich zweifellos in erster Linie darauf bezog, daß Serbien und Montenegro sich frei vom vorherrschenden wirtschaftlichen und politischen Druck von Seiten Österreichs entwickeln sollen, so werde ich versuchen, die Bedenken der Türken zu zerstreuen, indem ich diese Auffassung vertreten werde. Tscharykow.

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110. Auszug aus einem Schreiben des russischen Botschafters in Rom an den russischen Außenminister vom 25. Oktoberj7. November 1909. Ich will Rom nicht verlassen, ohne Ihnen einige Eindrücke mitzuteilen, die ich bei meiner Rückkehr hierher empfangen habe. Es handelt sich allerdings nur um Andeutungen, doch werden sie vielleicht dazu beitragen, Ihnen ein Bild von der Stimmung in den hiesigen Kreisen zu geben. Der so glückliche Eindruck, den der Besuch unseres Kaisers in Italien hervorgerufen hat, wirkt immer weiter. Dieser Eindruck hat die Erwartung, ich möchte sagen, die Hoffnung Tittonis weit übertroffen. In der politischen Welt betont man immer wieder die Freude über die Annäherung an Rußland. Jetzt wünscht man hier einen direkten Kontakt zwischen Rußland und Italien ohne die Vermittlung Frankreichs, das man früher als einen wichtigen Faktor betrachtet hat. Als die französische Flotte in Neapel ankam, empfand der italienische Außenminister eine gewisse Besorgnis, daß das Zusammenfallen der beiden Ereignisse in Österreich und in Deutschland einen ungünstigen Eindruck hervorrufen könnte. Da Tittoni den Argwohn dieser beiden Mächte nicht erwecken wollte, forderte er die Vertreter der Presse auf, sich aller Kommentare über die Anwesenheit der französischen Flotte in Neapel zu enthalten. Es scheint, daß ähnliche Instruktionen auch den Vertretern der ausländischen Presse in Rom gegeben worden sind. Die italienischen Zeitungen sind diesen Anweisungen gefolgt und haben nur ganz kurze Berichte über die Festlichkeiten in Neapel gebracht. Dolgoruki.

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111. Vertrauliches Schreiben des Geschäftsträgers in Rom an den russischen Außenminister vom 27. Oktober/9. November 1909. In einem Gespräch mit mir wies mich der bulgarische Gesandte in Rom auf Milowanowitsch als einen eifrigen Verfechter der Idee der Annäherung Bulgariens an Serbien hin. Ich benutzte die Ankunft des serbischen Ministers in Rom, um ihn zu besuchen und nachzuprüfen, inwieweit die Worte Rizows der wirklichen Stimmung Milowanowitschs entsprechen. Letzterer empfing mich sehr zuvorkommend und teilte mir während des etwa einstündigen Gesprächs mit, er sei hierher gekommen, um den Boden für die Reise König Peters nach Rom vorzubereiten, für die möglichst schnelle Verwirklichung des Adriabahn-Projekts zu sorgen und schließlich in Erfahrung zu bringen, welchen Einfluß die Zusammenkunft in Racconigi auf das Schicksal der Balkanstaaten ausüben wird. Bei Tittoni, den er schon sehr lange kennt, hätte er einen wärmeren Empfang gefunden als je zuvor. „Wir haben Serbien die Möglichkeit garantiert, sich mindestens im Laufe der nächsten 50 Jahre friedlich zu entwickeln und zu festigen. Doch wird unsere Hilfe Serbien nur in dem Falle von Nutzen sein, wenn es auch selbst an seinem eigenen Ausbau mitarbeitet", so sagte ihm Tittoni. Letzterer verpflichtete sich auch ihm gegenüber, die Garantierung jenes für den Bau der transbalkanischen Eisenbahn erforderlichen Teils der Anleihe in der Kammer durchzubringen, den Italien übernimmt, und versprach ihm auch, daß König Peter nach Abstattung seines Besuches an Seine Kaiserliche Majestät den Zaren ein willkommener Gast sein werde. Etwas Ähnliches, jedoch in weniger liebenswürdiger Form mußte Milowanowitsch auch in Berlin hören, wo man ihm einfach sagte, daß der Weg nach Berlin über Wien führe. Was die Annäherung zwischen Bulgarien und Montenegro anbelangt, deren vereinte Streitkräfte eine halbe Mil-



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lion Bajonette ausmachen würden — eine zweifellos achtunggebietende Macht, da sie berufen wäre, bei sich zu Hause zu operieren —, bestätigte mir Milowanowitsch, was ich schon von Rizow gehört hatte. Auch er ist der Auffassung, daß der gemeinsame Verzicht auf Eroberungsgelüste in Mazedonien der Festigung des Friedens auf dem Balkan dienen könne, doch glaubt er nicht an die Dauerhaftigkeit der bestehenden Ordnung in der Türkei. Ihren Zerfall betrachtet er als eine Frage der nicht zu fernen Zukunft, und deshalb scheint ihm eine Art „pacte de désintéressement" nur eine ausschließlich temporäre Bedeutung haben zu können. Nur ein Abkommen über die Teilung Mazedoniens für den Fall der Liquidierung der ottomanischen Herrschaft in Europa könnte seiner Meinung nach positive Ergebnisse zeitigen. Er meint, daß es nicht schwer sein dürfte, zu einem Abkommen über die Zuteilung von Ländern nicht nur an Serbien, Bulgarien und Montenegro, sondern auch an Griechenland zu gelangen, die sich durch Stammverwandtschaft zu diesen Staaten hingezogen fühlen. Noch mehr beunruhigt ihn der Gedanke an den Sandschak. Nachdem die Österreicher den letzteren nunmehr verlassen hätten, drohe er, ein Herd von Unruhen auf dem Balkan zu werden, denn die Türken, für die der Sandschak vorläufig kein Interesse biete, und die ihn als eine Art „Zugabe' 1 betrachteten, würden im Falle eines serbischen Angriffs nicht die Macht besitzen, um sich daselbst zu behaupten. Milowanowitsch ist der Meinung, daß nur die Zustimmung Österreichs zur Aufteilung des Sandschaks unter Serbien und Montenegro den Beweis dafür liefern könnte, daß die Habsburger Monarchie keine weiteren Eroberungspläne auf dem Balkan hat. Denn, wenn auch Österreich seine Truppen aus dem Sandschak zurückgezogen habe, so sehe man bis jetzt noch nichts, was die Schlußfolgerung gestatte, daß es bereit sei, für alle Zukunft auf ihn zu verzichten. Nichtsdestoweniger mußte mir Milowanowitsch darin beistimmen, daß der gegenwärtige Augenblick nach dem Abschluß des S i e b e r t , Benckendorff. I .

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Abkommens von Racconigi, das die Erhaltung des status quo auf dem Balkan zum Ziele hat, für eine erneute Aufrollung der heiklen Sandschakfrage kaum geeignet sei. Wie ich in der Konsulta gehört habe, berührte er in seinem Gespräch mit Tittoni die Sandschakfrage nicht, obwohl er sie bei seiner Unterredung in London, sowie mit Pansa in Berlin erwähnt hatte. Zum Schluß äußerte Milowanowitsch seine Befriedigung über die bevorstehende Zusammenkunft mit Ihnen, wenn er Anfang Dezember den König Peter nach Rußland begleiten wird. Kor ff.

112. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 28. Oktober/10. November 1909. Einige englische Minister haben gestern während des Banketts in der Guild Hall politische Reden gehalten. Nachdem Asquith darauf hingewiesen hatte, daß in einigen Fragen der imperialistischen Politik bedeutende Fortschritte — nämlich durch die Vereinigung der südafrikanischen Kolonien und die Entschlüsse auf der Reichsverteidigungskonferenz — erzielt worden sind, äußerte er über die allgemeine internationale Lage ein optimistisches Urteil. Nachdem er die Herzlichkeit der Beziehungen zwischen England, Japan und Amerika berührt hatte, betonte er die Tatsache, daß das Übereinkommen Englands mit einigen andern Staaten bewiesen hätte, daß es keine selbstsüchtigen oder aggressiven Ziele verfolge, und daß jetzt kein Hindernis bestehe, die Beziehungen zu Deutschland zu regeln, was im Interesse beider Staaten liege. Ohne für die Richtigkeit meiner Angaben bürgen zu können, glaube ich annehmen zu dürfen, daß der hier schon zwei Wochen wirkende deutsche Kolonialminister Dernburg in seinen Unterredungen mit den hiesigen poli-



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tischen Führern die Frage einer Regelung der deutschenglischen Beziehungen angeregt hat, und daß der englische Ministerpräsident nur nach diesem Meinungsaustausch seinem Wunsche, die Beziehungen der beiden Länder gebessert zu sehen, so offen hat Ausdruck geben können. E t t e r .

113. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 30. Oktober/12. November 1909. — Nr. 218. Im hiesigen Auswärtigen Amt hat man aus Rom Nachrichten erhalten, denen zufolge Tittoni beabsichtigt, allen Großmächten vorzuschlagen, eine formelle Deklaration über die Erhaltung des status quo auf dem Balkan zu unterzeichnen. Auf die Frage Hardinges, ob ein derartiger Vorschlag in Racconigi zusammen mit Euerer Exzellenz erörtert worden sei, habe ich auf Grund Ihres Briefes an unseren Botschafter in Berlin vom 22. Oktober geantwortet, daß das genannte Prinzip gewiß festgelegt worden sei, daß ich aber von dem Vorschlag einer Erklärung nichts gehört hätte. Hardinge fügte hinzu, daß ein derartiger Schritt hier als unzeitgemäß, unnütz und sogar herausfordernd erscheinen würde. Etter.

114. Auszug aus einem vertraulichen Schreiben des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 30. Oktober/12. November 1909. Obwohl der Besuch des Erzherzogs Franz Ferdinand einen durchaus privaten Charakter (Einladung zur Jagd) il*

— 164 — trägt, kann man doch nicht leugnen, daß die allgemeine Lage diesem Ereignis eine ernste politische Bedeutung beilegt, welche in der äußerst nervösen Stimmung Kaiser Wilhelms deutlich zum Ausdruck gekommen ist. In der allgemeinen Entwicklung der europäischen Politik erblickt Kaiser Wilhelm gewisse Bestrebungen, Deutschland zu isolieren, und er ist immer mehr bemüht, das Bündnis mit Österreich enger zu gestalten und die Macht der habsburgischen Monarchie zu festigen. Dieses Bestreben ist nun das hauptsächlichste Ziel seiner Politik. Das hohe Alter Kaiser Franz Josephs und die in seiner Seele unverwischbaren Erinnerungen an den schweren Augenblick des Kampfes mit Preußen hemmen bis zu einem gewissen Grad die Bestrebungen des deutschen Kaisers, die ausschließliche Vorherrschaft des deutschen Einflusses in Österreich zu stärken. Die deutschen politischen Kreise haben sich bereits mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß Österreich die Vorhut beim Vorschieben der deutschen Kultur nach Osten bildet und zu seiner historischen Rolle zurückkehren müsse, das östliche Bollwerk des Deutschtums zu bilden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist der Erzherzog ein fügsameres Werkzeug als der bejahrte Monarch. Kaiser Wilhelm stellt diesen Umstand in seine Berechnung ein und versucht seine Freundschaft und seinen persönlichen Einfluß dazu zu benutzen, um die Zuneigung des zukünftigen Herrschers der Doppelmonarchie seinen Zielen dienstbar zu machen. Als bestes Mittel hat Kaiser Wilhelm den ritterlichen Schutz der morganatischen Gemahlin des Erzherzogs gewählt. Jeder, der die politische Stimmung Kaiser Wilhelms bei seiner Thronbesteigung kennt, nämlich seine Entschlossenheit, das letzte Vermächtnis seines Großvaters auszuführen und die Beziehungen zu Rußland noch enger und freundschaftlicher zu gestalten, kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß sich die Ansicht Kaiser Wilhelms



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über die Lage Deutschlands sehr geändert hat. Er scheint angeblich nicht mehr zu glauben, daß bei uns der Wunsch bestehe, die traditionellen freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland weiter zu erhalten. Trotz aller beruhigenden Erklärungen gibt er immer mehr den Bestrebungen Österreichs nach, welches das übertriebene Vertrauen seines Bundesgenossen dazu benutzen will, um die innere und äußere Macht der Donaumonarchie wiederherzustellen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Kaiser Wilhelm innerlich noch kämpft, und dies kommt des öfteren in seiner nervösen Haltung General Tatischtschew und unserem Militäragenten gegenüber zum Ausdruck. Ich halte es für meine Pflicht, Sie von obigem in Kenntnis zu setzen. Osten-Sacken.

115. Bericht des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 30. Oktober/12. November 1909. In Deutschland macht sich in letzter Zeit immer mehr das Bestreben bemerkbar, bessere und aufrichtigere Beziehungen zu England herzustellen. Diese Bestrebungen finden sowohl in der Presse, die die Möglichkeit und den Nutzen einer anglo-deutschen Annäherung bespricht, als auch in den Reden des deutschen Kolonialministers, die er auf seiner Heimreise aus Afrika in England hielt, Ausdruck. Man muß annehmen, daß diese neue anglophile Strömung nicht nur n i c h t ohne Wissen der deutschen Regierung einsetzt, sondern auch von ihr gefördert wird und vielleicht eine Antwort auf die kürzlich abgegebenen Erklärungen Asquiths bildet, daß das Londoner Kabinett seinerzeit Deutschland einen Vorschlag gemacht habe, sich über die Einschränkung der Rüstungen zur See zu einigen. Auf alle Fälle erklärt die Presse einstimmig, daß der



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Kanzlerwechsel eine Einigung mit England erleichtert habe, und daß, seitdem der englandfreundliche Bethmann-Hollweg sein Amt angetreten habe, in dieser Hinsicht schon ein großer Schritt vorwärts getan worden sei. Der glänzende Empfang, der Demburg in England zuteil geworden ist, die deutsch-englischen Verhandlungen über den Kongo, die Reden der Admiräle Koester und Seymour anläßlich der Anwesenheit der deutschen und englischen Flotte bei den Hudson-Feierlichkeiten in Amerika, alle diese Ereignisse beweisen die freundschaftlichen Gefühle, die im deutschen und im englischen Volke wieder zum Ausdruck kommen. Die Eile und die Bestimmtheit, mit der die „Enthüllungen" des früheren Diplomaten vom Rath offiziell dementiert worden sind, beweisen, wie sehr man in Berlin das Wohlwollen Englands schätzt, und wie sehr man alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen sucht, die eine Verzögerung der Herstellung besserer Beziehungen bedeuten könnten. Osten-Sacken.

116. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 1./14. November 1909. — Nr. 1946. Ihr Telegramm Nr. 218 erhalten. Sie können kategorisch erklären, daß in Racconigi von einem derartigen Schritte keine Rede gewesen ist; wir halten ihn unsererseits für durchaus unzeitgemäß. Iswolski.



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117. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Rom an den russischen Außenminister vom 2./15. November 1909. Während einer Unterhaltung mit dem englischen Botschafter hat Tittoni der Meinung Ausdruck gegeben, daß, da in Racconigi zwischen Rußland und Italien ein Einvernehmen hinsichtlich der Erhaltung des status quo auf dem Balkan erzielt worden sei und auch Österreich sich zu diesem Standpunkte bekenne, es im Grunde genommen gelingen müsse, dieses Prinzip zu verwirklichen. Tittoni hat weder von einem Schritt bei den Großmächten, noch von einer gegenseitigen schriftlichen Verpflichtung gesprochen. Da von derartigen Gerüchten auch im französischen Ministerium des Auswärtigen gesprochen worden ist, so soll diese Nachricht außer in London und Petersburg auch in Paris dementiert werden. K o r ff.

118.

Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 5./18. November 1909. Wie wir aus sehr geheimer und guter Quelle erfahren, haben zwischen der Türkei und Deutschland neue Verhandlungen über die Bagdadbahn stattgefunden. Der englische Minister Churchill, der mit Machmud Pascha bei den Manövern in Deutschland zusammengekommen war, hat diesem mitgeteilt, daß eine englische Gruppe die Absicht habe, von der Pforte eine Konzession für den Bau einer Bahn Bagdad-Kueit in allernächster Zeit zu erbitten, und zwar ohne jegliche Garantie. Eine ähnliche Mitteilung soll angeblich gleichzeitig auch dem türkischen Botschafter gemacht worden sein. Die türkische Regierung hielt es aus politischen Erwägungen für schwierig, diesem Vor-



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schlage zuzustimmen; in der Annahme jedoch, daß England auf seinem Vorschlag bestehen und im türkischen Parlament Unterstützung finden werde, hat sie Deutschland um Rat und Unterstützung gebeten. Hierbei will man dem Berliner Kabinett zu verstehen geben, daß die Pforte der englischen Regierung zu erklären beabsichtige, daß die deutsche Bagdadbahngesellschaft eine derartige Konzession bereits erhalten habe, daß aber die Türkei bereit sei, Mittel und Wege zu finden, um England, ebenso wie Deutschland und auch Frankreich die Teilnahme an dem Bahnbau Persischer Golf-Bagdad zu ermöglichen und diesen drei Mächten auch die Kontrolle über diese Linie einzuräumen. Deutscherseits hat man sich bereit erklärt, in diesem Sinne auf die Bagdadbahngesellschaft einzuwirken, aber unter der Bedingung, daß die Abmachungen hinsichtlich der Zweiglinie Bulgurlu — Helif und ebenso die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen genau eingehalten werden. Augenscheinlich hat die türkische Regierung dagegen keine Bedenken. Ich will noch hinzufügen, daß im vorigen Jahr ein Abkommen über die Linie Bulgurlu (in der Nähe von Eregli) — Helif (in der Nähe von Mardin) abgeschlossen worden, das entsprechende Irade des Sultans aber anscheinend noch nicht erfolgt ist. Ich habe dem hier weilenden englischen Botschafter vertraulich das Obengesagte mitgeteilt und beehre mich, Sie zu Ihrer persönlichen Information davon in Kenntnis zu setzen. Iswolski.

119. Memorandum der englischen Botschaft in Petersburg an das russische Außenministerium vom 6./19. November 1909. Der russischen Regierung wird es bekannt sein, daß Sir G. Lowther vor einigen Wochen die Pforte um eine



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Konzession für den Bau einer Eisenbahn gebeten hat, die den Persischen Golf mit Bagdad durch das Tal des Tigris verbinden würde; gleichzeitig hat man um ein Vorzugsrecht gebeten, das Mittelmeer mit Bagdad durch die Verlängerung der genannten Linie längs des Euphrats zu verbinden. Die russische Regierung wird gleichfalls wissen, daß die englische Regierung der 4 % igen Erhöhung der türkischen Zölle unter gewissen Bedingungen zugestimmt hat, unter anderm unter dem Vorbehalt, daß keine Kilometergarantien aus der Einnahme dieser Erhöhung bestritten werden sollten, und daß eine schriftliche Verpflichtung in diesem Sinne von Deutschland durch die türkische Regierung verlangt werden würde. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß eine derartige Versicherung gegeben werden könne, denn die Bagdadbahngesellschaft ist sich dessen bewußt, daß keine Kilometergarantien bezahlt werden können, wenn die Mächte ihre Zustimmung zu der Erhöhung nicht geben, und wenn nicht wenigstens ein Teil dieser Einnahmen für die Kilometergarantien verwendet wird. Vor einigen Tagen benachrichtigte Gwinner Babington Smith, daß er jetzt bereit sei, folgende Bedingungen anzunehmen: 1. Englische Kontrolle über den Abschnitt Bagdad-Persischer Golf. 2. Dieser Abschnitt wird mit englischem Material und durch englische Unternehmer erbaut. 3. Nichtenglische Interessen beteiligen sich an diesem Abschnitt nur an zweiter Stelle. 4. Die Eisenbahn nördlich von Bagdad hängt in keiner Weise von der britischen Gruppe ab. Sir Edward Grey hat Graf Metternich benachrichtigt, daß die englische Regierung ihre Zustimmung zur Erhöhung des türkischen Zolles nicht geben könne, wenn man nicht zu einem Übereinkommen hinsichtlich der Bagdadbahn gelange; er wies auch darauf hin, daß die Notwendigkeit,



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Rußland und Frankreich zu einer Beteiligung aufzufordern, es für die englische Regierung schwierig mache, sich an der Eisenbahn zu beteiligen. Grey hat jedoch soeben erfahren, daß die deutsche Regierung möglicherweise auf alle ihre Rechte, die Bahn südlich von Bagdad weiterzuführen, zugunsten Englands verzichten wolle, das in diesem Falle ein Übereinkommen mit der Türkei hinsichtlich der Bahn Bagdad-Persischer Golf treffen könne. Dies ist für die englischen Interessen in Mesopotamien außerordentlich wichtig und ein Punkt, auf dem die englische Regierung stets bestanden hat. Die anderen Mächte, auch Rußland, sind augenscheinlich geneigt, der Erhöhung der türkischen Zölle bedingungslos zuzustimmen; die englische Regierung wird wahrscheinlich dasselbe tun, wenn Deutschland in den eben erwähnten Punkten nachgibt. Eine deutsche Linie nördlich von Bagdad interessiert die englische Regierung viel weniger als eine Bahn in einer anderen Richtung von Bagdad nach dem Westen. Es muß in dieser Frage ein Entschluß gefaßt werden, da es sich um die Erhöhung der türkischen Einfuhrzölle handelt. Die englische Regierung kann sich nicht allein der Zollerhöhung widersetzen, und wenn diese einmal zugestanden ist, so wird es kein Hindernis mehr für die Beendigung der Bagdadbahn durch Deutschland geben.

120.

Telegramm des russischen Botschafters in Wien an den russischen Außenminister vom 9./22. November 1909. Ich habe soeben Aehrenthal gesprochen. Er wiederholte, was ich Ihnen am 31. Oktober über seinen Wunsch geschrieben habe, der Pressepolemik über die Beziehungen zwischen den Kabinetten von Petersburg und Wien ein Ende zu machen. Er wiederholte ferner auf das entschiedenste



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seinen Protest gegen die Berchtold zugeschriebene Rolle und wird durch das Pressebüro alle hierauf bezüglichen Gerüchte dementieren lassen. Der Minister ist gegen die Veröffentlichung von Dokumenten, und ich habe diesem Standpunkt meinerseits zugestimmt. Die ganze Frage ist also erledigt. Urussow.

121.

Telegramm, des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Konstantinopel vom 10./23. November 1909. Streng vertraulich. Der englische Botschafter hat mir ein Memorandum überreicht, aus dem zu ersehen ist, daß sich zwischen England und Deutschland ein Einvernehmen bezüglich der Bagdadlinie anbahnt, welches uns veranlaßt, diese Frage einer erneuten Prüfung zu unterwerfen. Deutschland überläßt England alle seine Rechte hinsichtlich der Linie Bagdad—Persischer Golf, unter der Bedingung, daß England auf die Linie nördlich von Bagdad verzichtet. Die englische Regierung ist augenscheinlich bereit, den deutschen Vorschlag anzunehmen und ihrerseits unbedingt der türkischen Zollerhöhung zuzustimmen; dadurch erteilt England seine Zustimmung zur Kilometergarantie aus den durch die Zollerhöhung flüssig werdenden Mitteln. Aus dem englischen Memorandum ist nicht genau zu ersehen, ob England seinen eigenen früher gemachten Vorschlag, über diese Frage gemeinsam zu Vieren zu verhandeln, jetzt aufgegeben hat. Immerhin muß man im Auge behalten, daß diese Frage im Falle der englisch-deutschen Verhandlungen eine ganz neue Richtung einschlagen kann, und dieser Umstand veranlaßt uns, was die Bagdadbahn, die Kilometergarantie und die Zollerhöhung anbelangt, zu ganz besonderer Vorsicht. Ich beabsichtige, diese Angelegenheit einer Ministerberatung zu unterbreiten, und bitte Sie, mich von Ihren

Erwägungen und Vorschlägen in Kenntnis zu setzen. Es versteht sich von selbst, daß alles oben angeführte streng geheimgehalten werden muß. Iswolski.

122. Schreiben des englischen Botschafters in Petersburg an den russischen Außenminister vom 11.(24. November 1909. Nach unserer Unterredung vom letzten Freitag über die Bagdadbahn habe ich meiner Regierung einige Ihrer Bemerkungen mitgeteilt, die Sie selbst nur als Ihre ersten Eindrücke, nicht als Ihre endgültige Ansicht, bezeichnet haben. Ich habe nun von Sir Edward Grey weitere Erklärungen erhalten, die, wie ich hoffe, alle Unklarheiten beseitigen werden. Vor allem wünsche ich zu betonen, daß mit der deutschen Regierung nichts abgemacht worden ist und noch keine Verhandlungen stattgefunden haben. Meine Regierung hat Deutschland nicht freie Hand gelassen; eine solche freie Hand hat es übrigens schon auf Grund der Konzession gehabt. Deutschland hofft, die nötigen Mittel durch eine Zollerhöhung zu erhalten, und alle Mächte mit Ausnahme Englands sind augenscheinlich bereit gewesen, dieser Erhöhung zuzustimmen, ohne irgendeine Bedingung hinsichtlich der Bagdadbahn zu stellen. Meine Regierung mußte überlegen, welche Bedingungen zur Wahrung der englischen Interessen zu stellen wären. Dem deutschen Botschafter ist nichts weiter gesagt worden als das, was ich in meinem Memorandum vom 6./19. November mitgeteilt habe. Wie ich Ihnen in meinem Privatbrief vor zwei oder drei Tagen sagte, hat meine Regierung, sobald sie die Vorschläge Gwinners erhielt, sie Ihnen mitgeteilt, und unsere Ansicht über die Bedingungen, die für Deutschland annehmbar wären, gründete sich auf die Äußerungen Gwinners und nicht auf irgendwelche Verhandlungen mit der deutschen



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Regierung, denn es haben keine Verhandlungen stattgefunden. Es liegt meiner Regierung viel daran zu erfahren, unter welchen Redingungen die russische Regierung sich an der Eisenbahn nördlich von Ragdad beteiligen würde. Wir haben stets die Kontrolle und die Erbauung der Linie südlich von Bagdad beansprucht und können uns nicht mit weniger begnügen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Rahn doch einmal gebaut werden wird, ganz gleich ob England oder Rußland sich daran beteiligen oder nicht; und aus diesem Grunde muß England die jetzige Lage und die Gwinnerschen Vorschläge ernstlich prüfen: bevor aber etwas Weiteres geschieht, möchte Grey die Ansicht Rußlands kennen. Aus einem Grunde ist die Frage des südlichen Abschnittes der Rahn eine äußerst dringende. Die türkische Regierung beginnt Rewässerungsarbeiten südlich von Ragdad, und es ist wahrscheinlich, daß die Flüsse infolge Wassermangels nicht schiffbar sein werden. Der Flußtransport des englisch-indischen Handels, der seit mehr als 50 Jahren in englischen Händen war, würde auf diese Weise völlig verloren gehen, auch würde es bis zum Rau der Eisenbahn keinen Ersatz dafür geben. Sie ersehen aus dem oben gesagten, daß meine Regierung Sie ohne Zeitverlust von den Gwinnerschen Vorschlägen in Kenntnis gesetzt und daß sie keine Verhandlungen mit Deutschland begonnen und nichts abgeschlossen hat. Meine Regierung wünscht, sobald wie möglich Ihre Ansicht über die Möglichkeit einer russischen Teilnahme an der Rahn nördlich von Ragdad zu kennen und ebenso die Redingungen, unter denen Sie einer Zollerhöhung zustimmen würden. Nicolson.

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123. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 13./26. November 1909. Auf dem Wege nach Sofia kam der König von Bulgarien gestern in Zivil in Belgrad an und verweilte einige Stunden als Gast des Königs Peter im Schlosse. Der Besuch trug einen privaten Charakter, doch führte König Ferdinand eine längere Unterredung mit Paschitsch und Milowanowitsch. Der Besuch kam hier für alle ganz unerwartet, machte jedoch überall einen sehr günstigen Eindruck. Seine Majestät hat geruht, mich in einer ganz privaten Audienz äußerst gnädig zu empfangen. Der König sprach die Hoffnung aus, daß seine Zusammenkunft mit dem von ihm hochgeschätzten König Peter in Petersburg werde gebilligt werden. Nachdem sich der König nach den Gründen des Mißtrauens der Serben den Bulgaren gegenüber erkundigt hatte, bemerkte er, daß die Prätentionen der Serben ungerechtfertigt seien, und daß die Bulgaren eher Veranlassung hätten, sich über die Serben zu beschweren. Der König beklagte sich besonders über die serbische Presse, die die bulgarische Regierung systematisch beleidige. Außerdem sagte der König, sei es äußerst gefährlich, mit den Serben irgendwelche Verhandlungen zu führen, da sie kein Geheimnis wahrten und alles nach Wien mitteilten. Seine Majestät gab auch seiner Hoffnung Ausdruck, daß ich zur Schlichtung aller Mißverständnisse zwischen Serbien und Bulgarien hierselbst beitragen werde. Ich sagte darauf, daß dies eine der wichtigsten mir von der Kaiserlichen Regierung gestellten Aufgaben sei. Zum Schluß beauftragte mich der König, ihn Euerer Exzellenz zu empfehlen, wobei er hinzufügte, daß er sich hier im Sinne seines letzten Gesprächs mit Ihnen während seines Aufenthalts in Petersburg ausgesprochen hätte. Hartwig.



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124.

Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Konstantinopel vom 13./26. November 1909. Am 10./23. November habe ich Ihnen über das mir vom hiesigen englischen Botschafter übergebene Memorandum über die Bagdadbahn Mitteilung gemacht mit der Bitte, mir Ihre Ansicht hinsichtlich der neuen Wendung dieser Frage zukommen zu lassen. Beiliegend erhalten Sie eine Abschrift dieses Dokumentes, welches außer den Angaben über das in Aussicht genommene Abkommen zwischen England und Deutschland auch einige nicht ganz klare Hinweise enthält, aus welchen Gründen England und Deutschland ein Abkommen schließen müßten. Ich will jedoch nicht auf Einzelheiten eingehen, die vielleicht richtiggestellt werden müßten, sondern halte es für nötig, die Grundlinien der ganzen Angelegenheit und die sich darin kreuzenden Einzelfragen zu behandeln. Ihnen ist wohl erinnerlich, daß die Frage der Bagdadbahn, soweit diese unsere direkten Interessen berührt, im Jahre 1907 vom Ministerrat geprüft worden ist, da damals die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht zwischen uns und Deutschland ein besonderes Abkommen getroffen werden sollte, welches nicht nur die eigentliche Frage der Bagdadbahn, sondern auch deren mögliche Entwicklung mit Bezug auf Eisenbahnbauten in Nordpersien überhaupt, umfassen sollte. Die von uns ausgearbeiteten Gegenvorschläge sind damals der deutschen Regierung nicht mitgeteilt worden, da es sich aus dem Gange der damaligen allgemeinen Verhandlungen ergeben hat, daß die außer Rußland am meisten interessierten Mächte, England und Frankreich auf den Vorschlag des Londoner Kabinetts hin die Ansicht vertraten, daß diese Frage von allen vier Mächten gemeinsam geprüft werden müsse. Für uns war diese Stellungnahme äußerst vorteilhaft, da damit die Wahrscheinlichkeit der Erbauung der Bagdadbahn in weite Ferne gerückt schien, und seitdem



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ist diese Frage in der Tat in unseren Verhandlungen mit Deutschland nicht weiter berührt worden. Die mir in diesen Tagen von Nicolson übergebenen Schriftstücke enthalten keinen direkten Hinweis darauf, daß England sich jetzt entschlossen hat, seine Haltung der Bagdadbahn-Unternehmung gegenüber unabhängig von den Ansichten und Interessen Rußlands und Frankreichs festzulegen. Die Tatsache einer solchen Mitteilung beweist eher das Gegenteil, aber auf alle Fälle müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß England und Deutschland sich in dieser Frage verhältnismäßig leicht einigen werden. Und diese Erwägung veranlaßt auch uns, unsere eigenen Aufgaben ernstlich zu prüfen und unverzüglich Maßnahmen zum Schutze unserer Interessen zu ergreifen. Die Frage, ob wir auch in Zukunft den Gedanken gemeinsamer Verhandlungen zu Vieren beibehalten oder mit Deutschland einzeln verhandeln sollen, diese Frage wird wahrscheinlich schon in nächster Zeit beantwortet werden, nachdem wir uns hierüber mit dem Londoner Kabinett verständigt haben. Wenn ich Ihnen in meinem Telegramm besondere Vorsicht und Zurückhaltung anempfahl, so geschah dies in der Erwägung, daß wir uns völlige Handlungsfreiheit wahren wollen. Was nun die Frage selbst anbelangt, so kreuzen sich in ihr drei verschiedene Interessen: Die Bedeutung der Bahnlinie für uns, die Möglichkeit ihrer Erbauung mit Hilfe der Kilometergarantie und die Überlassung der durch die vierprozentige Zollerhöhung flüssig werdenden Mittel zu diesem Zwecke. Die Bedeutung der Bagdadbahn in politischer, strategischer und wirtschaftlicher Hinsicht, soweit Rußland in Betracht kommt, ist bereits erschöpfend geprüft worden. Unser Standpunkt bleibt derselbe: Die Erbauung dieser Bahn wird für uns schädliche Folgen haben, und wir müssen Maßnahmen treffen, um diese Wirkung abzuschwächen. Es wird kaum möglich sein, die Ausführung des deutschen Planes zu vereiteln, erstens, weil Deutschland schon so große Summen in



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dieses Unternehmen gesteckt hat, zweitens, weil im Grunde genommen die französischen finanziellen Kreise dem Unternehmen wohlwollend gegenüberstehen, und drittens weil England jetzt geneigt zu sein scheint, unter gewissen Bedingungen seine Zustimmung zu geben. Folglich handelt es sich jetzt wie im Jahre 1907 hauptsächlich darum, zu bestimmen, unter welchen Bedingungen wir uns bereit erklären können, uns dem deutschen Unternehmen nicht länger zu widersetzen. Dabei muß man bemerken, daß Deutschland im Fall der Verwirklichung eines englisch-deutschen Einvernehmens, so wie es in den Mitteilungen Nicolsons dargelegt ist, augenscheinlich darauf verzichtet, seinen ursprünglichen Plan in seinem ganzen Umfange auszuführen, und wir so wie England nach den von uns aufgestellten Grundsätzen die Grenzen der deutschen Handlungsfreiheit näher bestimmen müssen, um unsere Interessen in der Türkei und in Persien zu schützen. Was die Kilometergarantie anbelangt, so wird die Bahn ohne eine solche kaum gebaut werden können. Auch wird es kaum möglich sein, eine andere Einnahmequelle der türkischen Regierung für diese Garantie heranzuziehen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die vierprozentige Zollerhöhung zu diesem Zwecke zu verwenden. Der Widerstand der Mächte in dieser Frage hat das deutsche Unternehmen vor unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt. Insbesondere könnte unser weiterer Widerstand die deutschen Absichten weiterhin hemmen, um so mehr als er sich auf die eigene Verpflichtung der Türkei stützt, welche im türkischen Zirkular vom 5. September enthalten ist. Eine Veränderung unseres Standpunktes in dieser Hinsicht kann von der Nachgiebigkeit abhängig gemacht werden, die Deutschland in der Frage der Abgrenzung der gegenseitigen Interessen in Verbindung mit der Erbauung der Bagdadbahn an den Tag legen wird. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit, die von der Türkei in Vorschlag gebrachte Maßnahme dazu zu benutzen, um bei Verhandlungen über die Bagdadbahn unsere eigenen S i e b e i t , Benckendorff.

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sehr wichtigen Interessen in den östlichen Gebieten der Türkei zu fördern. Natürlich können diese Verhandlungen auch unabhängig von der Bagdadbahn geführt werden. Selbst wenn wir mit der Pforte ein Einvernehmen hinsichtlich der Zollerhöhung erzielen würden, so würde dies noch nicht die Frage der Kilometergarantie lösen: hier müssen noch weitere Verhandlungen mit uns hinzukommen. Wenn wir uns andererseits mit Deutschland über die Bagdadbahn einigen, so wäre das Berliner Kabinett daran interessiert, daß unsere Verhandlungen mit der Türkei möglichst bald zu einem Abschlüsse kommen, und es würde uns vielleicht helfen, einen Druck auf die Türkei auszuüben. Dies sind die allgemeinen Erwägungen. Ihre Aufgabe ist es, alle Seiten der aufgeworfenen Frage ernstlich zu prüfen und sie vom örtlichen Standpunkt aus zu beleuchten. Ich bitte Sie daher, mir Ihre Ansicht möglichst umgehend mitteilen zu wollen. Iswolski.

125. Telegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 13./26. November 1909. Ihr Telegramm vom 10./23. November erhalten. Streng vertraulich. Der neue England von Seiten Deutschlands gemachte Vorschlag über die Bagdadbahn scheint mir sehr bedeutsam zu sein. Wie ich aus meinen hiesigen Beobachtungen schließe, ist er auf die Überzeugung Baron Marschalls zurückzuführen, daß man unter dem jetzigen türkischen Regime das Bagdadunternehmen unmöglich zu den für die Türkei schweren Bedingungen, die Deutschland von der früheren Regierung erzielt hat, zu Ende führen kann. Selbst das Bestehen der Eisenbahngesellschaft auf ihrem unbestreitbaren Recht auf die Kilometergarantie aus den Einnahmen der Zollerhöhung erscheint jetzt für Deutschland als eine

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schwierige und undankbare Sache, wenn es das Vertrauen und die Sympathien der Türken erhalten will. Was die Fortsetzung der Bahn vom Endpunkt des jetzt im Bau befindlichen Abschnittes bis Bagdad und in noch höherem Maß von Bagdad bis zum Persischen Meerbusen anbelangt, so würde das eben erwähnte Dilemma direkt verhängnisvoll werden. Es wäre vorzuziehen, sich mit der Teilstrecke Konstantinopel—Bagdad zu begnügen und die für die Türken lästige Rolle England zu überlassen, besonders in dem von Arabern bewohnten Gebiet, wo die Türken den Engländern stet» mißtrauisch und jetzt infolge der Angelegenheit der Dampferlinie Lynch, direkt feindselig gegenüberstehen. Aus diesem Umstand wird das in Aussicht genommene Abkommen der Stellung Englands in der Türkei schaden, die Erhaltung des deutschen Übergewichts im Westen und Süden Kleinasiens sichern, die Erstarkung des deutschen Einflusses fördern und die anglo-deutsche Rivalität in der Türkei zwar abschwächen, aber kaum aus der Welt schaffen. Für uns wäre es vorteilhaft, wenn der Abschnitt Bagdad—Persischer Meerbusen England überlassen bliebe, obwohl dies wahrscheinlich die Bereitwilligkeit Englands vermindern würde, uns bei der Erbauung der Eisenbahnlinien in Persien selbst zu helfen. Um so wünschenswerter wäre es, wenn England von Deutschland die Versicherung erhielte, daß letzteres ohne eine neue Vereinbarung, wenn auch nur mit England allein, die Zweiglinie Bagdad—Chanikin nicht bauen werde. Endlich muß man die englische Regierung dazu bewegen, das in Aussicht genommene Abkommen nicht eher abzuschließen, als wir unsere Verhandlungen mit der Pforte über die Bahn Samsun— Siwas beendigt haben, was ungefähr im Februar der Fall sein wird. Die Bagdadbahnfragen würden für uns weniger Bedeutung haben, wenn wir unsere Interessen im Norden Kleinasiens und in persischen Eisenbahnfragen sichergestellt haben würden. In diesem Fall hätten wir keinen Grund, uns dem zu widersetzen, daß die Kilometergarantie der Bagdadbahn aus den Zollerhöhungen bestritten werde. Dies wird 12*



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dennoch die Türken gegen Deutschland aufbringen und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel für Land- und Seerüstungen verringern. T s c h a r y kow.

126. Schreiben des englischen Botschafters in Petersburg an den russischen Außenminister vom 14./27. November 1909. Um die Ihnen schon gemachten Mitteilungen zu vervollständigen, möchte ich noch sagen, daß die englische Regierung nur Sie und Paris von dem Inhalt der Gwinnerschen Vorschläge benachrichtigt, auf diese bisher aber noch nicht geantwortet hat. Diese Vorschläge stellen das Minimum dessen dar, was die englische öffentliche Meinung und die englischen Interessen befriedigen könnte, und um den südlichen Abschnitt zu erhalten, wäre meine Regierung bereit, auf ihre Interessen an der Bahn nördlich von Bagdad zu verzichten. Die britische Gruppe wünscht eine Konzession für eine Zweiglinie von Bagdad nach Chanikin, und obwohl meiner Regierung daran liegt, eine solche Konzession zu erhalten oder zusammen mit Rußland die betreffende Linie zu bauen, so hat sie sich doch jeglicher Schritte in dieser Frage enthalten und wird in dieser Hinsicht ohne Rußland nichts tun. Meine Regierung sieht ein, daß eine Bahnlinie, die zu einem Punkt an der Grenze der russischen Interessensphäre in Persien führt, russische Interessen berührt. Die deutsche Regierung weiß, daß Gwinner bestimmte Vorschläge gemacht hat, aber meine Regierung will, daß die Verhandlungen auch weiter einen rein kommerziellen Charakter behalten. Wir möchten die Ansicht Rußlands kennen, die uns bisher durchaus unbekannt ist, da eine Entschließung hinsichtlich der türkischen Zollerhöhung nicht mehr lange hinausgeschoben werden kann. Wir haben natürlich nichts dagegen, daß Deutschland die russischen Interessen in der



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russischen Einflußzone in Persien anerkennt; aber es könnte uns nicht gleich sein, wenn Rußland hierfür Deutschland Zugeständnisse in der neutralen Zone machen würde. Meine Regierung hat selbstverständlich nichts gegen Verhandlungen zwischen Rußland und Deutschland über die Teilnahme Rußlands an der Bahn nördlich von Bagdad, doch hofft die englische Regierung, daß Rußland sie über die Verhandlungen auf dem laufenden halten wird. Nicolson.

127. Schreiben des russischen Außenministers an den Botschafter in Konstantinopel vom 14./27. November 1909. In Ergänzung meines Schreibens vom 13./26. November erhalten Sie anbei die Abschrift einer neuen Mitteilung des hiesigen englischen Botschafters. Wie Sie sehen, gibt uns England auch jetzt keine deutliche Antwort, ob die Verhandlungen über die Bagdadbahn gemeinschaftlich geführt oder ob zwischen Deutschland und den übrigen Mächten Einzelverhandlungen stattfinden sollen. Ich habe nach Kenntnisnahme von dem englischen Schreiben dem Botschafter sofort gesagt, daß die Konzession der Linie Bagdad—Chanikin der deutschen Bagdadbahngesellschaft bereits gewährt worden sei, und daß deshalb kaum neue Verhandlungen mit der Pforte geführt werden könnten. Was die englischen Wünsche hinsichtlich der neutralen Zone anbelangt, so habe ich in freundschaftlicher Form die Aufmerksamkeit des Botschafters auf den Umstand gelenkt, daß wir bei Verhandlungen mit Deutschland ziemlich große Handlungsfreiheit haben müßten, da Deutschland wahrscheinlich auf Zugeständnissen von unserer Seite bestehen werde, ebenso wie England die Absicht habe, auf seine Anteilnahme an der Bahn im Norden von Bagdad zu verzichten. Was



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endlich die Frage der Mitteilungen über unsere Verhandlungen mit Deutschland an England anbelangt, so habe ich mich natürlich dazu bereit erklärt, um so mehr als wir auch bisher alle hierauf bezüglichen Verhandlungen mit Deutschland England gegenüber nicht verheimlicht haben. Iswolski.

128. Schreiben des englischen Botschafters in Petersburg an den russischen Außenminister vom 18. November/1. Dezember 1909. Unter Bezugnahme auf unsere früheren Unterredungen betreffend die Bagdadbahn beeile ich mich Ihnen mitzuteilen, daß keine Verhandlungen mit der deutschen Regierung stattfinden, sondern daß Gwinner einer englischen Finanzgruppe Eröffnungen gemacht hat. Es steht noch nicht fest, welche definitiven Vorschläge das Ergebnis dieser Unterredungen bilden werden, und solange diese Vorschläge mit Zustimmung der deutschen Regierung dem Londoner Kabinett nicht unterbreitet sind, kann man nicht wissen, ob die Vorschläge für uns annehmbar sein werden. Ist dies der Fall, so werden sie doch nicht von uns angenommen werden, bis wir uns mit Rußland und Frankreich verständigt haben, so daß, zu welcher Lösung man auch kommen möge, diese stets „zu Vieren" getroffen werden wird. Meine Regierung ist überzeugt, daß Sie Ihren Standpunkt dem Londoner Kabinett offen darlegen werden, und daß die französische und russische Regierung, da sie immer auf dem laufenden gehalten wurden, bereit sein werden, einen Entschluß zu fassen, wenn der Zeitpunkt für einen solchen gekommen ist. Nicolson.



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129.

Streng vertrauliches Schreiben des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 25. November/8. Dezember 1909. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, was mir der hiesige französische Botschafter vertraulich über das in Aussicht genommene englisch-deutsche Bagdadbahn-Abkommen gestern gesagt hat. Bompard hat mir die vertrauliche Denkschrift zu lesen gegeben, welche der französische Außenminister vom englischen Botschafter in Paris erhalten hat, in der der deutsche Vorschlag gemäß dem Ihren vertraulichen Schreiben vom 13./26. und 15./28. November beigefügten Text geschildert wird, und die diese Mitteilung durch eine ausführliche Darlegung Ihrer zweimaligen Unterhaltung mit Sir A. Nicolson ergänzt. Diese Mitteilung hat auf das Pariser Kabinett einen peinlichen Eindruck gemacht. Man gibt natürlich zu, daß England in dieser Frage durchaus loyal gehandelt hat und das Versprechen einlöst, eventuelle deutsche Vorschläge über die Bagdadbahn gemeinsam mit Rußland und Frankreich zu prüfen. Man kann jedoch zwischen den Zeilen der englischen Denkschrift lesen, daß England viel daran liegt, die deutschen Vorschläge anzunehmen, obwohl letztere den französischen Interessen durchaus nicht entsprechen und auch den unsrigen kaum gerecht werden. Dem Inhalte nach hat das in Aussicht genommene Abkommen die größte Bedeutung: es bedeutet die Teilung der Türkei in eine englische und eine deutsche Interessensphäre, wobei England in der europäischen Türkei und in Kleinasien Deutschland volle Handlungsfreiheit überläßt und für sich eine solche nur in den türkischen Gebieten in der Nähe des Persischen Golfes beansprucht. Der französische Botschafter ist der Ansicht, daß England immer mehr und mehr alle seine Bemühungen auf die Beherrschung der nach Indien führenden Verkehrswege

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konzentriert — im Persischen Golf und in der indischen Ebene — und sich immer weniger für Konstantinopel und die eigentlichen türkischen Fragen interessiert. Durch seine Konventionen mit Rußland hat sich das Londoner Kabinett gegen die russische Rivalität im Persischen Golfe gesichert. Das mit Deutschland in Aussicht genommene Abkommen wird die Herrschaft Englands über den Persischen Meerbusen zur Folge haben. Sodann wird England versuchen, sich hinsichtlich Ägyptens von der Verpflichtung zu befreien, die Zustimmung der Türkei in gewissen politischen und finanziellen Fragen einholen zu müssen, und sich dann um das übrige nicht mehr kümmern. Dies kann aber für Frankreich nicht wünschenswert sein. Obwohl einige Franzosen sich an der Bagdadbahn beteiligen, so ist dies Unternehmen doch ein ausschließlich deutsches, und Frankreich besitzt weder eine Stimme, noch irgendwelche Rechte. Die Anzahl der in französischen Händen befindlichen Aktien ist nicht groß genug. Bompard ist durch die Hartnäckigkeit überrascht, mit der Deutschland auf der Zollerhöhung besteht. Diese Hartnäckigkeit beweist die Richtigkeit der in Ihrem Schreiben erwähnten Annahme, daß die für die Garantie der Bahn von Eregli bis Helif bestimmten Einnahmequellen für eine zweimalige Ausgabe von Obligationen nicht genügen, die für die Erbauung des genannten Abschnitts notwendig sind. Deutschland ist deshalb bestrebt, die Ausgabe dieser Obligationen erfolgreich zu gestalten, indem es den Zeichnern eine völlige und mehr als genügende Garantie in Gestalt von 7 5 % der in Aussicht genommenen Zollerhöhung zur Verfügung stellt. Die Höchstgrenze der notwendigen Garantie überschreitet, wie mir der Botschafter sagte, nicht 2 y2 Millionen Franken jährlich. Die Erhöhung der Zölle soll der Pforte die Möglichkeit geben, eine Anleihe im Betrag von 600 Millionen Franken abzuschließen, was eine jährliche Zahlung von ungefähr 24 Millionen bedeuten würde. Der Botschafter ist der Ansicht, daß die Mächte darauf bestehen



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sollten, daß die Mehreinnahmen aus den Zöllen nicht zur Bezahlung der Kilometergarantie der Bagdadbahn verwendet werden dürfen. Frankreich wenigstens kann nicht zugeben, daß sein Handel durch eine Erhöhung der Zolleinnahmen zugunsten eines ausländischen Unternehmens gehemmt wird, mit dem die französischen Interessen nichts zu tun haben. Augenscheinlich hat der Botschafter bereits in diesem Sinne nach Paris berichtet. Bompard, der mir obiges mit großer Offenheit darlegte, war der Ansicht, daß auch ich bald von meiner Regierung hierauf bezügliche Anfragen oder Instruktionen erhalten werde. Der Standpunkt Bompards erscheint mir durchaus gerechtfertigt, daß nämlich der deutsche Vorschlag einer Teilung der Interessensphären in der Türkei zwischen England und Deutschland gleichkommt, wie dies zwischen Rußland und England hinsichtlich Persiens der Fall gewesen ist, nur daß Deutschland ein ungeheures Übergewicht erhält. Andererseits sind in den Erwägungen des Botschafters zweifellos klare und bestimmte Argumente enthalten, die — vom englischen Standpunkt aus — für den Abschluß des in Aussicht genommenen englischen Abkommens mit Deutschland sprechen. Auch ich muß bestätigen, daß England sich immer weniger für Konstantinopel und die rein türkischen Fragen interessiert im Gegensatz zu seiner früheren aktiven Politik im nahen Osten und, wie ich hinzufügen will, in diesen Fragen auch immer weniger Einfluß hat; dies entspricht jedoch vollkommen dem allgemeinen Bestreben der neuesten englischen Politik, die jetzigen englischen Besitzungen durch diplomatische Vereinbarungen zu sichern und sich in anderen Fragen aller aktiven, sogar rein diplomatischen Handlungen zu enthalten. Was die einzelnen in Ihren Schreiben erwähnten Fragen anbelangt, so kann ich die Erwägungen, die ich in meinem Telegramm vom 13./26. November dargelegt habe, nur noch folgendermaßen vervollständigen. Der Entschluß Englands, den deutschen Vorschlag anzunehmen, besteht ohne Zweifel



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und ist, vom rein englischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus verständlich. Den deutschen Vorschlag einfach jetzt schon anzunehmen, ist England nur deshalb nicht imstande, weil es früher selbst vorgeschlagen hat, diese Frage zum Gegenstand von Beratungen zu Vieren zu machen. Die Form der Verhandlungen, die zwischen Privatgruppen und nicht zwischen Regierungen stattfinden, genügt, um ein Übereinkommen zu erzielen, erschwert aber bedeutend uns und Frankreich das Zustandekommen der Konferenz zu Vieren. Die offensichtliche Absicht Englands, den deutschen Vorschlag bedingungslos anzunehmen, würde die in Aussicht genommene Beratung unter für uns und Frankreich ungünstige Bedingungen stellen: England würde mit Deutschland eine Gruppe bilden, welche Frankreich und Rußland entgegengesetzt wäre, was in politischer Hinsicht nicht wünschenswert wäre. Es bleibt also nur übrig, direkte, aber parallele Verhandlungen zwischen Deutschland und England, Deutschland und Rußland und Deutschland und Frankreich zu führen. Wie in Ihrem Brief erwähnt, waren wir schon im Jahre 1907 bereit, mit Deutschland ein besonderes Abkommen zu schließen, welches sich nicht nur auf die Bagdadbahn, sondern auch auf die damit zusammenhängende Frage der Eisenbahnbauten in Nordpersien bezogen hätte. Auch Deutschland hatte noch im vorigen Sommer seine Bereitwilligkeit ausgedrückt, derartige Verhandlungen aufzunehmen und sogar deren Rahmen bedeutend zu erweitern. Ich glaube daher die Ansicht ausdrücken zu müssen, daß wir jetzt keine Wahl haben, und daß wir in allernächster Zeit zur Ausführung des Planes vom Jahre 1907 schreiten, diesen jedoch den neuen Umständen anpassen müssen. In mancher Beziehung sind für uns die Umstände günstig. Erstens drängt uns England selbst auf den Weg direkter Verhandlungen mit dem Berliner Kabinett, wobei es, um seine eigenen Verhandlungen zu Ende führen zu können, und da es über den Gang unserer Ver-



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handlungen mit Deutschland auf dem laufenden gehalten werden will, bestrebt sein wird, eine uns befriedigende Lösung eher zu begünstigen, als zu hindern. Zweitens gibt uns das hartnäckige Streben Deutschlands, eine möglichst baldige Einwilligung zur Erhöhung der türkischen Zölle zu erhalten, ein neues Mittel an die Hand, um auf das Berliner Kabinett einzuwirken, über welches wir früher nicht verfügten. Drittens wird die Frage über die neuen Zollgebühren, soweit diese sich auf die Bagdadbahn beziehen, den Gegenstand von Verhandlungen zwischen uns und Berlin bilden, und deshalb werden wir, was die Pforte anbelangt, es nicht mehr nötig haben, unsere Zustimmung von irgendwelchen neuen Forderungen abhängig zu machen mit Ausnahme der rein kommerziellen Interessen, über die die Türkei bereits verständigt ist. Deutschland muß aber von uns das kategorische Versprechen zu erhalten suchen, daß wir die in der türkischen Zirkularnote vom 5. September erwähnte Klausel hinsichtlich der NichtVerwendung der Einnahmen aus der Zollerhöhung für schon bestehende Unternehmungen nicht ausnutzen werden, und dies gibt uns, wie Sie in Ihrem Brief erwähnen, ohne Zweifel die Möglichkeit, trotz der großen Unbestimmtheit dieser Klausel auch in Zukunft das Deutschland interessierende Unternehmen zu hemmen. Geben wir aber unsere Zustimmung, so werden wir entsprechende Zugeständnisse erlangen können. Wenn das Pariser Kabinett die direkte Bedingung aufstellt, daß die erwähnte Klausel auf die Bagdadbahn angewendet werden soll, so bedeutet das nur einen neuen Vorteil bei der Führung unserer Verhandlungen. Augenscheinlich wird unser Abkommen mit Deutschland analog dem englisch-deutschen Abkommen über die Einflußsphären in der Türkei das Ziel verfolgen müssen, das Aktionsgebiet Deutschlands in der Richtung unserer Gebiete genauer zu bestimmen, um auf diese Weise die uns am meisten interessierenden Teile der Türkei und Persiens vor dem deutschen Einfluß zu sichern, worauf Sie in Ihrem Brief hinweisen. Wir werden hierbei natürlich erreichen müssen, daß Deutschland



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sich verpflichtet, die Linie Bagdad—Chanikin nicht ohne vorhergehende Verständigung mit uns zu bauen. Sollte uns dies gelingen, so würde es unB dadurch wesentlich erleichtert werden, eine Konzession für die Linie Samsun—Siwas zu erhalten: in der von mir vorgeschlagenen Erklärung könnte man den einschlägigen Absatz weglassen. Es ist ferner wichtig, daß die Initiative für die Teilung der Türkei in bestimmte Sphären auf diese Weise, wie sich herausstellen wird, von Deutschland ausgeht, was ohne Zweifel diesem in den Augen der Türkei schaden wird. Aus der vorhergehenden Korrespondenz ist Ihnen bekannt, daß wir hier nicht vor Januar Verhandlungen über eine Zollerhöhung aufnehmen werden, und obwohl, wie Sie in Ihrem Brief bemerken, derartige Verhandlungen unabhängig von der weiteren Entwicklung der Bagdadbahnfrage geführt werden können, werden sie in der Praxis nicht beginnen, bevor die Angelegenheit der Bagdadbahn mehr oder weniger geklärt ist. Das dem Parlament soeben unterbreitete türkische Budgetprogramm vom 1. März 1910 bis 1911 sieht eine Zollerhöhung im Laufe dieser Zeit nicht vor, die Türken wollen aber natürlich gern eine derartige Erhöhung erlangen, wenn auch nicht zum 1. März und nicht für das Budget des nächsten Jahres, so doch möglichst bald, um eine bedeutende Anleihe aufnehmen zu können, die sie momentan nicht brauchen, in Zukunft aber nicht werden entbehren können. Nachdem ich von Ihren Briefen Kenntnis genommen, halte ich es für meine Pflicht, die in meinem Telegramm vom 13./26. November dargelegten Erwägungen zu bestätigen mit Ausnahme des Vorschlags, England solle nahegelegt werden, Deutschland zu verpflichten, den Abschnitt Bagdad— Chanikin nicht ohne eine neue Abmachung, wenn auch nur mit England allein, zu bauen. Zurzeit muß die Frage der Bshn Bagdad—Chanikin den Gegenstand direkter Verhandlungen Rußlands mit England bilden. Auch ist es vielleicht nicht mehr nötig, die englische Regierung dazu zu bewegen, nisht



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eher mit Deutschland endgültig abzuschließen, als wir unsere Verhandlungen mit der Türkei über die Bahnlinie Samsun— Siwas beendet haben. Da die Türken jetzt dieses Unternehmen begünstigen, so kann man es meines Erachtens fördern, indem man unabhängig von der Bagdadbahn oder der Zollerhöhung eine Konzession für ein franko-russisches Syndikat erbittet. Tscharykow.

130. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 26. November/9. Dezember 1909. Ich danke Ihnen verbindlichst für die Mitteilung des Schriftwechsels mit der englischen Botschaft in Petersburg und unserem Botschafter in Konstantinopel über die Bagdadbahn. Der hiesigen Regierung ist auch über die Vorschläge Gwinners für die Lösung dieser Frage Mitteilung gemacht und hierbei erklärt worden, daß das Londoner Kabinett keine Entscheidungen hierüber treffen werde, ohne sich vorher mit Frankreich und Rußland ins Einvernehmen gesetzt zu haben. Ich muß jedoch bemerken, daß der französische Außenminister sich über die Absicht der Engländer, die sie unmittelbar interessierende Linie zum Persischen Golfe mit der internationalen Frage der türkischen Zollerhöhung in Verbindung zu bringen, abfällig geäußert hat. Ich will aus diesem Anlaß erwähnen, daß man hier in Frankreich den Kampf zwischen den englischen politischen Parteien und zwischen dem Ober- und dem Unterhause mit dem größten Interesse verfolgt. Die französischen Sympathien stehen natürlich auf der Seite der jetzigen Regierungspartei, die die Jahrhunderte alten Privilegien der englischen Lords zu bekämpfen sucht. Aber in politischer



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Hinsicht ist Pichon durch den inneren Kampf in England, welcher die Aufmerksamkeit der englischen Regierung von den Fragen der Auswärtigen Politik ablenkt, beunruhigt. Es ist aber bei der jetzigen Lage der Dinge für Frankreich äußerst wichtig, daß England in europäischen Fragen seine wichtige Rolle weiterspiele und Deutschland zurückdränge ; sollte England in den Hintergrund treten, so könnten in Deutschland wieder kriegerische Absichten entstehen, die für Frankreich gefährlich werden könnten. Nelidow.

131. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 2./15. Dezember 1909. Goto hat mir versprochen, mir die Ansicht Katsuras über das in Aussicht genommene Vorgehen Rußlands und Japans in der Mandschurei mitzuteilen. Er persönlich ist der Ansicht, daß es äußerst wünschenswert sei, nichts in der Mandschurei zu unternehmen, ohne ein vorheriges Einvernehmen zwischen Rußland und Japan erzielt zu haben. Er wies hierbei auf unser Übereinkommen mit China in Charbin und auf das japanisch-chinesische Übereinkommen hinsichtlich des Territoriums Kanto hin. Diese beiden Fragen sollten nur gemeinsam geregelt werden. Die Solidarität der beiden Mächte solle nicht nur China, sondern auch den andern Mächten gegenüber zum Ausdruck gebracht werden. Dann werde es allen klar sein, daß Rußland und Japan imstande seien, die mandschurische Frage durch ein gegenseitiges Abkommen selbständig zu lösen. Die in Aussicht genommenen Eisenbahn- und Tarifabkommen würden Europa und Amerika die erfolgte politische Annäherung zwischen Rußland und Japan beweisen. Ganz im Vertrauen teilte er mir mit, der Mikado habe den Willen geäußert, seine



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Regierung solle die freundschaftlichen Beziehungen zu Rußland fördern. Die Reise des Prinzen Ito hat dazu gedient, eine Einigung in der mandschurischen Frage zu erzielen. Malewski-Male witsch

132.

Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 6./19. Dezember 1909. — Nr. 239. Cambon teilt mir mit, daß in einer der letzten Unterredungen zwischen dem französischen Botschafter und Hilmi Pascha letzterer Bompard gegenüber seiner Befriedigung Ausdruck verliehen habe, daß sich die Interessen Deutschlands und Englands in der Bagdadbahnfrage zu nähern schienen. Als Bompard in allgemeinen Zügen antwortete, daß, selbst wenn diese Frage den Gegenstand von diplomatischen Verhandlungen bildete, sie erst einer Lösung zugeführt werden könnte, wenn die Interessen Rußlands und Frankreichs gewährleistet wären, solle Hilmi Pascha ein gewisses Erstaunen an den Tag gelegt haben. Cambon glaubt, daß das türkische Kabinett, dem vor allem an der Zollerhöhung gelegen sei, ein Abkommen begrüßen würde. Andererseits müsse man eine vielleicht unüberwindliche Opposition von seiten des türkischen Parlaments voraussehen, ähnlich wie anläßlich der letzten Vorschläge bezüglich der Gesellschaft Lynch. Die Notwendigkeit, die russischen und französischen Interessen zu berücksichtigen, erschwere die Lage des türkischen Ministeriums bedeutend. Cambon sagte mir auch, er glaube nicht, daß sich die französische Regierung mit einer Lösung begnügen würde, der zufolge der französische Abschnitt zwischen die deutsche und die englische Strecke eingefügt würde, und er habe sich in diesem Sinn mit Grey ausgesprochen. Die französische Finanzgruppe habe Pichon benachrichtigt, daß die deutsche Finanzgruppe an sie das Ver-



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langen gestellt habe, entweder auf die vor acht Jahren abgeschlossenen Abmachungen zu verzichten oder diese aufrechtzuerhalten, und die Franzosen hätten sich zu letzterem entschlossen. Wie mir Cambon sagte, habe Pichon geantwortet, die französische Regierung könne erst Stellung nehmen, nachdem sie die politische Lage und die Gesamtheit der französischen Interessen werde in Erwägung gezogen haben. Benckendorf f.

133. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 6./19. Dezember 1909. Am Freitag abend nach London zurückgekehrt, habe ich Sir Charles Hardinge am nächsten Tage gesprochen. Da diese Unterredung in Abwesenheit Sir E. Greys stattfand, habe ich es nicht für nötig befunden, Ihnen hierüber zu telegraphieren. Ich habe dem Unterstaatssekretär von Anfang an die neue und schwierige Lage geschildert, welche die englisch-deutschen Bagdadbahnverhandlungen hervorgerufen hätten, und über die Sir Arthur Nicolson Ihnen berichtet habe. Sir Charles hat mir aber wiederholt, daß es sich bis jetzt nur um Verhandlungen zwischen Finanzgruppen handle, und daß das Londoner Kabinett noch im Ungewissen sei, welches die eventuelle Form und der Inhalt der deutschen Vorschläge sein würden. Obwohl er einige Zweifel über die Möglichkeit, die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen zu einem günstigen Ergebnis zu führen, äußerte, verheimlichte mir Sir Charles nicht, daß ein unerwarteter Vorschlag, der den höchst wichtigen p o l i t i s c h e n Interessen Englands genau entspräche, es dem Londoner Kabinett kaum möglich machen werde, an demselben achtlos vorbeizugehen. Er fügte jedoch sofort hinzu, daß die russischen Interessen natürlich dabei



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gewahrt werden müßten, und daß die englische Regierung uns deshalb sofort von den Verhandlungen in Kenntnis gesetzt habe. Ich wies darauf hin, wie unvorteilhaft es für uns sei, daß eine Art deutsche Interessensphäre im Norden Kleinasiens geschaffen werde. Sir Charles gab dies zu und sprach sofort von der Linie Samsun—Siwas und der Zweigbahn Bagdad—Chanikin, die beide geeignet wären, dieser Gefahr vorzubeugen: das Interesse Rußlands an diesen beiden Fragen sei offensichtlich, und von England sei dies auch anerkannt worden, ohne daß dadurch anderen Fragen, welche die russische Regierung bei dieser Gelegenheit allenfalls aufwerfen würde, vorgegriffen werden sollte. Ich ging auf diese Bemerkung weiter nicht ein und begnügte mich, zu erklären, daß wir auf die Unterstützung Englands rechneten, wenn Euere Exzellenz in der an Sir A. Nicolson in Aussicht genommenen Antwort noch besondere Fragen zur Erörterung bringen werde. Ich wies jedoch Sir Charles darauf hin, daß diese vorläufige Antwort nur in allgemeinen Zügen gehalten sein werde, und daß übrigens das Londoner Kabinett sich irre, wenn es behaupte, daß wir der türkischen Zollerhöhung bedingungslos zugestimmt hätten. Sir Charles gab zu, daß die englischen Informationen in der Tat nicht richtig gewesen seien. Im Laufe der Unterredung wurde mir immer klarer, daß Sir Charles Hardinge die Schwierigkeiten der Verhandlungen, die noch nötig sein werden, vollkommen begreift und sich hierüber Sorgen macht. Auf meine Frage, welche politischen Folgen seiner Ansicht nach eine eventuelle Regelung der Bagdadbahnfrage in der zur Zeit in Aussicht genommenen Form nach sich ziehen würde, erwiderte er mir: „Es wird eine wichtige Frage weniger zwischen England und Deutschland geben, die einzige konkrete Frage." Ich habe es nicht für nötig gehalten, ihm im Laufe dieser ersten Unterredung die Frage über die Verhandlungen zu Vieren kategorisch zu stellen, da ich es vorzog, an sie erst später heranzutreten, wenn ich S l e b e i t , Benckendorff. I.

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über neue Informationen bezüglich des jetzigen Standes der Verhandlungen zwischen den Finanzkreisen verfüge. Ich wußte, daß Sir Ernest Cassel noch nicht aus Berlin zurückgekehrt war. Meine Unterredungen mit dem französischen Botschafter bilden den Gegenstand eines besonderen Briefes. Mein Eindruck ist der, daß die englische Regierung nur eine einzige Lösung der Frage der bis zum Persischen Golf führenden Bagdadbahn zulassen wird, nämlich eine solche, die den letzten Abschnitt England überläßt; übrigens hat die englische Regierung es nicht eilig, sie ist zu weiteren Zugeständnissen an Deutschland nicht geneigt und würde dem Abbruch der jetzigen Verhandlungen mit philosophischer Ruhe gegenüberstehen. Die englischen Interessen können nur durch die Erhaltung des status quo oder durch die heute vorgeschlagene Lösung gewahrt werden. Immerhin wünscht die englische Regierung die Lösung einer dornigen Frage, die vielleicht die' Beziehungen zwischen den beiden Ländern noch weiter vergiften könnte. Dies, glaube ich, ist der Geist, in dem England die Verhandlungen führt. Benckendorff.

134. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 7./20. Dezember 1909. Goto hat mir den Standpunkt des japanischen Ministerpräsidenten in der mandschurischen Frage mitgeteilt. Katsura glaubt, daß die politische Seite große Schwierigkeiten biete und reiflich erwogen werden müsse, da man andere Mächte zu berücksichtigen habe. Er meint, man müsse mit wirtschaftlichen Fragen anfangen, und zwar könnten diese Eisenbahn-, Tarif- und Telegraphenfragen betreffen. Die politische Seite würde sich dann auf administrative

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Maßregeln in der enteigneten Zone beziehen, und die beiden Regierungen hätten sich untereinander zu verständigen, ehe sie sich in diesen Fragen an China wenden. Im übrigen würde man in Tokio gern unsern Standpunkt kennenlernen. Malewski-Malewitsch.

135. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. Dezember 1909. — Nr. 240. Hardinge teilt mir mit, daß Cassel, der mit Zustimmung der englischen Regierung in Berlin gewesen sei, um mit Gwinner zu verhandeln, zurückgekehrt sei, ohne bisher eine Einigung erzielt zu haben. Cambon hat mir den Inhalt eines Berichtes des französischen Botschafters in Konstantinopel mitgeteilt, der die Nachricht enthält, daß Hilmi Pascha einer Teilung der Bahn in drei verschiedene Abschnitte ernstliche Schwierigkeiten bereite. Cambon hat diesen Bericht Hardinge mitgeteilt. Dieser sagt mir, er halte die Nachricht für richtig. Benckendorff.

136. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. Dezember 1909. Ich habe Euerer Exzellenz telegraphisch über meine erste Unterredung mit dem französischen Botschafter über die Bagdadbahn Bericht erstattet. Cambon hat sich am Tag darauf zu Sir Charles Hardinge begeben und mir dann sofort den Inhalt seiner Unterredung mit ihm mitgeteilt. Als Einführung machte mir Cambon fol13«



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gende Angaben über die Entstehung dieser Angelegenheit. Gwinner hätte sich, und zwar in Konstantinopel, zunächst an den Präsidenten der englischen Handelskammer, Whitehall gewandt und ihm von dem wichtigen Zugeständnis Kenntnis gegeben, welches das deutsche Syndikat der englischen Gruppe zu machen bereit sei: vollständiger Verzicht auf den Abschnitt Bagdad—Persischer Golf. Whitehall hätte dies sofort Sir G. Lowther mitgeteilt, welcher seiner Regierung hierüber berichtet habe. Daraufhin hätte das Londoner Kabinett sich sofort mit seinen Mitteilungen an Petersburg und Paris gewandt. Pichon soll geantwortet haben, er behalte es sich vor, seinerseits Bedingungen zu stellen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Gwinner im Auftrage der deutschen Regierung gehandelt hat; es ist gleichfalls sehr wahrscheinlich, daß er vorher mit der türkischen Regierung in Verbindung getreten ist, denn in diesem Zeitpunkt fand die Unterredung zwischen Hilmi Pascha und Bompard statt, welche in meinem Telegramm Nr. 239 erwähnt ist. Hilmi Pascha soll Bompard gesagt haben, er habe mit Befriedigung erfahren, daß ein Einvernehmen über die bis zum Persischen Golf verlängerte Bagdadbahn sich zwischen der englischen und deutschen Regierung anbahne. Bompard habe geantwortet, eine derartige Abmachung könne nicht genügen; es werde weiter nötig sein, daß die Interessen Frankreichs und Rußlands befriedigt würden. Der türkische Minister habe hierauf große Überraschung an den Tag gelegt und den französischen Botschafter gefragt, was er damit meine. Dieser habe geantwortet, daß die russischen Interessen in dieser Frage offenkundig seien, und sei auf ihre nähere Erörterung nicht eingegangen; er habe ferner gesagt, daß Frankreich ohne besondere Kompensationen sich nicht mit einem Abschnitt begnügen könne, welcher, was Ausdehnung und Bedeutung anbelange, ungenügend sei, da er zwischen den zwei anderen Teilen der Bahn eingeschaltet wäre, die beide bis ans Meer führten und zwei anderen Mächten zugespro-



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clien worden wären. Frankreich könne sich auch nicht mit der ihm bei der allgemeinen Verwaltung zuerkannten Rolle begnügen. Eigentlich habe Bompard damals gesagt, daß der ihm soeben mitgeteilte Standpunkt in keiner Weise mit seinen Informationen übereinstimme, denen zufolge die ganze Angelegenheit alle vier Mächte interessiere. Daraufhin habe Hilmi Pascha geantwortet, die türkische Regierung habe niemals die Absicht gehabt, eine Teilung der Bahn in drei verschiedene Abschnitte zu billigen, da das Parlament und die öffentliche Meinung in der Türkei sich dem widersetzen würden, wie dies die anläßlich der Frage Lynch entstandenen Schwierigkeiten deutlich bewiesen hätten. Ich wiederhole die Worte meines französischen Kollegen aus dem Gedächtnis, der mir sagte, er habe den Bericht Bompards Sir Charles Hardinge vorgelesen. Zur weiteren Schilderung seiner Unterredung mit dem englischen Unterstaatssekretär übergehend, sagte mir Cambon, daß Gwinner nach Berlin zurückgekehrt sei und Sir Ernest Cassel sich dann dahin begeben hätte, um die Verhandlungen fortzusetzen. Er, Cambon, habe Sir Charles gefragt, ob diese Reise mit der Zustimmung der englischen Regierung erfolgt sei. Die Antwort sei bejahend gewesen: Sir Ernest kenne den englischen Standpunkt. Aber Gwinner habe zuerst folgende Bedingung aufgestellt: um den letzten Abschnitt für sich zu behalten, müsse England für diesen Teil die türkische Kilometergarantie erhalten mit der Verpflichtung, sie nur in sehr beschränktem Maß zu benutzen und auf die Differenz zugunsten der anderen Teile der Linie zu verzichten. Nachdem er Gwinner gesprochen, habe Sir Ernest Cassel eine geschäftliche Unterredung mit Schön gehabt. Dieser habe ihm erklärt, die deutsche Regierung stimme dem Standpunkt Gwinners zu, stelle aber gewisse Bedingungen, ohne sie jedoch näher erwähnt zu haben. Sir Ernest sei mit diesen Informationen aus Berlin zurückgekehrt, wo er mit außerordentlich großer Zuvorkommenheit empfangen worden sei. Ich fragte Cambon,



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ob er etwas dagegen hätte, wenn ich in einer neuen Unterredung, welche ich mit Hardinge haben würde, mich auf alles mir von ihm Gesagte beziehen würde. Cambon antwortete, daß er mich im Gegenteil hierzu ermächtige, und daß er Sir Charles gegenüber seine erste Unterredung mit mir nicht verheimlicht habe. Benckendorff.

137. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. Dezember 1909. Nach meiner Unterredung mit Cambon, die den Gegenstand meines vorhergehenden Briefes bildet, begab ich mich zu Sir Charles Hardinge. Der Unterstaatssekretär bestätigte mir alles, was mein französischer Kollege von ihm erfahren hatte: daß Sir E. Cassel nach Berlin zwar als Finanzmann gereist sei, daß er aber vorher bei der Regierung sondiert hätte und von dieser über den Standpunkt des Londoner Kabinetts verständigt worden sei. Er bestätigte mir ebenfalls die deutsche Forderung hinsichtlich der Kilometergarantie und erklärte zum Schluß, daß Sir Ernest zurückgekehrt wäre, ohne sich mit Gwinner verständigt zu haben. Ich glaube hinzufügen zu sollen, daß Sir Charles mir nicht gesagt hat, daß diese deutsche Forderung der Grund der Meinungsverschiedenheit gewesen sei. Er hat die Forderung auf meine direkte Frage nur bestätigt und dann hinzugefügt, daß diese Verhandlungen zwischen den beiden Bankiers zu keinem Resultat geführt hätten. Ich fragte Sir Charles, was er über den Bericht Bompards denke. Er erwiderte, er halte einen so ernsten Widerstand von Seiten der Türken für durchaus möglich und glaube, daß in diesem Fall die ganze Angelegenheit auf eine unbestimmte Anzahl von Jahren verschoben würde. Ich kam hierauf auf eine Frage zurück, die Sir Charles an-



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läßlich unserer ersten Unterredung berührt hatte. Er hatte mir gesagt, daß die Zentralregierung sich mit der indischen Regierung hinsichtlich des Anschlusses der russischen und englischen Eisenbahnlinien durch Persien ins Benehmen gesetzt habe. Ich bat ihn, näher auszuführen, was er mir damit habe sagen wollen. Er antwortete, daß er mir diese Information vertraulich mitgeteilt habe, weil er der Ansicht sei, daß es gut wäre, wenn Eure Exzellenz wüßten, daß die englische Regierung diese Frage im Auge behält. Seinen Worten gemäß nimmt das Londoner Kabinett den Standpunkt ein, daß, wenn aus dem einen oder anderen Grunde es nötig werden sollte, die Ausführung dieses Anschlusses auf gewisse Zeit zu vertagen, es wichtig sei, die Richtung einer derartigen Linie einer Prüfung zu unterwerfen, eine Verständigung zwischen den beiden Regierungen zu erzielen und ohne viel Zeitverlust die nötigen Konzessionen zu erhalten, die, da sie sich auf die neutrale Zone erstrecken, Konkurrenten finden könnten; Lord Morley hat diesen Standpunkt der indischen Regierung gegenüber auseinandergesetzt und erwartet deren Antwort. Sir Edward Grey kommt Donnerstag morgen nach London zurück. Ich werde ihn noch an diesem Tag sehen, jedoch zu spät, um über meine Unterredung brieflich zu berichten, da unser Kurier am Morgen abreist. Ich nehme an, daß ich Euerer Exzellenz hierüber durch ein Telegramm werde berichten können, welches, ehe Sie noch meine heutigen Schreiben erhalten, die darin enthaltenen Informationen vervollständigen wird. Benckendorff.

138. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Konstantinopel vom 9./22. Dezember 1909. Der hiesige französische Botschafter teilt mir mit,



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Hilmi Pascha habe Bompard kategorisch erklärt, die Türkei werde in keinem Falle einer Lösung der Bagdadbahnfrage zustimmen, welche die Aufteilung dieser Bahn zwischen den interessierten Mächten nach sich ziehen würde; die Türkei kann nur eine gleichmäßige Beteiligung der genannten Mächte auf der ganzen Linie zulassen. Louis ist der Ansicht, daß diese Mitteilung nicht nur der Auffassung der türkischen Regierung, sondern auch den Wünschen der jungtürkischen Kreise entspricht. Diese Stellungnahme der Türkei kann die Ausführung des englisch-deutschen Abkommens ernstlich in Frage stellen und zeigt uns einen Ausweg aus der jetzigen schwierigen Lage. Ich bitte Sie, die Mitteilung Louis' ganz genau nachzuprüfen und uns Ihre Erwägungen mitzuteilen. Iswolski.

139. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 11./24. Dezember 1909. Anläßlich des amerikanischen Vorschlags sagte mir der Minister, er halte es für zeitgemäß, daß Rußland und Japan, die im Jahre 1907 den ersten Schritt einer Annäherung gemacht haben, sich nun zum zweiten Schritt entschließen. Als Grundlage der weiteren Entwicklung der politischen Beziehungen sollten die gemeinsamen Interessen in der Mandschurei dienen. Er gibt sich noch keine Rechenschaft darüber, welche Form ein derartiges Übereinkommen annehmen und welche konkreten Fragen darin behandelt werden sollen, hält es aber für dringend notwendig, in einen sofortigen Meinungsaustausch einzutreten. Komura fragte mich, ob ich diesbezügliche Instruktionen



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erhalten hätte. Ich erwiderte, daß ich zwar keinerlei Instruktionen besäße, an Ihrer Zustimmung jedoch nicht zweifelte. Malewski-Malewitsch.

140. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 11./24. Dezember 1909 — Nr. 243. Ich habe von Grey folgendes hinsichtlich der Bagdadbahn erfahren: Da die englische Regierung davon Kenntnis hatte, daß die Überschüsse aus den Zolleinnahmen im voraus der deutschen Bagdadbahngesellschaft zugesagt worden sind, und daß in diesem Falle die Bahn unter für England unvorteilhaften Bedingungen gebaut worden wäre, hat das Londoner Kabinett seine Zustimmung zur erbetenen Zollerhöhung verweigert, sofern die türkische Regierung sich nicht verpflichtet, daß der Ertrag diesem Unternehmen nicht zugute kommt, und wenn nicht außerdem eine deutsche Erklärung über einen derartigen Verzicht erfolge. Eine solche Erklärung ist nicht erhalten worden. Daraufhin hat Gwinner auf indirektem Wege ein Mittel vorgeschlagen, welches vom englischen Standpunkte aus die bestehenden Schwierigkeiten hätte beheben können. Die russische Regierung ist hiervon sofort verständigt worden. Hierauf hat Sir Ernest Cassel seine Dienste angeboten, um die Verhandlungen mit Gwinner in Berlin fortzusetzen. Er ist hierzu ermächtigt worden, unter der Bedingung jedoch, daß das Resultat dieser Verhandlungen in keiner Weise die Entschließungen der englischen Regierung binden dürfe, da auch Rußland und Frankreich an dem Ergebnis der Verhandlungen interessiert seien. Cassel ist aus Berlin mit ziemlich verwickelten Vorschlägen zurückgekehrt, die das Londoner Kabinett nicht



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zu befriedigen scheinen. Wenn später zwischen den Finanzgruppen eine für die englischen Interessen befriedigende Lösung gefunden werden sollte, so wird das Londoner Kabinett, ehe es seine Antwort selbst durch die Bankiers erteilt, Petersburg und Paris davon benachrichtigen. Diese beiden Kabinette würden dann zu beschließen haben, ob und unter welchen Bedingungen sie ihre Zustimmung zu der von der Türkei erbetenen Zollerhöhung erteilen würden. Vor seiner Abreise nach Berlin hat Cassel gefragt, ob die englische Regierung etwas dagegen hätte, wenn er auch über die Linie Bagdad—Chanikin spräche. Es ist ihm geantwortet worden, daß die englische Regierung ihn hierzu nicht beauftragen könne, da es sich hier um russische Interessen handele. Bitte dieses Telegramm als Ergänzung meiner Schreiben zu betrachten, welche gestern morgen an Sie per Kurier abgegangen sind. Benckendorff.

141. Bericht des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 11./24. Dezember 1909. Auf Grund Ihrer Telegramme habe ich mich bemüht, sofort die Ihnen von George Louis mitgeteilten Informationen hinsichtlich der letzten Phase der anglo-deutschen Verhandlungen über die Bagdadbahn nachzuprüfen. Aus den ausführlichen und offenen Unterredungen, die ich mit Bompard hatte, konnte ich, indem ich seine Mitteilungen auf Grund anderer Informationen nachprüfte, feststellen, daß der Verlauf dieser Angelegenheit folgender war: Als der Direktor der Deutschen Bank und der anatolischen Eisenbahn Gwinner vor zwei Monaten hier war und sich weigerte, das Verlangen der englischen Regierung zu erfüllen, schriftlich zu erklären, daß die vierprozentige Zollerhöhung nicht für die Garantie der Bagdad-

— 203 — linie verwendet werden sollte, riet ihm der Großwesir, sich mit dem englischen Kapitalisten Cassel in Verbindung zu setzen. Letzterer schlug damals hier der Pforte eine Anleihe in Höhe von 7 Millionen Pfund vor, wobei die Zeichnung des Londoner Anteils sodann einen vollen Mißerfolg erlitt. Nach Ansicht des Großwesirs sollte Deutschland in dem Abkommen den Grundsatz der Gleichberechtigung der Engländer auf der ganzen Linie der Bagdadbahn anerkennen. Auf diesen Vorschlag antwortete Gwinner ausweichend und erklärte, daß auf alle Fälle die Initiative zu den Verhandlungen von den Engländern auszugehen habe. Der Großwesir hat dann Tewfik Pascha nach London telegraphiert, es sei wünschenswert, ein Einvernehmen zwischen Gwinner und Cassel zu erzielen, was auch die englische Regierung veranlaßt hat, dahin zu wirken, daß mit den Verhandlungen begonnen werde. Baron Marschall, der diesen Teil der Verhandlungen kannte, überzeugte Bompard davon, daß in der Tat nicht die Deutschen, sondern die Engländer die Verhandlungen begonnen hätten. Dem deutschen Botschafter selbst ist vom hiesigen englischen Geschäftsträger in feierlicher und unerwarteter Weise eröffnet worden, daß die besagten Verhandlungen nach der unlängst erfolgten Ankunft Cassels in Berlin begonnen hätten. Hilmi Pascha hat selbst hierüber mit dem französischen Botschafter zu sprechen begonnen und drückte ihm seine Befriedigung darüber aus, daß die Schwierigkeiten in der Frage der Zollerhöhung durch die anglo-deutsche Verständigung auf Grund der Gleichberechtigung der englischen und deutschen Kapitalisten auf der ganzen Bagdadlinie beseitigt würden. Bompard erklärte, ohne die Quelle seiner Informationen anzugeben, hierauf dem Großwesir, daß die Grundlage des in Aussicht genommenen Abkommens nicht die angebliche Gleichberechtigung, sondern im Gegenteil die den Engländern gewährte Überlassung der ausschließlichen Kontrolle über den Abschnitt Bagdad—Persischer Golf sei,

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wobei Deutschland die alleinige Kontrolle über die Linie Haidar Pascha—Bagdad behalte. Diese Nachricht hat Hilmi Pascha zu jener Unterredung veranlaßt, über welche Ihnen George Louis berichtet hat. Der Großwesir erklärte, daß eine derartige Abmachung die Aufteilung der Türkei in Interessensphären bedeute und von der Türkei nicht zugelassen werden könne. Nach Ansicht des französischen Botschafters ist Baron Marschall über den weiteren Gang der Verhandlungen nicht informiert; deren Inhalt wurde auch den Türken gegenüber geheimgehalten. Den Nachrichten Bompards zufolge endigten die Verhandlungen in Berlin mit der Einladung Cassels zu einem Frühstück zum Kaiser, haben aber nicht zur Unterzeichnung irgendwelcher Abmachungen geführt. Nach Ansicht des französischen Botschafters ist es durchaus möglich, eine ausschließlich englische Kontrolle über den Abschnitt Bagdad—Persischer Golf zu erzielen, indem zwischen den englischen und deutschen Finanzkreisen eine Abmachung administrativen Charakters getroffen würde, welche den Buchstaben der bestehenden Bagdadkonzession nicht verletzen und der türkischen Regierung keine rechtliche Grundlage für eine Einmischung oder einen Protest bieten würde. Wenn man berücksichtigt, daß die Türken geneigt sind, sich mit einer reinen Formalität unabhängig vom eigentlichen Inhalt zufrieden zu geben und ihnen unangenehme Tatsachen leicht zu vergessen, wie z. B. die vorjährigen Schritte Österreichs in Bosnien, so kann man nach Ansicht Bompards das englisch-deutsche Abkommen verwirklichen trotz der Ungehaltenheit Hilmi Paschas, und ohne daß dies der hiesigen Stellung sowohl Deutschlands als auch Englands besonders schaden würde. Eine derartige Annahme erscheint mir um so wahrscheinlicher, als Deutschland und England imstande sein werden, die Türkei mit der Zollerhöhung zu trösten, d. h. ihr die Möglichkeit zu geben, sofort eine Anleihe von 600 Millionen Franken aufzunehmen. Der Botschafter ist daher



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der Ansicht, daß die französische Regierung der Pforte nicht nur wie bisher mündlich, sondern schriftlich mitteilen müsse, daß sie die Erhöhung des Zolls auf französische Waren zugunsten eines Unternehmens, an dem Frankreich sich nicht beteiligt, nicht zulassen kann, und daß, wenn die Pforte Deutschland geraten hat, sich mit England hinsichtlich der Bagdadbahn zu verständigen, Deutschland auch mit Frankreich in Verhandlungen eintreten soll. Was die Verhandlungen selbst anbelangt, so legt ihnen Bompard nicht nur eine örtliche, rein türkische, sondern vielmehr eine viel größere, allgemein europäische Bedeutung bei. Er erblickt in diesen Verhandlungen den ausdrücklichen Wunsch Englands und Deutschlands, eine Entspannung ihrer jetzigen Beziehungen herbeizuführen, wozu die Bagdadbahn eine gute Gelegenheit bietet. Für Frankreich und Rußland, denen England vorschlägt, sich mit Deutschland hinsichtlich der Zweiglinie Bagdad—Kermanschah zu verständigen, ist die erwartete Möglichkeit einer englischdeutschen Annäherung unvorteilhaft und schädlich. Auf alle Fälle werden die beiden Mächte die englische Unterstützung in Konstantinopel einbüßen, auf die sie bis jetzt zählen konnten. Ich selbst gehe noch weiter als mein französischer Kollege und rechne mit der Möglichkeit eines deutsch-französischen Einvernehmens über die Bagdadbahn, welches im Grunde genommen, soweit französisches Kapital in Betracht kommt, bereits besteht. Überhaupt dürfen wir kaum darauf rechnen, daß die Pforte dem beabsichtigten Übereinkommen Schwierigkeiten in den Weg legen wird, und daß uns dadurch ein Ausweg aus der schwierigen Lage geboten würde. In diesem Falle droht uns eine unvorteilhafte oder sogar gefährliche Isolierung, wenn wir nicht bis dahin ein Einvernehmen mit Deutschland und der Türkei erzielt haben werden. Meinerseits fahre ich fort, die englisch-deutschen Verhandlungen nicht zu erwähnen, es sei denn in meinen ganz vertraulichen Gesprächen mit meinem französischen Kollegen.



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Man muß übrigens bemerken, daß die türkische Regierung Unvorsichtigkeiten begangen hat, erstens indem sie Gwinner und Cassel vorschlug, zu einer Verständigung zu gelangen, und zweitens, indem sie dem hiesigen englischen Botschafter noch im vorigen Sommer versprach, die Angelegenheit Lynch den englischen Wünschen gemäß zu regeln. Diese Unvorsichtigkeit ist natürlich auf die geringe Sachkenntnis und Erfahrung einiger der neuen türkischen Minister zurückzuführen. Die Erkenntnis dieser Schwäche veranlaßt die letzteren, die gerechte und ruhige Haltung der russischen Regierung ihnen gegenüber ganz besonders zu würdigen und uns in den uns interessierenden Angelegenheiten aufrichtiges Entgegenkommen zu zeigen. Tscharykow.

142. Promemoria des russischen Außenministeriums an die großbritannische Botschaft in Petersburg vom 13./26. Dezember 1909. Das Kaiserliche Ministerium des Auswärtigen hat nicht verfehlt, das Memorandum vom 6. November sowie die vier darauf folgenden Mitteilungen Sir A. Nicolsons zu prüfen. Das Ministerium glaubt, vor allem auf ein Mißverständnis hinweisen zu müssen, welches augenscheinlich hinsichtlich der türkischen Zollerhöhung besteht. Wenn die Kaiserliche Regierung bis jetzt noch nicht ihre Zustimmung von der Bedingung abhängig gemacht hat, daß diese Erhöhung nicht dazu dienen dürfe, die Kilometergarantie der Bagdadbahn zu bestreiten, so ist das ausschließlich darauf zurückzuführen, daß sie der Ansicht ist, daß die Pforte selbst eine derartige Zusicherung im letzten Absatz ihrer Note vom 5. September gegeben hat. Wenn sich herausstellen sollte, daß diese Versicherung keine bindende Kraft für die Türkei hat, so wird die Kaiserliche Regierung nicht verfehlen, Vorbehalte



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zu machen, wie dies bereits von Seiten der englischen Regierung erfolgt ist. Das Kaiserliche Ministerium hat mit großer Befriedigung davon Kenntnis genommen, daß die letzten englisch-deutschen Verhandlungen über die Bagdadbahn bis jetzt ausschließlich zwischen den beiden Finanzgruppen geführt worden sind, und daß die englische Regierung keine Vorschläge annehmen wird, ehe sie diese Angelegenheit nicht mit der russischen und französischen Regierung besprochen hat, um ein Einvernehmen „zu Vieren" zu erzielen. In Anbetracht der großen Kompliziertheit der in Frage kommenden Interessen Rußlands wird die Kaiserliche Regierung erst dann in erschöpfender Weise die Erwägungen formulieren können, unter denen sie sich einer Vereinbarung „zu Vieren" anschließen könnte, wenn sie die ganze Frage erschöpfend geprüft haben wird; es ist ihr um so schwerer, sich sofort zu äußern, als die Mitteilungen Sir A. Nicolsons die Grundlagen der in Aussicht genommenen Vereinbarung nicht deutlich definieren: verzichtet das Londoner Kabinett jetzt schon auf die in dem von Sir E. Grey dem Grafen Benckendorff übergebenen Memorandum vom 6. Juni 1907 enthaltenen Gedanken, welche eine bedeutende Abweichung vom Standpunkt aufweisen, der den deutschen Vorschlägen zugrunde gelegt ist ? So zum Beispiel sah das Memorandum vom 6. Juni die Schaffung einer internationalen Verwaltung vor, während die Vorschläge Gwinners eine absolute Teilung der Linie zu bedeuten scheinen. Dasselbe Memorandum dehnte die englische Interessensphäre bis zu einem Punkt „nördlich von Bagdad" aus, während jetzt davon die Rede ist, auf den Abschnitt der Bahn von Bagdad ab zu verzichten. Es ist für die Kaiserliche Regierung wichtig, über den diesbezüglichen Standpunkt des Londoner Kabinetts unterrichtet zu sein, um ihrerseits eine bestimmte Ansicht äußern zu können. Da endlich die Erbauung der Bagdadbahn die russischen Interessen in Persien ernstlich bedrohen kann, so wird die



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Kaiserliche Regierung sich über diese Seite der Angelegenheit direkt mit Deutschland zu verständigen suchen müssen; sie stellt mit Befriedigung fest, daß die englische Regierung einer derartigen Verständigung günstig gegenübersteht; ihrerseits wird die Kaiserliche Regierung nicht verfehlen, aus diesem Anlaß die vorhergehenden Abmachungen, die sie mit England über Persien getroffen hat, aufs genaueste zu beobachten und das Londoner Kabinett über ihre eventuellen Verhandlungen mit Deutschland auf dem laufenden zu halten.

143. Telegramm des russischen Botschafters in Washington an den russischen Außenminister vom 15./28. Dezember 1909. Das in dem Ihnen übergebenen Memorandum enthaltene Projekt ist, wie mir Knox mitteilt, Deutschland und England zugestellt worden, deren prinzipielle Zustimmung erfolgt ist. Man ist noch ohne Nachricht über den japanischen Standpunkt. Das Projekt von Knox bezweckt, wie er mir mitteilt, die Mandschurei unter der Kontrolle der Großmächte zu neutralisieren, die Rechte Chinas in diesem Lande sicherzustellen und einen Puffer zwischen Rußland und Japan zu errichten, wodurch der Möglichkeit eines Konfliktes zwischen diesen beiden Staaten vorgebeugt würde. Die Haltung Japans in dieser Frage wird meiner Ansicht nach beweisen, ob die Pläne dieses Landes auf die Mandschurei oder auf das Ussuri-Gebiet zielen. Daß solche Absichten bestehen, beweist meiner Ansicht nach die beständige Entwicklung der Landstreitkräfte, sofern man nicht annehmen will, daß Japan wirklich ausschließlich defensive Zwecke verfolgt, um in der Lage zu sein, seine Eroberungen in Korea gegen alle Eventualitäten verteidigen zu können. Rosen.



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144. Schreiben des englischen Botschafters in Petersburg an den russischen Außenminister vom 19. Dezember 1909/1. Januar 1910. Folgendes ist eine kurze Darstellung des Standpunktes der englischen Regierung hinsichtlich der Bagdadbahn. Die von Herrn Gwinner gemachten Eröffnungen haben zu Verhandlungen zwischen ihm und Sir Emest Cassel geführt. Diese Verhandlungen können zur Folge haben, daß den englischen Finanzkreisen Vorschläge gemacht werden, welche ihnen hinsichtlich der Erbauung und Ausbeutung der Linie eine sichere Kontrolle über den Abschnitt der Bahn zwischen Bagdad und dem Persischen Meerbusen geben; aber ein derartiges Resultat ist bis jetzt noch nicht endgültig erreicht worden. Wenn die Bankiers zu einem Einvernehmen gelangt sein werden, wird es die Aufgabe der englischen Regierung sein zu prüfen, ob sie im Hinblick auf die eventuellen von den Finanzkreisen gemachten Vorschläge berechtigt ist, der Erhöhung der türkischen Zölle bedingungslos zuzustimmen. Bevor irgendwelche weiteren Schritte ihrerseits erfolgen, wird die englische Regierung dem Petersburger und Pariser Kabinett den Inhalt des zwischen den Bankiers erzielten Abkommens und den diesbezüglichen Standpunkt der englischen Regierung mitteilen. Die russische und die französische Regierung werden dann der englischen Regierung die Bedingungen mitzuteilen haben, welche sie hinsichtlich der Bagdadbahn stellen werden, ehe sie ihre Einwilligung zur Zollerhöhung geben. Auf diese Weise wird ein harmonisches Vorgehen der drei Mächte gesichert sein. Bei ihren Verhandlungen haben die englischen und deutschen Bankiers überhaupt nicht über die Frage der Internationalisierung der Bahn oder über Teilkonzessionen nördlich von Bagdad gesprochen, und bevor die englische Regierung diese Frage aufwirft, wird sie von der französischen und russischen Regierung eine Mitteilung darüber erwarten, wie Siebert, Benckendorff. I. 14



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letztere über die Behandlung dieser Punkte denken. Denn der englischen Regierung kommt es vor allem darauf an, daß der Abschnitt der Bahn zwischen Bagdad und dem Persischen Golf nicht in andere Hände übergeht, obwohl Sir E. Grey gegenüber von englischen Finanzkreisen der Wunsch ausgedrückt worden ist, daß ihnen eine gewisse Beteiligung an der Zweiglinie Chanikin gesichert werden möge. Selbst wenn die Verständigung, zu welcher Herr Gwinner und Sir Cassel hinsichtlich des Bagdad—Golf-Abschnitts kommen mögen, die englische Regierung befriedigt, so bleibt immer noch die Frage offen, wie weit sie für die türkische und deutsche Regierung annehmbar ist. Bis jetzt ist zwischen der englischen und deutschen Regierung noch gar nicht über die Gwinnerschen Vorschläge verhandelt worden, und Sir E. Grey nimmt nur an, daß die Natur dieser Vorschläge der deutschen Regierung bekannt ist. Die englische Regierung hat mit Befriedigung davon Kenntnis genommen, daß Sie bereit sind, das Londoner Kabinett über den Stand der Verhandlungen, in die Sie eventuell mit der deutschen Regierung eintreten werden, auf dem laufenden zu halten. Nicolson.

145. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 23. Dezember 1909/5. Januar 1910. Obwohl die allgemeinen Wahlen nahe bevorstehen, ist es doch schwer, ihr Ergebnis vorauszusehen. Die Reden folgen aufeinander, ohne daß sie ein neues Licht auf die Lage werfen. Alles ist schon gesagt worden, und man beschränkt sich auf Wiederholungen, welche natürlich eine immer schärfere Form annehmen. Die Frage des Oberhauses, vielmehr seiner legislativen Gewalt, tritt immer deutlicher in den



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Vordergrund, aber selbst in dieser Hinsicht gibt es weder ein Programm noch eine vorgeschlagene Lösung. . . . Der jetzige Wahlkampf wird jedoch, abgesehen von diesen rein inneren Fragen, durch das Wiederaufflackern eines etwas unerwarteten Chauvinismus gekennzeichnet. Dieser findet seinen Ausdruck in dem Gespenst der deutschen Gefahr, welche von allen Parteien betont wird, ganz besonders aber von den Konservativen. Es handelt sich nicht mehr allein um mehr oder weniger sensationelle Zeitungsartikel, sondern um ernste Redner, wie Lord Cromer, Lord Curzon und andere. Ich habe neulich den deutschen Botschafter gefragt, was er von der Haltung der englischen Parteien während des Wahlkampfes vom Standpunkte der englisch-deutschen Beziehungen aus halte. Er hat mir geantwortet, daß trotz des Deutschland feindlichen Lärmes, den wir um uns hörten, er sich nicht besserer Beziehungen zwischen den beiden Regierungen erinnere; wenn die konservative Partei ans Ruder gelange, so werde man zuerst sehen müssen, was sie leiste; eine Versammlungs- und Pressepolemik wie die jetzige habe natürlich sehr schlechte Seiten, er könne ihr aber keine wirklich symptomatische Bedeutung beimessen und sei durch sie nicht allzu sehr beunruhigt. Mein deutscher Kollege glaubt, daß die konservative Partei das Land überzeugen will, daß es für alle Fälle gerüstet sein muß, und dieser Standpunkt wird vom ganzen Lande geteilt; wenn die einflußreichen Persönlichkeiten wirklich ehrgeizige oder sogar aggressive Ziele verfolgten, so würden sie sich meiner Meinung nach hüten, so oft und so laut darüber zu sprechen. Graf Metternich zufolge handelt es sich um ein Wahlmanöver einer Partei, die, abgesehen von der sehr strittigen Frage der Tarifreform, kein bestimmtes Programm besitze, was immer eine Schwäche bedeute. Was mich anlangt, so teile ich vollkommen die Auffassung meines deutschen Kollegen. Ich glaube sogar, daß diese 14*



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ganze Agitation nicht sehr weit geht, da sie vor allem durch die Reden eines glänzenden, populären und erfahrenen, aber auch eines unzufriedenen Parteiführers genährt wird — ich meine Admiral Lord Charles Beresford. Meiner Ansicht nach liegt dieser Agitation der verborgene Wunsch zugrunde, wenn nicht ein Übereinkommen zu erzielen, so doch wenigstens beruhigt zu werden. Jeder greifbare Beweis einer Entspannung würde von der großen Masse des Publikums mit Freuden begrüßt werden. Ohne hinsichtlich des Resultats der Bagdadbahn-Verhandlungen besonders optimistisch zu sein, glaube ich dennoch, daß diese Annäherungsbestrebungen sofort nach Beendigung der Wahlen auf die eine oder andere Weise wieder aufgenommen werden. Ich glaube, das ist der eigentliche Wunsch Englands, und nehme mit Bestimmtheit an, daß das auch für Deutschland gilt. In dieser Hinsicht kann ich nicht die Meinung Pichons teilen, die in einem Schreiben unseres Botschafters in Paris erwähnt wird. Diese Ansicht stützt sich darauf, daß auf dem Kontinent die radikalen Parteien, besonders die Sozialisten, sich für auswärtige Politik wenig interessieren und gegen Rüstungen sind. Eine derartige Verallgemeinerung trifft auf dieser Seite des Kanals nicht zu. Es besteht kaum ein Unterschied zwischen dem Interesse der Konservativen und der Radikalen am außenpolitischen Programm, und was die Notwendigkeit von Rüstungen anbelangt, so stimmen beide Parteien hierin überein. Es ist wahr, daß in England die Gedanken von einer Frage zur anderen, von einem geographischen Gebiet zum anderen wandern können; dies ist aber keine Parteisache, und auf alle Fälle gilt das in England weniger als in allen anderen Ländern. Die Ansicht Pichons trifft jedoch für Wahlperioden zu, wenigstens in unseren Tagen; die ausländische Politik ist nichts anderes als eine Wahlparole. Dies ist meine Auffassung von der jetzigen antideutschen Agitation. Benckendorff.



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146. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 24. Dezember 1909/6. Januar 1910. Ich halte es für meine Pflicht, über die jetzige Lage der Bagdadbahn-Angelegenheit gemäß den letzten hier erhaltenen Informationen zu berichten. Die Reise Cassels nach Berlin hat gar keinen Erfolg gehabt. Es ist ihm nicht gelungen, sich mit den deutschen Bankiers über die finanzielle Seite des Unternehmens zu einigen; die politische hat er nicht berührt, da er hierzu nicht ermächtigt war. Aber Baron Schön hat ihn auf die große Bedeutung der von Deutschland hinsichtlich des Südendes der Bagdadbahn gemachten Konzession hingewiesen und darauf angespielt, daß man in Berlin auf eine entsprechende Kompensation von Seiten Englands rechne. Welcher Art diese sein soll, hat man Cassel nicht gesagt. Es ist ihm erklärt worden, wenn die deutsche Eisenbahngesellschaft England hinsichtlich des Abschnitts Bagdad—Persischer Golf entgegenkomme, so rechne sie damit, daß England, da die Erbauung dieses Teiles der Linie, der durch eine ebene und gut bevölkerte Gegend führt, verhältnismäßig leicht und billig sein wird, zugunsten der deutschen Eisenbahngesellschaft auf die von der türkischen Regierung versprochene Garantie verzichten wird, soweit diese sich auf diesen Abschnitt bezieht. Andererseits hat die türkische Regierung, als sie erfuhr, daß es beabsichtigt sei, die Bagdadbahnlinie in zwei Teile zu teilen, von denen der eine unter dem Einfluß und der Kontrolle Deutschlands stehen und der andere sich in völliger Abhängigkeit von der englischen Regierung befinden würde, in privaten Äußerungen einiger türkischer Politiker zu verstehen gegeben, daß sie niemals ihre Zustimmung zu einer derartigen Teilung des Unternehmens geben würde, welches im Grunde genommen ihr gehöre. Der hiesige türkische Botschafter hat bestätigt, daß bei der jetzigen nationalistischen Stimmung



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der öffentlichen Meinung in Konstantinopel sich kein Minister finden werde, der die Überlassung irgendeines Teiles einer durch persisches Territorium führenden Eisenbahnlinie an den einen oder anderen Staat bestätigen würde. Die Pforte würde sich sicher eher mit der Erbauung einer internationalen Linie abfinden, welche unter der allgemeinen Kontrolle mehrerer Mächte, die sich an ihrer Erbauung beteiligt hätten, stehen würde. Auf Grund aller dieser Erwägungen und auch des Umstandes, daß die ganze Aufmerksamkeit der englischen Regierungskreise zurzeit auf die Entwicklung der inneren Krise gerichtet ist, ist die Angelegenheit der Bagdadbahn einstweilen vertagt worden, und es ist nicht anzunehmen, daß in allernächster Zukunft irgendein neues Ereignis eintritt. Der französische Botschafter in London, mit dem ich in diesen Tagen über diese Frage ausführlich gesprochen habe, hat mir unter anderem mitgeteilt, daß Frankreich, wenn der deutsche Vorschlag, England den Abschnitt Bagdad—Persischer Golf zu überlassen, verwirklicht würde, bereits eine Kompensation für sich selbst im Auge habe. Diese würde in einer Verbindungslinie westlich von Bagdad zum Mittelmeer bestehen, welche sich an das dort schon von den Franzosen erbaute syrische Eisenbahnnetz anschließen würde. Es fragt sich aber, welches wird die Forderung Rußlands sein? Womit könnte es sich begnügen, da die englische Regierung erklärt hat, daß sie keinerlei Abmachungen treffen werde, ohne sich vorher mit Frankreich und Rußland verständigt zu haben? Nelidow.

147. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 31. Dezember 1909/13. Januar 1910. Euere Exzellenz kennen wohl bereits die Einzelheiten der ursprünglichen Verhandlungen, die neulich in der Bagdad-



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bahnfrage zwischen Deutschland und England stattgefunden haben. Trotzdem halte ich es für meine Pflicht, Ihnen hierüber zu berichten, da ich aus sicherer Quelle Informationen hierüber erhalten habe. Als Gwinner das letzte Mal in Konstantinopel war, hatte er eine geschäftliche Aussprache mit dem Großwesir. Letzterer beklagte sich, daß infolge der von der Pforte übernommenen Verpflichtung, der Bagdadbahn einen Teil der eventuellen Zollerhöhung als Garantie zu überlassen, England sich weigere, seine Zustimmung zu der in Aussicht genommenen und von den übrigen Mächten im Prinzip bereits gebilligten vierprozentigen Zollerhöhung zu geben. Er hat hierbei dem Wunsch Ausdruck gegeben, die Eisenbahngesellschaft möge Mittel und Wege finden, um den Widerstand der Engländer zu beseitigen. Der deutsche Bankier hat geantwortet, das einzige Mittel wäre wohl, den Engländern die Kontrolle über den Abschnitt Bagdad—Persischer Golf zu überlassen, wogegen Hilmi Pascha keine Einwendungen erhoben hat. Dieser Vorschlag, der vom englischen Botschafter mitgeteilt worden war, ist von London nach Petersburg und Paris weitergegeben worden; nach Berlin wurde Cassel geschickt, der es übernommen hatte, die finanzielle Seite der Angelegenheit zu regeln. Wie Ihnen bekannt sein wird, hat die Mission Cassels keinen Erfolg gehabt. Die Grundforderungen der deutschen Bankiers sind in London als übertrieben bezeichnet worden. Andererseits mußte die englische Regierung die Interessen Rußlands und Frankreichs berücksichtigen, und auf diese Weise nahm die ganze Angelegenheit einen für Deutschland unbequemen politischen Charakter an. Endlich konnte auch die türkische Regierung nicht damit einverstanden sein, den ausländischen Mächten besondere Rechte auf türkische Gebiete zuzuerkennen; der mit der englischen Gesellschaft Lynch abgeschlossene Vertrag hinsichtlich der Schiffahrt auf dem Tigris und Euphrat hatte bereits sowohl in Mesopotamien als auch in Konstantinopel große Unzufriedenheit



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hervorgerufen und war bis zu einem gewissen Grade der Grund des Sturzes Hilmi Paschas. Auf diese Weise blieben dann die Verhandlungen zwischen Deutschland und England einstweilen erfolglos. Da die Deutschen bereits über Barmittel zur Fortsetzung der Arbeiten bis zum Jahre 1911 verfügen, so wird es ihnen möglich sein, auch ohne fremde Hilfe Mittel zur Ausführung der gesamten von ihnen übernommenen Aufgabe nämlich der Führung der Linie über die taurischen Berge bis zur Ortschaft Helif zu erhalten. Die weitere, über 1000 km lange Strecke bis Bagdad, führt durch eine völlig ebene Gegend, wo die Arbeiten keine Schwierigkeiten verursachen werden. Die Deutschen können folglich ruhig die Lösung der Frage der Zollerhöhung abwarten, an der hauptsächlich die Türken interessiert sind, und die andererseits die Beziehungen der letzteren zu England nur beeinträchtigen kann. In Anbetracht des Umstandes, daß die Londoner Regierung anläßlich der inneren englischen Krise nicht in der Lage sein wird, sich ernstlich mit der Bagdadbahn zu beschäftigen, läßt sich voraussehen, daß diese Angelegenheit einstweilen wieder einschlafen wird. Nelidow.

148. Schreiben des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 31. Dezember 1909/13. Januar 1910. Ich habe soeben eine zweistündige Unterredung mit Motono gehabt. Wir sprachen natürlich über das berüchtigte amerikanische Projekt. Komura hat dem Botschafter die zwischen beiden Staaten stattfindenden Verhandlungen über dieses Projekt mitgeteilt. Motono ist äußerst zufrieden, daß unsere beiden Regierungen in dieser Frage gemeinsam vorgehen. Er hält es für beachtenswert, daß der Entwurf der japanischen Antwort uns zuerst mitgeteilt



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worden ist, und daß Sie ein ähnliches Versprechen hinsichtlich der den Amerikanern zu erteilenden russischen Antwort gemacht haben. Hierin erblickt der Botschafter nicht nur ein Anzeichen gegenseitigen Vertrauens, sondern auch eine ständig fortschreitende Gemeinsamkeit der Politik in der Mandschurei. Was den weiteren Ausbau des Abkommens vom Jahre 1907 anlangt, so sieht der Botschafter in dem amerikanischen Vorschlage einen deutlichen Beweis dafür, daß eine Annäherung zwischen Rußland und Japan in der mandschurischen Frage notwendig sei. Auf meinen Hinweis, wie schwer es sein würde, eine Formel für diese Annäherung zu flnden, wies der Botschafter darauf hin, daß die Verträge mit China über die ostchinesischen und südmandschurischen Eisenbahnen zeitlich begrenzt sind. „Hat die russische Regierung wirklich die Absicht, China seine Linie zurückzugeben, wenn der für den Rückkauf festgesetzte Zeitpunkt eintritt ?" fragte der Botschafter. Ich habe natürlich eine ausweichende Antwort gegeben und nur darauf hingewiesen, daß dieser Zeitpunkt erst 36 Jahre nach Beginn der Ausbeutung der Eisenbahnlinie eintreten werde, und daß es daher schwer sei, so fernliegende Ereignisse vorauszusehen. Die Bemerkung des Botschafters läßt mich jedoch vermuten, daß man in Japan weitergehende Absichten hegt, als ich zuerst annehmen zu können glaubte. Ich glaube nicht, daß der sonst so vorsichtige Vertreter Japans in Petersburg diese schwierige Frage angeregt hätte, wenn er hierzu nicht besonders beauftragt worden wäre. Sollte die japanische Regierung sich entschließen, diese Frage in den bevorstehenden Verhandlungen zu berühren, so würde dies deutlich beweisen, wie sehr Japan an der Erhaltung des status quo in der Mandschurei und an unserer Unterstützung interessiert ist. Zu dem Gedanken eines neuen politischen Abkommens mit uns zurückkehrend, betonte Motono den Umstand, daß das Abkommen des Jahres 1907 ausschließlich negativen



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Charakter habe, während der neue Vertrag positive Seiten enthalten müsse. Es liegt ihm offenbar daran, solange er noch in Japan ist, d. h. bis Mitte Februar, den allgemeinen Umriß der bevorstehenden Verhandlungen festzusetzen. Ich wäre Ihnen daher für möglichst baldige Instruktionen dankbar. Malewski-Malewitsch.

149. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 31. Dezember 1909/13. Januar 1910. Nr. 2291. Unter Nr. 2 erhalten Sie den Inhalt der Antwort, die wir der amerikanischen Regierung auf den Neutralisierungsvorschlag der mandschurischen Eisenbahn zu geben beabsichtigen. Ich bitte Sie, den Inhalt dieser Antwort Grey vertraulich mitzuteilen und hinzuzufügen, daß wir in dieser Frage im Einvernehmen mit Japan handeln. Iswolski.

150. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 31. Dezember 1909/13. Januar 1910. Nr. 2291. Nr. 2. In unserer Antwort auf den amerikanischen Vorschlag stellen wir fest, daß unserer Ansicht nach die Lage in der Mandschurei nichtB enthält, was Chinas Souveränität und das Prinzip der offenen Tür in Frage stellen könnte, und weigern uns, dem amerikanischen Vorschlag der Neutralißierung der mandschurischen Eisenbahnen zuzustimmen. Wir begründen diesen Standpunkt einerseits mit den nach-

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teiligen Folgen, die die Ausführung eines solchen Planes für die ostchinesische Eisenbahngesellschaft und für die zahlreichen damit zusammenhängenden privaten Interessen haben würde, und weisen andererseits auf die Rolle hin, die diese Linie für die Verbindungen mit unseren Besitzungen im fernen Osten spielt, was uns zur größten Vorsicht allem gegenüber zwingt, was eine Änderung des Regimes in der von dieser Bahn durchquerten Gegend bedeutet. Indem wir uns im Prinzip bereit erklären, das Projekt einer Eisenbahnlinie Chinchow—Aigun und die Frage unserer Beteiligung an ihrer Erbauung zu erörtern, bitten wir, daß man uns vorher über die Grundlagen dieser Unternehmung, die uns bis jetzt unbekannt sind, unterrichte. Was die im amerikanischen Vorschlag vorgesehene Möglichkeit des Baues von anderen Eisenbahnlinien in der Mandschurei durch das internationale Syndikat der Bahn Chinchow—Aigun anbetrifft, so behalten wir uns vor, ehe wir uns daran beteiligen, jedes einzelne dieser Projekte vom Standpunkt unserer Interessen aus zu prüfen. Iswolski.

151. Vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 31. Dezember 1909/ 13. Januar 1910. In der Anlage erhalten Sie ein Resümee der Verhandlungen über den amerikanischen Vorschlag betreffend die mandschurische Eisenbahn. Iswolski. Anlage. Sobald der neue amerikanische Botschafter Rockhill seinen neuen Posten in Petersburg angetreten hatte, begann er, uns auf einen ziemlich unbestimmten Plan eines gemeinsamen Vorgehens im fernen Osten vorzubereiten. In einzelnen Unterredungen wies der Botschafter bald auf die japanisch-



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chinesischen Abmachungen, bald auf die Mißverständnisse hinsichtlich der Administration der enteigneten Zone der mandschurischen Eisenbahnen hin und versuchte uns von der Notwendigkeit zu überzeugen, Rußland und Amerika müßten in mandschurischen Fragen gemeinsam handeln und das Prinzip der offenen Tür und der chinesischen Unabhängigkeit zu wahren suchen. Gleichzeitig machte sich in Japan der Wunsch bemerkbar — obwohl gerade in jener Zeit in der Presse immer wieder Gerüchte über aggressive Absichten Japans Rußland gegenüber auftraten — mit uns eine Einigung in mandschurischen Fragen zu erzielen. Hinsichtlich der Abmachungen mit China versuchte der japanische Botschafter zu beweisen, daß das wahre Objekt der japanischen Politik nicht Rußland, sondern China sei; indem er auf die Schwierigkeiten hinwies, die unsere Politik in der Mandschurei zu überwinden habe, suchte er darzulegen, daß in den Augen der ganzen Welt die Übereinstimmung der russischen und japanischen Interessen in China bewiesen werden müßte. Gleicherweise hat die Reise des Prinzen Ito den Zweck verfolgt, eine ganze Reihe von zwischen Rußland und Japan schwebenden Fragen wirtschaftlicher Natur einer befriedigenden Lösung entgegenzuführen. Was China anlangt, welches natürlich seine Souveränitätsrechte in der Mandschurei sichern wollte, so machte sich in Peking das Bestreben bemerkbar, die anderen Mächte, die an der Handelsfreiheit in der Mandschurei interessiert sind, Rußland und Japan entgegenzustellen. All dies wies deutlich darauf hin, daß wir an einem Wendepunkt der ostasiatischen Politik angekommen sind, und daß der bestehende status quo den Interessen der drei Mächte, nämlich Amerikas, Japans und Chinas, nicht mehr entspricht. In der Tat, würde das amerikanische Projekt verwirklicht, so würde damit die ganze politische Lage der Mandschurei einer durchgreifenden Veränderung unterzogen werden, und dadurch würden die gegenseitigen Beziehun-



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gen aller Mächte, welche in China •wirtschaftliche und politische Interessen verfolgen, stark beeinflußt werden. Rockhill hat zuerst in privaten Gesprächen und dann im Auftrage seiner Regierung einen Plan entwickelt, den er als „kommerzielle Neutralisierung" der Mandschurei bezeichnet hat. Auf Grund dieses Planes sollten alle Eisenbahnen in der Mandschurei, sowohl die bestehenden als auch die in Aussicht genommenen, China gehören und von den Mächten garantiert werden, die gleichzeitig China eine Anleihe gewähren würden, damit es die schon bestehenden Linien aufkaufen und neue bauen könnte. Da unser Standpunkt dem Japans analog ist, und eine Ablehnung oder Annahme des amerikanischen Projektes unsere Beziehungen zu Japan beeinflussen mußte, so ergab sich von selbst die Notwendigkeit, uns mit letzterem ins Einvernehmen zu setzen. Der Kaiser hat dem Außenminister Instruktionen hierzu gegeben, und die ganze Frage ist von einem besonderen Ministerrate geprüft worden. Hierauf haben wir uns mit dem Kabinett von Tokio ins Einvernehmen gesetzt und dem amerikanischen Botschafter nur mitgeteilt, daß der amerikanische Vorschlag in allen Einzelheiten erwogen werden würde. Unsere Eröffnungen sind in Tokio sehr gut aufgenommen worden. Komura hat es für möglich befunden, der Überzeugung Ausdruck zu geben, daß Japan in keinem Falle zulassen werde, daß die südmandschurische Eisenbahn in fremde Hände übergehe. Im Laufe der Verhandlungen hat sich herausgestellt, daß uns aus irgendwelchen für uns unklaren Gründen ein nicht vollständiger Text des amerikanischen Vorschlages übergeben worden ist, da in den in Tokio übergebenen Vorschlägen darauf hingewiesen wird, daß die Mächte, die die kommerzielle Neutralität der Mandschurei schützen wollen, der amerikanisch-englisch-chinesischen Abmachung beitreten könnten, wenn das amerikanische Projekt nicht in seinem ganzen Umfange durchgeführt werden könne. Später haben auch wir von Rockhill



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den vollständigen Text erhalten. Außer Rußland und Japan ist ein derartiger Vorschlag auch England, Frankreich und Deutschland gemacht worden. Wie es scheint, ist das Abkommen über den Bau der Linie Chinchow—Aigun noch nicht endgültig abgeschlossen, da die Bestätigung der Pekinger Regierung noch nicht erfolgt ist. Im großen und ganzen ist jedoch das amerikanische Projekt in China sehr sympathisch aufgenommen worden; es besteht sogar die Annahme, daß es von Amerika und China gemeinsam ausgearbeitet worden ist. Was die übrigen Mächte anbelangt, so hält Frankreich den amerikanischen Vorschlag für undurchführbar. Amerikanischen Nachrichten zufolge hat Deutschland im Prinzip seine Zustimmung erklärt, ebenso England, doch unterstützt dieses bis jetzt das amerikanische Projekt in keiner Weise. Auf unseren Hinweis, daß die Teilnahme Englands unserem Abkommen vom Jahre 1899 widersprechen würde, hat das Londoner Kabinett geantwortet, daß wir in formeller Hinsicht recht hätten, daß es sich aber andererseits nicht um die Konzession einer Eisenbahnlinie, sondern um die Finanzierung eines chinesischen Unternehmens handele, und daß die russische Regierung einen ähnlichen Standpunkt eingenommen habe, als sie sich um die Beteiligung der russisch-chinesischen Bank an der Erbauung der Bahnlinie Hankow— Seschuan bemühte.

152. Bericht des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 7./20. Januar 1910. In diesen Tagen haben zwischen der französischen und türkischen Regierung Verhandlungen über die Bagdadbahn stattgefunden. Die Türkei hat bei dem Kabinett von Paris angefragt, ob letzteres seine Zustimmung zu einer vier-



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prozentigen Erhöhung der Einfuhrzölle geben würde. Der französische Außenminister hat geantwortet, daß im Hinblick darauf, daß England und Deutschland in Eisenbahnfragen Konzessionen verlangt haben, auch die französische Regierung sich für berechtigt halte, die Konzession für eine Eisenbahn von Bagdad nach der Stadt Horns in Syrien zu verlangen, von wo eine französische Bahn zum Mittelmeer und nach den übrigen syrischen Städten führe. Auf diese Anfrage ist aus Konstantinopel die Antwort erteilt worden, daß die Türkei unter keinen Umständen die Errichtung von ausländischen Interessensphären und dadurch bedingter Eisenbahnlinien zulassen werde. Auf diese Weise erscheint auch das beabsichtigte Übereinkommen zwischen England und Deutschland undurchführbar, und die ganze Frage der Bagdadbahn, von der England, wie es der Türkei erklärt hat, die Linie von Bagdad bis Basra für sich verlange, scheint auf unbestimmte Zeit vertagt zu sein. Man muß folglich irgendein neues Ereignis abwarten, welches diese Angelegenheit wieder in Fluß bringen könnte. Nelidow.

153. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London com 8./21. Januar 1910. — Nr. 38. Der deutsche Botschafter hat mir im Auftrage seiner Regierung mitgeteilt, die deutsche Gesandtschaft in Teheran habe erfahren, daß Rußland und England verabredet hätten, außer den russischen und englischen nur französische Staatsangehörige als Beiräte in persischen Diensten zuzulassen. Graf Pourtales ist beauftragt zu erklären, daß die deutsche Regierung durchaus bereit sei, die Vorzugsstellung Rußlands und Englands in Persien anzuerkennen, daß sie aber andererseits darauf bestehen müsse, daß den Staatsangehörigen

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einer dritten Macht deutschen Reichsangehörigen gegenüber keine priviligierte Stellung eingeräumt werden dürfe. Ich habe geantwortet, daß ich die nötigen Erkundigungen einziehen und dem Botschafter eine genaue Antwort geben würde. Ich halte es für nötig, ehe ich diese Frage mit Pourtalös weiter erörtere, mit dem Londoner Kabinett, an welches wahrscheinlich eine ähnliche Anfrage gerichtet worden ist, ein genaues Einvernehmen zu erzielen, und bitte Sie, Grey zu fragen, welche Antwort wir der deutschen Regierung geben sollen. Unsererseits halten wir es für nötig, folgendes zu antworten: „Die deutsche Anfrage ist wahrscheinlich dadurch hervorgerufen, daß die persische Regierung die Absicht hat, einige Franzosen als Gehilfen Bizots einzustellen. Diese Frage ist noch im Januar vorigen Jahres angeregt worden, als die persische Regierung, ohne Rußland und England zu befragen, sich direkt an die französische Regierung mit der Bitte wandte, Franzosen als Gehilfen des genannten Finanzbeirates nach Persien einzuladen. Auf Anfrage der französischen Regierung haben Rußland und England geantwortet, sie hätten gegen diese Bitte der persischen Regierung nichts einzuwenden, da es ganz natürlich sei, daß Bizot sich Landsleute auswähle. Augenblicklich handelt es sich wahrscheinlich um dieselbe Maßregel. Die Frage der Anstellung irgendwelcher anderer Ausländer als Beiräte der persischen Regierung ist bis jetzt nicht aufgeworfen worden, und von einem zwischen Rußland und England, getroffenen Abkommen, auf welches Graf Pourtalds hinwies, nur Franzosen als Beiräte anzustellen, ist nicht die Rede gewesen. Wir nehmen mit Befriedigung davon Kenntnis, daß die politische Vorzugsstellung Rußlands und Englands in Persien von der deutschen Regierung anerkannt wird, und können nur erklären, daß wir im Falle der Anstellung von Ausländern in Persien, außer Russen und Engländern, nicht die Absicht haben, den Staatsangehörigen einer dritten Macht irgendwelche Vorrechte einzuräumen. Da man jedoch in Betracht ziehen



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muß, daß die Anstellung von Beiräten eine politische Frage ist, weil sie sich auf die administrative Organisation Persiens bezieht, und da zudem Rußland und England die einzigen und sehr bedeutenden Gläubiger dieses Landes sind, so haben diese beiden Staaten das unbedingte Recht, zu verlangen, daß die persische Regierung ausländische Beiräte nur nach vorheriger Vereinbarung mit Rußland und England einstellt." Teilen Sie mir bitte die Antwort Greys mit. Iswolski.

154. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 13./26. Januar 1910. — Nr. 6. Ihr Telegramm Nr. 38 erhalten. In Beantwortung meiner Mitteilung übergab mir Grey ein Memorandum, das folgende Bemerkungen enthält: „Es ist richtig, daß die Bitte, zwei Beiräte zu bezeichnen, im Januar 1909 von der persischen Regierung direkt an die französische Regierung gerichtet worden ist, und daß unsere beiden Regierungen sich darauf beschränkt haben, letztere zu benachrichtigen, daß sie keine Einwände dagegen erheben. Es wäre hingegen schwierig zu behaupten, wie es im russischen Projekt gesagt ist, daß die Frage der Ernennung anderer Ausländer nicht aufgeworfen worden sei, denn eine der Bedingungen der 10 Millionen Franken-Anleihe bestimmt, daß die persische Regierung unverzüglich die französische Regierung bitten müsse, sieben weitere Beamte zu ernennen. Die deutsche Regierung würde diese Ernennungen zweifellos erfahren und auch von dem Druck hören, der bei dieser Gelegenheit von den beiden Regierungen ausgeübt worden ist, und Deutschland würde auf diese Weise Grund haben, sich zu beklagen, daß die ihm gegebenen Versicherungen nicht eingehalten worden sind." Grey unterbreitet Euerer Exzellenz folgenden Antwort* S i e b e r t, Benokendorff. I.

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entwurf: „Die russische Regierung nimmt mit Befriedigung davon Kenntnis, daß Deutschland die besondere Stellung Rußlands und Englands in Persien anerkennt. Sie nimmt an, daß die deutsche Regierung bei ihrer Anfrage die im Jahre 1909 vollzogene Ernennung eines französischen Generalschatzmeisters und eines Finanzinspektors im Auge hatte. Die russische Regierung möchte bemerken, daß diese Ernennungen durch die persische Regierung auf Empfehlung von Bizot, ihrem Finanzbeirat, erfolgt und von russischer und englischer Seite bloß bestätigt worden sind. Es ist natürlich, daß Bizot französische Mitarbeiter vorzieht, aber es besteht kein Einvernehmen zwischen Rußland und England bezüglich einer Einschränkung der Ernennung von ausländischen Beiräten, wenn diese weder Russen noch Engländer sind. Das Recht der persischen Regierung, die ihr genehmen Persönlichkeiten zu Ämtern in ihrer eignen Administration zu ernennen, ist unleugbar, aber Rußland und England haben als Nachbarstaaten Persiens und als seine Gläubiger spezielle Interessen, die ihnen das Recht geben, zu verlangen, daß derartige Ernennungen ihnen zuerst unterbreitet werden." Grey sagt, er habe noch keine analoge Anfrage von Seiten der deutschen Regierung erhalten; sollte eine solche eingehen, so werde er im obigen Sinne antworten, falls dies Ihre Zustimmung findet. Benckendorff.

165. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 1&./27. Januar 1910. Anläßlich der von der ganzen österreichischen und auch ausländischen Presse wiedergegebenen Gerüchte über die Möglichkeit einer Entspannung und Annäherung zwischen unsern beiden Kabinetten hat Aehrenthal mich ge-

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beten, Ihnen mitzuteilen, daß er dieser Pressekampagne fernstehe und nie gezweifelt habe, daß diese Gerüchte nicht in Petersburger Regierungskreisen entstanden sind. Wie er Ihnen bereits mitgeteilt hat, glaubt der Minister, daß es erst dann ratsam wäre, die öffentliche Meinung aufzuklären, wenn die Frage festere Gestalt angenommen habe, und daß die Orientierung der öffentlichen Meinung nur gemeinsam vorgenommen werden könnte. Ich habe mit Bedauern festgestellt, daß die Zeitungen sich dieser ganzen Frage gleich in ihrem ersten Stadium bemächtigt haben, und daß ich glaube, die Unzufriedenheit sei auf die Unterredung Wesselitzki-Aehrenthal zurückzuführen. Der Minister sagte mir, er hoffe, Ihnen Sonnabend eine Antwort geben zu können. Swerbejew.

156. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 18./31. Januar 1910. — Nr. 98. Ihr Telegramm Nr. 6 erhalten. Nr. 1. Der Greysche Entwurf erwähnt nicht den sehr wichtigen Punkt des politischen Charakters der ausländischen Beiräte. Wir messen diesem Punkte deshalb so große Bedeutung bei, weil die deutsche Regierung uns formell erklärt hat, daß sie in Persien nur wirtschaftliche und nicht politische Ziele verfolge. Außerdem hebt dieser Entwurf nicht genügend den Unterschied hervor, der zwischen den Leitern der verschiedenen Ressorts — dies bedeutet augenscheinlich der deutsche Ausdruck „Beirat" — und den sieben Franzosen besteht, die man als Gehilfen Bizots anzustellen beabsichtigt. Wir haben folglich einige Änderungen in dem von Grey vorgeschlagenen Texte vorgenommen. Sie erhalten unseren Gegenentwurf unter Nr. 2. Iswolski. 15*



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167. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 18./31. Januar 1910. — Nr. 99. Nr. 2. „Die russische Regierung nimmt mit Befriedigung davon Kenntnis, daß Deutschland die besondere Stellung Rußlands und Englands in Persien anerkennt. Sie nimmt an, daß die deutsche Regierung die beabsichtigte Ernennung von sieben Franzosen als Gehilfen Bizots im Auge hat. Es ist zu beachten, daß im Januar 1909 die persische Regierung auf Anraten Bizots sich direkt an die französische Regierung gewandt hat, um die Ernennung von zwei Franzosen als Gehilfen des Finanzbeirates zu erbitten, und daß Rußland und England, von Frankreich befragt, ihre Zustimmung gegeben haben, da es natürlich sei, daß Bizot Landsleute als Gehilfen vorziehe. Augenblicklich handelt es sich nur .darum, die Zahl der Gehilfen des Finanzbeirates auf sieben zu erhöhen. Was die Anstellung anderer Ausländer als Beiräte in den verschiedenen Ressorts anlangt, so ist diese Frage noch nicht aufgeworfen worden. Jedenfalls ist es noch zu keinen Einvernehmen zwischen Rußland und England gekommen, das die Ernennung von Ausländern beschränkt, wenn es sich weder um Russen noch um Engländer handelt. Das Recht der persischen Regierung, sich selbst die einzustellenden Persönlichkeiten auszuwählen, ist unbestreitbar, aber man muß in Betracht ziehen, daß die Frage der Beiräte eine durchaus politische ist, da sie mit der Organisation der Verwaltung in Persien zusammenhängt, und daß Rußland und England als Nachbarstaaten und Hauptgläubiger spezielle Interessen besitzen, welche ihnen das Recht geben, zu verlangen, daß derartige Ernennungen ihnen vorher zur Billigung mitgeteilt werden." Iswolski.

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158. Telegramm des russischen Gesandten in Belgrad an den russischen Außenminister vom 20. Januar/2. Februar 1910. Die aus dem Ausland kommenden Nachrichten über eine bevorstehende Annäherung zwischen Rußland und Österreich haben hier ungeheures Aufsehen erregt. Die Agitationverschärft sich mit jedem Tage und ruft in politischen und Regierungskreisen sowie in der Gesellschaft große Beunruhigung hervor. In Zeitungsartikeln, sogar den offiziellen, wird die Ansicht vertreten, daß im Falle einer Versöhnung der beiden Monarchien Serbien das Opfer sein wird, da es Österreich zur vollen Versklavung überlassen werden würde. Aus diesem Anlaß ist ein besonderer Ministerrat einberufen worden, und man wendet sich an mich von allen Seiten mit ängstlichen Fragen. Ich glaube, es wäre nötig, einige beruhigende Erklärungen abzugeben, wenn Sie dies für möglich halten. In diesem Falle bitte ich, mich zu benachrichtigen, in welchem Sinne ich mich hier aussprechen kann. Hartwig.

159. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 20. Januar/2. Februar 1910. Wie unser Botschafter in Konstantinopel beschränke auch ich mich jetzt hinsichtlich der Bagdadbahn auf persönliche Unterredungen mit meinen Kollegen, hauptsächlich mit Cambon. Dieser teilte mir mit, daß er gestern Grey gefragt habe, wie es mit der Bagdadbahn stehe. Der Minister hat sich darauf beschränkt, ihm französisch zu antworten: „Die Sache kommt nicht vom Fleck". Bei seiner Rückkehr aus Paris hat mir Cambon von einem Besuche Gwinners in der französischen Hauptstadt gesprochen, der auch zu keinem Resultat geführt hat.

— 230 — Gwinner hätte sich äußerst kategorisch geäußert und behauptet, die ganze Angelegenheit habe keine politische Bedeutung, und Rußland sei nicht direkt interessiert. E r hätte darauf hingewiesen, daß Deutschland im Notfalle für die Erbauung der 840 Kilometer auf die vierprozentige Zollerhöhung verzichten könne, da der Überschuß der öffentlichen Schuld frei werde und zur Finanzierung des Bagdadbahn-Unternehmens herangezogen werden könne. Cambon hält diese Annahme für eine leere Drohung, da das türkische Budget von 1910, wie Bompard berichtet, mit einem Defizit von 100 Millionen Franken abschließt, und und das ohne die Ausgaben für die Marine zu rechnen, welche übrigens auf ein Minimum beschränkt worden sind. Um es zu decken, müßte man zu einer Anleihe greifen, die ihrerseits den oben erwähnten Überschuß als Deckung in Anspruch nähme. Grey erwähnte auch die von Gwinner geäußerte Ansicht, es würde genügen, wenn die Finanzgruppen sich untereinander verständigten, und daß die Intervention der Regierung unnötig sei. Cambon glaubt jedoch, und ich teile seine Ansicht, daß dies, soweit England in Betracht kommt, eine ausschließlich finanzielle Kontrolle des südlichen Abschnitts bedeuten würde. Es ist kaum anzunehmen, daß die englische Regierung sich hiermit begnügen wird. England besteht augenscheinlich auf einer vollkommenen Kontrolle, d. h., England wünscht den ihm zugesprochenen Teil der Bagdadbahn mit eigenen Mitteln zu bauen und den Betrieb durch englische Beamte zu leiten. Eine Teilnahme der Regierung erscheint also durchaus notwendig. Was die französischen Forderungen anlangt, so scheint Cambon offener mit mir gewesen zu sein als mit unserem Botschafter in Paris. Abgesehen von Zweiglinien, die in Sjrien zum Mittelmeer führen, besteht die französische Regierung auf einer besonderen Linie, die von Bagdad ausgehend, sich fast direkt nach dem Westen wenden und nach der Durchquerung von Syrien in Homs-Tripoli enden soll. Dies be-



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deutet, wenn ich mich nicht irre, einen reinen Obstruktionsplan. Ohne mich über die Zukunft äußern zu wollen, habe ich den Eindruck, daß die Verhandlungen der Finanzgruppen in Berlin, London und Paris bis jetzt zu keinem Resultat geführt haben, wie Sir E. Grey dies bestätigt zu haben scheint. Der hiesige türkische Botschafter ist nach wie vor der festen Überzeugung, daß die Türkei das Prinzip der einzelnen Abschnitte nie zugeben wird. Benckendorff.

160.

Schreiben des russischen Botschafters in London andenrussischen Außenminister vom 22. Januar/2. Februar 1910. In Abwesenheit Greys habe ich ihm ein Memorandum zugestellt, das die Antwort enthält, welche Sie gemäß Ihrem Telegramm Nr. 98 dem Grafen Pourtales zu geben gedenken. Sir Charles Hardinge war überdies vom deutschen Schritt ziemlich betroffen und hat mir später gesagt, daß ihm persönlich die von Ihnen in Aussicht genommene Antwort durchaus zweckmäßig erscheine. Als ich Grey sprach, wiederholte er mir ungefähr dasselbe, fügte jedoch hinzu, daß, wenn die Erklärung des Grafen Pourtales insofern mit Befriedigung aufgenommen werden könne, als sie die speziellen Interessen Rußlands und Englands in Persien anerkenne, die Frage jedoch andererseits auf ein äußerst schwieriges Terrain gebracht werde, und daß eine Argumentation schwierig würde. Er meint, die Worte des deutschen Botschafters bedeuten im Grunde genommen: „Wir erkennen den Russen und den Engländern eine privilegierte Stellung zu, handelt es sich aber um andere Nationalitäten, so müssen alle auf gleiche Weise behandelt werden". Dies Prinzip, sagt Sir Edward, sei leicht zu verteidigen, weil



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es nicht unberechtigt sei, und es wäre schwer anzugreifen, o b wohl die Verhandlungen, die sich auf die Anleihe und selbst auf den Vorschuß von 400 000 Pfund beziehen, uns bewiesen, daß wir dies Prinzip nicht aufrechterhalten könnten. Er überreichte mir gleichzeitig einen Gegenvorschlag und bemerkte, es scheine ihm zweckmäßiger, nicht zu behaupten, daß die Frage der Ernennung von neuen ausländischen Angestellten noch nicht aufgeworfen worden sei. Benckendorff.

161. Schreiben des russischen Botschafters in Paris an den russischen Außenminister vom 21. Januar/3. Februar 1910. Sie haben die Güte gehabt, mich über die letzte Phase unserer Beziehungen zu Österreich-Ungarn zu unterrichten. Ich verdanke Ihnen diese Mitteilungen und stelle mit der größten Genugtuung fest, daß Aehrenthal sein früheres Unrecht und die daraus entspringenden politischen Nachteile einsieht und jetzt danach strebt, normale Beziehungen zu Ihnen wieder anzuknüpfen. Ich schätze Ihre Antwort auf die letzten Eröffnungen des Grafen Berchtold um so höher, als Sie in dieser, die persönliche Seite außer acht lassend, sich ausschließlich auf das Terrain der politischen Interessen begeben; denn es wäre ohne Zweifel vorteilhaft, zwischen uns und Österreich ein Einvernehmen in Balkanfragen herzustellen. Ich wünsche aufrichtig, daß diese Verhandlungen zu einem Ergebnis führen, was für mich übrigens außer Zweifel steht; aber ich kann nicht umhin, an der Aufrichtigkeit der Erklärungen des Wiener Kabinetts und an seiner Absicht, diesen Erklärungen unter allen Umständen nachzukommen, ernstlich zu zweifeln. Zuviele Beispiele älteren und neueren Datums verpflichten uns zu der größten Vorsicht, und wir

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müssen alle möglichen Maßregeln treffen, um den Folgen der bei den Staatsmännern der Habsburger Monarchie traditionellen Treulosigkeit vorzubeugen. Es will mir scheinen, daß es in diesem Falle nur ein einziges Mittel gibt, das Kabinett von Wien an die Verpflichtungen, die es uns gegenüber übernimmt, zu binden, nämlich durch den internationalen Charakter, der diesen Verpflichtungen gegeben werden müßte, indem die beiden Kabinette die getroffenen Vereinbarungen den anderen Großmächten, welche die Integrität der Türkei garantiert haben, durch eine offizielle Mitteilung zur Kenntnis bringen. Was die Sache selbst anlangt, so ist sowohl für uns als auch für den allgemeinen Frieden das Prinzip der Erhaltung des status quo in der Balkanpolitik das wichtigste. Ist dieses Prinzip einmal klar aufgestellt und von den anderen Großmächten anerkannt, so würde dadurch dem Ehrgeiz der kleinen Balkanstaaten ein Hemmschuh angelegt; sie würden gleichzeitig ihrer Zukunft sicher sein, aber damit würden auch die österreichischen Pläne auf dem Balkan in wirksamer Weise eingedämmt. Wenn unvorhergesehene Umstände die Ruhe plötzlich stören sollten, so könnten die Mächte übereinkommen, nichts zu unternehmen, ohne sich vorher über die einzuschlagende Politik verständigt zu haben. Eine derartige Übereinkunft, für eine bestimmte Anzahl von Jahren geschlossen, ließe den Balkanstaaten vollkommene Freiheit, sowohl hinsichtlich ihrer inneren Entwicklung, als auch ihrer gegenseitigen Beziehungen, welch letztere sie in jeder Weise weiter ausbauen könnten. Gleichzeitig wäre Rußland in den Stand gesetzt, in aller Sicherheit seine Kräfte auszubilden und sich für Ereignisse vorzubereiten, die nicht vermieden werden können. Unterdessen würde die weitere Entwicklung des ottomanischen Reiches klarer zutage treten, die dortigen Probleme würden reifen, und wir könnten den vorauszusehenden Ereignissen besser gerüstet entgegentreten.



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Man wird natürlich sowohl in Konstantinopel, als auch in den Balkanhauptstädten auf der Hut sein müssen, vor allem aber in Wien, und es wird die Aufgabe unserer dortigen Diplomatie sein, ganz besonders umsichtig und voraussehend zu handeln. Ich beglückwünsche Euere Exzellenz auf das aufrichtigste zu dem glücklichen Anfang der begonnenen Verhandlungen und glaube erwähnen zu müssen, daß Pichon, durch den französischen Botschafter in Petersburg auf dem laufenden gehalten, den Gang der Verhandlungen mit lebhafter Sympathie verfolgt. Nelidow.

162. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Belgrad vom 22. Januar/4. Februar 1910. Ihr Telegramm vom 20. Januar erhalten. Unsere Verhandlungen mit Österreich brauchen bei der serbischen Regierung gar keine Besorgnisse zu erwecken. Es handelt sich weder um eine Teilung in Interessensphären, noch in der einen oder andern Form um die Rückkehr zum früheren Einverständnis, sondern nur um die Wiederaufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Kabinetten. Unser Hauptziel ist die bestmögliche Erhaltung des Status quo auf dem Balkan und die friedliche Entwicklung und Unabhängigkeit der Balkanstaaten. Sie können dies dem Belgrader Kabinett vertraulich mitteilen. Ich habe in diesem Sinne schon mit dem serbischen Gesandten gesprochen. Iswolski.



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163. Telegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 22. Januar/4. Februar 1910. — Nr. 37. Da der österreichische Botschafter mit dem türkischen Außenminister über die zu erwartende Annäherung zwischen Österreich und Rußland auf dem Boden der Balkanfragen bereits gesprochen hat, wobei er den Standpunkt vertrat, wie Österreich ihn der Pforte darzustellen versucht, wäre es wohl an der Zeit, der türkischen Regierung den Standpunkt Rußlands in dieser Frage mitzuteilen. Die Türken befürchten infolge der österreichischen Andeutungen, daß es sich wieder um ein Übereinkommen zum Zwecke der Aufteilung der Türkei handle. Aber ebenso wie wir sie hinsichtlich der in Racconigi getroffenen Abmachungen haben beruhigen können, so müßten wir sie jetzt mit dem Gedanken normaler Beziehungen zwischen Petersburg und Wien aussöhnen. Zu diesem Zweck müssen wir ihnen zu verstehen geben, daß es sich nicht um die Erneuerung des Mürzsteger Abkommens handele, sondern daß Österreich die Nachteile gespannter Beziehungen zum Petersburger Kabinett eingesehen und sich gezwungen gesehen habe, das russische Balkanprogramm anzunehmen; dieses letztere, dem Italien auch Bchon beigetreten ist, beruht, wie bekannt, auf guten Beziehungen zur Türkei und auf dem Wunsch, allen türkischen Staatsangehörigen Gleichberechtigung zu sichern; endlich auch auf der Erhaltung des status quo auf dem Balkan. Tscharykow.

164. Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in Wien vom 23. Januar/5. Februar 1910. Der österreichisch-ungarische Botschafter hat mir am 19. Januar/1. Februar im Auftrage seiner Regierung eine



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mündliche Mitteilung gemacht, deren Inhalt von mir sofort niedergeschrieben und von Berchtold bestätigt worden ist. Diese Mitteilung lautet folgendermaßen: „Wie Sie wissen, habe ich meiner Regierung über unsere letzte Unterredung berichtet. Vor allem habe ich Ihren Standpunkt hinsichtlich der Veröffentlichung der „Fortnightly Review" erklärt und zur Geltung gebracht, daß Sie das Recht zu haben glauben, zu verlangen, daß dieser Artikel berichtigt werde, insofern als er falsche und verleumderische Angaben enthält, daß Sie aber gleichzeitig anerkennen, daß man vermeiden müsse, die Polemik in der Presse wieder aufleben zu lassen, und bereit seien, das persönliche Moment im Interesse der Sache selbst auszuschalten. Aehrenthal ist gleichfalls der Ansicht, daß es unzeitgemäß, ja sogar gefährlich sei, in den Zeitungen auf diesen Artikel zurückzukommen, und erklärt sich bereit, sich mit Ihnen zu verständigen, wie etwaige Interpellationen in der Duma und in den Delegationen zu beantworten wären. Ganz abgesehen von dieser persönlichen Seite der Frage habe ich auch meinem Minister über Ihre Eröffnung hinsichtlich der Wiederherstellung der normalen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen berichtet. Aehrenthal ist ganz Ihrer Ansicht, daß die normale und friedliche Entwicklung der Orientfragen durch einen Meinungsaustausch zwischen unseren beiden Staaten nur gewinnen könne. Ein derartiger Kontakt könnte um so leichter wieder hergestellt werden, als wir uns noch immer zu den Prinzipien des Abkommens vom Jahre 1897 bekennen, Prinzipien, die uns erlauben werden, jederzeit einen Meinungsaustausch mit dem Petersburger Kabinett zu beginnen. Diese Grundsätze sind folgende: 1. Erhaltung des status quo in der Türkei, solange die Umstände dies erlauben. 2. Gegenseitiges Desinteressement für den Fall, daß der status quo nicht mehr aufrechterhalten werden könnte und 3. Politik der Nichteinmischung in diesem letzteren Falle."



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Ich habe Berchtold erwidert, daß ich nicht verfehlen werde, seine Erklärung dem Kaiser zu unterbreiten und ihm dann die Antwort der russischen Regierung mitzuteilen. Iswolski.

165.

Telegramm des russischen A ußenministers an den russischen Botschafter in Konstantinopel vom 24. Januar/ 6. Februar 1910. — Nr. 136. Ihr Telegramm Nr. 37 erhalten. Wir teilen vollkommen Ihre Ansicht über den Meinungsaustausch, der augenblicklich zwischen uns und Wien stattfindet. Unsere Verhandlungen mit Österreich sind durchaus nicht gegen die Türkei gerichtet, zu der wir nach wie vor freundschaftliche Gefühle hegen. Es handelt sich nicht um eine Aufteilung der Türkei oder um die Abgrenzung von Interessensphären, noch um eine Erneuerung des früheren Abkommens, sondern nur um die Wiederaufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Kabinetten, wobei unser Hauptziel eine möglichst deutlich formulierte Garantie des statu» quo auf dem Balkan ist. Ich bitte Sie, sich in diesem Sinne der türkischen Regierung gegenüber zu äußern. Iswolski.

166. Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in Wien vom 27. Januar/9. Februar 1910. Ich glaube Sie davon benachrichtigen zu müssen, daß ich heute im Auftrage des Kaisers die Mitteilung des österreichischen Botschafters vom 19. Januar beantwortet habe. Obwohl ich diese Antwort mündlich erteilte, habe ich, um die



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Ausdrücke genau präzisieren zu können, gleichzeitig ein Memorandum folgenden Inhalts überreicht. „Obwohl wir der Ansicht sind, daß es vorzuziehen ist, nicht mehr auf den Artikel der „Fortnightly Review" zurückzukommen, sind wir bereit, uns mit Aehrenthal zu verständigen, falls öffentliche Erklärungen in dieser Frage nötig werden sollten. Die Kaiserliche Regierung stimmt gerne der Idee eines Gedankenaustausches zwischen den beiden Regierungen über die leitenden Grundsätze ihrer Balkanpolitik zu; sie glaubt jedoch, daß unter den obwaltenden Umständen dieser Gedankenaustausch nicht mehr den Charakter der Abmachungen des Jahres 1897 haben könne und im Gegenteil eine Form annehmen müsse, die es allen interessierten Mächten möglich machen würde, an diesem Meinungsaustausche teilzunehmen; andererseits muß man bei der Formulierung der in Frage stehenden Grundsätze die neuerlichen Veränderungen in der politischen Lage der Türkei in Betracht ziehen. Die Kaiserliche Regierung schlägt deshalb dem Wiener Kabinett vor, folgende Punkte anzunehmen, die entweder durch einen Notenaustausch festgelegt oder aber in einem einzigen Dokument niedergelegt und dann zur Kenntnis der anderen Mächte gebracht werden könnten: 1. Erhaltung des status quo auf der Balkanhalbinsel. 2. Da das neue Regime der Türkei auf der Gleichberechtigung aller die Türkei bewohnenden Völkerschaften beruht, Erhaltung und Konsolidierung dieser neuen Lage der Dinge. 3. Unabhängigkeit, Konsolidierung und friedliche Entwicklung der kleineren Balkanstaaten." Iswolski.

167. Telegramm des Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 27. Januar/9. Februar 1910 Ihr Telegramm Nr. 136 erhalten. Habe mich gestern im Sinne seines Inhalts dem Außenminister und Großwesir



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gegenüber ausgesprochen. Beide sprachen ihre aufrichtige Dankbarkeit für diese Mitteilung aus und fügten hinzu, daß sie, auch wenn diese nicht gemacht worden wäre, vollkommen davon überzeugt wären, daß die Verhandlungen des Petersburger Kabinetts keineswegs gegen die Türkei gerichtet seien. Der Großwesir bemerkte noch darüber hinaus, daß er, da er ja zur Zeit der Zusammenkunft in Racconigi Botschafter in Rom gewesen sei, wisse, daß die russische Balkanpolitik eine der Türkei tatsächlich freundschaftliche sei. Die besondere Aufmerksamkeit beider erweckte Ihre Erklärung, daß ei sich nicht um die Erneuerung des Doppelabkommens zwischen Rußland und Österreich handele. Diese grundlegende Tatsache wird von der türkischen Regierung, die die Rückkehr zur Mürzsteger Epoche befürchtet hat, außerordentlich gewürdigt. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß sich die Türken mit dem Gedanken der Wiederherstellung normaler diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Kabinetten abgefunden haben und fortfahren werden, unsere freundschaftlichen Ratschläge mit der Berechnung zu befolgen, daß eine solche Art des Vorgehens die Sicherung der türkischen Interessen beim weiteren Gang unserer Verhandlungen mit dem Wiener Kabinett am besten fördern wird. Tscharykow.

168.

Telegramm des russischen Botschafters in Rom an den russischen Außenminister com 30. Januar/12. Februar 1910. Infolge Unwohlseins habe ich Korff gebeten, dem Außenminister Ihre Mitteilung zu machen. Der Minister hat mit dem größten Interesse von der Erklärung Kenntnis genommen und seinen Dank dafür ausgesprochen, daß er auf dem laufenden gehalten werde. Er ist bereit, in Wien alles zu tun, um Ihren Vorschlag zur Annahme zu bringen. E r

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hat jedoch hinzugefügt, daß er persönlich daran zweifle, daß Aehrenthal ihm zustimmen werde. Dolgoruki.

169. Telegramm des russischen Botschafters in Rom vom 30. Januar/ 12. Februar 1910 an den russischen Außenminister. Heute morgen hat Bollati in einer vertraulichen Unterredung Korff erklärt, die italienische Regierung beglückwünsche sich zu den von Euerer Exzellenz dem Wiener Kabinett gemachten Vorschlägen, da sie in diesen die Bekräftigung ihrer eigenen Politik erblicke. In Anbetracht der speziellen Interessen Italiens in der Adria und folglich der besonderen Beziehungen zu der Türkei müsse das Kabinett von Rom sich jedoch fragen, ob der Gedankenaustausch zwischen Petersburg und Wien nicht zu einem zweiseitigen Einvernehmen unter Ausschluß Italiens führen könne. KorfT bemerkte, diese Befürchtung sei grundlos, da Ihr Memorandum deutlich betone, daß eine Rückkehr zu dem Abkommen von 1897 ausgeschlossen sei, und daß, wenn eine neue Abmachung getroffen würde, diese derart sein müßte, daß alle interessierten Mächte ihr beitreten könnten. Der beste Beweis sei die gestrige vertrauliche Mitteilung. Bollati hat dann gefragt, wie und unter welchen Bedingungen die anderen Mächte aufgefordert werden würden, ihren Beitritt zu erklären. Dolgoruki.

170. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 4./17. Februar 1910. Euerer Exzellenz spreche ich meinen besten Dank aus für den Brief, durch den ich über die mit dem österreichischen



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Botschafter stattgefundene Unterredung informiert wurde. Wie verabredet, ging ich Montag abend zu Aehrenthal, um von ihm zu erfahren, welchen Eindruck die letzten Berichte Berchtolds auf ihn gemacht hatten. In meinem Telegramm vom 1./14. Februar habe ich Ihnen einen kurzen Bericht über meine Unterredung mit Aehrenthal erstattet; diese Unterredung war sehr freundschaftlich, und ich habe meinem Telegramm nicht mehr viel hinzuzufügen. Aehrenthal fing damit an, daß er mir mitteilte, wie zufrieden er sei, daß unsere beiden Kabinette in den Hauptpunkten übereinstimmten. Gegen die drei Punkte, die Sie an Stelle der drei österreichischen vorgeschlagen haben, hatte Aehrenthal nichts einzuwenden ; er sagte mir, die Veränderungen schienen ihm unbedeutend, die Grundprinzipien unserer Balkanpolitik seien identisch, und er betrachte sie als endgültig festgelegt. Indem er sodann zur Frage überging, in welcher Weise unsere Übereinkunft fixiert werden sollte, verweilte der Minister längere Zeit bei dieser Seite der Frage und sagte mir, er sei von Anfang an der Ansicht gewesen, man müsse sich auf einen Meinungsaustausch zwischen den beiden Regierungen beschränken; dieser sei notwendig, um einer gefahrvollen Situation auf dem Balkan vorzubeugen; ein Notenaustausch oder irgendein anderes derartiges Dokument, wie Sie es vorschlagen, würde seiner Ansicht nach unserer Annäherung den Charakter eines „Abkommens" geben; dieses müsse man auf den Zeitpunkt verschieben, zu dem die Ereignisse auf dem Balkan eine solche nötig machen sollten. Aehrenthal hatte die Absicht, Ihnen durch Berchtold gleichzeitig mit seiner mündlichen Antwort ein kurzes Schriftstück zu übergeben, das eine Antwort auf Ihr Memorandum darstellen würde, welches Ihren Mitteilungen beigefügt war, und glaubt, daß diese beiden kurzen Schriftstücke oder aide - mémoires für den Augenblick genügen sollten. Sieber t, Beockendorff. I.

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Wie ich in meinem Telegramm vom 1./14. Februar erwähnte, schien es mir, ohne daß es ausdrücklich erwähnt wurde, daß Aehrenthal eine Mitteilung unserer Abmachung an die andern Mächte vermeiden will. Wenn ich mich nicht irre, so schließt der Mangel eines Notenaustausches oder irgendeines anderen diplomatischen Instrumentes, in dem unsere Abmachung zum Ausdruck käme, die Möglichkeit einer derartigen Mitteilung nicht aus, da j a die beiden Kabinette kurze Schriftstücke bereits ausgetauscht haben. Aehrenthals Mitteilung müßte natürlich genau dem entsprechen, was er mir während unserer letzten Unterredung zu verstehen gegeben hat. Am Ende unserer Unterredung erwähnte Aehrenthal die Antworten, die er den anderen Mächten geben würde, im Falle er von ihnen über die Punkte, über die wir jetzt verhandelten, gefragt werden sollte, wie dies die italienische Regierung schon getan hat. E r glaubt, er müsse letzterer eine ausführlichere Antwort geben, da das Kabinett von Rom von Euerer Exzellenz sozusagen schon von den Grundlagen der Unterhandlungen unterrichtet worden ist. Was die anderen Kabinette anbelangt, so würde Aehrenthal sich darauf beschränken, ihnen zu sagen, daß, solange die Verhandlungen noch fortgesetzt würden, es ihm nicht möglich sei, genauere Erklärungen abzugeben. Ich schätze mich glücklich, Ihnen mitteilen zu können, wie gut Ihr Vorschlag im Prinzip von Aehrenthal aufgenommen worden ist; dies läßt der Hoffnung Raum, daß es nicht bloß möglich sein wird, unsern gespannten Beziehungen ein Ende zu setzen, sondern daß auch unsere beiden Regierungen sich verständigen werden, auf welche Weise am besten der Gefahr jederzeit möglicher Verwicklungen auf dem Balkan vorzubeugen wäre. Der italienische Botschafter hat mich Montag abend vor meinem Besuche bei Aehrenthal kurz gesprochen; er wollte wissen, was Aehrenthal auf unsere letzten Mitteilungen geantwortet hat, und sohien ziemlich pessimistisch zu sein,

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was den Erfolg unserer Verhandlungen mit Österreich anbelangt. Avama schien über die Grundlagen unserer Verhandlungen unterrichtet zu sein, und gerade der dritte Punkt „friedliche Entwicklung der kleineren Balkanstaaten" schien ihm Bedenken einzuflößen. Da das Wort „friedlich" beigefügt ist, antwortete ich, sei Argwohn nicht am Platz. Der französische Botschafter hatte am Anfang dieselben Bedenken, da er befürchtete, daß Aehrenthal hierin etwas Verdächtiges finden könnte. Euere Exzellenz wollen mich benachrichtigen, ob ich nötigenfalls mich an den französischen Botschafter wenden soll, der mir im Auftrage seiner Regierung, seine Unterstützung im Falle von auftretenden Schwierigkeiten zugesagt hat. Solange die Verhandlungen sich so glatt abwickeln, wie sie begonnen haben, scheint mir jede Unterstützung unnütz. Während die ganze österreichische Presse mit sehr wenigen Ausnahmen die Verhandlungen zwischen unsern beiden Kabinetten mit Genugtuung verfolgt, scheinen die deutschen Zeitungen Aehrenthal immer heftiger anzugreifen, indem sie ihm Mangel an Loyalität dem Dreibunde gegenüber vorwerfen. Wenn man gewissen Zeitungen Glauben schenken darf, wird Aehrenthal anläßlich seines nächsten Besuches in Berlin kein sehr liebenswürdiger Empfang zuteil werden. Von Berlin will der Minister nach München gehen, und man fragt sich hier, welchen Zweck er dabei verfolgt. Dieser Besuch scheint in ein tiefes Geheimnis gehüllt, und man wünscht sozusagen am Ballplatz nicht, daß die Zeitungen hierüber sprechen. In der Tat aber läßt sich dieser Punkt auf die allereinfachste Weise erklären: dieser Besuch ist nichts anderes als eine Bezeugung der Verehrung dem Prinzregenten Luitpold gegenüber, der jedes Jahr nach Wien kommt, und gleichzeitig ein Höflichkeitsakt gegenüber Baron Podewils. 16»

— 244 — Steht diese Reise nicht auch gleichzeitig in Zusammenhang mit dem preußischen Projekt, auf der Elbe und der Donau Schiffahrtsabgaben einzuführen? Swerbejew.

171. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 11./24. Februar 1910. — Nr. 245. Berchtold hat mir am 7. Februar die Antwort des Wiener Kabinetts auf unsere letzte Mitteilung übergeben. Diese Antwort erhebt keinen Widerspruch gegen unsere drei Punkte, die Ihnen bereits bekannt sind. Andererseits möchte das Wiener Kabinett augenscheinlich eine Mitteilung an die anderen Mächte vermeiden und schlägt uns vor, uns mit einer Veröffentlichung zu begnügen, in der einfach erklärt würde, daß der Gedankenaustausch zwischen den beiden Regierungen zu einem befriedigenden Resultate geführt habe. Ich habe heute Berchtold mit einem Memorandum geantwortet, in dem ich feststellte, daß Rußland und ÖsterreichUngarn sich über die Grundsätze der Balkanpolitik vollkommen einig seien, und daß folglich die normalen diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Kabinetten wieder aufgenommen werden könnten. Ich fügte gleichzeitig hinzu, daß unserer Ansicht nach unter den obwaltenden Umständen eine derartige einfache Mitteilung nicht genügen würde, und daß es im Interesse des allgemeinen Friedens liege, schon jetzt die anderen Kabinette zum Beitritt der von Rußland und Österreich anerkannten Grundsätze zu bewegen, damit, falls irgendwelche Ereignisse den status quo bedrohten, ein Meinungsaustausch sofort zwischen den interessierten Mächten stattfinden könnte. Ich wiederholte also unseren Vorschlag, die Punkte, über die wir uns geeinigt hätten, zur Kenntnis der anderen Mächte zu bringen. Teilen Sie dies dem Außenminister vertraulich mit und



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drücken Sie die Hoffnung aus, er werde uns seine moralische Unterstützung in Wien zuteil werden lassen, um die Abneigung Aehrenthals gegen unsern Vorschlag zu überwinden, da wir diesem Vorschlag eine sehr große Bedeutung beimessen. Iswolski.

172. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 13./26. Februar 1910. — Nr. 40. Ihr Telegramm Nr. 245 erhalten. Den Inhalt habe ich heute morgen Grey vertraulich mitgeteilt. Er ist sehr dankbar und bereit, in Wien Schritte zu unternehmen. Nicolson ist beauftragt, Sie zu fragen, in welcher Form Sie dies getan zu sehen wünschen, da ja unsere Mitteilung an das Londoner Kabinett eine sehr vertrauliche ist und Wien von diesem Schritte nichts weiß. Benckendorff.

173. Telegramm des russischen Botschafters in Rom an den russischen Außenminister vom 13./26. Februar 1910. Der Außenminister will es sich überlegen, wie er Ihrem Wunsche gemäß Ihre Vorschläge in Wien unterstützen kann. Er dankt für die Mitteilung und würde gerne wissen, ob Sie die gleiche Anfrage an die anderen Mächte gerichtet haben. Dolgoruki.

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246 — 174.

Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Paris an den russischen Außenminister vom 13./26. Februar 1910. Pichon dankt für die vertrauliche Mitteilung. Er ist ganz Ihrer Ansicht und hat dem französischen Botschafter in Wien bereits Instruktionen gegeben, Sie in allem zu unterstützen, um Ihren Vorschlägen zum Sieg zu verhelfen. Nekljudow. 176. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 14./27. Februar 1910. — Nr. 256. Ihr Telegramm Nr. 40 erhalten. Auf Nicolsons Frage habe ich geantwortet, daß Cartwright, ohne zu zeigen, daß er den Inhalt unseres letzten Memorandums kenne, vielleicht Aehrenthal in allgemeinen Ausdrücken sagen könnte, das Londoner Kabinett wünsche, daß die austro-russischen Verhandlungen zu einem Resultate führen, und halte es vor allem für sehr nützlich, daß alle andern Mächte daran teilnehmen. Iswolski.

176. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Rom vom 14./27. Februar 1910. Ihr Telegramm vom 13./26. Februar erhalten. Wir halten über unsere Verhandlungen mit Österreich die Kabinette von Rom, Paris und London auf dem laufenden und, weniger ausführlich, auch Berlin, wobei wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß sie uns ihre ganze moralische Unterstützung in Wien gewähren werden. Iswolski.



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177. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 16. Februar/1. März 1910. Ich habe Ihr Telegramm Nr. 245, vom 11./24. Februar, über unsere Verhandlungen mit Österreich Sonnabend morgen erhalten und an diesem Tage weder Sir Edward Grey, noch Sir Charles Hardinge im Auswärtigen Amt treffen können; ich habe diese wichtige Mitteilung daher Herrn Tyrell gemacht, dem Privatsekretär Greys, der dessen ganz besonderes Vertrauen genießt. Ohne bevollmächtigt zu sein, mir eine endgültige Antwort zu geben, sagte Tyrell, daß der Standpunkt des Londoner Kabinetts in dieser Frage von Anfang an so klar gewesen sei, daß er keinen Augenblick zweifle, Sir Edward werde alles tun, um uns nützlich zu sein. „Jedoch", fuhr er fort, „wie sollen wir es tun, und was sollen wir in Wien sagen, ohne eine Indiskretion zu begehen und ohne uns auf ungenügende Allgemeinheiten zu beschränken" ? Er schlug mir vor, Sir Edward dazu zu bewegen, ein Telegramm an Sir A. Nicolson zusenden, in dem letzterer beauftragt würde, diese Frage der diplomatischen Technik mit Ihnen zu besprechen. Ich nahm diesen Vorschlag sofort an. Am selben Abend erhielt ich von Tyrell beiliegenden kurzen Brief. Nachdem ich Ihr Telegramm erhalten hatte, welches eine sehr glückliche Formel enthält, die Sir F. Cartwright in seinem Gespräche benutzen könnte, suchte ich Hardinge auf. Dieser bestätigte mir die Absicht des Londoner Kabinetts, uns zu unterstützen. Auch er sagte mir, daß dieser Schritt in Wien sehr delikater Natur sei, was ich nicht ganz in Abrede stellen kann, und daß Aehrenthal in demselben, wenn nicht Mißtrauen, so doch eine Einmischung und eine nicht ganz gerechtfertigte Neugierde erblicken könne. Sir Charles sagte mir dann, Grey hätte sich entschlossen, einen anderen Vorwand zu benutzen, um den österreichischen Botschafter in London zu sich zu bitten und mit

— 248 ' — ihm nach Erledigung irgend einer anderen Angelegenheit darüber zu sprechen. Ich nahm es auf mich zu antworten, ich glaubte, Euere Exzellenz wurden mit diesem Vorgehen einverstanden sein, da es den Vorzug habe, dem Wiener Kabinett weniger unangenehm zu sein, und doch denselben Zweck erreiche. Es hat auch den andern Vorzug, daß Mensdorff, zu dem ich enge persönliche Beziehungen unterhalte, mit mir über diese Angelegenheit sprechen wird. Dies wird mir die Gelegenheit geben, ihm zu sagen, ich wäre sehr froh zu ersehen, daß das Londoner Kabinett zum selben Schlüsse gekommen sei, wie unsere Regierung; ich wüßte, daß man in London seit langem die Wiederaufnahme der normalen Beziehungen zwischen Petersburg und Wien wünsche — was in London als eine Notwendigkeit für die Sicherung des Friedens auf dem Balkan betrachtet werde — und es scheine mir, wovon ich übrigens ganz überzeugt bin, daß eine Mitteilung an die anderen Mächte bezüglich der drei vereinbarten Punkte nicht nur nützlich, sondern sozusagen notwendig sei. Die von Aehrenthal vorgeschlagene lakonische Formel einer eventuellen Veröffentlichung, die beinahe geheimnisvoll wirke, würde weder die andern Mächte, noch die öffentliche Meinung und Presse in Europa befriedigen. Sie würde beunruhigen, und nichts würde die anderen Mächte hindern, andere Vereinbarungen zu treffen, die uns unbekannt bleiben und Aehrenthals Absicht, eine ausführlichere Mitteilung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, zunichte machen würden; es wäre falsch, das mit dem Schleier des Geheimnisses zu bedecken, was man nicht zu verbergen brauche, und nach dem, was vorgefallen, zweifle ich, daß die öffentliche Meinung in Rußland reif wäre für eine Mitteilung, die eigentlich nichts sage und die fast den Eindruck eines geheimen Abkommens zwischen Rußland und Österreich-Ungarn erwecke. Ich hoffe, daß Euere Exzellenz einverstanden sind, da3 ich in diesem Sinne mit meinem österreichischen Kollegen spreche. Benckendorff.

— 249 — Anlage. Privatschreiben Mr. Tyrells an den Grafen Benckendorff vom 13./26. Februar 1910. Sir Edward Grey beauftragt mich Ihnen mitzuteilen, daß er Ihnen für die Mitteilung, die Sie ihm heute morgen gütigst gemacht haben, bestens danke. Sir Edward telegraphierte heute nachmittag den Inhalt Ihrer Mitteilung an Nicolson und benachrichtigte ihn, daß er mit Herrn Iswolskis Vorschlag durchaus einverstanden und bereit sei, ihn, wie von Euerer Exzellenz vorgeschlagen, zu unterstützen; Sir Arthur solle gleichzeitig feststellen, wie diese Bitte am besten erfüllt werden könnte, wobei er darauf hinzuweisen hätte, daß es in Wien unbekannt bleiben solle, daß wir etwas über die Verhandlungen und deren Ergebnis wissen.

178. Telegramm des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 16. Februar/1. März 1910. — Nr. 17. In seiner Antwort auf unsere letzte Mitteilung hat Schön seinen Standpunkt bezüglich Ihres Wunsches, allen Großmächten die Resultate unserer Verhandlungen mit Österreich mitzuteilen, entschieden verändert. Das frühere Gefühl der Befriedigung scheint einem gewissen Mißtrauen Platz gemacht zu haben. Er betont wie das erstemal die Zurückhaltung Aehrenthals in dieser Frage und die persönliche Empfindlichkeit des österreichischen Ministers, die jede deutsche Einwirkung schwierig mache, und gab mir zu verstehen, daß er im Grunde genommen die österreichische Meinung teile, es sei unzweckmäßig, in diesem Augenblicke



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eine Mitteilung an die andern Mächte gelangen zu lassen. Er meint, man könne dies später tun, wenn der status quo auf dem Balkan in der einen oder andern Weise bedroht wäre. Diese Antwort ist augenscheinlich erfolgt, nachdem der Staatssekretär dem Kaiser seinen Bericht erstattet hat. Osten-Sacken.

179. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 16. Februar/1. März 1910. Nr. 19. Ich habe soeben Aehrenthal auftragsgemäß mündliche Mitteilung über die Wiederaufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Mächten gemacht. Der Minister hat mir geantwortet, er wäre ebenfalls glücklich feststellen zu können, daß unsere beiderseitigen politischen Prinzipien auf dem Balkan vollkommen identisch seien, und mich gebeten, Ihnen seine aufrichtige Dankbarkeit für die gute Nachricht zu übermitteln, welche ich ihm auszurichten hatte. Er hat hinzugefügt, daß er dem österreichisch-ungarischen Botschafter in Petersburg die nötigen Instruktionen zukommen lassen werde, die normalen diplomatischen Beziehungen wiederaufzunehmen. Was den zweiten Teil Ihres Memorandums anlangt, so sagte Aehrenthal, er wolle die Frage nochmals prüfen, glaube aber nicht, er könne seinen Standpunkt ändern, nämlich daß es unangebracht wäre, die anderen Kabinette zum Beitritt zur österreichisch-russischen Abmachung zu bewegen. Die Wiederaufnahme des wertvollen Kontakts zwischen unseren beiden Regierungen, welcher es uns ermöglicht, in Zukunft in einen Meinungsaustausch über alle politischen Tagesfragen zu treten, erscheine ihm für den Augenbäck



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genügend, da die Lage auf dem Balkan eine ruhige sei. Ich bemerkte, es wäre vielleicht doch besser, dies schon jetzt zu tun, da man nach Ansicht des Ministers selbst zu diesem Mittel greifen müsse, wenn der status quo auf dem Balkan bedroht sei und augenblicklich eine Gefahr in Griechenland nicht ganz ausgeschlossen erscheine. Aehrenthal erwiderte, daß er Ihren Vorschlag nochmals prüfen und Ihnen dann durch den österreichisch-ungarischen Botschafter in Petersburg eine Antwort zukommen lassen werde. Swerbejew.

180. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 17. Februar/2. März 1910. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 19. Der englische Botschafter sagte mir gestern, Grey habe beschlossen, persönlich auf Mensdorfl in dieser Frage einzuwirken. Er fügte hinzu, daß, wenn es ihm im Laufe seiner Unterredung mit Aehrenthal möglich sein werde, etwas zugunsten Ihres Vorschlages zu sagen, er dies tun würde, ohne zu zeigen, daß er über den Gang der Unterhandlungen unterrichtet sei. Was den italienischen Botschafter anbelangt, so vermeidet er, wie mir die französischen und englischen Vertreter sagen, jede Unterredung über unsere Annäherung an Österreich. Ich würde deshalb vorziehen, mit ihm einstweilen nicht darüber zu sprechen. Aehrenthal fährt heute nach Abazzia, von wo er erst in fünf Tagen zurückkehrt. Swerbejew.

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181. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Paris an den russischen Außenminister vom 18. Februar/3. März 1910. Infolge der Krankheit meines Chefs habe ich in letzter Zeit öfter Gelegenheit gehabt mit Pichon zu sprechen. Wie ich Ihnen schon telegraphierte, teilt der Minister aufrichtig und ohne jeden Vorbehalt Ihre Ansicht und wird alles, was in seinen Kräften steht, tun, um in Wien zu erreichen, daß eine Mitteilung an die anderen Mächte gemacht wird, welche nicht den geringsten Zweifel über die Natur und den Zweck unserer Versöhnung mit dem Wiener Kabinett läßt, und die in gewisser Hinsicht die österreichische Politik auf der Balkanhalbinsel bildet. Pichon ist mit den drei Punkten, auf die Sie diese Mitteilung beschränken wollen, ganz einverstanden. Seiner Ansicht nach umschreiben diese die gegenseitigen Beziehungen der beiden Mächte in der Balkanpolitik und werden einen Meinungsaustausch aller Mächte im Falle von plötzlichen Verwicklungen erleichtern. Gestern habe ich Ihrem Auftrag gemäß dem Minister die Ihrem vertraulichen Schreiben vom 11. Februar beigefügten Dokumente vorgelesen. Pichon hat mich gebeten, Ihnen seine aufrichtige Dankbarkeit für diese Mitteilung zu übermitteln. Er hat mir jedoch hierbei nicht verheimlicht, er befürchte, daß im jetzigen Augenblicke, wo die normalen Beziehungen mit Wien wiederaufgenommen worden sind, Aehrenthal nur sehr ungern seine Zustimmung zu einer Veröffentlichung geben werde, welche Österreich andern Kabinetten und der öffentlichen Meinung Europas gegenüber allzu sehr binden würde. „Um so mehr sind wir bereit," fügte Pichon hinzu, „Herrn Iswolski jedesmal zu unterstützen, wenn er so wichtige und nützliche Forderungen durchsetzen will." Nekljudow.



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182. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an den russischen Außenminister vom 19. Februar/4. März 1910. — Nr. 94. Im Gespräch mit dem deutschen Gesandten habe ich erwähnt, in Teheran sei das Gerücht verbreitet, daß deutsche Staatsangehörige verschiedene Konzessionen erhalten wollten. Graf Quadt hat dies kategorisch bestritten und behauptet, daß sogar die einzige deutsche Konzession auf eine Chaussee Chanikin-Teheran bereits ihre Gültigkeit verloren habe. Er teilte mir hierbei mit, er habe die ernste Aufmerksamkeit seiner Regierung darauf gelenkt, daß es vom deutschen Standpunkt aus unzulässig sei, daß sieben Franzosen in das persische Finanzministerium einberufen würden. Schön hat ihm gestern geantwortet, der deutsche Botschafter in Petersburg sei beauftragt worden, hiergegen energisch zu protestieren. Poklewski-Koziell.

183. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 23. Februar/8. März 1910. Komura sagte mir, er teile unsere Ansicht über den Zweck des in Aussicht genommenen politischen Übereinkommens zwischen Rußland und Japan. Die Grundlage müsse die Erhaltung des status quo in der Mandschurei und die endgültige Abgrenzung der speziellen russischen und japanischen Interessen und deren Schutz vor jeglichen Eingriffen einer dritten Macht bilden. Er ist bereit, in die Beratung der Einzelheiten einzutreten. Er fragt an, ob die russische Regierung mich beauftragt habe, die betreffenden Verhandlungen zu führen. Ich erwiderte, ich hätte die



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Vollmacht, mich mit ihm über die allgemeinen Grundlagen des in Aussicht genommenen Übereinkommens zu verständigen. Malewski-Malew-itsch.

184.

Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 25. Februar/10. März 1910. — Nr. 22. Ich habe den Inhalt Ihres Telegramms Nr. 293 dem Minister des Auswärtigen mitgeteilt. Er bat mich, Ihnen seinen Dank zu übermitteln, und sagte, daß die offiziöse Mitteilung in der „Rossija" den allerbesten Eindruck in der Presse gemacht habe; er persönlich habe nie an der konservativen Tendenz des russischen Kabinetts gezweifelt, noch daran, daß wir dem König Ferdinand zur Vorsicht und Mäßigung geraten hätten; er sei zwar kein Anhänger der Reisen der Balkansouveräne, sei jedoch überzeugt, daß die Reise König Peters nach Konstantinopel gleichfalls zur Wahrung des status quo und des Friedens beitragen werde. Die österreichisch-ungarische Antwort werde Ihnen morgen mit dem Kurier zugeschickt werden; da die Lage sich nicht verändert habe, sagte mir Aehrenthal, sähe er keinen Grund, seine Meinung, daß es unzweckmäßig sei, die von beiden Staaten angenommenen Prinzipien ihrer Balkanpolitik den andern Mächten mitzuteilen, zu ändern. Die beiden Länder, fügte er hinzu, hätten glücklicherweise die politischen Beziehungen wiederaufgenommen, die es ihnen erlaubten, jederzeit in einen Meinungsaustausch zu treten. Die Folge hiervon sei die Wiederaufnahme normaler diplomatischer Beziehungen, wozu sich Aehrenthal aufrichtig beglückwünsche. Aber da kein Ubereinkommen getroffen worden sei und die politischen Grundsätze der beiden Regierungen nicht verändert worden und diese den andern Kabinetten



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j a bekannt seien, so sei es unnütz, sie ihnen mitzuteilen. Aehrenthal glaubt, eine solche Mitteilung würde die aufgestellten Grundlagen eher abschwächen als stärken. Ich bemerkte, daß auf alle Fälle das Prinzip det Erhaltung und der Konsolidierung des neuen türkischen Regimes etwas Neues sei. Der Minister erwähnte hierauf ein kleines Mißverständnis zwischen Ihnen und dem deutschen Botschafter hinsichtlich eines „angeblichen geheimen Abkommens", welches Rußland mit Österreich-Ungarn habe abschließen wollen. Er sagte mir, daß dieses Mißverständnis aufgeklärt worden sei. Es scheine ihm jedoch, Sie wären der Ansicht, daß Wien dadurch, daß es den andern Mächten keine Mitteilung machen wolle, der politischen Verständigung zwischen Rußland und Österreich den Charakter eines Abkommens geben wolle. Dies, sagt Aehrenthal, sei kaum richtig. Er betrachtet unsern Meinungsaustausch als beendet; das Resultat sei ein sehr glückliches, und es sei erwünscht, die öffentliche Meinung der beiden Länder auf irgendeine Weise zu orientieren. Der Minister schloß die Unterredung, indem er mir sagte, die Lage auf dem Balkan beunruhige ihn nicht und auch in Konstantinopel scheine alles ruhig zu sein. Swerbejew.

185.

Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 25. Februar/10. März 1910. — Nr. 171. Aus der beiliegenden Abschrift eines Telegramms unseres Gesandten in Teheran vom 19. Februar ersehen Sie, daß die Berufung von sieben Franzosen in das persische Finanzministerium den deutschen Gesandten in Teheran beunruhigt, der einen derartigen Schritt der persischen Regierung als mit den deutschen Interessen unvereinbar be-

— 256 — trachtet. Aus einer anderen sehr geheimen Quelle ist mir bekannt, daß Graf Quadt in dieser Ernennung eine direkte Bedrohung des Grundsatzes der offenen Tür zuungunsten Deutschlands und anderer mit Persien Handel treibender Nationen erblickt, und daß er außerdem auch einige andere Bedingungen, die wir und England der persischen Regierung anläßlich des Vorschusses von 10 Millionen Franken gestellt haben, ohne irgendwelche Kompensation zugunsten Deutschlands zu leisten, als eine Verletzung der Unabhängigkeit Persiens betrachtet. Er hat deshalb dem Berliner Kabinett geraten, von uns und England zu verlangen, daß die von uns gestellten Bedingungen einer Kontrolle der persischen Finanzen beseitigt und der Inhalt aller übrigen Bedingungen mitgeteilt werde. Ich muß hierzu bemerken, daß, seitdem wir dem Grafen Pourtal£s die gemäß meinem Telegramm Nr. 99 redigierte Antwort gegeben haben, keine weitere Mitteilung von seiten des Berliner Kabinetts erfolgt ist. Wenn dies der Fall sein sollte, so habe ich die Absicht, die frühere Antwort zu wiederholen und darauf hinzuweisen, daß schon jetzt außer Franzosen auch andere Ausländer in persischen Diensten stehen, z. B. Belgier, welche die ganze Zollverwaltung unter sich haben, und ich werde kategorisch in Abrede stellen, daß wir das Prinzip der offenen Tür in Persien nicht beobachten wollen. Wenn sodann die deutsche Regierung auf die übrigen Bedingungen des Vorschusses zu sprechen kommen sollte, so habe ich keine Bedenken, der deutschen Regierung deren Inhalt vertraulich mitzuteilen; ich werde dabei den politischen Charakter betonen und behaupten, daß sie den wirtschaftlichen Interessen der übrigen Staaten in Persien keinen Schaden zufügen, welche ihrerseits nicht umhin können, die besondere Stellung und die Vorzugsrechte Rußlands und Englands in diesem Lande anzuerkennen. Es scheint mir jedoch notwendig, zuerst ein Einvernehmen mit England zu erzielen, und ich bitte Sie deshalb, den Inhalt dieses Schreibens zum Gegenstand einer Unterredung



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mit Sir Edward Grey zu machen und mir seine Ansicht über meinen Vorschlag der der deutschen Regierung zu gebenden Antwort mitzuteilen, falls das Berliner Kabinett sich an uns mit obiger Erklärung wendet. P. S. Den letzten Nachrichten aus derselben sehr geheimen Quelle zufolge soll in nächster Zeit ein Vertreter der Deutschen Bank in Teheran eintreffen, die schon im Jahr 1906 die Absicht hatte, sich in Persien niederzulassen. Dieser Umstand wird mit den finanziellen Schwierigkeiten, unter denen die persische Regierung leidet, in Verbindung gebracht und auch mit den angeblich schweren Bedingungen, von denen Rußland und England den Vorschuß von 10 000 000 frs. abhängig machen. Es besteht auch die Annahme, daß die deutsche Regierung wahrscheinlich in den nächsten Tagen uns die oben angeführte Erklärung machen wird. Ich bitte Sie daher, möglichst bald mit Grey zu sprechen und mir zu telegraphieren. Iswolski.

186. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 2./15. März 1910. — Nr. 51. Ihr Schreiben Nr. 171 erhalten. Sein Inhalt ist schon telegraphisch erörtert worden, und ich will daher Greys Ansicht nur kurz zusammenfassen. Er glaubt, man müsse den Abschluß der Anleihe beschleunigen, um eine deutsche Einmischung zu verhindern. Er glaubt, daß unsere Argumente zugunsten der Anstellung von Franzosen einer soliden Grundlage entbehren, da es sich weder um Engländer noch um Russen handle. Grey meint daher, man solle auf eine derartige Bedingung verzichten. Bizot könnte seine Gehilfen in anderen Ländern, die nicht Großstaaten sind, wählen. Grey befürchtet in hohem Maße, daß die Ankunft von russischen Verstärkungen in Persien einen Eindruck Siebtrt, BenekendorB. I. 17



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hervorrufen werde, der den Abschluß der Anleihe außerordentlich erschweren könnte. Er wiederholte, er sähe keinen andern Ausweg, als den der Zurückziehung unserer Kaswiner Abteilung, da Teheran nicht bedroht sei. Was die Frage der Mitteilung der Bedingungen der Anleihe anbelangt, so will sie Grey noch bis morgen überlegen. Er sagte, ihm wäre es gleichgültig, ob Deutschland diese Bedingungen erführe, aber er befürchte, daß Deutschland diese Bedingungen auf diplomatischem Wege erfahren wolle, um dann andere Fragen aufzuwerfen, so z. B. die der Eisenbahnen. Die Form beunruhigt ihn mehr als die Sache selbst. Grey berichtete mir über einen Schritt des hiesigen deutschen Botschafters. Die Einzelheiten hierüber brieflich. Benckendorff.

187. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 3./16. März 1910. — Nr. 52. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 51. Grey hat im Prinzip keine Bedenken dagegen, daß wir die Bedingungen der persischen Anleihe dem Berliner Kabinett vertraulich mitteilen. Aber seiner Ansicht nach wäre eine solche Mitteilung nicht ohne Gefahr. Eine derartige deutsche Anfrage würde darauf hinweisen, daß das Berliner Kabinett die Absicht hat, gegen die eine oder andere Bedingung Einspruch zu erheben, die sie wahrscheinlich schon durch die persische Regierung kennt, und daß ein derartiger deutscher Schritt nur den Anfang einer weiteren Entwicklung bedeute. Er hält es für sehr möglich, daß die deutsche Regierung die Frage der Eisenbahnbauten in Persien aufwerfen werde. Grey hält gerade diese Frage im Sinne unserer Konvention für außerordentlich wichtig. Er bittet mich, Ihnen diese Erwägungen mitzuteilen. Benckendorff.



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188. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 3./16. März 1910. — Nr. 339. Ich teile Ihnen den Text eines von Deutschland erhaltenen Memorandums mit und bitte Sie, Grey zu fragen, ob in London ein ähnlicher Schritt erfolgt sei. Unsererseits erblicken wir in der deutschen Mitteilung eher einen Versuch, uns zur Erneuerung der Verhandlungen wegen der Bagdadbahn zu bewegen, als eine ernstliche Absicht der deutschen Regierung, in der persischen Frage zu intervenieren. Trotzdem werden wir dem Berliner Kabinett weitere Erklärungen über die Anstellung von sieben Franzosen geben müssen. Wir haben die Absicht, außer den in meinem Schreiben Nr. 171 aufgeführten Argumenten darauf hinzuweisen, daß die von uns gestellte Anleihebedingung mehr die Anzahl der europäischen Gehilfen des Finanzrats als deren Nationalität im Auge hat, und daß die Franzosen geeigneter erschienen, weil sie Bizots Landsleute sind. Wenn wir späterhin gezwungen sein sollten, Deutschland in diesem Punkte nachzugeben, so müßte man die Franzosen durch Belgier, Schweizer oder Staatsangehörige eines neutralen Landes ersetzen. Was die Bagdadbahn anbetrifft, so haben wir die Absicht, dem Berliner Kabinett zu antworten, daß wir bereit sind, über diese Frage gemeinschaftlich mit England und Frankreich zu verhandeln, daß wir uns aber auch direkten Verhandlungen mit Deutschland nicht entziehen wollen. Iswolski. 189. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 3./16. März 1910. — Nr. 340. Nachstehend der Wortlaut des mir von Pourtalös übergebenen Memorandums: „Die Zurückhaltung, die Deutschland 17*



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die letzte Zeit in Persien geübt hat, soll nicht so ausgelegt werden, als ob die deutsche Regierung aufgehört hätte, Persien als ein unabhängiges Land zu betrachten, in dem Deutschland das Recht habe, seine Interessen zu regeln, ohne andere Mächte vorher befragen zu müssen. Die russische Regierung hat ihrerseits Deutschland ein Übereinkommen über die persische Frage und die Bagdadbahn vorgeschlagen. Deutschland war bereit, in einen Meinungsaustausch einzutreten. Die russische Regierung hat jedoch seit Ende 1907 keine weiteren Schritte in dieser Angelegenheit unternommen. Im Gegenteil, sie hat bei mehreren Gelegenheiten gehandelt, ohne die deutschen Interessen genügend in Betracht zu ziehen. Die Anstellung von sieben Franzosen als Gehilfen Bizots scheint eine der hauptsächlichsten Bedingungen für das Zustandekommen der Anleihe zu sein. Würde diese Bedingung angenommen, so wäre Deutschland damit aus einem der wichtigsten Teile der inneren Administration Persiens ausgeschlossen, während Frankreich zugelassen würde, was in Deutschland gewiß befremden würde. Die persische Regierung wäre ihrerseits gewiß geneigt, verschiedene deutsche Beamte anzustellen. Was die Bagdadbahn anbelangt, so scheint die russische Regierung immer noch die Ansicht zu vertreten, daß die Verhandlungen zu Vieren geführt werden müssen, was Deutschland im Prinzip nicht annehmen zu können erklärt hat. Diese Haltung Rußlands scheint kaum das Wohlwollen zu zeigen, auf das Deutschland rechnen zu können glaubte, nachdem es in Persien eine so loyale Zurückhaltung gezeigt hat. Die deutsche Regierung muß bemerken, daß diese Zurückhaltung nicht so weit gehen kann, daß es kommerziellen und finanziellen Kreisen in Deutschland überhaupt unmöglich gemacht wird, in Persien ein Betätigungsgebiet zu findet. Aus diesem Grunde hat die deutsche Regierung zu der Informationsreise eines Vertrauensmannes der Deutschen Bant, Said Ruete, der sich in nächster Zeit aus PerBien über Chanikii nach Bagdad begeben wird, ihre Zustimmung gegeben.'1 Iswolski.



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190. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 3./16. März 1910. Grey hat mir folgende Einzelheiten über seine Unterredung mit dem deutschen Botschafter Metternich mitgeteilt. Die Sprache Metternichs wäre viel zögernder gewesen, als sie beim Grafen Pourtales gewesen zu sein scheine. Im Auftrage seiner Regierung hätte er zuerst erklärt, daß Persien Deutschland 10 000 Pfund Sterling schulde, und es nur billig wäre, wenn der anglo-russische Vorschuß dazu verwendet würde, diese Schuld zu begleichen. Er habe sich dabei auf den Umstand berufen, daß die englische Regierung Persien Zahlungen leiste und dadurch sich die ihm von Persien geschuldeten Summen sichere, während Deutschland über kein derartiges Mittel verfüge. Grey hätte erwidert, der Botschafter irre sich. England leiste keinerlei Zahlungen, und sein Guthaben und selbst die Zinsen desselben würden durch die Gewährung eines Vorschusses nicht berührt, da letzterer ausschließlich dazu dienen solle, die dringendsten Bedürfnisse der persischen Verwaltung zu befriedigen; bei einer größeren Anleihe würde dies vielleicht anders sein, heute aber nicht. Sodann hätte Metternich den Umstand erwähnt, daß die Gewährung eines Vorschusses die Anstellung von Ausländern nach sich ziehen würde, und daß in diesem Falle Deutschland auf Grund des Prinzips der oüenen Tür nicht zulassen könne, daß deutsche Staatsangehörige umgangen würden. Grey hätte geantwortet, es handele sich in Wirklichkeit nicht um neue ausländische Beamte, die es bereits in Persien gäbe, sondern man wolle Bizot einige Gehilfen geben, welche natürlich Franzosen wie er sein würden, was eine ganz andere Sache sei. Metternich hätte gesagt, die deutsche Regierung habe gerade diese Berufung von Franzosen im Auge, da dadurch die persischen Finanzen in ausschließlich französische Hände geraten würden, worauf Grey erwidert hätte, das Prinzip



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der offenen Tür scheine ihm aber in keinem Falle verletzt. Grey teilte mir sodann die persönlichen Erwägungen mit, die den Gegenstand meines gestrigen Telegramms bilden. Er meint, wir sollten auf dieser Bedingung nicht länger bestehen. Würde es sich um Russen oder Engländer handeln, so ständen wir auf sicherem Boden. Die politische Lage und das russische und englische Kapital würden uns berechtigen, dies Privileg zu beanspruchen. Anders liegen die Dinge, wenn es sich um Franzosen handelt, eine Wahl, die die Deutschen in Wirklichkeit ausschließt, denen also nicht die gleiche Behandlung wie den Angehörigen anderer Nationalitäten zuteil wird. Grey findet unsere Argumente nicht stichhaltig. Seiner Ansicht nach kann die Lage in Teheran kritisch werden, und es sei notwendig, die Anleihe-Verhandlungen zu einem schnellen Abschluß zu bringen. Das Haupthindernis sieht er in der Anwesenheit unserer Truppen in Kaswin. Wenigstens scheint es ihm zweifelhaft, daß die Verhandlungen zu einem Ergebnis führen werden, solange unsere Truppen dort bleiben, ohne daß ihre Anwesenheit durch die Möglichkeit von Unruhen in Kaswin oder in Teheran begründet ist. Ich bemerkte dem Minister, es würde schwer sein, diese Frage während der Verhandlungen zu berühren. Sir Edward gab dies zu, meinte aber, man könnte dies durch eine gewisse „Gewandtheit" in Teheran erreichen: unsere gemeinsamen Interessen seien wichtiger als alles andere. Benckendorff.

191. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 3./16. März 1910. Im Laufe der gestrigen vertraulichen Unterredung sagte ich Grey, Sie hielten es gewissen Informationen zufolge für

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möglich, daß die deutsche Regierung den Wunsch äußern würde, die Bedingungen kennenzulernen, die Rußland und England an die Gewährung einer Anleihe geknüpft hatten. Sir Edward antwortete mir etwas zögernd, er habe im Grunde genommen, keine Einwendungen zu machen, wolle sich aber die Sache noch überlegen und bat mich, ihn heute wieder aufzusuchen. Er hat mir soeben erklärt, daß er im Prinzip keine Bedenken habe, da er es für mehr als wahrscheinlich halte, daß Deutschland diese Bedingungen von den Persern bereits erfahren hat. Aber gerade diese Annahme ruft in ihm die folgenden Erwägungen wach und läßt ihm eine derartige Mitteilung als unzweckmäßig oder sogar gefährlich erscheinen. Wenn Deutschland die Bedingungen kennt, so hat es augenscheinlich den Wunsch, gegen die eine oder andere Einwendungen zu erheben, und zu diesem Zwecke muß es sie auf offiziellem Wege in Erfahrung bringen. Dies ist wahrscheinlich die deutsche Absicht, und die Bedingungen, gegen die Deutschland, wie Grey glaubt, protestieren wird, ist wahrscheinlich die Frage der Eisenbahnbauten in Persien. „Sie werden die große Wichtigkeit dieser Frage zugeben", sagte mir der Minister, „wir haben so große Sorgfalt auf den Abschluß unserer Konventionen verwandt, um unsere eigenen Interessen und nicht die Interessen Deutschlands zu wahren; deutsche Eisenbahnen in Persien würden die ganze Bedeutung unserer Konvention verändern". Sir Edward machte keine weiteren Andeutungen, aber der Sinn seiner Worte ist klar. Dies wurde mir übrigens durch Hardinge bestätigt, den ich nach Grey aufsuchte. Sir Charles sagte mir: „Ich glaube, es ist sehr gefährlich". Bevor ich sein Kabinett verließ, sagte Sir Edward, er müsse wiederholen, es sei dringend notwendig, die Verhandlungen in Teheran so schnell wie möglich zum Abschluß zu bringen. Seinen Informationen zufolge seien unsere Truppen, die nach Täbris vorrückten, bereits nach Djulfa zurückgekehrt. Kaswin sei aber der gefährliche Punkt, von dem der Erfolg der Verhandlungen abhänge. Benckendorff.

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192. Telegramm, des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. März 1910. — Nr. 54. Ihre Telegramme Nr. 339 und 340 erhalten. Nr. 1. Habe Grey gestern die entsprechende Mitteilung gemacht. Zwischen den Schritten von Pourtales und Metternich besteht ein großer Unterschied. Unter Nr. 2 erhalten Sie den Wortlaut eines Memorandums, welches die Antwort enthält, welche Grey zu erteilen beabsichtigt. Auf meine Frage erklärte Grey, er glaube nicht, daß es die deutsche Absicht sei, mit uns die Bagdadbahn-Verhandlungen wieder aufzunehmen. Er meint, die ganze Angelegenheit erinnere an Marokko. Aber er hat Zutrauen zur Ruhe und Mäßigung Bethmann-Hollwegs. Immerhin befürchtet er deutsche Absichten auf Eisenbahnen in Persien und hat mir wiederholt, er sei der Ansicht, daß in dieser Frage Rußland und England besonders fest bleiben müßten. Grey benachrichtigte mich, daß die Bagdadbahn-Verhandlungen zwischen englischen und deutschen Finanzleuten zu keinem Resultat geführt haben. Hinsichtlich dieser Frage enthält das Memorandum folgenden Satz: Grey hat nichts einzuwenden, sofern die von Ihnen in Aussicht genommene Antwort der Haltung entspricht, die das Londoner Kabinett Rußland und Frankreich gegenüber einnehmen wollte, als die Verhandlungen Cassel-Gwinner stattfanden. Dies will bedeuten, daß England sich vorbehält, mit Deutschland zu verhandeln, aber nichts abzuschließen, ohne Frankreich und Rußland zu informieren. Benckendorff.

193. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. März 1910. — Nr. 55. Nr. 2. Inhalt des in Nr. 1 erwähnten Memorandums. Grey hält es für nützlich, sich auf die erste Antwort zu be-



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rufen, bemerkt aber, daß unsere Erklärung, wir hätten mehr die Anzahl der Angestellten als deren Nationalität im Auge gehabt, Deutschland die Möglichkeit gäbe, die Anstellung von deutschen Beamten zu verlangen. Grey meint, man könne vielleicht dem Bedauern Ausdruck geben, daß die früheren Erklärungen nicht genügt hätten, und hinzufügen, daß im Jahre 1909 die persische Regierung selbst sich an Frankreich gewendet habe. Sodann könnte man hinzufügen, es sei natürlich, daß Bizot Franzosen vorziehe, daß aber weder England noch Rußland die Anstellung von vier weiteren Gehilfen für durchaus notwendig erachteten, daß es sogar zweifelhaft sei, ob sie notwendig seien. Was den deutschen Hinweis auf die Verletzung der deutschen Interessen und die russischen Versuche, deutsche finanzielle und kommerzielle Interessen aus Persien auszuschließen, und was endlich die Eisenbahn anbelangt, so glaubt Grey, man solle Deutschland antworten, man müsse abwarten, bis die persischen Finanzen geordnet seien, was ja die Grundbedingung der Erhaltung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit Persiens, ebenso wie des Prinzips der offenen Tür sei, und daß daher der deutsche und ausländische Handel hieraus nur Nutzen ziehen würden. Andererseits könne man aus dem Umstände, daß Deutschland die privilegierte Stellung der beiden Nachbarstaaten anerkannt habe, folgern, daß diese Staaten durch die Anarchie mehr als die anderen in Mitleidenschaft gezogen würden, und daß sie deshalb Persien in Sachen der Finanzreform beistehen müßten, was ja die Grundlage der anderen Reformen sei. Grey mißt dem Umstände Bedeutung bei, daß Belgier in der Zollverwaltung angestellt werden: vielleicht würde dann Deutschland seine Einwendungen zurückziehen und die Anstellung von Angehörigen eines neutralen Landes einen guten Ausweg bieten. Grey möchte Ihre Antwort sobald wie möglich erhalten, um ihr seine Antwort an Metternich anpassen zu können. Benckendorff.



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194. Telegramm, des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. März 1910. — Nr. 56. Nr. 3. Hardinge sagte mir gestern vertraulich, man könne vielleicht der persischen Regierung zu verstehen geben, daß man in der Frage der Anstellung der Franzosen Nachgiebigkeit zeigen werde, wobei dies auf Grund einer persischen Bitte erfolgen könne. Benckendorff.

196. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Berlin an den russischen Außenminister vom 5./18. März 1910. Obwohl die verantwortlichen Leiter der auswärtigen Politik Deutschlands, nämlich der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen, wiederholt erklärt haben, daß die deutsche Regierung die Wiederaufnahme gutnachbarlicher Beziehungen zwischen Österreich und Rußland wünsche, so zeugen die kühle Zurückhaltung Baron Schöns und die Haltung der deutschen Presse aller Richtungen davon, daß die deutsche Regierung über die zwischen Petersburg und Wien schwebenden Verhandlungen anders denkt. Der Grund hierzu ist in jenem Argwohn zu suchen, den man in letzter Zeit in den führenden Kreisen Deutschlands zu jedem Schritt unserer äußeren Politik hegt, wobei man immer wieder Bestrebungen der Feinde Deutschlands, dieses zu isolieren, zu befürchten scheint. Der Abschluß einer ganzen Reihe internationaler Abkommen, an denen Deutschland nicht teilgenommen hat, und die Befürchtung eines Konflikts mit England, welche sich nach der Annäherung Rußlands an Großbritannien noch erhöht hat, haben in Deutschland dieses Mißtrauen hervorgerufen. Dies ist besonders stark nach der Zusammen-



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kunft von Racconigi zutage getreten, da man in Deutschland der Ansicht zu sein scheint, daß wir einen seiner Bundesgenossen von ihm loslösen wollen. Dieses Gefühl hat sich damals in Gestalt einer krankhaften Erregbarkeit der Regierungskreise und einiger Presseorgane gezeigt. Es besteht kein Zweifel, daß dasselbe Gefühl des Argwohns und des Mißtrauens zu dem Ziel, welches wir bei unseren Verhandlungen mit Österreich verfolgen, zurZeit die Haltung des Berliner Kabinetts zu dieser Frage bestimmt. Unser Bestreben, zu diesen Verhandlungen auch die andern Mächte hinzuzuziehen und auf diese Weise Österreich bis zu einem gewissen Grade von neuen Abenteuern Aehrenthals zurückzuhalten, wird in Deutschland als ein von uns England eingegebener Versuch betrachtet, Österreich durch ein formales Abkommen zu binden, dadurch die Bande mit Deutschland zu lockern und dieses seines zweiten Bundesgenossen zu berauben. Dieser Gedanke findet in den Artikeln der „Vossischen Zeitung" und der „Germania" deutlichen Ausdruck, in denen die englische Diplomatie und insbesondere der englische Botschafter in Wien beschuldigt werden, alles zu tun, um das deutsch-österreichische Bündnis zu sprengen. Auch die Reisen der Balkansouveräne nach Petersburg und Konstantinopel rufen Beunruhigung hervor. Man erblickt in der demonstrativen Zurückhaltung der bulgarischen und serbischen Minister ihren österreichischen Kollegen gegenüber eine gegen Österreich gerichtete Spitze und befürchtet die Bildung eines Balkanblocks unter türkischer Beteiligung. Schebeko.

196. Telegramm, des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 6./19. März 1910. Aehrenthal hat mir soeben den Wortlaut der Mitteilung übergeben, die zur Orientierung der öffentlichen Meinung



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über das glückliche Resultat unserer Verhandlungen bestimmt ist. Berchtold wird Ihnen diesen Text übergeben. Die Veröffentlichung soll Montag in der „Politischen Korrespondenz" erfolgen. Aehrenthal hält es nicht für nötig, daß die beiden Regierungen eine identische und gleichzeitige Veröffentlichung machen. Swerbejew.

197. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 7./20. März 1910. — Nr. 362. Nachdem unsere Verhandlungen mit Wien die Übereinstimmung der Grundsätze der russischen und österreichischen Balkanpolitik ergeben haben, und normale diplomatische Beziehungen zwischen beiden Regierungen wiederhergestellt sind, habe ich dieses heute den Botschaftern von Deutschland, Frankreich, England, Italien und der Türkei durch ein Memorandum mitgeteilt, dem ich die diplomatische Korrespondenz, die sich auf diese Verhandlungen bezieht, beigefügt habe. Ein kurzes Resümee wird morgen durch die Petersburger Telegraphenagentur veröffentlicht werden. Iswolski.

198. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 7./20. März 1910. — Nr. 57. Da Bizot in seinem Reformprojekt vorschlägt, die Stelle eines Finanzbeirates abzuschaffen, sobald die drei Räte und vier französischen Gehilfen ernannt sein werden, meint Grey, man müsse seine Worte „es ist natürlich, daß Bizot Franzosen vorzieht," folgendermaßen abändern:



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„da Bizot der Urheber des Projektes der Finanzreform ist, so ist es natürlich, daß er die Ausführung dieser Reform Franzosen anvertrauen will." Benckendorff.

199. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. März 1910. — Nr. 61. Ihre Telegramme Nr. 363 und 364 habe ich erhalten und deren Inhalt heute morgen Grey mitgeteilt. Er schätzt Ihren Entwurf sehr und hat heute seine an Metternich erteilte Antwort demselben angepaßt. Er ist zuerst auf die 10 000 Pfund betragende deutsche Privatforderung eingegangen und hat ihnen die 600 000 Pfund englische Forderungen entgegengestellt, die durch die Konversion in keiner Weise gedeckt werden. Metternich hat gefragt, was es anläßlich einer größeren Anleihe damit für eine Bewandtnis habe. Grey antwortete, daß diese Frage noch nicht geprüft worden sei, und daß dies erst der Fall sein würde, wenn eine derartige Anleihe, deren Zeitpunkt sich bis jetzt noch nicht bestimmen ließe, erörtert werden würde. Hinsichtlich der französischen Gehilfen hat sich Grey auf die von Bizot getroffene Wahl berufen. Er hat nicht die Möglichkeit erwähnt, daß man eventuell den persischen Wünschen nachgehen werde, aber ebenso wie Sie hat er seinem Erstaunen Ausdruck gegeben, daß gegen die Franzosen in der Finanzverwaltung Einwände erhoben werden, während das Berliner Kabinett nichts gegen Belgier in der Zollverwaltung gehabt habe. Hierauf hat Metternich erwidert, es sei ein großer Unterschied, ob die ganze Finanzverwaltung in den Händen von Angestellten, die einer Großmacht angehören, liegt oder die Zölle sich in den Händen von Angehörigen einer kleineren Macht befinden. Grey hat zugegeben, daß dieses Argument einen gewissen Wert habe. Na-



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türlich ist Grey immer noch der Ansicht, daß es wünschenswert sei, den Wünschen der persischen Regierung in der Finanzfrage entgegenzukommen. Er glaubt, daß Barclay und Poklewski eine Lösung finden werden. Benckendorff.

200. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. März 1910. — Nr. 62. Nachdem Grey seine Mitteilung an Metternich beendigt hatte, sagte ihm der Botschafter, daß das Berliner Kabinett Einwendungen gegen folgende Bedingungen erheben müsse, die den deutschen Informationen zufolge während der Anleiheverhandlungen gestellt worden wären: 1. In der russischen Sphäre würden keine Konzessionen an Ausländer, sondern nur an Russen erteilt, und dieselbe Bedingung wäre für die englische Einflußsphäre gestellt worden. Grey will morgen antworten, daß eine derartige Bedingung nicht gestellt worden sei. 2. Die Bedingung bezüglich des Urmiasees. Grey wird antworten, daß diese Bedingung die russischen Interessen betreffe, und daß er sich hierüber nicht zu äußern habe. 3. Bedingung bezüglich der Eisenbahnen in den beiden Interessensphären. Grey wird sich auf den Standpunkt der politischen Interessen der Nachbarstaaten stellen und sich auf die Unmöglichkeit berufen, ausländischen Gesellschaften Konzessionen zu gewähren, die für Rußland oder England in strategischer Hinsicht gefährlich wären. 4. Die Bedingung, die Perser von der Erlangung von Konzessionen ausschließt, wenn sie nicht den Beweis erbringen, daß das Kapital nicht ausländischen Ursprungs ist. Grey wird antworten, daß eine Bedingung in dieser Form nicht gestellt worden sei, daß aber Rußland und England Maßregeln ergreifen müßten, um die

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Erteilung von Konzessionen an Perser zu verhindern, die dieselben Nachteile wie die Erteilung von Eisenbahnkonzessionen haben würde. In einer Unterredung mit Hardinge habe ich bemerken können, daß dieser weitere Schritt des Berliner Kabinetts hier sehr mißfallen hat. Benckendorff.

201. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. März 1910. — Nr. 63. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 62. Grey schreibt mir heute abend, Metternich habe ihm erklärt, die deutsche Regierung sei der Ansicht, daß die Bedingungen der persischen Anleihe dem ausländischen Handel die Türe schließen und die Unabhängigkeit Persiens illusorisch machen, wobei der Botschafter die Bedingungen nicht richtig angeführt habe. Grey wird morgen antworten und teilt mir seine Absicht mit, die wirklichen Bedingungen zur Kenntnis Metternichs zu bringen. Da ich Ihren Standpunkt kenne, erhebe ich keinen Einspruch. Grey hat die Absicht, Metternich zu sagen, daß der Zweck der von uns gestellten Bedingungen nicht darin bestehe, ausländisches Kapital von Eisenbahnbauten in Persien notwendigerweise auszuschließen, daß Rußland und England aber auf dieser Bedingung bestehen müßten, um der Möglichkeit des Baues einer Eisenbahnlinie vorzubeugen, die ihre Grenzen bedrohe und unter ausländischer Kontrolle stehe. Grey hält die Mitteilung der wirklichen Bedingungen für notwendig, um auf die Einwendungen gegen die Konzessionen an persische Staatsangehörige und gegen russische und englische Privilegien in den Interessensphären antworten zu können, da diese in der deutschen Version unrichtig interpretiert werden. Benckendorff.

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202. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 9./2Z. März 1910. — Nr. 27. Ihr Telegramm Nr. 362 ist in der Nacht von Sonntagauf Montag eingegangen, und ich habe mich nicht für berechtigt gehalten, den Inhalt Aehrenthal mitzuteilen, da das Telegramm keinen Auftrag hierzu enthielt. Als ich heute Aehrenthal aufsuchte, der am Abend nach Abazzia abreist, sagte er mir, er erwarte, daß ich ihm eine Mitteilung über das russische Communiqué machen werde, da Berchtold dies nicht habe tun können. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu sagen, ich hätte keinen derartigen Auftrag erhalten und wäre auch nicht im Besitze des Wortlautes dieses Communiqués. Sodann berührte er die Tatsache, daß Euere Exzellenz die Auffassung des Wiener Kabinetts, daß es unzweckmäßig sei, daß sich die andern Mächte den von unseren beiden Regierungen festgelegten politischen Grundsätzen anschlössen, nicht berücksichtigt hätten. Endlich sprach Aehrenthal von dem Artikel der „Fortnightly Review" und fügte hinzu, es wäre zweckmäßig gewesen, sich, wie er vorgeschlagen, über die Antworten auf eventuelle Interpellationen in der Duma und in den Delegationen zu einigen. Zum Schlüsse sagte mir Aehrenthal in warmen Ausdrücken, wie zufrieden er sei, daß unsere Verhandlungen zu einem glücklichen Abschluß gebracht worden seien, und fügte hinzu, daß die Reisen der Könige Peter und Ferdinand ein weiteres Pfand für die Beruhigung der Gemüter auf dem Balkan bildeten. Da unsere guten Beziehungen wiederhergestellt sind, fährt der Minister vollkommen beruhigt nach Abazzia. Mit ganz wenigen Ausnahmen begrüßt die Presse den Abschluß unserer Verhandlungen, deren Zweck darin bestehe, daß die Beziehungen zwischen den beiden großen Nachbarreichen wieder eine freundschaftliche Form annehmen. Swerbejew.

— 273 — 203. Telegramm, des russischen Geschäftsträgers in Wien an den russischen Außenminister vom 9./22. März 1910. In Verfolg meines Telegramms Nr. 27. Als der Minister des Auswärtigen heute mit mir über die Mitteilung an die Mächte unseren Meinungsaustausch betreffend sprach, fügte er hinsichtlich des Artikels der „Fortnightly Review" hinzu, er behalte es sich vor, eine kleine Berichtigung erscheinen zu lassen, welche eine kurze Darstellung seines Standpunktes in dieser Frage enthalten werde. Swerbejew.

204. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 9./22. März 1910. — Nr. 372. Ich telegraphiere nach Berlin: Der deutsche Botschafter hat mir erklärt, daß den Informationen der deutschen Regierung zufolge Rußland und England anläßlich der Anleiheverhandlungen folgende Bedingungen gestellt hätten: Verbot, Eisenbahnen ohne ihre Zustimmung zu bauen, Schiffahrtsmonopol auf dem Urmiasee zugunsten Rußlands, Monopol aller kommerziellen und industriellen Konzessionen in Persien zugunsten Rußlands und Englands unter Ausschluß ausländischer Unternehmungen. Wenn diese Informationen richtig sind, so hält sie die deutsche Regierung für unvereinbar mit dem Grundsatz der wirtschaftlichen Gleichberechtigung aller Nationen, der in der englisch-russischen Konvention anerkannt worden sei, und dessen Verletzung die Unabhängigkeit Persiens bedrohe. Ich habe dem Botschafter geantwortet, daß diese Informationen nicht der Wirklichkeit entsprächen. Die von Rußland und England gestellten Bedingungen erst e b e r t, Benckendotff. I. 18



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hielten das Prinzip der wirtschaftlichen Gleichberechtigung aller Mächte aufrecht, und die beiden Staaten hätten nie den Gedanken gehabt, irgend jemand von allen kommerziellen und industriellen Unternehmungen auszuschließen. Was die Eisenbahnen und andere Unternehmungen anlange, die eine politische Seite und für Rußland eine strategische Bedeutung haben könnten, so hätten wir von jeher erklärt, nicht zugeben zu können, daß derartige Konzessionen in die Hände von Ausländern gelangten. In diesem Sinne hätten wir mit Deutschland im Jahre 1907 Verhandlungen begonnen, welche dann zeitweise unterbrochen worden seien, und welche wir jetzt bereit seien, wiederaufzunehmen. Pourtalös schienen diese Erklärungen befriedigt zu haben, und er bestätigte mir noch einmal, daß Deutschland die besondere politische Stellung Rußlands und Englands in Persien anerkenne, daß es nur die Absicht habe, die Freiheit deutscher kommerzieller Unternehmungen sicherzustellen, und daß es an keine Eisenbahnbauten in Persien denke. Ich bitte, die erste Gelegenheit zu benutzen, um obiges mündlich zur Kenntnis Greys zu bringen und mir seinen Eindruck mitzuteilen. Iswolski.

205. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 10./23. März 1910. — Nr. 380. Heute haben wir dem deutschen Botschafter das Memorandum übergeben, welches den Gegenstand meines Telegramms Nr. 364 bildet. Wir haben die Absicht, uns einstweilen auf diese Mitteilung zu beschränken sowie auf meine mündlichen Erklärungen dem Grafen Pourtales gegenüber, die ich Ihnen unter Nr. 372 telegraphiert habe, und die in allgemeinen Zügen durchaus mit der in London erteilten Antwort übereinstimmen. Nicolson schreibt mir heute, das



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Londoner Kabinett habe keine Einwendungen zu machen, wenn wir Pourtales mitteilen, daß in allen Fragen, die die anglo-russische Konvention betreffen, wir es für nötig erachten, uns zuerst mit der englischen Regierung zu beraten; Nicolson fügte hinzu, daß wir hierbei auf die völlige Unterstützung des Londoner Kabinetts rechnen können. Wir werden diesen Vorschlag benutzen, wenn das Berliner Kabinett mit einer neuen Anfrage an uns herantreten sollte. Iswolski.

206. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an den russischen Außenminister vom 10./23. März 1910. Wenn wir darauf verzichten, Franzosen im persischen Finanzressort anzustellen, so wird dies die Zusammenarbeit des finanziellen Beirats mit den übrigen Fachleuten anderer Nationalitäten sehr erschweren. Nur die Kaiserliche Regierung ist in der Lage, ein Urteil zu fällen, ob Deutschland, nachdem es in dieser Frage sein Ziel erreicht, nicht auch andere Vorwände benutzen wird, um das gemeinsame Vorgehen Rußlands und Englands in Persien zu sprengen. Besteht eine solche Möglichkeit, so wäre es vielleicht besser, wenn wir jetzt auf der Ernennung der Franzosen bestehen würden. Auf alle Fälle scheint es mir, daß ein eventueller Verzicht unsererseits als eine Konzession Persien und nicht Deutschland gegenüber dargestellt werden müßte. Gleichzeitig müßten wir den Grundsatz aufstellen, daß als ausländische Beiräte und andere Beamte entweder nur Russen und Engländer oder nur die Angehörigen kleinerer Staaten angestellt werden können. Poklewski-Koziell.

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207. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 11./24. März 1910. — Nr. 383. Wir haben aus ganz geheimer Quelle erfahren, daß das persische Medschlis bei Quadt angefragt hat, ob Deutschland auf Grund des persisch-deutschen Vertrages Rußland hinsichtlich der Anleihe und der Abberufung der russischen Truppen aus Persien Vorstellungen machen werde. Wir haben infolgedessen unseren Gesandten in Teheran gebeten, den Persern zu verstehen zu geben, daß der Eingriff einer dritten Macht unsere Beziehungen zu Persien noch verschlimmern und uns veranlassen könnte, unsere Truppen nicht abzuberufen. Obiges habe ich vertraulich Nicolson mitgeteilt. Iswolski.

208. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 11./24. März 1910. — Nr. 384. Ich telegraphiere an unseren Gesandten in Teheran unter Berufung auf mein Telegramm an Sie Nr. 364, welches nach Teheran übermittelt worden ist: Im Verfolg meines Memorandums, das ich heute dem deutschen Botschafter übergeben habe, teile ich Ihnen mit, daß wir im Einvernehmen mit dem Londoner Kabinett es für nötig befunden haben, der in Aussicht genommenen Ersetzung der Franzosen durch Angehörige einer kleineren Macht den Charakter einer Konzession zu geben, die wir den Persern auf ihre Bitte hin machen. Iswolski.



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209. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 11./24. März 1910. — Nr. 64. Hardinge ist der Ansicht, daß das den Persern gezeigte Entgegenkommen in der Frage der Ersetzung der Franzosen durch Angehörige einer kleineren Macht in Teheran erst erwähnt werden solle, wenn sich dies als notwendig erweisen sollte und Deutschland auch weiter auf dieser Frage bestehe. Etter.

210. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 11./24. März 1910. — Nr. 65. Ihr Telegramm Nr. 383 erhalten. Die Nachricht, daß das Medschlis sich an Quadt gewandt habe, ist bereits Grey durch Nicolson bekannt. Hardinge ist der Ansicht, daß eine derartige Einmischung Deutschlands in die russisch-persischen Angelegenheiten in keiner Weise mit den Bestimmungen des deutsch-persischen Vertrages vom Jahre 1873 begründet werden könne, da diese Bestimmungen eine Einmischung nur im Falle der Wahrscheinlichkeit eines militärischen Zusammenstoßes mit einer anderen Macht zuließen. Etter.

211. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 11.,(24. März 1910. — Nr. 66. Ihre Telegramme Nr. 371, 372 und 380 erhalten. Grey hat gestern London verlassen und wird nicht vor Dienstag



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zurückkehren. Hardinge dankt für die Mitteilung der mündlichen Erklärung, die Sie Pourtalös gegeben haben, und die vollkommen der hier stattgefundenen Aussprache mit Metternich entspricht. Er hat mir bestätigt, daß die Kaiserliche Regierung in allen Fragen, welche die anglo-russische Konvention berühren, vollkommen auf die Unterstützung Englands rechnen könne, und hinzugefügt, daß Nicolson Ihnen geschrieben habe, nachdem er vorher die Einwilligung und die Ermächtigung Greys eingeholt hatte. Aus Anlaß der Festtage wird das Ministerium von morgen bis Dienstag geschlossen bleiben; Hardinge wird abwesend sein. Etter.

212. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 12./25. März 1910. — Nr. 67. Der österreichische Botschafter und der italienische Geschäftsträger haben hier gestern der deutschen Demarche ähnliche mündliche Vorstellungen erhoben, die sich auf die Ausschließung ausländischer Konzessionen und Unternehmungen in Persien beziehen. Hardinge hat ihnen in allgemeinen Ausdrücken im selben Sinn wie Metternich geantwortet und sie gefragt, ob ihre Vorstellungen auf Grund eines Einvernehmens zwischen Wien, Rom und Berlin erfolgt seien. Die beiden Vertreter haben verneinend geantwortet. Der italienische Geschäftsträger fügte hinzu, das Kabinett von Rom habe es wahrscheinlich für nötig befunden, angesichts der Informationen aus Konstantinopel oder der einschlägigen Berichte des türkischen Botschafters in Teheran um Aufklärung zu bitten. Letztere Berichte lenken die Aufmerksamkeit der Pforte auf die Gefahr der Verlängerung der Besetzung persischen Territoriums durch russische Abteilungen. Hardinge erklärt die Haltung des



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türkischen Botschafters in Persien mit islamischer Solidarität, ist aber dennoch geneigt anzunehmen, daß die gleichzeitigen österreichischen und italienischen Demarchen unter deutschem Einfluß erfolgt sind. Etter.

213. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 13./26. März 1910. — Nr. 406. Da unser Protest gegen den Abschluß einer persischen Anleihe außerhalb Rußlands und Englands von der persischen Regierung ungünstig beantwortet worden ist, schlägt die englische Regierung vor, Persien alle rückständigen Forderungen aufzuzählen und zu erklären, daß wir nicht bloß auf die Begleichung dieser Forderungen, sondern auch aller anderen Vorschüsse dringen werden, wenn Persien darauf bestehen sollte, die Einnahmen des Landes als Garantie einer Anleihe einer dritten Macht zu verpfänden. Unserer Ansicht nach müssen wir eine solche Erklärung zu vermeiden suchen, da Persien hierbei uns und England beschuldigen könnte, daß wir ihm die Möglichkeit nehmen, sich anderswo Kredit zu beschaffen, und daß es infolgedessen von uns die Gewährung einer Anleihe verlangen könne. Um auch neuen Protesten von Seiten anderer Staaten zuvorzukommen, haben wir heute dem englischen Botschafter vorgeschlagen, der persischen Regierung folgende gemeinschaftliche Erklärung abzugeben: Rußland und England sind bereit, das Recht Persiens anzuerkennen, in andern Ländern Anleihen abzuschließen, aber nur unter folgenden Bedingungen: 1. Die Zoll- und sonstigen Einnahmen, welche die russischen und englischen Anleihen garantieren, dürfen nicht zugunsten der neuen Finanzoperationen verpfändet werden. 2. Alle früheren finanziellen Verpflichtungen Rußland und England gegenüber müssen zusammen mit den



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rückständigen Zinsen genau festgesetzt und diejenigen Einnahmequellen bezeichnet werden, die zur Abzahlung unserer rückständigen Forderungen dienen werden. 3. In der russischen und englischen Einflußsphäre dürfen anderen Ausländern keine Konzessionen erteilt werden, die politische und strategische Bedeutung haben, nämlich für Verkehrswege, Telegraphen, die Schiffahrt auf dem Urmiasee und ähnliche. Iswolski.

214. Telegramm, des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 19. März/1. April 1910. — Nr. 71. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 69. Hardinge hat mir seine Ansicht darüber noch nicht mitgeteilt, welche Maßregeln zu ergreifen wären, um der Tätigkeit der Türken in der Nähe von Urmia ein Ende zu machen, da er von Barclay noch keine Antwort auf die von ihm gestern abgeschickte Anfrage erhalten hat. Aus meiner Unterredung mit Mallet habe ich den Eindruck gewonnen, daß Grey es für nötig hält, die Perser dazu zu bewegen, unsere Vorschußbedingungen möglichst schnell anzunehmen, um ihnen auf diese Weise jeden Vorwand zu nehmen, noch weiter mit deutschen Finanzkreisen zu verhandeln. Das Vorgehen der Türken bringt man auch hier in Zusammenhang mit der Unzufriedenheit der Perser mit uns und hält es deshalb für sehr wünschenswert, den Hauptgrund ihrer Erregung aus der Welt zu schaffen, welchen man in der Anwesenheit unserer Truppen in Kaswin erblickt. Mallet fügte hinzu, man sei jetzt hier geneigt, Ihren Standpunkt zu teilen, daß man die Einmischung Deutschlands in die persischen Fragen hauptsächlich auf den Wunsch zurückführen müsse, die Verhandlungen wegen der Bagdadbahn wiederaufzunehmen.



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Der Leitartikel der „Times" vom 31. März wird hier durchaus gebilligt und ist scheinbar im Foreign Office inspiriert worden. Etter.

215. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Geschäftsträger in London vom 24. März/6. A pril 1910. — Nr. 457. Ich telegraphiere nach Konstantinopel: Der französische Botschafter berichtet, daß die Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei über die Bagdadbahn in Konstantinopel wieder aufgenommen worden sind, wobei beabsichtigt wird, statt der Zollerhöhung den Überschuß der Zehntenabgaben zur Kilometergarantie zu verwenden. Louis fügt hinzu, daß den Informationen der französischen Regierung zufolge diese Verhandlungen binnen kurzem zu einem für Deutschland günstigen Resultat führen werden. Ich bitte Sie, diese Informationen nachzuprüfen und mich zu benachrichtigen, wie derartige Verhandlungen auf die gegenseitigen Beziehungen Englands, Frankreichs, Deutschlands und der Türkei in der Frage der Eisenbahnbauten in der Türkei vom örtlichen Standpunkt aus zurückwirken können. Iswolski.

216. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in London an den russischen Außenminister vom 26. März/8. April 1910. — Nr. 75. Ihr Telegramm Nr. 457 erhalten. Hardinge ist auf Urlaub; habe mit Mallet gesprochen. Eine ähnliche Mit-



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teilung ist gestern hier vom französischen Geschäftsträger gemacht worden, dem ebenso wie mir geantwortet worden ist, daß vor einigen Tagen ein Telegramm vom englischen Botschafter in Konstantinopel eingetroffen sei, demzufolge ein baldiger und für Deutschland günstiger Abschluß der Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei hinsichtlich der Ersetzung der Zollerhöhung durch den Überschuß der Zehntensteuer zu erwarten sei. Sir G. Lowther ist beauftragt worden, in Konstantinopel einen Protest einzureichen, da man hier der Ansicht ist, daß eine derartige Kombination unzulässig sei und nur dazu diene, der Pforte die Möglichkeit zu geben, den Ausfall in der Zehntensteuer durch die Mehreinnahmen aus den Zöllen zu decken. Soviel man weiß, ist der Uberschuß der Zehntensteuer fürs erste noch nicht frei, und die türkische Regierung wird über diesen erst in einigen Monaten verfügen können. Mallet fügte hinzu, man habe gleichzeitig bei der Pforte angefragt, welche Vorteile England erwarten könne, wenn das deutschtürkische Abkommen letzten Endes doch abgeschlossen werden sollte. Etter.

217. Telegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 27. März/9. April 1910. Der hiesige französische Botschafter hat mir mitgeteilt, daß er selbst die vom französischen Botschafter in Petersburg mitgeteilten Nachrichten über ein für Deutschland günstiges Ergebnis der Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei über die Verwendung des Überschusses der Zehntensteuer für die Kilometergarantie der Bagdadbahn nach Paris übermittelt, daß er aber erst nachher von der Erklärung Lowthers Kenntnis erhalten habe. Der Widerstand des Londoner Kabinetts und die Erneuerung seiner

— Ansprüche auf Angelegenheit Mißvergnügen einer gewissen

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den Abschnitt Bagdad—Basra hat die ganze wieder zum Stillstand gebracht zum großen Deutschlands und der Türkei und auch zu Enttäuschung der französischen Regierung. Tscharykow.

218. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an das russische Außenministerium vom 1./14. April 1910. Ich habe heute eine Beschwerde Schünemanns erhalten. Die Verwaltung der Chaussee Djulfa—Täbris weigert sich, eine von ihm gekaufte Lokomobile unter dem Vorwand, daß ihr Gewicht zu groß sei, durchzulassen. Schünemann weist darauf hin, daß Lokomobilen, die von der Verwaltung der Chaussee und von einem persischen Staatsangehörigen gekauft worden seien, viel schwerer wiegen. Ich halte es nicht für erwünscht, der deutschen Einfuhr nach Persien so offen künstliche Hindernisse in den Weg zu legen. Poklewski-Koziell.

219. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 3./16. A pril 1910. — Nr. 492. Ich telegraphiere unserem Gesandten in Teheran. Nr. 1. Unter Nr. 2 erhalten Sie den Auszug aus einem Memorandum des englischen Botschafters über deutsche Forderungen in Persien. Auch wir haben den Vorschlag des Berliner Kabinetts erhalten, die Verhandlungen des Jahres 1907 wiederaufzunehmen, und der deutsche Botschafter hat uns



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mündlich zu verstehen gegeben, daß es außer der eigLischen und russischen Zone in Persien auch noch eine neutrale gäbe, die allen übrigen Staaten offen sei. Die Bedngungen Deutschlands erscheinen uns in mancher Hinsiclt unannehmbar, und deshalb müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß wir auf Persien einen starken Druck auszuüben haben werden, um zu verhindern, daß Ausläidern irgendwelche für uns gefährliche Konzessionen erteilt werden. Wenn wir dies erreicht haben, so werden wir uis weiter mit dem Berliner Kabinett verständigen könntn; dies scheint uns natürlich wünschenswert. Wenn iie endgültige Bestätigung von Konzessionen vom Regenten abhängt, so kann man ihm erklären, daß die Gewährung von Konzessionen an Ausländer ohne vorherigen Neinungsaustausch mit Rußland und England von uns als eine feindselige Handlung betrachtet werden und für Persien die schwersten Folgen nach sich ziehen werde. Gleichseitig beauftragen wir Benckendorff, das Londoner Kabinett zu veranlassen, in dieser Frage gemeinsam mit uns vorzugehen. Was die Zwangsmaßregeln anlangt, die wir nötigenfalls Persien gegenüber anzuwenden hätten, so sollen sie in diesen Tagen Gegenstand einer besonderen Beratung bilden, und wir werden uns dann darüber mit London verständigen müssen. Telegraphieren Sie uns dringend, welche Maßregeln Sie Ihrerseits vorschlagen. Sasonow.

220. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 3./16. April 1910. — Nr. 493. Ich telegraphiere nach Teheran unter Nr. 2. Der deutsche Reichskanzler hat dem englischen Botschafter in Berlin die deutschen Wünsche hinsichtlich Persiens fol-



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gendermaßen formuliert. Die ganze Frage sollte einen Teil eines allgemeinen politischen Abkommens zwischen Deutschland und England bilden. Rußland und England hätten das Prinzip der offenen Tür zu bestätigen. Als Gegenleistung für den deutschen Verzicht auf Eisenbahn-, Telegraphen- und andere Konzessionen in der englischen Einflußsphäre hätte England Deutschland einen angemessenen Anteil an der Lieferung der Materialien usw. zu gewähren. Deutschland beansprucht bei persischen Anleihen denselben Anteil wie dritte Staaten; dasselbe gilt für die Anstellung von Ausländern. Deutschland verzichtet auf ähnliche Konzessionen in der russischen Zone; Rußland räumt seinerseits Deutschland Gleichberechtigung in allen kommerziellen Fragen ein, wird seine Eisenbahnen in Nordpersien mit der Bagdadlinie vereinigen und verpflichtet sich, den internationalen Handel auf dieser Linie nicht zu behindern und die Verbindung der deutschen Linie mit Teheran zu ermöglichen. Bethmann-Hollweg wies auf die Behinderung des ausländischen Handels durch das Verbot des Transitverkehrs durch den Kaukasus hin und fügte hinzu, daß wir, falls das Verbot des Baues der Linie Chanikin—Teheran aufrechterhalten bleibe, uns nach Fertigstellung unserer Eisenbahnen in Nordpersien dort ein Handelsmonopol sichern würden, das auch den englischen Interessen nicht entsprechen würde. Sasonow.

221. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers den russischen Botschafter in London vom 3./16. A pril — Nr. 494.

an 1910.

Ich beziehe mich auf meine Telegramme nach Teheran Nr. 1 und 2. Aus der Mitteilung Bethmann-Hollwegs kann man ersehen, daß Deutschland entschlossen ist, eine Stel-

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lung in Persien zu beanspruchen, welche den russischen und englischen Interessen in diesem Lande zuwiderläuft. Die Hoffnung, uns mit Deutschland zu verständigen, indem wir ihm in der Bagdadbahnfrage Zugeständnisse machen, läßt sich augenscheinlich nicht verwirklichen. Unter diesen Umständen scheint es nur einen Ausweg zu geben, nämlich den eines energischen Druckes auf Persien, um zu verhindern, daß den Deutschen als Entgelt für finanzielle Unterstützung Konzessionen erteilt werden, die unseren Interessen schaden könnten. Rußland und England müßten also auch vor den äußersten Maßregeln nicht zurückschrekken, und wir schlagen vor, in die Beratung dieser Maßregeln einzutreten. Einstweilen können die Vertreter der beiden Regierungen dem persischen Regenten die in meinem Telegramm nach Teheran erwähnte Erklärung abgeben. Dies alles schließt natürlich die Möglichkeit nicht aus, zu einem annehmbaren Abkommen mit Berlin zu gelangen, und je geringer die Aussicht auf eine direkte Verständigung Berlins mit der persischen Regierung sein wird, desto leichter wird es zu erreichen sein. Wir beraten augenblicklich, wie wir die deutschen Vorschläge beantworten sollen, und wir werden nicht verfehlen, uns vorher mit dem Londoner Kabinett zu verständigen. Obiges bitte ich Sie zur Kenntnis Greys zu bringen und uns seine Antwort zu telegraphieren. Sasonow.

222. Telegramm des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 6./19. April 1910. — Nr. 78. Ihr Telegramm Nr. 495 erhalten. Hardinge hat mir in Abwesenheit Greys keine Antwort geben können. Per-



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sönlich fürchtet, er, daß die türkische Regierung eine abschlägige Antwort erteilen wird. Benckendorff.

223. Telegramm des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 6./19. April 1910. — Nr. 79. Ihre Telegramme Nr. 492, 493 und 494 erhalten. Habe Hardinge vertrauliches Memorandum übergeben, der mir versprach, Grey, der abwesend ist, um dringende Instruktionen zu bitten. Er sagte mir, daß er persönlich infolge der deutschen Forderungen ein Einvernehmen zwischen England und Deutschland über die Bagdadbahn nicht mehr für möglich halte. Auch würde sich die englische Regierung seiner Ansicht nach entschließen, von der Türkei eine Konzession für die zum Meere führende Linie zu verlangen. Benckendorff.

224. Auszug aus einem Privatschreiben des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 8./21. April 1910. Das türkische Marineministerium hat im letzten Jahre eine energische und zielbewußte Tätigkeit entfaltet. Wir selbst bauen im Schwarzen Meer keine neuen Schiffe (der „Ewstafi" und „Johann Slatoust" sind immer noch nicht fertig) und ersetzen nicht einmal die alten. Während die Türkei unter diesen Umständen — sozusagen beiläufig — angeblich gegen Griechenland rüstet, steht sie im Begriff uns einzuholen und wird uns unbedingt überholen, wenn



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wir auf unserem jetzigen Standpunkt stehen bleiben. Jedenfalls haben uns die Türken, was die Hochsee-Torpedoboote anlangt, übertroffen. Die in Deutschland gekauften Schiffe laufen 35 Knoten, während die besten der unsrigen es nur auf 25 bringen (und dies auch nur auf dem Papier, in Wirklichkeit auf 18). Sollten die Türken jene Schiffe des Dreadnought-Typus käuflich erwerben, über die unser Marineagent in Paris berichtet, so wird die Herrschaft im Schwarzen Meere von uns auf die Türkei übergehen. Dies können wir aber in keinem Fall zulassen. Denn dies wäre gleichbedeutend mit der Zerstörung des nützlichen Werkes Alexanders III. Gleichzeitig würde dadurch die Grundlage der russisch-türkischen Beziehungen zu unsern Ungunsten verschoben. Solange wir im Schwarzen Meere stärker sind, können wir auf die eine oder andere Weise den Bosporus und die ganze türkische Küste bedrohen. Die Türken fürchten uns, schätzen unsere guten Beziehungen und müssen mit unsern speziellen Interessen in Kleinasien und Persien trotz aller Einflüsterungen Deutschlands rechnen. Sobald aber die Türken, was Gott verhüte, den jetzigen Augenblick benutzen und die Vorherrschaft im Schwarzen Meere an sich reißen, was seit der Zeit Peters des Großen nicht vorgekommen ist, wird in einem ganz anderen Tone verhandelt werden müssen, und wir werden gezwungen sein, entweder den Türken in diesen wichtigen aktuell gewordenen Fragen nachzugeben oder den Fehdehandschuh aufzunehmen, wobei wir aber in maritimer Hinsicht von Anfang an entwaffnet wären. Was ist besser? Wir müssen handeln, aber natürlich zielbewußt, der gegenwärtigen Situation entsprechend und ohne einen einzigen unnützen Matrosen oder Rubel zu opfern. Tscharykow.



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225. Bericht des russischen Botschafters in Konstantinopel an den russischen Außenminister vom 8./21. April 1910. Der englische Botschafter hat mir in diesen Tagen vertraulich den Wortlaut seiner Mitteilung an den türkischen Minister des Auswärtigen vorgelesen, die er ihm in der Frage der Bagdadbahn auf Grund der in dem Telegramm unseres Londoner Geschäftsträgers vom 26. März erwähnten Instruktionen machen will. Diese Mitteilung entspricht dem Inhalt des genannten Telegramms mit dem einen Unterschied, daß Lowther nicht anfragt, welche Vorteile England erzielen könnte, wenn die deutsch-türkische Abmachung letzten Endes doch verwirklicht würde, sondern direkt darauf hinweist, daß diese Vorteile darin bestehen müßten, daß England zusammen mit Deutschland sich am Abschnitt Bagdad-Basra beteilige. Es ist mir aufgefallen, daß diese Forderung bedeutend milder ist als das, wovon bis jetzt gesprochen wurde, und worüber ich auf Grund der Erklärungen des Botschafters in meinem vorhergehenden Telegramm berichtet habe, daß nämlich „der Abschnitt Bagdad—Basra den Engländern überlassen werden müßte". Auf meine Frage, was unter „gemeinsamer Beteiligung" zu verstehen sei, antwortete der Botschafter, daß die Beteiligung derart sein müßte, daß dadurch die Interessen des englischen Handels gewahrt würden. Dies bedeutet augenscheinlich, daß die englische Regierung ihren ursprünglichen Wunsch, die ausschließliche Verfügung über den Abschnitt Bagdad—Basra zu erhalten, für unausführbar ansieht und jetzt bereit ist, ihn mit Deutschland zu teilen, wobei sie jedoch in der Frage der Erbauung und der Ausbeutung dieser Linie die entscheidende Stimme für sich beansprucht. Übrigens hat Lowther der Pforte noch nicht die erwähnte Mitteilung gemacht, da zwischen ihm und dem türkischen Botschafter in London ein Mißverständnis entstanSlebert, Beockendorff. I.

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den ist. Tewfik Pascha hatte hierher telegraphiert, daß das Londoner Kabinett mit der Zollerhöhung einverstanden sei. ebenso mit der Ersetzung der Zolleinnahmen für die Kilometergarantie durch die Zehntenabgaben, was den von Lowther erhaltenen Instruktionen völlig widerspricht. Dieses Mißverständnis wird von Lowther auf eine gewisse Gedächtnisschwäche Tewfik Paschas zurückgeführt und wird wohl nach Eintreffen des entsprechenden schriftlichen Berichts des türkischen Botschafters aufgeklärt werden. Erst dann wird Lowther der Pforte die in Aussicht genommene Mitteilung machen. Mein englischer Kollege hat mir nicht verheimlicht, daß er wenigstens insofern die ganze Sache als einen Mißerfolg betrachtet, als es Deutschland gelingen wird, mit Hilfe der Zehntensteuer die Bahn bis nach Bagdad zu führen, unabhängig davon, ob England und die anderen Mächte der Erhöhung des türkischen Zolles zustimmen oder nicht. Mir scheint es, daß er und insbesondere Baron Marschall recht haben, der noch neulich, wie uns genau bekannt ist, behauptet hat, daß die Deutschen die Anatoiische Bahn bis nach Bagdad führen werden, da nur sie allein diese so wichtige Linie bauen könnten, deren die Türkei dringend bedarf. Andererseits sind die letzten, bedeutend bescheideneren Forderungen der Engländer hinsichtlich der „Beteiligung" an der Strecke zwischen Bagdad und Basra für die Türkei viel annehmbarer, als die früheren, die einer Aufteilung der Türkei in Interessensphären gleichkamen. Da bei den letzten Berliner Verhandlungen im verflossenen Herbst die Deutschen augenscheinlich bereit waren, den Engländern den Abschnitt Bagdad—Basra zu überlassen, so muß man mit der Möglichkeit der Beilegung des jetzigen Bagdadbahnkonfliktes durch den Abschluß einer Verständigung zwischen England, Deutschland und der Türkei rechnen. Für die Franzosen wird dies nicht angenehm sein, doch finden sie eine Kompensation in der Beteiligung ihres Ka-



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pitals am Unternehmen Helif—Bagdad, wobei die Zehntensteuer eine gute Sicherheit bietet. Ungeklärt ist nur die Frage, welche Kompensation wir verlangen können. Deutschland und England müssen uns mindestens irgendwelche Zugeständnisse machen schon in Anbetracht des Umstandes, daß die englisch-deutschen Verhandlungen, wenn auch nicht unter unserer direkten Beteiligung, so doch mit unserem Wissen geführt werden, wobei das Londoner Kabinett kaum das Recht hat, eine endgültige Vereinbarung mit Deutschland über eine Frage zu treffen, welche so unmittelbar die persischen Angelegenheiten betrifft, ehe nicht auch unsere Interessen in entsprechender Weise gesichert sind. Aus dem obigen Telegramm unseres Geschäftsträgers muß man schließen, daß England uns rechtzeitig mitteilen wird, welche Vorteile es für sich erzielen zu können glaubt. Dann wäre auch für uns der Zeitpunkt gekommen, unsere Wünsche geltend zu machen, z. B. daß Deutschland darauf verzichte, die Linie Bagdad—Chanikin zu bauen, oder von der persischen Regierung eine Konzession für die Linie Chanikin—Teheran zu erlangen zu suchen. Wenn die letzte Einmischung Deutschlands in Persien tatsächlich mit der Frage der Bagdadbahn zusammenhängt und nicht die ernstliche Absicht Deutschlands bedeutet, sich aktiv an den persischen Angelegenheiten zu beteiligen, so darf man annehmen, daß Deutschland zu einem Kompromiß nicht nui mit England, sondern auch mit uns bereit ist. Tscharykow. 226. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den Botschafter in London vom 9./22. April 1910. — Nr. 523. Ihr Telegramm Nr. 79 erhalten. Da die Bagdadbahnverhandlungen und die damit zusammenhängenden Fragen 19*

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äußerst verwickelt sind, möchten wir gern wissen, was Hardinge meinte, als er auf die Unmöglichkeit eines englisch-deutschen Übereinkommens in der Bagdadbahnfrage hinwies, und welche zum Meere führende Linie gemeint ist, für die England eine Konzession von der türkischen Regierung verlangt. Sasonow. 227. Telegramm des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 10./23. April 1910. — Nr. 80. Ihr Telegramm Nr. 533 erhalten. Es wird schwer sein, eine Antwort zu geben, ehe Grey am nächsten Freitag zurückkehrt. Hardinge hat mir gesagt, daß die neuen im Laufe einer Unterredung zwischen Bethmann und Goschen gestellten Forderungen der deutschen Regierung keinen Raum für die Hoffnung ließen, daß ein englisch-deutsches Ubereinkommen werde erzielt werden; daß die englische Regierung fürs erste der deutschen keine Antwort zu geben beabsichtige und sich darauf beschränken werde, in Konstantinopel die Konzession für eine zum Meere führende Bahn zu verlangen, wie ich annehme, in Verbindung mit dem französischen Projekt Tripolis—Horns—Bagdad. Benckendorff. 228. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 10./23. A pril 1910. — Nr. 531. Unser Gesandter in Teheran telegraphiert am 6./19. April unter Nr. 175: Ich bin der Ansicht, daß wir, bevor irgend welche weiteren Schritte unternommen werden, das



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Resultat der Ministerkrise abwarten müssen. Wenn ein Kabinett aus radikalen Elementen gebildet wird, welches Rußland und England kein Vertrauen einflößt, und von dem zu erwarten steht, daß es trotzdem Verhandlungen führen wird, die mit den Forderungen unserer letzten gemeinsamen Note nicht übereinstimmen, so müßte man der persischen Regierung erklären, daß Rußland und England vor nichts zurückschrecken werden, um die Perser zu zwingen, ihre Politik mit den Forderungen der genannten Note in Einklang zu bringen. Es ist für uns vorteilhafter, uns an diese gemeinsame Note zu halten, da sie unsere Interessen vollkommen schützt und Deutschland in ihr nicht erwähnt wird. Wenn wir einen solchen Schritt tun, so müssen wir bereit sein, nötigenfalls die letzten Konsequenzen daraus zu ziehen, da die geringste Nachgiebigkeit unsererseits unser Ansehen hier auf lange erschüttern würde. In Anbetracht des Ernstes der Lage könnten folgende Zwangsmaßregeln Persien gegenüber angewandt werden: 1. Die Weigerung der beiden Gesandtschaften, irgend welche Beziehungen zum Kabinett zu unterhalten, das uns kein Vertrauen einflößt. 2. Die Erklärung, daß unsere Truppen aus Persien nicht abberufen, sondern im Gegenteil bis zum Normalbestand werden verstärkt werden. 3. Die Forderung der sofortigen Bezahlung der persischen Schulden und die darauf folgende Besetzung der Zollämter. 4. Die Drohung, Truppen nach Teheran zu schicken. Letztere Maßregel ist nicht wünschenswert und kann Unruhen hervorrufen, aber ich glaube, daß die Drohung allein genügen würde, und daß man sie nicht wird auszuführen brauchen. Sasonow. 229. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 12./25. April 1910. Der französische Gesandte hat von seiner Regierung gehört, daß ein gewisser Cohen aus Teheran in Paris ange-

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kommen sei, welcher von einem der persischen Minister das Vorzugsrecht zum Abschluß einer Anleihe von 200 Millionen Franken unter Garantie der Zoll- und Telegrapheneinnahmen erhalten habe. Der Hauptzweck der Anleihe besteht darin, daß Persien den Regierungen Rußlands und Englands und den beiden Teheraner Banken seine Schulden abzahlt. An dieser Finanzoperation sind vier große französische Banken interessiert, u. a. Crédit Lyonnais und Banque de Paris. Zum 7. Mai soll eine besondere persische Kommission zu Verhandlungen nach Paris kommen, und das Vorzugsrecht ist vier Monate gültig vom Tage der Ankunft der Kommission an gerechnet. Cohen ist nach Teheran zusammen mit dem Juwelier gekommen, der die persischen Kronjuwelen schätzen sollte ; er sagte er wäre sein Begleiter, und hat dem hiesigen französischen Gesandten von dem wirklichen Zweck seiner Ankunft, welche überhaupt unbemerkt geblieben ist, nichts gesagt. Auf die Frage meines französischen Kollegen, wie die russische Regierung einem solchen Projekt gegenüberstehe, sagte ich, daß die Bezahlung der uns geschuldeten Summen unseren Interessen durchaus nicht entsprechen könne, da auf diese Weise dem politischen Einflüsse von Ausländern die Tür geöffnet werde. Aus demselben Grunde könnten wir auch keine ausländische Kontrolle irgend welcher persischer Staatseinnahmen in unserer Zone zulassen. Der französische Gesandte hat in obigem Sinn nach Paris telegraphiert. Die Option ist wahrscheinlich vom Finanzminister oder vom Minister der öffentlichen Arbeiten erteilt worden, welche augenscheinlich nicht mehr dem neuen Kabinett angehören werden. Nachdem das neue Ministerium gebildet sein wird, werden wir mit Marling versuchen, den Text dieses Dokuments zu erhalten. Unserer Ansicht nach, die auch von Naser-ul-Mulk geteilt wird, hat die von einem Minister ohne Kenntnis des Kabinetts und ohne vorherige Billigung des Parlaments erteilte Option keine gesetzliche Kraft. Es scheint mir auch, daß, nachdem wir auf das Vetorecht verzichtet haben, es ebenso wirksam sein wird, wenn

— 295 — wir irn gegebenen Augenblick das oben erwähnte Prinzip hinsichtlich des ausländischen Einflusses aufstellen. Pökle wski-Koziell.

230. Telegramm des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 12.¡25. April 1910. Nr. 82. In Beantwortung Ihres Telegramms Nr. 523. England verlangt die Konzession zu einer Eisenbahn, die Bagdad mit dem Persischen Golf verbindet. Das Londoner Kabinett wird diese Konzession auf alle Fälle verlangen, unabhängig davon, ob die französische Forderung einer Konzession Homs-Bagdad zu einem Ergebnis führt oder nicht, um auf diese Weise eine vollendete Tatsache zu schaffen. Benckendorff.

231. Schreiben des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen A ußenminister vom 13./26. April 1910. Ihr Telegramm Nr. 523 über den augenblicklichen Stand der englisch-deutschen Verhandlungen über die Bagdadbahnfrage habe ich erhalten und es auf telegraphischem Wege beantwortet. In meiner Unterredung mit Sir Charles Hardinge hat dieser nicht weiter ausgeführt, warum er im jetzigen Augenblick nicht an einen Erfolg der deutsch-englischen Verhandlungen glaubt. Er beschränkte sich darauf, zu sagen, daß, weit entfernt davon, zu den zwischen Cassel und Gwinner in Aussicht genommenen Bedingungen zurückzukehren, die ja schon von England als unannehmbar erklärt worden seien,

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das Berliner Kabinett heute noch viel weitergehende Forderungen anmelde als diejenigen, die die Tür für weitere Verhandlungen geschlossen hatten; er sagte mir, die englische Regierung habe nicht die Absicht, eine direkte Antwort auf die Eröffnung, die Bethmann-Hollweg Goschen gemacht hat, zu geben, sondern eine vollendete Tatsache zu schaffen. Ich habe gestern diese Frage wieder aufgenommen. Sir Charles sagte mir, England werde von der Pforte eine Konzession verlangen und darauf bestehen, bis ihm erlaubt werde, eine Bahn zu bauen, welche Bagdad mit dem Persischen Golf verbinden würde, und dies auf alle Fälle unabhängig vom französischen Projekt einer Konzession für eine Verbindungslinie Bagdad—Syrien. Ich glaube jedoch nicht, daß man diese Worte so verstehen muß, daß die Wiederaufnahme der englisch-deutschen Verhandlungen in Zukunft prinzipiell ausgeschlossen ist. England will, ehe es im geeigneten Zeitpunkte die Verhandlungen wieder aufnimmt, ein sicheres Pfand in der Hand haben; schon lange denkt es daran, heute scheint es sich dazu entschlossen zu haben. Dies ist übrigens ein Verfahren, auf welches Sir Charles Hardinge mir gegenüber schon vor einiger Zeit und zu wiederholten Malen vertraulich hingewiesen hat, indem er davon sprach, welchen Vorteil es für uns bedeuten würde, wenn wir uns ohne Zeitverlust ein Pfand sicherten, so z. B. die Konzession einer Linie Teheran—Chanikin oder sogar Samsun—Siwas. Benckendorff.

232. Schreiben des russischen Botschafters in Rom an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 13./26. April 1910. Unser Ministerium hat mir Mitteilungen zukommen lassen, die uns von Seiten Deutschlands und Österreichs in



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der persischen Frage gemacht worden sind. Da hierbei ein gewisser Unterschied in der Handlungsweise des italienischen Botschafters in Petersburg und des italienischen Geschäftsträgers in London zutage getreten ist, so habe ich Bollati gefragt, welcher von den beiden italienischen Vertretern die wirkliche Ansicht seiner Regierung zum Ausdrucke gebracht habe. Bollati stellt auf das entschiedenste in Abrede, daß die italienischen Vertreter beauftragt worden seien, uns irgendeine Mitteilung hinsichtlich der persischen Anleihe zu machen, sondern daß sie der italienischen Regierung nur Informationen über die Bedingungen der geplanten Finanzoperation zukommen lassen sollten. . . . Daß die Anfrage des italienischen Geschäftsträgers in London mit den Mitteilungen des deutschen und österreichischen Botschafters zeitlich zusammenfiel, ist einem bloßen Zufalle zuzuschreiben, und die italienische Regierung besteht darauf, daß wir in diesem Zusammentreffen nicht eine Verabredung zwischen den Mitgliedern des Dreibundes erblicken sollen. Der Wirkungskreis des Dreibundes ist geographisch genau umschrieben. Wie mir Bollati sagte, hat man während des hiesigen Aufenthalts des deutschen Reichskanzlers über Persien und die persische Anleihe gar nicht gesprochen. Ich glaube, man kann die Erklärung Bollatis für um so befriedigender halten, als sie sich auf eine Frage bezieht, die vor dem Amtsantritt San Giulianos entstanden ist. Der hiesige englische Botschafter hat es immerhin für nötig befunden, in seiner ersten Unterredung mit dem neuen Minister auf die persische Frage zurückzukommen. San Giuliano hat ihm auf das bestimmteste erklärt, daß Italien durch den Dreibundvertrag nur in genau festgesetzten Fragen gebunden sei, und daß es in allen übrigen vollkommene Handlungsfreiheit besitze, wobei es ausschließlich seine eigenen nationalen Interessen berücksichtige. Dolgoruki.

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283.

Schreiben des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 13./26. April 1910. In Abwesenheit Sir Edward Greys habe ich gestern Hardinge eine Übersetzung Ihres Telegramms Nr. 531 übergeben. Der Unterstaatssekretär sagte mir, er werde sie dem Minister unverzüglich mitteilen. E r bemerkte, er teile vollkommen die von Ihnen gebilligte Ansicht Poklewskis, daß man vor allem den Ausgang der persischen Ministerkrise abwarten und sich nicht beeilen solle, Schritte zu tun, die, wenn das jetzige Ministerium sich halten könne, nur die Autorität der uns günstig gesinnten Minister untergraben und eine neue Krise hervorrufen könnten. Man verfügt hier in dieser Hinsicht über keine neuen Informationen. Was den Gegenstand selbst und die in Aussicht genommenen Maßregeln anlangt, so hat Sir Charles sich nicht geäußert und überläßt dies Grey. Er schien mir jedoch optimistischer zu sein als das letzte Mal und eine Beratung über derartige Maßregeln als verfrüht zu betrachten. Ich weiß, daß er nötigenfalls energische Maßregeln billigt; das letzte Mal hat er jedoch als seine persönliche Ansicht geäußert, man müsse in Teheran eine Erklärung abgeben, daß jede Handlung der persischen Regierung, die den Interessen der beiden Staaten schaden könnte, von letzteren als ein feindseliger Akt betrachtet und für Persien die schlimmsten Folgen nach sich ziehen würde, ohne jedoch bestimmte Drohungen hinzuzufügen. Er hoffe, daß dies genügen werde, ohne daß wir uns von Anfang an durch die Ankündigung von Zwangsmaßregeln zu kompromittieren brauchten. Ich selbst glaube, daß wir uns die Sache reiflich überlegen müssen, namentlich was die äußerste Maßregel einer eventuellen Besetzung Teherans anbelangt. Es besteht für mich kein Zweifel, daß letztere die Natur unserer bisherigen militärischen Aktion völlig verändern würde.

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Die Besetzung von Täbris und von Kaswin war keine feindliche Intervention und hatte den Charakter einer der persischen Regierung zur Aufrechterhaltung der Ordnung geleisteten Hilfe. Teheran zu besetzen, um die persische Regierung zu zwingen, uns das zu bewilligen, was sie uns auf diplomatischem Wege verweigert, ist nichts anderes als eine kriegerische Aktion, die einen Wechsel im Ministerium und die Bildung einer von uns aufgedrängten Regierung zur Folge haben würde; eine solche Regierung würde unter den gegenwärtigen Verhältnissen sich nur so lange halten können, als die Okkupation dauert. Diese neue Regierung würde Bedingungen anzunehmen haben, die das Resultat einer direkten Einmischung sind und in einem diplomatischen Schriftstück Ausdruck gefunden haben, das einem aufgezwungenen Vertrage gleichkommt. Dies ist meiner Ansicht nach die wichtigste Erwägung. Ein derartiges Resultat müßte einen ausdrücklichen Protest seitens dritter Staaten hervorrufen. Wir sind gewarnt, daß dieser dritte Staat Deutschland sein wird, welches zur Theorie der offenen Tür zurückkehren wird, als ob nichts vorgefallen wäre. Der Konflikt würde auf diese Weise seinen Charakter verändern und aus einer russisch-persischen eine allgemein europäische Frage machen. Benckendorff.

234. Geheimtelegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel an das russische Außenministerium vom 14./27. April 1910. Nr. 200. Ich habe heute mit dem Großwesir vertraulich über die türkischen Flottenrüstungen Rücksprache genommen. Durch unsern ersten Dragoman vorbereitet, hat mir Hakki Pascha gesagt, daß die besagten Rüstungen nichts anderes

— 300 — bezwecken, als Feindseligkeiten Griechenlands, welches seine Flotte durch den Kreuzer „Awerow" verstärkt hat, entgegentreten und leichte Wachtschiffe ins Rote Meer und den Persischen Meerbusen schicken zu können. Auch muß die Türkei in Betracht ziehen, daß Bulgarien eine kleine Minenflotte besitzt. Weder mit Rußland, noch mit Frankreich und England oder mit Österreich kann die Türkei den Kampf aufnehmen, und sie beabsichtigt, dies auch gar nicht zu tun, da sie durch das Landheer und durch Bündnisse geschützt ist. Die Ausgaben für die Flotte sind auf 5 Millionen türkische Pfund, auf 10 Jahre verteilt, beschränkt. Hiervon müssen noch die freiwilligen Beiträge und andere Prozente abgezogen werden. Der Marineminister hat in der Tat die Absicht, einen Kreuzer von 15 000 Tonnen, welcher in ein oder eineinhalb Jahren fertig ist, zu erwerben. Das ganze Bauprogramm wird aber vom Ministerrate neuerdings nachgeprüft werden, da man nur über geringere Geldmittel verfügt, als man anfänglich glaubte. Der Großwesir persönlich hält das Programm des Marineministers für zu weitgehend. Die türkische Regierung beabsichtigt keineswegs, in einen Wettbewerb mit uns zu treten, da sie ja unser Flottenprogramm im Schwarzen Meer stets rechtzeitig kennen lernen kann und von der Erhaltung der Freundschaft zwischen den beiden Ländern überzeugt ist. Der Großwesir gab zu, daß die Türkei, um ein Gegengewicht gegen den „Awerow" zu bilden, keine Schiffe brauche, welche die jetzigen russischen Panzerschiffe des Schwarzen Meeres überträfen, er hat sich aber nicht entschlossen, mir die Versicherung abzugeben, daß der in Aussicht genommene Kreuzer nicht stärker als die erwähnten Einheiten sein oder daß er nicht im Lauf deB nächsten Jahres gekauft werden werde. Der Großwesir sieht jedoch irgend welche Geheimhaltung in dieser Frage für unangebracht an; er versprach mir, mich hinsichtlich der Beschlüsse des türkischen Ministerrats über die Verstärkung der türkischen Flotte auf dem laufenden zu halten. Tscharykow.

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235. Telegramm des russischen Botschafters in Paris an das russische Außenministerium vom 15./28. April 1910. — Nr. 25.

Aus Teheran zurückgekehrt, hat Cohen niemandem nähere Mitteilungen gemacht und nur die Unterstützung der französischen Regierung nachgesucht. Diese ist ihm verweigert worden, und man hat ihm erklärt, man werde hier nur solche finanziellen Operationen zulassen, die Rußland und England billigen würden. Den anderen werde man die Kotierung an der Börse verweigern. Übrigens nehmen die hauptsächlichsten Kreditanstalten an diesem internationalen Syndikate kaum teil. Der Außenminister hat mir die Versicherung gegeben, daß Frankreich in persischen Fragen nichts zulassen werde, was Rußland und England unangenehm sein könnte. Die finanziellen Kreise sind hiervon benachrichtigt worden. Nelidow.

236. Telegramm des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 21. April/4. Mai 1910. — Nr. 85.

Ihr Telegramm Nr. 523 erhalten. Grey hat mir gestern bestätigt, daß er fürs erste nicht die Absicht habe, den Eröffnungen des deutschen Reichskanzlers Goschen gegenüber Folge zu geben. Nach seiner Ansicht erfordert diese Unterredung keine direkte Antwort; vor allem aber erblickt Grey in dieser Unterredung keine Basis für ernste Verhandlungen, weder für ein politisches Abkommen, noch für eine Lösung der Bagdadbahnfrage. Grey hält es für unzulässig, daß die englische Regierung, welche noch verschiedene Pfeile in ihrem Köcher habe, ihre Beteiligung an diesem Unternehmen von Zugeständnissen in Persien abhängig machen müsse. Grey



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sagt mir, er beabsichtige nicht, der Bagdadbahn systematisch Opposition zu machen, das Londoner Kabinett widersetze sich aber dem Monopol einer anderen Macht für eine Eisenbahnlinie, die für die politischen und wirtschaftlichen Interessen Englands von der größten Bedeutung sei. Hieraus muß gefolgert werden, daß entweder die englische Regierung erreichen wird, daß sie sich an der Bahn unter den von ihr für nötig befundenen Bedingungen beteiligt, und zwar ohne Zugeständnisse in Persien zu machen, oder aber die englischen Interessen werden gewahrt werden, indem England den letzten Abschnitt ganz allein baut. Die Konzession ist für den Abschnitt Bagdad—Basra—Persischer Golf verlangt worden. Grey hat der türkischen Regierung zu verstehen gegeben, daß er unter den jetzigen Umständen seine Zustimmung zur vierprozentigen Zollerhöhung nicht geben wird. Er glaubt, daß die Absicht, die Zehntenüberschüsse, die die türkische Regierung für sich selbst braucht, für die Bagdadbahn zu verwenden, nur dann möglich ist, wenn sie die Zustimmung der Mächte zur Zollerhöhung erhält. Grey meint, es handele sich hier nur um ein finanzielles Manöver, Die Erklärungen Greys waren durchaus nicht pessimistisch. Benckendorff.

237. Geheimtelegramm des russischen Botschafters in Konstantinopel an das russische Außenministerium vom 22. April/5. Mai 1910. — Nr. 60. Nachdem ich die Ehre gehabt habe, die geheime Mitteilung vom 20. März/2. April Nr. 247 bezüglich der von der Pforte beabsichtigten Bestellung neuer Schiffe für die türkische Flotte zu erhalten, habe ich nicht verfehlt, unter Mithilfe unseres Marineattaches sowie des Stellvertreters des Ersten Dragomans der mir unterstellten Botschaft die wirkliche Lage dieser wichtigen Angelegenheit zu klären.



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Angesichts der sehr alten freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen dem jetzigen Großwesir und dem Kollegienrat Mandelstamm bestehen, beauftragte ich den letzteren, Hakki Pascha vorsichtig hinsichtlich der Absichten der türkischen Regierung auf dem Gebiete des Schiffsbaues für die Kriegsmarine zu sondieren. Der ausführliche Bericht über die vertrauliche in Frage stehende Unterredung mit dem Großwesir ist in dem in der Anlage abschriftlich beigefügten Schreiben des Kollegienrats Mandelstamm enthalten. Da ich aus der erwähnten Unterredung ersah, daß der Großwesir der Besprechung der betreffenden Frage nicht ausweicht, sondern sich sogar mit einer freundschaftlichen Offenheit dazu verhält, hielt ich es für möglich, mit Hakki Pascha persönlich vertraulich zu sprechen, was ich Euerer Exzellenz im Geheimtelegramm vom 14./27. April Nr. 200 mitzuteilen die Ehre gehabt habe. Schon die Unterredung des Stellvertreters des Ersten Dragomans ist, wie es sich herausgestellt hat, nicht ohne Erfolg geblieben: der Großwesir sagte mir, daß er sich nach dieser Unterredung mit einer schriftlichen Anfrage und einigen Instruktionen an den Marineminister gewandt hätte. Nach der Besprechung mit mir trat in der Angelegenheit der türkischen Bestellungen für die Marine die Verzögerung ein, die die Aufmerksamkeit des Kapitänleutnants Schtscheglow plötzlich auf sich lenkte, und die in meinem Telegramm vom 19. April / 2 . Mai Nr. 203 erwähnt ist. Danach bestätigte der Finanzminister Djavid Bey in seinem Gespräch mit dem Stellvertreter des Ersten Dragomans über eine andere Angelegenheit, die Gegenstand meiner heutigen Depesche Nr. 62 ist, kategorisch alle wesentlichen Erklärungen des Großwesirs, das heißt, daß die Türkei für den Erwerb der Kriegsschiffe nicht mehr als 5 Millionen Lire (zirka 43 Millionen Rubel) ausgeben wird — und dies nach Abzug etwa einer Million für die infolge der gewährten zehnjährigen Ratenzahlung zu entrichtenden Zinsen — daß das

— 304 — Ziel der türkischen Seerüstungen die Erhaltung der Vorherrschaft auf der See über Griechenland sei, und daß diese Rüstungen in keiner Weise mit den russischen Seestreitkräften im Schwarzen Meer zusammenhingen. Ich glaube an die Aufrichtigkeit dieser Worte und erkläre sie mir durch eine dringende politische Überlegung: die Türkei denkt jetzt gar nicht an ein Wetteifern mit Rußland; unsere wohlwollende Haltung ist für sie im höchsten Grade wertvoll, besonders jetzt, wo die Türkei es beabsichtigt, die Unterjochung oder genauer gesagt Eroberung Albaniens unter Behauptung ihrer Position in der kretischen Frage zu verwirklichen. Der Großwesir und seine politischen Freunde verstehen sehr gut, daß es vielleicht in sehr naher Zukunft an uns liegen wird, entweder ihnen zu gestatten, die albanische Angelegenheit, auf die Österreich-Ungarn mit scheelen Augen sieht, ungehindert zu Ende zu führen oder diese durch den einfachen, den Griechen, Bulgaren und vielleicht auch Kurden zu gebenden Wink, sie könnten aus der schwierigen Lage der Türkei für sich Nutzen ziehen, im äußersten Grade zu erschweren. Deshalb scheint mir der psychologische Moment gekommen zu sein, wo wir von den Türken eine gewisse Sicherung unserer Kriegsmarineinteressen auf dem Schwarzen Meer verlangen könnten, und zwar auf dem Wege einer durchaus freundschaftlichen Unterredung Euerer Exzellenz mit dem türkischen Botschafter in Petersburg. Eine wie große vitale Bedeutung diese Frage für die russischen Interessen im nahen Osten hat, ist unter anderem aus der abschriftlich beiliegenden Aufzeichnung des Kapitänleutnants Schtscheglow zu ersehen, die die einschlägige, meiner Depesche vom 19. April/2. Mai d. J. Nr. 59 beigefügte Aufzeichnung des Generalstabsobersten Holmson in beredten Worten ergänzt. Ich möchte meinen, daß wir, falls wir die hiesige gegenwärtig günstige politische Konjunktur ausnutzen, in der



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Lage sein werden, den Bau der großen türkischen Schlachtschiffe zu mäßigen und mit diplomatischen Mitteln zu verlangsamen. Wir müssen uns jedoch vollkommen dessen bewußt sein, daß dieser Weg ein Palliativ darstellt, daß wir auf diese Weise nur Zeit gewinnen, und daß die Möglichkeit dies zu tun nur dazu dienen soll, die Kaiserliche Regierung zur endgültigen Entschließung zu bewegen, die für uns lebenswichtige, durch die patriotische Heldentat des Zaren Alexander III. erlangte militärische Vorherrschaft Rußlands über die Türkei auf dem Schwarzen Meer nicht aus den Händen gleiten zu lassen. Tscharykow.

A n l a g e 1. Undatiertes Geheimschreiben des Stellvertreters des Ersten Dragomans bei der russischen Botschaft in Konstantinopel an den russischen Botschafter in Konstantinopel. Dem Befehle Eurer Exzellenz entsprechend hatte ich am 9./22. April d. J. mit dem Großwesir Ibrahim Hakki Pascha ein Gespräch ganz intimen Charakters über das Thema der ottomanischen Seerüstungen. Ich lenkte die Aufmerksamkeit Hakki Paschas auf das Gefühl der Besorgnis und des Mißtrauens, das die nicht aufhörenden Gerüchte über die groß angelegten Seepläne der Türkei in der russischen Gesellschaft hervorrufen müssen, ja zum Teil bereits hervorgerufen haben. Auch setzte ich den Großwesir von der Anfrage des Herrn Außenministers vom 20. März/2. April 1910 Nr. 247 in Kenntnis, die auf den Berichten unserer Marineattach^s in Paris und London fußt. Dabei wies ich Hakki Pascha auf die Tatsache, daß seit dem vergangenen Frühjahr kein einziges russisches Schiff für das Schwarze Meer gebaut wird, als auf den besten 81 e b e r t , Benckendorfl. I.

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Beweis unserer Friedfertigkeit hin. Angesichts dieser Tatsache, fügte ich hinzu, wäre es äußerst bedauerlich, wenn die Türkei durch den Bau von Dreadnoughts und Panzerkreuzern, die unsere Schwarzmeerschiffe an Stärke übertreffen würden, Rußland gegen seinen Willen zwingen sollte, den Weg des Wettrüstens zu betreten. Der Großwesir erklärte mir ganz kategorisch, daß die türkischen Rüstungen das zweifache Ziel verfolgen: 1. jederzeit stärker zu sein als Griechenland, und 2. eine Flottille von kleinen Kriegsschiffen zu erbauen, die zum Schutz der türkischen Mittelmeerküste, insbesondere des Yemen notwendig ist. Der Gedanke, daß die Seerüstungen der Türkei gegen die Interessen Rußlands gerichtet sein könnten, erscheint dem Großwesir absurd. Dabei sprach Hakki Pascha seine volle Überzeugung aus, daß Rußland und die Türkei nie mehr miteinander Krieg führen werden, da ja das erstere sich erinnere, daß es durch diese Kriege nichts gewonnen, und die letztere wisse, daß sie viel verloren hat. Ferner würde, auch falls es zu einem derartigen unwahrscheinlichen Kriege kommen sollte, Bulgarien im Bunde mit Rußland sein, und die Frage würde sich auf dem Lande und nicht auf dem Meere entscheiden. Wenn schließlich die Türkei eine starke Seemacht werden wolle, so müßte sie mit Frankreich und England, nicht aber mit Rußland konkurrieren; das sei aber unmöglich, da die Türkei dazu keine Mittel besitze. Beachten Sie, fügte der Großwesir hinzu, daß die Regierung nach dem Gesetz vom 1./14. Februar d. J. im ganzen nur 5 Millionen Lire im Laufe von zehn Jahren für die Seerüstungen ausgeben kann. Von diesem Betrage sind noch zirka 1300 000 Lire für die Zinsenzahlung in Abzug zu bringen, da der Bau auf Kredit erfolgen wird; folglich bleiben zu unserer Verfügung nur zirka 3 710 000 Lire. Ferner wird es notwendig sein, einen großen Betrag für den Bau kleiner Schiffe abzuziehen. Für den übrigbleibenden Teil wird es auf diese Weise nur möglich sein — und das auch noch nicht

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bestimmt — einen großen und einen kleinen Kreuzer zu bauen. Die Projekte des Marineministeriums sind überhaupt bescheiden, doch kommen auch sie dem Großwesir als zu kühn vor und werden noch Änderungen erfahren. Im übrigen hat das Marineministerium noch keinen definitiven Plan ausgearbeitet, was daraus hervorgeht, daß der vom Gesetz vorgesehene Kredit von 500 000 Lire für die Seerüstungen noch nicht in das Budget dieses Jahres einbezogen ist. Schließlich sind in London noch keinerlei Abmachungen getroffen worden. Angesichts einer solchen Stimmung des Großwesirs hielt ich es entsprechend den mir erteilten Instruktionen für zeitgemäß, diesen zu fragen, ob der Kaiserliche Botschafter der Kaiserlichen Regierung mitteilen könne, 1. daß die türkischen Seerüstungen das alleinige Ziel verfolgen, die Türkei vor eventuellen feindlichen Anschlägen von Seiten Griechenlands zu sichern, 2. daß der Erwerb von Schiffen, die den gegenwärtigen Bestand der russischen Schwarzmeerflotte an Stärke übertreffen, in das Programm der türkischen Regierung nicht einbezogen ist. Die e r s t e Frage beantwortete der Großwesir, ohne zu zaudern, bejahend, wobei er nur wie auch zu Anfang der Unterredung hinzufügte, daß die Türkei auch den Bau einer Flottille von kleinen Fahrzeugen zum Schutz ihrer Küste beabsichtige. Zum z w e i t e n Punkt bemerkte Hakki Pascha, er könne dafür nicht bürgen, daß auch einer der türkischen Kreuzer etwas stärker als die unseren sein könnte, daß dieser Umstand aber gar keine Rolle in den russisch-türkischen Beziehungen spielen dürfte. Man müßte doch vollkommen wahnsinnig sein, um sich zu entschließen, Rußland im Schwarzen Meere anzugreifen und es also aus der Überlegung heraus, daß die Türkei einen oder zwei stärkere Kreuzer besitzt, mit Krieg zu überziehen; denn mehr würde man nicht bauen können. — „Ferner", fügte der Großwesir hinzu, „werden wir unsere Rüstungen mit Rücksicht auf 20*

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G r i e c h e n l a n d und nicht auf Euch steigern, denn Eure Streit-

kräfte im Schwarzen Meer interessieren uns nicht, da wir von der Dauerhaftigkeit unserer gutnachbarlichen Beziehungen überzeugt sind." Den allgemeinen Eindruck, den ich aus der Unterredung mit dem Großwesir gewonnen habe, fasse ich folgendermaßen zusammen. Hakki Pascha verhielt sich zu meiner Erklärung über den ungünstigen Eindruck, den die der Türkei zugeschriebenen Seerüstungspläne in Rußland hervorgerufen haben, mit größter Aufmerksamkeit und bemühte sich, mich durch Tatsachen davon zu überzeugen, daß die hierauf bezüglichen Gerüchte und Nachrichten unbegründet sind. Als die überzeugendste von allen diesen Tatsachen erscheint natürlich der gegenwärtige Geldmangel der Türkei. Im übrigen macht der Großwesir persönlich den Eindruck eines Menschen, der alle Maßnahmen zum Schutz seines Landes vor einem Angriff von Seiten Griechenlands trifft, jedoch keine aggressiven Absichten gegen Rußland hegt, da er ihre Zwecklosigkeit einsieht. Nichtsdestoweniger folgt aus den eigenen, durchaus aufrichtigen Erklärungen Hakki Paschas, daß die Türkei, indem sie sich gegen Griechenland rüstet, eines schönen Tages, wenn auch für sie selbst unerwartet, im Schwarzen Meere stärker als Rußland sein könnte. Mandelstamm. A n l a g e 2. Geheimbericht des russischen Marineattachis in Konstantinopel an den russischen Botschafter in Konstantinopel. Die nach meiner Rückkehr aus Petersburg hier gesammelten Angaben über die bevorstehende türkische Bestellung zweier Panzerschiffe und eines Kreuzers in England bestätigen durchaus die Euerer Exzellenz schon früher bekannten Tatsachen der Stärkung der türkischen Flotte. Ein solches Wiederaufleben der türkischen Seemacht ist keine zufällige Erscheinung, sondern die logische Folge des erwachenden Selbstbewußtseins der Türkei und vielleicht

— 309 — auch der verwickelten Kombinationen der allgemeinen europäischen Politik. Wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, so sehen wir, wie vor 32 Jahren die Türkei von Rußland geschlagen worden ist. Dieser Krieg, der der Türkei mit dem Verlust beinahe aller ihrer europäischen Besitzungen drohte, mußte ihr natürlich noch einmal die Augen für ihren Erbfeind — Rußland — öffnen, das sich dann im Jahre 1887 beeilt hat, seine Herrschaft auch im Schwarzen Meer durch die Schaffung einer starken Schlachtflotte daselbst zu sichern. Zehn Jahre später bringt das Machtwort des russischen Monarchen den Siegeszug der Türken nach der Hauptstadt Griechenlands zum Stillstand. Diese Ereignisse festigen erneut bei den Türken die innere Erkenntnis der Notwendigkeit der Entwicklung ihrer Militärmacht, und die Verwirklichung dieses innersten Gedankens wird bald durch die Schwächung Rußlands durch den Krieg im fernen Osten, die Vernichtung der Landungsexpedition am Bosporus und die Außergefechtsetzung der veralteten Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte begünstigt. Schon im Jahre 1905 nehmen die Türken unter dem Vorwand des Herumirrens des Panzerschiffs („Potemkin") im Schwarzen Meere die Befestigung des Bosporus in Angriff, indem sie dessen Verteidigung wesentlich besser gestalten, und schaffen gleichzeitig die Minenflotte, die uns bei der Enge des Bosporus mit Erfolg entgegengeführt werden kann. Mit der Einführung der Verfassung macht sich die Türkei ebenso eifrig an die Reorganisation ihrer Armee mit Hilfe von deutschen Instrukteuren; der Regierungsantritt des neuen Sultans und des Jungtürkischen Komitees zeichnete sich durch Volksspenden für die Flotte, den Erwerb von vier Minenkreuzern in Deutschland (die an Schnelligkeit die russischen übertreffen) und durch die beabsichtigte Bestellung der Linienschiffe in England aus. Daraus ergibt sich also, daß die, wenn auch langsame, so doch ständige Entwicklung der Streitkräfte der erwachen-

— 310 — den Türkei nicht von dem einen oder anderen türkischen Regime abhängt, sondern eine durchaus gesetzmäßige Erscheinung ist, denn nur die äußere Sicherheit garantiert die Möglichkeit des Fortschritts sowie die Existenzmöglichkeit des Staates. Andererseits können die zu beobachtenden türkischen Rüstungen mit der allgemeinen politischen Situation Europas zusammenhängen. Die Türkei war seit jeher die politische Waffe, die Europa gegen Rußland führte. Solange das letztere mit Leidenschaft seine Ziele im fernen Osten verfolgte, bestand für Europa keine Notwendigkeit, mit Rußland in Angelegenheiten im nahen Osten zu rechnen, nach 1905 änderte sich aber die Situation, und bei dem heranreifenden Zusammenstoß zwischen Deutschland und England ist es für das erstere höchst wichtig, die Aufmerksamkeit Rußlands nach dem Süden hin abzulenken. Es ist möglich, daß alle obenerwähnten Vermutungen und Erwägungen jeglicher ernsten Grundlage entbehren, und daß man deshalb, ohne sich zu bemühen, in die Geheimnisse der diplomatischen Kanzlei einzudringen, das oben Angeführte als gänzlich ausgeschlossen außer acht läßt, die Möglichkeit aber, daß in achtzehn Monaten bei den Türken Linienschiffe erscheinen werden, bleibt evident. Zur Begründung eines solchen Entschlusses bemüht sich die Türkei, die Notwendigkeit der Seerüstungen gegen Griechenland hervorzuheben; folglich müssen wir uns die vollste Klarheit darüber verschaffen, ob es den türkischen Dreadnoughts in dem alten Streit um Kreta tatsächlich beschieden ist, eine so entscheidende Rolle im Kriege mit Griechenland zu spielen. Nehmen wir an, daß die türkischen Dreadnoughts die griechische Flotte vernichtend schlagen, die griechische Armee aber eine Reihe von Siegen davonträgt und die türkische Hauptstadt besetzt — unter solchen Umständen erscheint es noch zweifelhaft, ob die Türkei Kreta in ihrem Besitz behalten wird; dagegen kann die Türkei,

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auch ohne einen einzigen Dreadnought oder sonst ein Schiff zu besitzen, dennoch durch die siegreiche Besetzung der griechischen Hauptstadt mit einem Schlage die kretische Frage aus der Welt schaffen, denn in diesem Falle werden jegliche Ansprüche Griechenlands auf die Einverleibung Kretas hinfällig, da es keinen Staat mehr geben würde, dem Kreta einzuverleiben wäre. Die Entscheidung bei dem Zusammenstoß zwischen den beiden Grenzstaaten Griechenland und der Türkei hängt also in erster Linie von dem Ausgang nicht des See-, sondern des Landkrieges ab; folglich läßt sich auch der Bau von Dreadnoughts nicht ausschließlich mit der gegen Griechenland gerichteten Rüstung rechtfertigen. Im übrigen läßt es sich kaum bestreiten, daß die Lösung der kretischen Frage zugunsten des einen oder andern Teils natürlich eher von den Schutzmächten als von dem Erscheinen der Dreadnoughts im Mittelländischen Meer abhängen wird. Die Türken wollen sich die Herrschaft nicht nur im Ägäischen, sondern auch im Schwarzen Meer sichern, und, wenn einzelne einfältige Menschen, wie auch Zeitungen sich hierbei verplaudern, so bemühen sich die Staatsmänner und die Regierung geschickt, die Wachsamkeit Rußlands durch liebenswürdige Versicherungen und Hinweise auf Griechenland zu beschwichtigen. So verfuhr Deutschland vor den Augen Englands, indem es vorgab, daß es seine Flotte gegen Rußland baue, und nachher seine Seemacht gegen England wandte. Die Türken sehen es vollkommen ein, daß die Herrschaft im Schwarzen Meere ihnen außerordentliche Vorteile bieten würde. Die Türken wissen, daß die russische Armee, sei es im Zweikampf zwischen ihnen und Rußland, sei es in einer Koalition, auf dem Landwege keinen unmittelbar entscheidenden Schlag gegen die türkische Hauptstadt führen kann, da einerseits die einen Puffer bildenden Balkanstaaten dazwischen liegen, zu denen die Beziehungen Rußlands



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scheinbar platonisch und ungeklärt bleiben [wohl das Ausbleiben einer schriftlichen Militärkonvention mit Bulgarien], andererseits die russische Armee nur langsam durch Kleinasien vorrücken müßte und folglich nur der Transport eines Landungsheeres und das Erscheinen der russischen Flotte eine unmittelbare und bedeutsame Drohung für die Türkei bedeuten. Der Verlust der Herrschaft im Schwarzen Meer durch Rußland wird dagegen der Türkei gestatten, im Rücken unserer in Kleinasien operierenden Armee Landungstruppen auszuschiffen und im Falle des Erfolges sogar Batum und die kaukasischen Gebiete zurückzuerlangen. Auch muß berücksichtigt werden, daß die historische Aufgabe Rußlands — die Sicherung unseres Südens von Seiten des Bosporus her — noch nicht gelöst und voll und ganz dem laufenden Jahrhundert übertragen ist. In demselben Sinne sprach sich wiederholt der Außenminister aus, indem er den Reichsverteidigungsrat darauf hinwies, daß Rußland die Vorherrschaft im Schwarzen Meer nicht einbüßen dürfe, da es in Zukunft gezwungen werden könne, an der Lösung der kommenden Ereignisse auf der Balkanhalbinsel teilzunehmen. Folglich können und dürfen wir die Vorherrschaft der türkischen Flotte auf dem Schwarzen Meere nicht dulden. Doch haben wir sie schon beinahe zugelassen und nicht nur aus dem Grunde, weil die Türken bereits Minenkreuzer von größerer Schnelligkeit als die unseren erworben haben, sondern auch deshalb, weil wir, auch wenn wir jetzt bei uns im Schwarzen Meer mit dem Bau der Schiffe beginnen, sie nicht in achtzehn Monaten werden erbauen können, wie es die Türken mit Hilfe der englischen Werke schaffen werden; jetzt haben wir nicht daran zu denken, ob wir bauen sollen oder nicht, sondern wir müssen dafür Sorge tragen, daß wir mit Hilfe der fremden Industrie in der Frist von achtzehn Monaten bei uns zu Hause die Schiffe erbauen. Al3 Antwort auf die Bestellungen der türkischen Dreadnoughts müssen wir unverzüglich mit den ausländischen



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Firmen über die Erbauung von vier Schiffen in Sewastopol in der gleichen Frist in Verhandlungen treten. Wenn die Gerüchte von diesen Verhandlungen sowie unsere energischen Vorstellungen die Türkei nicht zur Vernunft bringen, so werden wir von Drohungen zu Aktionen übergehen müssen, ohne die daraus erwachsenden Konsequenzen zu fürchten, und diesen Schiffsbau tatsächlich verwirklichen. Einen anderen Ausweg gibt es nicht. Schtscheglow.

338. Telegramm des russischen Botschafters in Tokio an den russischen Außenminister vom 24. April/7. Mai 1910. Die hiesigen Zeitungen verbreiten die Nachricht, daß die Unterzeichnung des russisch-japanischen Vertrages bereits erfolgt sei oder in diesen Tagen erfolgen werde. Da Komura befürchtet, daß ein vorzeitiges Bekanntwerden unseren Absichten schädlich sein könne, wird er morgen in den Zeitungen ein offizielles Dementi veröffentlichen lassen. Gleichzeitig bittet er mich, Ihnen mitzuteilen, daß er eine möglichste Beschleunigung unserer Verhandlungen für wünschenswert halte. Malewski-Malewitsch.

239. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen A ußenminister vom 27. Aprüf 10. Mai 1910. Der König hat mir die Ehre erwiesen, mich heute morgen nach Malborough House einzuladen. Seine Majestät hat auch die anderen Botschafter in ganz privater Audienz empfangen. Der König war sehr bewegt. Nach einigen kurzen



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Worten über seinen persönlichen Schmerz und einigen mir gegenüber geäußerten Liebenswürdigkeiten sagte mir der König, als ich die Beziehungen zwischen England und Rußland erwähnte, daß selbst zurZeit, als diese Beziehungen lange nicht das waren, was sie hätten sein sollen, er stets gewünscht habe, daß die Schwierigkeiten beigelegt würden. Mit der größten Genugtuung habe er gesehen, daß die Verhandlungen zu einem Ergebnis geführt haben; er habe auch jetzt den Wunsch, daß unsere Beziehungen in Zukunft freundschaftlich und vertraulich wie augenblicklich blieben. Er wünsche vor allem, daß dieser befriedigende Zustand ein dauernder werde. „Was mich anlangt, sagte der König, werde ich mein ganzes Leben an der Erreichung dieses Zieles arbeiten." Ich sagte Seiner Majestät, daß ich den größten Wert darauf lege, diese Worte meiner Regierung übermitteln zu dürfen. Der König gab seine Zustimmung. Die persönlichen Gefühle des Königs, solange er noch Thronfolger war, sind mir stets bekannt gewesen; jetzt aber, da sie am Tage nach seiner Thronbesteigung in überaus feierlicher Form wiederholt werden, scheinen mir seine Worte eine ganz besondere Bedeutung zu haben. Benckendorff.

240. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 29. April/12. Mai 1910. — Nr. 648. Unser Botschafter in Konstantinopel telegraphiert: „Der hiesige englische Botschafter hat mir gesagt, er habe mit dem Außenminister und dem Großwesir ausführlich über Greys Forderung einer Konzession Bagdad—Persischer Golf gesprochen. Die Türken haben erklärt, daß sie Deutschland gegenüber juristische und moralische Verpflichtungen



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hinsichtlich der ganzen Bagdadlinie bis zum Persischen Golfe hätten. Der Botschafter entgegnete, daß, wenn auch eine moralische Verpflichtung Deutschland gegenüber bestehe, es eine juristische nicht gebe. England kann seine Zustimmung zur Zollerhöhung nicht geben, wenn es nicht entsprechende Vorteile für die englischen Kaufleute erhält. Über eine „Interessensphäre" haben die Türken nicht gesprochen. Die Unterredung ist resultatlos geblieben." Augenscheinlich wird Rifaat Pascha die ganze Angelegenheit in London zur Sprache bringen, wohin er morgen mit dem Thronfolger zum Begräbnis König Eduards abreist. Soviel Lowther weiß, ist die Frage der Führung der Bagdadbahn nach Alexandrette immer noch nicht entschieden, obwohl der deutsche Botschafter in diesen Tagen eine günstige Antwort erwartete. Iswolski.

241. Telegramm des russischen Gesandten in Peking an den russischen Außenminister vom 29. April/12. Mai 1910. China ist durch die Nachricht vom Abschluß eines russisch-japanischen Abkommens stark beunruhigt. Wenn möglich, bitte ich Sie, mir Einzelheiten mitzuteilen, um eventuelle Anfragen beantworten zu können. Korostowetz.

242. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 29. April/12. Mai 1910. — Nr. 631. Nicolson teilt mir den Vorschlag unserer gemeinsamen Erklärung an die persische Regierung mit. Dieser ist vom englischen Geschäftsträger in Teheran ausgearbeitet



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worden und entspricht völlig dem von Poklewski telegraphierten Text. Der englische Botschafter teilt mir mit, Grey sei mit dem letzten Teile nicht einverstanden und schlage folgende Fassung vor: „In Anbetracht der Schwierigkeit, diejenigen Konzessionen anzuführen, die ihren politischen oder strategischen Interessen schaden könnten, erwarten die beiden Regierungen, daß die persische Regierung, ehe sie einem Ausländer irgendwelche Konzessionen für Eisenbahnen, Verkehrswege, Telegraphen oder Hafenanlagen erteilt, mit Rußland und England in einen Meinungsaustausch eintritt, um festzustellen, auf welche Weise die politischen oder strategischen Interessen dieser beiden Staaten genügend geschützt werden könnten." Ich teile Greys Ansicht, was den letzten Teil des in Teheran ausgearbeiteten Vorschlags anlangt. Was aber den ersten Teil betrifft, so halte ich es für zweckmäßiger, die von Grey vorgeschlagenen Worte „Eisenbahnen, Verkehrswege, Telegraphen oder Hafenanlagen" wegzulassen, denn es kann noch andere Konzessionen geben, die uns in politischer und strategischer Richtung schädlich wären. Man darf nicht außer acht lassen, daß, wenn wir von der persischen Regierung eine formelle Verpflichtung im Sinne der identischen Note vom 25. März verlangen, dies einen deutschen Protest in Teheran hervorrufen könnte, was wiederum ernste Komplikationen nach sich ziehen würde. Wir würden es deshalb vorziehen, für den Augenblick nicht darauf zu bestehen, daß die persische Regierung eine derartige Verpflichtung eingeht. Man könnte hingegen der in Aussicht genommenen Mitteilung die Worte beifügen: „Wenn die persische Regierung den Wunsch der beiden Mächte nicht erfüllt, so werden letztere diejenigen Maßregeln ergreifen, die sie für nötig halten werden, um ihre Interessen .zu schützen." Wir schlagen also folgenden Text der identischen Note vor: „In Anbetracht der Schwierigkeit, im voraus diejenigen Konzessionen zu bezeichnen, welche den politischen oder strategischen Interessen der beiden Mächte schaden könnten,



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erwarten die letzteren, daß die persische Regierung, ehe sie Ausländern Konzessionen erteilt, jedesmal in einen Meinungsaustausch mit Rußland und England eintritt. Wenn die persische Regierung den Wunsch der beiden Mächte nicht erfüllt, so werden letztere diejenigen Maßregeln ergreifen, die sie für nötig halten werden, um ihre Interessen zu schützen." Ich bitte Sie, mit Grey zu sprechen und uns das Ergebnis Ihrer Unterredung mitzuteilen. IswolBki.

243.

Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 30. April/13. Mai 1910. — Nr. 102. Ihr Telegramm Nr. 631 erhalten. Persönlich. Der erste Eindruck Hardinges ist der, daß die von Ihnen vorgeschlagene Formel, die nicht erwähnt, um welche Konzessionen es sich handelt, sehr radikaler Natur sei und schwerlich von der persischen Regierung angenommen werden könne. E r findet auch die letzte Drohung sehr stark. Ich glaube man wird Ihnen eine gemäßigtere Fassung vorschlagen. Wenn Sie etwa Urmia im Auge haben, könnte man nicht zu den in der englischen Fassung erwähnten Konzessionen hinzufügen: „Verkehr auf Flüssen und Seen"? — Die» ist noch keine offizielle englische Antwort. Benckendorff.

244.

Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. Mai 1910. — Nr. 106. Hardinge teilt mir mit, Cartwright, der hier angekommen ist, habe gesagt, daß die Haltung Aehrenthals Deutsch-



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land gegenüber viel fester gewesen sei, als er erwartet habe. Aehrenthal soll gesagt haben, daß Österreich keine Interessen in Persien habe, und daß übrigens die Lage in Albanien derart sei, daß sie die ganze Aufmerksamkeit des Wiener Kabinetts auf sich ziehe, und daß Österreich seine Kräfte sparen müsse, falls dort Komplikationen entstünden. Benckendorff.

246. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 5./18. Mai 1910. — Nr. 684. Ich telegraphiere unserem Gesandten in Teheran unter Nr. 675: Wir haben mit dem Londoner Kabinett folgenden Text der von Ihnen und Marling der persischen Regierung abzugebenden Erklärung vereinbart: „In Anbetracht der Schwierigkeit, die Konzessionen zu bezeichnen, die den politischen oder strategischen Interessen der beiden Mächte Abbruch tun könnten, erwarten diese, daß die persische Regierung, ehe sie Ausländern irgendwelche Konzessionen für Verkehrswege, Telegraphen und Häfen erteilt, mit ihnen in einen Meinungsaustausch eintritt, damit die politischen und strategischen Interessen der beiden Mächte gewahrt bleiben. Jede Handlungsweise, die diesem Prinzip widersprechen würde, wird als mit der traditionellen Freundschaft unvereinbar betrachtet werden, die in so glücklicher Weise zwischen Rußland, England und Persien besteht." Desgleichen ist vereinbart worden, daß wir keine schriftliche Antwort der persischen Regierung in dieser Angelegenheit verlangen. Iswolski.



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246. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. Mai 1910. — Nr. 104. Nicolson wird Ihnen mitteilen, was Grey Metternich gesagt hat. Sehr kurz zusammenfassend hat Grey erklärt, daß, da die persische Regierung Erklärungen über die letzte Note verlangt habe, diese erfolgen müßten. Grey hat dem Botschafter nicht verheimlicht, daß, wenn die persische Regierung Rußland und England vor die vollendete Tatsache einer Eisenbahnkonzession, die strategischen oder politischen Charakter hätte, stellt, diese beiden Mächte gezwungen sein würden, energische Maßnahmen gegen Persien zu ergreifen. Grey hat sich gegen die Behauptung verwahrt, daß er die Absicht habe, irgend welchen deutschen Konzessionen zu schaden, die keinen politischen oder strategischen Charakter hätten. Deshalb wäre ein deutscher Protest nur im Falle der Verweigerung einer rechtmäßigen Konzession durch die persische Regierung berechtigt. Grey hat hinzugefügt, daß ein deutsch-englisches Übereinkommen über Persien nur im Zusammenhang mit der Bagdadbahnfrage abgeschlossen werden könne. Benckendorff.

247. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 5./18. Mai 1910. — Nr. 107. Ihr Telegramm Nr. 684 erhalten. Ich habe Hardinge gefragt, wie es mit den Verhandlungen wegen einer englischen Konzession bis zum Persischen Golf stünde. Hardinge antwortete, diese Frage werde mit Rifaat Pascha anläßlich seiner Anwesenheit in London besprochen werden, und das



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Londoner Kabinett habe die Absicht, die Verhandlungen in Behr energischer Weise zu führen. Benckendorff.

248. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 6./19. Mai 1910. — Nr. 108. Fortsetzung meines Telegramms Nr. 104. Hardinge lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß, wenn in der von Grey an Metternich abgegebenen Erklärung nicht von einer Antwort der persischen Regierung auf die Demarche Rußlands und Englands die Rede gewesen sei, nichts darauf hinweise, daß wir eine derartige Antwort verlangen werden. Andererseits soll Metternich geantwortet haben, daß er in Petersburg mehr Entgegenkommen erwartet hätte; er hat damit zu verstehen geben wollen, daß die Greysche Antwort ihn nicht befriedigt habe. Benckendorff. 249. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. Mai 1910. — Nr. 109. Ihr Telegramm Nr. 677 erhalten. Bezüglich Ihrer Unterredung mit Pourtales sagt mir Grey, daß Ihre Worte mit den seinigen übereinstimmen mit dem Unterschiede, daß Sie betont haben, daß wir von der persischen Regierung keine Antwort verlangen werden, was er nicht erwähnt hat. Er mißt dieser kleinen Abweichung keine Bedeutung bei. Was unsere zukünftigen Verhandlungen mit Deutschland anlangt, so hat Grey angefragt, ob sie außer Persien auch die Bagdadbahn betreffen. Ich habe geantwortet, daß ich dies nicht genau wüßte, da wir während unserer

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früheren Verhandlungen hauptsächlich unsere Stellung in Persien haben sichern wollen. Grey bemerkte, daß die Bagdadbahnfrage schwerlich werde ausgeschlossen werden können, da es sich auch um die Zweiglinie Chanikin handele. Ich habe ihn gefragt, was für einen modus procedendi er hinsichtlich dieser letzteren Frage für möglich halte. Er antwortete, daß Deutschland sich weigere, zu Vieren zu verhandeln, und daß er deshalb glaube, daß die drei interessierten Mächte getrennt verhandeln, sich aber den Gang der Verhandlungen gegenseitig mitteilen sollten; der Abschluß müsse jedoch gemeinsam zu Vieren erfolgen. Grey hat mir mitgeteilt, er habe in seiner Unterredung mit Metternich die Möglichkeit einer Übereinkunft mit Deutschland nicht von der Hand gewiesen, er habe nur gesagt, daß es ihm unmöglich sei, eine Übereinkunft zu schließen oder sie dem Parlament vorzulegen, die Deutschland in Persien Zugeständnisse macht, ohne daß England in der Bagdadfrage entsprechend entschädigt werde, was für England von vitaler Bedeutung sei. Grey sagte mir, daß seines Erachtens die Verhandlungen einen gemeinsamen Charakter haben müßten. Benckendorff.

250. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 9./22. Mai 1910. — Nr. 695. Ihr Telegramm Nr. 111 erhalten. Ehe ich Poklewski die vereinbarten Instruktionen gebe, möchte ich wissen, wie Grey über die letzte von Schön unserem Berliner Botschafter gemachte Erklärung denkt, welche die formelle Versicherung enthält, daß Deutschland nie versucht hätte, in Persien Konzessionen zu erhalten, die Rußland und England unbequem sein könnten, und daß es auch in Zukunft dies nicht zu tun beabsichtigte. Andererseits besteht Schön darauf, Siebert, Benckendorff. I.

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daß der gemeinsame russisch-englische Schritt in Teheran aufgeschoben werde, um eine freundschaftliche Lösung zu finden. Fragen Sie bitte Grey, ob er glaubt, daß man letzteren Antrag nicht zu beachten brauche, was jedoch dem Berliner Kabinett den offenbaren Vorwand geben würde, sich im Laufe der Verhandlungen unnachgiebiger zu zeigen, oder ob es in der jetzigen Phase vorteilhafter wäre, den Schönschen Vorschlag in Erwägung zu ziehen. Im letzteren Fall müßte man daran denken, welchen Eindruck ein derartiger Aufschub in Teheran hervorrufen würde, und welche Sprache man der persischen Regierung gegenüber führen müßte. Es scheint mir, daß unter den gegebenen Verhältnissen unsere Vertreter in Teheran sich zur Zeit darauf beschränken könnten, der persischen Regierung mündlich zu erklären, daß sie fürs erste keine Antwort auf ihre Mitteilung erwarten; sollte aber die persische Regierung Rußland und England vor eine vollendete Tatsache stellen, die ihren politischen oder strategischen Interessen nicht entspricht, so würde dies als eine Unfreundlichkeit von seiten Persiens aufgefaßt werden und könnte die beiden Staaten veranlassen, die nötigen Maßnahmen zum Schutze ihrer Interessen zu ergreifen. Übermitteln Sie obiges Grey und teilen Sie mir seine Ansicht mit. Iswolski.

251. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 11.¡24. Mai 1910. — Nr. 113. Streng vertraulich. Cambon hat mich von der Unterredung in Kenntnis gesetzt, die in der letzten Woche zwischen Pichon, Grey und ihm stattgefunden hat. Im übrigen hat Grey über seine Unterredung mit Metternich berichtet. Dieser Bericht stimmt vollkommen mit dem überein, was wir au3 den englischen Mitteilungen wissen. Es



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findet sich jedoch ein Passus, den Grey uns gegenüber nicht erwähnt hat, und Cambon hat mich gebeten, davon einstweilen keinen Gebrauch zu machen; ich bitte Sie also dringend, den Wunsch meines französischen Kollegen zu berücksichtigen. Metternich hat dem Londoner Kabinett ein politisches Abkommen bezüglich Persiens vorgeschlagen und hinzugefügt, daß, wenn ein solches abgeschlossen würde, es keine Schwierigkeiten mehr in der Bagdadbahnfrage gäbe. Grey antwortete, die englische Regierung habe mit Rußland eine politische Entente in Persien abgeschlossen und könne folglich kein Abkommen mit einer andern Macht abschließen; England sei in diesem Falle mit Rußland verbunden wie mit Frankreich in der Marokkofrage. Ich kann die Zurückhaltung Greys uns gegenüber nur einem übertriebenen Gefühl von Diskretion und Feinfühligkeit zuschreiben. Dies erklärt die Worte, daß das Londoner Kabinett in dem deutschen Vorschlage keine Verhandlungsbasis erblicke, wa3 Ihnen seinerzeit nicht klar genug schien. Dies erklärt auch Sir Edward Greys Worte, die Verhandlungen über Persien von den Bagdadbahn-Verhandlungen nicht trennen zu können. Endlich erklärt sich so auch Greys Ansicht, daß Verhandlungen mit Deutschland in bezug auf Persien von Rußland und England gemeinsam geführt werden müssen, wie ich in meinem Telegramm Nr. 112 berichtet habe. Benckendorff.

252. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 13./26. Mai 1910. — Nr. 717. Ich telegraphiere unserem Botschafter in Berlin: Der englische Geschäftsträger hat mir den Inhalt eines aus Berlin erhaltenen Telegramms mitgeteilt, aus dem ersichtlich ist, 21*



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daß Schön dem englischen Geschäftsträger erklärt hat, der deutsche Vertreter in London habe den Auftrag erhalten, auf die persische Frage nicht mehr zurückzukommen, da auf Grund der von der deutschen Regierung erhaltenen Erklärung diese Frage ihren akuten Charakter beträchtlich eingebüßt habe. Meinerseits kann ich bestätigen, daß Graf Pourtalös seit meiner letzten Unterredung mit ihm, die ich in meinem Telegramm Nr. 678 erwähnt habe, die persische Frage nicht mehr berührt und überhaupt größere Nachgiebigkeit gezeigt hat. Iswolski.

253. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 18./31. Mai 1910. Hardinge hat mir den Bericht des englischen Geschäftsträgers in Berlin über seine letzte Unterredung mit Schön vorgelesen. Der deutsche Minister sagte zuerst, er habe den Grafen Metternich beauftragt, einstweilen auf die persische Frage nicht mehr zurückzukommen, und erklärte diese Instruktion damit, daß ein Mißverständnis zwischen Deutschland, Rußland und England in dieser Frage vorgelegen habe. Er schilderte darauf den Gang der letzten Verhandlungen. Er sagte, zuerst hätte man in Petersburg geglaubt, die deutsche Regierung beabsichtige, mit Persien zu verhandeln, um verschiedene Sondervorteile zu erhalten und eine Anleihe abzuschließen. Dieses Mißverständnis sei bald aufgeklärt worden. Sodann hätte die deutsche Regierung Nachrichten erhalten, welche bei ihr die Meinung hervorriefen, daß Rußland und England durch einen Druck auf Persien Vorteile beanspruchten, die mit den Rechten Deutschlands kaum hätten in Einklang gebracht werden können. Die von beiden Seiten abgegebenen offenen Erklärungen hätten auch diese



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Schwierigkeit beseitigt. Es bliebe nur noch die Erwägung, daß die deutsche Regierung dem Wunsche Ausdruck verleihe, England und Rußland sollten Persien gegenüber nicht zu Mitteln greifen, die die öffentliche Meinung in Deutschland, die in dieser Hinsicht sehr empfindlich sei, beunruhigen könnten. Schön fügte hinzu, man hätte ihn in gewissen Kreisen beschuldigt, er habe in Persien Schwierigkeiten hervorrufen wollen, die mit denen Ähnlichkeit gehabt hätten, die später zu der Konferenz von Algeciras geführt haben. Nichts hätte ihm ferner gelegen. Ich kann hier den Inhalt dieses ausführlichen Berichtes aus dem Gedächtnis nicht genau wiedergeben. Aber die erwähnten Äußerungen sind mir deutlich in Erinnerung geblieben. Graf Salis schreibt, im Laufe dieser Unterredung hätte Herr von Schön wiederholt das Wort „Mißverständnis" gebraucht. Der englische Geschäftsträger sieht in dieser Unterredung eine deutliche Änderung der Haltung des Berliner Kabinetts. Er meint, daß einer der Gründe dafür der Aufenthalt Kaiser Wilhelms in London gewesen sei, und daß die Eindrücke, die er daselbst empfangen, einen Einfluß auf die Haltung des Berliner Kabinetts ausgeübt hätten. Er glaubt auch, daß der Mangel an Unterstützung von Seiten des Wiener Kabinetts zu dieser Haltung der Berliner Regierung beigetragen habe. Ich fragte Sir Charles, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich Euerer Exzellenz die wesentlichen Punkte des mir vorgelesenen Berichtes übermittelte. Er gestattete mir, von ihnen jeden Gebrauch zu machen. Wenn die Eindrücke des englischen Geschäftsträgers durch die weiteren Ereignisse bestätigt werden, so kann ich nicht umhin zu glauben, daß das Berliner Kabinett hauptsächlich dadurch beeinflußt worden ist, daß Rußland und England, ohne sich zu weigern, Deutschland diejenigen offenen Erklärungen zu geben, auf die es ein Recht hatte, sich der Form nach nachgiebig gezeigt haben, ohne jedoch hierbei irgendetwas von ihren politischen Rechten preiszugeben, die sie auf Grund

— 326 — der geographischen Lage und der auf dem Spiele stehenden Interessen beanspruchen können. Benckendorff.

264. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an den russischen Außenminister vom 18./31. Mai 1910. — Nr. 292. An den Grafen Quadt wird gleichfalls aus Berlin telegraphiert, daß die deutsche Regierung zeitweilig die Verhandlungen mit Rußland und England über Persien eingestellt habe, da sie von den beiden Regierungen befriedigende Erklärungen erhalten habe und auch in Anbetracht der tiefen Trauer am englischen Hofe. Pökle wski-Koziell.

255. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 25. Mai/7. Juni 1910. Nr. 2. Unser Gesandter in Teheran telegraphiert: Vor einigen Tagen sprach der Minister des Auswärtigen plötzlich mit Marling und mir über die Absicht der persischen Regierung, auf unsere Note eine Antwort zu erteilen, wobei sie diese Gelegenheit benutzen wollte, um in einen weiteren Meinungsaustausch einzutreten und uns ihre Wünsche mitzuteilen. Wir haben beide noch einmal kategorisch bestätigt, daß unsere beiden Regierungen gar keine Antwort brauchen. Gestern habe ich aus unbedingt vertrauenswürdiger Quelle erfahren, daß die Perser in der Befürchtung, ihr Schweigen könne von Rußland und England als Einwilligung auf unsere Forderungen in der Konzessionsfrage ausgelegt werden, die Absicht haben, uns zu antworten. Aub dem mir vertraulich



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zur Verfügung gestellten Entwurf dieser Antwort geht hervor, daß sie ausweichend und völlig unbefriedigend sein wird. Ich weiß auch genau, daß dieser Antwortentwurf der deutschen Gesandtschaft mitgeteilt worden ist, und daß darüber zwischen ihr und der deutschen Regierung ein Meinungsaustausch stattfindet. Da die persische Regierung anfangs durchaus bereit war, uns eine befriedigende schriftliche Antwort zu erteilen, und nachher viele Mitglieder der Regierung den guten Eindruck, der durch unsere Note auf das Kabinett gemacht worden ist, betont und ihrer Absicht Ausdruck verliehen haben, den Wünschen der beiden Regierungen entgegenzukommen, — so kann man die Tatsache eines Umschwungs nur mit deutschen Intrigen erklären, wobei das Berliner Kabinett augenscheinlich auf seine Art den Persern erklärt hat, aus welchem Grunde die beiden Regierungen ihre Ansicht hinsichtlich der persischen Antwort geändert haben. Wir wollen mit Marling alles versuchen, um die Perser von ihrer Absicht abzubringen, aber falls wir hierbei keinen Erfolg haben, so bitten wir um die Ermächtigung, ihnen die Antwort zurückzuschicken und in entsprechender Weise darauf hinzuweisen, daß sie nicht am Platze sei. Wir sind überzeugt, daß man die Perser zwingen muß, sich in dieser Frage dem Willen Rußlands und Englands zu beugen, und daß man den Persern keine finanzielle Unterstützung zuteil werden lassen darf, ehe diese Frage in einer uns befriedigenden Weise gelöst ist. Im entgegengesetzten Fall wird das Prestige Deutschlands hier nur gestärkt werden und letzteres der tatsächliche Regulator der Beziehungen Persiens zu Rußland und England sein. In Anbetracht der Quelle, aus der die von mir mitgeteilten Informationen stammen, worüber ich noch brieflich berichten werde, bitte ich Euere Exzellenz ganz besonders, den Inhalt dieses Telegramms nicht zum Gegenstand von Verhandlungen mit der deutschen Regierung zu machen. Iswolski.



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266. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 25. Mai/7. Juni 1910. — Nr. 122. Eine gestern abend stattgehabte private Unterredung zwischen Mallet und unserem ersten Botschaftssekretär bestätigt den von mir gestern telegraphierten Eindruck. Die anglo-türkischen Verhandlungen nehmen keinen guten Verlauf. Unter diesen Umständen ist es sehr unvorteilhaft, mit Deutschland zu unterhandeln, und es ist unwahrscheinlich, daß das Londoner Kabinett die Verhandlungen mit Berlin aufnimmt. Ich glaube, daß dies ebenfalls auf unsere Verhandlungen zurückwirken wird. Es scheint mir, wir müssen uns erst über eine gemeinsame Basis verständigen und dann einen günstigeren Augenblick abwarten. Hier wird man jedenfalls lieber sehen, daß Deutschland eine neue Initiative ergreift. Benckendorff.

267. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen A ußenminister vom 29. Mai /II. Juni 1910. — Nr. 125. Har dinge hat mir heute morgen seine Ernennung zum Vizekönig von Indien mitgeteilt und hinzugefügt, daß, wenn er auf Beinem jetzigen Posten den Beziehungen zwischen Rußland und England habe nützen können, er jetzt mit dem festen Entschluß nach Indien gehe, in demselben Sinne weiterzuarbeiten, und daß er dort noch erfolgreicher zu sein hoffe. Hardinge wäre dankbar, wenn seine Worte unserem Kaiser unterbreitet werden würden. Benckendorff.



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25S. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 29. Mai/11. Juni 1910. — Nr. 127. Bezüglich des von O'Beime erhaltenen Telegramms, in dem dieser über seine Unterredung mit Ihnen berichtet, hat mir Hardinge heute morgen gesagt, Ihr Grundsatz entspräche so völlig dem des Londoner Kabinetts, daß er sich, wenn Sie den Schritt für notwendig halten, dem nicht widersetzen wolle. Er sieht jedoch praktische Schwierigkeiten voraus. Wenn wir in Berlin erklären, daß unsere beiden Kabinette über Persien nicht anders als gemeinsam verhandeln, so wird dies zum Ergebnis führen, daß die deutsche Regierung ausweichen wird. Hardinge glaubt, es wäre richtiger, nur von einem gemeinsamen Abschluß der Verhandlungen zu sprechen, die parallel zu laufen hätten, wobei man sich gegenseitig auf dem laufenden hielte. Er glaubt, man müsse in der Bagdadbahnfrage auch Frankreich hinzuziehen. Ich entgegnete, mir wären die Einzelheiten Ihres Programms nicht bekannt, doch hätte ich keinen Grund zur Annahme, daß Sie anderer Ansicht wären. Benckendorff.

259. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 1./14. Juni 1910. — Nr. 131. Das Gerücht über die Ernennung Nicolsons auf den Postens Hardinges wird durch das bestätigt, was letzterer mir soeben mitgeteilt hat. Ich nehme an, daß O'Beime beauftragt ist, mit Ihnen hierüber zu sprechen. Ich habe Hardinge gegenüber in bestimmter Weise auf die unbestreitbaren Nachteile der Rückberufung eines Botschafters hingewiesen, welcher es verstanden hat, das Vertrauen und die Sympathien des Kaisers und der Kaiserlichen Regierung in so

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hohem Maße zu gewinnen, und dessen Tätigkeit so nützlich gewesen war. Ich sagte, daß der erste Eindruck auf alle Fälle kein sehr günstiger sein könne. Andererseits habe ich nicht direkt protestieren können, denn ich zweifle nicht, daß die englische Regierung trotz der von ihr erkannten Nachteile eines solchen Wechsels mit der besten Absicht handelt. Es besteht kein Zweifel, daß die beiden neuen Ernennungen, diejenige Hardinges nach Indien und die voraussichtliche Berufung Nicolsons nach London, uns ganz spezielle Garantien bieten, daß die gegenwärtige englische Politik fortgesetzt werden wird, und daß sie deshalb sogar eine öffentliche Kundgebung darstellen. Man muß die Bedeutung des Postens des ständigen Unterstaatssekretärs nicht außer acht lassen. Die mit dem parlamentarischen System verbundenen Veränderungen können besonders in Krisenzeiten leicht Veränderungen in der Besetzung der Ministerposten herbeiführen, welche einen weniger erfahrenen Staatsmann nach dem Foreign Office führen könnten. Dieser Fall ist nicht wahrscheinlich aber möglich, und dann ist die Anwesenheit eines ständigen Sekretärs im Ministerium, der ernstliche Garantien bietet, von der größten Wichtigkeit für uns. Der Fall Hardinge selbst ist ein Beweis dafür. Außer Nicolson kenne ich niemand, der diese Bedingungen ebenso gut erfüllen würde, und ich bin überzeugt, daß das die Erwägungen sind, von denen sich der König und das Kabinett leiten lassen. Ich darf wohl annehmen, daß unter den gegebenen Verhältnissen die Tätigkeit Nicolsons in London der Kontinuität der englischen Politik nützlicher sein wird, als es sein noch längerer Aufenthalt in Rußland sein könnte. Benckendorff.

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260. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 2./15. Juni 1910. — Nr. 134. Bezüglich der wahrscheinlichen Abberufung Nicolsons aus Petersburg sagte mir Grey gestern abend, er hoffe, daß das Petersburger Kabinett davon überzeugt sei, daß die Ernennung des Vizekönigs von Indien und der Botschafterwechsel in Petersburg hauptsächlich die Konsolidierung der Beziehungen zwischen Rußland und England im Auge habe. Er glaubt, die Lage verlange es, daß sich im Foreign Office ein Mann befinde, der die einschlägigen Fragen so gut kenne wie Hardinge und Nicolson. Grey sagte mir, er bestehe auf diesem Punkt im Interesse einer guten Information der Kaiserlichen Regierung und vor allem des Kaisers, der sich vielleicht nur ungern von einem Botschafter trennen würde, dem er stets einen so gnädigen Empfang bereitet hat. Hardinge sagte mir, der König habe von den unserem Kaiser geschuldeten Rücksichten gesprochen. Benckendorff.

261. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 8./21. Juni 1910. — Nr. 147. Grey sprach mir gestern die aufrichtige Dankbarkeit und die große Befriedigung der englischen Regierung für die Gefühle aus, welche das Urteil unseres Kaisers über die beabsichtigte Berufung Nicolsons nach London auf den Posten Hardinges bestimmt haben. Benckendorff.



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263. Sehr vertrauliches Schreiben des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 11.¡24. Juni 1910. — Nr. 760. Zwischen den Kabinetten von Petersburg und Tokio finden schon seit längerer Zeit Verhandlungen statt, um ihre gemeinsamen Interessen in der Mandschurei genau zu bestimmen und in Übereinstimmung zu bringen, wodurch der Friede im fernen Osten eine weitere Sicherung erfahren würde. Eine dreijährige Erfahrung hat die Zweckmäßigkeit des russisch-japanischen Vertrages vom 17./30. Juli 1907 bewiesen, und die beiden Regierungen haben jetzt einmütig anerkannt, daß das obengenannte Ziel am besten durch eine weitere Entwicklung dieses Abkommens erreicht werden kann. Heute ist zwischen beiden Kabinetten ein völliges Einvernehmen erzielt worden, und sie stehen im Begriff, ein offenes und ein geheimes Abkommen zu unterzeichnen. Das erstere stellt zwischen Rußland und Japan ein engeres Zusammengehen in der Frage der mandschurischen Eisenbahnen her und bestätigt von neuem den festen Willen der beiden Regierungen, den status quo in diesen Gebieten aufrecht zu erhalten. In dem geheimen Abkommen werden die beiden Interessensphären genauer abgegrenzt, ebenso die Beschränkungen, die beide Mächte sich auferlegen, um ihre gegenseitigen Beziehungen zu festigen und die ihnen in der Mandschurei zukommende Stellung vor allen Eingriffen zu schützen. Die russische Regierung ist überzeugt, daß die beiden Abkommen, die ausschließlich den Zweck verfolgen, die friedlichen Beziehungen zu Japan sicherzustellen, nichts enthalten, was den englischen Interessen schaden könnte. In Anbetracht der herzlichen Beziehungen, die zwischen Rußland und England bestehen, bitte ich Sie, obiges zur



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Kenntnis Sir Edward Greys zu bringen und ihm vertraulich die beiden Entwürfe mitzuteilen, wobei Sie gleichzeitig die Hoffnung ausdrücken wollen, daß er in diesen beiden diplomatischen Dokumenten eine neue Garantie des Friedens und der Ruhe im fernen Osten erblicke. Iswolski.

Anlage I. Entwurf

eines offenen Abkommens R u ß l a n d und J a p a n .

zwischen

Die russische und die japanische Regierung, den im Abkommen vom 17./30. Juli 1907 festgestellten Grundsätzen getreu und eine weitere Entwicklung dieses Abkommens zur Erhaltung des Friedens im fernen Osten wünschend, haben beschlossen, obengenanntes Abkommen durch folgende Bestimmungen zu ergänzen: Artikel 1. Zur Erleichterung des Verkehrs und zur Förderung des internationalen Handels verpflichten sich beide Teile, sich gegenseitig bei der Verbesserung ihrer Eisenbahnverbindungen in der Mandschurei zu unterstützen und sich jeder Konkurrenz, die dem in Aussicht genommenen Ziele Bchaden könnte, zu enthalten. Artikel 2. Jeder der vertragschließenden Teile verpflichtet sich zur Erhaltung und Beobachtung des status quo in der Mandschurei, sowie es sich aus allen Verträgen, Konventionen und anderen Abkommen ergibt, die bis jetzt zwischen Rußland und Japan oder zwischen diesen Staaten und China abgeschlossen worden sind. Die Abschriften dieser Verträge sind zwischen Rußland und Japan ausgewechselt worden. Artikel 3. Wenn der oben bezeichnete status quo in irgendeiner Weise bedroht sein sollte, werden die beiden vertragschließenden Teile in einen Meinungsaustausch treten, um sich über die Mittel zu verständigen, die zur Erhaltung des status quo zu ergreifen wären.



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Anlage II. E n t w u r f eines G e h e i m v e r t r a g e s zwischen R u ß l a n d und J a p a n . Um die Bestimmungen des geheimen Abkommens vom 17./30. Juli 1907 zu bestätigen und weiter auszubauen haben die russische und die japanische Regierung das Nachstehende vereinbart: Artikel 1. Rußland und Japan erkennen als Grenze ihrer speziellen Interessensphären in der Mandschurei die Demarkationslinie an, die im Zusatzartikel des geheimen Abkommens vom Jahre 1907 festgelegt worden ist. Artikel 2. Die beiden vertragschließenden Teile verpflichten sich gegenseitig, ihre speziellen Interessen in den oben angeführten Gebieten anzuerkennen. Jeder von ihnen kann also, ein jeder in seiner Interessensphäre, diejenigen Maßnahmen ergreifen, die für die Wahrung und den Schutz dieser Interessen nötig werden sollten. Artikel 3. Jeder vertragschließende Teil verpflichtet sich, die Konsolidierung und weitere Förderung der speziellen Interessen der andern Seite in den Grenzen der genannten Interessensphären in keiner Weise zu hemmen. Artikel 4. Jeder der vertragschließenden Teile verpflichtet sich, sich aller politischen Handlungen in der Interessensphäre des Kontrahenten in der Mandschurei zu enthalten. Es wird außerdem bestimmt, daß Rußland in der japanischen und Japan in der russischen Sphäre keinerlei Privilegien oder Konzessionen erstreben wird, welche den gegenseitigen speziellen Interessen schaden könnten, und daß die beiden Regierungen die in ihren Interessensphären erworbenen Rechte, wie sie in Artikel 2 des offenen Vertrages vom heutigen Datum dargelegt worden sind, beachten werden. Artikel 5. Um die Wirkung der gegenseitigen Verpflichtungen sicherzustellen, werden beide Teile jederzeit in einen offenen und freundschaftlichen Meinungsaustausch



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über alles, was ihre speziellen Interessen in der Mandschurei betrifft, treten. Im Falle der Bedrohung dieser speziellen Interessen -werden sich die beiden Regierungen über die Maßnahmen verständigen, die im Hinblick auf ein Zusammengehen oder eine gegenseitige Unterstützung zum Schutze dieser Interessen nötig werden sollten. Artikel 6. Das vorliegende Abkommen werden beide Regierungen streng geheim halten.

263. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 12./ 25. Juni 1910. — Nr. 889.

Mit besonderem Kurier erhalten Sie die Instruktionen über eine Sir Edward Grey zu machende Erklärung, die ein politisches Abkommen betrifft, das wir mit Japan abzuschließen im Begriffe stehen. Ich bitte Sie, diesen Schritt wenn möglich nicht später als Mittwoch zu tun und mich sofort telegraphisch zu verständigen. Iswolski.

264. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 15./28. Juni 1910. — Nr. 157.

Ihr Schreiben Nr. 760 erhalten. Ich bitte, mich zur Regelung meiner Sprache dem hiesigen japanischen Botschafter gegenüber zu benachrichtigen, ob die japanische Regierung von unserer Mitteilung in London Kenntnis hat. Benckendorff.



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265. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 15./28. Juni 1910. — Nr. 160. Ihr Schreiben Nr. 760 erhalten. Ich habe soeben den mir erteilten Auftrag ausgeführt. Grey ist von dem Schritte der russischen Regierung sehr befriedigt und bittet mich, Ihnen seinen besten Dank zu übermitteln. Er habe stets mit Genugtuung die Entwicklung der guten Beziehungen zwischen Rußland und Japan im Laufe der letzten drei Jahre verfolgt und sei von der Bestätigung seiner Beobachtung, die ich ihm gebracht habe, außerordentlich befriedigt. Das politische Interesse Englands im fernen Osten bestehe völlig in der Erhaltung des Friedens, wie seine Handelsinteressen auf dem Grundsatze der offenen Tür begründet seien. Grey hat mich gebeten, seinen Erklärungen den herzlichsten und freundlichsten Ausdruck zu verleihen. Benckendorff.

266. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in Paris vom 15./28. Juni 1910. — Nr. 905. Dem Botschafter in Konstantinopel mitgeteilt. Da man in nächster Zeit in PariB die Ankunft des türkischen Finanzministers oder von Delegierten der türkischen Regierung zu Anleiheverhandlungen erwartet, so halte ich es für nötig, Ihnen unseren Standpunkt in dieser Frage mitzuteilen. Handelt es sich bloß um eine Anleihe von 250 Millionen Franken zur Deckung des diesjährigen türkischen Budgetdefizits, so wird eine Einmischung unsererseits kaum möglich sein. In diesem Falle könnten wir uns damit begnügen, daß Frankreich die Anleihe von der Gewährung der Eisenbahn-



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konzession Samsun—Sivvas an ein russisch-französisches Konsortium abhängig macht. Sollten sich die Verhandlungen auf eine größere Anleihe beziehen, welche nach Deckung des Defizits bedeutende Mittel in den Händen der türkischen Regierung lassen würde, so können wir nicht umhin, der französischen Regierung einige Wünsche mitzuteilen, die auch für Frankreich von Bedeutung sein werden. Frankreich ist daran interessiert, daß wir in militärischer Hinsicht der Türkei überlegen sind. Jede Stärkung der militärischen Stellung der Türkei, namentlich an der kaukasischen Grenze, müßte entsprechende Gegenmaßnahmen unsererseits hervorrufen, was sich auch auf unserer Westgrenze auswirken könnte. Wir sind daher der Ansicht, daß es sowohl unseren als auch den französischen Interessen entspricht, wenn wir den Geldmangel der Türken, im Fall daß das Pariser Kabinett damit einverstanden ist, dazu benutzen, um von der Türkei Verpflichtungen zu erhalten, die die weitere Erstarkung ihrer militärischen Bereitschaft gegen uns einschränken. In militärischer Hinsicht hat die Frage der türkischen Eisenbahnbauten im Kaukasusgebiet und in Nordpersien und ebenso der Ankauf von Kriegsschiffen ganz besondere Bedeutung. Die türkische Aktionsfreiheit in diesem Sinne einzuschränken, ist ganz besonders wichtig. Teilt die französische Regierung im Prinzip unsere Ansicht, so müssen wir versuchen, eine Form zu finden, die für die Türkei annehmbar wäre. Unsererseits wären wir bereit, in diesem Falle auf unsere Anrechte an der Samsun—Siwas-Linie zugunsten der französischen Mitglieder des Syndikats zu verzichten. Ich bitte Sie, mit Pichon vertraulich Rücksprache zu nehmen und Ihren Erklärungen den Charakter eines vorbereitenden Meinungsaustausches zu geben. Die weiteren Verhandlungen werden von der Antwort Pichons abhängen, die wir in allernächster Zeit zu erhalten hoffen. Iswolski. Siebert, Benckendorff. I.

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— 338 — 267. Schreiben des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 16./29. Juni 1910. Als ich gestern morgen Ihr Schreiben vom 11./24. Juni Nr. 760 erhielt, habe ich mich noch am selben Tage zu Sir E. Grey begeben, um den mir erteilten Auftrag auszuführen. Ich habe übrigens nur wenige Einzelheiten dein Telegramm hinzuzufügen, das ich nach Beendigung dieser Unterredung abgesandt habe. Diese Aussprache war nur ganz kurz, weil Sir Edward die fertige Antwort zur Hand hatte, welche er eine Stunde vorher meinem japanischen Kollegen mitgeteilt hatte, der gekommen war, um ihm eine ähnliche Erklärung abzugeben. Der Staatssekretär sagte mir dies gleich zu Anfang. Er fügte hinzu, daß er für den freundschaftlichen und vertrauensvollen Schritt der russischen Regierung um so dankbarer sei, als Japan durch den Bündnisvertrag sozusagen verpflichtet wäre, die englische Regierung vom Abschluß derartiger Konventionen in Kenntnis zu setzen. Indem Sir Edward seine Dankbarkeit ausdrückte, betonte er, daß er seinen Worten eine ganz besondere Herzlichkeit verleihen wolle. Ich halte es nicht für nötig, hier noch einmal Wort für Wort zu wiederholen, was ich Ihnen bereits telegraphiert habe. Der Gedanke, den Sir Edward aussprach, läßt sich dahin zusammenfassen, daß, da die englische Politik keine großen politischen Interessen im fernen Osten habe, die Erhaltung des Friedens daselbst für England die wichtigste Frage bilde, während seine kommerziellen Interessen die Aufrechterhaltung der offenen Tür verlangten. Von diesem doppelten Standpunkt aus bezeugte mir Grey seine große Befriedigung und fügte hinzu, daß dies auch seine Antwort dem japanischen Botschafter gegenüber gewesen wäre. Die Unterhaltung in zwangloserer Weise fortsetzend ver-



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sicherte mir Sir Edward, daß er mit Vergnügen die ständige Verbesserung unserer Beziehungen zu Japan verfolgt habe, und daß es wohl zum Teil auch der Politik Amerikas zugeschrieben werden müsse, wenn die besagte Entwicklung ein schnelleres Tempo eingeschlagen habe. E r fügte aber gleich hinzu, daß die Vereinigten Staaten seiner Ansicht nach in diesen Gebieten nur wirtschaftliche und kommerzielle Interessen besäßen, welche das Prinzip der offenen Tür wichtiger erscheinen ließen; dies sei aber auch alles. Sir Edward erklärte mir, er behalte es sich vor, die Konventionen sorgfältig zu prüfen, habe mir aber unverzüglich seine allgemeine Ansicht ausdrücken wollen. Da ich sah, daß er die ihm vom japanischen Botschafter übergebenen englischen Abschriften der Konventionen in Händen hatte, glaubte ich dasselbe tun zu können. Zum Schluß sagte mir Sir Edward, er habe Kato nicht davon verständigt, daß er mir gegenüber die japanische Mitteilung erwähnen würde, und daß er mich daher bäte, diesen Teil unserer Unterredung als streng vertraulich zu betrachten. Benckendorff.

268.

Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 16./29. Juni 1910. — Nr. 911. Ihr Telegramm Nr. 157 erhalten. Die Mitteilungen an die englische und französische Regierung ergehen im Einverständnis mit dem Kabinett von Tokio, und Ihr japanischer Kollege wird dieselben Instruktionen wie Sie erhalten haben. Iswolski.

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269. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Paris an den russischen Außenminister vom 17./SO. Juni 1910. Djavid Bey wird Sonnabend in Paris erwartet. Pichon hat noch keine Nachrichten über die Höhe der türkischen Anleihe. Aus Berechnungen des ersten Finanzrates Laurent ergibt sich, daß die Türkei etwa 600 Millionen braucht. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird Djavid fürs erste versuchen, nur die Hälfte dieser Summe zu erhalten. Ich habe Pichon den Standpunkt unserer Regierung mitgeteilt desgleichen die in Ihrem Telegramm enthaltene Beweisführung. Er hat mir geantwortet, daß es für die französische Regierung im Prinzip unmöglich sei, die Anleihe zu verweigern oder von der Türkei die Zusicherung zu verlangen, daß die Mittel aus der Anleihe weder zur Verstärkung der Flotte noch zur Vervollständigung der Armee verwandt werden. Aber die französische Regierung ist fest entschlossen, die Anleihe dazu zu benutzen, um von der Türkei politische Garantien zu erhalten, die Frankreich, England und Rußland befriedigen werden. Es ist vielleicht auch möglich, bei dieser Gelegenheit die Erbauung neuer strategischer, für Rußland unbequemer Linien zu verhindern. Auf alle Fälle ist aber die Aufnahme einer Anleihe nicht möglich, ohne daß die Großmächte ihre Zustimmung zur Erhöhung des türkischen Zolltarifs geben. Dies wird noch Zeit erfordern und langwierige Verhandlungen verursachen. Ich habe den Eindruck, daß Pichon durch Ihre Erwägungen sehr beunruhigt ist. Nekljudow. 270. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 23. Juni/6. Juli 1910. — Nr. 175. Die „Times" hat heute den Inhalt der russisch-japanischen Konvention veröffentlicht, und der amerikanische Bot-

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schafter hat sich heute morgen zu Grey begeben, um ihn zu fragen, ob diese Nachricht richtig sei, ob das Londoner Kabinett an dem Abkommen teilgenommen habe, und welches sein Eindruck wäre. Grey sagte mir, er habe dem Botschafter geantwortet, daß er von dem Inhalt der Konvention Kenntnis habe, daß er die in Paris veröffentlichte Version für richtig halte, daß das Londoner Kabinett sich nicht an den Verhandlungen beteiligt habe, daß sein Eindruck dahin ginge, der Abschluß der Konvention sei ein kluger politischer Schritt, und daß er in ihr nichts erblicke, was das Prinzip der offenen Tür gefährden könnte. Benckendorff.

271. Vertraulicher Bericht des russischen Geschäftsträgers in Paris an den russischen Außenminister vom 24. Juni/7. Juli 1910.

Nach Empfang Ihres Telegramms Nr. 905 suchte ich gleich am nächsten Tag Pichon auf, um mit ihm in einen vertraulichen Meinungsaustausch über die bevorstehende türkische Anleihe in Paris zu treten. Pichon, der die Ankunft des türkischen Finanzministers am folgenden Tag erwartete, teilte mir zunächst mit, daß das Pariser Kabinett keine bestimmten Informationen hinsichtlich der bevorstehenden türkischen Anleihe besäße. Was ihre Höhe anlange, sei ihm nur bekannt, daß die Türkei mit der tatkräftigen Unterstützung von M. Laurent ein Programm der türkischen Finanzreform ausgearbeitet habe, und daß dieses eine große äußere Anleihe von 600 Millionen ins Auge fasse, um das laufende Defizit zu decken und die notwendigsten Bedürfnisse der Regierung zu befriedigen. Pichon glaubt aber nicht, daß Djavid Vollmacht zum Abschluß einer so großen Anleihe besitzt, und meint, daß er sich vorerst damit begnügen solle, diejenigen



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Mittel zu finden, deren das türkische Schatzamt unbedingt bedarf, in Höhe von ungefähr 120 bis 180 Millionen. Ich habe nicht verfehlt, dem Minister Ihre Erwägungen und Argumente darzulegen, welche auf ihn einen sehr starken Eindruck gemacht haben. Ganz besonders beunruhigt schien er mir durch Ihren Hinweis zu sein, daß die Verstärkung der türkischen Streitkräfte an der persischen und kaukasischen Grenze eine unmittelbare Schwächung unserer militärischen Machtstellung an der Westgrenze Rußlands zur Folge haben würde. Trotzdem hielt er es für nötig darauf hinzuweisen, daß Frankreich bei den Verhandlungen unmöglich türkische Garantien dafür verlangen könne, daß die in Paris erhaltenen Mittel nicht für militärische Rüstungen verwendet werden. Eine derartige Bedingung wäre mit der Würde des ottomanischen Reiches unvereinbar, sie würde abgelehnt werden und entschieden nur dazu dienen, die Türkei zu veranlassen, Deutschlands Schutz nachzusuchen, zu diesem in ein enges Verhältnis zu treten und den Abschluß der Anleihe irgendwo anders zu suchen in erster Linie für militärische Zwecke. Viel leichter wäre es jedoch nach der Ansicht Pichons, die neue türkische Anleihe davon abhängig zu machen, daß aus dem türkischen Eisenbahnprogramm alle Linien ausgeschaltet würden, die für Rußland in strategischer Hinsicht unerwünscht wären; dies um so mehr, als derartige Linien keine Einnahmen versprechen und die türkischen Finanzen schwer belasten würden. Pichon hat mir mitgeteilt, daß er überhaupt die Absicht habe, die Anleihe dazu zu benutzen, um von der Türkei wirkliche politische Zugeständnisse zu verlangen, die für die drei Mächte des Dreiverbandes in gleicher Weise befriedigend wären. Pichon hat es vermieden, diesen Gedanken weiter zu entwickeln; soviel ich aber aus dieser und meiner vorhergehenden Unterredung mit ihm beurteilen kann, besteht beim Pariser Kabinett die Absicht, der Pforte das Verspre-



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chen und die Versicherung abzunehmen, ihre Politik unabhängig von der Deutschlands zu machen und die immer noch bestehenden Bande zwischen Konstantinopel und Berlin (militärische Instrukteure, Munitionslieferungen und Eisenbahnbauten) soweit wie möglich zu lockern. Nekljudow.

272. Telegramm des russischen Botschafters in London an den russischen Außenminister vom 25. Juni/8. Juli 1910. — Nr. 178. Ich bin heute morgen vom König zur Überreichung meines Beglaubigungsschreibens empfangen worden. Seine Majestät hat mir erklärt, er wolle mir wiederholen, was Grey mir wahrscheinlich schon gesagt habe, daß nämlich die Abberufung Nicolsons nur aus dem einen Grunde erfolgt sei nämlich, um die zwischen Rußland und England so glücklich bestehenden Beziehungen zu erhalten und sie noch enger zu gestalten. Der König fügte hinzu, daß er hierüber unserem Souverän geschrieben habe. Benckendorff.

273. Auszug aus dem Bericht des russischen Geschäftsträgers in Peking an den russischen Außenminister vom 1./14. Juli 1910. Als das einzige friedliche Mittel, um auf China einen Druck auszuüben, erscheint augenblicklich der möglichst schnelle Bau eines zweiten Geleises unserer sibirischen Bahn. Nur diese Maßregel fürchten die Chinesen, da sie deren Folgen voraussehen und verstehen, daß



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dadurch unsere allgemeinen Beziehungen zu dem chinesischen Reich bestimmt werden können. Alle anderen ähnlichen Maßregeln, welche bereits in Anbetracht der wenig freundschaftlichen Haltung der chinesischen Regierung uns gegenüber ins Auge gefaßt worden sind, wie z. B. ein Ausfuhrverbot für Getreide, haben entweder keine entscheidende Bedeutung, oder sie sind für uns selbst im Hinblick auf unsere Handelsbeziehungen zu China schädlich und gefährlich. Wenn man kriegerische Maßnahmen, soweit man sie vorbereitet und mit Vorbedacht anwendet, nicht nur als ein Mittel, sondern auch als das Ziel der Politik betrachtet, so braucht man einen diplomatischen Druck nur insofern in Rechnung zu stellen, als er letzten Endes den Charakter einer direkten Drohung annimmt. Dies letztere Mittel kann sich jetzt, da wir dank Ihrer Bemühungen ein enges Einvernehmen mit Japan erzielt haben, auf eine außerordentlich große moralische Kraft stützen; es fragt sich nur, wie man diese am besten ausnutzen soll. Ich kann mir nicht recht vorstellen, daß die Chinesen von einer diplomatischen Aktion so nachhaltig beeinflußt werden könnten, daß sie auf einmal, und für lange, vollkommene Nachgiebigkeit an den Tag legen. In der Praxis also wird man in jeder einzelnen Frage Druck ausüben müssen. Es ist durchaus möglich, daß man auf diese Weise Zugeständnisse von Seiten Chinas erreichen könnte, aber jedesmal wenn die chinesische Regierung unsere Forderungen als allzu weitgehend oder als ihre Rechte verletzend empfinden sollte, wird sie aus den oben angeführten Gründen es vorziehen, sich auch weiterhin einer Gefahr auszusetzen und unbedingt zu versuchen, die übernommenen Verpflichtungen zu umgehen oder auf irgendeine indirekte Weise ungültig zu machen Es ist für uns auch deshalb sehr wichtig, die chinesischen Fragen in richtiger Perspektive zu sehen, weil wir, wenn wir den entgegengesetzten Weg einschlagen,



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d. h. fast ausschließlich das System der Kompromisse anwenden, den Charakter unserer Politik in China progressiv ändern und immer mehr die wirtschaftlichen und nicht die territorialen Eroberungen ins Auge fassen würden. Diese letzteren haben bis jetzt direkt oder indirekt im Vordergrund unserer Bestrebungen gestanden. Wenn wir wirtschaftlich genügend stark sind, so ist es einfacher, alle unsere Anstrengungen auf den Abschluß eines Handelsvertrages zu richten. Wenn wir aber, wie ich fürchte, auf diese Weise nur den Ausländern nützen werden und für uns selbst aus dem Erreichten keinen Nutzen ziehen können (so z. B. haben wir in den letzten 30 Jahren im Grunde genommen keinen Nutzen aus den außerordentlichen Vorteilen des Handelsvertrages von 1881 ziehen können), so besteht meiner Ansicht nach kein Grund, die Grundlinie unserer bisherigen Politik der territorialen Erwerbungen zu verlassen. Wir müssen nur unsere Absichten genau umschreiben und bestimmen, was für uns am vorteilhaftesten und am leichtesten zu erreichen ist. Vielleicht werden uns die vorauszusehenden Konflikte und das Erlöschen des Handelsvertrages vom Jahre 1881 die Möglichkeit geben, das Gebiet von Iii, das wir im Jahre 1881 abgetreten haben, wieder in unseren Besitz zu bringen, was unsere mittelasiatischen Besitzungen auf lange Jahre hinaus gegen neue Gefahren schützen würde, ohne eine neue derartige Gefahr heraufzubeschwören, welche die Millionen von Angehörigen der gelben Rasse für uns bilden würden; eine solche Gefahr kann als ein in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht unumgängliches Übel allenfalls nur in überseeischen Kolonien geduldet werden. Schtschjokin.

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274. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 21. Juli/3. August 1910. — Nr. 1139. Vor einiger Zeit habe ich in einer persönlichen und freundschaftlichen Aussprache mit dem türkischen Botschafter diesen gefragt, ob es wahr sei, daß, wie die Zeitungen immer wieder behaupten, die Türkei die Absicht habe, dem Dreibunde ofßziell beizutreten, und daß Hakki Pascha darüber Verhandlungen mit Aehrenthal in Marienbad führen werde. Ich habe hierbei bemerkt, daß derartige Gerüchte mir unwahrscheinlich erscheinen, da die Türkei wohl kaum die Haltung Österreichs bei der bulgarischen Unabhängigkeitserklärung so schnell vergessen haben und umgekehrt sich der Bemühungen Rußlands, Verwicklungen von der Türkei abzuwenden, erinnern wird. Immerhin müssen derartige Gerüchte bei uns einige Beunruhigung hervorrufen, und wenn sie auch nur teilweise wahr wären, so müßte dies einen entscheidenden Einfluß auf unsere weiteren Beziehungen zur Türkei ausüben. Turkhan Pascha hat diese Unterredung nach Konstantinopel mitgeteilt und mir heute ein langes Antworttelegramm vorgelesen, in dem Rifaat diese Gerüchte aufs entschiedenste widerlegt und die Absicht der türkischen Regierung bekräftigt, sich volle Handlungsfreiheit zu wahren und die allerbesten Beziehungen zu Rußland zu unterhalten, von dessen Seite die Türkei so viele freundschaftliche Beweise erhalten habe. Iswolski.



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275. Bericht des russischen Botschafters in Berlin an den russischen Außenminister vom 23. Juli/5. August 1910. Der neue deutsche Staatssekretär ist in Berlin angekommen und hat sein Amt sogleich übernommen. Auf der Reise aus Bukarest ist Herr von Kiderlen-Waechter nach Marienbad gefahren, um sich mit seinem österreichisch-ungarischen Kollegen zu besprechen. Die hiesige öffentliche Meinung betont die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ministern, was zweifellos die Förderung der beiderseitigen Interessen erleichtert, und begrüßt mit sichtlichem Vergnügen den Entschluß Kiderlens, mit Aehrenthal persönlich Fühlung zu nehmen, ehe er sein Amt übernimmt. Eine ähnliche Bedeutung ist seinerzeit der Begegnung zwischen dem österreichischen Außenminister und dem deutschen Reichskanzler beigelegt worden. Die Verschärfung der Balkanfragen, als deren genauer Kenner berechtigterweise Herr von Kiderlen gilt, die Ankunft des türkischen Großwesirs in Marienbad und endlich die Möglichkeit einer, wie man hier allgemein glaubt, aktiveren Politik Rußlands auf dem Balkan haben angeblich persönliche Verhandlungen zwischen den beiden Ministern notwendig gemacht. Gerüchten zufolge sind diese Verhandlungen in eine bestimmte Form gekleidet worden und lassen die Möglichkeit einer gemeinsamen Politik der beiden verbündeten Mächte auf dem Balkan deutlich voraussehen. Osten-Sacken. 276. Telegramm des russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 24. Juli/6. August 1910. Unser Gesandter in Teheran telegraphiert: Der österreichische Gesandte hat mir vertraulich mitgeteilt, der per-

— 348 — si3che Außenminister habe ihm erklärt, daß das neue Kabinett fest entschlossen sei, die Note vom 7. Mai über Konzessionsfragen zu beantworten, und daß es sich sogar mit ihm über die Fassung dieser Antwort beraten hätte. Rosthorn habe ihm angeblich erwidert, daß bei der jetzigen inneren, insbesondere finanziellen Lage Persiens die Frage der Eisenbahnen noch keine praktische Bedeutung habe, und daß man sich hierüber mit den Vertretern Rußlands und Englands verständigen mü3se, da die übrigen Regierungen mit der erfolgten Beruhigung zufrieden seien und keine weitere Verschärfung der Lage wünschten. Marling wird morgen versuchen, den Minister zu überreden, auf die Ausführung seiner Absicht zu verzichten. Iswolski. 277. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Botschafter in London vom 2./15. August 1910.

Da die von der persischen Regierung in Aussicht genommene Antwort auf die gemeinsame Note vom 7. Mai ohne Zweifel ungünstig ausfallen wird, so müssen wir unverzüglich einen Beschluß über die Haltung der beiden Regierungen in dieser Frage fassen. Unsererseits halten wir es für wünschenswert, Poklewski und Marling zu ermächtigen, den Persern ihre Antwortnote zurückzuschicken und darauf hinzuweisen, daß die gemeinsame Note vom 7. Mai keine Frage enthält, die eine Antwort erfordert, sondern nur eine Warnung, und daß beide Regierungen sich das Recht vorbehalten, die entsprechenden Maßregeln zu ergreifen, wenn die persische Regierung es für möglich erachtet, den berechtigten Wünschen seiner beiden Nachbarn, die stets Persien gegenüber aufrichtiges Wohlwollen an den Tag gelegt haben, keine Rechnung zu tragen. — Sprechen Sie bitte mit Grey und teilen Sie mir seine Ansicht telegraphisch mit. Sasonow.



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278. Privatschreiben des russischen Botschafters in London an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 4./17. August 1910. Obwohl es an Fragen allerernstester Natur nicht fehlt, ist es mir unglücklicherweise nicht möglich, irgendeine von ihnen offiziell zu besprechen, da ich Sir E. Grey schon lange nicht gesehen habe, und da sein Aufenthalt in Balmoral sich bis Mitte nächster Woche hinausziehen dürfte. Ich halte Sie telegraphisch so gut wie möglich auf dem laufenden, muß aber bemerken, daß ich es hier nur mit Mittelspersonen zu tun habe, die für Antworten bestimmter Natur genügen, mit denen ich aber nicht die einzelnen Fragen in erschöpfender Weise besprechen kann. Sir E. Grey ist abwesend, Hardinge ist nicht mehr da, und Nicolson ist noch nicht eingetroffen. An erster Stelle der Tagesfragen steht Kreta und alles, was damit zusammenhängt. Die oppositionelle Haltung Österreichs und Deutschlands hat hier eine Erregung hervorgerufen, deren Folgen Sie gesehen haben. Man mußte damit rechnen, und trotzdem hatte man hier nicht eine so entschiedene Opposition Deutschlands erwartet wahrscheinlich wegen der ständigen Annäherungsversuche, die Deutschland hier macht, und weil es eine so versöhnliche Sprache führt; man hatte Besseres gehofft. Graf Aehrenthal ist der erste Wortführer gewesen, und doch macht man das Berliner Kabinett für die gemeinsame Haltung der beiden Mächte verantwortlich. Grey und Hardinge haben hieraus den Schluß gezogen, daß, wenn wir zu Vieren Anstrengungen auf einem Gebiet machen, auf das sich die Verpflichtungen der Schutzmächte nicht erstrecken, dies bedeuten würde, daß wir eine Verantwortung übernehmen, die anderen zukommt, und daß wir diese letzteren von derselben befreien, um selbst jedesmal ein negatives Resultat zu erzielen — die Folge der Unterstützung, welche die türkische Regierung zum Schaden

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des Ansehens und der Würde der vier Mächte in Berlin findet. Eine absolute Schlußfolgerung ist in der Politik gewöhnlich falsch; das Londoner Kabinett hat die seinige nicht aufrechterhalten können, und wir sehen schon gewisse Rückwirkungen. Aber bis zu welchem Grad und in welcher Form es sich engagieren will, kann ich Ihnen nur sagen, nachdem ich Grey gesprochen habe. Ich halte es für sicher, daß er auf großer Vorsicht bestehen wird. Sie sehen, ich spreche über die Frage nur ganz im allgemeinen; ich habe nichts in Händen, um Bestimmteres sagen zu können, und berufe mich, was Einzelheiten anlangt, auf meine Telegramme. Gestatten Sie mir, dies auch bezüglich Persiens zu tun. Ich habe ein ganz persönliches Schreiben Poklewskis erhalten, das interessant und klug ist, wie alles, was er schreibt. Er verwahrt sich mir gegenüber dagegen, daß er die Basis unserer Politik, die Entente mit England, aus den Augen läßt. Er brauchte dies nicht zu tun, und ein derartiger Gedanke ist mir nie gekommen. Er handelt gerade so, wie er es tun muß, er denkt an das Ansehen und an die Interessen seines Landes an dem Ort, wo er sie zu vertreten hat. Marling tut gerade dasselbe, und deshalb sind die beiden auch stets einig. Es besteht die Gefahr, wenn man die Frage von diesem Standpunkt aus betrachtet, daß England und Rußland durch den Gang der Ereignisse automatisch gezwungen werden, gerade das in Persien zu tun, was sie im Grunde vermeiden wollen. In dieser Hinsicht halte ich es für meine Pflicht, Sie genau über den Standpunkt der englischen Regierung zu unterrichten. Genau wie bei uns, so macht sich auch hier mit Ausnahme einer Gruppe von Schreiern und direkt interessierten Leuten eine gewisse Enttäuschung über den Gang der Ereignisse in Teheran bemerkbar; diese Enttäuschung wird verstärkt durch den absoluten Mangel an fähigen Männern in Persien und durch die Hoffnungslosigkeit, normale Zustände bald

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wiederhergestellt zu sehen. Ich glaube jedoch, daß man in London das augenblickliche persische Ministerium für fähiger als seine Vorgänger hält, wie auch immer seine Absichten sein mögen. Aber die beiden Vertreter in Teheran sehen voraus, daß früher oder später eine Einmischung erfolgen wird, die bis zu einer Teilung Persiens oder wenigstens bis zu einer Art Kondominium gehen könnte. Dies ist eine Folgerung, der sich die englische Regierung auf das entschiedenste widersetzen wird. Erstens will England keine Annexion mehr; es weiß aus Erfahrung, wie man zu einer solchen gezwungen werden kann. Es will Persien nicht besetzen, weil es überzeugt ist, daß dies ohne Krieg nicht möglich ist. Ferner will ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, daß der englische Standpunkt vor allem negativer Natur ist. England hat weniger Interesse daran, was in Persien vor sich geht, als es entschlossen ist, zu verhindern, daß irgendeine andere Macht außer Rußland und England in Persien die erste Rolle spiele. Dies bezieht sich besonders auf Deutschland und die Türkei aus politischen, aus hochpolitischen Gründen. Aus diesem Grunde ist England bisher sehr vorsichtig gewesen, wenn es sich um den Schutz seiner kommerziellen Interessen gehandelt hat. Aber in dieser Hinsicht hat es in letzter Zeit seinen Standpunkt ändern müssen. Die Unruhen im Süden sind größer, als man zuerst annahm; die Unzufriedenheit der englischen Handelskreise wird immer lauter, und die Regierung kann sich im Parlament dem Vorwurf nicht aussetzen, im Süden für den Schutz der englischen Interessen weniger zu tun, als wir im Norden für die russischen Interessen tun — daher der Plan einer Landung in einer anderen Form als die bloße Verstärkung der Konsulatswachen. Aber gerade in diesem Umstände sieht die englische Regierung einen gefährlichen Anfang, und aus diesem Grunde ist England stets einer militärischen Okkupation prinzipiell abgeneigt gewesen. Das politische Interesse entspricht

— 352 — nicht dem kommerziellen oder wirtschaftlichen. In den Augen der englischen Regierung ist ersteres letzten Endes der bestimmende Faktor. Was die englische Regierung am meisten fürchtet, ist die Notwendigkeit, uns oder vielmehr der von unseren Vertretern in Teheran vorgeschlagenen Richtung folgen zu müssen. Man darf hieraus durchaus nicht den Schluß ziehen, daß England überhaupt abgeneigt ist, die Ordnung in Persien zu stützen; aber es will nicht zu Mitteln greifen, die den orientalischen Fanatismus gegen England oder Rußland entfachen könnten. Soweit ich mir über den englischen Standpunkt Rechenschaft abgeben kann, fürchtet man hier, daß ein auf Persien ausgeübter Druck das Land in die Arme anderer, das heißt Deutschlands und der Türkei, treiben werde. Beiläufig gesagt, erscheint mir dies heute wahrer denn je. Ich brauche die Frage nicht zu erörtern, in welcher Richtung unser politisches Interesse liegt, aber ich muß sagen, daß das, was für England wahr ist, noch mehr für uns gilt. Der Norden Persiens ist eine neue Mandschurei und kann ohne Krieg von uns nicht absorbiert werden — und was für ein Krieg wäre das! Wenn ich diese Frage so ausführlich behandle, so tue ich es nur, weil ich den Augenblick für sehr ernst halte. Eine militärische Intervention unsererseits muß eine ähnliche Maßregel von Seiten Englands hervorrufen; wir können nicht verlangen, daß es von einer solchen absieht, und in diesem Augenblicke würde das gefährliche Kondominium beginnen. Erlauben Sie mir zu wiederholen, was ich Ihnen bereits geschrieben habe: dadurch, daß wir die Besetzung Kaswins zum Gegenstand von Verhandlungen mit der persischen Regierung gemacht haben, haben die vielen politischen Intriganten in Teheran eine für uns gefährliche Waffe in die Hand bekommen, denn diese Leute müssen ja im Grunde genommen einsehen, daß die Fortdauer der Besetzung von Kaswin ihrer Sache nur nützt. In der Tat, die persische Regierung ist von der Verantwortung und den Kosten der Unterhaltung von Truppen zur Aufrechterhaltung



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der Ordnung befreit, und wir nehmen ihr diese Verantwortung ab. Die persische Regierung hat alles Interesse daran, daß der gegen uns gerichtete wilde und blinde Fanatismus der Massen sich noch verstärkt. Sie verfügt dadurch über einen Grund zur Beschwerde, die sie bald im persischen Parlament, bald bei den andern Mächten vorbringen kann. Und wenn man ihr entgegnet, daß die Anwesenheit der russischen Truppen nur dazu dient, die allgemeine Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten, so kann sie jetzt antworten, daß dies nicht wahr ist, denn Rußland benutzt die Verhandlungen über die Zurückziehung der Truppen, um Vorteile für sich herauszuschlagen. Die Absicht, Angehörige von Großmächten in persischen Diensten anzustellen, ist ein deutlicher Beweis, wie sehr Persien bereits nach auswärts blickt. Italien wird sich vielleicht weigern. Dieses Land liebt nicht direkte Konflikte. Aber kann man dasselbe von allen Mächten sagen? Ehe man sich zu dem einen oder anderen Mittel entschließt, muß man sich fragen, ob der Gang der Ereignisse uns nicht zu einer direkten und durchgreifenden Einmischung in die persischen Angelegenheiten führen wird. Ich bitte Sie, die auch für mich unerwartete Länge dieses Briefes zu entschuldigen. Aber da ich die Absicht habe, bald den mir bewilligten Urlaub anzutreten, war mir daran gelegen, Ihnen meine Gedanken über diese Fragen darzulegen und Sie, soweit es in meinen Kräften steht, genau zu informieren. Benckendorff.

279. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an das russische Außenministerium vom 5./18. August 1910. Die persische Regierung hat im Parlament eine Gesetzesvorlage über die Anstellung von Ausländern einge-

Siebert, BenokendorH. I.

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bracht, ohne die beiden Gesandtschaften vorher gefragt zu haben; die Zurücknahme der Gesetzesvorlage kann man ohne starken Druck nicht erreichen. Da unser Ziel hauptsächlich darin besteht, die Anstellung von deutschen oder österreichischen Instrukteuren in der persischen Armee nicht zuzulassen, so würde es vielleicht genügen, zu erklären, daß die Anstellung von Angehörigen einer Großmacht als Instrukteure Rußland und England veranlassen könnte, ihre eignen Untertanen in persischen Diensten auf diejenigen Posten zu bringen, welche die beiden Mächte vom Standpunkt ihrer Interessen aus als wünschenswert erachten. Poklewski-Koziell.

280. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an das russische Außenministerium vom 24. August/6. September 1910. Trotz der von Barclay und mir wiederholt erteilten Ratschläge hat uns die persische Regierung gestern eine Antwort auf die gemeinsame Note vom 7. Mai übergeben. Nachdem darin betont wird, daß Persien nie irgendeine Maßregel ergreifen werde, welche der Freundschaft und den guten Beziehungen zu den beiden Mächten nicht entsprechen würde, wird der Wunsch der persischen Regierung erwähnt, die in unserer Note besprochenen Konzessionen für sich selbst zu behalten, und ferner auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit Persiens zu wahren. Unter Bezugnahme auf unsere Versicherungen hinsichtlich unserer Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Persiens sowie hinsichtlich der persischen Unabhängigkeit spricht die Note zum Schluß die Überzeugung aus, daß keinerlei Erklärungen unsererseits erfolgen würden, die sich nicht mit diesem gerechten Standpunkt in Einklang bringen ließen. — Den erhaltenen Instruktionen gemäß haben

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wir heute diese Antwort mit einer entsprechenden Begleitnote zurückgeschickt, wobei die Dragomans der beiden Gesandtschaften die entsprechenden mündlichen Erklärungen abgegeben haben. Der Minister des Auswärtigen war sehr verwirrt und gab seiner Verwunderung Ausdruck, daß die Antwort der persischen Regierung die beiden Kabinette nicht befriedigt habe. Poklewski-Koziell.

281. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an das russische Außenministerium vom 24. August/6. September 1910. In diesen Tagen wird die endgültige Entscheidung des Parlaments hinsichtlich der Anstellung von Ausländern erfolgen. Man glaubt, daß im Finanzministerium entweder Schweizer oder Amerikaner angestellt werden. Der Anstellung von Belgiern ist das Parlament abgeneigt. Was die Schweizer anlangt, so hat der englische Gesandte im Auftrage seiner Regierung die Hoffnung ausgedrückt, daß diese nicht zu den deutsch-schweizer Kantonen gehören werden, da sie sich sonst unter dem Schutze der deutschen Gesandtschaft befinden würden. Die besten Aussichten scheinen die Amerikaner zu haben, für die man jetzt um so größere Sympathien hegt, als der hiesige amerikanische Gesandte sich geweigert hat, die Proteste des diplomatischen Korps gegen das Monopol des Handels mit Häuten zu unterzeichnen. Poklewski-Koziell.

282. Schreiben des russischen Geschäftsträgers in Rom an den russischen Außenminister vom 25. August/7. September 1910. San Giuliano ist soeben aus Österreich zurückgekehrt, nachdem er, wie festgesetzt, zuerst Salzburg und dann Ischl 23*

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283. Telegramm des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Gesandten in Teheran vom 26. August/8. September 1910.

Wir glauben, daß die Anstellung von Amerikanern als Finanzbeiräte an sich unsere Interessen nicht bedroht. Die Tatsache aber, daß Angehörige einer Großmacht angestellt werden, beweist, daß die Perser den Ratschlägen Rußlands und Englands nicht haben folgen wollen. Außerdem bildet die Anstellung von Amerikanern einen Präzedenzfall, nach dem es schwer sein wird, der Anstellung von Angehörigen anderer Großmächte und folglich auch der Ausbreitung des Einflusses der letzteren vorzubeugen. Ich habe in diesem Sinne mit O'Beirne gesprochen und ihn gebeten, die Meinung



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des Londoner Kabinetts einzuholen. Ich bitte Sie, mir Ihre Ansicht mitzuteilen und, falls Sie es für nötig erachten, auch irgendwelche Maßregeln zum Schutz unserer Interessen zu ergreifen sowie uns zu telegraphieren, worin diese Maßregeln bestehen könnten. Sasonow.

284. Telegramm des russischen Gesandten in Teheran an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 28. August/10. September 1910. Nr. 564. Ich teile Ihre Ansicht, daß die Anstellung von Amerikanern unseren Interessen nicht schadet, und zweifle, daß dies ein Präzedenzfall sein könnte, da Amerika keine europäische Großmacht ist und in Persien keine politischen Interessen verfolgt. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß die persische Regierung unsere Ratschläge in dieser Frage nicht befolgt hat und dies auch in Zukunft nicht tun wird, solange das jetzige Ministerium am Ruder ist. W i r werden aber die einmal getroffene Entscheidung nicht mehr rückgängig machen können, ohne daß die beiden Gesandtschaften einen starken Druck ausüben und entschlossen sind, im Notfall zu den Zwangsmaßregeln zu greifen, die zu erwähnen ich bereits Gelegenheit hatte. Wenn unsere beiden Regierungen solche Maßregeln vermeiden wollen, so wäre es besser, die Frage der Beiräte der persischen Regierung gegenüber zu ignorieren und uns an die Regierungen derjenigen Länder zu wenden, aus denen die persische Regierung die ausländischen Beiräte zu erhalten wünscht. Hier beständig Ratschläge zu geben, die doch nicht befolgt werden, schadet nur unserem Ansehen. Auf alle Fälle halte ich es für durchaus schädlich, der hiesigen Regierung irgendeinen Beweis einer freundschaftlichen Haltung zu geben, wie z. B. finanzielle Unterstützung, Abberufung unserer Truppen, Zustimmung zum Ab-

— 358 — kommen mit dem Petroleum-Syndikat usw., ehe die Perser in jeder einzelnen dieser Fragen nicht diejenigen Bedingungen erfüllt haben, die im voraus von der Kaiserlichen Regierung ausgearbeitet worden waren. Es erscheint mir nicht möglich, das Vertrauen der Nationalisten zu gewinnen, indem wir ihnen mit Geld unter die Arme greifen oder in einzelnen Punkten entgegenkommen, da, wenn wir auch auf diese Weise in einem bestimmten Falle einem Konflikt aus dem Wege gehen, es dennoch sofort zu einem Zusammenstoß in zehn anderen nicht weniger wichtigen Fragen kommen würde, in denen unser Standpunkt dem der am Ruder befindlichen Partei diametral entgegengesetzt wäre. Deshalb erscheint es mir zweckmäßiger und vorteilhafter, die Perser davon zu überzeugen, daß sie ohne freundschaftliche Beziehungen zu uns weder von uns noch in genügendem Maße von irgendeiner anderen Regierung die Unterstützung erhalten können, ohne die sie ein wildes und niedrig stehendes Volk bleiben werden trotz ihrer hochfliegenden konstitutionellen Pläne. Poklewski-Koziell.

285. Schreiben des stellvertretenden russischen Außenministers an den russischen Finanzminister vom 1./14. September 1910. In der Anlage beehre ich mich, Ihnen Abschrift eines Telegramms unseres Geschäftsträgers in Peking zu übersenden, in dem er um Mitteilung der Stellungnahme der Kaiserlichen Regierung zu der Auslandsanleihe bittet, die, wie er hört, von der chinesischen Regierung für allgemeine Staatszwecke projektiert wird. Ich bitte Sie ergebenst, mir nach Kenntnisnahme von diesem Telegramm Ihr gefälliges Urteil mitteilen zu wollen. Meinerseits halte ich es für erforderlich, der Meinung Ausdruck zu geben, daß wir kaum eine Möglichkeit besitzen, diese Anleihe zu verhindern, obwohl die chinesische Re-



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gierung zweifellos die auf diesem Wege erhaltenen Gelder unter anderem auch zur weiteren Entwicklung ihrer Tätigkeit in der Nordmandschurei benutzen wird, die uns nur unbequem sein kann; denn es ist anzunehmen, daß diese Anleihe, wenn sie überhaupt zustandekommt, in den Vereinigten Staaten von Amerika emittiert werden wird, auf deren Finanzkreise einzuwirken wir meines Wissens nicht imstande sind. Viel wird jedoch von den Einnahmequellen abhängen, mit denen die chinesische Regierung die projektierte Anleihe wird garantieren wollen; im gegenwärtigen Stadium der Angelegenheit wäre es verfrüht, davon zu sprechen, wie wir die Frage dieser Garantien ausnutzen könnten. Dazu kommt noch eine Überlegung, die meine besondere Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und zwar: inwieweit wäre es möglich, daß auch wir uns in der einen oder anderen Form an der chinesischen Anleihe, von der unser Vertreter in Peking gehört hat, beteiligen könnten; vom politischen Standpunkt aus wäre uns eine solche Beteiligung zweifellos vorteilhaft, da sie uns ein neues Einflußmittel auf die chinesische Regierung in einer so wichtigen Frage wie die finanzielle geben würde. Gleichzeitig beehre ich mich Ihnen die Bitte zu unterbreiten, ob Sie es nicht für nützlich hielten, die Agenten des Finanzministeriums in Europa und Amerika zu beauftragen, die Verhandlungen über die neue chinesische Staatsanleihe zu verfolgen, mit denen nach den Informationen des Herrn Schtschjokin eventuell zu rechnen ist. Sasonow.

286. Telegramm des russischen Geschäftsträgers in Paris an den stellvertretenden russischen Außenminister vom 13./26. September 1910. Dank den energischen Vorstellungen Hardinges und Mallets, die sie Cassel gemacht haben, ist der Abschluß

— 360 — einer türkischen Anleihe in London einstweilen unmöglich gemacht. Das Londoner Kabinett hat Pichon seine weitere Unterstützung in dieser Frage zugesagt, obwohl die englische Regierung leider nicht das dem Pariser Kabinett zur Verfügung stehende Mittel besitzt, das heißt die Möglichkeit, die Kotierung der Anleihe an der Börse zu verbieten. I