Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts: Herausgegeben:Goßmann, Hans-Christoph; Liß-Walther, Joachim 9783883096520, 3883096520

Die Bibel mit ihrem Reichtum an Geschichten und Gestalten hat unsere Kultur zutiefst geprägt. Auf ganz unterschiedliche

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Inhaltsverzeichnis
Hans-Christoph Goßmann / Joachim Liß-Walther - Vorwort
Jörgen Sontag - Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Eine Vorstellung der Adam - Reflexion von Elie Wiesel
Hans-Christoph Goßmann - „Die Sündflut“. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach
Joachim Liß-Walther - Die Sintflut. Über Stefan Andres und seine große Romantrilogie
Anke Wolff-Steger - Thomas Manns Erzählung „Das Gesetz“ und seine Beziehung zum biblischen Text
Monika Schwinge - Gott und das Leiden. Das biblische Buch Hiob und die Hiobromane von Josef Roth und Herbert G. Wells
Frauke Dettmer - Lion Feuchtwanger: Jefta und seine Tochter
Karin Schäfer - Der Mann im Fisch. Stefan Andres „Der Mann im Fisch“
Joachim Liß-Walther - Der König David Bericht. Über Stefan Heym und seinen biblischen Roman
Die Autorinnen und Autoren
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Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts: Herausgegeben:Goßmann, Hans-Christoph; Liß-Walther, Joachim
 9783883096520, 3883096520

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Hans-Christoph Goßmann Joachim Liß-Walther (Hrsg.)

Die Bibel mit ihrem Reichtum an Geschichten und Gestalten hat unsere Kultur zutiefst geprägt. Auf ganz unterschiedliche Weise haben Menschen ihren Zugang zu diesen Geschichten und Gestalten gesucht und auch gefunden. Solche Zugänge begegnen in der bildenden Kunst ebenso wie auch in der Literatur. In diesem Buch sind acht Vorträge dokumentiert, in denen gezeigt wird, wie Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments des Christentums, in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen und interpretiert worden sind. Dabei werden folgende Werke zugrunde gelegt: das Drama ‚Die Sündflut’ von Ernst Barlach, die Roman-Trilogie ‚Die Sintflut’ von Stefan Andres, Romane von Joseph Roth und Herbert G. Wells über Hiob, das Buch ‚Adam oder das Geheimnis des Anfangs’ von Elie Wiesel, der Roman ‚Der König David Bericht’ von Stefan Heym, der Roman ‚Jephtas Tochter’ von Lion Feuchtwanger, der Roman ‚Der Mann im Fisch’ von Stefan Andres und die Erzählung ‚Das Gesetz’ von Thomas Mann – Werke also, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Dennoch haben sie etwas Gemeinsames: Alle zeigen auf je ihre Weise, wie die Verfasser ihre jeweilige Gegenwart vor dem Hintergrund der biblischen Geschichten, auf die sie sich beziehen, verstanden haben. Es ist keineswegs übertrieben davon zu sprechen, dass die biblischen Traditionen somit eine Verstehenshilfe bieten, die es ermöglicht, das eigene Leben wie das der jeweiligen Gesellschaft zu deuten und damit letztlich auch gestalten zu können.

ISBN 978-3-88309-652-0

Hans-Christoph Goßmann / Joachim Liß-Walther (Hrsg.) Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts

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Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts Verlag Traugott Bautz GmbH

Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 6

Verlag Traugott Bautz

Hans-Christoph Goßmann Joachim Liß-Walther (Hrsg.)

Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2011 ISBN 978-3-88309-652-0

Inhaltsverzeichnis Hans-Christoph Goßmann / Joachim Liß-Walther Vorwort

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Jörgen Sontag Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Eine Vorstellung der Adam - Reflexion von Elie Wiesel

9

Hans-Christoph Goßmann „Die Sündflut“. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach

33

Joachim Liß-Walther Die Sintflut. Über Stefan Andres und seine große Romantrilogie

69

Anke Wolff-Steger Thomas Manns Erzählung „Das Gesetz“ und seine Beziehung zum biblischen Text

153

Monika Schwinge Gott und das Leiden. Das biblische Buch Hiob und die Hiobromane von Josef Roth und Herbert G. Wells

183

Frauke Dettmer Lion Feuchtwanger: Jefta und seine Tochter

202

Karin Schäfer Der Mann im Fisch. Stefan Andres „Der Mann im Fisch“

223

5

Joachim Liß-Walther Der König David Bericht. Über Stefan Heym und seinen biblischen Roman

243

Die Autorinnen und Autoren

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Vorwort Das „Buch der Bücher“, das Buch schlechthin, das Alte und Erste, das Hebräische Testament und das Neue und Zweite, das Griechische Testament: die Bibel ist ein Buch des Glaubens, der Geschichte und Geschichten Gottes mit seinem Volk Israel inmitten der Völker. Es ist keineswegs erstaunlich, dass gerade im 20. Jahrhundert viele Schriftsteller und Dichter auf vor allem alttestamentliche Gestalten und Geschichten zurückgegriffen haben, um Verwerfungen und Katastrophen, Auf- und Abbrüche, Götzen und Abgötter, falsche Propheten und Kriegstreiber, Hunger und Elend, Ausbeutung von Mensch und Natur, Machtversessenheit und Gier, Heuchelei und Fanatismus in diesem Jahrhundert zu benennen und vor dem Hintergrund und mit Hilfe biblischer ‚Urtypen’ zu demaskieren. Nicht wenige dieser Autoren sind jedoch in Vergessenheit geraten und ihre Werke mit ihnen, so dass sie oft nur noch ein literarisches Schattendasein führen. Das war für uns Anlass, solche Werke in einer Reihe von Vorträgen wieder zum Sprechen zu bringen. Die Vorträge wurden zunächst in einer Tagung vom 4. bis 6. Dezember 2009 mit dem Titel ‚Noah, Mose, Hiob und andere. Gestalten und Geschichten des Alten Testaments in der Literatur des 20. Jahrhunderts’ in der Akademie Sankelmark und dann im Rahmen einer Vortragsreihe unter dem Titel ‚Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts’ in der Jerusalem-Akademie im Jahr 2010 gehalten. Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten und teilweise erheblich erweiterten Vorträge über einige durchaus bekannte und andere fast untergegangene Werke von Elie Wiesel, Ernst Barlach, Stefan Andres, Thomas Mann, Joseph Roth, Herbert G. Wells, Lion Feuchtwanger und Stefan Heym – Werke, die unterschiedlicher kaum sein können. Den-

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noch haben sie etwas gemeinsam: Alle zeigen auf je eigene Weise, wie ihre Verfasser ihre jeweilige Gegenwart in der Auseinandersetzung mit der Bibel verstanden haben. Es ist keinesfalls übertrieben davon zu sprechen, dass biblische Traditionen eine Verstehenshilfe bieten, die es ermöglicht, das eigene Leben wie das der jeweiligen Gesellschaftsentwicklung zu deuten und damit letztlich auch gestalten zu können. Leitend für die Referate war, das jeweilige Buch eines Autors anhand von Textpassagen vorzustellen und in einigen Fällen mit einer biographischen Skizze zu verknüpfen. Wir danken den Autoren dafür, dass sie ihre Vorträge für die Publikation in diesem Sammelband zur Verfügung gestellt haben, und Frau Ulla Wieckhorst für ihr sorgfältiges Korrekturlesen. Hans-Christoph Goßmann Joachim Liß-Walther

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Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs1 Eine Vorstellung der Adam - Reflexion von Elie Wiesel Jörgen Sontag Hinführung Als Kind las ich die Geschichten der Bibel mit einer Mischung aus Staunen und Angst. Ich stellte mir vor wie Isaak auf dem Altar lag, und mußte weinen. Ich sah Josef als ägyptischen Königssohn und mußte lachen. Warum sollte man sich diesen Geschichten von neuem zuwenden? Der Erzähler Elie Wiesel will die Bekanntschaft mit fernen und ihm stets gegenwärtigen Gestalten erneuern, die sein Leben geprägt haben. Er möchte versuchen, von den Texten der Bibel und des Midrasch ausgehend, ihre Porträts zu zeichnen und in die Gegenwart zu stellen. Denn jüdische Geschichte vollzieht sich in der Gegenwart. Sie verzichtet auf Mythologie und bestimmt unser Leben und unsere Rolle in der Gesellschaft. Jupiter ist ein Symbol, aber Jesaja ist eine Stimme, ein Bewußtsein. Zeus ist gestorben, ohne gelebt zu haben, aber Moses bleibt lebendig. Der Widerhall seiner Worte, die vor Zeiten an ein Volk auf dem Wege zur Freiheit gerichtet waren, dringt bis in unsere Tage, sein Gesetz verpflichtet uns. Ohne diese seine Erinnerung, die er als Kollektivgedächtnis versteht, wäre der Jude nicht jüdisch oder würde ganz einfach überhaupt nicht sein.2 Mit diesen Sätzen eröffnet Elie Wiesel sein Buch „Adam oder das Geheimnis des Anfangs - Brüderliche Urgestalten“. Er beginnt mit einer

1 Elie Wiesel, Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Brüderliche Urgestalten, 1980. Im folgenden: EW, Adam 2 EW, Adam, S. 7. Die wörtlichen Zitate aus E. Wiesels Adam-Porträt sind kursiv geschrieben.

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persönlich gehaltenen Reflexion über das Verhältnis, das Juden zur Zeit, zur Vergangenheit und Gegenwart haben. Es ist wichtig für uns zu hören, das Judentum braucht die Vergangenheit, seine Vergangenheit. Ohne sie ist Judentum nicht vorstellbar. Wenn das Judentum stärker als jede andere Tradition eine derartige Bi n d u n g a n s e in e V e r g a n g e n h e i t bekundet und lebendig erhält, so deshalb, w e i l e s i h r e r b e d a r f.3 Dank eines Abraham, dessen Mut uns leitet, dank eines Jakob, dessen Traum unsere Neugier weckt, wird unser in vieler Hinsicht wunderbares Überleben weder des Geheimnisses noch seiner tiefen Bedeutung entkleidet. Wenn wir die Kraft und den Willen haben zu reden, dann deshalb, weil alle diese Vorläufer durch den Mund eines jeden von uns sprechen; wenn die Blicke der Welt sich anscheinend so oft auf uns richten, dann deshalb, weil wir uns auf eine Zeit berufen, die es nicht mehr gibt, und ein Schicksal verkörpern, das diese Zeit überdauert. Das hebräische Wort 'Panim' (Gesicht) wird im Plural gebraucht, das heißt, der Mensch hat mehr als ein Gesicht. Sein eigenes und das Adams. Der Jude ist mehr mit dem Anfang als mit dem Ende vertraut.4 „Der Jude ist . . .“ Dieser Satz legt nahe, die Frage zu stellen, die für uns so schwer zu beantworten ist: Was i s t ein Jude? Elie Wiesel antwortet darauf in dem gleichen Erzählton, in dem er bis jetzt die so grundsätzlichen Überlegungen dargelegt hat. Er schreibt: Was ist ein Jude? Eine Summe, eine Synthese, ein Sammelbecken. Würden wir im Blick auf Deutsche, Engländer oder Schweden anders antworten? Würden wir das auch tun, wenn wir Elie Wiesels nächste Sätze gelesen haben? Alles, was seine Vorfahren getroffen hat, betrifft ihn, ihre Leiden drücken ihn nieder, ihre Triumphe tragen ihn, weil sie lebendige Wesen und 3 Die Sperrung habe ich vorgenommen; J.S. 4 EW, Adam, S. 7/8.

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keine Symbole waren. Der Reinste und Gerechteste unter ihnen kannte Höhen und Tiefen, Augenblicke des höchsten Entzückens und der schlimmsten Verirrung, und das alles wird uns beschrieben. Ihre Heiligkeit war durch menschliches Maß bestimmt. Deshalb erinnert sich der Jude an sie . . .5 Das Judesein ist nur mit seiner ganzen Geschichte zu verstehen. In der jüdischen Geschichte sind alle Ereignisse miteinander verbunden, die Shoa eingeschlossen. Alle Legenden, alle Geschichten, die in der Bibel erzählt und im Midrasch erklärt werden - und Midrasch wird hier im weitesten Sinne gebraucht: als Interpretation, Illustration, schöpferische Phantasie -, betreffen auch uns. Die Geschichte des ersten Mörders wie die seines ersten Opfers. Wir brauchen sie nur zu lesen und stellen fest, daß sie von einer überraschenden Aktualität sind. Hiob ist unser Zeitgenosse… Alles ist in der jüdischen Geschichte enthalten - und die Legenden haben daran ebensosehr Anteil wie die Fakten. Der Midrasch, der in den Jahrhunderten, die der Zerstörung des Tempels von Jerusalem folgten, entstanden ist, spiegelt zugleich die gelebte und erträumte Wirklichkeit Israels wider, und sie übt oft Einfluß auf unsere eigene Wirklichkeit aus. In der jüdischen Geschichte sind alle Ereignisse miteinander verwoben. Erst heute, nach dem Malstrom vom Feuer und Blut des Holocaust, begreift man die Ermordung eines Menschen durch seinen Bruder, die Fragen eines Vaters und sein verstörtes Schweigen. Erst wenn man sie heute im Licht einer bestimmten Lebens- und Todeserfahrung erzählt, begreift man sie. Deshalb will der Erzähler sein Versprechen halten und nichts anderes tun als erzählen, das heißt, er will, was er empfangen hat, weitergeben, und das zurückgeben, was man ihm anvertraut hat. Seine Geschichte beginnt nicht mit seiner eigenen, sie ist eingebettet in die Erinnerung, in die lebendige Tradition seines Volkes.6

5 EW, Adam, S. 8. 6 EW, Adam, S. 9/10.

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Ich hoffe, Sie verstehen, weshalb ich das Vorwort, das Elie Wiesel seinem Buch voranstellt, so ausführlich vortrage. Es sind alle grundsätzlichen Gedanken darin enthalten, die er in den nun folgenden Porträts erzählt und reflektiert. Wir schauen uns daraus jetzt nur Adam an. Doch bevor wir uns Adam zuwenden, gebe ich in Stichworten eine Biografie von Elie Wiesel. Wer ist Elie Wiesel? Am 30.9.1928 wurde Elie Wiesel in Sighet / Rumänien geboren. Er entstammt einer religiösen Familie und wuchs unter chassidischem Einfluss auf. Das zeigt sich in seinem schriftstellerischen Werk. Die Beziehung Gott - Mensch ist für ihn zentral. 1944 wurde Elie Wiesel im Alter von 15 Jahren nach Auschwitz deportiert, später nach Buchenwald. Seine ganze Familie ist in den KZs umgekommen. Er selbst wurde im April 1945 in Buchenwald befreit. Zunächst ist er nach Frankreich gegangen, dort hat er als Journalist gearbeitet. Später hat er Vorlesungen an der Sorbonne gehalten. Dann ist er in die USA emigriert und lebt in New York. Hauptthema seines Werks ist die Shoa und die tiefgreifende Bedeutung, die sie für die Welt und menschliches Leben danach in ihr hat. Sein erstes Werk: Un die Velt Hot Geshvign (1958); später geändert in: La nuit (Die Nacht) bildet mit den beiden anderen: L'aube (Das Morgengrauen, 1960) und Le jour (Der Tag, 1961) die bedeutende Trilogie, die auf deutsch unter dem Titel Die Nacht zu begraben, Elischa herausgekommen ist. Elie Wiesel hat viel veröffentlicht und sich in sehr unterschiedlichen Genres geäußert. Wichtig ist daneben, dass er aus seinem eigenen Erleben und Erleiden den Impuls verspürt und umgesetzt hat, sich für die Humanisierung der

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Lebensverhältnisse weltweit einzusetzen. Dafür ist er 1986 mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden. An Elie Wiesel fasziniert mich sein Vermögen, biblische Überlieferungen so zu aktualisieren, dass ich sie gerne lese. Auch, wie er es schafft, dass seine Leser das Ineinander-Verwobensein von Vergangenheit und Gegenwart, dieses Grundprinzip jüdischen Lebens, in den biblischen Gestalten und Erzählungen nachvollziehen können. Adam oder das Geheimnis des Anfangs - Brüderliche Urgestalten ist aus Vorlesungen an der Sorbonne/Paris und verschiedenen nordamerikanischen Universitäten entstanden. Was ist die Form dieser kleinen Werke? Sie sind nicht Romane, nicht Novellen, nicht Essays. Erzählungen? Vielleicht passt am ehesten Midrasch, suchendes Nachgraben in der Tradition. Adam oder das Geheimnis des Anfangs7 Elie Wiesel schreibt einen meditativen Stil. Er erforscht sein Thema 'Adam' nicht als Wissenschaftler von außen. Er ist von Anfang an in den Stoff hineinverwoben. Er erzählt vieles, was Christen in der Regel nicht kennen. Das liegt an seinen Quellen. Natürlich hat Wiesel ein sorgfältiges Quellenstudium betrieben. Er hat sich in die M i d r a s c h i m, die Auslegungen zu Genesis (1. Mose) 1 3, in den T a l m u d, die Sammlung der jahrhundertelangen Diskussionen über die Tora und ihre aktuelle Geltung, und in die reiche L e – g e n d e n landschaft der jüdischen Tradition eingelesen und hineingedacht. Er lässt die unterschiedlichen Stimmen nebeneinander stehen, das ist jüdische Art. Nur manchmal bewertet er behutsam. Dann klingt auch 7 Dieser Titel ist sowohl der Titel des ersten Beitrags (S. 13- 44) als auch der des ganzen Buches (vgl. Anm 1).

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Humor durch und manchmal Ironie. Immer geht es ihm darum, dass wir Hörer und Leser erkennen, wie uns die 'Urgestalten' heute so wie damals angehen. Ich gehe nun so vor, dass ich Elie Wiesels Gedankengang folge und nur vorsichtig gliedere, um den Fluss seines Erzählens nicht zu stören. 1

Anfang

Die hebräische Bibel beginnt mit dem Wort: bereschit. Wir sind die Übersetzung gewohnt: am (im) Anfang ... Doch in dem hebräischen reschit steckt mehr als die Zeitangabe: am (im) Anfang. Es bedeutet auch das Erste, das Haupt (im Sinne von das Wichtige, das Prinzip). Was hat es mit dem Anfang reschit auf sich? Elie Wiesel schreibt: Im Anfang ist der Mensch allein. Wie Gott. Als er die Augen öffnet, fragt er nicht, wer bin ich? Sondern, wer bist Du? Im Anfang war der Mensch nur auf Gott ausgerichet - und die ganze Schöpfung hatte ihre eigentliche Bestimmung durch den Menschen. Vor ihm waren die Dinge da, ohne wirklich zu existieren; unter seinen Augen begannen sie zu leben. Vor ihm floß die Zeit dahin, aber ihre wirkliche Dimension erlangte sie erst, als sie in das Bewußtsein des Menschen drang. Adam, das erste Wesen, das einen Namen besaß, das vor Freude, vor Staunen erbebte, sich im Todeskampf wand, der erste Mensch, der sein Leben und seinen Tod zu leben hatte, das erste Geschöpf, das die Faszination der schrecklichen Geheimnisse der Erkenntnis entdecken sollte. Wer Adam beschwört, rührt an das Geheimnis des Anfangs, ein gefährliches Unterfangen, das die Tradition verbietet. Der Mensch hat kein Recht, über dieses Thema mit einem zweiten zu diskutieren, noch darf er es mit lauter Stimme. Wer sich in die Schöpfung versenkt, muß allein sein und schweigen. Hier geht es um eine Frage, die Sprache und Fassungsvermögen übersteigt. Wer sie an-

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schneidet, läuft Gefahr, eines Tages von der Gegenwart abgeschnitten zu werden und für immer einsam und stumm zu bleiben. Ich unterbreche Elie Wiesels Text. Der Abschnitt klingt schwer verständlich. Was mag der Grund sein, dass er etwas geheimnisvoll von dem Anfang schreibt? Ich lasse die Frage jetzt offen, komme erst am Schluss darauf zurück. Eins aber ist jetzt noch einmal zu betonen: Elie Wiesel schreibt nicht als einer, der solche grundsätzlichen Fragen von außen, mit einem objektiven wissenschaftlichem Interesse angeht. Er ist beteiligt und betroffen. Beim Bedenken des Anfangs geht es ihm um das eigene Leben und das Selbstverständnis des Menschen. Weiter Wiesel wörtlich: Und doch lebt Adam in uns in dem Maße, wie der Einzelne sich zugleich als Ausgangs- und Endpunkt begreift. Er weiß, wohin er geht, aber nicht, / woher er kommt, und wüßte es doch gerne. Die Vergangenheit erregt seine Neugier mehr als der Tod. Adam bewegt ihn mehr als der Messias. Adam ängstigt ihn, und seine Angst stellt sich gegen die strahlendste Hoffnung.8 Ein ganz anderes Wort zu dem 'Anfang', eine Stimme aus der jüdischen Tradition: Ein Philosoph sagte zu Rabban Gamliel9: Euer Gott ist ein großer Künstler, sein Adam ist ein Meisterwerk; aber ihr müßt zugeben, daß ihm auch ausgezeichnete Zutaten zur Verfügung standen. Welche, fragte der Weise. Der Philosoph zählte einige auf: das Feuer, den Wind, den Staub - und nannte weiter das Chaos, den Abgrund und die Finsternis, ohne die kein Werk denkbar ist. Alle diese Elemente sind in der Tat in Adam vorhanden, der vielseitigsten und farbenreichsten Figur der jüdischen Tradition. Adam ist leicht entflammbar wie das Feuer, unbeständig wie der Wind, unbere8 EW, Adam, S. 13/14. 9 Rabban Gamliel lebte Ende des 1. und Anfang des 2. Jh. n. Chr.

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chenbar wie die Träger des Chaos und jener ewigen Gewissensqual, die Gott allein lindern könnte, und Gott allein zu lindern sich weigert.10 In der B i b e l wird nicht viel über Adam erzählt. Es sind nur 3 Kapitel, einige Fakten, einige Begegnungen mit Gott, das 'Abenteuer mit Eva', der 'Aufbruch ins Exil'. Ein langes Leben hat Adam - wir lesen es in wenigen Minuten. Aber der M i d r a s c h webt da hinein seine Entdeckungen, Vermutungen und Gleichnisse. So wird Adam in einer Überlieferung als ein Wesen mit zwei Gesichtern beschrieben: und damit ist seine Doppelbedeutung, ja, seine Doppeldeutigkeit bezeichnet. Gab es am Anfang zwei 'Erste Menschen'? Werden wir deshalb in der Genesis mit zwei verschiedenen Fassungen des Ereignisses konfrontiert, oder müssen wir begreifen, daß von dieser Zeit an Adam in seiner Einsamkeit schon nicht mehr allein war, wie um zu demonstrieren, daß es dem Menschen gegeben ist, nach Einheit zu streben, ohne sie jemals zu erreichen? Aber dann sind wir berechtigt zu fragen: Warum dieser Bruch von Anfang an? Wozu dieser Riß im ersten Ich, der notwendig und unerbittlich zu Konflikten und Verleugnungen ohne Ende führen muß. Vielleicht wollte Gott sein Werk mit einer Frage beginnen? Vielleicht wollte er durch Adam seine Schöpfung immerfort auf die Probe stellen? Im Anfang wäre demnach nicht das Wort und nicht die Liebe, sondern die Frage. Und sie trüge ein für allemal das Siegel Gottes, um den Menschen gleichsam an seine Ursprünge und an sein Ende zu binden. Und auf diese Weise würden alle unsere Fragen die erste Frage widerspiegeln; denn sie ist mit ihnen nicht gestorben.11 Diese Fragen zielen in die Tiefe. Hier, wo Elie Wiesel die Zweideutigkeit des Menschen und die über seinem Leben stehende Frage anspricht,

10 EW, Adam, S. 14. 11 EW, Adam, S. 15.

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möchte man sie in Ruhe bedenken. Das ist Elie Wiesels Art; das nenne ich seinen meditativen Stil. 2

Adam und wir

Kann der heutige Mensch sich mit seinem ersten Vorfahren, wie ihn die Bibel zeichnet, identifizieren? Nein und ja! N e i n, denn kein Mensch gleicht dem anderen, das wissen wir nicht nur aus der Humanbiologie und -genetik. Jede(r) ist eine eigene Person. J a, denn alle Menschen gleichen Adam und erkennen sich in ihm wieder. Wir sind bestimmt, Elie Wiesel sagt, wir sind verurteilt, Adam zu imitieren; deshalb sind wir wie er. Ein großer Unterschied zu Adam ist dieser: Wir haben eine Vergangenheit, er nicht. Vor ihm gab es keine Erinnerungen, er kam als Erwachsener auf die Welt. Um ihn herum ist die Welt fertig; er muss sich ihr stellen; er kann nicht in Kindheitsträume flüchten. Deshalb nennt Elie Wiesel Adam einen Gefangenen seiner Gegenwart. Adam kam von nirgendwo. Noch der elendste Mensch verfügt über Bilder und Erinnerungen, die der Welt von gestern entrissen wurden, kennt Heimweh, hat feste Bezugspunkte. Das alles fehlte Adam. Um diese Ungerechtigkeit wiedergutzumachen, schenkte ihm Gott eine Zukunft - die längste in der Geschichte des Menschengeschlechts. Mehr noch, Adam konnte sie überschauen. Gott zeigte ihm alle künftigen Generationen mit ihren Richtern und Königen, mit ihren Weisen und Dieben, mit ihren Profitjägern und Propheten; so konnte er seinen Blick mit dem des letzten Menschen verbinden. Mehr als der Messias ist Adam gegenwärtig.12 Elie Wiesel zeigt viel Mitgefühl mit Adam (und bezieht uns dabei mit ein). Besonders da, wo es um seinen Willen geht: Adam wurde gestoßen und wußte sich nicht zu wehren. Er wurde nicht nach seiner Meinung 12 EW, Adam, S. 16.

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gefragt, sondern gehorchte einem Willen, der nicht der seine war. Er besaß alles, nur keinen eigenen Willen. Er wußte sich nur zu unterwerfen, zuerst Gott und dann seiner Frau. Man stellte ihm Fallen, und er tappte hinein. Ein armer Mensch, wegen nichts bestraft, und nicht einmal Jude.13 Wir spüren in diesen Sätzen Humor, auch eine Prise Ironie, Selbstironie, für die Juden bekannt sind: Adam - ein armer Mensch, wegen nichts bestraft, und nicht einmal Jude! Woher weiß Elie Wiesel das alles? Aus den Midraschim und dem Talmud.

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Adams Erschaffung

Elie Wiesel stellt uns eine denkwürdige Darstellung von Adams Erschaffung vor. Er hat sie in einem Midrasch gefunden. Dort wird das ganze aus dem Buch Genesis bekannte Leben Adams in den Ablauf eines Tages gedrängt. In der ersten Stunde des sechsten Tages faßte Gott den Plan einen Menschen zu erschaffen. In der zweiten Stunde befragte er die Engel - die dagegen waren - und die Thora, die ihn billigte. In der dritten Stunde klaubte Gott den Lehm auf. In der vierten Stunde formte er ihn. In der fünften Stunde bedeckte er ihn mit einer Haut. In der sechsten Stunde vollendete er den Körper und stellte ihn aufrecht hin. In der siebten Stunde hauchte er ihm eine Seele ein. In der achten Stunde wurde Adam ins Paradies geführt.

13 EW, Adam, S. 16.

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In der neunten Stunde vernahm er das göttliche Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. In der zehnten Stunde wurde Adam ungehorsam. In der elften Stunde stand er vor Gericht, einem Sanhedrin mit 71 Mitgliedern, in der zwölften Stunde schuldig gesprochen und aus dem Paradies verjagt.14 Das ist die Geschichte eines Mißerfolgs, den Gott erleidet. In dieser gedrängten Form wirkt der Mißerfolg noch stärker. Dabei war Adam erschaffen worden, um Gottes Ruhm zu bezeugen. Gott wußte, was ihm durch Adam begegnen würde, er nahm das in Kauf. Warum hat Gott Adam erschaffen? Diese Frage und ob es gut war, Adam zu erschaffen, hat die Midraschim und den Talmud sehr beschäftigt. Warum erschuf Gott n u r einen e i n z i g e n Menschen? Darauf hat der Midrasch mehrere Antworten: So soll die Gleichheit aller Menschen gelehrt werden. Oder: Keiner soll sich besser fühlen als die anderen und Streit auslösen. Doch diese Erklärung läuft auch auf einen Mißerfolg Gottes hinaus; denn, obwohl alle von einem kommen, streiten sie sich dennoch. Oder: Jeder Mensch soll sich für die ganze Welt verantwortlich fühlen. Weil die Welt für einen einzigen Menschen geschaffen wurde, vernichtet jemand, der einen Menschen tötet, damit die ganze Menschheit, und wer ein einziges menschliches Wesen rettet, rettet dadurch die ganze Menschheit.15 Warum erschuf Gott Adam e r s t am s e c h s t e n Tag? Wiesel findet als Antwort in der Tradition einen Vergleich: Wenn der König einen Gast einlädt, stellt er erst einen Palast bereit und läßt ihn 14 EW, Adam, S. 17. 15 EW, Adam, S. 19/20.

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dann zu sich kommen. Der Mensch ist der hevorragendste Gast der Schöpfung. Eine andere Antwort denkt bescheidener vom Menschen: Damit der Mensch sich nicht zu große Bedeutung beimesse. Wenn er selbstgefällig und unverschämt wird, bekommt er zu hören: Weshalb blähst du dich so auf? Sogar Mücken und Schnaken hatten in der Schöpfungsordnung Vorrang vor dir. 16 Adam war nach Gottes Ebenbild erschaffen worden. Infolgedessen war er reiner und vollkommener als je ein Mensch sonst. Das wird in der Überlieferung breit ausgeführt. Des Menschen Vollkommenheit führt jedoch dazu, daß Satan eifersüchtig wird. Elie Wiesel beschreibt das so: Satan war damals nicht irgendeiner. Er war ein einflußreicher Engel, hielt sich zur Rechten Gottes, der ihn seinen Standesgenossen vorzog; denn Gott mochte seine Fantasie und sah ihm seine Launen und Streiche nach. Satan konnte diesen Eindringling, der zu schnell und leicht Karriere machte, nur verabscheuen; er mußte ihn bekämpfen, seine Stellung untergraben. Aber wie? Klatsch, Intrige, Verschwörung, alle Mittel waren ihm recht, und er ließ kein einziges aus. Um Satan zur Räson zu bringen, beschloß Gott, ihm zu beweisen, daß Adam doch der Klügere von beiden war und deshalb seinen Erfolg verdiente. Er ließ alle Tiere der Erde an den beiden vorbeiziehen. „Nun, Satan, weißt du sie zu benennen?“ Nein, Satan vermochte es nicht. „Und du, Adam?“ Adam benannte sie alle, und die Dinge benennen, heißt sie besitzen. Adam wurde zur vollen göttlichen Zufriedenheit zum Sieger erklärt. Aber ein Midrasch-Text will uns glauben machen, dass Gott geschwindelt hatte. Er stellte seine Fragen so, daß Adam die Antwort leicht erraten konnte, Gott richtete es so ein, daß Adam nicht verlor. Heißt das, daß dieser ohne Hilfe den Wettbewerb verloren hätte? Nein. Zum Beweis hier die letzte Frage, die Gott ihm stellte und bei der er ihm die Antwort 16 EW, Adam, S. 20.

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mit Absicht nicht zuflüsterte. Er fragte: „Und welchen Namen gibst du mir, Adam?“ Und Adam nahm die Herausforderung an, ließ seine Demut fallen und nannte Gott bei seinem Namen. Wie ein Blitz überkam ihn die Erkenntnis, daß sogar Gott seinen Namen vom Menschen empfängt. Eben das erklärt die jüdische Tradition immer wieder: Gott ist Gott, und der Mensch ist nur sein Werkzeug, aber Gott braucht den Menschen, um sich zu offenbaren, ebenso wie der Mensch Gott braucht, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.17

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Eva

Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß ich schon länger von Adam spreche, aber von Eva nicht. Darin folge ich Elie Wiesel. Er richtet sich nach dem Aufriss von Genesis 2, wo zunächst von Adams Erschaffung und dem Paradies erzählt wird, bevor es zur Erschaffung von Eva kommt. Er bewältigt dieses Kapitel nicht ohne Humor und einige Ironie. Er schreibt: Weil jedes Drama mit dem Auftauchen einer weiblichen Person verknüpft ist, rufen Bibel und Talmud Eva herbei und bringen sie eilends auf die Bühne. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, daß Eva schon bei ihrem ersten Auftritt alles tun wird, um von der auf ihren Partner konzentrierten Aufmerksamkeit abzulenken, und daß ihr das gelingen wird. Mit einem Schlag hat sie die Hauptrolle übernommen. Sie tritt in das Leben Adams ein und beherrscht es ganz. Man sieht nur noch sie und hört nur noch sie sprechen. Adam übernimmt jetzt die Rolle des schwachen, passiven Ehemannes, der sich in das Unabänderliche fügt. Kaum zu glauben, aber nicht abzustreiten: Der Mensch, den Gott für sein Meisterwerk, für die Krönung seines Werkes hält, ist auf einmal eine bläßliche Figur. Er

17 EW, Adam, S. 22/23.

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weiß nichts Besseres zu tun, als seiner Gattin zu folgen und sie die Entscheidungen für ihn, d.h. für sie beide, treffen zu lassen.18 Warum wurde E v a erschaffen? Die Tradition gibt darauf wieder mehrere Antworten. Eine lautet: Zum Wohle Adams, wie ihm versichert wurde. Eine andere: Zum Schutze Gottes. Elie Wiesel schreibt: Ein MidraschText gibt zu, daß die Erschaffung Evas Gott mehr als Adam dienen sollte. Gott war sehr an dieser Heirat gelegen, damit aus Adam nicht eine Gottheit gemacht werde und man nicht sagen könne, Adam sei auf der Erde Gott, so wie es Gott im Himmel sei.19 Warum wurde Adam nicht zu Rate gezogen? Dazu findet Elie Wiesel keine Antwort in der Tradition, was erstaunlich ist, denn die hat sonst zu allem eine Meinung. Oder liegt die Antwort in der Richtung, Gott befürchtete, er könnte sich bei Adam eine Abfuhr holen, an der er nur mit Mühe vorbeikäme?

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Die Schlange

Wir wissen aus der biblischen Geschichte, die Ereignisse nehmen nun einen anderen Verlauf. Das Paar sieht sich einer Erscheinung gegenüber, die von außen auf sie zukommt und sie vor eine Entscheidung stellt. Das Paar muss wählen, es kann wählen. Die beiden werden in Frage gestellt. Der Handlungsablauf in Genesis 3 erscheint vorprogrammiert: Gott gab Adam und Eva Freiheit im Garten. Sie konnten sich ungehindert bewegen, tun, essen, was sie wollten. Ausgenommen war nur der Baum der Erkenntnis. Da waren sie gewarnt. Eine Übertretung des Gebots würde den Tod heraufbeschwören. Aber Adam und Eva konnten sich den Tod 18 EW, Adam, S. 23/24. 19 EW, Adam, S. 24.

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nicht vorstellen, sie kannten ihn nicht. Sicher würden sie Gott gehorcht haben, wäre nicht die Schlange dazwischen getreten. Sie stellte die Situation völlig auf den Kopf. Adam und Eva waren nicht mehr dieselben wie vorher. Wer und was ist die S c h l a n g e? Sie ist eine mythische und reale Figur. In der jüdischen Tradition sind verschiedene Deutungen versucht worden: - Die Schlange sei von den Engeln, die von Anbeginn an etwas gegen die Menschen hatten, angestiftet worden. - Die Initiative sei von der Schlange ausgegangen. Sie habe Eva zum Ziel ihres Angriffs genommen, weil sie die Frau für verletzbarer, leichtgläubiger und gefügiger als den Mann eingeschätzt hätte.

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Die Übertretung des Gebots

Der Ablauf der Verführung von Eva und Adam durch die Schlange ist aus Genesis 3 hinlänglich bekannt. Gott ermahnte die beiden, nicht von dem Baum in der Mitte des Gartens zu essen. Die Schlange verwickelte Eva in ein Gespräch über das Verbot und die Auswirkungen. Elie Wiesel: . . . in ihrem Gespräch mit der Schlange fügte Eva noch etwas Überflüssiges hinzu, daß das Verdikt gleichfalls für das Berühren mit dem Munde gültig sei. Die Frucht berühren, sagte sie, würde die Todesstrafe nach sich ziehen.20 Elie Wiesel gibt einen Kommentar zu dieser Szene, humorvoll, ironisch und vielleicht ärgerlich für den einen oder die andere Hörer/In. Er sagt: Die erste Lehre, die aus dieser Episode zu ziehen ist, lautet, es ist gefährlich, Geschichten zu erfinden. Die zweite lautet, man muß seine Gesprächspartner mit Bedacht auswählen und läßt sich nicht mit dem 20 EW, Adam, S. 29.

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ersten besten in eine Diskussion ein, vor allem nicht auf dem Gebiet der Theologie. Evas Fehler war, das Gespräch mit der Schlange zu akzeptieren. Die dritte Lehre lautet, sie hatte kein Recht, sich darauf einzulassen, noch dazu in Abwesenheit ihres Mannes. Die vierte Lehre schließlich: Adam hätte nicht von zu Hause weggehen dürfen. Wenn er daheim an der Seite seiner Gattin geblieben wäre, hätte die Schlange nicht die geringste Erfolgschance gehabt. Da Eva allein zu Hause war, stellte sie eine leichte Beute dar. Umsomehr, als die Schlange offensichtlich genau wußte, wie ihr beizukommen war. Sie wußte, womit sie Evas Interesse wecken konnte, mit der Sünde. Darüber sprechen die Frauen doch nur zu gerne.21 Elie Wiesel weiß es ganz genau, wie Evas Versuchung durch die Schlange vor sich gegangen war: Kaum hatte Eva mit der Schlange Bekanntschaft gemacht, erzählte sie ihr auch schon von der verbotenen Frucht; sie mußte dringend etwas preisgeben, das nur sie und ihren Mann anging. „Daran glaubst du etwa?“ sagte die Schlange und tat höchst erstaunt. „Glaubst du bei deiner Klugheit und deinem Scharfsinn allen Ernstes, daß es genügt, den Baum zu berühren, um zu sterben?“ Als sie nicht antwortete, trat die Schlange an den Baum heran - der nach der Legende einen Wutschrei ausstieß - und umschlang ihn. „Siehst du“, sagte sie mit gleichgültiger Miene, „ich habe ihn berührt und lebe. Möchtest du es nicht versuchen? Komm schon, du kannst es, es wird dir nichts geschehen . . .“ Eva hatte Angst und rührte sich nicht von der Stelle. Ihre Neugier war zwar groß, aber das Mißtrauen überwog. Da stieß die Schlange sie gegen den Baum, und Eva sah den Todesengel, aber sie blieb am Leben. Das war für sie und für uns der Anfang vom Ende, die erste Begegnung mit dem Tod. Da sie nun einmal in das Räderwerk geraten war, wagte

21 EW, Adam, S. 29/30.

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sie sich weiter und immer weiter. Es war zur Umkehr zu spät und zu spät, um das auszulöschen, was sie gesehen und erlebt hatte.22 Wieder kommentiert Elie Wiesel, was da geschehen ist: Eva konnte nicht verstehen, daß sie durch die Mißachtung des göttlichen Gebots nicht den Tod, sondern die Ahnung vom Tode, das Todesgefühl, entdecken würde; sie sah den Engel, ohne seinen Würgegriff zu spüren. Durch ihren Ungehorsam gegen das göttliche Gebot begriff sie, daß Leben und Tod dicht beieinander liegen; Leben und Tod treffen sich im Menschen, nicht in Gott. Man kann mit dem Tod leben, man braucht nur den Lebenden den Rücken zu kehren. Man kann tot sein, ohne es zu wissen.23 Bei diesen Sätzen wird wohl Elie Wiesels eigene Erfahrung mit dem Tod lebendig: Man kann mit dem Tod leben, man braucht nur den Lebenden den Rücken zu kehren. Man kann tot sein, ohne es zu wissen. Warum beging Eva diese Tat? Was ließ die Versuchung so stark werden, daß sie ihr nicht widerstehen konnte oder wollte? Der Midrasch formuliert eine Vermutung, die Elie Wiesel ausgestaltet. Davon einen kurzen Ausschnitt: Eva wurde durch die Macht versucht. Die Schlange hatte ihr versichert, daß sie durch den Biß in die verbotene Frucht wie Gott sein und über die geschaffenen und über die noch zu schaffenden Welten herrschen würde - und gerade das hatte Gott zu verhindern gehofft, als er sein Verbot aussprach. Eva glaubte daran, das steht fest. Sie entschied sich für die geschickte Argumentation der Schlange und gegen das nüchterne Gebot Gottes. Sicher mußte sie für die Verführung auch reif sein; schließlich ist auch denkbar, daß sie sich der Schlange in gleichem Maße bediente, wie

22 EW, Adam, S. 30. 23 EW, Adam, S. 30/31.

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sie ihr diente. Sie arbeitete mit der Schlange zusammen, um ihre eigene Machtstellung zu begründen. Die Schlange war sich darüber im Klaren und gewann so auf raffinierte Weise ihr Spiel. Von dem Augenblick an, als die Frau zugegeben hatte, man könne den Baum ungestraft berühren, wußte die Schlange, daß Eva darauf brannte, weitere Schritte zu tun und Gott auf die Probe zu stellen, indem sie ihre eigenen Möglichkeiten erprobte.24 So aß Eva von der Frucht. Und nun zu Adam . . . Doch anstatt aufzuhören und Reue zu empfinden, übernahm sie jetzt selbst die Strategie der Schlange, um mit List und Tücke ihren Mann in die gleiche tödliche Falle zu locken. Sie wußte bereits, was es bedeutete, Gott den Gehorsam zu verweigern, und wollte trotzdem ihren Mann auf die gleiche Bahn bringen. Sie hatte den Fehler begangen, und jetzt sollte Adam das gleiche tun. Wenn sie schon zahlen mußte, dann Adam ebenfalls. Der Midrasch betont das in aller Deutlichkeit. Eva benimmt sich wie eine eifersüchtige Frau, und der Gedanke, ihr Mann würde sie überleben und vielleicht eine andere heiraten, erschien ihr unerträglich. Wenn sie schon sterben mußte, dann würde sie alles tun, um diesen Weg nicht allein gehen zu müssen.25 Adam aß auch von der Frucht. Wiesel hat in seiner Erzählung eine Tendenz, Adam zu entschuldigen. Hören wir: Wie konnte Adam auch nur den geringsten Verdacht hegen, daß seine eigene Frau seinen Tod wollte? Er war zu leichtgläubig und kam gar nicht darauf, nein zu sagen oder zu zögern. Eva reichte ihm die Frucht, und er biß hinein, sofort, und ohne eine Frage zu stellen. Vielleicht wußte er nicht, woher die Frucht stammte? Adam hatte nicht wie Eva das Gefühl, das höchste Gebot zu verletzen. Eine Frucht wie jede andere lag in seiner Hand und dann in seinem Mund. Da erst erkannte er seinen 24 EW, Adam, S. 31. 25 EW, Adam, S. 32/33.

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Irrtum. Mit einem Mal begriff er, daß er einen Körper hatte, daß er nackt und verwundbar war. Er hatte kein Zuhause mehr und fühlte sich verloren. Das Leben war gegen ihn. Auf wen konnte er sich noch verlassen? Seine eigene Frau hatte ihn verführt, um nicht zu sagen verdammt. Nach dem Biß in die verbotene Frucht wurde er zu einer tragischen Gestalt. Die Geschichte der Menschen konnte endlich beginnen.26

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Die Vertreibung aus dem Paradies

Adam und Eva leben nun außerhalb des Paradieses. Ihre Körper sind kleiner als vorher. Er, der einst aufrecht vor Gott gestanden und Umgang mit ihm gehabt hatte, versteckt sich jetzt vor ihm, in der Meinung, das könne ihm gelingen. Am schlimmsten aber ist, daß der Mensch von Angst beherrscht wird. Adam ist nicht mehr der gleiche. Überall ahnt er den Tod, der auf ihn lauert. Alle Dinge, Bilder und Gedanken sind vom Tod durchdrungen. Die Sonne geht unter? Das ist ein Zeichen dafür, daß mein Ende naht, und ich in Finsternis vergehen werde. Die Sonne geht auf? Sie wird mich verbrennen. Adam fühlt seinen Niedergang. Er ist der Welt und sich selbst fremd geworden und weiß nicht, wohin er blicken soll. Wer ist sein Feind? Wo hat er sich versteckt? Überall und in ihm selbst. . . . Unbekannte Mächte springen ihn an und halten ihn fest. Das ganze Getier, das er jüngst noch zähmte, sieht ihn jetzt aus anderen Augen an, die voller Haß sind. Wenn die Tiere ihn bemerken, verstummen sie, sie wollen sich rächen. Adam hört sein Herz schlagen und fühlt, daß die Freude daraus entwichen ist. Dunkle, quälende Angst ist sein einziger Gefährte. Außerhalb des Paradieses ist er der Zeit unterworfen.27 So hat sich nach Auffassung des Midrasch sein Leben verändert. 26 EW, Adam, S. 34. 27 EW, Adam, S. 35/36.

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Das dem Paradies nachtrauernde Paar überlegt, wie sie ihr Leben nun führen sollen. Aus den Antworten, die die Tradition gefunden hat, nenne ich zwei. Die eine: Eva bietet Adam an, sie zu töten, weil sie die Ursache des Elends sei. Adam lehnt das ab, die Tat lasse sich nicht ungeschehen machen. Eine andere: Das Paar entscheidet sich ganz bewußt für das Leben und ihre Zukunft in der Welt. Das ist die beherrschende Linie in der Auslegung. Sie geht so weit, daß Adam und Eva Gottes Gebot verletzen mussten; nur so konnte die Menschheit entstehen. Damit wird ihre Schuld gegen Gott gemindert. Wenn Adam und Eva sich ... gegen die Erkenntnis entschieden hätten, wäre die Weltgeschichte mit ihnen vollendet gewesen. Es hätte weder Strafe noch Tod, weder Kampf ums Überleben noch irgendetwas oder irgendjemand gegeben. Adam und Eva mußten den Herrn verleugnen, damit ihre Nachkommen ihn verherrlichen konnten. Sie waren nicht frei, demnach auch nicht schuldig. Warum dann aber die Strafe? Der Midrasch versucht eine Antwort zu geben: Mehr als für ihre Vergehen wurden Adam und Eva bestraft, weil sie nach Entschuldigungen gesucht hatten. Adam sagte: Das ist die Schuld meiner Frau. Eva sagte: Das ist die Schuld der Schlange. Ihre Schuld bestand darin, daß sie sich der Verantwortung entzogen. Eine andere Erklärung lautet: Ihre Strafe zeigt die notwendigerweise tragische Grundsituation des Menschen, von der die Ungerechtigkeit nicht zu trennen ist. Gott ist allwissend, aber trotzdem ist der Mensch für seine Freiheit selbst verantwortlich. Eine ausweglose Situation: Sogar in der Verneinung erfüllt der Mensch doch nur den Willen Gottes. Aber das ist kein mildernder Umstand für seine Bestrafung … Mit dem Fall Adam, mag er gerecht oder ungerecht gewesen sein, setzt der dramatischste Teil seines langen Lebens ein. Jetzt wird er zu einer

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realen und ergreifenden Gestalt. Fern vom Paradies und von Gott nähert er sich Eva wieder. Nie war ein Paar so eng miteinander verbunden. Auf einmal entdeckt es Sinn und Ziel seiner Existenz, nämlich die Welt, die bisher nur erschaffen war, zu gestalten und zu vollenden, ihre Erfahrung zu nützen, sie in Wort und Tat weiterzugeben und dabei nichts auszulassen und nichts zu vergessen. Um sich besser an seine Vergangenheit erinnern zu können, hatte Adam sich vier Pflanzen aus dem Paradies mitgebracht. Sie sind für ihn der sichere Beweis, daß seine Erlebnisse und Versuchungen kein Traum waren. Wohl schmerzt es, wenn er sie in die Hand nimmt . . . es handelt sich darum, über das Vergessen zu siegen und nicht über den Schmerz. Er könnte die Pflanzen ja wegwerfen, aber er hütet sie eifersüchtig. Das Vergessen ist keine Lösung. Adam und Eva begnügen sich nicht damit, in der Vergangenheit zu leben, sie denken an die Zukunft.28 Aus der biblischen Geschichte wissen wir, Adam und Eva hatten Kinder, Kain und Abel und nach der Ermordung des einen und der Flucht des anderen den Seth und viele andere, Söhne und Töchter. Auch Adams Alter und Sterben hat die Fantasie der Auslegung beschäftigt.29 Als sich Adams Ende ankündigt, machen sich Eva und ihr Sohn Seth auf den Weg und klopfen ans Paradies, um einen Aufschub zu erwirken. Aber der wird ihnen verwehrt, Adam muß sterben.

28 EW, Adam, S. 36-38. 29 Vor allem die apokryphe Schrift 'Leben Adams und Evas' , in: Rießler, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel.

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Adam im 'Paradies'

Nach jüdischer Überlieferung hatte Adam eine großartige Totenfeier. Selbst Gott nahm daran teil mit Scharen von Engeln. Nun 'lebt' Adam im 'Paradies', aber das ist nicht das ursprüngliche Paradies. Sein 'Leben' besteht darin, daß er sinnend das Leben der Menschen schaut. Es gibt die Vorstellung, daß alle Gestorbenen an Adam vorbeigehen. Sie sehen ihn und fragen ihn nach seiner Schuld. Adam sieht die Menschen, seine Nachkommen, sterben und darin besteht seine Strafe... Er stirbt m i t und i n jedem Sterbenden.30 Am Ende seiner Erzählung von Adam fragt Elie Wiesel: Was bedeutet Adam für uns heute? Da gibt es unterschiedliche Antworten. Eine sagt: So einmalig Adams Schicksal war, so einmalig ist auch jedes von uns. Und wie Adams Leben auf die ganze Welt bezogen war, so auch unser Leben. Jeder einzelne muß Adam sein für seinen Nächsten.31 Eine andere Antwort: Adam und Eva haben nicht resigniert, als sie aus dem Paradies vertrieben worden waren. Sie wurden mit dem Tod konfrontiert und beschlossen, ihn dadurch zu bekämpfen, daß sie Leben schenkten, daß sie dem Leben einen Sinn verliehen.32 Elie Wiesel lenkt die Gedanken zurück zum Anfang und ins Grundsätzliche, wenn er sagt: Auch noch in dieser Hinsicht unterscheidet sich Adam von den meisten mythologischen Gestalten. Er ist zwar von Gott besiegt, will sich aber nicht selbst verleugnen. Er hat den Mut, sich wieder zu erheben und von neuem zu beginnen. Er begreift, daß der seit Anbeginn verdammte Mensch frei handeln kann und muß, indem er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Das ist das Wesen der jüdischen Tradition. 30 EW, Adam, S. 40. Die Sperrungen sind von mir; J.S. 31 EW, Adam, S. 40. 32 EW, Adam, S. 41, die beiden folgenden Zitate auf gleicher Seite

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Ich hatte am Anfang die Frage offen gelassen, weshalb Elie Wiesel so geheimnisvoll über den Anfang spricht. Nun gibt er selbst die Antwort: Für die jüdische Tradition, wie sie die Legende überliefert, hörte die Schöpfung nicht mit dem Menschen auf, im Gegenteil, sie begann mit dem Menschen. Als Gott den Menschen erschuf, schenkte er ihm zwar nicht das Geheimnis des Anfangs, aber des Wiederanfangs. Mit anderen Worten: Dem Menschen ist nicht gegeben, einen Anfang zu setzen, diese Macht steht nur Gott zu, aber der Neubeginn gehört zum Menschen. So bezieht Elie Wiesel das Anfangen streng auf Gott; der Anfang ist Ihm vorbehalten. Da spielt sicher die Wortbedeutung des hebräischen reschit hinein, das eben nicht nur Anfang bedeutet, sondern auch Prinzip, Hauptsache. Dazu passt eine chassidische Geschichte, die Elie Wiesel erzählt.33 Noch einmal Elie Wiesel: Der Mensch fängt jedesmal neu an, wenn er sich entscheidet, auf die Seite der Lebenden zu treten und so den alten Plan Adams, des ältesten Menschen, rechtfertigt, dem wir uns verbunden fühlen, sowohl durch die Angst, die ihn bedrängte, als auch durch die Herausforderung, die ihn über das Paradies emporhob, in das wir nie gelangen werden.34 Mit diesen Sätzen schließt Elie Wiesel seinen Midrasch zu Adam. Durch sie hindurch leuchtet sein eigener Weg.

33 Ein Schüler machte vor dem Rabbi Menachem Mendel von Kotzk die Bemerkung:„Gott, der volllkommen ist, hat in sechs Tagen die Welt, die man wohl kaum vollkommen nennen kann, geschaffen, wie ist das möglich?” Und der Rabbi fuhr ihn an: „Würdest du es besser machen“? „Ich denke schon“, stammelte der Schüler, ohne zu wissen, was er sagte. „Du würdest es besser machen?“ rief der Meister aus. „Aber worauf wartest du dann? Du hast keinen Augenblick zu verlieren, geh und mache dich an die Arbeit!” EW, Adam, S. 44. 34 EW, Adam, S. 41.

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Da schien nur noch Ende zu sein. Aber es gab einen Wiederanfang. Das hat Elie Wiesel in seinem Adam-Porträt programmatisch ausgearbeitet für d e n Menschen und insbesondere für sein Volk.

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„Die Sündflut“. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach Hans-Christoph Goßmann 1 Ernst Barlach: Leben und Werk Ernst Barlach ist vielen in erster Linie als Bildhauer und Graphiker bekannt, weniger als Dichter. Dabei sind seine drei künstlerischen Begabungen gleichermaßen Ausdrucksformen seiner Wahrnehmung der Welt. Zu Beginn einige Hinweise auf seine Biographie und sein Werk:35 Er wurde am 2. Januar 1870 in Wedel (Holstein) als Sohn eines Arztes und Enkel eines Dithmarscher Pastors geboren. Am 24. Oktober 1938 starb er in Rostock und wurde auf dem Domfriedhof in Ratzeburg beigesetzt. Aufgewachsen in Schönberg bei Lübeck und in Ratzeburg besuchte Barlach seit 1888 die Gewerbezeichenschule in Hamburg, wo u. a. der Bildhauer Thiele sein Lehrer war, seit 1891 die Kunstakademie in Dresden und wurde Meisterschüler von Robert Diez. 1895/96 studierte er an der Académie Julian in Paris. Nach seinem Berliner Aufenthalt von 1899-1901 arbeitete Barlach in Wedel und wurde 1904 Lehrer an der Fachschule für Keramik in Höhr im Westerwald. Eine Reise nach Rußland verhalf ihm zum künstlerischen Durchbruch: „Ich fand in Rußland diese verblüffende Einheit von Innen und Außen, dies Symbolische: so sind wir Menschen, alle Bettler und problematische Existenzen im Grunde. Darum musste ich gestalten, was ich sah.“ 1909 arbeitete Barlach in Florenz und zog im darauf folgenden Jahr nach Güstrow (Mecklenburg). Im Jahr 1919 wurde er Mitglied der Berliner Akademie der Künste, 1925 Ehrenmitglied der Münchener Kunstakademie und 1933 Ritter der Friedensklasse des Ordens Pour le mérite. Im Dritten Reich wurde er als Vertreter der „entarteten Kunst“ ausgegrenzt. Seine Plasti35

Zum Folgenden vgl. Fr. W. Bautz, Art. Barlach, Ernst, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm 1990, Sp. 373-375.

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ken wurden als dem „nationalen Gefühl ins Gesicht schlagend“ teils vernichtet, teils aus Kirchen und Museen entfernt und eingelagert. „Ich gleiche einem in die Enge Getriebenen, dem eine Meute auf den Fersen ist“, schrieb Ernst Barlach im Jahr 1937. 2 Der Titel des Dramas „Die Sündflut“ Dem Drama, dem wir uns heute Abend zuwenden, hat Barlach den Titel „Sündflut“ gegeben. Dies könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass das deutsche Wort „Sintflut“ von dem Substantiv „Sünde“ abzuleiten ist.36 Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr hat das gemeingermanische „sin“ als erstes Glied von Composita die Bedeutung „immerwährend, umfassend, gewaltig“.37 „Sintflut“ heißt also „gewaltige, umfassende Flut“.38 Die in Genesis 6-9 beschriebene Flut wird im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen als „sinvluot“ bezeichnet. Seit Notker gibt es den Ausdruck „sintfluot“ mit t als Gleichlaut.39 Dies führte im 13. Jahrhundert zu der volksetymologischen Umdeutung zu Sündflut.40 Während Luther noch bei „Sintflut“ bleibt, dringt im 16. Jahrhundert die Bezeichnung „Sündflut“ durch. Eck benutzt sowohl „Sindfluß“, als auch „Sündfluß“ und in der Züricher Bibel von 1537 findet sich „Sündfluß“.41 3 Barlachs Bezüge auf biblische Sintflutberichte Barlach bezieht sich in seinem Drama auf die biblischen Sintflutberichte. Bei diesen Berichten ist zwischen den Darstellungen der Flut selbst und 36

O. Keel / M. Küchler, Synoptische Texte aus der Genesis, Zweiter Teil: Der Kommentar (Biblische Beiträge 8,2), Freibourg 1971, S. 104. 37 F. Kluge, Art.: Sintflut, in: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, 20. Aufl. 1967, S. 764; O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 104. 38 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 104. 39 F. Kluge, a.(Anm. 37)a.O., S. 764. 40 G. Wahrig, Art.: Sintflut, in: Das große deutsche Wörterbuch. Herausgegeben in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern und anderen Fachleuten. Mit einem „Lexikon der deutschen Sprachlehre“, Gütersloh 1966, S. 3298; F. Kluge, a.(Anm. 37)a.O., S. 764. 41 F. Kluge, a.(Anm. 37)a.O., S. 764.

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den Darstellungen Noahs zu unterscheiden. Da es Barlach in seinem Drama jedoch nicht auf die Darstellung der Flut im Einzelnen ankommt, sondern auf die der Charaktere der beteiligten Personen, gibt es kaum Bezüge zu biblischen Flutdarstellungen, aber – wenn auch oft in bewusster (?) Abgrenzung – zu biblischen Noahdarstellungen. 4 Der Text des Sintflutberichts in Genesis 6 bis 9 (Zitiert nach der Übersetzung Martin Luther in der revidierten Fassung von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, S. 8-10.) 6,5-22 - Ankündigung der Sintflut. Noahs Erwählung. Bau der Arche: Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem HERRN. Dies ist die Geschichte von Noahs Geschlecht. Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel zu seinen Zeiten; er wandelte mit Gott. Und er zeugte drei Söhne: Sem, Ham und Jafet. Aber die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voller Frevel. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. Da sprach Gott zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech innen und außen. Und mache ihn so: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen. Und er soll drei Stockwerke haben, eines unten, das zweite in der Mitte, das dritte oben. Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen

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lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin Odem des Lebens ist, unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen. Aber mit dir will ich meinen Bund aufrichten, und du sollst in die Arche gehen mit deinen Söhnen, mit deiner Frau und mit den Frauen deiner Söhne. Und du sollst in die Arche bringen von allen Tieren, von allem Fleisch, je ein Paar, Männchen und Weibchen, dass sie leben bleiben mit dir. Von den Vögeln nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allem Gewürm auf Erden nach seiner Art: von den allen soll je ein Paar zu dir hineingehen, dass sie leben bleiben. Und du sollst dir von jeder Speise nehmen, die gegessen wird, und sollst sie bei dir sammeln, dass sie dir und ihnen zur Nahrung diene. Und Noah tat alles, was ihm Gott gebot. 7 - Die Sintflut: Und der HERR sprach zu Noah: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus; denn dich habe ich gerecht erfunden vor mir zu dieser Zeit. Von allen reinen Tieren nimm zu dir je sieben, das Männchen und sein Weibchen, von den unreinen Tieren aber je ein Paar, das Männchen und sein Weibchen. Desgleichen von den Vögeln unter dem Himmel je sieben, das Männchen und sein Weibchen, um das Leben zu erhalten auf dem ganzen Erdboden. Denn von heute an in sieben Tagen will ich regnen lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erdboden alles Lebendige, das ich gemacht habe. Und Noah tat alles, was ihm der HERR gebot. Er war aber sechshundert Jahre alt, als die Sintflut auf Erden kam. Und er ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut. Von den reinen Tieren und von den unreinen, von den Vögeln und von allem Gewürm auf Erden gingen sie zu ihm in die Arche paarweise, je ein Männchen und Weibchen, wie ihm Gott geboten hatte. Und als die sieben Tage vergangen waren, kamen die Wasser der Sintflut auf Erden. In dem sechshundertsten Lebensjahr Noahs am siebzehnten Tag des zweiten Monats, an diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe

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auf und taten sich die Fenster des Himmels auf, und ein Regen kam auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte. An eben diesem Tage ging Noah in die Arche mit Sem, Ham und Jafet, seinen Söhnen, und mit seiner Frau und den drei Frauen seiner Söhne; dazu alles wilde Getier nach seiner Art, alles Vieh nach seiner Art, alles Gewürm, das auf Erden kriecht, nach seiner Art und alle Vögel nach ihrer Art, alles, was fliegen konnte, alles, was Fittiche hatte; das ging alles zu Noah in die Arche paarweise, von allem Fleisch, darin Odem des Lebens war. Und das waren Männchen und Weibchen von allem Fleisch, und sie gingen hinein, wie denn Gott ihm geboten hatte. Und der HERR schloss hinter ihm zu. Und die Sintflut war vierzig Tage auf Erden, und die Wasser wuchsen und hoben die Arche auf und trugen sie empor über die Erde. Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen sehr auf Erden, und die Arche fuhr auf den Wassern. Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Fünfzehn Ellen hoch gingen die Wasser über die Berge, sodass sie ganz bedeckt wurden. Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte, an Vögeln, an Vieh, an wildem Getier und an allem, was da wimmelte auf Erden, und alle Menschen. Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb. So wurde vertilgt alles, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel; das wurde alles von der Erde vertilgt. Allein Noah blieb übrig und was mit ihm in der Arche war. Und die Wasser wuchsen gewaltig auf Erden hundertundfünfzig Tage. 8 - Ende der Sintflut. Noahs Opfer. Verheißung des HERRN: Da gedachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war, und ließ Wind auf Erden kommen und die Wasser fielen. Und die Brunnen der Tiefe wurden verstopft samt den Fenstern des Himmels, und dem Regen vom Himmel wurde gewehrt. Da verliefen sich die Wasser von der Erde und nahmen ab nach hundertundfünfzig Tagen. Am siebzehnten Tag des siebenten Monats ließ sich die

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Arche nieder auf das Gebirge Ararat. Es nahmen aber die Wasser immer mehr ab bis auf den zehnten Monat. Am ersten Tage des zehnten Monats sahen die Spitzen der Berge hervor. Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte, und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden. Danach ließ er eine Taube ausfliegen, um zu erfahren, ob die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. Da aber die Taube nichts fand, wo ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in die Arche; denn noch war Wasser auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche. Da harrte er noch weitere sieben Tage und ließ abermals eine Taube fliegen aus der Arche. Die kam zu ihm um die Abendzeit, und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. Aber er harrte noch weitere sieben Tage und ließ eine Taube ausfliegen; die kam nicht wieder zu ihm. Im sechshundertundersten Lebensjahr Noahs am ersten Tage des ersten Monats waren die Wasser vertrocknet auf Erden. Da tat Noah das Dach von der Arche und sah, dass der Erdboden trocken war. Und am siebenundzwanzigsten Tage des zweiten Monats war die Erde ganz trocken. Da redete Gott mit Noah und sprach: Geh aus der Arche, du und deine Frau, deine Söhne und die Frauen deiner Söhne mit dir. Alles Getier, das bei dir ist, von allem Fleisch, an Vögeln, an Vieh und allem Gewürm, das auf Erden kriecht, das gehe heraus mit dir, dass sie sich regen auf Erden und fruchtbar seien und sich mehren auf Erden. So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alle wilden Tiere, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen. Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von

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Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 9, 1-17 - Gottes Bund mit Noah: Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde. Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich's euch alles gegeben. Allein esst das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist! Auch will ich euer eigen Blut, das ist das Leben eines jeden unter euch, rächen und will es von allen Tieren fordern und will des Menschen Leben fordern von einem jeden Menschen. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht. Seid fruchtbar und mehret euch und reget euch auf Erden, dass euer viel darauf werden. Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen und mit allem lebendigen Getier bei euch, an Vögeln, an Vieh und an allen Tieren des Feldes bei euch, von allem, was aus der Arche gegangen ist, was für Tiere es sind auf Erden. Und ich richte meinen Bund so mit euch auf, dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Wasser der Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe. Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort

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keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist. Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden. 5 Exegetische Erläuterungen Die Sintfluterzählung in Genesis 6 bis 9 ist eine kunstvolle Komposition aus zwei ursprünglich selbständigen Fluterzählungen, der jahwistischen und der priesterschriftlichen.42 Da beide Berichte viel Gemeinsames haben, war es dem Redaktor möglich, sie zu einem zu vereinigen und sie nicht nur – wie bei den beiden Schöpfungsberichten – asyndetisch hintereinander zu stellen.43 Bei dem Prozess der Komposition wurde der priesterschriftliche Bericht als Grundlage genommen und der jahwistische in ihn eingearbeitet. Dabei wurden einige Elemente des letztgenannten nicht mit in die Gesamtkomposition aufgenommen, so dass dieser nicht vollständig erhalten ist.44 Es werden in der Forschung aber auch immer wieder Stimmen laut, die die Möglichkeit der Quellenscheidung in Genesis 6 bis 8 grundsätzlich bestreiten, so von K. Fruhstorfer, Die noachische Sintflut (1945), U. Cassuto, Komm. (1961), E. Nielsen, Oral Tradition (1954)45 und R. Rendtorff, Das Alte Testament (1983).46

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C. Westermann, Genesis 1 – 11 (Erträge der Forschung, Bd. 7), Darmstadt, 3. Aufl. 1985, S. 77; R. Smend, Die Entstehung des Alten Testaments (Theologische Wissenschaft 1), Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1978, S. 41 ff.; u. v. a. 43 R. Smend, a.(Anm. 42)a.O., S. 42, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 119. 44 G. v. Rad, Das Erste Buch Mose. Genesis (Das Alte Testament Deutsch, Teilband 2/4), Göttingen, elfte Auflage 1981, S. 88f., O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 109. 45 C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 77. 46 R. Rendtorff, Das Alte Testament. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 142.

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Um den Grund und die Art der Rezeption des Sintflutmotivs darzustellen, werden im Folgenden die beiden Flutberichte, der jahwistische und der priesterschriftliche, getrennt dargestellt. 5.1 Die Darstellung der Sintflut 5.1.1 Nach J Bei J findet die Sintflut in Form eines vierzig Tage dauernden Regens statt. Dass es sich „nur“ um einen Regen handelt, verdeutlich, dass die Vorstellung gewaltiger Überschwemmungskatastrophen, wie es die in Mesopotamien gegeben hat, in Kanaan überhaupt nicht geläufig war.47 Vierzig, die Zahl der Tage, die die Flut dauerte, war eine heilige Zahl, die häufig zur Angabe von Zeiträumen verwendet wurde.48 Der Grund für die Flut ist bei J die Verderbtheit der M e n s c h e n:49 Seit Erschaffung der Welt war die Sündhaftigkeit der Menschen immer größer geworden.50 Um dies deutlich zu machen, hat der Jahwist Genesis 6, 1-4 seiner Flutdarstellung vorangestellt.51 Dieser „ätiologische Mythos“52, der die Entstehung der in Numeri 13, 33 genannten erklären soll53, wurde entgegen seiner ursprünglichen Intention als Beleg für die Sündhaftigkeit der Menschen und somit als Begründung der Sintflut von J in sein Geschichtswerk aufgenommen. Dass dieser Text dann so verstanden worden ist, wie J ihn verstanden wissen

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H. Gunkel, Genesis, Göttingen, 7. Auflage 1966, S. 71. H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil I: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit (Grundrisse zum Alten Testament, Bd. 4/1), Göttingen 1984, S. 231, M. Oesterreicher-Mollwo, Art. Vierzig, in: ders., Herder Symbole Lexikon, Freiburg, 6. Auflage, 1983, S. 176. 49 J. Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (Biblische Studien, Heft 65), Neukirchen-Vluyn 1975, S. 25, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 106. 50 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 82, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 120. 51 C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 74, G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 85. 52 C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 75. 53 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 85. 48

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wollte, wird an der Art deutlich, wie Josephus ihn in den „Jüdischen Altertümern“ rezipiert (ANTIQ. IUD. I, 73). Dass sich an der Bosheit der Menschen auch nach der Flut nichts geändert hat, wird durch Genesis 9, 18-29 zum Ausdruck gebracht: Das Verhalten Kanaans, Noahs Sohns, zeigt, dass es weiterhin Sünde gibt.54 Es sind nicht die Menschen, die sich geändert haben, sondern es ist die Art Gottes, auf ihre Sünde zu reagieren, wie an Genesis 8, 20-22 zu ersehen ist. In diesen drei Versen hat der Jahwist keine vorgegebenen Stoffe verarbeitet, sondern verleiht in eigenen Worten seiner theologischen Intention Ausdruck.55 Das Versprechen, die Erde kein weiteres Mal durch eine Flut zu vernichten, wird mit einem Hinweis auf den stetigen Klimarhythmus bekräftigt.56 In der jahwistischen Sintfluterzählung finden sich kühne Anthromorphismen:57 So ist es Gott selbst, der die Arche schloss (Gen 7, 16b). Weiter heißt es, dass Gott den Geruch des Opfers roch, das Noah ihm darbrachte (Gen 8, 21). Bei dem Opfer Noahs handelt es sich um ein Ganz- oder Brandopfer.58 In dieser Stelle berührt sich J mit dem Gilgamesch-Epos, in dem es heißt, dass „die Götter den wohlriechenden Duft rochen“ und „sich wie Fliegen um den Opferer scharten“ (XI, 160-161). Der Hintergrund dieser Aussage ist bei J und im Gilgamesch-Epos allerdings ein vollkommen anderer: Während die Götter im GilgameschEpos vom Opfer der Menschen abhängig zu sein scheinen und deshalb kommen, um den Duft zu riechen, ist bei J der Geruch des Opfers nur der Anlass für Gottes Selbstreflexion.59

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R. Rendtorff, a.(Anm. 46)a.O., S. 142. G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 91. 56 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 114 und 120, G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 92. 57 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 89 und 91. 58 E. Kautzsch, Die Heilige Schrift des Alten Testaments. Erster Band, Tübingen, 3. Auflage, 1909, S. 18. 59 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 113. 55

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Dass Noah in der jahwistischen Fassung der Sintflutgeschichte von den reinen Tieren je sieben Paare mit an Bord der Arche nimmt, während er von den unreinen Tieren nur je ein Paar mitnimmt, hat den Grund, dass er die reinen Tiere auch als Verpflegung und als Opfertiere benötigt (unreine Tiere sind weder als Nahrung, noch als Opfertiere geeignet).60 Um nach der Landung auf dem Ararat zu prüfen, ob er mit den Seinen und all den Tieren bereits an Land gehen kann, sendet Noah einmal einen Raben und dreimal eine Taube aus. Das Aussenden von Vögeln war zuzeiten, als es noch keinen Kompass gab, ein alter Schifferbrauch, der angewandt wurde, um zu sehen, wie weit man vom Land entfernt war.61 H. Gunkel sieht in der Aussendung der Vögel einen Beleg für die Weisheit Noahs.62 5.1.2 Nach P Im priesterlichen Sintflutbericht ist die Flut eine universale Vernichtung der ganzen Welt. Die Schöpfung wird regelrecht rückgängig gemacht.63 Die Flut dauert 150 Tage. Hier hat nicht – wie im Gilgamesch-Epos (7) und im jahwistischen Flutbericht (40) – eine heilige Zahl Verwendung gefunden. Die Zahl 150 ist vielmehr im Rahmen eines äußerst präzisen Zeitplanes zu sehen, den P für den Ablauf der Sintflut angibt.64 Der Grund für die Flut ist die Verderbtheit der Erde.65 Noah nimmt von allen Tieren nur je ein Paar mit in die Arche, da nach P der Genuss von Fleisch erst nach der Flut gestattet wird (Gen 9, 3) und da es vor Mose nach P kein Opfer gibt. 66

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E. Kautzsch, a.(Anm. 58)a.O., S. 16, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 110. O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 112/113. 62 H. Gunkel, a.(Anm. 47)a.O., S. 67. 63 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments. Band I: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, München, 8. Auflage, 1982, S. 160. 64 W. H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin / New York, 2. Auflage, 1982, S. 92, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 112 und 120. 65 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 107. 66 E. Kautzsch, a.(Anm. 58)a.O., S. 16, O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 110. 61

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In dem priesterschriftlichen Flutbericht fehlt die Vogelsequenz, weil Gott zum richtigen Zeitpunkt gebietet, die Arche zu verlassen (Gen 8, 15-17).67 Nach der Flut schließt Gott einen Bund (bryt) mit Noah (Gen 9, 9ff.). Dieser Bund ist jedoch rein einseitig68, deshalb sollte eher von einer Verheißung als von einem Bund gesprochen werden.69 Die so genannten noahitischen Gesetze bei P entsprechen der ersten Tafel des Dekalogs (der Dekalog fehlt in der Priesterschrift).70 Nachdem durch die Flut die Schöpfung regelrecht rückgängig gemacht worden ist (s.o.), wird nach der Flut eine neue Weltzeit eingeleitet: Der Auftrag, fruchtbar zu sein (Gen 1, 28a), wird wiederholt (Gen 9,7). Bei P kommt es nach Ende der Sintflut zu einer neuen Schöpfung. Dabei werden die irdischen Verhältnisse weitgehend neu geordnet. Nun ist auch der Genuß von Fleisch gestattet (Gen 9,3).71 Das sichtbare Zeichen dieses Noahbundes ist der Regenbogen (Gen 9, 12-17). Ursprünglich war dabei an einen Kriegsbogen gedacht, dessen Weglegen Frieden bedeutet.72 Die Erinnerung an die ursprüngliche Bedeutung von qst wurde auch in späterer Zeit bewahrt. So findet sich in den „Jüdischen Altertümern“ des Josephus ein solcher Hinweis (ANTIQ. IUD. I, 103) als Erklärung für die nichtjüdischen Leser. 5.2 Die Darstellung der Noahgestalt 5.2.1 Nach J In der jahwistischen Fluterzählung wird die Errettung Noahs dadurch begründet, dass er nur aufgrund von Gottes Befehl eine Arche auf dem trockenen Land baute.73 Dies erklärt allerdings nicht, warum der Befehl 67

O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 113. C. Westermann, Genesis, 1. Teilband: Genesis 1 – 11 (Biblischer Kommentar Altes Testament, Bd. 1,1), Neukirchen-Vluyn 1974, S. 629. 69 C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 89/90. 70 W. H. Schmidt, a.(Anm. 64)a.O., S. 105. 71 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 121. 72 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 101, C. Westermann, a.(Anm. 68)a.O., S. 634. 73 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 107, G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 89. 68

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zum Archebau an ihn erging, wieso gerade er ausgewählt wurde. Der Grund für die Wahl Noahs ist reiner Gnadenwille Gottes.74 Es ging in der Errettung Noahs letztlich nicht um Noah, sondern um die gesamte Menschheit. In Noah wurde die Menschheit vor der endgültigen Vernichtung bewahrt.75 J bietet zwar keine explicite Erklärung des Namens „Noah“, aber einige Anspielungen auf ihn: So in Gen 6,6 (wynhm)76, in Gen 8,9 (mnwh)77 und in Gen 8, 21 (hnyhh).78 5.2.2 Nach P In der Priesterschrift wird Noah als Gerechter dargestellt, ohne dass dies in irgendeiner Weise begründet wird.79 Er ist der letzte Mensch, der mit (`t) Gott wandelt. Nach der Flut ist es nur noch möglich, vor (lpny) Gott zu wandeln.80 Auch bei P findet sich eine Anspielung auf den Namen Noah: in Gen 8,4 (wtnh).81 5.3 Das Sintflutmotiv in anderen Texten des AT Im Alten Testament begegnen Noah und die Sintflut nicht nur in der Fluterzählung in Genesis 6 bis 9, sondern auch in anderen Texten. 5.3.1 Die Darstellung der Sintflut In den folgenden Stellen ist im Alten Testament außerhalb der Fluterzählung in Genesis 6 bis 9 von der Sintflut die Rede:

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G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 87. C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 85. 76 H. Gunkel, a.(Anm. 47)a.O., S. 61. 77 Ebd., S. 65. 78 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 91, H. Gunkel, a.(Anm. 47)a.O., S. 65. 79 O. Keel/M. Küchler, a.(Anm. 36)a.O., S. 108. 80 G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 94. 81 H. Gunkel, a.(Anm. 47)a.O., S. 65. 75

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Psalm 29,10: „Der Herr hat seinen Thron über der Flut; der Herr bleibt ein König in Ewigkeit.“ (S. 565) Psalm 29 ist in die Exilszeit zu datieren.82 Dies ist allerdings nicht opinio communis, da viele Exegeten ihn für sehr alt halten. Aufgrund der in ihm verwendeten Terminologie, die vorwiegend der P-Tradition entnommen ist (so mbwl83; kbwd84) und aufgrund der theologischen Aussage ist jedoch von der Entstehung im Exil auszugehen, wenn auch sehr altes Material in ihm verarbeitet ist. Im Exil wurden die Juden neu mit den bereits bekannten religiösen Vorstellungen der Babylonier konfrontiert und waren dadurch genötigt, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Eine solche Auseinandersetzung liegt in Psalm 29,10 vor. Dem Verhalten der babylonischen Götter, die vor der Sintflut fliehen, die sie selbst initiiert haben (Gilg. XI, 113-115), wird das majestätische Thronen Gottes über der Flut gegenübergestellt, wie auch den vielen babylonischen Göttern (über 3000 sind bekannt 85) der e i n e Gott Israels gegenübergestellt wird. Jesaja 54, 9: „Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.“ (S. 707) In Jesaja 54, 9 fand der Begriff mbwl zwar keine Verwendung, aber es wird von den my nh gesprochen. Es ist also eindeutig an die in Genesis 6 82

Siehe zu den Kriterien der Datierung: G. Schuttermayr, Psalm 18 und 2. Samuel 22. Studien zu einem Doppeltext. Probleme der Textkritik und Übersetzung und das Psalterium Pianum, München 1971, S. 19 ff. 83 S. Springer, Neuinterpretation im Alten Testament. Untersucht an den Themenkreisen des Herbstfestes und der Königspsalmen in Israel (Stuttgarter Biblische Beiträge, Bd. 6), Stuttgart 1979, S. 51. 84 W. H. Schmidt, Einführung, a.(Anm. 64)a.O., S. 106; C. Westermann, Art. kbdin: E. Jenni/C. Westermann (Hgg.), Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament (THAT). Band I, München 1971, S. 808. 85 H. Schmökel, Mesopotamische Texte, in: W. Beyerlin (Hg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament (Grundrisse zum Alten Testament, Bd. 1) Göttingen 1975, S. 96.

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bis 9 beschriebene Sintflut gedacht, wenn auch der Terminus mbwl nicht benutzt wurde. Dies gilt auch für die Wendung ky my nh86 am Anfang von Vers 9. Hier ist die Zeit nach der Sintflut gemeint, obwohl auch hier der Begriff mbwl nicht gebraucht wurde. Der Text, in dem sich dieser Vers findet, ist ein Gedicht, in dem Deuterojesaja von der Wendung des Zornes Gottes in neues und ewiges Erbarmen spricht.87 Diese Wende, die Deuterojesaja verkündigt, vergleicht er mit der in Genesis 8, 21-22 (J) beschriebenen. In beiden Fällen ist die Wende nicht vom Menschen, sondern von und in Gott selbst vollzogen. Er ist es, der durch seinen Entschluß einen neuen Status schafft.88 Da Deuterojesaja in der Spätzeit des Exils, etwa zwischen 550 und 540 zu datieren ist89 und der priesterliche Sintflutgericht PG und nicht PS zuzuordnen ist90, ist es durchaus möglich, dass Deuterojesaja die Fluterzählung der Priesterschrift gekannt hat. Neben Psalm 29, 10 gibt es vier weitere Stellen außerhalb der Fluterzählung in Genesis 6-9, in denen der Ausdruck mbwl begegnet:91 Gen 9, 28; 10, 1; 10, 32 und 11, 10. In diesen Versen findet sich der Ausdruck `hr hmbwl - eine reine Zeitbestimmung. Über die Flut selbst wird nichts gesagt. 5.3.2 Die Darstellung der Noahgestalt In den folgenden Stellen ist im Alten Testament außerhalb der Fluterzählung in Genesis 6 bis 9 von Noah die Rede: 86

Lies ky my nh statt kymy nh. C. Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40 – 66 (Das Alte Testament Deutsch, Teilband 19), Göttingen 1966, S. 218. 88 Ebd., S. 221. 89 W. H. Schmidt, a.(Anm. 64)a.O., S. 257. 90 Ebd., S. 94. 91 Darüber hinaus ist in Hi 38, 25; Pr 27, 4; Nah 1, 8; Ps 32, 6; Dn 9, 26 und 11, 22 von einer Flut die Rede. Da in diesen Versen aber nicht der in Genesis 6 bis 9 verwendete Begriff mbwl aufgegriffen wurde, sondern stattdessen das Substantiv stp verwendet wurde, das in dem alttestamentlichen Flutbericht nicht belegt ist, wird im Rahmen dieses Beitrages nicht näher auf sie eingegangen. Dasselbe gilt für Jes 28, 18, wo von swt swtp gesprochen wird. 87

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Genesis 9, 18-29 In Genesis 9, 18-29, also direkt im Anschluss an den Sintflutbericht, geht es wieder um Noah: Die Söhne Noahs, die aus der Arche gingen, sind diese: Sem, Ham und Jafet. Ham aber ist der Vater Kanaans. Das sind die drei Söhne Noahs; von ihnen kommen her alle Menschen auf Erden. Noah aber, der Ackermann, pflanzte als Erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt. Als nun Ham, Kanaans Vater, seines Vaters Blöße sah, sagte er's seinen beiden Brüdern draußen. Da nahmen Sem und Jafet ein Kleid und legten es auf ihrer beider Schultern und gingen rückwärts hinzu und deckten ihres Vaters Blöße zu; und ihr Angesicht war abgewandt, damit sie ihres Vaters Blöße nicht sähen. Als nun Noah erwachte von seinem Rausch und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, sprach er: Verflucht sei Kanaan und sei seinen Brüdern ein Knecht aller Knechte! Und sprach weiter: Gelobt sei der HERR, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! Gott breite Jafet aus und lasse ihn wohnen in den Zelten Sems und Kanaan sei sein Knecht! Noah aber lebte nach der Sintflut dreihundertundfünfzig Jahre, dass sein ganzes Alter ward neunhundertundfünfzig Jahre, und starb. Diese Erzählung steht aber in keinem Zusammenhang mit der Fluterzählung.92 Hier begegnet Noah als der erste Weinbauer (V. 20). Dieser Text ist eine „Erfindersage“, in der geschildert wird, wie die Menschen die Wirkung des Alkohols entdeckten.93 Darüber hinaus ist dieser Text aufgrund der Segens- und Fluchsprüche in den Versen 25-27 von Bedeutung. Nach C. Westermann hat die Erzählung in diesen Sprüchen sogar ihr eigentliches Ziel.94 92

C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 92. G. v. Rad, a.(Anm. 44)a.O., S. 103. 94 C. Westermann, a.(Anm. 42)a.O., S. 92. 93

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Noahs Söhne sind Repräsentanten von Völkerschaften: Sem steht für Israel, Kanaan für die Kannanäer und Japhet für die Philister.95 Vermutlich spiegelt diese Erzählung die Verhältnisse der älteren Königszeit seit Salomo wieder.96 Ezechiel 14, 14: „(Vers 13: Du Menschenkind, wenn ein Land an mir sündigt und Treubruch begeht und wenn ich meine Hand dagegen ausstrecke und den Vorrat an Brot ihm wegnehme und Hungersnot ins Land schicke, um Menschen und Vieh darin auszurotten,) und wenn dann diese drei Männer im Lande wären, Noah, Daniel und Hiob, so würden sie durch ihre Gerechtigkeit allein ihr Leben retten, spricht Gott der Herr.“ (S. 797) und Ezechiel 14, 20: „(Vers 19: Oder wenn ich die Pest in dies Land schicken und meinen Grimm darüber ausschütten würde mit Blutvergießen, um Menschen und Vieh darin auszurotten,) und Noah, Daniel und Hiob wären darin – so wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: sie würden durch ihre Gerechtigkeit weder Söhne und Töchter retten, sondern allein ihr eigenes Leben.“ (S. 798) In dieser Rede Gottes an den Propheten erscheint Noah als Ideal eines Frommen.97 Es geht in diesem Text um die Abwehr der Vorstellung, dass fromme Eltern ihre schuldigen Kinder vor dem Strafgericht bewahren können und damit letztlich um die Abwehr der Vorstellung, dass Israel aufgrund seiner Bundesstellung vor dem Gericht bewahrt wird. Zur Verdeutlichung dieser Aussage werden drei fromme Männer genannt, unter ihnen Noah. Noah ist in diesem Kontext als Beispiel genannt, da auch er seinen Sohn vor der Strafe für seinen Frevel nicht bewahren konnte, sondern ihn – ganz im Gegenteil – verfluchen musste. 98 Es wird also nicht auf die Sintfluterzählung, sondern auf Genesis 9, 1819 Bezug genommen. 95

H. Donner, a.(Anm. 48)a.O., S. 54. Ebd., S. 55. 97 C. Westermann, a.(Anm. 68)a.O., S. 640. 98 W. Eichrodt, Der Prophet Hesekiel. Kapitel 1 -18 (Das Alte Testament Deutsch, Teilband 22, 1), Göttingen 1965, S. 110. 96

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Von Noah wird nicht nur in den Versen 14 und 20 gesprochen, in denen er namentlich genannt ist, sondern auch in den Versen 16 und 18, in denen von slst h`nsym h`lh die Rede ist. - 1. Chronik 1,4: „(Verse 1 bis 3: Adam, Set, Enosch, Kenan, Mehalalel, Jered, Henoch, Metuschelach, Lamech,) Noah, Sem, Ham, Jafet.“ (S. 417) Die Chronik hat die Geschichte Jerusalems und Judas von David bis zum Untergang im Jahre 587 bzw. bis zu der durch Cyros eingeleiteten Wende zum Inhalt (1. Chr. 10 – 2. Chr. 36). Um zu verdeutlichen, daß die Gemeinde des Zweiten Tempels das wahre Israel ist, hat der Chronist eine Genealogie vorangestellt.99 Diese wurde von dem zweiten Autor der Chronik (Chron**), der in das Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr. zu datieren ist100, bis zu Adam zurückverfolgt.101 Bei der Erweiterung der Genealogie verarbeitete Chron** nur die Genealogie in Genesis 5, 2-32 und nicht die teilweise parallel laufende Setitengenealogie.102 Den ursprünglichen Beginn der Genealogie bildet 1. Chronik 2,1. Aufgrund dieser späteren Erweiterung findet sich auch der Name Noah in der Genealogie. Der Grund für die Rezeption der Noahgestalt in dem vorliegenden Text ist also die Tatsache, dass Noah in der Urgeschichte eine so wichtige Rolle spielt, dass sein Name in einer solchen Genealogie nicht übergangen werden durfte. 5.4 Das Sintflutmotiv im Neuen Testament Die Geschichte von Noah und der Sintflut hat auch in den neutestamentlichen Schriften ihren Niederschlag gefunden.

99

K. Galling, Die Bücher der Chronik, Esra, Nehemia (Das Alte Testament Deutsch, Teilband 12), Göttingen 1954, S. 7. 100 Ebd., S. 17. 101 Ebd., S. 7. 102 Ebd., S. 19.

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5.4.1 Die Darstellung der Sintflut In den folgenden Stellen ist im Neuen Testament von der Sintflut die Rede: Matthäus 24, 37-41 / Par.: Lukas 17, 26-27. 34-35: „Denn wie es in den Tagen Noahs war, so wird auch sein das Kommen des Menschensohns. Denn wie sie waren in den Tagen vor der Sintflut - sie aßen, sie tranken, sie heirateten und ließen sich heiraten bis an den Tag, an dem Noah in die Arche hineinging; und sie beachteten es nicht, bis die Sintflut kam und raffte sie alle dahin -, so wird es auch sein beim Kommen des Menschensohns. Dann werden zwei auf dem Felde sein; der eine wird angenommen, der andere wird preisgegeben. Zwei Frauen werden mahlen mit der Mühle; die eine wird angenommen, die andere wird preisgegeben.“ (S. 35) In diesen Versen wird das Kommen des Tages des Menschensohnes mit dem Kommen der Sintflut verglichen. Den Vergleichspunkt stellt die Tatsache dar, dass die Menschen auf die Wiederkunft Christi genauso unvorbereitet sind, wie es die Menschen vor der Flut auf das Hereinbrechen der Sintflut waren. Dabei wird nicht kritisiert, w a s die Menschen tun: Essen, Trinken und Heiraten (Mt 24, 38; Luk 17, 27), sondern w i e: sie tun es, ohne mit der Wirklichkeit Gottes zu rechnen.103 Darüber hinaus findet sich bei Lukas auch der Vergleich mit dem Gericht über Sodom in den Tagen Lots (V. 28-33).104 Dieser Vergleich ist vermutlich nachträglich hinzugekommen, da er auch in 2. Petrus 2, 5, aber nicht in 1. Petrus 3, 20 begegnet.105 Diese Erweiterung legt die Vermutung nahe, dass Lukas bei diesem Vergleich auch den Restgedanken im Sinn hatte. Denn trotz der Parität, die in den Versen 17, 34-35 (36) (par.: Mt 24, 40-41) zum Ausdruck gebracht ist, kann Lukas durchaus an 103

E. Schweitzer, Das Evangelium nach Matthäus (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 2), Göttingen, 13. Auflage, 1973, S. 301. 104 K.H. Rengstorf, Das Evangelium nach Lukas (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 3), Göttingen 1958, S. 203. 105 E. Schweitzer, a.(Anm. 103)a.O., S. 300.

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einen kleinen Rest, der errettet wird, gedacht haben, wie der Vergleich mit Lots Frau (V. 23) zeigt; denn sie erleidet das Schicksal der Mehrheit der Menschen, der Bewohner Sodoms (V. 29). 2. Petrus 3, 6: „(Vers 5: Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort;) dennoch wurde damals die Welt dadurch in der Sintflut vernichtet.“ (S. 264) In diesem Text geht es um die Zurückweisung von Spöttern, die sich angesichts der Parusieverzögerung über den christlichen Glauben lustig machen. Der Text, der in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden ist106, gibt also Aufschluss über die Situation der damaligen Christen und über die theologischen Probleme dieser Zeit. Den Hintergrund dieses Textes bildet die Vorstellung von dem großen Weltjahr, das seinen Winter (die Sintflut) und seinen Sommer (den Weltbrand) hat. Mit dem Hinweis auf dieses große Weltjahr weist der Verfasser des 2. Petrusbriefes den oben genannten Spott zurück: Die Tatsache, dass die Schöpfung bereits einmal durch die Sintflut vernichtet wurde, soll die Spötter daran erinnern, dass sie ein zweites Mal durch den Weltbrand vernichtet werden wird.107 Die jetzige Welt hat also nur eine gewisse Zwischenstellung zwischen der ersten, vornoahitischen und der zukünftigen Welt. Es gibt folglich keinen Grund für die falsche Sicherheit, in der sich die Spötter wähnen.108

106

H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (Uni-Taschenbücher, Bd. 52), Tübingen, 5., wiederum durchgesehene und verbesserte Auflage, 1980, S. 322. 107 F. Hauck, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Judas und Johannes (Kirchenbriefe) (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 10), Göttingen, 4. durchgesehene und ergänzte Auflage, 1947, S. 98. 108 Ebd., S. 98.

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5.4.2 Die Darstellung der Noahgestalt In den folgenden Stellen ist im Neuen Testament von Noah die Rede: Lukas 3, 36: „… der war wie ein Sohn Kenans, der war wie ein Sohn Arpachschads, der war wie ein Sohn Sems, der war wie ein Sohn Noahs, der war wie ein Sohn Lamechs, …“ (S. 73) In dem Stammbaum Jesu wird auch Noah genannt. Dieser Stammbaum hat die Funktion – ganz wie der in Mt 1, 2ff. – die Abstammung Jesu von David zu belegen.109 Dass den ersten Christen die Abstammung Jesu von David sehr wichtig war, zeigen auch Mt 22, 41ff. par.: Röm 1, 3; 2. Tim 2,8; Offb 5,5 und 22,16.110 Die beiden Stammbäume, Mt 1, 2ff. und Luk 3, 23,ff., zwischen denen keine literarische Abhängigkeit besteht111, unterscheiden sich darin, dass der Stammbaum nach Matthäus erst bei Abraham einsetzt, während der nach Lukas auch noch die Namen von Adam bis zu Abrahams Vater Tharah, also auch den Namen Noah, enthält. Vermutlich hat Lukas diese Namen aus 1. Chronik 1, 1-27 entnommen.112 Es war ihm wichtig, zu zeigen, dass Jesus als Sohn Abrahams und als Sohn Davids auch der Sohn Adams ist und als solcher Gottes Wege vollendet, die mit Adam begannen.113 Hebräer 11, 7: „Durch den Glauben hat Noah Gott geehrt und die Arche gebaut zur Rettung seines Hauses, als er ein göttliches Wort empfing über das, was man noch nicht sah; durch den Glauben sprach er der Welt das Urteil und hat ererbt die Gerechtigkeit, die durch den Glauben kommt.“ (S. 279) Das 11. Kapitel des Hebräerbriefes, der spätestens im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts entstanden ist,114 hat den G l a u b e n zum 109

K. H. Rengstorf, a.(Anm. 104)a.O., S. 60. Ebd., S. 62. 111 Ebd., S. 61. 112 Ebd., S. 61. 113 Ebd., S. 61. 114 H. Conzelmann/A. Lindemann, a.(Anm. 106)a.O., S. 310. 110

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Thema. Als alttestamentliche Beispiele wahrhaft Glaubender werden aus der Urgeschichte Abel, Henoch und Noah genannt.115 Noah wird als Beispiel aufgeführt, da er Gottes Wort gegen allen Augenschein geglaubt und nur aufgrund des Gotteswortes ein Schiff auf dem trockenen Land gebaut hatte.116 Damit nimmt der Verfasser des Hebräerbriefes die theologische Intention von J auf (siehe: Zweiter Teil, Kap. 3.), der Noah erst nach dieser Prüfung seines Glaubens als sdyq bezeichnete. Bereits Philo begründete die Sonderstellung Noahs mit dem Hinweis, dass er der erste Mensch sei, der in der Bibel „gerecht“ genannt werde.117 Einen weiteren Grund für die Wahl Noahs als Beispiel eines wahrhaft Glaubenden ist die Tatsache, dass es von ihm heißt, er sei m i t (`t) Gott gewandelt (Gen 6, 9).118 1. Petrus 3, 20: „(Vers 19: In ihm ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis,) die einst ungehorsam waren, als Gott harrte und Geduld hatte zur Zeit Noahs, als man die Arche baute, in der wenige, nämlich acht Seelen, gerettet wurden durchs Wasser hindurch“ (S. 261) In diesem Text, der ca. 80/90 n. Chr. entstanden ist119, geht es um die Predigt, die Christus den Geistern im unterirdischen Gefängnis, dem Ort der Toten, gehalten hat. Wahrscheinlich sind die Geister der ungehorsamen Zeitgenossen Noahs gemeint.120 In Vers 20 ist von der hä tou teou makrotymia en hämeraias Noe die Rede. Dies setzt voraus, dass es vor Beginn der Flut eine Zeit gab, in der 115

H. Strathmann, Der Brief an die Hebräer (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 9), Göttingen, 10. Auflage, 1970, S. 137. 116 A. Strobel, Der Brief an die Hebräer (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 9), Göttingen, 11. Auflage (1. Auflage dieser neuen Fassung), 1975, S. 213; F. Laubach, Der Brief an die Hebräer (Wuppertaler Studienbibel), Wuppertal 1974, S. 230. 117 A. Strobel, a.(Anm. 116)a.O., S. 214. 118 F. Laubach, a.(Anm. 116)a.O., S. 230. 119 H. Conzelmann/A. Lindemann, a.(Anm. 106)a.O., S. 320. 120 W. Schrage, Der Erste Petrusbrief, in: H. Balz/W. Schrage, Die „katholischen“ Briefe. Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (Das Neue Testament Deutsch, Teilband 10), Göttingen 1982, S. 106.

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eine Möglichkeit der Buße bestand. Diese Vorstellung hat zwar im alttestamentlichen Flutbericht keinerlei Anhaltspunkt, begegnet jedoch bei Josephus. 2. Petrus, 2, 5: „(Vers 4: Denn Gott hat selbst die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis in die Hölle gestoßen und übergeben, damit sie für das Gericht festgehalten werden;) und hat die frühere Welt nicht verschont, sondern bewahrte allein Noah, den Prediger der Gerechtigkeit, mit sieben andern, als er die Sintflut über die Welt der Gottlosen brachte; (Verse 6f.: und hat die Städte Sodom und Gomorra zu Schutt und Asche gemacht und zum Untergang verurteilt und damit ein Beispiel gesetzt den Gottlosen, die hernach kommen würden; und hat den gerechten Lot errettet, dem die schändlichen Leute viel Leid antaten mit ihrem ausschweifenden Leben).“ Diese Vorstellung hat auch in 2. Petrus 2, 5 ihren Niederschlag gefunden. Hier wird Noah sogar als „Prediger der Gerechtigkeit“ (dikaiosynäs käryx) bezeichnet. Auch für die Darstellung Noahs als Bußprediger gilt, dass sie zwar nicht im Flutbericht in Genesis 6-9, aber in den „jüdischen Altertümern“ des Josephus vorkommt. Sie begegnet auch im Ersten Clemensbrief121, der nach der Verfolgung durch Domitian (81-96) in Rom verfasst wurde.122 Die Rettung Noahs und der Wenigen, die zu ihm hielten, wird in 2. Petrus 2, 5 damit begründet, dass Noah nicht nur für sich gerecht lebte, sondern auch bemüht war, die Anderen zu einem gottgefälligen Leben zu bekehren.123

121

H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 513. 122 H. Conzelmann/A. Lindemann, a.(Anm. 106)a.O., S. 331. 123 F. Hauck, a.(Anm. 107)a.O., S. 92.

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6 Die Verarbeitung des biblischen Befundes durch Ernst Barlach in seinem Drama „Die Sündflut“ Dieser komplexe biblische Befund bildet den Hintergrund für Barlachs Drama „Die Sündflut“. Ihm ging es jedoch nicht in erster Linie darum, diesen Stoff künstlerisch neu aufzubereiten, sondern seine eigenen Erfahrungen zu verarbeiten, die auch von ihm 1914 nicht erkannte Katastrophe des Weltkrieges.124 Barlach „will […] mit der Sündflut nicht die Bibel dramatisieren, sondern benutzt unter dem Eindruck des Weltkrieges den Text der Genesis, um an Hand einer scheinbar vertrauten Geschichte der uralten Frage ‚Woher das Böse?’ nachzugehen.“125 Noah fungiert in Barlachs Drama somit als Projektionsfläche für dessen eigene Aussageabsichten. Der Noah des Dramas überlebt, weil er blind gehorcht. „Kommt Kinder“, sagt er, „die Zeit ist reif für Gottes Rache“; er überlässt seine Mitmenschen einem qualvollen Tod, verschließt die Augen und letztlich auch die Tür der Arche vor ihnen und ihrem Leiden. Wenn Gott das zulässt, so glaubt er, dann ist es auch Gottes Wille. Er selbst ist dementsprechend an dem Geschehen zur Gänze schuldlos. Helmar Harald Fischer charakterisiert die Gestalt des Noah, die im Drama begegnet, in treffender Weise wie folgt: „Und wer überlebt? Die, die sich was Besseres dünken, die den Gedanken, daß die Ausrottung der Menschheit des anderen zugedacht ist, für ganz normal halten, die, die nichts unternehmen, um die Katastrophe zu verhindern, aber rechtzeitig für ihre persönliche Überlebensmöglichkeit sorgen. Noah mit seiner Sippe, Noah, der anpasserisch-fatalistische, unerschütterlich sich selbst als das Maß aller Dinge begreifende Typus Mensch, der nur dann wei124 Vgl. H. H. Fischer, Vorwort, in: Ernst Barlach. Dramen. Die Sündflut. Mit 12 Zeichnungen und einem Holzschnitt von Ernst Barlach. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Helmar Harald Fischer, München / Zürich 1987, S. 11: „Barlach hat Die Sündflut sicherlich ebenso wenig in Unkenntnis von Friedrich Nietzsche und Jakob Böhme, Max Scheler und SØren Kierkegaard geschrieben. Er hat den Jahwisten ebenso berücksichtigt wie die mesopotamischen Paralleltexte. Entscheidend ist, daß er zeigt: Gott ist letztlich so, wie ich ihn will – und das heißt, die Verantwortlichkeit für Gut und Böse ist eben doch: meine.“ (Hervorhebung im Original). 125 H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 8 (Hervorhebung im Original).

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nerlich wird, wenn ein Calan mit kritischer Denkfähigkeit ihm seine schöne Ordnung aus überschaubaren Kausalzusammenhängen durch scheußlich zutreffende Argumente durcheinanderbringt. Noahs ängstliche Schicksalsergebenheit, die er selbst Gottergebenheit nennt, die in Wahrheit jedoch phantasielose Sachzwangergebenheit ist, macht ihn erpressbar für Freund und Feind, verdient Calans Verhöhnung als Kadavergehorsam: ‚Was kannst du für deine Frömmigkeit, daran bist du auch unschuldig.’“126 Im Rahmen der Verarbeitung im Rahmen dieses Dramas stehen somit folgende Fragen im Zentrum: Wieso wird der Unschuldige vernichtet und der, der ihm die Hilfe schuldig bleibt, gerettet? „Die Erde ... es liegt ein Wolfssame in ihr“, sagen die Engel. Da drängt sich die Frage auf: Hat nicht Gott als Schöpfer die Erde erschaffen? Kann es überhaupt einen Bund zwischen Gott und den Menschen geben, wo unterschiedslos ausgerottet wird? Für Barlach geht es in diesem Drama letztlich um die Frage nach Gott. Als er es im Alter von 54 Jahren fertig stellte, war für ihn klar, dass Gott für die Menschen nicht fassbar ist127: „Gott ist nicht überall, und Gott ist auch nicht Alles, wie Vater Noah sagt. Er verbirgt sich hinter Allem, und in Allem sind schmale Spalten, durch die er scheint, scheint und blitzt. Ganz dünne, feine Spalten, so dünn, daß man sie nie wieder findet, wenn man nur einmal den Kopf wendet.“128 Bei anderer Gelegenheit findet Barlach noch sehr viel deutlichere Worte: „…, die Menschen werden Gott nie erkennen, ...“129

126

H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 8f. Vgl. H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 10. 128 Zitiert nach: H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 9. 129 Zitiert nach: H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 9. 127

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7 Passagen aus dem Drama „Die Sündflut“ von Ernst Barlach Im Folgenden werden Abschnitte aus dem Drama „Die Sündflut“ zitiert, die auf je ihre Weise zentrale Aussagen des Dramas in pointierter Weise zum Ausdruck bringen:130 7.1 Calans erster Auftritt, bei dem sein Charakter deutlich wird (S. 322-324) Man hört Glocken in der Ferne, Calan erscheint mit einem Teppich, den er ausbreitet: Reisender: Deine Kamele ruhen, deine Knechte speisen, du willst beten? Calan: Ich will allein sein, darum knie ich abseits nieder. Reisender: Und betest? Calan: Ich spreche mit mir selbst; ist das beten, so bete ich. Reisender: Vielleicht hättest du Grund, dem zu danken, der dir die Kamele gab. Calan: Die Kamele habe ich genommen von einem, der sie andern nahm. Zeigt auf sein Schwert. Reisender: Hast du Blut vergossen? Calan: Nur das meines Feindes, seiner Kinder, seiner Knechte – seine Weiber sind jetzt meine Weiber. Ich danke Gott, dass er mir Kraft, Schnelligkeit, Schlauheit, Ausdauer und Mut gegeben hat – Mut und den herrlichen Sinn, der nicht schwankt in der Not, Augen, die Blut zu sehen nicht blendet, Ohren, in die kein Grausen eingeht, wenn blutende Kinder schreien. Ich danke ihm, wenn er Lust an meinem Dank hat. Reisender: Glaubst du, dass Gott Wohlgefallen am Geschrei blutender Kinder hat? Calan: Warum gibt er ihnen Stimmen, wenn er ihr Geschrei fürchtet? Und wie kann er sich fürchten, wenn ich es nicht tue? Reisender: Du bist fehlgeraten, deine Bosheit ist nicht sein Werk, deine Wut nicht sein Wille, dein Tun kommt nicht aus seinem Denken. 130

Die folgenden Zitate sind der Ausgabe entnommen: Ernst Barlach, Das dichterische Werk in drei Bänden: Die Dramen, hrsg. v. F. Dross, München 1968.

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Calan: Wenn meine Bosheit nicht aus seiner Bosheit kam, woher keimte also meine Bosheit? Nein, meine Bosheit ist auch von ihm. Wer mich in meine Bosheit gebettet, mich im wilden Blut gebrüht hat, der hat nichts Besseres getan als ich, da ich die Kinder mit der Schärfe des Schwertes schlug, dass sie bluteten. Reisender: Fehlgeraten bist du – er wird dich in deinen Kamelen schlagen. Calan: Dann macht er es wie ich mit meinen Knechten, hinterher tut ihm wie mir die Laune leid. Reisender: Wenn du ihn liebtest, sprächest du anders. Calan: Lieben – liebt er mich? Ich vertraue, er hat meine Liebe und mein Gebet nicht nötig und gibt mir nicht darum Gedeihen, weil ich ihm zu Willen bin. Kann ich mich zu ihm erheben, der erhaben ist, da ich es nicht bin? Wenn er ist, so weiß er nicht von mir, und ich gönne ihm seine Gebiete, nur soll er mich in meiner Wüste und meinen Zelten für mich leben lassen. Wäre er wie der, von dem mein frommer Nachbar redet, brauchte Lob und Dienst und Dank und Knechtschaft, wünschte Gehorsam für seine Gnade und Väterlichkeit … Reisender: Was dann? Calan: Dann müsste ich fragen und forschen. Vielleicht wäre mein Dank und Knechtschaft ein nichtsnutziger und böser Handel. Ein Wicht müsste ihn bemitleiden um seine Dürftigkeit. Gaben und Gnaden? Und er melkt mich wie ich die geraubten Kamele, er macht Käse aus meiner Knechtschaft, Labe aus meinem Lob, Butter aus meinem Dank … danach müsste ich forschen, ob es ungeschickt ist zu denken, dass der Sohn von der Art des Vaters sei – frei wie er – Herr wie er – gerecht und gut wie der – groß und mächtig aus der Gewalt seiner Herrlichkeit entsprossen – sonst müsste ich glauben, ich wäre das gestohlene Kind eines unbekannten Gottes, schlecht gehalten und seines Vaters unwert.

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7.2 Noahs erster Auftritt, bei dem er den Aussätzigen verscheucht (S. 325) Raum zwischen Noahs Zelten, im Hindergrunde ein Hain. Der Aussätzige schleicht vorüber, lungert nach allen Seiten. Noah mit seinen drei Söhnen kommt und verscheucht ihn. 7.3 Noahs Theologie, gleichsam im Telegrammstil (S. 330) Noah: Bleibt alle beide zurück, auch du geh mit ihnen zu eurer Mutter, Ham, sagt ihr, wie ich euch sagte, was Gott gefällt zuzulassen, das ist Gottes Gewalt und Tun selbst. Sagt ihr das, und sie wird euch lehren, wie leicht die Schwere wird, wenn – ach, wie viel muß ich sprechen, und ihr steht mit offenen Mäulern da und hört nichts von dem Klingen der Stimme, die durch Haut und Knochen ins Herz dringt – geht, ich will ihn allein empfangen. 7.4 Noahs Überforderung durch das Leben (S. 348) Noah zurück: Sie wissen nichts von der Gnade deines Anblicks, alter Vater, sei ihnen nicht gram – die Zeit – ach die Zeit ist auf flinken Füßen vorwärts gegangen, und ich, ich fliehe so gern zu verlorenen alten Tagen zurück. 7.5 Noah klammert sich an seinen Besitz und tut sich sehr schwer damit, ihn vor der Flut an Calan zu übergeben (S. 350) Noah: Ach, Vater – gepresst – alle Herden wegschenken, als armer Mann ins Gebirge gehen – ach Vater, wie kann man das versprechen. 7.6 Calans Theologie (S. 350) Calan: Andererseits hast du wieder recht, Noah, warum willst du leben, wenn alle andern sterben – denn sie sterben unschuldig, da es Gottes schuld ist, dass sie schuldig wurden. Das ist auch zu bedenken. Stirb mit uns, wenn die Flut nicht anders soll und kann als kommen. Was kannst du für deine Frömmigkeit, daran bist du auch unschuldig.

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7.7 Calans Theologie (S. 352) Calan: Wenn Gott Alles ist, wo bleiben dann die Bösen? 7.8 Noahs Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen (S. 355f.) Noah mit einer Stange treibt den buckeligen Aussätzigen und den verstümmelten Hirten vor sich her. Noah: Taugenichtse, Tagediebe, fort mit euch in eure verfluchten Reiche! Hirt hebt flehend beide Armstümpfe hoch, Noah erkennt ihn. Noah: Du – ohne deine geopferten Hände, du bist es? Calan hat dich geschlagen, nicht ich; Gott hat es zugelassen, nicht ich. Warum suchst du mich heim? Hirt blickt auf seine Arme: Sie bluten nicht mehr, aber mit Schmerzen und Schrecken schleppe ich mich zu meinen Brüdern. Zeigt gegen die Bergwand. Bis hinter die Berge muß ich ziehen. Weist auf den Aussätzigen. Ihn fand ich unterwegs, er soll bei mir sein und Nahrung finden und Freundschaft. Noah: Deine Brüder werden ihn verjagen. Es hilft nicht, ich habe nichts mit euch zu schaffen, fort mit euch, Calan hat es getan, und Gott hat es zugelassen, nicht ich. Aussätziger: Wenn einst ein Größerer Gott an Nase und Ohren schändet, dann laß es lieber nicht zu, Noah, laß es nicht zu. Laß lieber deine eigenen Nasen und Ohren und gib dich gerne drein, wenn Gott nur heil bleibt. Zeigt auf den Hirten. Er ist Gottes Kind, und du hast es nicht gehindert, dass Calan ihn schlug. Er wird dich bei Gott verklagen, wird sagen: er hat es nicht gehindert – Noah heiß der Mann, Noah, der Gottes Knecht ist. Noah: Schrei nicht so laut – und fort mit euch, ich habe nichts mit euch zu schaffen. Hirt: Ach, die Wunden, ach, die Schmerzen, ich schäme mich meiner Wunden und Schmerzen, ich schäme mich, dass ich so geschändet bin.

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Noah: Fort mit euch, es sind Gottes Werke, an die ihr euch mit euren Worten wagt. Awah: Sind das Gottes Werke? Noah: Gottes eigene Werke, Awah, sieh nicht hin. Awah: Gottes Werke sind grausig, wenn das Gottes Werke sind. Sem: Sieh hin, Awah; ich möchte solche Werke nicht getan haben. Noah: Fort mit euch in eure verfluchten Reiche! Er treibt sie fort; zu Sem und Awah: Betet zu Gott, so befällt euch kein Aussatz, dient ihm, so behaltet ihr eure Hände, fürchtet ihn, so bleibt ihr verschont, liebt ihn. Awah: Ich kann ihn nicht lieben, wenn das seine Werke sind. Sem: Ich auch nicht, Awah, er ist ein harter Herr. Noah: Wir wollen bauen, Sem. Ham mit den Stieren holt die behauenen Balken, -- nein, sie haben nichts gesehen und begriffen die beiden. Wenn die Flut kommt und die Völker auf die Berge flüchten, wo wir bauen – wir haben keinen Platz als für uns und unsere Tiere! Zu Awah: Sie sind es nicht wert zu leben, Awah, wir allein sind es wert, du mit uns. 7.9 Noahs Theologie, seine Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen (S. 360) Noah: Japhet ohne Frau? Da gibt’s kein Anhalten – was kann Jasphets gutes Herz dafür, dass es eine gottlose Frau verlangt? Gott hat ihm sein Herz gegeben. 7.10 Noahs Theologie, seine Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und Gottes Antwort darauf (S. 361) Noah: O Herr, nein, sage ich; Gott ist auch der Herr des Bösen, er kann es knechten und aus Widerstand Gehorsam machen. Reisender: Kann er das, Noah? Noah: Gott, der das Gute will, könnte das Böse nicht bändigen? Nein, Herr, so gottlos darf man nicht denken, ich will eilen.

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Reisender: Was hat Gott mit dem Bösen zu tun, nicht er ist der Schöpfer des Bösen – soll es besser werden, so mögen sie sehen, woher sie es bekommen haben. 7.11 Gott über Noah (S. 361) Reisender: Auch du, Noah, fängst an zu faulen? – Pfuscherei, Pfuscherei, schreit die Welt mir entgegen – sieh, wie du mich fehlgeschaffen hast, heult sie mich an. Ich fürchte, ich werde wenig Freude an dir und deinen Kindern finden. 7.12 Noahs Theologie und deren Infragestellung durch Calan (S. 365f.) Calan: Und du und deine Söhne und ihre Weiber seid einzig wert zu leben – oder wie steht es damit, geht das an zu glauben? Noah: Wie wir sind, Calan, so will uns Gott erhalten – wie Gott will, denke ich, so gut sind wir, nicht besser und nicht böser. Calan: Auch ich, wie ich bin, so bin ich geschaffen, und nun sage mir, Noah, wer hat meiner Beschaffenheit befohlen, sich wie Aussatz unheilbar an mich zu setzen, wer, wenn nicht Gott? Wenn nicht deiner, so doch Einer. Einer war es, Noah, und ich bleibe der Sohn dieses Einen. 7.13 Calans Infragestellung Gottes (S. 367) Noah: Die Zeit ist reif, die Zeit ist reif. Calan: kehrt sich heftig nach ihm um: Die Zeit ist reif? Die Zeit ist faul, wo sich ein Gott damit quälen muß, seiner Welt Atem in Wasser zu verwandeln. Ein schönes Geschäft für einen Herrn. Awah, du bist zwischen ihnen allen wie ein Samenkorn. 7.14 Die Grausamkeit Noahs und seiner Familie (S. 368) Derselbe Ort bei Nacht, Regen und Sturm. Calan und Chus. Calan: Sie haben uns bei Dunkelwerden Speise herausgegeben, iß, Kind.

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7.15 Calans Schuldbekenntnis (S. 369) Hirt: Ich kann nicht graben, Herr, mir fehlen die Hände. Calan hat sie mir abschlagen heißen, und Chus, sein Knecht, hat es vollbracht. Calan: Ich bin Calan, und Chus, mein Kind, sonst mein Knecht, liegt neben mir, er starb. Deine Blutstropfen haben sich in Meere verwandelt und mir Herden und Herrschaft ertränkt. Deine Seufzer zogen alle Wolken der Welt über uns zusammen – die Zeit ist reif. 7.16 Calans Kritik an Gott, durch die er die Theologie Noahs grundlegend in Frage stellt (S. 369) Calan: Warum flucht dein Gefährte, dein buckeliger Begleiter? Hirt: Er flucht seines Gottes, der ihm alles gegeben hat, Aussatz, Missgestalt – dazu ein Herz. Calan: Er flucht mit Recht. 7.17 Des Hirten Theologie, die grundlegend anders ist als die Theologie Noahs (S. 370) Calan: Was siehst du? Hirt: Ich schäme mich von Gott zu sprechen und auch sonst sprach ich nie von ihm. Das Wort ist zu groß für meinen Mund. Ich begreife, dass er nicht zu begreifen ist, das ist all mein Wissen von ihm. 7.18 Calans Infragestellung der Theologie Noahs und damit letztlich auch des Gottes Noahs (S. 371) Calan: Die hölzernen Götzen, die du deinem Vater stahlst, als wir auszogen, Zebid, hast du unterwegs weggeworfen. Sie wurden dir zu schwer, als wir ins Gebirge kamen. Schlimm, Zebid, die hölzernen Götter sind noch die besten. Wenn sie schon keine Not verhüten, so verhelfen sie doch nicht dazu – du musst es jetzt mit Noahs Gott halten.

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7.19 Calans Infragestellung Gottes (S. 376) Calan: Ihr habt mit gesegneten Händen gebaut. Gott hat euch geholfen, und Gott liebt das Getier wie euch selbst – für mich hat er keine Herberge vorgesehen. Gib mir zu, Noah, der Wandel der Tiere reicht nicht so recht nach Gottes Lob und Preis. 7.20 Die Grausamkeit Noahs und seiner Familie und Noahs Unfähigkeit, zu ihr zu stehen (S. 377) Noah: Mir graust; Gottes Gebot heißt, nicht töten. 7.21 Des Aussätzigen Kritik an Gottes Ungerechtigkeit (S. 379f.) Ebenda, Dunkel, Calan und der Aussätzige. Aussätziger: Gott rächt sich an deinen Untaten, Calan, Gott tut es, und was er tut, das tut er im Überfluß. Für das elende Dasein, das er mir geschenkt hat, sollte ich mich an ihm rächen, aber mir scheint, das Rechte geschieht auch hier am falschen Ende. Gott übernimmt es an meiner Statt und rächt es in der Eile an mir selbst. Glaubst du, dass Gott bloß taub ist? Ich glaube, er ist auch blind, wenigstens sieht er nicht im Dunkeln, sonst müsste es ihm doch unbequem sein, dass wir offenbar unbillig gleich behandelt werden, wie im gleichen Stand der Schuld. 7.22 Calans Schuldbekenntnis (S. 381) Calan: Ich schmecke, was durch mich geschah, mir geschieht recht. Aber der rächende Gott ist doch nicht der rechte. Noahs Gott ist grimmig, wie ich war, und mir graust vor dieser Göttlichkeit. Ich liege im Schlamm und erbarme mich seiner geringen Größe. 7.23 Das Finale (S. 382f.) Ebenda, Dunst und trübe Helle. Zwei unkenntliche Gestalten wälzen sich am Boden. Noah, eingehüllt in Gewänder, kommt furchtsam durch den Schlamm gewatet. Setzt einen Krug zu Boden.

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Noah: Ich hörte Gewimmer die ganze Nacht, wir haben es alle gehört, aber meine Söhne hielten die Tür verrammelt. Wo seid ihr – Calan, wo bist du, ich will dich tränken. Der Eine: Gib her, Noah, gib her. Noah: Das ist nicht Calans Stimme – wer seid ihr Elenden? Der Eine: Ich war Calan, aber die Tiere haben an meiner Zunge genagt, ich spreche nicht im alten Ton – gib mir zu trinken. Noah weicht zurück: Nehmt was ich euch lasse – ich kenne euch nicht mehr. Der Eine: Die Fresser haben unsere Augen geschlürft, das Fleisch von den Fingern geschält – wir sehen nicht, wir fassen nicht – gib, Noah, gib. Der Andere: Sprich vom Grimm Gottes oder sprich von Gottes Gerechtigkeit, wenn du kannst. Noah: Das sagte Calan – Calan, bist du es – armer Calan! Calan: Sprich vom gerechten Gott, sprich von Gottes Rache, wag es. (Noahs Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen [S. 382]) Noah weicht weiter zurück, hält die Hand vor die Augen: Gottes Walten ist gerecht, aber seine Gewalt ist über die Kraft meiner Augen, sie ertragen nicht den Anblick seines Tuns. Calan: Als die Ratten meine Augen aus den Höhlen rissen, Noah, bin ich sehend geworden. Ich ertrage den Anblick Gottes, ich sehe Gott. Noah weiter zurück. Calan: Hörst du, Noah? (Noahs Theologie im Telegrammstil, mit Bezug auf Psalm 23 [S. 383]) Noah: Ach, Calan, was siehst du – Gott ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln. Er wird mich durch die Flut führen und mich retten vom Verderben. Calan: Das ist der Gott der Fluten und des Fleisches, das ist der Gott, von dem es heißt, die Welt ist winziger als Nichts, und Gott ist Alles. Ich aber sehe den andern Gott, von dem es heißen soll, die Welt ist groß, und Gott ist winziger als Nichts – ein Pünktchen, ein Glimmen, und Al-

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les fängt in ihm an, und Alles hört in ihm auf. Er ist ohne Gestalt und Stimme. Noah: Armer Calan! Calan: Du armer Noah! Ach, Noah, wie schön ist es, dass Gott keine Gestalt hat und keine Worte machen kann – Worte, die vom Fleisch kommen – nur Glut ist Gott, ein glimmendes Fünkchen, und alles entstürzt ihm, und alles kehrt in den Abgrund seiner Glut zurück. Er schafft und wird vom Geschaffenen neu geschaffen. Noah: O Calan – Gott, der unwandelbare von Ewigkeit zu Ewigkeit? Calan: Auch ich, auch ich fahre dahin, woraus ich hervorgestürzt, auch an mir wächst Gott und wandelt sich weiter mit mir zu Neuem – wie schön ist es, Noah, dass auch ich keine Gestalt mehr bin und nur noch Glut und Abgrund in Gott – schon sinke ich ihm zu – Er ist ich geworden und ich Er – Er mit meiner Niedrigkeit, ich mit seiner Herrlichkeit – ein einziges Eins.131 Ham stürzt heran: Wo – wo – wo, Vater, wo bleibst du! Es schob und schüttelte in den Tiefen, und das Feld der Flut hat sich zu Bergen gehoben und seine Wände wälzen sich auf uns hernieder – lebe, lebe, Vater, ehe Gottes Grimm dich mit den Verlorenen begräbt! Er reißt ihn fort, man hört das Brausen heranwälzender Fluten. 8 Zur Akzeptanz des Dramas: Verleihung des Kleist-Preises und Vielzahl der Inszenierungen Für ‚Die Sündflut’ wurde Barlach im Jahr 1924 der Kleist-Preis verliehen. In diesem Jahr fand die Uraufführung dieses Stückes in Stuttgart statt. In derselben Spielzeit 1924/25 wurde es in Königsberg, Hamburg, Erfurt, Gera, Breslau und Berlin gespielt. Bis 1932 gab es dreizehn wei131

H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., schreibt zu diesen Aussagen Calans: „Zu dieser Erkenntnis läßt Barlach Calan im Zustand eines Leidens, das jenseits aller Vorstellbarkeit liegt, gelangen, in einem geradezu entmaterialisierten Zustand, in dem kein Wollen, kein buchstäblich vitales Interesse die Wahrnehmungsfähigkeit mehr beeinträchtigt – ein radikales szenisches Bild, in dem Barlach weit über alles Gestaltbare hinausgeht und den Rahmen des Überlieferten sprengt.“ (S. 10)

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tere Aufführungen: Danach wurde dieses Stück erst wieder am 2. Oktober 1946 im Schauspielhaus in Hamburg gespielt.132

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Vgl. H. H. Fischer, a.(Anm. 124)a.O., S. 7.

Die Sintflut. Über Stefan Andres und seine große Romantrilogie Joachim Liß-Walther I Einleitung133 Stefan Andres gehörte in den 50er und 60er Jahren zu den meistgelesenen Schriftstellern deutscher Sprache. Seinen Ruhm begründete er bereits mit den Novellen El Greco malt den Großinquisitor von 1936 und Wir sind Utopia von 1942/43, die in viele Sprachen übersetzt wurden und bis heute im Buchhandel vertreten sind. Ich erinnere mich, dass wir diese Novellen intensiv im Schulunterricht behandelt haben, sie waren damals Teil der `eisernen Ration´. Viele seiner Werke, die aus der Zeit seiner Emigration stammten, wurden verlegt und neue entstanden: Novellen, Romane, Dramen, Gedichte, Essays, Reden - der Umfang seines Gesamtwerkes kann sich mit dem Thomas Manns durchaus messen. Wenn man nach den Gründen für diesen Erfolg fragt, dann ergeben sich folgende Antworten: „Während sich sehr viele deutschsprachige Erzähler in der Emigration oder in der Zeit nach 1945, angeregt durch die ausländische Literatur, dem erzählerischen Formexperiment verschrieben, beharrte Andres einerseits bewusst auf einer traditionellen Erzähl133

Dieser fast ungebührlich ausführliche Aufsatz, der den zugrunde liegenden Vortrag um ein Mehrfaches übersteigt, bedarf einer kurzen Rechtfertigung: Zum einen denke ich, dass eine Skizze des spannungsreichen Lebens von Stefan Andres als eine Hinführung zu seinem Hauptwerk - wie auch im Hinblick auf den Vortrag von Karin Schäfer über den Roman Der Mann im Fisch - sinnvoll ist; zum anderen sollte die Zusammenfassung einer 2000 Seiten umfassenden Romantrilogie nicht allzu verknappt ausfallen; zum dritten liegt seit wenigen Jahren eine Kurzfassung der Sintflut vor, die zumindest in Ansätzen mit dem `Original´ in Vergleich zu setzen ist - mit der Herausgabe auch anderer Werke in Einzelbänden scheint sich eine wenn auch begrenzte Renaissance des Schriftstellers abzuzeichnen; schließlich soll Andres selbst durch Textauszüge zu Wort kommen - die Auswahl ist mir nicht leicht gefallen, zumal man pausenlos, fast aus jeder Seite zitieren möchte.

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form, die den Leser weniger verunsicherte, weil er deren Erzählmuster weitgehend kannte. Andererseits traf er mit seinem Werk auf weltanschauliche Bedürfnisse eines großen Teils der bundesrepublikanischen Leserschaft der fünfziger und sechziger Jahre.“134 Andres bekannte sich zur Essenz einer christlich verstandenen Humanität, griff existentielle Fragen von Schuld und Sühne auf und bezog Stellung in öffentlichen und gesellschaftlich relevanten Debatten, begriff sich also als Schriftsteller in gesellschaftspolitischer Verantwortung, rief dadurch auch nicht selten heftige Kritik hervor. Seine Sprache ist reich an Metaphern und Vergleichen, vor allem im Beschreiben von Landschaften und Stimmungen, kann ironisch sein und humorvoll, ist vielfach gewürzt mit satirischem Pfeffer, ausgestattet mit elementarer Großzügigkeit und barocker Genussfreudigkeit, durchzogen von philosophischen und theologischen Gedankengängen, die auch abseits der herrschenden Lehre und Dogmatik immer wieder die Frage des Verhältnisses von Mensch und Gott in unserer Zeit aufwerfen. Nach seinem Tod 1970 verblasste der Ruhm von Stefan Andres, auch wenn es hier und da zu Neuauflagen einzelner Werke kam.135 Fernand Hoffmann versucht mit dem Hinweis auf ein eigentümliches 'Gesetz', das in der Kunst und Literatur - von Ausnahmen abgesehen - wirke, eine Antwort zu geben: „Wenn wir untersuchen, wie das Werk von großen Dichtern nach ihrem Tode rezipiert wurde, so stellen wir fest, dass ihre Gegenwärtigkeit und ihre Wirkung meistens schnell abklang, so dass sie, kaum verstorben, für eine Weile völlig vergessen schienen. Nicht selten kam es sogar vor, 134

Wilhelm Große: Stefan Andres, 1980, S. 7. Sein letzter großer Roman Die Versuchung des Synesios, erschien posthum 1971 und erlebte eine Neuauflage 1990; neu verlegt wurden etwa auch Die Hochzeit der Feinde (1992), Der hinkende Gott. Erzählungen (1991), Noah und seine Kinder (1996), Positano. Geschichten aus einer Stadt am Meer (1984), Die schönsten Novellen und Erzählungen. Bd. I-III (1982), Sehnsucht nach Italien. Erzählungen (1991), Der Taubenturm (1991), Der Knabe im Brunnen (1986), Die unsichtbare Mauer (1991). Auf die jüngste Entwicklung wird noch einzugehen sein.

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dass die Bewunderung, die sie genossen, einer vehementen Ablehnung Platz machte. Es scheint, dass - weil von diesen Künstlern nichts Neues mehr kam - das Alte schlagartig auch nicht mehr interessant war.“136 Allerdings bedeute dies nicht das literarische Ende des künstlerischen Werkes, sondern häufig eine Art Pause oder in Hoffmanns Worten: „Es scheint so zu sein, dass jeder Schriftsteller nach seinem Tode ins Fegefeuer muss. In anderen Worten: Es wird eine Weile ruhig um ihn.“137 Entscheidend ist dabei nicht, wie lange diese Ruhe dauert, entscheidend ist vielmehr, ob diese Ruhe zur Friedhofsruhe oder ob die Bedeutung des Schriftstellers erneut erkannt und gewürdigt wird.

Wenn auch Andres kaum vergessen ist, wurde er dennoch kaum nachgefragt, die Relevanz seines Gesamtwerkes lange notorisch unterschätzt, Andres „zu Unrecht auf die Nebenränge der Literaturgeschichte verbannt“, obwohl er, „wenn auch unzeitgemäß und traditionsbedacht, so doch wahrhaftig und glaubwürdig die `Dämonien´ seiner Zeit beschrieben hat.“138

Besonders eigenartig mutet das nach 1960 jahrzehntelange Totschweigen oder Beiseiteschieben seines Hauptwerkes an: die monomentale, etwa 2000 Seiten umfassende Roman-Trilogie Die Sintflut.139 Bereits vor 136

Fernand Hoffmann: Über die Gründe des literarischen Nachruhms von Stefan Andres oder Verbissene Zeitgenössigkeit in Ewigkeitsperspektive, in: Mitteilungen der Stefan-Andres-Gesellschaft, Heft VII/1986, S. 12. 137 Ebd. 138 Michael Braun: Stefan Andres. Leben und Werk, 1997/2006, S. 11. 139 So werden etwa im ‘Lexikon der biblischen Personen. Mit ihrem Fortleben in Judentum, Christentum, Islam, Dichtung, Musik und Kunst’ von Martin Bocian (1989) unter dem Stichwort `Noah´ viele wichtige Sintflutdichtungen charakterisiert und erwähnt, die `Sintflut´ von Andres aber mit keinem Wort. Das gleiche gilt für Kindlers Neues Literaturlexikon, 1988.Und selbst in den beiden umfänglichen Bänden Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts von Heinrich Schmidinger (Hg.), erschienen 1999, findet sich lediglich in Band II, S. 88 ein äußerst knapper Hinweis, mit der Bemerkung „heute schwer lesbar“ versehen.

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1940 befasste sich Andres mit diesem Stoff; der erste Teil - Das Tier aus der Tiefe - erschien 1949, der zweite - Die Arche - 1951 und der letzte Teil - Der graue Regenbogen - im Jahre1959. Die Romane in ihrer Originalfassung erlebten keine zweite Auflage:140 Die Sintflut schien untergegangen zu sein. Dafür ließen sich verschiedene Gründe anführen: „Dass die Trilogie die Hoffnungen, die Stefan Andres in ihre Rezeption gesetzt hatte, enttäuschte, konnte unter Umständen dadurch erklärt werden, dass die Leser weniger zeitlose Ewigkeitsperspektive und mehr verbissene und zubeißende Zeitgenössigkeit erwartet hatten“, schreibt Hoffmann.141 Außerdem wurde aus sozialhistorischer Sicht bezweifelt, dass man das schwärzeste Kapitel deutscher Geschichte, den Nationalsozialismus, in Form eines allegorischen Romans, `Dichtung und Wahrheit´ mischend, gestalten könne. Wesentlicher jedoch noch könnte ein eminent sozialpsychologischer Faktor sein, den Hans Wagener pointiert zusammenfasst: „1949 war man gerade dabei, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen […]. Ja, das »Dritte Reich« war auch in den Fünfziger Jahren der `Vergangenheitsbewältigung´ noch zu tabu, um es in einer groß angelegten Satire in den Griff zu bekommen.“142 Ob Stefan Andres seinen Stoff, das `Dritte Reich´, nicht recht in den Griff bekam und als groß angelegte Satire verstand, muss nicht nur bezweifelt, sondern als Charakteristik a limine abgewiesen werden. Schon die ganze Anlage der »Sintflut« mit ihren ineinander verzahnten verschiedenen Schichten sowie die Intentionen des Autors sprechen gegen den Charakter einer Satire, wie wohl satirische Elemente anzutreffen sind. Entscheidend ist und bleibt, ob »Die Sintflut« ein ihrem Gegenstand angemessenes, in Form und Inhalt kohärentes Kunstwerk ist. Man 140

Zur radikal gekürzten Ausgabe im Jahre 2007 siehe unten. Fernand Hoffmann, s. Anm. 4, S. 16. 142 Hans Wagener, »Stefan Andres, Widerstand gegen »Die Sintflut« in: Stefan Andres. Ein Reader in Person und Werk; 1974, S. 99. 141

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darf dabei nicht vergessen, dass die Gestaltung der Sintflut gleichsam als `Prinzip´, dem Inhalt entsprechend, seine fast niederschmetternd überwältigende Fülle über den Leser ergießt, einer Flutwelle mit ihrem Sog vergleichbar: Ein `Fluss ohne Ufer´, um den Titel der ähnlich gewaltigen, auch kaum noch bekannten Romantrilogie von Hans Henny Jahnn einmal zu nennen. Richtig jedoch ist an Wageners Beobachtung, dass die Bereitschaft des Lesepublikums nach dem Krieg - bis in die Sechziger Jahre hinein - sich dieser `Flut´ zu stellen, höchst eingeschränkt war; man meinte, anderes tun zu müssen, wollte nicht an die grauenhafte Vergangenheit erinnert werden und eignete sich die berüchtigte `Unfähigkeit zu trauern´ (Mitscherlich) an. Als ein weiterer, sehr wesentlicher Grund für das Übergehen der Sintflut muss angeführt werden, dass Andres gerade im letzten Band den biblischen, den verheißungsvollen, farbigen Regenbogen Gottes in einen grauen transformierte: Andres beschreibt nämlich eine `Wiederkehr des Verdrängten´, ein Fortwuchern des Unheils in neuer Zeit, das Fortleben des Alten und der alten Gestalten in neuen Gewändern. Könnte nicht eine neue Flutwelle sich erheben, die alles, was in der Schöpfung menschenwürdig ist, verschlingt? Wer wollte das damals schon hören und lesen in der Zeit des Wirtschaftswunders, des Fortschritts in den Wohlstand? Und außerdem: Wer hatte denn die Zeit, sich durch derartige Wälzer durchzuwühlen, wenn doch die an amerikanischen Vorbildern geschulten und gewitzten, durchaus ernsthaften Kurzgeschichten und wenig umfangreichen Romane den Lesebedarf stillten? Denkwürdig bleibt allerdings, und vielleicht dem von Hoffmann aufgewiesenen `Gesetz´ geschuldet, dass selbst im Zusammenhang mit dem Einsetzen der Aufarbeitung, dem Gedenken an die furchtbare Vergangenheit, mit der Fülle der Forschungen über den Nationalsozialismus seit Ende der 60er Jahre durch unzählige Publikationen, Dokumentarfilme, Spielfilme, Zeitzeugenberichte, Gedenkgottesdienste,

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Erinnerungsfeiern, Mahnwachen, mit dem Errichten von Mahnmalen und Gedenkstätten - denkwürdig bleibt allerdings, dass Die Sintflut nicht wieder auftauchte. Vielleicht war es eben diese Fülle, die das verhinderte, vielleicht auch zugleich das Bedürfnis, die unendliche Masse der Fakten und der auf Fakten, nicht Fiktionen, beruhenden Interpretationen und Erklärungen soweit wie möglich zur Kenntnis zu nehmen, wobei immer noch kein Ende abzusehen ist.

II. Eine biographische Skizze

Es lohnt, eine Skizze zu Leben und Werk von Stefan Andres zu zeichnen, zumal darin Motive auftauchen, die sich ausgeführt in der Romantrilogie finden lassen. Im Jahre 1966 wurde Andres neben weiteren Autoren aufgefordert, eine autobiographische Schrift zu verfassen, die unter dem Titel Jahrgang 1906. Ein Junge vom Lande veröffentlicht wurde.143 Ich stamme aus einem Seitental der Mosel, aus einer Landschaft also, wo Kelten, Römer und Franken einander überschichtet und dann miteinander vermischt haben. Das Flüsschen, das einst durch dieses Tälchen floss, heißt: Dhron. Meine Vorfahren väterlicherseits besaßen hier eine Mühle, und noch viele andere Mühlen klapperten in diesem `schönsten Wiesengrunde´, auf dessen Schieferhängen heute die Rieslingrebe wächst. Meine Mutter stammt vom Hunsrück… Die Mühle 143

Stefan Andres: Jahrgang 1906. Ein Junge vom Lande, aus: Jahr und Jahrgang 1906, Wilhelm Treue, Stefan Andres, Günther Sawatzki, hrsg. von Joachim Karsten, Willi Keller und Egon Schramm, 1966, S. 53 - 96. Hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: Stefan Andres. Ein Reader zu Person und Werk, hrsg. von Wilhelm Große, 1980, S. 13 - 47. Der folgende Abschnitt basiert zudem auf Hans Wagener: Stefan Andres. Köpfe des XX. Jahrhunderts, Band 7, 1974 und vor allem auf der ersten größeren und kenntnisreichen Biographie und Werkeinführung von Michael Braun: Stefan Andres. Leben und Werk, 1997/ 2006.

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lag weitab von den Menschen. Zwar gab es auf der Breitwies einen Nachbarn, der auch ein Müller war, und bis zum Dhrönchen, wo ein paar schmale Giebel beieinander standen, hatten meine Eltern nur eine Viertelstunde zu gehen. Aber der Doktor und Apotheker, die Ämter und die Schule, alles lag stundenweit jenseits der Berge… Auf dieser Mühle nun wurde ich am 26. Juni des Jahres 1906 geboren.144 Stefan war das jüngste von neun Kindern, von denen drei früh starben. Die Eltern hatten schon vor der Geburt gelobt, dass Stefan Priester werden sollte - „Freilich, man unterließ es, meine Zustimmung einzuholen“145; er wuchs in die im besten Sinne katholische Atmosphäre des Elternhauses hinein, die in besonderer Weise durch den Vater geprägt wurde: „Ich erblickte in diesem einfachen, gütigen und männlichen Mann von Jugend auf den Inbegriff eines Vaters, nach dessen Bild ich mir den andern, den im Himmel, zurechtformte… Mein Vater erzählte mir, wenn ich auf seinen Knien saß, kurze Geschichten von Gott, den Engeln und bestimmten Heiligen; meist waren es Märtyrer.“146 Als die nahe Stadt Trier beschloss, oberhalb der Breitwies an der Drohn eine Talsperre zur Stromerzeugung zu errichten, musste die Familie, abgeschnitten vom Mühlwasser und gefährdet durch einen immer möglichen Dammbruch, - in der Sintflut brechen im übertragenen Sinn alle Dämme -, großzügig abgefunden, 1910 umziehen. Das Dorf Schweich mit seinen 6000 Einwohnern bildete die neue und größere Welt des „kleinen Steff“, den Eintritt „in das Zeitalter der Technik“.147 Die erste Begegnung mit der nahe gelegenen uralten Stadt Trier, mit der römischen Porta Nigra, der Arena, der Basilika im so genannten Kaiserpalast'´, dem Grab des Heiligen Mathias und dem Heiligen Rock im Dom machte auf ihn einen ungeheuren Eindruck und legte den 144

Stefan Andres: Jahrgang 1906, S. 13f. Ebd. S. 14. 146 Ebd. S. 17. 147 Ebd. S. 19. 145

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Grundstein für seine lebenslange Beschäftigung mit der Antike und christlichen Tradition, die er beide bis in sein Spätwerk hinein zu verbinden trachtete. Während des Ersten Weltkrieges konnte Andres erleben, wie seine Eltern, vor allem sein Vater – durchaus im Unterschied zu seinen Lehrern - keinen Unterschied machten zwischen Deutschen und Franzosen, sondern vor allem das tödliche Unglück des Krieges beklagten: Als etwa Stefan mit dem in der Schule gelernten `Gedicht´ „Auf jeden Stoß - ein Franzos! Auf jeden Tritt - ein Britt! Auf jeden Schuss - ein Russ! Franzosen, Russen, Serben, sie müssen alle sterben!“ militärisch grüßend nach Hause kam, erhielt er von seinem Vater eine Ohrfeige mit den Worten: „So, damit wir uns verstehen: in meinem Haus nichts von all dem da! Und mit deinen Schulmeistern muss ich mal reden.“148 Und als die Kanonen von Verdun die Fenster des Hauses zum Klirren brachten und Stefan fragte: „Vater, sind das unsere Kanonen?“ antwortete dieser: „Es sind Kanonen! Genügt dir das nicht?“149 In seinen Kindheitserinnerungen Der kleine Steff und Der Knabe im Brunnen beschreibt Andres eindrücklich und bildreich die Schweicher Zeit und setzt sich später mit dem Roman Die Hochzeit der Feinde für die Versöhnung Deutschlands und Frankreichs ein. Nach dem Tod des Vaters, der die Niederlage ahnte, 1916, schickte die Mutter Stefan auf das Collegium Josephinum in Holland. Ein Lebensabschnitt voll ernsthaften Bestrebens und Suchens begann. Allerdings konnte Andres sich nie an den dort herrschenden Geist gewöhnen, der eine asketische und geradezu militärische Lebensführung verlangte, auf Gehorsam und Disziplin sowie einem geheimen Überwachungssystem aufgebaut war: Wir mussten bereits als Elfjährige zueinander Sie sagen, es gab keine Freundschaft, kein vertrauliches Gespräch. Immer wachte das Auge 148 149

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Ebd. S. 22. Ebd.

eines sichtbaren Aufpassers, zu dem noch ein unsichtbarer trat, ein Mitschüler nämlich, der jede Woche seinen Geheimbericht an den Pater Direktor ablieferte.150 Kein Wunder, dass dem sensiblen Stefan vor diesem System ständiger Kontrolle und Denunziation grauste und in ihm, wenn dann noch die Hausordnung als unmittelbarer Ausdruck des Willens Gottes dargestellt wurde, die ersten Glaubenszweifel auftauchten. Dieses erlebte `Vorbild´, diese `Normierung des Lebens´ fand später seine eindrucksvolle Nachbildung in der `Normbewegung´ der Sintflut und in der Gestalt des Chefkontrolleurs Zeisig. Nachdem seine schulischen Leistungen sich zusehends verschlechtert hatten, wurde Andres von den Ordensoberen geraten, statt ein Studium anzustreben lieber Werke der Nächstenliebe zu üben und Kranke zu pflegen. Im Herbst 1920 verließ er das Collegium, verbrachte den Winter im Elternhaus und bewarb sich bei den `Barmherzigen Brüdern von Maria Hilf´ in Trier. Seine Tätigkeit bestand darin, täglich und stündlich mit Kranken und Irren umzugehen, um sie gesund zu pflegen, auf den Tod vorzubereiten - oder auch nur zu verwahren. Der Hauptlieferant von Blut und Eiter und allem Elend, wie es an diesem Ort gehortet lag, war der Krieg; wir schrieben das Jahr 1921. Diese Erlebnisse haben sich tief eingebohrt und ihre Spuren in späteren Werken, in den Romanen Die Hochzeit der Feinde und Ritter der Gerechtigkeit eingegraben. Bereits im Frühjahr 1921151 kehrte der noch nicht 16jährige zum zweiten Male zum Missfallen der Familie nach Hause zurück. „Man schickte mich in eine religiöse Genossenschaft, die sich der Erziehung der verwahrlosten Jugend widmete. Das neue Ziel hieß also: Ordensmann und Lehrer in einer Person.“152 Bei der `Genossenschaft´ handelte es sich um den Orden der Armen Brüder vom 150

Ebd. S. 27. Vgl. Michael Braun über die unterschiedlichen Zeitangaben S. 32. 152 Stefan Andres: Jahrgang 1906, S. 32. 151

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heiligen Franz Xaver von Sales. Das zurückgezogene und naturverbundene Leben in der Klosterschule zur Vorbereitung auf das Lehrerseminar behagte Andres und führte zu ersten literarischen Versuchen und Theatervorstellungen. Kontrasterfahrungen vermittelte die daran anschließende Zeit: Morgens fuhr ich auf ein preußisches Lehrerseminar, um mich auf mein Examen vorzubereiten; nachmittags unterrichtete ich die - wie sie sich selber nannten - schweren Jungs, davon einige älter waren als ich… Wenn man sie fragte, was für einen Beruf sie ergreifen wollten, grinsten die meisten verlegen, einige antworteten geradezu: `Zuchthäusler!´… Auch einer Exekution hatte ich beigewohnt: Der alte Ordensmann schlug keuchend mit einem Stock sehr lange auf den Rücken eines Jungen ein, den vier andre auf der Schulbank festhalten mussten, während die Klasse mit glasigen Augen zuschaute. Ich machte dem Prügler hinterher heftige Vorwürfe, welche jedoch als ungeziemend und weltfremd abgewiesen wurden.153 Auch diese Bilder spiegeln sich in den unmenschlichen Haftbedingungen, die Andres in Ritter der Gerechtigkeit, und in Berichten über die Folterungen in der Sintflut schildert, wieder.

Nach Beendigung der Lehrerprüfung drängte sich Andres erneut der Wunsch auf, Priester zu werden und so trat er, zwanzigjährig, als Klerikernovize in das Kapuzinerkloster Krefeld ein. 1928 wurde er nach dem Noviziat allerdings mit der Begründung verabschiedet, er sei für den Ordensberuf nicht geeignet, und zwar deshalb, weil er sich durch außerordentlichen Übereifer und allzu konsequenter Befolgung der Regeln geradezu selbst ausgewiesen hätte. So entschloss er sich, Weltpriester zu werden, gab diese Entscheidung nach dem Abitur am Bischöflichen Konvikt in Bensheim jedoch abrupt 153

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Ebd. S. 33.

auf, aufgrund seiner plötzlichen Erkenntnis, dass er, ohne Schaden an Geist, Seele und Körper zu nehmen, nicht in einem geschlossenen System leben könne.154 Zwar blieb Andres zeitlebens überzeugter Katholik, blieb aber auch ebenso zeitlebens scharfer Kritiker der Institution und Organisation sowie mancher Vertreter der Katholischen Kirche. Nicht von ungefähr ist sein `Großer Diktator´ Alois Moosthaler von Haus aus Theologieprofessor. Trotz allen Abratens von Familie, Freunden und Bekannten immatrikulierte sich Andres in Köln, um Germanistik zu studieren, aber auch Kunstgeschichte und Philosophie. Da von einer Unterstützung durch die Familie, deren Finanzen durch die Inflation zusammenge-schmolzen waren, kaum der Rede sein konnte, verdiente sich Andres seinen kärglichen Lebensunterhalt durch privaten Lateinunterricht und das „Hervorbringen nahrhafter Gedichte“, für die ihm ein gutmütiger Redakteur jeweils eine Taxe von fünf Mark zahlte, „unter der Bedingung, dass ich nicht zuviel schriebe und mithin nicht zu oft käme.“155 Ohne jedoch auf einen Studienabschluss hinzuarbeiten, traten malerische und poetische Interessen in den Vordergrund. In seinem Selbstporträt Aquädukte der Erinnerung schreibt er: Ich besuchte die Universität, eine nach der anderen: Köln, Jena, Berlin, aber auf ähnliche Weise, wie ich in meinen Knabenjahren die klassischen Stätten Triers besuchte; ich hatte kein Ziel, ich schnupperte an den Wissenschaften herum, träumte vorwärts und rückwärts, hatte wenig Geld, aber viel, fast möchte ich sagen: Gottvertrauen.156 Angeregt durch Kommilitonen, denen er aus seinem Klosterleben erzählte, verfasste er seinen ersten Roman, der autobiographische Züge enthält und unter dem Titel Bruder Luzifer 1933 erschien und seinen 154

Vgl. ebd. S. 34. Jahrgang 1906, S. 35. 156 Aquädukte der Erinnerung. Ein Selbstporträt, in: Welt und Wort. Literarische Monatsschrift 5, 1950, S. 506. 155

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ersten Erfolg darstellte. Das fürstliche Honorar wurde zur Grundlage der Ehe, denn 1932 heiratete er die zwanzigjährige Medizinstudentin Dorothee Freudiger, die er in Jena in der Mensa im Juni 1931 kennen gelernt hatte, die allerdings zu bedenken gab, dass sie Jüdin sei. An dieser Stelle sei ein Wort über die Bedeutung dieser Frau, eines wie ihr Name lautet -`Gottesgeschenks´ eingeschoben: Dorothee Freudiger wurde am 26. März 1911 in Lomnitz im Riesengebirge geboren. Ihre Mutter, die Tochter eines jüdischen Buchhändlers in Paris und Berlin, war früh verwaist, wuchs dann bei einem Onkel auf, der ein elegantes Palais am Königsplatz bewohnte, heiratete einen Reedereidirektor aus Pommern und später, nach dessen Freitod, einen Lomnitzer Holzfabrikanten: Dorothees Vater. Der lebte in bürgerlichen Verhältnissen und konnte sich einen Schriftsteller als Ehemann seiner Tochter schwer vorstellen. Doch diese setzte sich durch, gab ihr Studium nach dem Physikum auf und verzichtete sogar auf ein Kanadastipendium, um ihr Leben fortan… ganz in den Dienst ihres Mannes und dessen schriftstellerischen Arbeit zu stellen. Dorothee Andres zog nicht nur drei Kinder groß und führte, wo sie auch wohnte, einen gastfreundlichen Haushalt, sie schrieb auch alle Manuskripte ihres Mannes ins Reine, führte Terminkalender und Korrespondenzen, verhandelte mit Verlagen, chauffierte ihren Mann zu Lesungen und war, wenn auch keine zehnte Muse, so doch `Sekretärin und literarische Agentin´ in einer Person.157 Dorothee war es auch, die dafür sorgte, dass der erste Roman von Stefan überhaupt erscheinen konnte. Sie erzählt: Er hatte mir berichtet, dass sein Romanmanuskript seit sechs Wochen beim Diederichs-Verlag liege, er habe aber noch nichts darüber gehört… So machte ich mich eines Tages zwischen zwei Vorlesungen auf 157

Michael Braun: Stefan Andres, S. 39f. Als Stefan Andres 1959 „das Große Bundesverdienstkreuz erhielt, reichte er die Auszeichnung weiter an seine Frau“, ebd. S. 40.

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den Weg und bat um ein Gespräch mit dem Verleger. Man amüsierte sich über diese Kühnheit einer kleinen Studentin…158 Ein Reisestipendium von der Abraham-Lincoln-Stiftung ermöglichte Andres noch vor der Heirat eine große Italienreise, die seinen Entschluss bestärkte, unabhängiger Schriftsteller zu werden. In Berlin erlitt Andres einen Schock, als er, von einem seiner Professoren, der zugleich deutschnationaler Abgeordneter war, in den Reichstag mitgenommen, Goebbels hörte: Da sah ich zum erstenmal den kleinen Doktor, der später zum Reichslügenbewahrer aufsteigen sollte. Er tanzte, den zustechenden Finger nach oben gerichtet, unten vor dem Rednerpult, auf dem ein Minister aus der Wirtschaftspartei stand, ruhig weitersprach und sich weder von den Hahnensprüngen des kleinen Vorstadtmephisto noch vom Gegröl der braunen Elite aus der Ruhe bringen ließ… Ein neues Blatt der deutschen Geschichte lag aufgeschlagen unter dem Himmel aller Möglichkeiten. Alle Welt spitzte die Ohren und staunte: Ein politischer Ringverein, von der geistigen und moralischen Impotenz des deutschen Besitz- und Drückebürgers ermächtigt, begann, sich auf diesem Blatt mit unauslöschlicher Tinte einzutragen.159 Beim Rundfunk in Köln fand er eine Anstellung, fuhr allerdings kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erneut nach Italien und fand in dem kleinen Ort Positano am Golf von Salerno eine preiswerte Unterkunft. Diese kleine und malerische Stadt wurde ihm und seiner Familie später Zufluchtsort, Schauplatz mancher Erzählungen und Schilderungen, vor allem unter dem Namen Città morta, die tote Stadt, ein Ort des düsteren Geschehens in der Sintflut. In Köln arbeitete Andres weiter und publizierte seine nächsten Romane 158

Erst vor Kurzem sind die Erinnerungen von Dorothee Andres, die 2002 verstarb, erschienen: Carpe diem - Mein Leben mit Stefan Andres, 2009. 159 Jahrgang 1906, S. 37.

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Eberhard im Kontrapunkt und Die unsichtbare Mauer sowie den Gedichtband Die Löwenkanzel. Eine ausgedehnte Reise nach Ägypten und Griechenland vertiefte seine Vorliebe für antike Themen und regte ihn - nach einem Besuch der Klosterruine von Asteri - zu dem Roman Der Mann von Asteri an, der 1939 erschien. Bedingt durch den offenen Antisemitismus und die Methoden der neuen Herrscher lebte Andres mit Frau und Tochter zurückgezogen und sehr vorsichtig. 1935 wurde ihm mitgeteilt, dass auf seine Mitarbeit beim Deutschen Rundfunk verzichtet werden könne; und von seiner Kirche maßlos enttäuscht, da sie, statt der Umwertung all ihrer christlichen Werte durch die antichristlichen Nazis zu widersprechen, ein Konkordat mit der neuen Regierung geschlossen hatte, zog die Familie zu den Schwiegereltern ins verschwiegene Riesengebirge. Da mehrere Aufsätze von Andres in den Münchner Neueste Nachrichten veröffentlicht wurden, siedelte die Familie bald nach München über, in steter Sorge um die Sicherung des Existenzminimums und beständig auf der Suche nach Ausreisemöglichkeiten. 1937 gelang die Ausreise, und nach Zwischenaufenthalt in Rom ließ sich die mittlerweile vierköpfige Familie in Positano nieder. Was zunächst als Provisorium gedacht war, erwies sich als zwölfjähriges Exil im faschistischen Italien, in dem die Familie ständig in Unsicherheit und Furcht lebte, durch Denunziationen, sei's von italienischer, sei's von deutscher Seite, verhaftet zu werden. Freunde rieten Andres, als er sich kurz in Paris aufhielt, von dem Versuch ab, das Asyl etwa in Paris aufzuschlagen: Die Situation der Exilanten sei in Frankreich noch unsicherer und gefährlicher als in Italien. Zwar schien man nach dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 kurz aufatmen zu können, doch ein kurzer Aufenthalt der Familie in Berlin ließ sie Zeugen der Reichspogromnacht, der brutalen Aktionen gegen die Juden, ihre Synagogen und Bethäuser werden und nach Positano zurückkehren. Die Jahre in diesem Ort beschreibt Andres eindringlich in dem Roman Der Taubenturm, der 1966 erschien. 82

Die dunklen Jahre in dem Fischernest, in welchem sich Meer und Gebirge auf ekstatische Weise begegnen und gegenseitig steigern, standen für uns unter dem Zeichen einer feindselig uns einkesselnden Einsamkeit und für viele Jahre zugleich in der lähmenden Sorge um das tägliche Brot. Hinzu kam als Dreingabe immer wieder die Angst, verhaftet zu werden… Zweimal sollte ich verhaftet und nach Deutschland abtransportiert werden.160 Das eine Mal ließ sich Andres gegenüber einigen Nationalsozialisten zu einer unbedachten Äußerung hinreißen, das andere Mal nahm er entrüstet und wiederum vom Wein entflammt ein Ölporträt „des größten Halbformats der Weltgeschichte“161 von der Wand einer Weinschenke. Die Denunziationen sowohl des NS-Beamten als auch des faschistischen Schenkenwirts landeten beim deutschen Generalkonsul in Neapel, einem kürzlich erst strafversetzten ehemaligen hohen NS-Funktionär, mit dem Andres bekannt war: Und der Konsul „ließ die beiden Denunziationen verschwinden und mich unbehelligt in Positano an meiner `Sintflut´ schreiben.“162 Zwischenzeitlich wurde das Pflaster selbst in Positano zu heiß; von 1940 bis 1941 tauchten die Andres´ in einem labyrinthartigen Gebäude in Rom unter und schlugen sich mit Gelegenheitsarbeiten und Privatstunden durch. Ein weiteres Mädchen war bereits in Positano geboren worden. Wieder zurück in Città morta, starb 1942 die Erstgeborene an Typhus. Obwohl 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, konnte Andres durch die Verbindung zur Frankfurter Zeitung bis 1943 in Deutschland publizieren lassen, sogar Honorare erreichten ihn während dieser Zeit in Positano. 1936 bereits erschien die Novelle El Greco malt den Großinquisitor, die von vielen Zeitgenossen als zeitgenössische Herrschaftskritik erkannt wurde, doch durch die historische Tarnung die 160

Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. 162 Ebd. Andres konnte sich nach dem Krieg für diesen Mann einsetzen und seine Freilassung bewirken. 161

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Zensur passierte. Die Moselländischen Novellen von 1937 wiederum dienten paradoxerweise als Beleg dafür, dass Andres als ein `Heimatdichter´ angesehen werden konnte. Nach dem Mann von Asteri (1939) und der Novelle Das Grab des Neides (1940), die das uralte biblische Thema des Brudermordes aufnimmt und variiert, wurde aufgrund einer Sondererlaubnis die Meisternovelle Wir sind Utopia (1942) in der Frankfurter Zeitung in mehreren Folgen abgedruckt, die Buchausgabe jedoch nach Auslieferung verboten163 - eine tragische Erzählung über den Konflikt zwischen christlichem Gewissen und der Möglichkeit eines Widerstandes, als solche durchaus von vielen wahrgenommen, doch offiziell als gegen den Kommunismus geschrieben und gerichtet verstanden. Lediglich die Hochzeit der Feinde konnte 1938 aus politischen Gründen nicht erscheinen und wurde erst, wie schon erwähnt, 1947 veröffentlicht. Für die Öffentlichkeit als Schriftsteller zwischen 1942 bis 1946 praktisch tot, litt Andres sehr unter der gesellschaftlichen Isolation und sah sich ohne Post abgeschnitten von Freunden und weiteren Einkünften aus bisherigen Veröffentlichungen. „Noch im Februar 1943 erhielt Andres einen Stellungsbefehl. Verzweifelt fasste er den Plan, sich… absichtlich das Schienbein zu brechen, führte ihn aber nicht aus. Stattdessen schrieb ihn der italienische Arzt krank, und Dorothee Andres machte sich auf den achtzehn Kilometer langen Weg nach Amalfi, um das Attest richterlich beglaubigen und per Eilboten-Einschreiben zur Militärbehörde in Neapel schicken zu lassen.“164 Nach der Ankunft der Alliierten - die Amerikaner und Briten landeten in der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1943 in Sizilien und am 13. September in Salerno - wurde er, aufgrund einer weiteren Verleumdung, diesmal durch den faschistischen 163

Vgl. dazu die Untersuchung von Michael Hadley, Widerstand im Exil: Veröffentlichung, Kontext und Rezeption von Stefan Andres' Wir sind Utopia (1942) in: Mein Thema ist der Mensch. Texte von und über Stefan Andres, hrsg. vom Wissenschaftlichen Beirat der Stefan-Andres-Gesellschaft, 1990, S. 239 - 261. 164 Michael Braun: Stefan Andres, S. 88.

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Bürgermeister Positanos, unter dem Verdacht, ein deutscher Spion zu sein, von den vorgerückten Amerikanern vorgeladen. Inmitten des Ascheregens, der vom Ausbruch des Vesuvs herrührte, fuhr Dorothee Andres nach Neapel und es gelang ihr, die zuständige Stelle der Amerikaner von der Lächerlichkeit des Vorwurfs zu überzeugen. „Und als sie am andern Tag abends zurückkam, an ihrem Geburtstag, hatte ich mein Geschenk für sie gerade fertig, das Gedicht vom Ararat: `Auf den Wellen meiner weißen, meiner schwarzen Schafe´.“165 Die Familie hielt sich mühsam über Wasser, indem Dorothee Andres zeitweilig als Sekretärin in Rom arbeitete, während Stefan Andres Postkarten malte, die ihm alliierte Soldaten abkauften. Nur die Hilfe durch einen befreundeten amerikanischen Militärarzt und etwas später durch die Quäker konnte die beschwerliche Lage lindern. Am Tag nach der bedingungslosen Kapitulation und zugleich der Befreiung Deutschlands verfasste Andres am 9. Mai 1945 das Gedicht Manchmal im Traum, in dem er bitter und nüchtern auf den Traum von einem neuen Deutschland reflektiert: Und manchmal - nicht im Traum! - in fremdem Land, Wohin ich selber mich aus dir verbannt, Sitz, Deutschland, ich mit deinem Feind zu Tisch Ein kläglicher Prophet in seinem Fisch, Gerettet - und zugleich von Scham verschlungen…166 Aber abseits stehen wollte Andres nicht, seine Bemühungen, Lesereisen in Deutschland durchführen zu können, wurden wiederholt von der amerikanischen Administration abgelehnt. „Zeitweilig galt Andres gar als verschollen… Am 15. März 1946 wurde im Börsenblatt für den 165

Jahrgang 1906, S. 46. Nach biblischer Überlieferung soll die Arche nach der Sintflut auf dem Berg Ararat gelandet sein - Das Gedicht findet sich in Stefan Andres: Der Granatapfel. Oden/Gedichte/Sonette, 1950, S. 24f. 166 Der Granatapfel, vgl. Anm. 33, S. 41f.

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deutschen Buchhandel eine Suchanzeige aufgegeben“167, eine Buchhandung und die Münchner Universität berichteten, dass Andres im Krieg ums Leben gekommen oder in Italien verstorben sei. „Noch im April 1949 wurde Andres die Einreise nach Deutschland verweigert, so dass ihm der französische Generalgouverneur in Mainz den Rheinischen Literaturpreis für seinen französisch-deutschen Roman Die Hochzeit der Feinde in Abwesenheit überreichen musste.“168 Allerdings konnte Stefan Andres auf Einladung des Zweiten Internationalen Jugendkongresses im Juni 1948 in München eine Ansprache halten und dort mit Werner Bergengruen, Carl Zuckmayer, Thornton Wilder und Ortega y Gasset zusammentreffen. Eine ausgedehnte Lesereise schloss sich an, die ihn auch zu den Stätten seiner Kindheit führte. Neben seiner Haupttätigkeit, der Arbeit an der Sintflut, verfasste Andres in Positano nach 1945 parallel zum Roman Ritter der Gerechtigkeit auch dramatische Werke, darunter 1946 die dramatische Dichtung Tanz durchs Labyrinth. Es handelt sich dabei um einen von Szene zu Szene sich steigernden „Bilderbogen über Gewalt in der Geschichte der Menschheit. Das verbindende Thema der fünf Szenen ist die geistige Freiheit, die Menschwerdung des Menschen in finsteren Zeiten… Einem skeptischen jungen `Fant´… werden Prüfsituationen wahrer Humanität vor Augen geführt: Ein steinzeitlicher Häuptlingssohn, dessen Liebe zu einer Sklavin die soziale Konvention verletzt, wird gesteinigt; ein athenischer Bürger lässt sich auf eine Erpressung ein, um Freunde zu beschützen; ein römisches Ehepaar, das sich zu einer verbotenen christlichen Sekte bekennt, wird vom Vater der Frau enteignet; in Avila wird 1492 ein jüdischer Arzt von der Inquisition verurteilt und 167

Michael Braun, Stefan Andres, S. 92. Ebd., S. 93. „Der Emigrant im eignen Lande war unerwünscht“: Michael Braun zitiert als Beispiel einen hämischen Bericht der Augsburger Tagespost noch 1949 über Andres: „Ging vor einem Jahrzehnt, wenn auch reichlich spät, so doch immerhin ins Ausland. Allwo er freilich weder gedarbt noch geschmachtet hat. Uns seine Werke erschienen auch nachher noch im NS-Reich, das ihm keineswegs Schwierigkeiten bereitete“, ebd., S. 91

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hingerichtet; ein Häftling im Konzentrationslager eines `hochzivilisierten europäischen Staats der Neuzeit´ opfert sich unschuldig, um das Leben seiner Mithäftlinge zu retten.“169 Wahre Humanität zeigt sich gerade unter den Bedingungen von Tyrannei im Einsatz für andere - und so lautet denn auch die Widmung von Andres: „In Ehrfurcht vor jenen Männern und Frauen, die den Gattungsnamen Mensch in Blut und Tränen retteten“170, und man denkt fast unwillkürlich zurück an die Erzählungen über heilige Märtyrer, die dem kleinen Stefan bereits imponierten.

Erst Anfang des Jahres 1950 konnten die Andres ein Grundstück in Unkel am Rhein, nahe Bonn, erwerben und ins neu errichtete Eigenheim - im Stile eines italienischen Landsitzes - wenige Tage vor dem Weihnachtsfest einziehen. Im gleichen Jahr unternahm Andres mit seiner Frau eine mehrmonatige Reise nach Luxemburg, Paris und trat als erster deutscher Autor nach dem Krieg in mehreren Städten Hollands auf. Im Haus in Unkel entwickelte sich in den Folgejahren ein reger gesellschaftlicher Verkehr, ein Zentrum der Begegnung: „Allein 400 Gäste wurden 1941 empfangen, bewirtet, häufig auch beherbergt. Immer wieder kamen Schulklassen und Studenten, um den Autor zu befragen. Auch das Interesse der Literaturwissenschaft war geweckt. 1951 entstand die erste Doktorarbeit über die Ritter der Gerechtigkeit, verfasst von Charlotte Adenauer, einer Tochter des Bundeskanzlers.“171 Die wichtigsten Zeitschriften druckten Andres` Erzählungen, Essays und Gedichte, das Erscheinen seiner Novellen und Romane erregte hohe Aufmerksamkeit. Mehrfach wurde er ausgezeichnet, 1952 für sein Gesamtwerk mit dem Literaturpreis des Landes Rheinland-Pfalz, 1954 mit 169

Ebd., S. 95. Tanz durchs Labyrinth, 1948, S. 5. Michael Braun betont, dass es sich bei diesem Drama um eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Shoah handelt, s. S. 96. 171 Michael Braun: Stefan Andres, S. 121. 170

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dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 1957 beim Staatsbesuch des italienischen Präsidenten für seine Verdienste um die italienische Republik, mit dem Großen Verdienstkreuz des Bundesverdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Eine Serie von Lesungen und Reden und Begegnungen führte ihn bis 1960 in die Schweiz und in die Niederlande, nach Luxemburg und Österreich, nach Skandinavien und Spanien, in die Sowjetunion und in die USA, nach Armenien und England, Schottland und Irland. In seinen Stellungnahmen und erzählenden Werke kam der gesellschaftskritische Gegenwartsbezug immer mehr zur Geltung. In seinem Kampf um die Menschenwürde des Einzelnen, um die `Menschwerdung des Menschen´ warnte er vor einer neuen Staatsvergötzung, die er im `neuen´ Deutschland hüben und drüben aufziehen sah. Er protestierte am 9. November 1950 - und fühlte sich wohl an die Reichspogromnacht 1938 erinnert - mit Erich Kästner vor einer Kommission des Bundestages gegen den Paragraphen 184, gegen das so genannte Gesetz zum „Kampf gegen Schmutz und Schund“. „Doch sein Protest, dem sich auch Wolfgang Koeppen und Hans Erich Nossack anschlossen, blieb ohne greifbaren Erfolg. 1953 wurde das `Gesetz über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften´ mit nur wenigen Änderungen eingeführt.“172 Der Arbeiteraufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 bewegte Andres zutiefst, denn er verstand ihn als Protestation gegen den Moloch Staat und als ein Fanal, mit dem das Thema der Wiedervereinigung auf die Tagesordnung gesetzt war. Danach wandte er sich Jahr für Jahr gegen die zunehmende Tabuisierung der Wiedervereinigung und rief in seiner Rede zum 17. Juni 1958 die Politik auf, „die Tore des Vertrauens und der Verständigung zum Osten“ aufzustoßen, denn „der Friede zwischen Russland und uns besteht wesentlich in einer Wiedervereinigung Deutschlands, weil damit die Hauptspannung zwischen Deutschland und

172

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Vgl. ebd., S. 123.

Russland behoben wäre.“173 Im gleichen Zusammenhang konnte Andres zur atomaren Aufrüstung in West wie Ost nicht schweigen. In der gleichen Rede drückte er seine Verwunderung darüber aus, „daß keiner jener Politiker die Tatsache anerkennen will, daß durch die Atomrüstung der beiden Deutschländer Deutschlands Trennung verewigt wird - und daß durch diese unnatürliche Abschnürung eines Ganzen in zwei Teile eine natürliche Vergiftung der nationalen Gefühle von Ost nach West und West nach Ost eintreten muss.“174 Stefan Andres bildete zusammen mit dem `Philosophen des Atomzeitalters´ Günther Anders und dem Schriftsteller Hans Henny Jahnn die prominente Spitze der deutschen Anti-Atom-Bewegung, die 1957 durch die Göttinger Erklärung von 18 Atomwissenschaftlern gegen die atomare Aufrüstung in Gang gesetzt wurde. Seine Aktivitäten – Mitherausgeber der Zeitschrift Atomzeitalter, Demonstrant und Redner - trafen in katholischen und politisch konservativen Kreisen auf erheblichen Widerstand. Nachdem 1960, als die Anti-Atom-Bewegung bereits dem Tod entgegendämmerte, Adenauer im Bundestag erklärt hatte, es „versündige sich“ und sei „ein Narr oder noch böser“, wer der Bundeswehr `moderne´ Waffen verweigern wolle, sandten Andres, Böll und Kästner einen scharfen Protestbrief an den Bundeskanzler, unterschrieben auch von Persönlichkeiten wie Max Born, Helmut Gollwitzer, Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Erich Ollenhauer und Johannes Rau. Die Standpunkte waren nicht zu überbrücken, auch deshalb nicht, weil die SPD im Juni 1960 die atomare Bewaffnung billigte. Andres gab seine Mitarbeit in den verschiedenen Komitees auf 173

Stefan Andres: Der Dichter in dieser Zeit, 1974; darin die Rede zum 17. Juni 1958 in Bochum, S. 87 - 98, hier S. 97; vgl. im gleichen Band den Beitrag `Gegen die Atomaufrüstung´ S. 98 - 106; des Weiteren Hermann Erschens: Stefan Andres und die Anti-Atom-Bewegung, in: Mein Thema ist der Mensch. Texte von und über Stefan Andres, hrsg. vom Wissenschaftlichen Beirat der Stefan-Andres-Gesellschaft, 1990, S. 262 - 282. 174 Ebd., S. 88.

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und bekannte verbittert: „Nun jedoch habe ich alle Hoffnung aufgegeben. Dies peinliche und unwürdige Schauspiel, das die Opposition der Welt aufführt, beweist mir überdeutlich, dass jeder Widerstand gegen den neuen deutschen Ungeist - oder ist es noch der alte? - pure Narretei wäre.“175 Diese Erfahrungen und Enttäuschungen schlugen sich in unterschiedlicher Weise in manchen der entstehenden literarischen Werke nieder, vor allem im dritten Band der Sintflut, in dem Drama Wann kommen die Götter von 1956 wie auch in dem Schauspiel Sperrzonen176, in dem die Untaten der jüngsten Vergangenheit ohne irgendwelche metaphorischen Vorhänge zur Sprache kommen. Der in Rom entstandene Roman Der Mann im Fisch, der auf der biblischen Geschichte des Propheten Jona beruht und in dem Andres seine kaum verhüllte Kritik am Atomzeitalter dichterisch beschwört, erschien 1963, und Die Dumme, ein Roman über Verhältnisse und Verhaltensweisen in den beiden Deutschländern vor dem Bau der Mauer, im Jahre 1969. Unter dem Eindruck des Winterhalbjahres 1961/62, das Dorothee und Stefan Andres in Rom verbrachten, reifte der Entschluss, Deutschland den Rücken zu kehren und sich in der Ewigen Stadt nieder zu lassen. Mehrere Gründe sprachen dafür. Zum einen belasteten Andres die politischen und gesellschaftlichen Zustände: Der alte Geist schien nur renoviert statt abgetragen, die Restauration regierte, die Anti-Atom-Bewegung war gescheitert, das Wirtschaftswunder und die Sehnsucht nach Wohlstand hatten Herz und Geist im Griff, die Teilung in zwei Staaten schien zementiert. Braun führt darüber hinaus noch an, dass Vertreter der katholischen Kirche `den Andres´ ansahen als abtrünnigen Priester, der lediglich von Rachegelüsten geleitet schriftstellere, dass zwar sein Lesepublikum treu zu ihm hielte, die Kritik ihn jedoch zunehmend nega175

Brief an Walter Menzel, zit. bei Michael Braun: Stefan Andres, S. 128; vgl. zum Atomstreit ebd. S. 126ff. 176 Vermutlich 1952 entstanden, später als Hörspiel umgearbeitet 1958 im Rundfunk gesendet.

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tiv bewerte, zumal die Vorbehalte gegenüber Emigranten noch immer wirksam seien. Außerdem war das Haus in Unkel nach dem Auszug der beiden Töchter zu groß geworden.177 Ohne Zweifel war es auch die alte Sehnsucht nach Italien, die schon das Kind faszinierende Verbindung von Antike und Christentum, die Andres motivierte, zumal seine Frau und er eine traumhafte Penthauswohnung fanden mit Blick auf den Petersdom und die benachbarten Gärten. Es dauerte nicht lange, bis Andres als spiritus rector der deutschen `Römer´ galt, als viel und gern aufgesuchter Mittelpunkt literarischer und theologischer Prominenz, engagiert in den Debatten des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 bis 1966 und poetologischen Disputen. Von einer Reise nach Ägypten zeugt das 1967 veröffentlichte Ägyptische Tagebuch, von einer Asienreise lediglich ein Manuskript. Nach Abschluss seines letzten Werkes, Die Versuchung des Synesios, musste sich Andres einer Blasenoperation unterziehen. Völlig unerwartet stirbt er einige Tage danach an einer Lungenembolie, drei Tage nach seinem 64. Geburtstag, am 29. Juni 1970. Sein Grab befindet sich auf dem Camposanto Teutonico im Vatikan an der Südseite des Petersdoms.

III. Zur Entstehung, Rezeption und Intention der Sintflut-Trilogie sowie zu ihrer Kurzfassung in der Neuausgabe III. 1. Zur Entstehung Wie das schneebedeckte Massiv des Ararat aus der umgebenden Landschaft herausragt, so erhebt sich das gewaltige Romangebäude der Sintflut über dem Gesamtwerk von Stefan Andres. Fast die Hälfte seines Lebens, insgesamt 30 Jahre, hat sich Andres mit dem Stoff der Sintflut beschäftigt - berücksichtigt man die Mühen um eine eingedampfte Fassung. Man kann die Trilogie in vielfacher Hinsicht lesen: Sie stellt sowohl einen Gegenwartsroman über Aufstieg, Höhepunkt, Fall und 177

Vgl. Michael Braun: Stefan Andres, S. 142f.

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Nachwirken einer nicht nur politischen Diktatur in Deutschland dar als auch einen mythisch - inspirierten Roman über die ewige Wiederkehr des Gleichen: der unmenschlichen Herrschaft von Menschen über Menschen; sie kann aufgefasst werden als eine Kritik des problematischen Verhältnisses von gesellschaftlicher Entwicklung und wissenschaftlich-technologischer Innovation, die die Menschen ihrer Seele und ihrer Freiheit beraubt, einerseits und dem Verlust der Religion und des Gottesbezugs andererseits; man kann sie verstehen als eine radikale Kritik der Kirche als Organisation versteinerter Hierarchien und Dogmen und begreifen als eine groß angelegte philosophisch-theologische Reflektion auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Widerstandes gegen totalitäre Herrschaftsstrukturen; außerdem wirkt sie in Teilen als eine intelligente Groteske, die bissige Satire mit ätzendem Sarkasmus verschmilzt - vergleichbar in mancher Hinsicht mit der Filmerzählung Der Große Diktator von Chaplin. Nur eines sollte man tunlichst unterlassen: Die verschiedenen Lesarten voneinander zu trennen und die eine oder andere zur Grundlage eines Urteils zu erheben - das wäre der Komplexität der Roman-Trilogie nicht angemessen und liefe flugs ins Leere. Die ersten Ideen zur Sintflut entstanden bereits im Herbst 1939 in Positano nach der Geburt der Tochter Irene Maria: Manchmal entfloh ich der unteren und stieg auf die obere Terrasse. Dort stand seit Anfang Oktober eine kleine Wiege - morgens und nachmittags. Ich blickte durch den Tüllschleier und versuchte, in die kleine Seele, als wär´s ein heimatlicher Raum, einzudringen. Doch lag zwischen uns ein lichter Nebel, durch den es keinen Weg gab. Wir Erwachsenen waren im Krieg, und das bedeutete: in Ungewissheit und Angst; die Kleine, die wir in einer Art von hilfloser Beschwörung auf den Namen der Friedenskönigin getauft hatten, sie lag hinter dem Tüll und schlummerte. Ich fing an, neben ihrem Bett ausgestreckt, diese obere Terrasse in meinen Träumen für eine Art Arche zu halten. Und ich begann, über Noah nachzusinnen und die große Flut. So waren also die obere 92

Terrasse in der casa Santa Croce und die Wiege auf ihr daran schuld, dass ich damals schon mit der Sintflut begann.178 Andres besorgte sich Literatur und alte Sintflut-Legenden und begann mit der Arbeit in seiner `Arche´, mitten in den Wirren und Drohungen der Zeit. Die ersten beiden Teile waren 1944 im Rohbau fertig, allerdings handelte es sich zu dem Zeitpunkt noch um eine geplante Tetralogie, deren erster Band den Titel Die Propheten erhalten sollte und dessen Umfang allein über 600 Seiten betrug. Die verschiedenen Manuskriptfassungen flossen schließlich erheblich gekürzt und erheblich später in den zunächst als zweiten geplanten Band Das Tier aus der Tiefe ein und bildeten somit etwa die erste Hälfte des über 800 Seiten umfassenden ersten Romans der uns vorliegenden Trilogie - der Titel Die Propheten versank und Das Tier aus der Tiefe behauptete sich.179 Die später in die drei Romane aufgeteilten und eingeblendeten 15 NoahLegenden entstanden sämtlich im Jahre 1944, zusammen mit der Weiterarbeit am mit dem vorläufigen Titel Arche und Flut bedachten Folgeband, der im Frühsommer 1945 im Wesentlichen abgeschlossen wurde, „in der Zeit nach Stalingrad, doch war die Bombe über Hiroshima noch nicht gefallen.“180 Die Suche, sofort nach Kriegsende, nach einem Verlag gestaltete sich schwierig: Vom Fischer Verlag in den USA erhielt Andres keine Antwort, auch andere Verlage lehnten ab, da ihnen wahrscheinlich eine Veröffentlichung von drei umfangreichen 178

Stefan Andres: Positano. Geschichten aus einer Stadt am Meer. Mit 16 Zeichnungen des Verfassers, 1957, wieder aufgelegt 1984, S. 184. Der Wallstein Verlag in Göttingen legte in seiner Reihe `Stefan Andres - Werke in Einzelausgaben´ 2009 einen Band vor mit dem Titel Terrassen im Licht. Italienische Erzählungen (Hg. Dieter Richter), in dem nicht nur die meisten Geschichten aus Positano enthalten sind, sondern darüber hinaus manche Novellen und viele Kurzgeschichten und Betrachtungen, die großenteils bislang noch nicht veröffentlicht wurden oder nur schwer auffindbar sind - eine Fundgrube. In der Titel gebenden Erinnerung Terrassen im Licht findet sich das vorstehende Zitat auf S. 271. 179 Später wurde der Titel noch einmal geändert, s. u. 180 Stefan Andres: Ein Traum…, In: Mitteilungen der Stefan-Andres-Gesellschaft, VII/1986, S. 10. Auf diesen Traum wird noch zurück zu kommen sein.

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Bänden - zu dem Zeitpunkt, 1945, noch Die Propheten, Das Tier aus der Tiefe und Arche und Flut - mit derart anspruchsvollem Inhalt und bitterer Diagnose viel zu gewagt erschien. Die Reduktion der drei auf zwei Bände erfolgte vermutlich 1947/48, da der mit dem Verleger Klaus Piper abgeschlossene Vertrag keine Tetralogie, sondern eine Trilogie vorsah, von der der dritte Roman mit dem vorläufigen Titel Nach der Flut noch ausstand und noch zu verfassen war. Nachdem Das Tier aus der Tiefe 1949 und Die Arche 1952 erschienen waren, konnte und wollte Andres nicht sofort sich dem dritten Teil widmen, denn es galt, zunächst die Entwicklung nach dem Krieg zu beobachten. Er hatte immerhin vorgedacht, die Hoffnungen auf eine neue und bessere Verfassung in Deutschland und Europa, auf eine Revolution der Gesinnung und Erneuerung verloren gegangener ethischer Maßstäbe in den Roman Nach der Flut fließen, den farbigen Regenbogen aufleuchten zu lassen, der in der biblischen Sintflutgeschichte als Verheißung, als großes Tor freundlicher Zukunft sich über der Erde, über Mensch und Tier wölbt. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass diese Hoffnungen sich für Andres und andere zerschlugen, der verheißungsvolle Regenbogen sich zwar nicht blutrot färbte, aber doch bleiern und grau auf den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Verhalten und Denken der Menschen lastete. Erst am Silvesterabend 1958 schloss Andres das Werk ab, welches daher nun unter dem bezeichnenden Titel Der graue Regenbogen 1959 veröffentlicht werden konnte.

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III. 2. Zur Rezeption Die drei Bände erregten außerordentliches Interesse und waren auf dem deutschen Buchmarkt ein Ereignis. Vor allem der erste Roman wurde vielfach positiv beurteilt, die barocke und einfallsreiche Potenz des Erzählers Stefan Andres hervorgehoben. Ungeachtet dessen überwog in der Literaturkritik und in konservativen und katholischen Kreisen zunehmend eine negative Bewertung der Trilogie, nicht selten stießen die Romane auf Unverständnis oder wurden gründlich missverstanden. Man nahm Anstoß an der `Sintflut von Reden´, an langatmigen philosophischen und theologischen Disputen, an der überbordenden Fülle der Figuren und dem sich in viele Nebenarme verzweigenden Handlungsstrom. Beklagt wurde die Verquickung von Gleichnishaftem und Historischem und in Frage gestellt, ob eine derartige literarische Abrechnung mit dem Nationalsozialismus diesem überhaupt angemessen sein könne: Man dürfe schließlich nicht übersehen, dass Andres den Holocaust in keiner Weise thematisiere. Manche der Kritiker in der Bundesrepublik bedienten sich des verbreiteten Ressentiments gegenüber den aus dem Exil zurück gekehrten Schriftstellern und empfanden die Sintflut als Angriff auf alles, was sie und andere im `Dritten Reich´ unter `unsäglichen Schmerzen selbst erlebt´ hätten, denunzierten wie etwa Hermann Pongs, Verfasser einer nationalsozialistischen Literaturgeschichte, das Romanwerk als einen grundsätzlichen Missgriff, der darin läge, „dass die blutigste und bitterste Tragödie Deutschlands als eine Art `Normer´-Clownerie aufgefasst wird. Konstruierter, intellektueller kann die Bewegung nicht glossiert sein, die einem ganzen Volk zum furchtbaren Schicksal geworden ist.“181 Man kann an solcherart Kritik, die ohne Bedenken tief unter die Gürtellinie zielt und ohne jede Selbstreflexion über die eigene Rolle in der jüngsten Vergangenheit auskommt, sich 181

Hermann Pongs: Im Umbruch der Zeit. Das Romanschaffen der Gegenwart, 1952, S. 66. Vgl. zu diesem Abschnitt die mit einer Reihe von Belegen versehenen Referate bei Michael Braun: Stefan Andres, S. 112 f. sowie im Nachwort von John Klapper zur Neuausgabe der Sintflut 2007 die S. 903f.

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auch noch selbst mit erdichteten `unsäglichen Schmerzen´ schmückt, das heißt: rechtfertigt - man kann an derartiger Afterrede den Ungeist geradezu mit Händen greifen, der die frühe Bundesrepublik durchherrschte. Kein Wunder daher, wenn viele Schriftsteller es nach dem Krieg vorzogen, ihren Lebensmittelpunkt anderweitig zu finden: wie Stefan Heym, Bertolt Brecht, Anna Seghers - Heinrich Mann starb vor der Umsiedlung - in der frühen DDR, die zumindest für kurze Zeit eine Alternative zur jungen Bundesrepublik bot oder wie Thomas Mann, der sich in der Schweiz niederließ. Am heftigsten allerdings wurde Der graue Regenbogen kritisiert, nicht nur wegen der ausführlichen Reden und Reflexionen, sondern auch aufgrund der düsteren Schilderungen der Gegenwart und insbesondere des Endes, das als Ausdruck von Resignation und Flucht in die Weltflucht angesehen wurde. Und so geschah es, dass die Sintflut aus dem Blick geriet, in der Folgezeit totgeschwiegen oder im Anmerkungsapparat von Literaturgeschichten abgelegt wurde, von anderen Werken und Entdeckungen überlagert und verdrängt. Die Noah-Legenden hingegen erfreuten sich einer im Ganzen freundlichen Resonanz, was sich auch daran ablesen lässt, dass sie für sich allein stehend 1968 herausgebracht und 1996 erneut aufgelegt wurden.

III. 3. Zur Kurzfassung Sicherlich beeinflusst von der Kritik, nicht was die grundsätzliche Orientierung der Sintflut, aber den Umfang, vor allem die ausführlichen Gespräche und Reflexionen betrifft, spielte Andres mit dem Gedanken einer Kürzung und Überarbeitung. Die motivierende Anregung kam vom Verleger, denn Piper war nach wie vor von der Bedeutung des Werkes überzeugt. So machte sich Andres an die Arbeit, in mehreren Phasen bis

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1969. Immer wieder wurde das Projekt einer Neuausgabe diskutiert und verschoben, Andres konnte sich mit dem Gedanken, die Noah-Legenden in diesem Rahmen zu opfern nicht anfreunden, die Lektoren verwiesen auf die Marktlage und die Notwendigkeit eines finanziellen Erfolgs. Nach Andres´ Tod versuchte Dorothee Andres, das Vorhaben weiter zu treiben, Jubiläumstage wurden für die Veröffentlichung vorgemerkt, schließlich der 100. Geburtstag von Andres im Jahre 2006 ins Auge gefasst.182 Der Aufgabe, die verknappte Sintflut zu edieren und herauszugeben unterzog sich der Andres-Forscher John Klapper. Vergegenwärtigt man sich, welche `Mühen der Ebene´ erforderlich waren, um die verschiedenartigen Streichungen, Revozierungen von Gestrichenem, Ergänzungen, Überleitungen und Unklarheiten aus den einzelnen Bearbeitungsphasen von Andres und später auch Dorothee Andres zu scheiden - es gibt allein drei unterschiedlich gekürzte Exemplare sowohl des ersten als auch des zweiten Bandes, die sich in mehreren Archiven befinden - und um eine begründete und belegte Entscheidung herbeizufügen -, dann wird verständlich, dass die `neue´ kurze Sintflut erst im Jahr 2007 das Licht der Welt erblickte.183 Dem Wallstein Verlag ist es zu danken, dass er das Risiko auf sich genommen hat, eine wenn auch überschaubare Andres-Renaissance einzuleiten: Nach der Sintflut publizierte er 2008 eine Neuausgabe von Novellen: Gäste im Paradies, 2009 den schon erwähnte Band Terrassen im Licht, 2010 Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933 - 1945 mit vielen bislang kaum zugänglichen und unbekannten kleinen Erzählungen, Parabeln, Legenden und Anekdoten sowie 2011 die Neuausgabe Der Knabe im Brunnen - die Reihe der Werke in Einzelbänden soll fortgesetzt werden. 182

In meinem Beitrag Die Sintflut - Romantrilogie von Stefan Andres anlässlich des 100. Geburtstages des Autors in: Nordelbische Stimmen. Forum für kirchliche Zeitfragen in Hamburg und Schleswig-Holstein, 12/2006, S. 36 - 48, habe ich mit Bedauern vermutet, dass mit einer Neuauflage der Originalfassung wohl nicht mehr zu rechnen sei, S. 38. 183 Stefan Andres: Die Sintflut. Roman. Herausgegeben von John Klapper, Wallstein Verlag, Göttingen 2007. In seinem Nachwort erläutert Klapper detailliert die Problemlage S. 905 - 914.

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Die Neufassung der Sintflut umfasst knapp 40% des Originals, insgesamt 875 Seiten, wobei der dritte Roman am stärksten betroffen ist - nur noch etwa 30% sind erhalten und mit neuen Seiten ist hier am stärksten eingegriffen worden. Da die Intention der Kürzung von vornherein war, den Verlauf der Handlung zu pointieren und die retardierenden Momente beiseite zu schaffen, fielen neben den NoahLegenden und einer Reihe von Monologen und Gesprächen ganze Szenen fort; außerdem schien es Andres wohl geboten, auf die biblischen Bezüge und Assoziationen weitgehend zu verzichten. So setzt die `neue´ Sintflut nicht mehr soviel an Hintergrund voraus wie die `alte´, die Anforderungen an das Lesevermögen sind geringer, das Verfolgen der Handlung leichter geworden, daher auch spannungsreicher und lesefreundlicher. In Kauf genommen werden muss allerdings, dass mit dem Verlust der Noah-Geschichten und vieler biblischer Verweise die wesentliche Tiefenschicht, die fundierende `überzeitliche Zeitebene´ verloren zu gehen droht und der Roman sich zu sehr auf die Seite eines `Romans zu dieser Zeit´ neigt.

III. 4. Zur Intention der Romantrilogie Nun gilt es deutlich fest zu halten, dass Andres keineswegs die Intention verfolgte, einen Schlüsselroman des Nationalsozialismus zu verfassen. Wie sollte eine solche Absicht auch in die Tat umgesetzt werden können, da diesem Gegenstand gegenüber dessen künstlerische Gestaltung vollkommen unangemessen wäre, wie auch Thomas Mann wusste: „Das Phänomen `Nat. Sozialismus´ der künstlerischen Kraft nicht würdig. Versagen oder Verzagen oder Entsagen des Wortes, Mattheit des Schimpfs. War es je, dass Wirklichkeit und Kunst so völlig inadäquate Sphären waren?“184 In seinem Aufsatz Mythos und Dichtung, geschrieben 1963, formuliert Andres das Problem aus seiner Sicht: 184

Thomas Mann: Tagebücher 1937 - 1939. Hrsg. Von Peter de Mendelssohn, 1980, S. 361: Eintrag bereits vom 14. Februar 1939.

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Freilich ist der mythische Schrecken des modernen heißen und kalten, des erlebten und des geträumten Krieges noch weniger einzufangen mit den Mitteln der schriftstellerischen Fotografie, mögen die Linsen noch so scharf und objektiv sein. Noch deutlicher ausgedrückt: Stoffe, die das menschliche Fassungsvermögen in jeder Hinsicht an Grauen und Sinnverschlossenheit übersteigen, können nur mit den Mitteln der mythischen Darstellung eingeholt, gestalthaft umrissen und transparent gemacht werden.185 Daher zielt der Vorwurf, Andres habe den Holocaust nicht behandelt, ins Leere. Grundsätzlich deshalb, weil, wer die Shoah mit ästhetischen Mitteln meint `in den Griff zu kriegen´, schnell und zu Recht einer fatalen Bagatellisierung des wirklichen Grauens geziehen werden könnte und müsste. Der umgekehrte Vorwurf, Andres bagatellisiere die Verbrechen des Hitlerregimes, weil er die Shoah - und die furchtbare Realität des Zweiten Weltkrieges - nicht thematisiere, unterstellt aber, Andres hätte die Schrecken des `Dritten Reiches´ geradezu wie ein Reporter oder Historiker ablichten sollen. Man tut daher gut daran, die Sintflut als einen Roman sui generis zu begreifen und sich an das zu halten, was Andres selbst gleich zu Beginn des ersten Romans Das Tier aus der Tiefe gleichsam als Leseanleitung formuliert. Im Vorspiel - Konferenz im Atrium tritt der Autor selbst auf, als `Urheber´ - womit zugleich auf die Urgeschichte der Sintflut und auf die Ur-Stadt Ur, den Wirkungsort der Noah-Legenden angespielt wird -, der programmatisch das Wort ergreift und mit einigen entscheidenden künftigen Romanfiguren verhandelt, um deren Eigenleben und freie Dynamik quasi vertraglich in Gang zu setzen: Der Urheber mußte dem Wort Mensch einen durch die Geschichte der vergangenen Jahre klar geformten Inhalt geben. Mensch des 20. Jahrhunderts mußte er sagen und ihm überdies das spezifische Gewicht 185

Stefan Andres: Mythos und Dichtung. Ein Versuch. In: Deutsche Rundschau, 89/1963, S. 44 - 53. Wieder abgedruckt in: Wilhelm Große: Stefan Andres, 1980, S. 75 - 89, hier S. 77.

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eines Volkes geben. Und so wollte er von jenem Menschen reden, den er am besten kennt, vom deutschen Menschen: nicht, als ob sich in diesem das Thema erschöpfte oder die Sintflut allein ihn bedrohe, aber der Deutsche schien ihm zum Modell geworden, an dem die Katastrophe sich in einer geradezu stellvertretenden Deutlichkeit vollzog. Darum verwarf der Urheber den Märchenraum mit allen seinen ungemein verlockenden Möglichkeiten… Doch ebenso sehr verschloß er sich der Form der aktuellen politischen Reportage; schon die Vorstellung, in dem blutwarmen Innern jener Verbrecher wühlen zu müssen, die soeben erst von der Bühne wirklichen Lebens herunter gestoßen worden waren, ließ ihn erschauern. Denn der Gestank, den bloß erfundene Personen verursachen, hat für den Urheber ebenso wenig wie für den Leser jene widerliche Schärfe, die dem übel verlaufenen Leben eines Zeitgenossen eigen ist. Der Urheber hätte lieber auf das ganze Spiel verzichtet, als es mit Darstellern aufzuführen, die nicht seiner eigenen Wahl entstammten. Überdies wollte er gerade durch diese anscheinend höchst eigenwillige Rollenbesetzung von vornherein erhärten: das noch den Sinnen und dem Herzen nahe, allzu nahe Zeitgeschehen kann nur mit dem Kunstmittel der Analogie auf die Ebene der klaren Anschauung und der leidenschaftslosen Betrachtung erhoben werden. `Die Wirklichkeit verwirrt´, das erfährt sogar der Historiker auf eine geradezu tragische Weise, wenn er sich erkühnt, das wahre, dem Schein zugrunde liegende Ereignis in den hohlen Eierschalen der Tatsachen zu suchen; der Dichter vollends, der diesen Weg geht, endet im historischen Roman oder in der Reportage: Skylla und Charybdis für jedes epische Werk, das sein Thema aus der Zeit nahm und nicht vermochte, es über die Zeit in den unwandelbaren Raum der Bilder zu erheben. Denn der historische Roman versucht Totenerweckung, die Reportage begnügt sich mit der Anordnung des Verwesenden, mag ihr rüstiger Tatsachenreport auch noch so lebendig wirken. Aber selbst vorausgesetzt, es gäbe eine literarische Nekromantie ohne Lug und Trug,… der Urheber zauderte doch, historische Personen in seinen Roman einzusetzen, wie sehr ihn auch

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der bunte Vorrat an verteufelten und verrückten Existenzen… verlocken könnte.186 Und gleichsam im Rückgriff auf seine eigene Erzählung El Greco malt den Großinquisitor und auf Dostojewkis Der Großinquisitor weist Andres als Urheber in die Zukunft: Und noch einen Antrieb gab es für den Urheber, unbeeinflusst von dem historischen Geschehen, seine Person zu wählen. Professor Dr. Moosthaler, der `Normer´, ist mehr als eine bloße Analogie zu einem bestimm-ten deutschen oder ausländischen Diktator; vielmehr strebte der Urheber, indem er diesen Typ schuf, den politischen Großinquisitor als solchen an! Und damit wurde der Versuch gemacht, über eine bestimmte historische und vom flackernden Licht der Meinungen und Leidenschaft noch auf hundert Jahre umwaberte Gestalt hinaus zu gelangen in jenen Raum, wo ausschließlich durch die Mittel der Ästhetik eine Gestalt erschaffen wurde, die der Leser, welche politische Meinung er auch habe, aus größter Nähe betrachten kann.187 Damit schließt Andres bei der anschließenden Fahrt seines Romans zwischen Skylla und Charybdis Anspielungen auf die gegenwärtige Zeit gezielt ein, denn es ist klar, dass die erstaunliche prophetische Weitsicht auf Hitler bezogen werden soll und muss; der `Mehrwert´ der Sintflut jedoch liegt darin, dass sie einem riesenhaften Gleichnis gleicht, das wie ein biblisches Gleichnis - auf unterschiedlichen Wegen, ohne seinen Charakter zu verlieren, zugänglich ist. So wird man die Sintflut weniger mit der Trilogie Im Wartesaal - Erfolg, Die Geschwister Oppermann, Exil - von Lion Feuchtwanger, der mit seinen fiktiven Gestalten viel 186

Das Tier aus der Tiefe, S. 8f. Vgl. Die Sintflut (2007), S. 17f. Im Folgenden zitiere ich vor allem aus dem Original und verweise, soweit durch die Kürzungen möglich, auf Parallelstellen jeweils mit dem Stichwort „Die Sintflut (2007)“. Bei dem vorstehenden Abschnitt ist sogleich zu bemerken, dass Andres in der Kurzfassung die ersten Sätze, die sich auf den deutschen Menschen beziehen, gestrichen hat - vermutlich eine Reaktion auf die Kritik, die im Romanwerk vor allem und überspitzt einen Roman über die deutschen Verhältnisse erblickte. 187 Ebd., S. 9. (Hervorhebung L-W); vgl. Die Sintflut (2007), S. 18.

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direkter und ohne mythische Fundierung Zeitgeschichte beschwört, vergleichen können; eher noch - wenn auch mit erheblichen Einschränkungen - mit dem Doktor Faustus von Thomas Mann, in dem der Pakt mit dem Bösen eine zentrale mythisch-aktuelle Bedeutung erhält. Gerade weil sich in dem Theologieprofessor Moosthaler das Böse `inkarniert´, gilt es, die Warnung, die durch das gesamte Romanwerk strömt, wahrzunehmen, denn es ist ja keineswegs auszuschließen, dass eines Tages wieder - in welcher Gestalt auch immer die Lehre von der Norm ein Allerweltsevangelium darstellen könnte. Denn die Geschichte von den Genormten, mag sie auch in der Vergangenheitsform geschrieben sein, enthält in jedem Satz ein drohendes Futur!... Es wäre darum vonseiten des Lesers ein an Verrücktheit grenzendes Leichtnehmen, wollte er den Roman wie eine Farce auf die Vergangenheit lesen. Die Epoche der politischen Theologen hat eben erst begonnen.188

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Ebd., S. 10; vgl. Die Sintflut (2007), S. 18.

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IV Ausführliche und kommentierte Inhaltsangabe mit Textauszügen IV. 1. Allgemeine Hinweise Biblische Anspielungen und Bezüge werden der Kürzung zuliebe in der Neuausgabe, wenn auch nicht systematisch, so doch vielfach geopfert, man könnte geradezu von einem kleinen `Entmythologisierungsprogramm´ sprechen. Das zeigt sich bereits in der Veränderung des ersten Romantitels: In der Originalfassung lautet er Das Tier aus der Tiefe und spielt damit auf das letzte Buch des Neuen Testaments, auf die Apokalypse des Johannes an: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen“ (13, 1), also aus der Tiefe, ein grausiges Untier, das Unheil und Vernichtung über das Land und die Menschen wälzt. Andres ersetzt diese Überschrift in der Kurzfassung durch „Abwässer“ - auch „Abwässer der Welt“ wurde erwogen -, pointiert damit eine Bewegung von oben, die wie eine Sintflut aus der Höhe sich über Land und Leute stürzt, mit Abfall und Abschaum, Dreck und Müll verpestet. Beide Perspektiven sind gleichermaßen gerechtfertigt, die erste mythisch geladen, die zweite modern versachlicht - man müsste sie zusammen begreifen als Symbol für die Sintflut, den Regen von oben, der das Wasser von unten steigen lässt. Jedem Teil der Trilogie sind Leitmotive voran gestellt, wiederum im ersten Teil mit einer charakteristischen Akzentverschiebung: Hatte Andres 1949 in Korrespondenz zum Titel das Zitat aus der Apokalypse gebracht: „Und das Tier macht, dass die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Knechte, allesamt sich ein Malzeichen geben an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn“ (13, 16), so heißt es in der Neuausgabe: „Es ist schwer, aus einem Ende zu stammen, und doch Anfang zu sein“ – ein Noah in den Mund gelegtes AndresWort. Die Leitmotive der beiden folgenden Romane sind der Sintfluterzählung entnommen und unverändert in die Kurzfassung eingebracht. Für Die Arche gilt: „Danach ließ er (Noah) eine Taube von sich ausfliegen, auf dass er erführe, ob das Gewässer gefallen wäre auf

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Erden. Da aber die Taube nichts fand, kam sie wieder zu ihm in den Kasten“ (Genesis 8, 8f.). Und für Der graue Regenbogen: „Ich (Gott) will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um des Menschen willen; denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (Genesis 8, 21), wobei der Bund zwischen Gott und Noah mit dem Zeichen des leuchtenden Regenbogen überwölbt wird. Beiseite gestellt sind den Leitmotiven, verteilt auf die drei Romane - und zwar in beiden Fassungen - Zitate von Niketius, Bischof von Trier im 6. Jahrhundert, von Giordano Bruno sowie von Origines und Johannes Scotus Erigena, von Kirchenmännern aus verschiedenen Jahrhunderten, die Andres nicht nur wegen der Symbolkraft ihrer Aussagen aufruft, sondern vor allem aufgrund dessen, dass sie das Aufeinanderprallen von Macht und Religion am eigenen Leib erfuhren und für ihre christlichen Überzeugungen gezeugt und gelitten haben. Weiterhin beginnt jeder Teil der Trilogie mit einem `Vorteil´, das im ersten, wie bereits skizziert, `Vorspiel/Konferenz im Atrium´, im zweiten `Interview im Traum´ und im dritten `Nachspiel: Vor den Schranken des Unbekannten´ überschrieben ist, in denen jeweils der `Urheber´ Reflexionen über den Gang der Zeit und des Romans anstellt, Gespräche mit den Romanfiguren führt, sich von deren Entwicklung berichten lässt oder ihren Träumen lauscht.

IV. 2. Das Tier aus der Tiefe oder: Abwässer Die Romanhandlung beginnt mit der Beschreibung eines sintflutartigen Regens, die unter der Überschrift „Die Überschwemmung von Città morta“ als Kurzgeschichte in den 50er und 60er Jahren separat in Anthologien veröffentlicht und auch im Schulunterricht der Gymnasien behandelt wurde - als ein Beispiel für den plötzlichen Ausbruch von Naturgewalten. Beginn und Abschluss seien hier wiedergegeben: Es war Freitag nach Epiphanias. Die Sonne hatte an diesem Januar-Tag

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den Wolkenbrei über dem Tyrrhenischen Meer nur als ein schlieriges Geschimmer und wie ein ganz fremder Stoff durchzogen. Der Südwind wuchs von Stunde zu Stunde und füllte sogar den Raum zwischen der Wolkenkuppel und dem Meer mit gestaltlosem grauen Dunst. Bereits gegen drei Uhr war es so dunkel, dass die Leute von Città morta die Lichter anmachten. Denn der Monte Sant`Angelo hielt mit seiner anderthalbtausend Meter unmittelbar hinter dem Städtchen hochsteigenden Karstwand die nach Norden treibenden Wolken an, so daß der amphitheatralische Felsenkessel voll feuchter Finsternis stand, noch ehe es zu regnen begann… Gegen drei Uhr setzte dann, zuerst überm Meer, Regen ein, ein lauwarmer, noch zögernder Schirokkoregen. Der Wüstenhauch wühlte weiter die Karstwände hinauf und hinab, ein widerlicher Quälgeist, der die Starken müde, die Sanftmütigen grimmig und die alten Leute erregt machte… Droben aber, auf den Höhen, wo der Schnee lag, kamen unter der weißen Last zuerst in schneckenhafter Langsamkeit, bald aber wie Wiesel sich windend und hüpfend, die Rinnsale des Schmelzwassers hervor. Am Berg raschelten und klitschten plötzlich die Leiber zahlloser sich auflösender und aufs Neue bildender Schlangen. Andres, der eindrücklich Naturphänomene und Stimmungen zu beschwören vermag, schildert im Folgenden detailliert, wie sich die Regenmassen zu Flutwellen steigern und niederreißen, was sich ihnen in den Weg stellt. Die Woge aus der Höhe war so überraschend über Città morta hereingebrochen, daß die Betroffenen sie erst bemerkten, als sie durch den Spalt unter den Haustüren, die ja in dieser Gegend meist unmittelbar in die Zimmer führen, hereinschoß: zuerst wie ein gegen die Tür geworfener Eimer, dann wie ein starker Strahl aus einem Sprengschlauch und schließlich als ein einziger weicher Muskel, der gegen die Tür drückte, bis sie knackte, stöhnte und endlich aus dem Rahmen brach. Und das ging so schnell, daß die Leute keine Zeit hatten, aus ihrer Verwunderung in den Schreck zu verfallen… Die Wolken hingen tief, und die Menschen tapsten und schlüpften umher wie Kaninchen unter 105

den Tannenästen bei Neumond. Und das Wasser packte sie aus dem Dunkel her, wickelte sie ein, trieb sie wie Kreisel. Die Stimme des Wassers füllte die Schlucht, kein Geschrei war zu hören, nur einige Hunde heulten. In dieser Nacht verloren in der kleinen Stadt Città morta über siebzig Menschen ihr Leben – sie wurden ersäuft, erschlagen, irgendeine Treppenstufe hinuntergespült, und das Wasser hatte kaum eine Viertelstunde lang in der Stadt geherrscht.189 Für sich genommen kann diese Kurzerzählung verstanden werden als präzis-realistische Beschreibung einer Naturgewalt, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Als Eröffnung des riesigen Romanwerks steht diese Sintflut in nuce jedoch zugleich als Symbol für die folgende, die große von Menschen erzeugte Flut der Normbewegung, die Menschen verschlingt und die Verursacher schließlich mit. Hinweise auf diese Doppelbödigkeit geben die Vergleiche und Metaphern wie „trunken zornige Riesen“, „der weiße Bug des Kolosses“, „ersäuft, erschlagen, irgendeine Treppenstufe hinuntergespült“ und werden später wieder aufgenommen und verwandelt.

In Città morta existiert eine fanatische Sekte von bornierten NietzscheAdepten, die den `Willen zur Macht´ umzusetzen gewillt sind und als deren spiritus rector der `Prophet´ und `Confessor´ Leo Olch gilt.190 Leo 189

Das Tier aus der Tiefe, S. 30 - 34; vgl. Die Sintflut (2007), S. 34 - 38. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Andres die `führenden´ Gestalten der Sintflut mit Entsprechungen zu `real-existierenden´ Personen im Nationalsozialismus ausgestattet hätte; am ausführlichsten hat darüber Eric Sigurd Gabe in seinem im Jahre 2000 erschienenen Band `Macht und Religion. Analogie zum Dritten Reich in Stefan Andres´ Trilogie Die Sintflut´, S. 65 - 242, gehandelt und Auskunft gegeben. So entdeckt er in der Gestalt des Leo Olch eine spezifische Mischung aus Alfred Rosenberg, dem Verfasser des `Mythos des 20. Jahrhunderts´, Wegbereiter und Vertreter der antichristlichen Ideologie des NS-Staates, aus Ernst Röhm, dem - wie später auch Olch - hingerichteten Führer der SA und aus Gregor Strasser. Selbstredend verweist Moosthaler bei aller Eigenart auf Hitler; Zeisig, das Kontrollgenie, auf den Reichsführer SS Heinrich Himmler und den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Rolf Heydrich; der Waffenminister Bertold Schmitz auf den Reichsmarschall Göring.

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Olch nun hat nicht nur präzis die Flutwelle vorhergesagt, sondern mit ihr zugleich die Ankunft des Normers, des künftigen Hauptes der Normbewegung. Unter anderen Vorzeichen wird damit implizit auf die Stimme des Propheten Johannes des Täufers angespielt - „Es kommt einer nach mir, der ist stärker als ich“ (Markus 1, 7) -, und auf das Fest der Erscheinung Christi, denn Flutwelle und Erscheinung des Normers finden an Epiphanias statt. Ein Theologieprofessor namens Alois Moosthaler trifft in Città morta ein, wird sofort mit der Beschreibung des Normers in Leo Olchs Visionen identifiziert, ergreift die sich ihm bietende Gelegenheit, erspürt die an den Führer der Normbewegung gestellten Erwartungen und wächst rasch in die Aufgabe hinein, die er dann selbst bestimmt und definiert. Er nutzt und benutzt die jüdische Millionärswitwe Claire van der Finken - eine ehemalige Schauspielerin,

Mögen die Hinweise auch nachvollziehbar sein, so stellen doch bereits die von Gabe angenommenen `Mischungen´ verschiedener Personen in einer Romanfigur, die darin keineswegs nahtlos aufgeht, ein Problem dar. Vollends problematisch wird es, wenn der Großsekretär Omega, wenn auch mit Einschränkungen, verglichen wird mit Goebbels: Die vergleichbare Stellung und körperliche Charakteristika reichen nicht hin, um den völlig andersartigen Omega `in den Griff´ zu kriegen - biblisch gesprochen: Der Vergleich hinkt auf beiden Beinen. Das gleiche gilt, wenn in Bezug auf den alten Priester Don Evaristo etwa Bonhoeffer und Niemöller - im Nachherein herangezogen werden oder in Bezug auf die Widerständler Widerstandskreise wie etwa die `weiße Rose´. Das grundsätzliche Problem dabei ist, dass man anfängt, den Roman vor allem als allein zeitkritischen zu lesen und dauernd nach Entsprechungen zu suchen - aha; die Eigenständigkeit des Romans und seiner Figuren, die Erfindungskraft des Autors, das Konzept einer das Tagesgeschehen transzendierenden Ebene, das nicht nur den Nationalsozialismus durchherrschende Verhältnis von Macht und Religion - das Andres später besonders in seinem letzten Werk, Synesios, noch einmal, um viele Jahrhunderte zeitversetzt aufnimmt -, all das wird dann tendenziell zurückgedrängt. Selbstverständlich verarbeitet Andres seine Erfahrungen, Kenntnisse und Erkenntnisse und bezieht sich ausdrücklich auf das Geschehen seiner Zeit, aber er verwandelt zwischen Scylla und Charybdis - all dies in ein Romangeschehen und nicht in ein Sachbuch. Dessen ungeachtet verweist Gabe zu Recht darauf, dass sich Vergleiche mit der Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus geradezu aufdrängen: Genormte Nazis, Liktoristen - italienische Faschisten, Abramiten - Juden, die OW - SS, die Norm-Ohren - die Gestapo, Normheil - Heil Hitler, und weitere. Außerdem gibt es Vergleiche, die in Analogie zu christlichen Begriffen gebildet sind wie etwa: Fest der Normerhöhung - Kreuzerhöhung.

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die voller Naivität sich den Visionen Olchs verschrieben und dessen Elaborate als `Siebte Sibylle´ veröffentlicht hat - und deren Residenz, in der sich bereits die vorläufige Zentrale der Norm befindet, aufgebaut von Olch und Zeisig. Zeisig, bezeichnenderweise ein ehemaliger Klosterschüler und Jesuitenzögling - erinnert sei an die Klosterjahre und Überwachungsarrangements, die Andres erlebt hat - fungiert, ein Genie der Bürokratie, als `Chef der Normkartothek´ und führt Moosthaler in sein System der Überwachung, seinen Karteiapparat mit den ausführlichen Datensätzen über die zuverlässig Normierten, die unsicheren und die Nicht-Normierten ein; auch über sich selbst hat er eine Datei angelegt. Moosthaler erhebt den ihm total ergebenen Zeisig zum künftigen Haupt der Geheimpolizei und der OW, der noch zu gründenden Obersten Wachmannschaft, während Olch zum Großnormbewahrer für Kultur bestellt wird. Einer der Urgenormten, Schmitz mit Namen, ehemaliger Hauptmann im ersten Weltkrieg und gescheiterter Geschäftsmann, wird von Moosthaler als Waffenminister und Feldmarschall vorgesehen, den Arzt Melk-Berry bestellt der Normer zu seinem Leibarzt, auch wenn Melk-Berry Verbindung zu den Normgegnern hält. Alois Moosthaler wird charakterisiert in immer neuen Wendungen; so als ein Koloss von „zweieinhalb Zentnern Theologie“, als „theologischer Tyrannosaurus“, als „apokalyptisches Tier“191 - ein diabolischer Ausbund an Vitalität, Zynismus, Ausschweifung, Skrupellosigkeit, Redunseligkeit, ein rhetorisches Talent „von offener Obszönität des Denkens“192, ein Zigarren rauchender Säufer hochprozentiger Alkoholika jeder Art, eine fleischgewordene `Großmacht der Selbstgefälligkeit´, der für seine Zwecke auch den `lieben Gott´ nicht unbenutzt lässt, der in den `positiven Christen´ lediglich ihm nützliches `genormtes Fußvolk´ erblickt, der sein Eigenes darin sieht, seine Befehle überhaupt nicht begründen zu müssen, ein nackter Wille zur unbedingten Macht. Als `Imposanz des Bösen´ ist er virtuoser Verdreher biblischer Geschichten und 191 192

Das Tier aus der Tiefe, S. 84, 85, 667; vgl. Die Sintflut (2007), S. 63. Ebd., S. 293.

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Gebote und begreift sich, weil er sich derart anderen begreifbar macht und von diesen auch so begriffen wird, geradezu als gottähnlichen Erlöser. Moosthaler predigt `Vertierung´, indem er seinen Gegenentwurf zu den Zehn Geboten vorstellt. Da heißt es unter anderem: Wir sahen es doch: Das fünfte Gebot des Moses hat das Töten nicht aus der Geschichte heraus komplimentiert. Es ist eine utopische Forderung, bei deren Unmöglichkeit der Erfüllung die Menschheit sich umsonst abmühte… Wir haben erkannt: Es gibt keine Gemeinsamkeit der Menschen, wenn sie nicht auf jenen primitiv-tierischen Fundamenten errichtet wird, wie sie etwa Bienen und Ameisen gefunden haben… Ordnung, Klarheit, Sauberkeit wie in einem Bienenhaus! Und bei uns lässt man sich nur hineingehen in seine aufgetragene Arbeit, im Marschtempo, das vorgeschrieben ist, im klingenden Gleichschritt, im Rhythmus des einen obersten, die Gesamtharmonie hervorbringenden Willens. Da gibt es kein Eigendenken mehr, die Bienen brauchen keine Volksversammlungen, keine Pressefreiheit. Wo ein Wille alles beseelt, da herrscht Ordnung und Sicherheit des Lebens und mithin, das ist logisch, jene zum Leben hinreichende Freiheit. Was ist denn Freiheit anders, als der reibungslos gesicherte Ablauf der gesamtheitlichen Lebensfunktionen? 193 Der junge intellektuelle Halbgrieche Omega bezeichnet Moosthaler als „existentiellen Lügner“: Man weiß nie, wann er eigentlich lügt, das heißt, wann es ihm bewusst wird, daß er etwas verschweigt, entstellt, im Sinn verdreht, kurz, wann er täuscht… Bald denkt man, er sei eine grausame Bestie, bald spricht er vom `Menschen´, vom `kleinen Mann´, den man von seiner religiösen und politischen Verantwortung `erlösen und versorgen´ müsse. AFDA alles für den Arbeiter! Was soll man sagen, wenn er dann fortfährt: `Man tut den Kindern das Wurmmittel in geweichte Pflaumen. Halten wir`s genauso bei den Arbeitern - den Abhängigen aller Art. Jede 193

Ebd., S. 283 und 285; in Die Sintflut (2007) gestrichen.

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Regung von Selbständigkeit, Eigenwillen, Trotz: Würmer, Würmer - weg damit!... - der kleine Mann weiß gar nicht recht, was Freiheit ist. Er verwechselt sie, bei ein bißchen Verlockung und ein bißchen Drohung, eins-zwei-drei mit: Sicherheit, Ruhe, Ordnung…Die armen Leute! Wie eine Herde ohne Hirten!´... Ich habe öfters gehört, wie er `wahr´ steigerte, `das ist noch wahrer´, er wollte sagen: `Das ist mir noch dienlicher, noch nützlicher, noch brauchbarer´.194 Omega selbst ist fasziniert von dem Machtwillen und der Wucht des Normers und schließt sich diesem in einer Mischung aus Opportunismus, Spielerleidenschaft, Ruhmsucht und Neugier an, ohne dabei existentiell beteiligt zu sein. Als Vertrauter Moosthalers steigt er auf zum Großsekretär, zum zweiten Mann der Bewegung. Obwohl damit im Zentrum der - künftigen - Macht, bleibt Omega doch zugleich in Distanz und reflektiert beständig seine eigene widersprüchliche Haltung: „gerade er - steht nirgendwo“,195 sagt Emil Clemens über ihn, darum aber sei er auch allein, ergänzt Charis. Omega selbst notiert früh über Moosthaler in sein Tagebuch: „Dieser Mann ist gefährlicher als zehn Regimenter von Olchen… Und er glaubt, mich zu lieben. Und ich glaube, ihn zu hassen!“196, und er erklärt gegenüber den Normgegnern in der `Arche´197, dass er verwickelt sei in das Dilemma: inmitten des Bösen mit dem Bösen gegen das Böse zu kämpfen. Es gelingt dem Normer, das Netz der Norm weiter auszuwerfen, die Fäden zu den deutschen Dependancen zu knüpfen, mit Intrigen und bösartiger Schläue, mit Verleumdung und Erpressung Hotels und Häuser für seine Zwecke und für Zusammenkünfte an sich und die Partei, die er gegründet hat, zu reißen. Seine N.O., seine Norm-Ohren hören überall hin, um sein Ziel, die absolute Macht über Deutschland und Europa, zu erreichen. Dabei weiß sich Moosthaler neben Vertretern der Groß194

Ebd., S. 292; vgl. Die Sintflut (2007), S. 168. Ebd., S. 502; vgl. Die Sintflut (2007), S. 248. 196 Ebd., S. 142. 197 von denen gleich zu sprechen sein wird. 195

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industrie und des Bankwesens auch der Kirche zu bedienen, die in dem glatten und mit der neuen Macht sich arrangierenden Bischof Cherubini Gestalt gewinnt: Immerhin kann Moosthaler dem Bischof gegenüber darauf verweisen, dass die Norm sich als positives Christentum, als neuen Katholizismus verstehe, indem sie die Hierarchie und den unbedingten Glaubensgehorsam der katholischen Kirche in sich abbilde.

Auf der anderen, der Seite der Normgegner, wohnen in Città morta einige Personen, die in unterschiedlicher Weise Position beziehen. Oberhalb des Städtchens befindet sich ein uraltes Kastell, das der Architekt Gabriel Clemens erworben und ausgebaut hat. Er selbst allerdings hat sich dort nicht niedergelassen, da er eine kleine Spionagegruppe in Deutschland leitet, als Kommunist ständig unterwegs ist oder sich in `Rotasien´ aufhält. Der Architekt, der im Roman eher im Hintergrund, weil im Untergrund wirkt, eine fast schattenhafte Existenz führt und die Möglichkeit des Widerstands mit Gewalt repräsentiert, versucht mit aller Kraft gegen die wachsende Norm zu agieren und verübt später, nach der Machtübernahme des Normers, Attentate unter der Maßgabe, dass man Mörder zu ermorden habe. In dem Kastell, das sie als `Arche´ bezeichnen angesichts der Normflut in Città morta, leben seine Tochter, die junge und reizvolle Charis Clemens, und sein Bruder, der ehemalige, im ersten Weltkrieg erblindete Berliner Goldschmied Emil Clemens, ein Humanist alter Prägung, der gleichsam durch die Augen seiner Nichte hindurch `zusehen´ muss, wie `unten´ die Vernunft vor die Hunde geht. Er gibt sich philosophischen Betrachtungen hin und verfasst - als leisen Protest gegen die anbrandende Gewaltherrschaft - die Noah-Legenden - als wär´s ein Teil von ihm, wird er doch von seinen Freunden nicht selten liebevoll Noah genannt. Er hatte in Berlin, gegen den Rat seiner Freunde, eine Broschüre mit dem Titel Von Versailles über Versailles nach Versailles veröffentlicht, 111

in der er die Entwicklung vom deutschen Sieg 1871 über Frankreich über die Niederlage 1918 bis in die Nachkriegszeit der 20er Jahre mit deutlichen Worten und drastischen Vergleichen beschrieb: „Ein ruhiger Blick in die Vergangenheit, ein unerbittlicher Blick in die Gegenwart, ein düster-mahnender Blick in die Zukunft.“198 Der Blick in die Zukunft war zwar kurz, hatte es aber in sich, denn Clemens sagte voraus, dass sich „das deutsche Gewissen unter Umständen zu einer Kanone umformen könnte. Zum Schluss folgte ein Aufruf zur Gründung eines `geistigen Aufsichtsrates´, um die in Deutschland langsam aber sicher gegen den Weltfrieden vorrückenden Kräfte keinen Augenblick und an keiner Stelle aus den Augen zu lassen.“ 199 Das daraufhin einsetzende Kesseltreiben, die anonymen Drohbriefe, die Ankündigung eines Prozesses wegen Landesverrats veranlassten Clemens, das Heimatland zu verlassen und Zuflucht zu suchen in der Arche. In Emil Clemens porträtiert Andres den Stillen Widerstand einer `inneren Emigration´, mit der er sich auseinandersetzt und von der er sich in der Folge absetzt. Charis trifft den Kern, wenn sie Clemens Haltung charakterisiert: „Mein Onkel, Erzieher und Freund: der lief weg in den Turm des Kastells - in die Träume - in die Legenden - in den Protest durch Abwesenheit.“200 Emil Clemens vertritt eine Ansicht, die auch für Andres bedeutsam wurde, die sich im Kreuz, im „Geheimnis vom Samenkorn“201 widerspiegelt und von der Aussage Jesu inspiriert ist: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht.“202 Das Samenkorn ist ein Symbol für das Sterben, aus dem neues Leben, für ein Ende, aus dem ein neuer Anfang erwächst. Clemens meint daher, dass es wenig Sinn hätte, der Normbewegung in 198

Das Tier aus der Tiefe, S. 212; die ganze Passage über die Broschüre S. 210 – 218; in Die Sintflut (2007) stark gekürzt S. 133 – 136. 199 Ebd., S. 215. 200 Die Sintflut (2007), S. 800. 201 Ebd., S. 152. 202 Johannes 12, 24.

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den Arm zu fallen; sie müsse in und durch sich selbst absterben, mit allen Schrecken und Nöten, ehe der Humus des Humanen sich bilden könne - später, nach dem Sturz des Tyrannen, nach dem Sieg der Alliierten, wird er ausmalen, wie dieses Sterben sich hätte vollziehen müssen, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Andres allerdings, weit über Clemens hinaus, ist der grundsätzlichen Überzeugung, dass die Rede vom Weizenkorn, von Tod und Auferstehung, in die Lehre von der Apokatastasis, von der Wiederherstellung aller Dinge in Gott mündet; diese Lehre, erstmals von Origines vertreten, durchzieht viele Werke von Andres, der sich damit in Widerspruch zum Dogma der katholischen Kirche begeben hat. Charis, die für Emil sorgt und da ist, wird von drei Männern verehrt und geliebt: von Omega, der sie in der Arche wiederholt besucht, in Gesprächen offen seine Ansichten preisgibt - die auf energischen Widerstand stoßen - und seine Stellung zum Normer rechtfertigt; von dem rustikalen, knorrig ehrlichen Natters, einem Maler, der sich in Città morta niederlässt, Madame van der Finken porträtiert und kein Blatt vor den Mund nimmt; und von Lorenz Gutmann, der in Rom Theologie studiert, nur kurz die Arche aufsucht und erst später ins Zentrum rückt. Charis und Lorenz kennen sich bereits von Jugend auf von Berlin her und Charis, die Lorenz liebt, hat seinen Wunsch, Priester zu werden, respektiert, weil sie ihn damit nicht an eine andere Frau verlieren könne. Dann ist da noch der arme und alte Priester Don Evaristo, der an der unverdorbenen christlichen Botschaft festhält und in Moosthaler das Tier aus der Tiefe, von dem Johannes spricht, erkennt, seinen Bischof, der ihn nicht ernst nimmt, vor diesem Tier warnt, gegen den Normer predigt und daraufhin abgeholt und verbannt wird. Nach manchen Vorbereitungen findet in Città morta ein großer Kongress im Finkenschen Haus der Norm statt, zu dem wichtige Persönlichkeiten aus Deutschland anreisen und mit dem - die Zeit ist reif - die Verlagerung der Zentrale nach Deutschland in Angriff genommen wird. Das

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Festessen allerdings wird durch eine Fliegenplage durcheinander gebracht, die verursacht zu haben Moosthaler Frau van der Finken vorwirft, die sich daraufhin von der Normbewegung lossagt. Als sie bei einer kurz darauf stattfindenden Sitzung erklärt, dass sie ihre Kapitaleinlagen bei der genormten Presse kündige und Moosthaler sie sarkastisch sogleich „für äußerst schutzbedüftig“ erklärt, tritt der anwesende Natters hervor und verpasst dem Normer eine schallende Ohrfeige „a himmlische Watschen“ - und schlägt ihm mit der Faust die Vorderzähne aus, als ob er „der ganzen Welt habe in die Fresse hauen wollen“203 - ein Akt mit Folgen, denn der Normer vergisst nichts. Nach dem Aufbruch begibt sich Moosthaler nach Berlin, und von dort aus zu `Missionsreisen´, wie er sagt, in die Provinz - in einigen Landtagen kleinerer Länder sitzen bereits genormte Abgeordnete. Melk-Berry berichtet den Archebewohnern später „Über die Leiden und die Auferstehung des Normers - eine Rhapsodie über den Triumph des Willlens“204: Nachdem sein enormer Alkoholkonsum Moosthaler immer reizbarer werden ließ, kommt es zum Ausbruch der Sucht. Melk-Berry entzieht ihn der Öffentlichkeit und behandelt den im Dilirium tobenden und im grotesk-furchterregenden Gerede sich ergießenden Koloss. Der Normer verlangt, um durch seine Willenskraft den „versucherischen Geist in den Flaschen“ zu besiegen, dass der ganze Raum mit alkoholischen Getränken vollgestopft, er selbst aber inmitten des Raumes gefesselt fest gesetzt werde. Der Wille siegt, Moosthaler beginnt Rundfunkansprachen zu halten und steigt aus der Verborgenheit erneut in die Höhe, nunmehr mit anderem Namen, den seine Vertrauten zwischenzeitlich erfunden haben: Man habe lang über den neuen Namen des Normers nachgedacht und sich schließlich auf Jörg Rätter geeinigt, - und zwar mit „ä“ geschrie203

Vgl. die ganze Szene in Das Tier aus der Tiefe, S. 671f., auch etwas gekürzt in Die Sintflut (2007), S. 322f. 204 Unter dieser Überschrift findet sich die geradezu groteske Passage in Das Tier aus der Tiefe, S. 737 - 760; in Die Sintflut (2007) sehr gekürzt S. 351 - 362.

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ben, damit die symbolische Note zunächst wie ein Zufall wirke. Da der Name aber meist nur gesprochen in Erscheinung trete, schriebe sich das „e“ automatisch über das „ä“.205 Die Anspielungen sind deutlich und beziehen sich einerseits auf Jesus Christus, den Retter, als auch andererseits auf Martin Luther, der unter dem Namen Junker Jörg auf der Wartburg eine Zeitlang seinen Verfolgern entzogen war. So nimmt denn auch Moosthaler den Ball auf: „Sehr gut! Retter! Jörg Retter! Bin ich ja auch! Der Retter! Kurz und bündig! Und wenn ich die Möglichkeit habe, und wenn ich schon der Auferstandene bin, auferstanden aus dem Grabe der Willensschwäche, der Verfolgungen…“206 Und derart doch nun mit „e“ und als Gruß „Normheil“.

IV. 3. Die Arche Der zweite Roman Die Arche spielt einige Jahre später, die Diktatur der Norm hat die Macht erobert und über Deutschland hinaus auch große Teile Europas unterworfen. Der Schwerpunkt verlagert sich im Unterschied zum ersten Roman nun auf die Normgegner, die Attentäter, Verschwörer und Emigranten und somit auf die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstands. Schauplatz des ersten Teils ist Berlin: Ein normkritischer Kreis versammelt sich um den jüdischen Rechtsanwalt Max Gutmann und trifft sich als „Vereinigte Archenbesitzer“ zu Gesprächen über die politische und geistige Situation in Zeiten der Norm. Zu den recht unterschiedlichen Teilnehmern gehören neben Frau Berthie Gutmann und Lorenz dessen Freund Wernicke, als Theologe zugleich ein Vertreter der Kirche, Oberstleutnant Wittke, ein gebildeter Offizier, der mit Goethe auf Du und Du steht und der als Normgegner zwar unter der Norm als Soldat `seine Pflicht´ erfüllt, jedoch später dazu beiträgt, die Normherrschaft zu stürzen, Bröger, ein Goldschmied und 205 206

Das Tier aus der Tiefe, S. 754; in Die Sintflut (2007), S. 359. Das Tier aus der Tiefe, S. 757; in Die Sintflut (2007), S. 360.

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ehemaliger Geschäftspartner von Emil Clemens, sowie der Buchhändler Bayer, der sich später von seiner jüdischen Frau Trudy scheiden lässt, weil er nicht auf sein Geschäft verzichten will. Der Kreis wird zerrissen, als Max Gutmann verhaftet wird: Wie sich herausstellt, hat ihn die junge Tochter von Wittke, Edith, denunziert, weil sie gehört hatte, dass Gutmann in seiner ironisch-witzigen Art den Normer mit dem Beinamen „Koprolith“, also Kotstein, versah. Nach dieser Verhaftung klärt Berthie Gutmann Lorenz über seine wahre Herkunft auf: Er sei von ihnen als Säugling angenommen worden, nachdem sein leiblicher Vater das damals unerwünschte Kind über einen Pfarrer zur Adoption freigegeben habe - sein Vater sei der bekannte Waffenminister Schmitz. Das folgende Treffen von Vater und Sohn - vom Vater gedacht, Lorenz als Sohn für sich und die Norm zu gewinnen, vom Sohn unternommen, den Adoptivvater aus den Klauen des Regimes zu befreien - endet in unüberbrückbaren Differenzen. In Lorenz Gutmann entwirft Andres das Porträt eines Menschen, der auf der Suche ist nach Wahrheit und Gott, der eine religiöse Berufung zum Dienst in der katholischen Kirche verspürt, nach inneren Kämpfen sein Theologiestudium aufgibt und seinen Glauben und seine Zweifel in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Welt, mit der Bösartigkeit und Boshaftigkeit der Normbewegung, der Diktatur des Normers und mit seinem leiblichen Vater gezwungenermaßen zu bewähren hat.207 „Lorenz´ Auseinandersetzung mit der Frage, ob spirituelle Integrität mit sozialem und politischem Engagement vereinbar sei, weist auf den Werdegang des Autors hin… Zweifellos ist dies ein Ergebnis des Fortschreibungsprozesses, da sich Andres´ Ansichten im Verlauf der jahrelangen Arbeit an der Trilogie verändert hatten. Clemens´ Flucht in die Arche ist eine pragmatische Lösung, mit der er die eigene Sicherheit 207

Ausführlich dazu John Klapper: Das Samenkorn und das Kreuz. Christlicher Humanismus in der Sintflut-Trilogie, in: Michael Braun, Georg Guntermann, Birgit Lermen (Hg.): Stefan Andres. Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts, 1999, S. 253 - 268, sowie ders.: Nachwort in Die Sintflut (2007), S. 934 – 941.

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über moralische Überzeugungen stellt; damit aber verweigert er jegliche persönliche Verantwortung.“208 Lorenz aber kann sich solchen Rückzug nicht leisten, weil er persönlich betroffen ist und in Konflikte gestürzt wird, die ihn zu handelnder Stellungnahme herausfordern: Das ist sein Kreuz, das er auf sich zu nehmen hat. Zwar weiß er, dass die Kirche seine geistige Heimat war, ist und bleibt, aber seine Kritik an ihrer veräußerlichten Organisation und starren Dogmatik, an ihrem Pakt mit der Norm bleibt scharf und bissig: Die Zeugen des Kreuzes sind selten geworden, und was bekommen wir zu sehen: Gerichtsvollzieher Gottes, Heilsorganisatoren, kirchliche Sittlichkeitspolizei, Seelenhändler, Tempelkapitalisten, Sakristeizwerge, Weihwassergläubige, pensionierte Ewigkeitsanwärter und solche wie ich, die wissen, was geschehen müßte, und doch nichts tun, weil sie sich nicht hingeben wollen - das ist`s!209 Jeder, der das Evangelium wirklich kennt und sodann die Forderungen genau betrachtet, die von Staat und Gesellschaft an ihn gestellt werden, weiß es genau, daß er entweder die Forderungen des Evangeliums oder die seiner Zeit, seines Volkes, seiner Gesellschaft, seines Staates opfern muß! Opfern! Sagen wir lieber verraten! Rom nennt das Konkordate schließen. Sie sagen, dem Cäsar geben, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist, und übersehen dabei, daß Christus eine Münze in der Hand hielt, in der Hand der Kirche aber liegen - Seelen! Seelen, ja, die nun dem Nationalismus, der Staatsvergottung geopfert werden, und das heißt - ach nein, lassen wir die Einzelheiten! Aber siehst du, Freund ich bin nicht betrunken -, die Kirche hat Handel getrieben mit dem Staate, immer wieder. Auch Er ist längst verkauft worden. Ja, auch Er. Darum findet man ihn nicht mehr!210 In einer Zeit, die schleichend immer mehr Gott los sein, ihn gottlos 208

John Klapper, Nachwort in Die Sintflut (2007), S. 935. Das Tier aus der Tiefe, S. 356; vgl. Die Sintflut (2007), S. 184. 210 Ebd., S. 354; in Die Sintflut (2007) gestrichen. 209

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verschwinden lassen will, lässt sich Gott, lässt sich Christus auch nicht einfach mehr finden. In den Spuren Jesu aber zu gehen, immerhin, heißt seinem Gebot der Nächstenliebe zu entsprechen. Im Unterschied zu Emil Clemens auf der einen Seite und Gabriel Clemens und dessen auf Attentaten beruhenden gewalttätigen Widerstand auf der anderen Seite, versucht Lorenz einen Mittelweg zu finden und zu gehen, der in dem aktiven Eintreten für seine bedrohten und leidenden Mitmenschen besteht - im Verlaufe der Romanhandlung wird dieser Einsatz, auch in seiner Problematik und Widersprüchlichkeit, hinreichend hervorgehoben. In diesem `dritten Weg´ erhellt sich die Stellungnahme von Andres selbst, der theologisch gesehen den Sündenfall begreift als Bedingung menschlicher Freiheit: Die Menschen haben - nachdem sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen haben - die Verantwortung für das, was in der Welt geschieht und was sie aus der Welt machen. Jeder Mensch aber, der im anderen Menschen seinen Mitmenschen, nicht einen Unmenschen erblickt, nimmt Maß am Humanum, an der Menschenwürde und dieses Maß ist - so Andres - in niemand anderem verkörpert als in Jesus Christus, der die Thora, die Gebote Gottes erfüllt, indem er sie lebt und aus Liebe zu seinen Mitmenschen handelt und heilt. Lorenz sieht sich auf diesem Weg nun aber auch Situationen und Entscheidungen gegenüber, die ambivalent sind und ihm Gewissensqualen bereiten, sodass er nicht nur einmal sich und seinen Glauben radikal infrage stellt - wie Charis gegenüber, am Ende, als er auf sie verzichtet: Ich fürchte, daß meine ganze Theologie nur ein Alibi für mein Versagen in der Welt ist, und daß überhaupt nichts von dem stimmt, was ich vor mir selbst und den anderen darstellen möchte, daß ich also nicht gerade ein Heuchler bin, aber doch ein Blender, verstehst du? - Ein mit Theologie gelackter Bürger, der sich vormacht, an Gott zu glauben, der aber, wenn dieser Glaube im Experiment erprobt, bewiesen werden soll,

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handelt, als glaubte er nicht.211

Sehnsüchtig erwartet, trifft der Großsekretär Omega in Berlin ein und sucht die Gutmanns auf. Omega entwickelt einen Plan, um Max Gutmann frei zu bekommen: Da Lorenz sich als Sohn von Schmitz herausgestellt habe, könne er durch ihn, Omega, auch dem Normer vorgestellt werden - und während des Gesprächs wäre die Möglichkeit gegeben, durch einen Befehl des `Retters´ Gutmanns Entlassung aus der Haft zu bewerkstelligen. Im grauen und monumentalen Labyrinth der Normzentrale auf der Pfaueninsel findet das Treffen kurz darauf statt und der Normer gibt sich gnädig und jovial, der Sohn des Ministers wird gleich zum Professor ernannt und ein Telefonanruf genügt, um Max Gutmann nach Hause zu entlassen. Moosthaler erläutert im Gespräch sein Verständnis des modernen Staates: Jederzeit müsse der Staatsbürger sich dessen bewusst sein, daß der Staat ein großes Interesse an ihm habe, und daß sogar seine geheimen Gedanken über den Staat und Regenten schwere Folgen für den Denkenden haben könnten. Ähnlich wie in den verflossenen Jahrhunderten die heilige Inquisition es dem Mitglied der Kirche mit Folter, Kerker und Feuer klarmachte, wie wichtig die Kirche den Einzelnen und seine Ansichten über kirchliche Fragen nehme, müsse der Staat diesen Einzelnen unter strengste Kontrolle stellen, um Feindseligkeiten gegen den Leib des Staates sofort und unerbittlich ahnden zu können.212 Und Moosthaler berichtet weiter, dass er sich vor einigen Tagen inkognito in ein Weinlokal begeben und an einer Flüsterrunde teilgenommen hätte. Da hätten doch diese „Gewissensschmutzfinke, diese Flüsterrebellen“213 über diese und jene Gerüchte und Vorkommnisse, vor allem über ihn, den Normer, geredet. Den ganzen Kreis habe er 211

Die Sintflut (2007), S. 840. Die Arche, S. 220; vgl. Die Sintflut (2007), S. 495. 213 Ebd. S. 222. 212

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daraufhin inhaftieren lassen. In Erinnerung sei ihm aber vor allem ein Traum geblieben, den eine ältere Frau zum Besten gegeben hätte, was für sie allerdings zum Schlechten ausgehen würde, denn „diese reizende, kluge Dame sitzt nun schon vier Tage im Normsicherheitspalast und wird ihr Leben in irgendeiner Einzelzelle endigen.“214 Diese fremde Frau also hatte geträumt, der Normer sei tot, und zwar hatte man ihn verbrannt, weil ihm durch keine andre Todesart beizukommen war. Als man in der Asche schürte, entdeckte man da einen etwa faustgroßen, dunklen, fast wie ein Turmalin aussehenden Stein. Alle, die den Normer verbrannt hatten, blickten voll Entsetzen auf den Stein, denn sie wussten: das ist der eingeschmolzene Normer mit all seinen satanischen Möglichkeiten. Und alle begannen leise zu sprechen, daß er sie nicht höre. Aber sie ahnten zugleich, daß ihr ganzes Heimlichtun umsonst sei. Sein dunkelgrünes Auge sah sie an – und wusste alles. So beschlossen sie, den Stein aus ihrer Mitte zu verbannen. Lange überlegten sie, bis sie ausmachten, ihn in den Fluss zu tragen. Aber da begann der Fluss, als wollte er überkochen, zu sieden und zischen, die Fische trieben bauchoben auf der Wasserfläche, und der Stein trieb inmitten der toten Fische, bis die Leute sich ermannten und ihn wieder an Land nahmen. Daraufhin beschlossen sie, den Stein in den Schlund der Erde zu versenken, und sie warfen ihn in den Schacht des tiefsten Bergwerkes. Bald jedoch begann der Boden zu hüpfen, die Häuser stürzten ein, die Schornsteine schlugen der Länge nach hin und zerbrachen, Brand erfüllte das Land und Wehklagen. Sie begannen nun alle in furchtbarer Mühsal nach dem Stein zu graben, bis sie ihn wiederhatten, und gleich wurde die Erde still. Aber da sie glaubten, den verfluchten Stein nicht in ihrer Mitte ertragen zu können, fuhren sie ihn auf die hohe See hinaus und versenkten ihn. Doch wie den Ring des Polykrates schickte das Meer den Stein zurück - auf mannigfaltige Weise. Sie versuchten es immer wieder, doch das Meer konnte die Bosheit des Steins 214

Ebd. S. 225.

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nicht ertragen. So saßen sie um den Stein und weinten über sein Dasein. Da kam ein Kind, nahm ihn wie zum Spiel und warf ihn in die Luft, und siehe, er blieb hängen, aber über den Köpfen der ratlosen Menschen und das war das Furchtbarste: Er wuchs langsam wie ein Schirm auseinander, wie eine Wolke, wurde zu einem drohenden Firmament, das den vor Entsetzen Stummgewordenen den Anblick von Sonne, Mond und Sternen stahl und jeden Augenblick drohte, auf ihre Köpfe herabzustürzen. Seither gingen sie alle mit gesenkten Gesichtern über die Erde, denn sie wagten es nicht mehr, zur Höhe zu schauen, - ihr Untergang war gewiss wie alles andere.215

Diese Traumvision wirkt bereits wie ein Vorgriff auf den späteren dritten Roman, in dem vom Nachwirken des Normers und der Norm gehandelt wird und in dem gegen Ende Lorenz vergegenwärtigt, Moosthaler „könne dem Leibe nach überwunden werden, - aber nicht sein magisches Schema, das war das Wort, das Omega brauchte, das könne niemand überwinden.“216 Träume und Visionen spielen im Werk von Stefan Andres eine außerordentliche Rolle; Andres knüpft dabei an die großen Träume der Bibel, vor allem des Alten, des Ersten Testamentes an - denken wir nur an den Traum Jakobs von der Himmelsleiter, an die Träume Josephs, vor allem an den Traum des Pharao von den sieben fetten und mageren Kühen, den Joseph zu deuten versteht, an die Gottesreden in den Träumen des David und Salomo und anderer oder an die Visionen der Propheten und an manch andere. Im Neuen Testament sind es die Visionen des Johannes vom Gericht, vom jüngsten Tag, von der Herrschaft der Hure Babylon, von dem Tier aus der widergöttlichen Tiefe. Immer wieder sind es Verkündigungen oder Ansagen zum Heil oder auch Unheil, immer wieder Bilder, die gedeutet 215

Ebd. S. 223f.; vgl. Die Sintflut (2007), S. 497, der letzte Absatz ist allerdings gestrichen. 216 Die Sintflut (2007), S. 861.

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werden müssen, die der sezierende Verstand sich nicht selbst sagen kann. Andres imaginiert Träume, die im Rahmen der Sintflut fast ausschließlich bedrohliche Gestalt annehmen, wie Gerichtsurteile, wie Damoklesschwerter über den Köpfen der Menschen hängen, doch zugleich auch Warnungen darstellen und das Handeln beeinflussen und orientieren. Sie können Weisungen enthalten und aufklären, sie sind gleichsam das Dritte Auge, das anders und klarer schaut und durchschaut, was Sache ist. Andres lässt Lorenz zusammenfassend erklären: „Im Traum tun sich uns die Augen auf, wir entdecken, was unserm rationalen Denken verborgen blieb.“217 Max Gutmann, ein durch die Haft gebrochener Mann, findet sich `zuhause´ nicht mehr zurecht und angesichts neuer Verordnungen, die sich auch gegen die `Abramiten´, die Juden richten, beschließt die Familie, ins Exil, in eine neue Arche aufzubrechen: Sie erwerben und beziehen ein Haus am See in der Schweiz. Erst nach und nach gibt, wenn auch vage, Max Gutmann preis, was er an Schlägen und während der Arbeit im Müll und Auswurf erlitten habe und dass er verstört sei im Geist, weil der Körper das Grauen nicht aushalte: Einen Abschiedsbrief zurücklassend, begibt er sich einige Zeit später an einen Abgrund in den Bergen und stürzt sich in den Tod. Lorenz, kaum dass das Haus am See bezogen ist, reist nach Italien, um Charis und Emil aufzusuchen. In Città morta muss er jedoch erfahren, dass die beiden in Rom im Gefängnis eingesperrt seien und Natters sich nach Berlin begeben hätte, um dort – in der Höhle des `Untiers´ - sich um Freilassung der beiden zu bemühen. Bevor Lorenz sich seinerseits in die Ewige Stadt aufmacht, begibt er sich in die armselige Wohnung Don Evaristos, in der auch Natters gewohnt hatte. Überraschend kommt Evaristo heim, erzählt von seiner Verbannung, legt Lorenz sein Testament vor und bittet ihn, es zum Bischof zu bringen und bekannt zu machen: Denn er wolle jetzt in Ruhe sich zum Sterben hinlegen und müsse noch seine Angelegenheiten ord217

Ebd., S. 872. In der Sintflut sind etwa ein Dutzend Traumvisionen zu finden, von denen drei aufgrund ihrer Eindrücklichkeit hier fast ungekürzt zitiert werden.

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nen. So überträgt er Lorenz das ungefüge Kreuz, das Lorenz künftig mit sich schleppen soll und wird. Lorenz findet ihn am nächsten Morgen sanft eingeschlafen, sucht Bischof Cherubini auf und liest ihm „Don Evaristos großes Testament“218 vor, das Andres verstanden wissen will als Zeugnis eines im besten Sinne naiven, aufrichtigen und aufrechten Glaubens: „Vor den Augen des Allwissenden, der mein und euer Richter ist, schreibe ich dies. Ich trage dem Notar und dem Zeugen dieses Testamentes, Don Lorenzo, auf, dem Bischof von Città morta und seinem Domkapitel diese Worte auf irgendeine Weise mitzuteilen. Ich habe dem Bischof von Città morta gehorcht und meinen Kampf gegen den fremden Priester, der später der Normer wurde, eingestellt. Ich bedaure nicht meinen Gehorsam, wohl aber die Blindheit meines geistlichen Oberhirten. Hiermit fordere ich nun den Hochwürdigsten Herrn Bischof, Monsignore Cherubino de Cherubini auf,… allen Priestern seiner Diözese anzubefehlen, die liktoristischen Machthaber als Häretiker und als Feinde des Volkes zu betrachten. Im weiteren soll er seinen Irrtum auf der Kanzel öffentlich widerrufen in irgendeiner Form und erklären, dass jene, die Jesus von Nazareth nachfolgen, mit Nero und seinen Kohorten nicht paktieren können. Überdies soll der Bischof von Città morta nach Rom reisen und mit einem den Liktoristen abholden Kardinal sprechen. Der Kardinal aber soll mit dem Heiligen Vater sprechen, und der Heilige Vater soll vom Balkon von Sankt Peter den ehemaligen Opernsänger Leone Pavone und den ehemaligen Theologieprofessor Luigi Moostala vor der ganzen Christenheit mit dem Bannstrahl belegen und desgleichen jeden Christen, der auf irgendeine Weise diesen zwei Usurpatoren, Tyrannen und Gotteslästerern und ihren Freunden den Hof macht, sie unterstützt und überhaupt sie für rechtmäßige Gewalthaber erklärt. Wenn aber der Bischof von Città morta diesen meinen demütig vor218

Die Arche, S. 270; vgl. Die Sintflut (2007), S. 521.

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getragenen Befehl nicht ausführt und nicht zum Kardinal geht, und wenn der Heilige Vater auf die großen Häresien unserer Zeit nicht das Anathema schleudert, wird eine geistige Verwirrung über Europa und die Welt kommen, wie sie noch nie da war. Und statt des Blutes der Märtyrer, das vergossen werden würde, wenn der Bannstrahl die Unholde trifft, wird ganz Europa im Blut ertrinken. Ich bin kein Prophet, aber ich habe meinen gesunden Menschverstand in Gottes Obhut gestellt. So habe ich das Tier aus der Tiefe erkannt, von dem Johannes spricht, - und es war und ist und wird sein: der unmenschliche, keinem Gott mehr dienende Staat, der selber Gott sein will. So rufe ich dem Bischof von Città morta jene ihm wohlbekannten Worte des dritten Engels in Erinnerung: `Wer da anbetet das Tier und sein Bild und sein Zeichen annimmt auf der Stirn und auf der Hand, der soll trinken von dem ungemischten Zornwein Gottes!´ Dem Bischof von Città morta sage ich im weiteren, und er soll es nicht verschweigen: die Kirche ist befleckt von oben bis unten vom Laster der Politik: von Versicherungsdrang und Habsucht! Wenn aber das Salz verdirbt…, daran habe ich gedacht, und das war mein größtes Leiden! Ich habe mit niemandem je darüber gesprochen, damit ich nicht in Sünde falle - in Hochmut und Überheblichkeit. Nun aber, da ich sterbe, habe ich es gesagt. Gott hält still, liebe Kinder, aber das ist furchtbar! Ist es nicht furchtbar? Könnt ihr es ansehen, wie er stillhält? Wie die Kirche schweigt, und wie Priester und Bischöfe in großer Zahl öffentlich in das Lager der Feinde Gottes zogen? Ich bin müde und ich gehe. Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, aber die Lüge wirkt auf die Dauer noch schwerer! Der Engel Gottes wird bald sprechen. So hört denn auf mit der Politik, geliebte Väter und Brüder, und sagt lauteren und ent-schlossenen Herzens: `Gelobt sei Jesus Christus!´“ Als Lorenz das letzte Wort gesprochen hatte, sah er, wie Monsignore de Cherubino diskret, betont diskret, sich über den Mund fuhr, ein Lächeln zu verwischen. „Immerhin - er blieb sich selber treu, bis in den Tod, er hatte Charakter“, sagte er nun in herablassendem Ton, dann aber un-

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vermittelt mit großem Ernst: „Wiewohl der Charakter, wenn der Mensch sich ihm überlässt wie einem störrischen Esel, dem Menschen leicht zum Verderben werden kann. Jedoch ich wünsche ihm aus vollem Herzen den ewigen Frieden! Doch was solch eine verwegene und jeden Autoritätsgefühls bare Sprache dieses sogenannten Testaments angeht, so möchte ich Sie bitten, es auf irgendeine Weise zu vernichten oder still zu Ihren Papieren zu legen, freilich mit dem Risiko, dass Sie, falls es bei Ihnen gefunden wird, unter Umständen Scherereien haben.“219 Sehr viel später, am Ende des Romanwerkes, erinnert Andres an dieses Testament, wenn er Lorenz über seinen angepassten und aufgestiegenen alten Bekannten, den Theologen und Priester Wernicke sagen lässt: Er ist auch einer von denen, die auf zwei Ebenen leben, die ihr Christentum abgerichtet haben, zwei Herren zu dienen… Da muß ich an Don Evaristo denken, an sein Testament… Wenn damals Rom gesprochen hätte… Ein paar hundert Exkommunikationen sowie der Aufruf aller Bischöfe Deutschlands, und der Spuk - Gott weiß es - wäre am passiven Widerstand von sechzig Millionen Christen in vierzehn Tagen auseinander geflogen wie ein fauler Kürbis, den man vom Kirchturm aufs Pflaster schmeißt. Statt dessen…220 In Rom trifft Lorenz auf Omega, sie befreunden sich enger, und Omega entwickelt einen intriganten Plan, um einerseits Charis und Emil freizubekommen und zu treffen und um andererseits Natters aus der Folterkammer des Normers in Berlin auszulösen, wobei allerdings der widerwärtige Großnormbewahrer Leo Olch beseitigt werden müsse. Lorenz ist zwar entsetzt über die diabolische Genialität des Plans, stimmt aber fast zwanghaft zu, seine wenn auch bescheidene Rolle, einen Brief an Schmitz zu schreiben, im befreiend-bösen Spiel 219

Die Arche, S. 272ff.; vgl. die Kurzfassung in Die Sintflut (2007), S. 523f. Mit der Partei der Liktoristen und Leone Pavone wird angespielt auf die faschistische Herrschaft unter der Führung des Duce. 220 Die Sintflut (2007), S. 875.

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auszufüllen. Da der Architekt sich ebenfalls in Rom befindet, ergibt sich ein Treffen, in dem Gabriel Clemens seine Ansichten über die Bedeutung von Attentaten auf Unterdrücker begründet, die von Lorenz allerdings nicht geteilt werden. Nachdem Charis und Emil entlassen worden sind und sich kurz darauf in die erste Arche in Città morta begeben haben, wird die Übersiedlung in die Gutmannsche Arche am See in Gang gesetzt. Man richtet sich ein, bekommt Besuch und Lorenz vernimmt von Dr. Kruse, einem eiskalten Juristen, Mitglied der NormOhren und zugleich Spion und geheimer Mitarbeiter des Architekten, das `Evangelium des Dynamits´ und nähere Informationen darüber, dass der Ministervater die Absicht habe, Lorenz nach Deutschland zu entführen. Die geplante Entführung wird erfolgreich unterlaufen, dabei entsteht der Plan, im Gegenzug Schmitz, wenn er auftaucht, zu entführen. Melk-Berry erscheint verkleidet unter falschem Namen und berichtet, dass er sich vom Normer abgesetzt habe. Außerdem erzählt er, wie der furchtbare Koloss mit Natters verfahren sei: Der Normer hätte ihm, Melk-Berry, ein Tonband vorgespielt, auf dem die Stimme eines Toten zu hören sei, wobei von Stimme zu sprechen ein Euphemismus wäre, denn es seien die gegurgelten Fetzen von erzwungenen Worten, unmenschliche Schreie: Man hätte ohne jede Betäubung in den Nerven der Zähne des Opfers gewütet und ihm die Zunge zum Teil abgeschnitten. So hätte der Normer an Natters Rache genommen und so genieße er das aufs Band Gebannte. Er, Melk-Berry, sei nun auf der Flucht und wolle nach England. Der Arzt konnte freilich nicht wissen, dass zwischenzeitlich Natters gerettet wurde und seine Ankunft in der Schweiz und seine Verlobung und Heirat mit Charis bevorstand. Lorenz reist zum von Claire van der Finken gegründeten Flüchtlingsheim am Genfer See, begegnet dort neben anderen nicht nur der geflohenen Trudy Bayer, sondern auch Helen Brett, die damals, morphiumsüchtig, in Città morta von Natters gepflegt wurde. Helen und Lorenz verlieben sich ineinander und zusammen mit Charis und Natters wird in der Schweizer Arche eine Doppelverlobung gefeiert. Mitten hinein platzt allerdings der

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Minister Schmitz, der Lorenz bewegen will, ihm zu folgen und nach Deutschland mitzukommen. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden ist heftig und die Kluft unüberbrückbar. Lorenz bemüht ein gewichtiges biblisches Bild: Es ist nämlich eine große Kluft zwischen uns und euch - keiner von euch kann zu uns herüber, und keiner von uns zu euch - auch nicht, um euch die Zunge mit einem Tropfen Wasser zu kühlen. Du weißt, das hat Abraham, den armen Lazarus im Schoß, zu dem Mann in den Flammen gesagt. Ihr seid in den Flammen, in der Hölle - und ich weiß: Ihr sehnt euch nach ein bißchen reinlichem kühlen Wasser, aber es kann euch nicht gegeben werden.221 Und Lorenz erzählt nun endlich seinen, gleich nach dem Erwachen niedergeschriebenen Traum von den Schwefelgelben, der ihn überfiel, bevor er damals den Bittgang antrat, um von Schmitz, seinem Vater, die Befreiung seines wahren Vaters, Max Gutmann, zu erreichen: In diesem unvergessenen Traum also befand ich mich in einer Stadt und zwar auf einem Platz, auf den viele Straßen mündeten. In den Straßen bewegte sich eine Menge in verborgener Aufregung. Alles schaute dahin und dorthin, warf sich Blicke zu und Worte, aber ich konnte nichts verstehen, die Sprache dieser Menschen war mir zuerst fremd. Später merkte ich, dass sich verschiedene mir geläufige Sprachen durcheinander mischten. Aus den Mienen und Bewegungen der Menschen erkannte ich, dass sie von höchster Erregung angespannt waren, von der Erwartung einer Gefahr, die plötzlich dasein und alle vernichten konnte. Aus einer Seitenstraße stieß die Bewegung der Angst in die Menge, man schrie, begann zu laufen, sprang hin und her, alle liefen in dieselbe Richtung: Männer, Frauen, Kinder. Nun erst erblickte ich hinter der letzten Welle der dahinflutenden Menge in der fast leeren Straße einzelne Gestalten, jüngere Männer, schwefel221

Die Sintflut (2007), S. 687; vgl. Die Arche, S. 600.

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gelb und gestiefelt. Sie trugen Sturzhelme mit dicken Lederungen, daß ihre Köpfe wie gedrechselte Kugeln aussahen. Diese schwefelgelben Männer… warfen mit Messern nach den Fliehenden. Der Wurf war ruhig und exakt, die Messer zischten blitzend durch die Luft und hatten immer dieselbe Stelle, nämlich den Hals der Fliehenden zum Ziel, und jedes Messer traf, so sicher warfen die Männer. Das Messer hing an einem Gummizug mit den gelben Männern zusammen und sprang jedesmal, wenn es getroffen hatte, in deren fangende Hand zurück, und wieder flog es… und traf. Jetzt war es, dass ich eine starke Lautspecherstimme vernahm, und zwar auf deutsch, die rief, die Waffenruhe sei abgelaufen. Die noch in der Stadt anwesenden Deutschen seien hiermit aufgefordert, sich sofort als Deutsche auszuweisen, sonst würden sie wie Ausländer behandelt. Während ich dieser Stimme lauschte, näherten sich die Schwefelgelben… Ich wußte, dass ich mich entscheiden mußte. Lautlos fielen überall vereinzelte Gestalten… Als Deutschen mich bekennen, das bedeutete, zu einem dieser Schwefelgelben hinzugehen. Ich sah aus der Menge manche zu ihnen hinlaufen, lächelnd, mit bittenden Gebärden… Die so Geretteten stellten sich hinter ihren Mann. Aber ich hatte das Gefühl, wenn ich das täte und auch noch vor den Augen dieser angsterfüllten… Menschen, dann müßte ich vor Scham sterben. Schließlich - ich kann´s nicht leugnen - tat ich´s doch. Durch die Menge kam eines jener in Italien Carozza genannten, vierrädrigen Wägelchen, mit einem Pferd in der Wagenschere. Ich wußte sofort: Der Kutscher war ein besonders Hochgestellter der gelben Männer. Ich lief zu dem Wagen, gab mich als Deutschen aus, und er ließ mich aufsteigen. Ich konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Er machte `Prr´, und das Pferd zog an. Ich spürte, wie der Wagen hin und wieder über Leichen ging. Wir waren vor einer Brücke angekommen… Man sah in der Ferne noch andere Brücken über den Bach gehen. Das Land war eben, grün und lag im Abendschein. Auf der Brücke standen zur linken Seite, mit dem Rücken halb an das Geländer gelehnt, etwa sechs oder sieben Männer in 128

den besten Jahren. Sie schienen auf den Kutscher gewartet zu haben, jedoch wie Schuljungen auf den Lehrer warten, um eine Tracht Prügel in Empfang zu nehmen. Sie starrten nur auf den Kutscher. Der war… leicht vom Bock gesprungen, hatte das Messer aufgeklingt und trat auf den ersten in der Reihe zu, auf den, der am weitesten auf der Brücke und vom Wagen entfernt stand. Der Kutscher sagte kein Wort, sondern stieß ihm ruhig und wie ein Metzger sachgemäß das Messer in die Kehle, packte ihn an den Beinen und kippte ihn übers Geländer. Dann trat er zu dem zweiten, ohne Hast, ohne Wut, eher in einer Art von Arbeitsbehaglichkeit, doch schien er alles mehr im Nebenher zu erledigen. Am gräßlichsten wirkte auf mich der Umstand, daß diese Männer nicht schrien, auch ihren Platz in der Reihe nicht verließen, wiewohl sie nicht angebunden waren. Wenn die Reihe an sie kam, wenn der Nachbar zur Linken über das Geländer gekippt wurde, brachen sie in leises, hysterisches Lachen aus, als könnten sie gar nicht verstehen, was das Ganze bedeute, und hoben dann willig den Kopf… Ich sah, daß auch auf den übrigen Brücken gelbe Männer am Werk waren, auch dort glitten Menschen wie Schatten in das stille Wasser. Als der Kutscher fertig war, stieg er auf, rückte das Polster zurecht, setzte sich hin und entbrannte sich einen kurzen, übelriechenden Stumpen.222 Als Schmitz schließlich das Haus verlässt, nicht ohne mit den Worten: „Ich erlitt hier eine Niederlage. Ich werde sie an andrer Stelle wettmachen“223 eine Drohung auszustoßen, weiß Lorenz allerdings, dass draußen bereits der Wagen von Kruse wartet, um Schmitz an einen geheimen Ort zu entführen. Während die Aufrüstung zum großen Krieg beginnt, beschließen Lorenz und Helen zu heiraten und nach England und in die USA auszuwandern. 222 223

Die Sintflut (2007), S. 687ff; vgl. ausführlicher in Die Arche, S. 601ff. Ebd., S. 693; vgl. Die Arche, S. 609.

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IV. 4. Der graue Regenbogen Der graue Regenbogen wird eröffnet mit einem umfangreichen Nachspiel, in dem der `Urheber´ zweieinhalb Jahre später und ein Jahr nach dem Sturz der Norm sich den Personen nähert, die Auskunft geben können über die Ereignisse bis zu ihrem Tod. Neben Berthie Gutmann kommt der Architekt zu Wort, der am Ende, statt die Höllenmaschine unter dem Labyrinth des Normers zu zünden, sich selbst erschoss, weil er mit der Explosion Tausende in den Tod gerissen hätte: „Wenn meine Tochter und mein Bruder es erfahren, daß ich - die letzten Illusionen abtat, daß ich die Lehre vom Weizenkorn angenommen habe, - das genügte mir.“224 Moosthaler wird mit dem Buch seiner Untaten konfrontiert und löst sich im rasenden Kreisen auf. Helen erzählt von ihrem kurzen Leben mit Lorenz im Westen Amerikas, von ihrem Kind, das von einer Viper gebissen wurde und starb und von ihrem Selbstmord. Vor allem aber ist es Omega, der vor das `Buch der Rechtfertigung´ tritt und berichtet. Der Normer hätte den feindlichen Mächten, den Alliierten, den Krieg erklärt. Aber: Auf seine Herausforderung der halben Welt war keine andere Antwort erfolgt, als dass es zu regnen angefangen hatte. Der Normer mußte in diesem, seine komplizierten Aufmarschpläne lähmenden Regen zunächst nur eine allerdings schon katastrophale Verschlechterung des Wetters erblicken, die allein mit Warten überwunden werden konnte. Seine Wut gegen die `unvernünftigen Elemente´, so drückte er sich wiederholt in meiner Gegenwart aus, brachte ihn für Stunden dem Wahnsinn nahe… Tag und Nacht rauschte mitten im Sommer der Regen herab. Regnete es einmal für Stunden nicht, lag der Himmel schmutzig gelb und so tief über den Dächern, daß die Städte wie in eitrige Watte verpackt schienen. Aus dem August war über Nacht November geworden. Selbst mittags brannten die Lichter, die Menschen tasteten sich über Straßen 224

Der graue Regenbogen, S. 51; vgl. Die Sintflut (2007), S. 742.

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und Plätze, der Verkehr brach zusammen. Und dann, bereits drei Tage nach der Kriegserklärung, entdeckte ich zum erstenmal den gewissen Geruch… Erst als der Geruch in den Nasen aller wirkte und schließlich rundheraus als Latrinen- und Leichengestank deklariert wurde, begann man, das Wetter mit Entsetzen zu betrachten, denn man sah sich nun nicht mehr in der Gewalt der Natur, sondern der Menschen. Gerüchte kamen in Umlauf, aber keines reichte an diese entsetzliche Wirklichkeit, daß dem Menschen soviel Macht gegeben sei, wenn auch nicht schlechthin das Wetter, so doch Unwetter zu machen.225 Der Normer also hatte keine Gewalt über das Wetter, über diese Sintflut, doch all „seine Gedanken kreisten um den, wie er sagte, gefährdeten Aufmarschplan, der in Wirklichkeit von Nebel und Wasser bereits verschlungen war… Als er dann sah, daß sogar das Wetter… sich mit den sichtbaren und unsichtbaren Feinden verschworen habe, da packte ihn, noch ehe ein Tropfen Blut geflossen war, jene Vernichtungswut, die andere Machtbesessene erst am Ende eines als verloren erkannten Krieges überfällt.“226 Und Omega berichtet, wie der Normer sich über den Krieg als gegenseitige Erpressung auslässt: „Da haben wir ein paar Millionen Abramiten, dazu wenigstens eine halbe Million Ausländer; ich habe keinen ausreisen lassen. Das ist ein stattlicher Posten. Denken Sie: alle die Verwandten auf der Gegenseite, besonders bei den Ausländern!“227 Und als Moosthaler Klarheit schaffen will, endlich, zwischen sich und Omega, und als Omega erklärt, dass er trotz aller gemeinsamen Verbrechen, als Sekundant, keine Sekunde dem Normer angehört hätte, lässt Moosthaler zwei taubstumme O.W.-Männer Omega festhalten und sich eine spezielle Injektionsspritze bringen. Er sticht Omega damit in die Brust und informiert ihn ausführlich über die Wirkung:

225

Ebd., S. 19; vgl. Die Sintflut (2007), S. 726. Auch Berthie Gutmann weiß von den Wirkungen dieses Dauerregens zu berichten: S. 41/ 737. 226 Ebd., S. 20/21; vgl. Die Sintflut (2007), S. 726, teils gestrichen. 227 Ebd., S. 24; vgl. Die Sintflut (2007), S. 727.

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Wenn Sie merken, dass Ihre Zunge schwer wird, soll Sie das nicht weiter aufregen, das liegt an der Komposition: zuerst die Zunge, dann die Beine, die Hände - eine Art Multiplesklerose im Blitztempo! Das heißt so schnell geht es auch wieder nicht. Das Herz ist in der Mischung berücksichtigt worden, das klopft noch etwa zehn Tage, aber sehr, sehr leise. In drei Tagen spätestens sind Sie tot für die Welt. Es folgt Staatsbegräbnis. Ich halte Ihnen die Grabrede. Sie werden jedes Wort hören, ich denke an alles, wie gesagt! Und nun - leben Sie wohl.228 Und Omega vernimmt - denn der Normer hatte dafür gesorgt, dass sein Wort auch durch den Sargdeckel an das Ohr seines geliebten Feindes dringen konnte - die Grabrede, ein Loblied auf den Großsekretär, der leider das erste Opfer des Giftgestankes, von Attentätern in konzentrierter Form in die Wohnung Omegas geblasen, geworden sei. Und „mehr aus Moosthalers Stimme als aus seinen Worten wurde es mir klar, das der große Mord an den Gefangenen nicht mehr allein Erpressung war, sondern auch ein Akt der Rache.“229 Kurze Zeit später fällt der Diktator selbst einem Attentat zum Opfer, und zwar - wie Lorenz später erfährt - in einem Fahrstuhl seines Herrscherlabyrinths. Der Krieg also war zu Ende, bevor er begonnen hatte. Die neue, die von Menschen produzierte Sintflut und der durchdringende, doch ungiftige Latrinen- und Leichengestank legten sich auf das Land, zerstörten aber weder Städte noch Dörfer. Viele Wohnungen mussten allerdings aufgegeben werden, da in ihnen zu leben kaum möglich war. Es war eine neue Art des Sieges über den Gegner, ein - wie es heißt - `silent war´, der erste von Naturwissenschaftlern ausgeheckte Krieg, mit dem Ziel, „an einem ganzen Land eine solche Operation ziemlich schmerzlos vorzunehmen.“230 Man darf in diesem Zusammenhang durchaus von einer Art `Wetterkriegsvorhersage´ sprechen, die Andres imginiert, denn mittlerweile werden Überlegungen und Experimente angestellt, wie Kriege 228

Ebd., S. 29; vgl. Die Sintflut (2007), S. 730. Ebd., S. 34; vgl. Die Sintflut (2007), S. 732. 230 Ebd., S. 155. 229

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als Klimakriege und Wetterkriege erzeugt werden können. „Es gibt heute nach fachmännischen Schätzungen rund ein halbes Dutzend Möglichkeiten oder Methoden, Völker und Erdteile… zu überschwemmen, zu verbrennen, zu versteppen, zu vergiften… Und dies, wie wir es an der Aktion gegen den Normer erlebt haben: ohne vorangehende Notenwechsel,… ja selbst ohne Flugzeuge, Bomben und überhaupt ohne die ganzen alten Sitten und Gebräuche des einst so stockkonservativen Justus Mars.“231 Emil Clemens, der geradezu instinktiv befürchtet, dass der Gestank dazu beitragen wird, die Köpfe zu vernebeln und das alte Gedanken`gut´ gedankenlos weiterwuchern zu lassen und am Leben zu erhalten, wünscht sich fast sehnlich den `guten alten´ Krieg mit allen seinen Folgen herbei: Auf die Frage, ob denn nicht genug geschehen sei, um den Menschen die Augen über das Grauen der Norm zu öffnen, antwortet Clemens mit einem klaren Nein: Nach seiner Auffassung hätte das Volk in einem langen, schweren Krieg zu Boden genötigt werden müssen. Es musste spüren: in Blut und Schweiß, in Hunger und Todesnot - durch Jahre, stündlich -: was die Norm war. Während die Fronten ins Wanken kamen und der Feind von allen Seiten näher rückte, musste die Norm mit totalem Terror den Staatssklaven niederhalten. Zur Bedrohung durch den eigenen Staat musste die kriegerische durch den Feind von außen kommen, die Städte mussten brennen, die Menschen in ihren Unterständen begraben werden. Und dann musste der Feind einrücken, siegreich, das heißt: 231

W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, 2001, S. 365. In der Vorstellung des Buches von J. R. Fleming: `Fixing the Sky´, New York, 2010, verweist der SPIEGEL 9/2011, S.130, auf einen bezeichnenden Vorgang: „Im Vietnam-Krieg verfeuerten amerikanische Bomber.. große Ladungen Silberjodid über dem geteilten asiatischen Land. Ziel der hochgeheimen `Operation Popeye´: Der vom kommunistischen Norden als Nachschubweg genutzte Ho-Chi-Minh-Pfad sollte durch starke Regenfälle unter Wasser gesetzt werden. Als diese Praxis schließlich enttarnt wurde, reagierte die Friedensbewegung mit Sympathie. In Anlehnung an die berühmte Parole dichteten kreative Gewaltgegner: `Mach Matsch, nicht Krieg´“.

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vom Krieg verroht, phantasielos, beutegierig, mit der Frechheit des uniformierten, freigelassenen Rowdys. Und das Volk unter dem Stiefel des Siegers musste plötzlich deutlich spüren, wie das tat und was das war - ja: so trat ein genormter Stiefel…232 Clemens malt die Folgen noch drastischer aus und, obwohl Lorenz dem Einhalt gebieten will, formuliert kurz darauf abschließend sein Fazit: „Wäre das Schicksal so gnadenlos mit unserm Volk verfahren… ja wären sie durch Hunger, Bomben und jede Angst und Not und Verzweiflung gegangen, - ich sage dir, sie hätten auf einen Schlag gewusst, was die Norm gewesen ist, der Durchschnittsmensch erkennt nun einmal eine Ideologie erst an ihren Folgen.“233 Ein denkwürdiger Befund stellt sich ein: Einerseits entspricht die fiktive Beschreibung eines Weltkrieges durch Clemens der brutalen Realität des Zweiten Weltkrieges und seiner unmittelbaren Konsequenzen, andererseits lässt Andres seinen `unwirklichen´ stillen, Land und Leute erhaltenden Nichtkrieg literarische Wirklichkeit werden, und verbannt damit den realen Krieg in das Schattenreich des Konjunktivs. Dreht man nun dieses Verhältnis im Hinblick auf die Realität um, so ergibt sich eine interessante Interpretation: „Die realen Deutschen haben dann tatsächlich das erlebt, was die Romanfigur Clemens als eine Möglichkeit zu allerdings äußerst schmerzhaften Lernprozessen imaginiert, verhalten sich aber ganz so, als habe es lediglich stark geregnet, als käme der üble Geruch des Krieges aus irgendeiner überdimensionierten Sprühdose und müsse lediglich überdeckt werden, bis er sich von allein verzieht. In dieser Übertragung wäre der `silent war´ Ausdruck einer inneren Distanzierung der Überlebenden von den Kriegsfolgen, die sie nicht mit ihren eigenen Taten in Beziehung setzen. Insbesondere der Gestank… ist im Text deutlich als Überbleibsel der Diktatur gekennzeichnet, weist

232 233

Die Sintflut (2007), S. 767; vgl. etwas ausfürlicher: Der graue Regenbogen, S, 105f. Die Sintflut (2007), S. 769; vgl. Der graue Regenbogen, S. 108.

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aber zugleich auf den Krieg selbst zurück.“234 Die Stadtbewohner unter dem grauen Regenbogen installieren, wenn sie über ausreichende Mittel verfügen, `Foetex´- Desodorierungsgeräte in ihren Häusern und Wohnungen. Als Lorenz wieder in Berlin wohnt, lässt er sich von Charis ein solches Gerät erklären: „Foetor, der Gestank“, murmelte Lorenz, „bis wohin es doch eine große Sprache bringen kann!“ Er war von den aufdringlichen Geruchsschwaden halb betäubt. „Das Ding dürfte eigentlich nur Normex heißen, aber wer will schon an die wahren Zusammenhänge erinnert sein! Moschus und Jasmin“, fuhr er fort, „und doch nicht: zuviel Jasmin! Bah… Wenn unter Wohlgerüchen die Wahrheit, die der Duft verbergen soll, durchbricht…“ Er sei über dem Studium des Game-Gas-Krieges kurz in die Geruchspsychologie abgeirrt, „eine hintergründige Sache“, er blickte Charis kopfschüttelnd an, „sofern das Game-Gas innere Organe nicht krankhaft angriff, sind Kinder von dem Geruch kaum molestiert worden, den kleinen Kindern riecht offenbar noch alles gut, wie den Tieren, bis sie vom Baum der Unterscheidung gekostet haben… Und wer am feinsten unterscheidet, leidet am meisten. Also traf dieser Krieg der Naturwissenschaftler doch zuerst die feiner entwickelten Menschen und nicht die Genormten…“235 Als Generalbass dieses dritten Romans kann die Enttäuschung all der Hoffnungen gelten, die Andres in eine ethisch fundierte Erneuerung der Verhältnisse und des Verhaltens Nach der Sintflut - wie der Roman ursprünglich heißen sollte - gesetzt hatte. Mit den Worten von Emil Clemens: „Neue Kleider, neue Moden, neue Gesetze, neue Entdeckungen, neue Waffen, neue Schlager, neue Bücher, neue Gesichter. Nur eins wird nicht mehr neu: wir - wir!“236 234

Gesine Schröder: Mythische Dichtung in der atomaren Situation, in: Mitteilungen der Stefan-Andres-Gesellschaft 2004, S. 3 – 18, hier S. 6. 235 Der graue Regenbogen, S. 218f.; vgl. Die Sintflut (2007), S. 798, allerdings nur bis „durchbricht“. 236 Ebd., S. 203; vgl. Die Sintflut (2007), S. 789.

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Lorenz ist nach dem Tod Helens und seines Kindes aus Amerika zurück und liegt mit Fieberphantasien im Haus am See. Nachdem er genesen ist, streift er durch das Haus und findet zu seinem Entsetzen Schmitz im Bett des verstorbenen Max Gutmann. Emil Clemens erzählt ihm, dass eines Tages Schmitz vor der Tür gestanden und seinen Anspruch auf das Haus angemeldet hätte, das ja in den Besitz von Lorenz gelangt sei. Der Jurist Kruse taucht auf und erläutert das rechtliche Problem: Der ehemalige Waffenminister sei in der Lage, Lorenz unter Druck zu setzen, denn Schmitz könne ohne weiteres behaupten, er sei in die Schweiz gekommen, um mithilfe diverser Kontakte auf den Sturz des Normers hin zu wirken, sei aber durch seine Entführung daran gehindert und in eine Irrenanstalt überführt worden; dort hätte er seelischen Schaden genommen, wie ärztliche Gutachten bezeugen würden; der Urheber oder Mitverursacher seine Demütigung und seines Leides aber sei niemand anderer als - so leid es ihm täte - sein Sohn. Lorenz hätte also, wollte er nicht auf die Forderung von Schmitz eingehen, als deutscher Staatsbürger eine langjährige Freiheitsstrafe zu gewärtigen. Kruse deutet nun an, dass man sich des Problems auch in anderer, Kruse wohlvertrauter Weise entledigen könne, was Lorenz entschieden ablehnt. Auch Madame van der Finken rät zum Nachgeben. Lorenz entschließt sich notgedrungen, seinem Vater, mit dem er kein Wort wechselt, Haus und Hausrat, außer seinen Büchern, zu überlassen, und übersiedelt mit Clemens und Julie, der Hausangestellten, und gleichfalls Claire, nach Berlin. Dort nehmen sie Wohnung in dem großen Haus, das der alte Gutmann damals an seinen Geschäftspartner Bröger günstig verkauft hatte, und in dem oben bereits Charis und Natters leben. Bröger berichtet seinen neuen Mietern, dass Natters im Gefängnis säße, verurteilt zu drei Monaten Haft. Wie es dazu kam? Der zum Generalmajor beförderte Wittke, der mit Gabriel Clemens und Omega auch am Sturz des Tyrannen beteiligt gewesen war, wollte für die Opfer in den politischen Erziehungslagern der Norm ein Mahnmal errichten. Auf der Spitze eines Obelisken sollte eine Bronzescheibe zu stehen

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kommen, die als Kopie in Gestalt einer Plakette an den Hinterbliebenen der Opfer zu überreichen vorgesehen war. Wittke lenkte die Aufmerksamkeit auf den Künstler Natters, der allerdings verlangte, den Auftrag im geheimen Wettbewerb zu vergeben. Zwar gewann Natters den Preis, doch wurde von mancher Seite Protektion unterstellt; außerdem sei er doch Schwiegersohn des Attentäters Clemens. Verzwickt wurde die Sache, als Natters, der seinen eigenen Namen führte, einer neu eingerichteten Dienststelle seinen Pass vorlegen musste, der ihm in Lager, als er gegen Kasse losgekauft wurde, auf den Namen des ermordeten Josef Krain ausgestellt worden war; wer die Behörde darauf hingewiesen hat, blieb im Dunkeln. Jedenfalls musste Natters sich einem Verhör unterziehen, dessen inquisitorischer Charakter ihn derart reizte, dass er den Beamten und zwei Polizisten krankenhausreif schlug. Emil Clemens beschließt daraufhin, den Völkerrechtler Professor Dratthausen aufzusuchen, einen alten Bekannten, der die Bewohner der Arche in Città morta besucht hatte, die Norm ablehnte, mit Moosthaler sich direkt anlegte und der nun von den Siegermächten eingesetzt war als Leiter der vorläufigen `Pro-Regierung´; nach seiner Rückkehr zitiert er Dratthausen, der meinte, dass er sich lieber zu Natters in die Zelle lege als der Gerechtigkeit in die Arme zu fallen. Stellt euch das vor! Und die Begründung? Gebt gut acht: die Genormten! Ja, ihr habt richtig gehört. Die Genormten belauerten, so führte Dratthausen aus, die Pro-Regierung auf Schritt und Tritt, um sie auf parteiischer Handlungsweise zu ertappen. Ich fragte darauf: wieso? Gibt es denn noch Genormte? Da hörte ich Dratthausen lachen. Und als ich ihm sagte, wenn es sie noch gebe, das heißt als politischen Faktor, mit dem die Pro-Regierung zu rechnen habe, dann sei das eine schwere Schuld eben dieser Regierung. Und er: o nein! Wenn es nach ihm ginge, käme jeder ins Zuchthaus, der durch Wort oder Schrift, direkt oder indirekt die Norm verteidige oder gar unterirdisch am Leben erhalte. Indes - die Sieger, das wisse mittlerweile jedes Kind, seien uneins, und die Genormten seien zur Zeit die einzige noch intakte

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politische Gruppe, die sich in kürzester Zeit reorganisieren und unter irgendeinem neuen Namen einsetzen lasse und dann der Griff am Schwert unseres neuen Kriegspotentials sei. So sabbelte er weiter, ich sage: sabbeln, weil er das vorbrachte, als spräche er von Kartoffeleinfuhr.237 Charis und Lorenz besuchen Natters im Gefängnis, der sie bittet, von weiteren Bittgängen abzusehen und Dratthausen als einen armen Kerl im Dienst fremder Mächte und Zwänge bezeichnet. Danach, endlich einmal allein zu zweit, öffnet sich Charis verzweifelt gegenüber Lorenz: Weil das Apostolikum dir keinen Halt mehr bot, wolltest du dir weh tun, wolltest du im allem Gottes Willen erfüllen. Und du - ließest mich sitzen. Gingst zu Madame, entdecktest Helen, brachtest Natters und machtest mich zu seiner Krankenschwester. Ja gewiss, ich selber wollte es so. Aber wenn du wie ein natürlicher, nicht von der Theologie verhunzter Mann gehandelt hättest - ah, Lorenz -.238 Und im weiteren Verlauf des Gesprächs erklärt Charis ihre Beziehung zu Natters: „Aber als er abreiste, du weißt, als Clemens und ich in Rom im Gefängnis saßen, als er zu Omega vorstoßen wollte und gleich verhaftet wurde und ins Lager kam - da war ich gekränkt… Ich gebe zu: Es war… ein Akt des Heroismus! Zugleich aber war es Torheit. Ein Mann, der dem Normer die Zähne eingehauen hat, muß wissen, was ihn erwartet, wenn er in seinen Machtbereich einreist… Er war also bereit, diese Leiden für mich auf sich zu nehmen. Durfte er das - ohne meine Einwilligung? Siehst du… Mithin war das Ganze - ein Akt raffiniertester Erpressung.“ „Aber Charis…, wenn eine Frau solche Leiden freiwillig auf sich genommen hätte, um meine Liebe - ich möchte sagen: zu verdienen, ich müßte ihre Liebe erwidern!“ Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Du wirst es nie begreifen - ich meine, was Liebe ist, Liebe zwischen Mann und Frau… Weil sich eine Frau dir opfert, darum 237 238

Die Sintflut (2007), S. 786f.; vgl. Der graue Regenbogen, S. 199f. Ebd., S. 799; vgl. Der graue Regenbogen, S. 221.

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könntest du - das ist ja Chorherrenerotik, nichts sonst!... Nie, nie spürte ich bei ihm, daß ich eine Frau bin. Er ist so ernst, so streng und tief in seinem Werk - und so gut, stell´ dir vor: zu mir gut! Wie soll ich das aushalten! Ich suche ständig nach dunklen Stellen bei ihm, nur um meine Abneigung – nein, meine unaufhörliche Flucht vor ihm zu rechtfertigen.“239 Immer drängender, verzweifelter bekennt Charis in der Folge ihre Liebe zu Lorenz und verlangt von ihm, mit ihr abzureisen; er, der erklärt, sie sei die Versuchung seines Lebens und er wage es nicht, soviel Glück anzunehmen, nein: Er dürfe nicht, selbst wenn Natters nicht wäre, denn es wäre Abfall von seiner Berufung, äußert schließlich, dass sie ihn nicht unschuldig sein lasse, er könne nicht seinen Freund Natters hintergehen und müsse zugleich in seinem immer wieder angefragten Glauben versagen. Natters selbst, als er schließlich - aus dem Gefängnis entlassen, einsam im Zoo Tiere zeichnend, in die Psychiatrie eingewiesen und kurz darauf `befreit´ - zurückkehrt, belauscht im Keller des Hauses die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Charis und Lorenz. Andres erzählt in seiner Romantrilogie also auch eine Geschichte von der Liebe in Zeiten der Sintflut, von erpresster und unerfüllter, von verletzter Liebe und aus Liebe verweigerter Liebe, von Liebespflicht und Liebe, die unter Zwangverhältnissen nicht gedeihen kann und kein Happy End findet. Die vielgeliebte Charis - auch Melk-Berry hatte ihr einen Antrag gemacht - bleibt am Ende einsam. Während Andres ganze Kapitel und Passagen im dritten Roman gestrichen hat, wird die Geschichte der Liebe zwar gekürzt erzählt, doch in ihrem Kern nicht angetastet. Dies sei hervorgehoben, weil es bislang kaum irgendwo betont wurde. Hinzu kommt, dass sich gleichsam tastend eine neue Liebesbeziehung anzubahnen scheint: Lorenz lernt Edith kennen, die Tochter von Wittke, die einst Max Gutmann denunzierte und nun, eine junge Frau, unter einem quälenden Schuldgefühl leidet. Sie wagt nicht, 239

Ebd., S. 803; vgl. Der graue Regenbogen, S. 228f.

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Lorenz um Vergebung zu bitten, er hingegen kann ihr verzeihen und empfindet in Gesprächen wachsende Zuneigung zu dieser suchenden und kritisch die Oberflächlichkeiten der Gegenwart hinterfragenden jungen Frau. Im Schaufenster einer Buchhandlung erblickt Lorenz mehrere Dutzend Exemplare eines neuen Buches: „Ich sah ihn nackt. Der Leibarzt des Normers erzählt… Und er entdeckte Melk-Berrys Namen.“240 Er erwirbt das Buch, verschlingt es sofort und ist entsetzt: Denn Melk-Berry beschreibt und rechtfertigt nicht allein seine Tätigkeit im Dienst des Diktators, sondern stilisiert sowohl Lorenz Gutmann als auch Natters zu Helden des Widerstands. Herausgegeben wurde das Buch im neuen Sibyllenverlag, den Madame van der Finken mit dem Buchhändler Bayer ins Leben gerufen hatte. Hatte der doch so intelligente MelkBerry nicht bedacht, „dass eine Emigrantenlüge tausend genormte Scheußlichkeiten entwirklicht? In jedem Kapitel, auf jeder Seite Entstellungen des wirklichen Geschehens… Er hat keinen ausgelassen, der etwas hergab… Die Getreuen des Normers werden spätestens in einem Jahr ein Buch vorlegen, in dem der Leibarzt als Märchenerzähler dasteht. Und dann?“241 Lorenz beschließt, das Buch zu besprechen und lächerlich zu machen. Der veröffentlichte Artikel führt dazu, dass die kleine Feier, mit der Natters Rückkehr begossen werden soll, durch das Auftauchen von Madame und Bayer eine völlig andere Wendung erhält. Claire van der Finken beschwert sich, dass Lorenz ihrem Verlag schade. Es wird durch Bayer deutlich, dass der Verlag durchaus `neutral´ Bücher der einen und der anderen Orientierung herauszubringen beabsichtige. So habe man die Absicht, die Memoiren des ehemaligen Waffenministers Schmitz zu veröffentlichen. Und Lorenz wird klar, dass es von ihm abhinge, welche Version Schmitz über ihn abgebe: Wenn Schmitz, der sich ja darstelle als Mann, der in der Schweiz an dem Sturz der Tyrannei gearbeitet hätte, die erzwungene Übernahme des Hauses am 240 241

Ebd., S. 809; vgl. Der graue Regenbogen, S. 238. Ebd., S. 810/811; vgl. Der graue Regenbogen, S. 240 – 242.

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See als Geschenk und als Wiedervereinigung mit seinem leiblichen Sohn betrachten und der Sohn dieser Version zustimmen würde, dann ginge die Sache für Lorenz glimpflich aus. Anderenfalls erwäge Schmitz ausführlich darzulegen, wie seine hehre Friedensmission durch die von Lorenz inszenierte Entführung verhindert worden sei und welche Demütigungen er in der Irrenanstalt habe erleiden müssen. Den Höhepunkt erreicht die Auseinandersetzung, als Natters spöttisch seine Memoiren anbietet und Bayer daraufhin zynisch erklärt, dass man wohl kaum von zwei Ohrfeigen literarisch leben könne und wohl unter Gehirnerweichung leiden müsse, wenn man sich dann auch noch in die Höhle des Löwen begebe, woraufhin nun Charis Bayer nachdrücklichst auffordert, das Haus zu verlassen, sonst werde ihm von einer Frau eine Ohrfeige verabreicht. Zu all diesen Erfahrungen und Enttäuschungen gesellt sich eine weitere, höchst bedrohliche Entwicklung. Edith berichtet Lorenz davon, dass ein Professor bei ihrem Vater zu Besuch gewesen sei: Dieser Professor - sein Team, so sagte Vater, bestehe nicht nur aus Wissenschaftlern, Technikern, sondern ebenso aus Politikern und Generälen - also der hat jetzt Strahlen zu verwalten - Strahlen, die keiner sieht, die aber plötzlich da sind, wirklich: Götterpfeile! Ich weiß nicht, woher er sie hat, darüber schweigt Vater, aber ich verstünde es ja doch nicht. Strahlen also, die man gegen ein Ziel irgendwo in ein paar tausend Kilometer Entfernung richten kann - und im Nu entsteht dort Hitze, Hochofen-, nein Höllenhitze, und was brennbar und explosiv ist, brennt, geht in die Luft. Aber auch ohne den Zündstoff: Die Strahlen sengen alles Organische weg: die Ähre auf dem Halm, das Vieh auf der Weide, die Kinder im Sandkasten - alles - unterschiedslos.242 Und etwas später: Die Gefahr für den Fortbestand der Welt bestehe darin,

242

Der graue Regenbogen, S. 291f; vgl. Die Sintflut (2007), S. 830.

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daß jene Vernichtungsapparaturen, die Waffen zu nennen schon ein Betrug war, mit ihren Wirkungen so unmerklich einsetzen konnten wie der Pervertierungsimpuls einer Zelle irgendwo im Rückenmark. Die Pfeile aus dem schwarzen Köcher der Todeswissenschaften waren unsichtbar, unmerklich im Aufprall, mannigfaltig in ihrer Art und unbedingt zuverlässig, was ihre Zielsetzung anging. Kein Donner, keine Erderschütterung, kein Feuerzeichen, kein Motorengebrumm in der Luft kündeten das Kommen der vernichterischen Kräfte an.243 Es dürfte klar sein, dass Andres an diesen Stellen von der atomaren Situation handelt, und zwar im umfassenden Sinn, denn nicht die mit Atombomben verbundenen Sprengwirkungen werden betont, sondern die noch unheimlicheren lautlosen Wirkungen der Atomstrahlen244 assoziiert werden kann dabei auch eine Reaktorkatastrophe wie in Harrisburg oder in Tschernobyl, aber auch die heftige Diskussion über die Menschen auslöschende, aber Häuser und Fabriken verschonende Wirkung der Neutronenbombe: Beide Vorgänge hat Andres nicht mehr erlebt, aber doch schon erahnt, veranlasst durch die dem Tod geweihten, dahinsiechenden Opfer der andauernden Strahlenwirkung nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. „Die atomare Situation“, die Reflexionen am Abgrund über „Endzeit und Zeitenende“, die Günther Anders zum Gegenstand seiner `Philosophie bei offener Tür´ gemacht hat, werden von Andres in seinem Roman Der Mann im Fisch fortgeführt. Noch einmal kommt es zu einer Begegnung mit Kruse, der Lorenz in das `Labyrinth´ - in dem nun neben der Pro-Regierung auch die amerikanische Siegermacht residiert - führen will, um ihn mit Brixon, einem leitenden Vertreter der USA bekannt zu machen. In diesem Zusammenhang hat Andres der ursprünglichen Romanhandlung eine deutliche, über 100 Seiten umfassende, Abkürzung verpasst: Gerade im Labyrinth 243

Ebd., S. 442; gestrichen in Die Sintflut (2007). Vgl. dazu auch Schröder, Gesine: Mythische Dichtung in der atomaren Situation, S. 8; s. Anmerkung 234.

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eingetroffen, wird Lorenz mitgeteilt, dass Charis sich beim Löten Verbrennungen zugezogen hätte und im Krankenhaus läge. Sofort ins Krankenhaus geeilt, erfährt Lorenz, dass sich Charis, mit Ausnahme ihres Mannes, jeden Besuch verbeten habe. Wieder `zuhause´, berichtet ihm Emil Clemens empört, dass Bröger ihnen die Wohnung kündige, nur weil er den Einflüsterungen seiner Hauswirtschafterin und Auserwählten unterliege. „Schaff deine und meine Sachen in Natters Wohnung. Hier oben verschanzen wir uns solange, bis Charis zurückkehrt. Dann schicken wir die beiden aufs Kastell nach Città morta.“245 Es bleibt offen, wie es mit Charis in ihrer Einsamkeit mit Natters weitergeht, aber deutlich ist, wie Clemens Lorenz kurz darauf mitteilt, dass sie Lorenz nicht mehr begegnen wolle. Und nimmt man alles zusammen, was Clemens und Lorenz in den langen kurzen drei Wochen in Berlin widerfahren ist - hinzu kommt noch, dass Claire van der Finken vertraglich sich gezwungen sieht, die Memoiren des Herrn Schmitz mit den Lorenz belastenden Passagen in absehbarer Zeit zu veröffentlichen -, dann wird nachvollziehbar, dass auch sie das Weite, eine neue kleine Arche, die dritte, suchen werden. Clemens meint, dass Lorenz dem Schmitzschen Machwerk zuvorkommen und entgegentreten müsse: Du musst irgendwohin verschwinden - auf welche Flucht du mich hoffentlich mitnimmst? - Und in diesem Irgendwo - vielleicht ist es aus Meer, Fels und Olivenbäumen gemacht und liegt in der Ägäis - schreibst du, bis du alles abgeladen hast - eine stattliche Fuhre Mist, oh, das könnte vielleicht der Titel sein.246 Lorenz sagt zwar weder Ja noch Nein zu diesem Fluchtmotiv Clemens´, erklärt aber doch, dass Clemens recht habe: „Wir machen uns fort. Ich hatte einen Traum diese Nacht - der klärte mich auf - mit einfachem Nachdenken habe ich es nicht geschafft, meine Lage richtig zu erken245 246

Die Sintflut (2007), S. 863. Ebd. S. 872.

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nen.“247 Und er erzählt seinen Traum vom grauen Regenbogen. Da stand also dieser Regenbogen, mit einem Teil auf der Erde, mit dem andern auf dem Meer. Und er leuchtet in allen seinen Farben über dem dunklen Land. Er allein hat Farben; Erde und Meer sind arm, grau, leblos. Da - ohne Übergang! - springen die Farben aus dem Regenbogen auf Erde und Meer… Eine unendliche Ebene in zartesten Frühlingsfarben, ein Meer aus geschmolzenen Edelsteinen, ein zartes, ins Unendliche lockendes Himmelsblau, und inmitten der Regenbogen: schwarz an seinem äußeren und inneren Rand, dazwischen grau. Das Schwarz ist ohne Tiefe und Glanz, nicht nächtig, sondern rußig, dumm wie Qualm, und das Grau nur ein schwach gewordenes Schwarz. Lorenz hatte den Ortswechsel der Farben mit Schrecken wahrgenommen. Vorher der farbige Bogen über der dunklen Welt und dem wüsten Meer: Da hatte er zum Regenbogen emporgeschaut, hatte wie ein kleines Kind die Hände gefaltet und nur immerzu gerufen, voll einer seligen Erwartung, für die alles möglich war: „Abba, Vater! Abba, Vater!“ Und dann, ohne Übergang, als hätte sich sein Gebet erfüllt und das aller Menschen - denn er wusste, daß er gemeinsam mit allen Menschen dasselbe tat, sagte, wünschte und empfand -, da waren Erde und Himmel hell und voller Farben. Er blickte genießerisch hin und her, jauchzte, bis er einen schneidenden Schmerz spürte und in die Höhe sprang. Erst jetzt entdeckte er: Unter dem Frühlingsflor, auf dem er kniete, blitzte eine ungeheure Sense - oder waren es viele? - in einer Kreisbewegung umher. Das Sensenmesser bewegte sich schnell und mit der Regelmäßigkeit einer Mähmaschine -, und als er in der Vernunft des Traumes entsetzt und hilfesuchend zum Himmel aufschaute, entdeckte er, dass der Regenbogen schwarz geworden war und sich ebenfalls in einer Kreisbewegung befand; und der Träumende wußte: Der Regenbogen hielt das waagerecht liegende Sensenrad in Bewegung. Himmel, Erde und Meer leuchteten in den ihnen verliehenen Farben genau wie zuvor, auch durch 247

Ebd., S. 869f.; vgl. Der graue Regenbogen, S. 420f.

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das rasend sich um seine Achse drehende Rad des Regenbogens konnte er die Erde sehen wie durch einen eisernen Rahmen: blaue Berge und eine unabsehbare grüne, von Blumen überglänzte Ebene. Aber wie sie auch glänzten, er wußte mit einer entsetzlichen Gewißheit, daß diese Blumen und Büsche alle nur noch zum Schein da waren: Die schwarzen Schneidemesser hatten sie längst von ihren Wurzeln getrennt, der Regenbogen schwebte sich drehend immer weiter ins Land hinein, und das waagerechte Rad mit den Schneidemessern glitt genauso regelmäßig weiter: Nicht nur Blumen und Büsche, auch Bäume und Wälder, die Hügel sogar würden abgeschnitten werden, die ganze Erde würde - und es ging schnell - von den waagerechten, kaum sichtbaren Blitzen des großen Sensenrades gemäht werden, wie ein rasierter, toter Kopf würde die Erde durch den Himmel treiben.248

In der ersten Fassung von 1959 steht dieser Traum nicht am Ende, sondern ihm gehen voraus und folgen noch einige Kapitel, die um einiges konkreter auf einem neuen `Aufbruch aus dem Ende´ hinweisen. Da wird der Besuch im Labyrinth bei Brixon mit dessen Thesen über die `Massologie´, den neuen alten Massenmenschen ausführlich und die fatale familiäre Situation der Brixons geschildert, die schließlich zum Selbstmord von Mann, Frau und Kind führt. Möglicherweise hat Andres, nachdem er Deutschland den Rücken gekehrt hatte, in Rom, aus der Distanz, diese Thesen nicht mehr aufrechterhalten wollen und die Romanhandlung nicht noch mit dem Selbstmord belasten wollen. Weiterhin wird berichtet, dass Charis und Natters bereits nach Città morta abgereist seien; außerdem von einem abendlichen Treffen, zu dem sich einige ehemalige Freunde einfinden, unter anderem Dratthausen, der mitteilt, dass die Memoiren des Herrn Schmitz mit dem für Lorenz nicht ungefährlichen Ausführungen erscheinen werden und der Lorenz davor warnt, eine Gegenschrift zu verfassen: „Ja, wenn es nur einen 248

Der graue Regenbogen, S. 420f.; vgl. Die Sintflut (2007), S. 869.

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Schmitz gäbe! Aber Sie wissen doch: sie sind Legion! Und Sie - Sie stehen dann, wenn Sie nicht Ruhe geben, allein - eines Tages - vor Gericht! ... Nein, nein, gehen Sie in Ihr Haus am See und schweigen Sie! ... Glauben Sie mir, Gutmann, die Schmitze sind stärker als Sie, weil jene, die hinter ihnen stehen, der Schmitze dringender bedürfen als der Gutmänner!“249 Dass Lorenz sich nicht dazu verstehen kann, in das Haus zu ziehen, in dem sein leiblicher Vater wohnt, und zu schweigen, wird ein anderer Aufbruch und ein `Andres´ Ziel ins Auge gefasst: Schluppmann, der Chauffeur von Madame, hat ihnen erzählt von seinen Angehörigen, die auf dem Lande am Berghang, umgeben von Wald und Flur, eine Farm betreiben, die ein sich selbst versorgendes Leben ermöglicht und er hat ausgemalt, welche Produkte dort erzeugt und gezüchtet werden könnten und in welcher Weise in einer gut ausgestatteten Berghöhle für ein Überleben auch unter den Bedingungen eines Strahlenkrieges gesorgt wäre. Während Claire van der Finken und Ediths Vater in Berlin jedenfalls vorerst verbleiben, machen sich Clemens, Lorenz und Edith mit Schluppmann und mit ihren Siebensachen in einem Lastwagen auf den Weg in die Wälder und Berge, zur neuen Arche, „dem künftigen Klosterdorf“250: „Wald, Bach, warme Stuben, einfache Möbel, selbsterzeugtes Licht, selbstgebackenes Brot, die Wände aus Büchern, die langen Abende, die in die richtige Entfernung gerückte Welt, welche man aber nicht aus dem Auge verliert, diese gefährliche und gefährdete Welt…Nein, man geht nicht aus der Welt fort, man tut nur einen Schritt zurück - tiefer in die geistige und wirtschaftliche Unabhängigkeit, in die Eigenständigkeit.“251 Edith und Lorenz, das lässt sich immerhin ahnen, werden auf eine Lebensgemeinschaft zusteuern. Dieser Rückzug in die Wälder verweist auf zwei bedeutende Gestalten, deren Leben und Wirken Andres hoch achtete: Auf Franz von Assisi und Henri David Thoreau. Beide gehörten zu den Männern und Frauen 249

Ebd., S. 473. Ebd., S. 439. 251 Ebd., S. 438. 250

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„ohne jede geistige Verstümmelung, ohne jede Normung durch ein System, also das genaue Gegenteil des ideologischen, zum Werkzeug degradierten Menschen.“252 Beide, die sich aus dem Trubel der Welt und dem Jahrmarkt der Eitelkeiten eine Zeitlang zurückzogen, haben eine weitgehende Wirkung entfaltet. Um nur auf Thoreau zu weisen: Er ging 1845 in die Wälder Massachusetts und schrieb nach einigen Jahren seine Erfahrungen in Walden, or: Life in the Woods nieder - erschienen 1854 -, die Ergebnisse eines `Aussteigers´, der durch sein Leben im Verzicht auf Erfolg, Luxus, Geselligkeit und Bequemlichkeit einen geschärften Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu werfen in der Lage war und nach seiner Rückkehr in die Gesellschaft zum Kampf gegen die Sklaverei aufrief, Steuern verweigerte, als die USA zum Krieg gegen Mexiko ansetzte, und durch seinen zivilen Ungehorsam ins Gefängnis verbracht wurde. Seine Erkenntnisse und Vorstellungen beeinflussten die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und Ghandis Kampf gegen den Kolonialismus. Dies notiert kann nun aber durchaus den Rückschluss erlauben, dass der Aufbruch zum Leben auf dem Lande, den Andres an das Ende seiner großen Trilogie setzt, kein Abbruch sein muss, sondern durchaus als eine Möglichkeit zur Veränderung der menschlichen Verhältnisse, des Verhaltens und des Denkens auftauchen und wirken kann.

252

Stefan Andres: Bild und Maßstab, in: Andres: Der Dichter in dieser Zeit, S. 188; vgl. dazu auch Michael Braun, Stefan Andres, S. 109f.

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IV. 5. Die Noah-Legenden Auch wenn wie erwähnt die Noah-Legenden in der gekürzten Fassung der Sintflut `untergegangen´ sind, so bilden sie in der ursprünglichen Trilogie die Mitte des Geschehens; denn sie erzählen parallel zur Romanhandlung den mythischen Hinter- oder besser: Urgrund bis heute andauernder Gewaltherrschaft und die Suche nach anderen und neuen Verhältnissen, wobei am Ende Noahs Erkenntnis in Andres Worten nüchtern lautet: „Es ist schwer, aus einem Ende zu stammen, und doch Anfang zu sein“, ein Wort, das Andres nicht zufällig als Motto an den Anfang der neuen Sintflut-Ausgabe gesetzt hat. Andres lässt Emil Clemens seine Legenden - wie `aus der Tiefe´ auftauchend - als ungleichzeitigen Kommentar zum Zeitgeschehen verfassen und erfüllt die Geschichte von Noah, der Arche und der Sintflut mit geradezu überbordendem Einfallsreichtum. Zugleich haben die Legenden, von denen fünf im ersten Band, drei im zweiten und sieben im dritten versammelt sind, die Funktion, Ruheinseln im bewegten Strom der Handlung zu schaffen, die in Noah und seiner Verbindung zum `freundlichen Herrn über den Wolken´ aufscheinen: Der Name Noah kann vermutlich auch soviel wie Tröster oder Beruhiger bedeuten. Der biblische Mythos wird von Andres in den Rahmen gesellschaftlicher und sozialer Ereignisse noch vor der Flut gestellt: Der `Kalendermann´ Noah, begabt mit dem Dritten Auge, das zum nicht namentlich fassbaren `Freundlichen über den Wolken´ geöffnet ist, wird mit seiner Familie aus der Heimat verbannt und sucht Zuflucht zunächst im Reich Tolüls. Dieser, ein ehemaliger Ölmüller, lebt - wie sein später im Weltmaßstab mit modernsten Mitteln agierender Nachfolger Moosthaler - allein seiner mörderischen Herrschaft und zwingt seine Untertanen, das Lob der Ölmühle zu singen: Preis dem göttlichen Ölmüller, Preis seinen mahlenden Steinen.

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Hirn, Mark und Blut Aus den Gebeinen der Widersacher Sind sein Salböl! Preis Tolül, dem Gotte von Chamdech! Und als Noah den Tyrannen erblickt, sieht er: Tolül der Schreckliche saß am Kopfende eines langen Saales auf einem Thron aus lebendigen, nackten Menschenleibern. Sie waren gefesselt und lagen wie Ziegelsteine kreuzweis übereinander. Zwischen den Beinen des Furchtbaren blickte ein Kopf heraus, wie überall Köpfe und Füße hervorstarrten. Dieser Thron bestand aus den zur Ölmühle bestimmten Opfern; drei Tage mussten sie so daliegen, dann wurde der Thron erneuert, und immer gab es einen großen Vorrat an solchen leise seufzenden Fleischpolstern.253 Noah wagt es, Tolül zu widersprechen und ihm Untergang zu prophezeien, woraufhin der Schreckliche Noah die Zähne heraus brechen lässt, so dass Noah sich nur lispelnd schwer verständlich machen kann. Mit dem Auftrag, Tribut für das Wasser des Flusses Tara einzutreiben, kommt Noah mit seiner Familie in die Stadt Ur, die noch im Einflussbereich Tolüls liegt, bittet aber um Asyl und wird alsbald Bürger der Stadt. Noah sieht sich umgeben vom Verfall der Sitten und ver-schafft sich durch seine Ermahnungen keine Freunde. Die Zeichen der Zeit, die er aufgrund seiner Seherkraft erkennt und die auf eine Invasion Tolüls hinweisen und eine Flutkatastrophe ankündigen, werden nicht ernst genommen. Die Arche entsteht, begleitet vom Spott der Ur-Bewohner; nachdem der große Regen Städte und Länder überschwemmt hat, kommt es in der Arche zu Auseinandersetzungen zwischen Noah und Sem, denn Sem ist nicht ein Sohn Noahs, sondern Ergebnis einer von Tolül erzwungenen Beziehung mit Noahs Frau Tali. Die Konflikte setzen sich fort und die Gemeinschaft, die Noah nach Flut und Landung der Arche grün253

Das Tier aus der Tiefe, S. 436 - auch das Ölmüller-Lied.

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det, zerfällt. Habgier und Missgunst erheben erneut ihre Häupter und lassen keinen friedlichen Austausch zu, die Grüppchen suchen ihr Heil in der Trennung und siedeln sich in verschiedenen Gegenden an. Die Menschen selbst in Zeiten nach den Fluten scheinen keine Lehren ziehen und annehmen zu wollen, scheinen nur nach dem zu verlangen, was sie unter ihre Füße bekommen können anstatt sich - Kopf hoch - von dem leiten zu lassen, was ihnen freundlicherweise vom `Freundlichen über den Wolken´ zu aller Nutz und Frommen anheim gegeben wird. Mit dem Bild des lächend-resignierenden Noah, der sich ein Floß bauen ließ und Abschied nimmt, um allein erneut das Weite zu suchen, endet der Roman: Er „setzte sich auf das Floß, zur Rechten ein Fladenbrot und zur Linken einen Krug mit dem Trank des Zurücktuns…, winkte.. ihnen noch einmal zu, lächelte und sagte ein Wort, das sie wegen seines Lispelns nicht verstanden.“254

V Schlussbemerkung Gewiss ist Die Sintflut keine explizite, alle Aspekte umfassende Analyse menschenverachtender Diktatur, die im 20. Jahrhundert durch Deutschland in Europa materielle und geistige Gewalt gewann. Doch bleibt die Trilogie eine narrative zeitkritische Anatomie totalitärer Herrschaft, die aus dem Unter- und Hintergrund biblisch-legendärer Überlieferung erwächst und daher ihre überzeitliche Gewichtung erhält. Gerade die Verbindung von Zeitgeschichte, geronnener Menschheitserfahrung, biblischer Glaubenserkenntnis und eigener Lebensgeschichte, verbunden mit religiös-philosophischer Reflexion und Phantasie erlaubte es Stefan Andres, das gewaltige Panorama der Sintflut mit ihrer Vielzahl unterschiedlichster Personen, Ereignissen, Verwicklungen, Träumen und Legenden zu entwerfen. So wird man ohne Übertreibung diese Romantrilogie als ein bedeutendes Schriftwerk der deutschen Literatur des 20. 254

Der graue Regenbogen, S. 487.

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Jahrhunderts bezeichnen dürfen, in dem der Autor aus christlich-humanistischer Verantwortung sich im doppelten Sinne des Wortes: leidenschaftlich mit den Möglichkeiten des Widerstandes gegen diktatorische Verhältnisse befasst. Und damit sei zugleich eine gegenwärtige Problemlage angesprochen: Ohne Zweifel ist heute die Welt auch durch `andres´ bedroht als das, was Andres beschrieben und erlebt hat - müßig, hier auf die Globalisierung aufgrund der Aufhebung des Ost-WestGegensatzes, auf die unüberschaubaren Bilder- und Bücher-, Informations- und Wissensfluten, die Macht der Unterhaltungsindustrie näher einzugehen. Und auch wenn die Gefahr des braunen Gedanken-Unguts keineswegs gebannt ist, so dürfte sie doch zumindest in Deutschland auf absehbare Zeit nicht mehrheitsfähig sein. Aber nicht anders als der Philosoph Günther Anders, der wie kein anderer Die atomare Drohung analysierte, würde Andres seine grundsätzlichen Warnungen erweitern und radikalisieren: Die Havarien in den Atomkraftwerken Harrisburg, Tschernobyl und nun Fukushima und deren Folgen fördern den Realitätsgehalt des erschreckenden Traumes vom grauen Regenbogen zu Tage. Denn selbst ein weltweiter Abschied vom Atomzeitalter, ein Abschalten aller Atomkraftwerke und ein Vernichten aller Atomwaffen würde nichts daran ändern, dass die atomare Bedrohung bleibt – und zwar aus zwei prinzipiellen Gründen: Zum einen ist das, was einmal gedacht und gemacht wurde, nicht nicht denkbar und machbar, kann also jederzeit nach-gedacht und nach-gemacht werden. Dies auszuschließen, würde eine Welt voller `Gutmänner´ und Gutfrauen voraussetzen. Und zum anderen lässt sich die Kernenergie nicht verabschieden, die so genannte `Endlagerung´ des atomaren Mülls bleibt, so sie denn gelänge, eine Lagerung ohne Ende. Es führt wohl kein Weg daran vorbei wahrzunehmen, dass wir – allgemeiner gesprochen - uns zu Zauberlehrlingen degradiert haben, die die Kräfte, die wir riefen und zu beherrschen glaubten, nicht mehr los werden, dass wir uns zu Sklaven oder Angestellten der von uns selbst hergestellten Produkte zu entblößen selbst bestimmt haben, ablesbar vor allem

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an der Herrschaft, der `Norm der globalen Ökonomie´, die uns bis in die intimsten Lebensbereiche hinein dirigiert und belauert. Eine Arche zu finden oder gar zu errichten, dürfte fast unmöglich geworden sein – und Andres hat den Aufbruch zum `Leben auf dem Lande´ in der verkürzten Fassung am Ende seines Romanwerkes konsequenterweise auch nicht mehr ausgemalt.

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Thomas Manns Erzählung „Das Gesetz“ und seine Beziehung zum biblischen Text Anke Wolff-Steger Zeit und Ort Zwischen dem Abschluss des Romans Josef und seine Brüder (4. Januar 1943 mit der Beendigung des letzten Bandes Josef der Ernährer)255 und dem Beginn des Romans Doktor Faustus (15. März) ist die Erzählung Das Gesetz entstanden. Sie schwelgt noch in der Heiterkeit des Josef Romans und ist doch schon ganz ausgerichtet auf die kritische Auseinandersetzung und Abrechnung mit dem Nazisystem, wie sie in Doktor Faustus Thema sein wird. Thomas Mann hat Freude daran, die oft knappen biblischen Texte erzählend auszugestalten. Seine Kenntnisse der Geschichte Israels, der biblischen Forschung sowie der ägyptischen Religions- und Götterwelt kommen auch in dieser Erzählung zum tragen. Zugleich ist er schon dabei sich auf ein neues Thema einzustimmen: die Abrechnung mit dem Geist und der Politik des Nationalsozialismus. Fast könnte man behaupten, diese Erzählung sei die Botschaft von Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil an das alte Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges. Er betont dessen Grundfeste: das Gesetz; nicht irgendein Gesetz ist es, sondern das Gesetz des Mose, das Gesetz der Juden, zu denen auch die 10 Gebote gehören, die auch Grundlage europäischer Gesetze waren. Was für eine Provokation wird hier nicht nur dem Nationalsozialismus,

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Thomas Mann: „Mit dem Joseph bin ich früher fertig geworden, als die Welt mit dem Faschismus.“ TB 8.1.1943.

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sondern auch dem alten Europa zugemutet. An keiner Stelle wird der nationalsozialistische Führer, das Dritte Reich oder Judenverfolgung explizit erwähnt, aber es ist bei allem, was und wie er erzählt implizit anwesend. Exodus gegen Vorsehung, Thora gegen Edda, Mose gegen Pharao = Hitler, das Gesetz vom Sinai gegen die Nürnberger Gesetze und Ariernachweis, die Rückbesinnung auf das Judentum gegen den Rückfall in das Heidentum.

Sprache und Hauptfiguren Ein gelungenes Zwischenspiel ist diese Erzählung nach der JosephTetralogie - wenn auch in einem viel klareren und knapperen Ton als das vorhergehende Werk. Das Interesse ruht sehr konzentriert auf dem Führer der Hebräer: Mose. Dieser Jude par excellence wird zum Gegenbild des anderen Führers, der sich in Europa anschickt, die Judenheit auszurotten. Die Kritik am nationalsozialistischen „Führerkult“ wird anhand des alttestamentlichen Buches Exodus (2. Buch Mose) formuliert. Dieses Buch heißt in der hebräischen Bibel Namen (‚schemot‘ hebräisch) und erzählt vom Auszug der Hebräer unter der Führung Mose aus Ägypten und der dann folgenden Gabe des Gesetzes am Berg Sinai. Dieses 2. Buch ist so etwas wie eine „Gründungsurkunde“ des Volkes Israel. Durch dieses Ereignis wurden die Hebräer zum Volk Gottes. Im Zentrum der Erzählung (sowohl bei Thomas Mann wie im 2. Buch Mose) steht Mose, er ist Mittler des Gotteswillen und vollbringt das „Bildungswerk“ am Volk durch das Gesetz, das dieser unsichtbare Gott ihm gegeben hat. Anders als das große opulente Werk „Josef und seine Brüder“ ist die Erzählung Das Gesetz konzentrierter, wenig ausschweifend und hat einen klaren Erzählfaden ohne große Ausschmückungen, die vom biblischen Text abweichen. Mose und seine Entwicklung zum „Führer“ der Hebräer und die Durchsetzung SEINES Gesetzes stehen im Mittelpunkt. Die Erzählung entbehrt all der ausführlichen fast überla154

denen Schilderungen der Götterwelt Kanaans oder Ägyptens, der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens im Lande Ägypten, der Macht und des Pomps der Pharaonenwelt, die den Roman Josef und seine Brüder bestimmen. Das Gesetz ist pointiert in Sprache und Erzählkunst mit deutlichem Bezug zur Gegenwart. Es ist eine Erzählung gegen den Hitlerstaat, seine Rassenideologie und die damit verbundene Verfolgung der Juden und deren Ermordung. Als Gegenüber zum Führer Hitler - Pharao trägt seine Züge - tritt Mose, der Führer, der Hebräer auf. Dem Pharao bietet ein Jude die Stirn. Der Jude Mose zeigt was, was wahrhaftiges Führertum ist. Das wahrhaft Menschliche entspringt dem jüdischen Gesetz. Pharao bleibt als entlarvter Führer zurück. Thomas Mann nennt ihn Moses „heimlicher Lüsternheits-Großvater.“ Manche Interpreten sagen, in dieser Erzählung gibt es keinen Gott mehr. Ich behaupte: Thomas Mann nimmt konsequent d i e Tendenz des Glaubens an den Gott Israels auf, die von Gott als Allesmacher und Alleskönner weg weist. Es gibt - und dies nicht erst seit Ernst Bloch es festgestellt hat - auch einen atheistischen Zug im biblischen Gottesglauben. Gott ist, dem du nachgehst. Von Gott her leben und handeln, bedeutet mit Gottes Beauftragung und Erwählung ernst zu machen. Die theologisch zentrale Stelle des Buches Exodus, die Offenbarung am Horeb (2. Mose 3), wird von Thomas Mann zwar immer mal wieder, aber fast nur als Anmerkung in einem Nebensatz erwähnt, eine eigene erzählende Ausgestaltung erfährt dieses Ereignis nicht. Die Gottesbegegnung ist nur in Bezug auf Mose und seine Führung interessant. „Als er von dort (von Midian, d.V.) zurückkehrte, seiner Gottesentdeckung und seines Auftrages voll, war er ein Mann auf der Höhe der Jahre…“ S. 648 „Gott“ tritt hinter Mose zurück. Der unsichtbare Gott wird allein im Tun und Reden seines Mittlers sichtbar. Das für die Exegeten und Theologen

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so wichtige 3. Kapitel, in dem Gott sich Mose im brennenden Dornbusch offenbart, seinen NAMEN vor ihm ausruft und seinen Mittler Mose beruft, wird bei Thomas Mann nur so nebenbei erwähnt, erfährt keine eigene erzählerische Ausgestaltung. Eine weitere nicht zu vergessende Hauptfigur ist das Volk. Aus einem lose zusammenhängenden Sippenverbund von Menschen, den Hebräern, die nur noch eine vage Erinnerung an den Nomadengott Abrahams haben, wird e i n Volk geformt, das Volk pars pro toto, das erstgeborene unter den Völkern, eben Volk Gottes. Die Erzählung beschreibt in scherzhaftem Ton und zugleich mit hintergründigem Ernst die Mühen des biblischen Mose, aus einem losen hebräischen Sippenverbund das Volk Israel zu gründen, indem er das „Geblüt“ zur Gesittung erzieht, wie es ihm gelingt, aus dem „Gehudel“ oder auch „Pöbelvolk“ genannt - dem Herrn ein heiliges Volk aufzurichten. Am Schluss steht ein sehr ernster Fluch allgemein gegen denjenigen, der das Volk beredet, Gottes Gebote der menschlichen Gesittung zu brechen. Gemeint ist Hitler - dazu später.

Mose Weg zur Ordnung durch den unsichtbaren Gott „Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im auflodern, darum wusste er besser als jeder Unerfahrene, dass Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst grässlich ist, und dass du nicht töten sollst. Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein.“ (S. 641) Das erste Kapitel der Erzählung ist ein Überblick über das, was mit und durch Mose geschehen wird. Schon in dieser Einleitung wird deutlich, dass der Schwerpunkt ganz Mose und die Gabe des Gesetzes und nicht

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auf der Gottesoffenbarung am Horeb liegen wird. Das „Führertum“ Mose bewegt Thomas Mann als Gegenbild zu dem Führer, der durch Europa wütet. Die Unsichtbarkeit Gottes bewegt Mose. Das Nicht-Bild, die Anbetung des NAMEN macht die Kraft seines Gottes aus. Das hat Mose erkannt, daraus schöpft er sein „Führertum“. „Mose dagegen, kraft seiner Begierde nach dem Reinen und Heiligen, war tief beeindruckt von der Unsichtbarkeit Jahwe´s; er fand, dass kein sichtbarer Gott es an Heiligkeit mit einem unsichtbaren aufnehmen könne, und staunte, dass die Kinder Midians fast gar kein Gewicht legten auf eine Eigenschaft, die ihm unermesslicher Implikationen voll zu sein schien.“ (S. 641) Mose bringt diesen Gott in Verbindung mit dem Gott der Väter, die Namen des Vätergottes werden aufgezählt und sind auch von Mose gekannt: El eljon, El roi, El schaddai, El olam. Ihm offenbart sich dieser Gott seiner Vorfahren, an den sich seine Stammverwandten nur noch vage erinnern. Er macht diesen Gott für die Hebräer wieder zu einem gegenwärtigen Gott. Bei Thomas Mann gibt es keine eigenständige Reflektion über diesen Gott, keine religionsgeschichtliche Einordnung oder Unterscheidung dieses Gottes von der Götterwelt Ägyptens, wie man es ja so ausführlich in der Josef Tetralogie lesen kann. Gott interessiert nur in seiner Auswirkung auf den Mensch Mose. Mose ist Hauptfigur, der unsichtbare Gott SEIN Motor, das Befreiungswerk zu verrichten. So bei Thomas Mann. Im 2. Buch Mose ist die Offenbarung auf dem Berg Horeb eigentlich der Höhepunkt. Gott offenbart sich im NAMEN. Aller Bildlichkeit, Gestalthaftigkeit Gottes wird eine Absage erteilt. Dass der Gott Israel einen Namen hat, unterschied ihn nicht unbedingt von anderen Göttern. Denn Namen trugen auch die Götter Ägyptens, Kanaans, Assurs, eben der gojim, der Völker rund um Israel. Aber nur im Namen und durch den 157

Namen - und nicht in der Gestalt, im Bild oder in einer Naturerscheinung - wollte der Gott Israels geehrt und angebetet werden. Das Wesen dieses Namens unterschied ihn schon von dem, was sonst mit dem Gattungsbegriff 'el, Gottheit bezeichnet wurde. Der Name ist Programm: Ich bin Da! Ruft dieser Gott Mose zu. Sein Dasein ist verbunden mit der Befreiung seines Volkes, dieser Schar der Hebräer, die dadurch erst zum Volk werden. Im biblischen Text wird Mose zum Mittler dieses Gottes. Seine Berufung wird in der Erzählung vom brennenden Dornbusch erzählt und ist eng verbunden mit der Offenbarung des Namen Gottes. 2. Mose 3,13ff Mose sprach zu Gott: Da komme ich denn zu den Söhnen Israels sprechend: Ich spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter schickt mich zu euch, sie werden zu mir sprechen: Was ists um seinen Namen?was spreche ich dann zu ihnen? Gott sprach zu Mose: Ich werde dasein, als der ich dasein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Söhnen Israels sprechen: ICH BIN DA schickt mich zu euch. Der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, schickt mich zu euch. Das ist mein Namen in Ewigkeit, das mein Gedenken, Geschlecht für Geschlecht Der Gottesname ist der einzige Name in der Schrift, der seinem Träger nicht zugerufen wird. Es ist ein selbstgewählter Name, eine Selbstaussage des Wesens, das in Israel als Gott verehrt wird. Kein Mensch - auch

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kein Gott - gibt diesen Namen. Das unterscheidet SEINEN Namen von den Namen der Geschöpfe. Was für Theologen und Exegeten eine eminent spannende Erzählung ist, die ja auch in ihrer Dramatik vom biblischen Erzähler viel Ausgestaltung erfährt, findet in der Erzählung von Thomas Mann keine Ausgestaltung. Der Gott interessiert in seiner Auswirkung auf den Mensch Mose. Aber durch die Unsichtbarkeit des Gottes erhält die Gestalt des Mose seine Kraft und seine Prägung. Weil der Gott Israels eben nicht im Bild anzubeten ist und sein Name sich in dem konkreten Dasein für sein Volk erweist, erzählt Thomas Mann auch ganz aus der Perspektive derer, die diese konkreten Erweise erfahren, ohne eine Gottesgestalt zu sehen. Gott ist und bleibt konsequent unsichtbar in der Erzählung Das Gesetz. Und doch ist es dieser Gott, der diese Befreiung durch Mose aufrichtet. Das Gesetz ist Befreiungswerk, Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens. Hier ist Thomas Mann ganz auf der Linie der Exodus Erzählung. Die Gabe der Thora ist kein Zwangskorsett, sondern Weisung, Lehre. Sie wird in Propheten und Psalmen immer wieder als Gottes gute Gabe gepriesen. Das Halten der Thora führt in die Freiheit, das Brechen der Gebote weist den Weg zurück in das Sklavenhaus Pharaos.

Die unordentliche Geburt Mose – Abweichung vom biblischen Stoff Thomas Mann bleibt in seiner Erzählung am biblischen Text, gibt Deutungen, dreht und malt die knappen biblischen Andeutungen nach seinem Verständnis aus, er gestaltet die Figuren nach den biblischen Vorlagen, im Großen und Ganzen nimmt er die Fakten des biblischen Textes auf. Interesse gilt aber Mose, dem großen Führer in die Freiheit. Man kann sich streiten, ob diese Art zu Erzählen immer dem Text gerecht wird, ob es die richtige Interpretation ist, aber das gehört ja zur Text-

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Auslegung, eben zu einer Exegese dazu. Thomas Mann betreibt erzählende Exegese. Aber im zweiten Kapitel seiner Erzählung, das die Geburt Mose zum Inhalt hat, weicht er deutlich vom biblischen Stoff ab und erfindet eine eigene Erzählung, die keinen biblischen Hintergrund hat, sehr wohl aber einen politischen und historischen. Die biblische Vorlage erzählt von einer Geburt eines hebräischen Knaben durch eine hebräische Frau, die ihr Kind in einem Kästchen auf dem Nil aussetzt. Vater ist wie die Mutter ein Hebräer aus dem Geschlecht Levi, dem Stamm, der später zu Priestern bestimmt wird. So nachzulesen in 2. Mose 2,1ff Ein Mann aus dem Hause Levi war gegangen und hatte sich eine Levitochter genommen. Das Weib wurde schwanger, sie gebar einen Sohn. Sie sah, daß er gut war. sie versuchte ihn zu verheimlichen, drei Monate lang. Als sie ihn nicht länger verheimlichen konnte, nahm sie für ihn ein Kästlein aus Papyrusrohr, sie verlehmte es mit Lehm und mit Pech und legte das Kind darein und legte es in das Schilf am Ufer des Flusses. Seine Schwester aber stand von fern, um zu erfahren, was mit ihm geschähe. Pharaos Tochter stieg herab, am Fluß zu baden, während ihre Jungfrauen sich zuseiten des Flusses ergingen. Sie sah das Käastlein mitten im Schilf und schickte ihre Magd, daß die es aufnehme. Sie öffnete, sah es, das Kind: da, ein weinender Knabe! Es dauerte sie sein, sie sprach: Von den Kindern der Ebräer ist dieses.

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Seine Schwester sprach zur Tochter Pharaos: Soll ich gehen und dir ein säugendes Weib von den Ebräerinnen rufen, daß sie das Kind dir säuge? Pharaos Tochter sprach zu ihr: Geh! Das Mädchen ging und rief die Mutter des Kindes. Pharaos Tochter sprach zu ihr: Lass dieses Kind mitgehn und säuge es mir, deinen Lohn gebe ich dir selber. Das Weib nahm das Kind und säugte es. Das Kind wurde groß, sie brachte es zu Pharaos Tochter. Fast märchenhaft wirkt die Erzählung von der Errettung des hebräischen Knaben. Wert gelegt wird auf die Herkunft Mose aus einem Priestergeschlecht. Dieser Text weist Rückbezüge zu Genesis 1 auf. Der Knabe ist „gut“ anzusehen. Gut ist das Stichwort, dass in der Schöpfungsgeschichte immer wieder klingt: Und siehe es ist gut. Der Knabe wird in ein Kästlein aus Papyrosrohr, das außen und innen mit Lehm und Pech verschmiert ist, gelegt. Der Kasten erinnert an die Arche Noah, die sicher deutlich größer war, aber auch ein Behältnis, dass zu einer Rettung gebaut wurde, zur Rettung der Schöpfung. Sowohl in Genesis 8 wie in Exodus 2 findet sich das gleiche Wort für diesen Kasten, ein ägyptisches Lehnwort, das im Thenakh nur an diesen beiden Stellen zu finden ist. Einer wird errettet zum Heil für die anderen. Noah wird errettet und mit ihm Gottes Schöpfung. Mose wird errettet, um sein Volk aus der Sklaverei zu führen. Thomas Mann „erfindet“ eine eigene „Abstammungsgeschichte“, eine Legende von einer „unordentlichen Geburt“ des Mose. Er weicht an dieser Stelle bewusst vom biblischen Text ab! Abstammung und Reinhaltung des Blutes war das Thema der Nazis. Ordnung muss sein unter den

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Rassen, Vermischung ist Verstoß gegen Rassegesetze. Er entwirft eine polemische Legende dagegen in großer dichterischer Freiheit. War schon im Einleitungskapitel seiner Erzählung im ersten Satz das Wort „Unordnung“ zu hören, so wird es bei der Geburt wieder aufgenommen und das Motiv „unordentlich“ ausgeführt. Moses unordentliche Geburt wird zur provokanten Spitze gegen die Naziideologie von der Reinhaltung der Rasse. Thomas Mann, Das Gesetz, S. 643: Sein Vater war nicht sein Vater, und seine Mutter war seine Mutter nicht, - so unordentlich war seine Geburt. Ramessu´s, des Pharao´s zweite Tochter ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen und unterm Schutze Bewaffneter in dem königlichen Garten am Nil. Da wurde sie eines ebräischen Knechtes gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen. Er hatte traurige Augen, ein Jugendbärtchen ums Kinn und starke Arme, wie man beim Schöpfen sah. Er werkte im Schweiß seines Angesichts und hatte seine Plage; für Pharao´s Tochter aber war er ein Bild der Schönheit und des Verlangens, und sie befahl, dass man ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon; da fuhr sie ihm mit dem kostbaren Händchen ins schweißnasse Haar, küsste den Muskel seines Arms und neckte seine Mannheit auf, dass er sich ihrer bemächtigte, der Fremdsklave des Königskindes. Als sie´s gehabt, ließ sie ihn gehen, aber er ging nicht weit, nach dreißig Schritten ward er erschlagen und rasch begraben, so war nichts übrig von dem Vergnügen der Sonnentochter. „Der Arme“, sagte sie, als sie´s hörte. „Ihr seid auch immer so übergeschäftig. Er hätte schon stillgeschwiegen. Er liebte mich.“ Danach aber wurde sie schwanger, und nach neun Monaten gebar sie in aller Heimlichkeit einen Knaben, den legten ihre Frauen in ein verpichtes Kästlein aus Rohr und verbargen dasselbe im Schilf am Rande des Wassers. Da fanden sie´s dann und riefen: „O Wunder, ein Findling.“ Diese Legende, die die Zeugung des Kindes auf hebräisch-ägyptische Eltern zurückführt, hat keinen Rückhalt im biblischen Stoff. Es legt sich

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ein Vergleich mit der Erzählung von der Frau des Potiphar, der reichen Ägypterin aus der Josef Erzählung im 1. Buch Mose, nahe. Auch sie ergötzt sich am hebräischen Sklaven Josef und folgt ihren Begierden. 1. Mose 39, 6ff …Josef aber wurde schön von Gestalt und schön von Angesicht. … das Weib seines Herrn schlug ihre Augen zu Josef auf und sprach: Liege bei mir!... Joseph weigert sich standhaft, aber diese Weigerung hat weitreichende Konsequenzen. Die Zurückgewiesene stellt sich als Vergewaltigungsopfer dar. Josephs Aufstieg im Hause des Potiphar endet mit dem Abstieg in das Gefängnis, um dann noch einen viel größeren Aufstieg am Hofe des Pharaos folgen zu lassen. Thomas Mann hat aus dem 39. Kapitel der Genesis innerhalb seiner Joseferzählung einen ganzen Band über den Aufstieg und Fall Josefs im Hause Potiphars gemacht, so sehr hat ihn das Leben des Joseph im Hause Potiphars angeregt, seine ganze Kenntnis der ägyptischen Welt anhand dieses Kapitels erzählerisch auszugestalten. Zurück zu Mose: Auch die Pharaonentochter folgt ihren Begierden. Warum auch nicht? Sie gehört zur Herrscherkaste. Mose wird heimlich als Kind der Pharaonentochter geboren und ist aus einer spontanen Lustverbindung mit einem hebräischen Sklaven hervorgegangen. Ein Kind der Lust, des Augenblicks ist er, der Erzeuger, der hebräische Sklave muss danach sein Leben lassen. Was Ägypten ist, wird hier mit dieser kleine Episode angedeutet: ein Willkür-Staat. Sklaven, die ihre Grenzen überschreiten, werden getötet. Unordentlich ist die Geburt, weil es in Ägypten nicht sein darf, dass die Grenze zwischen Sklaven und Freien, die Grenzen der Rassen und Klassen überschritten und verwischt werden. Wohin wird er gehören, der unordentlich Erzeugte?

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Die biblische Erzählung führt Mose als einen aus dem Stamme Levis ein, als Nachkomme Jakobs, auf eine „ordentliche“ jüdische Geburt wird großen Wert gelegt. Er ist zwar ein Kind der Hebräer, wächst aber durch die märchenhafte Bewahrung im Kästlein am Hofe des Pharaos heran: frei von Unterdrückung und frei von Geist und Körper zerstörender Fronarbeit. Martin Buber, Moses 1966, dazu S. 42f: „In der biblischen Geschichte von der Rettung des Knaben Mose ist die Bedeutung offenkundig: damit der zum Befreier seines Volkes Bestimmte zum Befreier heranwachse…, muß er der Hochburg der Fremde, eben dem Königshof, von dem aus Israel versklavt worden ist, übergeben werden, muß da groß werden. Es ist eine Art von Befreiung, die keiner ausführt, der als Sklave aufwuchs, und keiner, den mit den Sklaven nichts verbindet, sondern eben nur einer von den Ihren, der im Kern der Fremde, in ihren Weisheiten und Mächten erzogen worden ist und nun ‚zu seinen Brüdern ausgeht und ihre Lasten besieht‘.“ Thomas Mann nimmt mit seiner Legende der Geburt Mose dieses biblische Motiv auf, verändert und aktualisiert es für seine Zeit. Ein Befreier kann nicht in Sklavenverhältnissen groß werden. Unter harter Arbeit und Stockschlägen wird er nicht zu dem Führer heranreifen, der es mit dem Pharao aufnimmt. Die Hebräer leiden unter der harten Arbeit und werden die Folgen der Fron im biblischen Text so beschrieben: 1. Mose 6,9 Aber sie hörten nicht auf Mosche vor Geistes Kürze und vor hartem Dienst.

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Der Name Mose und seine ägyptische Herkunft Im biblischen Text wird die Namensgebung Mose extra erwähnt. Namen sind in der Bibel ja nicht nur Schall und Rauch, sondern geben Auskunft über das Wesen des Trägers. Gott ruft seinen Geschöpfen in der Schöpfungserzählung (Genesis 1) Namen zu und begründet damit ihr Dasein in der Geschichte, ihre Aufgabe im Rahmen der Schöpfung. Gott gibt Abram und Sarai einen neuen Namen, um damit das Neue des Aufbruchs deutlich zu machen. Die Väter und Mütter Israels rufen ihre Kinder mit Namen. Das 2. Buch Mose, Exodus in der griechischen Übersetzung Septuaginta genannt, heißt in der hebräischen Bibel Namen schemot. Im Zentrum dieses Buches steht die Offenbarung des Gottes der Väter an Mose durch das Ausrufen SEINES Namens. Bevor es um diesen EINEN Namen geht, werden die Namen derer aufgerufen, mit denen dieser Gott eine Geschichte hat: Söhne und Enkelsöhne von Abraham, Isaak und Jakob. Durch das Nennen dieser Namen werden nochmals die Erzählungen der Genesis, der Väter und Mütter Israels ins Gedächtnis gerufen: 2. Mose 1,1ff Dies sind die Namen der Söhne Israels, der nach Ägypten gekommen… Die Namen der Kinder Israels sind viele geworden in Ägypten. Für den Pharao sind es Fremde, ein Volk, das sich im Krieg mit den Feinden verbünden könnte. Er kennt die Geschichte ihres Siedelns in Ägypten nicht mehr. Josef ist vergessen. Zuerst versucht er durch noch stärkere Unterdrückung der Vermehrung der Hebräer entgegenzuwirken. Als dies nichts hilft, geht Pharao gewaltsam vor: er weist die Geburtshelferinnen an, die Söhne der Hebräerinnen, in den Nil zu werfen. Er will die Genealogie der Söhne, die Reihe ihrer Namen (schemot) unterbrechen, bzw. gewaltsam abbrechen. Der

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Name Israels darf nicht groß wachsen in seinem Lande. Die hebräischen Hebammen werden von Pharao angewiesen, die männlichen Kinder der Hebräerinnen zu töten, sie weigern sich aber. Diese „Vor“-Geschichte, also das ganze 1. Kapitel des 3. Buches Mose findet sich bei Thomas Mann nicht. Er setzt erst mit der Zeugungs- und Geburtsgeschichte des Mose ein. Im 2. Kapitel der biblischen Mose-Erzählung wird die wundersame Rettung des hebräischen Knaben durch die Pharaonentochter erzählt und unmittelbar anschließend wird der Name des Kindes ausgerufen: Mosche. Die ägyptische Prinzessin erkennt es damit als ihr Kind an: 2. Mose 2,10 es wurde ihr zum Sohn. Sie rief seinen Namen: Mosche, Der hervortauchen läßt. Sie sprach: Denn aus dem Wasser habe ich ihn hervor tauchen lassen. Diese Erklärung des Namens ist im biblischen Text doppeldeutig. Dem Namen Mosche liegt ein arabisches Verb mit der Bedeutung „ziehen, herausziehen“ zugrunde. Aus der Erklärung des Namens wird ein Wortspiel. Was von der Prinzessin passiv gedeutet wird, ist im Hebräischen aktiv und bedeutet: einer, der sich selbst herauszieht. Dass sie hebräisch gekannt hat, ist anzuzweifeln. Die ägyptische Prinzessin deutet den Namen passiv, obwohl er aktiv zu übersetzen ist. Der aus dem Wasser herausgezogen wurde, wird sein Volk aus Ägypten herausziehen und damit sich auch selbst aus der Sklaverei herausziehen. Mose kommt an den Hof des Pharao. Die Verbindung zu den Seinen bleibt, in dem die Pharaotochter seine Mutter als Amme aussucht. Seine frühe Kindheit ist geprägt durch das Aufwachsen im Haus der hebräischen Amme. Ihre Kinder werden seine Geschwister, ihr Mann der Kindesvater.

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In Thomas Mann’s Erzählung gibt die hebräische Amme dem Kind den Namen. „…darum gaben sie ihm einen halb ägyptischen Namen, will sagen: die Hälfte eines ägyptischen. Denn öfters hießen die Söhne des Landes Ptach-Mose, Amen-Mose oder Ra-Mose und waren als Söhne ihrer Götter genannt. Den Gottesnamen ließen Amram und Jochebed lieber aus und nannten den Knaben kurzweg Mose. So war er ein ‚Sohn‘ ganz einfach. Fragt, sich nur wessen!“ Ist in der biblischen Vorlage im Namen schon die Tat des Trägers angedeutet: der hervor tauchen lässt, so geht es Thomas Mann bei der Bedeutung des Namens noch einmal um den Hinweis auf seine problematische Geburt bzw. Herkunft als Kind aus ägyptisch-hebräischen Verhältnissen. Die Namensgebung vollziehen bei Thomas Mann allein seine hebräischen (Pflege)Eltern und nicht die ägyptische Prinzessin wie in der biblischen Vorlage. Seine Pflegeeltern beschränken sich auf den Namen Mose, den Thomas Mann mit Sohn übersetzt, und fügen keine ägyptische Gottheit an, dessen Sohn er sein könnte. In Ägypten fiel es auf, wenn der Knabe aus Pharaonenhaus sich nur Mose nannte und eine ägyptische Götterabkunft damit wegfiel. „Wie ist doch dein Name?“ fragten ihn wohl die Genossen vom Schulhaus. „Mose heiße ich“, antwortete er. „Ach-Mose oder Ptach-Mose?“ fragten sie. „Nein, nur Mose“, erwiderte er. „Das ist ja dürftig und ausgefallen“, sagten die Schnösel…S. 646 Zusammenfassend kann man sagen: Thomas Mann verwendet die biblischen Motive rund um die Geburt Mose, aber er verändert sie deutlich und weicht vom biblischen Stoff ab. Mose ist das Ergebnis einer sponta-

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nen Lustbeziehung einer ägyptischen Prinzessin mit einem hebräischen Sklaven. Heimlich bringt die Pharaonentochter das Kind zur Welt. Was die hebräische Mutter in der biblischen Vorlage zum Schutz ihres Kindes vor den Kindermördern des Pharaos tut, wird bei Thomas Mann von der Prinzessin zum Schutz ihres Kindes vor ihrem Pharaonenvater getan. Das Kind wird auf dem Nil in einem Kästchen ausgesetzt und von ihr gefunden. Bei Thomas Mann ist die Pharaonentochter die leibliche Mutter Mose, sie bringt ihr Kind zu einer hebräischen Amme, die im biblischen Text die Mutter des Kindes ist. So erhält dieses Kind auch bei Thomas Mann Bruder und Schwester: Miriam und Aaron, die auch in der Bibel als seine Geschwister genannt werden, und dadurch Zugang in die Welt der Hebräer. Aus den Eltern aus dem Stamme Levis werden bei Thomas Mann Pflegeeltern. Sie geben dem Kind einen ägyptischen Namen im Bewusstsein seiner Herkunft aus dem Pharaonenhaus und doch lassen sie den Teil des Namens fort, der sich auf die Abkunft von einer ägyptischen Gottheit bezieht. Den Name Mose deutet Thomas Mann ganz von seinem einen ägyptischen Hintergrund. In der biblischen Vorlage deutet der ägyptische Name schon auf das hin, was Mose tun wird: dass die Hebräer aus Ägypten herausziehen. Er wächst heran in zwei Welten: der Hof des Pharao wird das Sklavenhaus der Amme ablösen.

Kindheit und Jugendzeit - Sklavenhaus und Herrscherhof Die Geburtsgeschichte Mose in der Bibel wie auch bei Thomas Mann trägt märchenhafte Züge, um deutlich zu machen, hier wächst einer heran, der zwar aus einem Sklavenvolk abstammt, aber doch aufwächst in der Freiheit der höfischen Herrscherkaste. Hier wächst einer heran, der sich in zwei Welten zu bewegen weiß, als ein Zugelassener in der Welt Ägyptens.

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„Als einer der Zugelassenen wuchs er auf und drückte sich aus in ihrer Mundart. Die Vorfahren dieses Blutes waren einst, zur Zeit einer Dürre, als „hungernde Beduinen von Edom“, wie Pharao´s Schreiber sie nannten, mit Erlaubnis der Grenzbehörden ins Land gekommen, und der Distrikt Gosen, im Niederland, war ihnen zur Weidennutzung angewiesen worden.“ S. 645 Mose kennt das Leben der Hebräer. Er spürt noch etwas von der Herkunft dieser Menschengruppe. Volk wird es von Thomas Mann nicht genannt – aus Zeiten des Aufbruchs. Sie hatten wohl genug zu essen in Ägypten und konnten leben, aber die Fron, das Leben als Sklaven gehörte nicht in ihr Naturell. „Demungeachtet aber passte und schmeckte die Fron ihnen wenig, denn sie waren Nomadenblut, mit der Überlieferung frei schweifenden Lebens, und stündlich geregelte Arbeit, bei der man schwitzte, war ihnen im Herzen fremd und kränkend. Sich aber über ihren Mißmut zu verständigen und eines Sinnes darüber zu werden, waren diese Sippe zu locker verbunden und ihrer selbst nicht hinlänglich bewußt.“ S. 645 Bevor es zu einer Einigung der „Mißmutigen“ kommt durch einen, der beides kennt und sich in beiden Welten zu bewegen weiß, wird Mose erst seine Erfahrungen machen müssen. Er wächst heran als Jugendlicher unter den „Stutzern“, wie Thomas Mann die Erzieher an den Schulen der ägyptischen Adelsklasse nennt. Seine „leibliche Mutter, …ein zwar lüsternes, aber nicht gemütloses Ding“ (S. 646) holt ihn heraus aus den Sklavenverhältnissen und lässt ihn aufwachsen wie ein Prinzensohn in einem Schulhaus mit einheimischen „Adelssprossen“. „Vater Geblüt" oder nur das Geblüt nennt Thomas Mann immer wieder die Verbindung von Mose zu den Hebräern. Seine ägyptische Seite wird

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mit lüsternem Dünkel oder Lüsternheit beschrieben. Also Mose kennt sich aus auf beiden Seiten und beides ist in ihm. Aber wie soll die Befreiung geschehen? Heimlich - ein Mordfall im Affekt oder gerade noch aus Notwehr oder doch ein öffentlicher Aufstand des Sklavenvolkes? Der biblische Stoff weiß dies dramatisch zu inszenieren. Mose, der einem seiner Brüder nach dem „Geblüt“ hilft, in dem er den Sklaventreiber, einen Ägypter erschlägt, meint dies heimlich, ungesehen getan zu haben, aber es ist unter den Hebräern öffentlich geworden und wird von seinen Brüdern nach dem Geblüt nicht als Befreiungstat gedeutet. 2. Mose 2, 10-14 In jenen Tagen geschahs, Mose war groß geworden, er zog zu seinen Brüdern aus und sah ihre Lasten. Er sah, wie ein ägyptischer Mann einen hebräischen Mann, von seinen Brüdern schlug. Er wandte sich hierhin und hierhin, und sah, daß keiner da war, und erschlug den Ägypter. Er verscharrte ihn im Sand. Am zweiten Tag zog er wieder aus, da rauften zwei hebräische Männer. Er sprach zu dem Schuldigen: Warum schlägst du deinen Genossen? Der sprach: Wer hat dich zu einem Obern und Richter über uns gesetzt? Willst du mich umbringen, wie du den Ägypter umgebracht hast? Mose erschrak und sprach zu sich: Gewiß, bekannt geworden ist die Sache. Schon der biblische Text weiß von der Spannung, dass eine heimliche Gewalttat nicht die Befreiung von der Knechtschaft bringen kann.

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„Seine lodernde Tat blieb verborgen, zum mindesten den Ägyptern…“ S. 647. So erzählt es auch Thomas Mann. Bei den Hebräern bleibt Moses heimliche Tat nicht geheim. Sie verschafft ihm noch nicht einmal unter seines Vatersblut Anerkennung. Er muss fliehen. Erst geläutert durch die Gottesbegegnung kehrt er zurück und wird zum Gegenspieler Pharaos.

Mose vor Pharao – die Verschärfung des Dienstes Pharao steht für den König, neben dem kein Gott Israels Platz hätte. Wie alle Pharaonen leitete er seine Herkunft von den Göttern ab. Den Gott, den die Hebräer in der Wüste opfern wollen, diesen unsichtbaren Gott duldet er nicht neben sich. Ein Gott, der Menschen befreit, aus Knechtschaft führen will, befreit auch von Herrschaft, Pharaonenherrschaft. Diese Spannung der biblischen Erzählung von der Unterdrückung durch den Pharao zur Befreiung aus Ägypten, von der Knechtschaft hin zum Auszug bestimmt auch die Erzählung von Thomas Mann. Ägypten ist anders als im Joseph Roman, nicht mehr Ort der Zuflucht und Aufnahme für Jakob und seine Kinder. Der Name Josefs wird nicht mehr gekannt in Ägypten. Es ist zum Land der Unterdrückung geworden. Bei Thomas Mann ist beides in Mose präsent, einerseits das hebräische Erbe: die Faszination für den Gott der Väter, den Mose als den Unsichtbaren erkennt, und für ihn der Befreiergott wird. Andererseits ist in ihm auch das ägyptische Erbe da: das lodernde, dass er nach seinen Sinnen handelt, genauer, dass er seiner Sinne nicht mächtig ist. Nennen wir es einfach Jähzorn oder das Erbe seines Lüsternheits Großvater. Was wird siegen? Mose macht sich auf den Weg zu den Hebräern und versucht sie für den Gott der Befreiung zu begeistern. Aber nicht die Begeisterung für die Befreiung, sondern die zunehmende Unterdrückung bringt die Obersten

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des Volks dazu, mit ihm zu gehen. Die Ältesten des Volkes waren leicht zu überzeugen, aber werden sie durchhalten, wenn es schwer wird? Den ersten Gang zum Pharao werden sie noch mit ihm gehen, später wird Mose allein vor Pharao stehen. Thomas Mann erzählt sehr deutlich von den Möglichkeiten, die dieser hebräische Mann als ägyptisch „Zugelassener“ hat, freien Zugang zum Hofe des Pharaos und damit zu seinem Großvater selbst. „Opferferien" nennt der Pharao das, was die Hebräer in der Wüste vorhaben. Er riecht den Braten. Er braucht sie als Arbeiter. „Sabbat“ - Feiern gibt es nur für die Herrscherklasse. Später wird das Sabbatgebot eines der 10 Gebote werden, ein Feiertag, der nicht nur für die, die zum Volk gehören, gilt, sondern auch für den Fremden, den Knecht, die Magd und den Sklaven, wird eingeführt werden. Es wird einen garantierten Streiktag in Israel geben. Bei Thomas Mann sagt Pharao: „Du, Mose und Aaron, ihr wollt nichts, als den Leuten Müßiggang gewähren und sie feiern heißen von ihrem schuldigen Dienst. Das kann ich nicht dulden und will’s nicht gewähren…“ (S. 652f) Thomas Mann nimmt die Spannung des biblischen Textes auf, der Dienst für Pharao ist etwas anderes als der Dienst an dem unsichtbaren Gott. Dienst ist nicht gleich Dienst. Der eine Dienst führt in die Sklaverei, der andere in die Freiheit. Pharao entbindet die Hebräer nicht ihres Dienstes. Auch im 2. Buch Mose werden diese Dialoge zwischen Pharao und Mose in einer deutlichen Sprache geführt:

2. Mose 5,8 Schlapp sind sie ja, darum schreien sie, sprechend: Laßt uns gehen, laß uns schlachtopfern unserm Gott! Wuchten soll auf den Leuten der Dienst!

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Sie sollen daran zu tun haben, daß sie nimmer auf Lügenreden achten.. Thomas Mann nimmt die Formulierungen des biblischen Textes besonders in der Szene zwischen Pharao und Mose wortwörtlich auf: „Schlapp“ übersetzt Buber, „ müßig“ Luther das Urteil des Pharaos über die Hebräer, die in der Wüste opfern und feiern wollen. „Ihr seid müßig, müßig seid ihr, darum schreit ihr und sprecht: ‚Wir wollen ausziehen und opfern‘. Es bleibt dabei: Selber das Stroh beschafft und dabei die gleiche Zahl Ziegel.“ (S. 653) Der Dienst für Pharao ist Sklavendienst. Die Hebräer bekommen dies zu spüren. Mose und Aarons Gesuch, dass Volk doch ziehen zu lassen, hat die Verschärfung der Arbeitsbedingungen zur Folge. Jetzt müssen sie auch noch das Stroh selbst sammeln, noch mehr Ziegel brennen und die Peitsche der Sklaventreiber sitzt ihnen noch stärker im Nacken. Der Zorn der Hebräer richtet sich nicht gegen den Pharao und dessen Sklaventreiber, sondern gegen Mose und Aaron selbst, die sie für die Verschärfung der Fronarbeit verantwortlich machen. „Da habt ihr’s, und das haben wir vom Bunde mit eurem Gott und von Mose’s Beziehungen. Nichts habt ihr erreicht, als dass ihr unsren Geruch stinkend gemacht habt vor Pharao und seinen Knechten, und habt ihnen das Schwert in die Hand gegeben, uns damit umzubringen.“ S. 643 Fast wortwörtlich findet sich in diesem Abschnitt die Übersetzung Martin Bubers wieder. Der Geruch der Hebräer ist stinkend geworden vor Pharao. 2. Mose 5,21 ER sehe auf euch, er richte,

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dass ihr unseren Geruch stinkend gemacht habt bei Pharao und bei seinen Dienern und ihnen ein Schwert in die Hand gabt, uns umzubringen!“ Bei dieser fast wörtlichen Übereinstimmung legt sich nahe, dass Thomas Mann die Verdeutschung von Buber und Rosenzweig gekannt hat. In der Lutherübersetzung wurde diese drastische hebräische Sprache geglättet und es heißt: „daß ihr uns in Verruf gebracht habt.“ 2. Mose 6,9 Mose redete zu den Kindern Israels. Aber sie hörten nicht auf Mose vor Geistes Kürze und vor hartem Dienst. Im Biblischen Text folgt eine zweite Berufung des Mose durch den unsichtbaren Gott. Thomas Mann nimmt dieses Motiv auf. Gestaltet er die Auseinandersetzung des Mose mit dem Pharao in wörtlicher Rede, so ist die Begegnung Mose „mit dem Gott des Dornbusches unter vier Augen“ (S. 653) nie in wörtlicher Rede erzählt – anders als im biblischen Text. Und doch findet sich in den oft nur kurzen Abschnitten, die von der Begegnung Mose mit dem unsichtbaren Gott erzählen, die ganze Dynamik der biblischen Dialoge zwischen Gott und Mose wieder, aber immer mit dem deutlichen Schwerpunkt: was bedeutet es für die Entwicklung des Mose zum Führer des Gottesvolkes. Mose wird danach allein vor Pharao treten.

Die Plagen und der Auszug Die Plagen erklärt Thomas Mann in guter Kenntnis der ägyptischen Verhältnisse und Umstände mit Naturerscheinungen: Hagel, Fischsterben, Froschplage, Seuchen, Heuschreckenplage, verseuchtes Wasser,

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Stechmücken, Fischsterben, Finsternis, die wohl auf eine Explosion eines Vulkans auf der Insel Santorin, verweist. Historische kritische Erkenntnisse sind in die Erklärung eingeflossen. Aber was ist mit der 10. Plage, dem Töten der Erstgeborenen des ägyptischen Elements? Wie soll man das erzählen? „…das Sterben der Erstgeburt, gehört eigentlich nicht in diese Zahl, sondern bildet eine zweideutige Begleiterscheinung des Auszuges selbst, unheimlich zu untersuchen.“ (S. 655) Bei Thomas Mann bleibt es unklar, wer der Würgeengel ist. Die Andeutungen legen die Vermutung nahe, dass das Töten der Erstgeborenen in Ägypten Josua angelastet werden könnte. Sein Name wird zwar nicht genannt, aber Thomas Mann beschreibt Jahwes Würgeengel als eine starke Jünglingsfigur, so solle man ihn sich vorstellen. Und wie Jahwes Verhältnis zu seinem Würgeengel, ist das Verhältnis Mose zu Josua. Im Biblischen Text findet sich kein Hinweis, dass der Würgeengel Josua hätte sein können. Die 10. Plage bricht Pharaos Stolz, er lässt das Volk ziehen. Will Thomas Mann dem Tyrannenmord das Wort reden? Ja, er spricht sogar die Vermutung aus, die Tötung der Erstgeborenen hätte „einen so plötzlichen Umsturz der Rechts- und Anspruchsverhältnisse“ (S. 657) mit sich gebracht, dass man nun die Hebräer fast aus dem Land vertrieb. Das Kapitel über die Plagen endet bei Thomas Mann nicht mit der Rechtfertigung von Gewalt und Mord, als ob er schon all die Stimmen im Ohr hat, die sich über die ach so große „Gewalttätigkeit“ des Alten Testamentes auslassen könnten. Befreiung aus Sklavenverhältnissen ist selten gewaltfrei oder ohne Blutvergießen, die Tyrannen lassen die Unterdrückten nicht freiwillig gehen. Thomas Mann gibt dem Geschehen folgende Deutung:

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„Beim Auszug aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Mose’s festen Willen sollte es jedoch das letzte Mal sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal gründlich dabei zu verunreinigen? Mose hatte den fleischlichen Gegenstand seiner Bildungslust, dies formlose Menschentum, seines Vaters Blut, nun im Freien, und Freiheit war ihm Raum der Heiligung.“ (S. 658)

Das Bildungswerk Mose – die Durchsetzung des Gesetzes Die Befreiung aus dem Sklavenhaus in Ägypten hat noch lange nicht die Freiheit zur Folge. In der Wüste auf dem Weg zum Sinai und dann am Sinai wird erzählt, wie das Volk in den Händen Mose zu einem freien Volk gebildet wird und welche Widerstände es immer wieder zu überwinden gilt. Thomas Mann bleibt dabei sehr dicht am biblischen Text, wenn auch in freier Erzählweise. Das Volk, „die Wandermasse“, die zuvor in Sklaverei gelebt haben, müssen wieder ein freies Menschentum werden. Aus dem Sklavenvolk wird zuerst ein Nomadenvolk der Wüste, um dann ein Volk der Freiheit zu werden. Hier die Hauptlinien des biblischen Textes, die Thomas Mann aufnimmt: • Das Volk muss lernen zu überleben ohne die Fleischtöpfe Ägyptens; • es muss vom Wasser und den Speisen der Wüste leben: aus den Wasserquellen, die man kennen und finden muss, trinken und Manna und Wachteln essen; • es muss lernen Mose nicht mit dem Gott zu verwechseln, der diesen zu seinem Mittler gemacht hat; • es muss lernen ohne Gottesbild, eine Gottesgestalt auszukommen.

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Das Gesetz, durch das Mose die Wandermasse versucht zu einem Volk zu bilden, ist eine Implikation des unsichtbaren Gottes. Die Durchsetzung des Gesetzes bezeichnet Thomas Mann als Bildungswerk Mose am Volke. Aus dem „Gehudel…ein bloßer Rohstoff…aus Fleisch und Blut“ will Mose dem Herrn ein heiliges Volk aufrichten. Und das ist Arbeit - Schwerstarbeit. Thomas Mann weiß dies humorvoll und eindringlich zu erzählen: Immer war Mose unter ihnen, bald hier, bald da, bald in diesem und bald in jenem Dorflager, gedrungen, mit seinen weitstehenden Augen und seiner plattgetriebenen Nase, schüttelte die Fäuste an breiten Handgelenken und rüttelte, mäkelte, krittelte und regelte an ihrem Dasein, rügte, richtete und säuberte daran herum, indem er die Unsichtbarkeit Gottes dabei zum Prüfstein nahm, Jahwe´s, der sie aus Ägypten geführt hatte, um sie sich zum Volk zu nehmen, und der heilige Leute an ihnen haben wollte, heilig, wie Er es war. Vorläufig waren sie nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, dass sie ihre Leiber einfach ins Lager entleerten, wo es sich treffen wollte. Das war eine Schande und eine Pest. Du sollst außen vor dem Lager einen Ort haben, wohin du zur Not hinaus wandelst, hast du mich verstanden? Und sollst ein Schäuflein haben, womit du gräbst, ehe du dich setzest; und wenn du gesessen hast, sollt du´s zuscharren, denn der Herr, dein Gott, wandelt in deinem Lager, das darum ein heilig Lager sein soll, nämlich ein sauberes, damit Er sich nicht die Nase zuhalte und sich von dir wende. Denn die Heiligkeit fängt mit der Sauberkeit an, und ist diese Reinheit im groben aller Reinheit gröblicher Anbeginn. Hast du das aufgefasst, Ahiman, und du Weib Naemi? Das nächst Mal will ich bei jedem ein Schäuflein sehen, oder der Würgeengel soll über euch kommen! (S. 672) Das Gesetz ist kein Naturgesetz. Den Hebräern wird ja fast alles, was man aus „natürlichem Bedürfnis“ zu tun gedenkt, ausgetrieben. Mose bearbeitet das wie die Steine, auf die die Gebote gemeißelt werden, sie

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sind pars pro toto die Menschheit, in der es gilt die 10 Gebote als allgemeingültiges Humanum durchzusetzen. Das jüdische Gesetz wird zum Vorbild für das Menschheitsgesetz. Der scherzhafte Ton, den Thomas Mann anschlägt, mag dem Lesenden damals wie heute nicht darüber hinwegtäuschen, dass die natürliche Barbarei des Menschen keine Erscheinung der Vergangenheit ist, die sich auf den alten Orient und ägyptische Verhältnisse beschränken lässt. Das Gesetz Gottes durchzusetzen, ist harte Arbeit. SEINEN Geboten zu folgen, bedeutet Einschränkung des eigenen Egos, der Begierden. „Du sollst nicht begehren...“ Das Zehnwort hat ja gerade im letzten Gebot die Begierde als Ursache so manchen Betrugs, Totschlags, Ehebruchs oder Diebstahls entlarvt. Der einzige Trost war, dass da der Nächste einen nicht erschlagen durfte, man Aussichten hatte ebenfalls alt und grau zu werden, so dass dann die anderen vor einem aufstehen mussten... Das Volk sagt Amen zum Gesetz. Zuerst aus Angst, der Würgeengel könnte auch sie treffen, dann irgendwann wird es in Fleisch und Blut übergehen, wird es Alltag. Auch das Misslingen dieser Formung durch das Gesetz erzählt Thomas Mann und bleibt damit an der dicht an der Dramaturgie der biblischen Vorlage. Der Tanz um das Goldene Kalb setzt all das, was Mose mühselig im Volk als Gebote durchgesetzt hat, außer Kraft. Mose ist auf dem Berg, bei dem Gott, der nicht zu sehen ist, das Volk ist ohne seinen Führer und schon kehren wieder ägyptische Verhältnisse ein. Das Schäufelchen wird vergessen, der Bruder liegt bei der Schwester, Ehebruch wird begangen usw. usw. Das Volk war los. Es hatte alles abgeworfen, was Mose ihnen heiligend auferlegt, die ganze Gottesgesittung. Es wälzt sich in haarsträubender Rückfälligkeit. (S. 689)

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Und dann inmitten alldem steht das Goldene Kalb, „ein Machwerk, Götzenunfug…Um das Machwerk herum ging ein vielfacher Ringelreihen“. (S. 689)

Die jüdische Thora gegen das tohu wabohu der Nazi-Ordnung Es geht alles noch mal von vorn los, die Tafeln werden neu geschrieben, Mose tritt ein vor Gott für dieses Volk, es ist ja sein Bildungswerk. Das Gesetz ist zuerst die Thora, ein jüdisches Gesetz. Durch dieses Gesetz wird das Volk Gottes geformt. Was sie dann in ihrer Mitte nach Mose von Generation zu Generation Mose überliefert haben, ist das Gesetz des unsichtbaren Gottes für die ganze Menschheit. Aus diesem Gesetz Gottes, das Mose übergeben wurde, hat auch das alte Europa seine Gesetze einmal abgeleitet. Der andere Führer, der sich pharaonengleich anschickt Europa zu versklaven, hat sein Volk zu einem Pöbelvolk gemacht und die Tafeln des Gesetzes zerbrochen. Die Verfolgung und Ermordung der Juden ist gegen das Gesetz, gegen die 10 Gebote gerichtet, die einst Grundlage des sogenannten christlichen Abendlandes waren. Hitler hat dies selbst einmal so formuliert: „Wir kämpfen gegen den ältesten Fluch, den die Menschheit über sich selbst gebracht hat. Wir kämpfen gegen die Perversion unserer gesundesten Instinkte. Ah, der Wüstengott, dieser verrückte, stupide, rachsüchtige, asiatische Despot, mit seiner Macht, Gesetze zu machen! ... Dieses teuflische „Du sollst, du sollst!"Und dieses dumme „Du sollst nicht!" Es muß heraus aus unserem Blut, dieser Fluch vom Berg Sinai! ... Du sollst nicht stehlen? Falsch! Alles Leben ist Diebstahl ... Der Tag wird kommen, an dem ich gegen diese Gebote die Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten werde. Und die Geschichte wird unsere Bewegung als die große Schlacht für die Befreiung der Menschheit erkennen, Be-

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freiung vom Fluch des Sinai, von dem dunklen Gestammel von Nomaden ... Dagegen kämpfen wir: gegen den masochistischen Geist der Selbstquälerei, gegen den Fluch der sogenannten Moral, die man zum Idol macht, um die Schwachen vor den Starken zu schützen, angesichts des ewigen Kampfes, des großen Gesetzes der göttlichen Natur. Gegen die sogenannten Zehn Gebote kämpfen wir.“256 Ob Thomas Mann dieses Zitat von Hitler gekannt hat, weiß ich nicht. Aber er hat begriffen, dass Hitlers Hass gegen die Juden zugleich ein Hass auf den Gott war, der das Schwache inmitten der Starken schützt. Das Gesetz, die Thora ist das Gesetzeswerk eines Gottes, der Barmherzigkeit in die Mitte der menschlichen Gemeinschaft rückt. Dem natürlichen menschlichen Trieb der Begierde gebietet es Einhalt. Durch das Gesetz Gottes wird der Mensch zum sozialen Wesen geformt, der seinen Nächsten wie sich selbst anerkennt und achtet. Hitler hat erkannt, um was es im Kern der 10 Gebote und damit auch in der Thora geht: der Schutz der Schwachen vor den Starken. Das ist nicht seine Lehre. Rassenlehre versucht das Schwache auszumerzen. Zweifellos hat Thomas Mann in aller literarischen Freiheit eine eigenständige Version aus dem 2. Buch Mose entwickelt, aber er ist eng an der Vorlage des Bibeltextes geblieben. Das Gefälle von einer chaotischen Welt der Zerstörung hin zu einem geordneten Zusammenleben nach Gottes Geboten durchzieht sein Werk. Die, die Recht und Ordnung in Europa durchsetzen wollen, sind für Thomas Mann die eigentlichen Chaoten. Sie lassen Gottes Erde im tohu wabohu untergehen. Hitlers Angriff auf den Gott Israel, auf die jüdische Religion ist für Thomas Mann ein Angriff auf die „menschliche Zivilisation" schlechthin. Das

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Adolf Hitler im Gespräch mit Hermann Rauschning (H. Rauschning, Eine Unterhaltung mit Hitler, zitiert nach der dt. Übersetzung bei K. Hamburger, Thomas Mann: Das Gesetz, Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt a.M./Berlin, 1964, 200ff.).

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naturhaft Chaotische bedeutet der Rückfall ins Heidentum. Das jüdische Gesetz wird der Leserschaft in Europa, das Thomas Mann verlassen musste, von Amerika aus als das eigentlich und allgemein menschliche vorgehalten. Ist diese politische Deutung des biblischen Textes angemessen? Aber kann das hier die Frage sein. Ein alter Text wird so ausgelegt, um gegen einen unmenschlichen Tyrannen, gegen den Pharao seiner Zeit aufzutreten. Das ist legitim. So hat die Erzählung vom Auszug immer wieder durch die Zeitläufte funktioniert. Auf Gottes Erde soll es keine Pharaonen geben, gottgleiche Führer, die SEIN Volk ermorden.

Am Schluss der Erzählung Das Gesetz steht ein sehr ernster Fluch gegen denjenigen, der das Volk beredet, Gottes Gebote der menschlichen Gesittung zu brechen. Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: „Sie gelten nicht mehr.“ Fluch ihm, der euch lehrt: „Auf, und seid ihrer ledig! Lügt, mordet und raubt, hurt, schändet und liefert Vater und Mutter ans Messer, denn so steht´s dem Menschen an, und sollt meinen Namen preisen, weil ich euch Freiheit verkündete.“ Der ein Kalb aufrichtet und spricht: „Das ist euer Gott. Zu seinen Ehren tuet dies alles und dreht euch ums Machwerk im Luderreigen!“ Er wird sehr stark sein, auf goldenem Stuhl wird er sitzen und für den Weisesten gelten, weil er weiß: Das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf. Das aber wird auch alles sein, was er weiß, und wer nur das weiß, der ist so dumm wie die Nacht, und wäre ihm besser, er wäre nie geboren. Weiß er doch von dem Bunde nichts zwischen Gott und Mensch, den keiner brechen kann, weder Mensch noch Gott, denn er ist unverbrüchlich. Blut wird in Strömen fließen um seiner schwarzen Dummheit willen, Blut, dass die Röte weicht aus den Wangen der Menschheit, aber sie kann nicht anders, gefällt muss der Schurke sein. Und will meinen Fuß aufheben, spricht 181

der Herr, und ihn in den Kot treten, - in den Erdengrund will Ich den Lästerer treten hundertundzwölf Klafter tief, und Mensch und Tier sollen einen Bogen machen um die Stätte, wo Ich ihn hineintrat, und die Vögel des Himmels hoch im Fluge ausweichen, dass sie nicht darüber fliegen. Und wer seinen Namen nennt, der soll nach allen vier Gegenden speien und sich den Mund wischen und sprechen: „Behüte! Dass die Erde wieder Erde sei, ein Tal der Notdurft, aber doch keine Luderwiese. Sagt alle Amen dazu!“ Und alles Volk sagte Amen.“ (S. 693f.)

Thomas Mann, Das Gesetz zitiert nach: Thomas Mann, Sämtliche Erzählungen, 1972, S. 641-694. Biblische Texte zitiert nach: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig.

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Gott und das Leiden. Das biblische Buch Hiob und die Hiobromane von Josef Roth und Herbert G. Wells Monika Schwinge Wohl keine biblische Figur - Jesus einmal ausgenommen - ist bis in die Gegenwart hinein für Menschen, und so auch für Philosophen und Schriftsteller, herausfordernder als die des Hiob, des zunächst demütigduldenden und dann klagenden und rebellisch aufbegehrenden Leidenden. Die Beschäftigung mit Hiob und die literarischen Hiobgestaltungen gründen in immer neuem existentiellen Ringen mit dem Leiden, mit der Frage nach Gott und dem Leiden, nach dem Sinn des Leidens.257 Die alttestamentliche Hiobgeschichte ist Dichtung. Sie ist in der frühen Perserzeit, ca. 500 v. Chr. entstanden und geht wohl auf Vorbilder zurück, die in der altorientalischen Weisheitsdichtung eine bestimmte Rolle gespielt haben. Diese behandelten das Thema des leidenden Gerechten. Sie zeigten, wie ein Frommer in großes Unglück geraten kann, aber dadurch, daß er sich an Gott wendet und seine unerkannte Schuld bekennt und beklagt, aus seinem Elend wieder herausgeführt wird. In dieser Weise gab es wohl auch Vorläufer des Hiobbuches im israelitischen Raum. Die dahinter stehende Frömmigkeitshaltung war die Überzeugung von einem Tun - Ergehenszusammenhang. Sie besagt, daß Gott dem Menschen das zuteilt, was er aufgrund seines Tuns oder auch Nichttuns verdient. Diese Überzeugung finden wir auch in dem uns vorliegenden Hiobbuch, vor allem, wie wir sehen werden, bei den Freunden Hiobs, die mit diesem Gedankengebäude den leidenden Hiob trösten wollen. Aber in der Hiobgeschichte steht dieser Frömmigkeit die Haltung Hiobs entgegen mit seinem verzweifelten verstehen wollen, mit seiner auf Gott und auch gegen ihn gerichteten Klage und Anklage. Hiob 257 Hierzu vgl. G. Langenhorst, Ijob - Vorbild in Demut und Rebellion, in: H.Schmidinger (Hrsg.), Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20 .Jahrhunderts, Bd. 2, Mainz 1999, 259 - 280.

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ist gerade für die Menschen und die Literatur späterer Zeiten bis heute so interessant und bewegend, weil er eine in sich äußerst spannungsvolle, bis zum Zerreißen spannungsvolle Gestalt bleibt. Ich möchte nun im ersten Teil dieses Vortrages die Geschichte Hiobs, wie sie uns im Alten Testament erzählt wird, darstellend und interpretierend vorstellen. Im zweiten Teil werde ich auf Josef Roth und seine Verarbeitung des Hiobstoffes, im dritten Teil auf Herbert G. Wells und seine Gestaltung der Hiobthematik in seinem Roman 'Unsterbliches Feuer' eingehen. Zum Schluß werde ich die spannungsvollen Fragen und Antworten zusammenfassen. Nun also zur Hioberzählung selbst. Das Hiobbuch besteht aus einer Rahmenerzählung zu Beginn Kap. 1+2 und am Schluß, Kap. 42,10 -17. Der Teil dazwischen ist ein reiner Dialogteil; er enthält zum einen die Reden zwischen Hiob und seinen Freunden und zum anderen die Reden zwischen Gott und Hiob.258 In der Rahmenerzählung zu Beginn wird zunächst Hiob und seine Situation beschrieben (Kap. 1, 1-5): „Er war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse; er war mit allen Gütern reich und gesegnet.“ Es folgt die erste himmlische Szene: Gott erscheint mit seinem Gefolge, zu dem auch der Satan gehört. Der Satan stellt Gott die Frage, in der auch schon der gegenüber der Tradition neue Geist des Hiobbuches zum Ausdruck kommt: „Meinst du, daß Hiob umsonst Gott fürchtet?“ (1,9). Hiobs Gottesfurcht, so vermutet der Satan, ist verursacht durch dessen großes Wohlergehen, es ist keine Gottesfurcht, kein Gottvertrauen an sich. In den Worten aus dem Mund Satans wird unterschieden zwischen einer absoluten Frömmigkeit, die sich nicht nach dem Nutzen, die sie für einen Menschen hat, bemißt, und einer Frömmigkeit, 258 Zur Auslegung des Hiobbuches: J. Ebach, Streiten mit Gott, Hiob, Teil 1+2, Neukirchen 1995 / 96; H. Gese, Die Frage nach dem Lebenssinn: Hiob und die Folgen, in: H. Gese ( Hrsg. ), Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 170 - 188; H. - J. Hermisson, Notizen zu Hiob, in: H. J. Hermisson ( Hrsg. ), Studien zu Prophetie und Weisheit, Tübingen 1998, 286-299.

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die als Antwort Gottes darauf mit dem Wohlergehen im Leben rechnet. Dies soll, so die Übereinkunft zwischen Gott und Satan, sozusagen experimentell geprüft werden dahingehend, daß Hiob alles verliert, Kinder und Besitz. Zu beachten ist, daß das zwischen Gott und Satan Ausgehandelte nur dem Leser, nicht aber den Akteuren der Erzählung bekannt ist. Im Anschluß an den Dialog zwischen Gott und Satan wird dann erzählt, wie die Hiobsbotschaften Schlag auf Schlag bei Hiob eintreffen, wie er trauert, aber an Gott festhält: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobet“ (1,21). Aus dieser Reaktion geht hervor, daß sein Gottvertrauen, entgegen der Aussage des Satans, sich nicht allein auf den Nutzen gründet, sondern darüber hinausgeht. Es folgt die zweite himmlische Szene, mit einem erneuten Versuch Satans, die Wahrheit seiner Aussage, daß Hiob nicht umsonst Gott fürchtet, zu erweisen. Hiob wird gemäß einer weiteren Abmachung zwischen Gott und Satan nun selbst mit Geschwüren bedeckt. Seine Frau sagt zu ihm angesichts seines unmäßigen Leidens: „Sage Gott ab und stirb“ (2,9). Hiob aber bleibt weiter Gott verbunden. Er antwortet: „Haben wir Gutes von ihm empfangen, wie sollten wir das Böse nicht auch annehmen?“ „In diesem allem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen“, heißt es (2,10). Der Satan scheint widerlegt. In seinem Elend besuchen Hiob dann seine drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar. Sie nehmen zunächst ohne Reden und Tröstungsversuche sieben Tage und sieben Nächte an Hiobs Leiden und seiner Trauer teil; damit legen sie die schwerste, aber der Schwere des Leidens angemessenste, sozusagen seelsorgerlich gebotene, Haltung an den Tag. Damit ist die Rahmenerzählung beendet, und es beginnt der große Dialogteil, zunächst zwischen Hiob und seinen Freunden und dann zwischen Gott und Hiob. Den Anfang des Dialogteils (Kap.3) bildet eine erschütternde Klage Hiobs. Hiob verflucht den Tag seiner Geburt; klagend stellt er die Frage nach dem 'Warum' seines und überhaupt des Lebens im

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Elend. Aus dem Dulder ist jetzt unter dem Unmaß des Leidens der Klagende und Fragende geworden. In dem ersten Redegang zwischen den Freunden und Hiob, der aus jeweils einer Rede eines Freundes und jeweils Hiobs Antwort darauf besteht (Kap. 4 - 14), klagen die Freunde Hiob nicht an. Elifas tröstet, Bildad mahnt Hiob und Zofar weist Hiob wegen seines Haderns an Gott zurecht. Sie wenden sich Hiob zu mit der Überzeugung, Hiob werde alsbald wiederhergestellt, wenn er sich demütig Gott beuge, erkenne, daß Gott kein Unrecht tue, und er deshalb Gott seine Schuld und seine Ungerechtigkeit bekenne. Die Freunde repräsentieren, wie bereits gesagt, in ihren Reden das herkömmliche Denken vom Tun - Ergehenszusammenhang. Dieses besagt: Hiob hat Böses erlitten, weil er selbst, auch wenn er selbst es nicht benennen kann, Unrecht getan hat. Hiob weist dies in seinen Antworten mit aller Schärfe und Intensität zurück. Er bekennt sich als unschuldig, fordert von den Freunden, sie müßten ihrerseits schon benennen, worin er gefehlt habe, klagt die Freunde an, ihn im Stich zu lassen. Er sieht in seiner Not nur Sinnlosigkeit und klagt deshalb nun auch Gott an, fordert von ihm Rechenschaft darüber, warum er ihn für seinen Feind hält. Der Leser als Kenner des Dialogs zwischen Gott und Satan weiß, daß Hiob nicht wegen einer Ungerechtigkeit Leiden zugefügt wird, daß also Hiob mit seinem Festhalten an seiner Gerechtigkeit im Recht ist, die Freunde aber unrecht haben. Im zweiten Redegang mit jeweils wieder einer Freundesrede und einer Antwort Hiobs (Kap.15 - 21) geschieht Steigerung. Die Freunde verurteilen Hiob als Frevler. Hiob argumentiert dagegen: Die Frevler auf Erden haben Glück, er, der Fromme aber wird vernichtet. Gott erscheint ihm in seiner Allmacht, mit der die Freunde Gott zu rechtfertigen suchen, selbst frevelhaft, als Feind. Hiob besteht auf der Erfahrung der Anerkennung durch Gott. In Hiobs zweiter Antwort an Bildad stehen aber dann auch Verse Hiobs, die weithin bekannt sind und gerne als Text für Traueranzeigen und Traueransprachen gewählt werden: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,

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und als der letzte wird er über den Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust“ (19, 25 - 27). Man könnte meinen, bei Hiob sei damit eine Wende eingetreten. Aber dem ist nicht so: die Anklage gegen den Gott, der sich ihm als grausamer Feind zeigt, hört im Folgenden nicht auf. Aber trotzdem, trotzdem gibt Hiob damit seine Hoffnung auf Gott und sein auf ihn gerichtetes Sehnen nicht vollends auf. Und das kommt in diesen Versen zum Ausdruck. Hiob hofft, Gott werde sich schließlich doch sehen lassen als der Löser, als der Anwalt, der zu seiner Verteidigung und Erlösung erscheint. Die Antwort Gottes auf das Problem des Leidens Unschuldiger ist ihm wichtiger als die Behebung seines leidvollen Zustandes. Er will mitten in seinem Leiden Gott als den ihm zugewandten sehen, das ist ihm genug. Hiob geht mit dieser Hoffnung über das hinaus, was die Freunde im Blick auf die Beziehung Gott - Mensch vertreten, gerade weil er sein Leiden nicht mit den herkömmlichen Deutungsmustern verbinden kann. Hiob hält an seiner Unschuld und an Gott, gegen seine Erfahrung mit Gott als Feind, fest, und zwar ohne die Erfahrung eines konkreten Lohns. Es folgt dann noch ein dritter Redegang mit nur zwei Freundesreden, mit einer Rede Elifas' und einer Bildads und jeweils einer Antwort Hiobs. Diese Reden sind kürzer gehalten, aber an sie schließt sich als Beschluß des Dialogs mit den drei Freunden eine überaus lange Rede Hiobs an (Kap. 26 -31). Elifas und Bildad wiederholen im Wesentlichen vorher schon Gesagtes. Bildad weist auf den großen Abstand zwischen Gott und Mensch hin. In seiner langen Abschlußrede klagt Hiob darüber, daß die Weisheit Gottes nicht erkennbar ist; klagend gedenkt er seines früheren Glücks, seiner Ehrenstellung und des jetzigen Verlusts all dessen. Zum Schluß hält er noch einmal fest, daß er kein Unrecht begangen hat, also gerecht ist (Kap. 31).

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Im letzten Vers von Kap. 31 heißt es: „Die Worte Hiobs haben ein Ende.“ Für Hiob gibt es nichts mehr zu sagen. Und Kap. 32 beginnt mit dem Vers: „Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu antworten, weil er sich für gerecht hielt.“ Es folgen dann aber zum Erstaunen des Lesers doch noch einmal vier Reden, und zwar von Elihu, der bisher keine Erwähnung fand, und auf den Hiob auch nicht antwortet. Elihu stellt in klugen Worten die Ferne und Erhabenheit Gottes und die Winzigkeit des Menschen dar. „Darum“, so Elihu zum Schluß (37, 24), „sollen ihn die Menschen fürchten, und er sieht keinen an, wie weise sie auch sind.“ Diese Weisheit Elihus aber behält nicht das letzte Wort. Denn Gott sieht den klagenden und anklagenden Hiob an und redet mit ihm. Gott erscheint, so wird erzählt, im Wettersturm, er spricht zu Hiob in zwei Reden, und Hiob antwortet ihm jeweils kurz. Mit dem sich sehen und hören lassen Gottes erfüllt sich Hiobs Hoffnung. Er erfährt Anerkennung durch Gott; aber er wird in den Reden Gottes zugleich auch zurechtgewiesen, vor allem in Form von an ihn gerichtete Fragen, mit denen Gott ihm zu verstehen gibt: Hiob hat nicht die Macht und die Einsicht, an Gottes Stelle zu treten und das Ganze des Geschöpflichen zu erfassen. Gottes Schöpferhandeln, das wohl rätselhaft ist, ist aber fürsorglich der Welt zugewandt. An Beispielen aus der Tierwelt wird gezeigt, daß Gott von jeher auch die Chaosmächte im Zaum hält. Gegen den Vorwurf Hiobs, Gott lasse die Frevler in der Welt herrschen, demonstriert Gott, daß er allein den Frevlern wehren kann. Hiobs kurze Antwort auf die erste Rede Gottes ist, er sei zu gering. Damit gibt er zu, daß Gottes allmächtiges Wirken für ihn zu hoch ist, er sagt, er will jetzt schweigen. Die Worte Hiobs klingen hier weniger nach Einsicht als nach Kapitulation. Seine zweite Antwort allerdings ist von etwas anderer Art. „Ich bekenne, daß du alles vermagst“, sagt er (42, 2). Er erkennt, daß Gott allein die Welt erhält, keine widerspruchsfreie, heile Welt, sondern eine widerspruchsvolle; daß sein Leiden auf einem für ihn selbst rätselhaften, undurchschaubaren, aber doch sinnvollen Handeln Gottes

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beruht. Hiob beugt sich und spricht sich nun selbst in seinem Leiden schuldig. Eine Veränderung hat stattgefunden. Hiob gibt zu, daß er die seinen Bedürfnissen sich fügende Welt von Gott nicht erwarten kann. Damit ist auch der Satan mit seiner Behauptung widerlegt. Nach der Antwort Hiobs kommen auch die Freunde noch einmal in den Blick. Stellvertretend spricht Gott zu Elifas von seinem Zorn über die Freunde: „Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“ (42, 7). Gott widerspricht der sicheren Behauptung der Freunde von einer widerspruchsfreien, stimmigen Wirklichkeit, einem funktionierenden Tun-Ergehens-Zusammenhang. Auch wenn Gott Hiob wegen seiner Anklage tadelt, nimmt er doch die Klagen und Anklagen Hiobs angesichts des unerklärlichen Leiden ernst. Deshalb soll Hiob dann auch vor Gott fürbittend für die Freunde eintreten, was dieser dann auch tut. Zum Schluß des Hiobbuches wird als Rahmenerzählung die Wiederherstellung Hiobs und seines Glücks erzählt. Das klingt wie ein unglaubliches happy - end, Ende gut, alles gut. Die Hioberzählung kreist um die Frage, ob und wie eines Menschen Gerechtigkeit mit seinem Glück und seinem Wohlergehen auf der einen Seite und übergroßem Leiden auf der anderen Seite zusammenhängt. Die Antwort der Erzählung lautet: Überhaupt nicht. Denn Gott verfügt über Wohlergehen oder Elend in freier Schöpfermacht, keiner hat das Recht, sich Gott gegenüber auf seine Gerechtigkeit zu berufen und bestimmte Lebenskonsequenzen einzufordern, wie Hiob am Ende einsieht. Damit wird die Antwort von dem überkommenen Tun-Ergehens-Zusammenhang außer Kraft gesetzt. Der Verzweckung des Übels und der Gerechtigkeit eines Menschen wird im Hiobbuch ein Riegel vorgeschoben. Dagegen setzt das Hiobbuch nun aber den Verweis auf die unergründliche Allmacht des Schöpfergottes. Aber, und diese Frage stellt sich dem Leser, droht nicht mit dieser Antwort, die das Hiobbuch gibt, letztlich Gott

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doch zu einem Willkürgott zu werden? Kann sich ein Mensch, so wie Hiob es am Schluß tut, damit zufrieden geben?259 Nun aber zum zweiten Teil, zu Josef Roths Roman 'Hiob' aus dem Jahr 1930.260 In diesen Roman sind Josef Roths eigene Lebenserfahrungen eingegangen. Kurz daher ein Blick auf Roth und sein Leben. Moses Josef Roth wurde im Jahr 1884 in Brody, in Galizien, geboren, als Kaiser Franz - Josef noch die ungarische Monarchie regierte. In dieser Stadt lebten viele Juden wie er in bitterarmen Verhältnissen. Der Vater starb, als er 16 Jahre alt war, im Wahnsinn. Josef Roth wurde, in einer fast geschlossenen jüdischen Siedlung aufwachsend, in strengem jüdischen Glauben erzogen. Aber bereits im Gymnasium, wo er mit der deutschsprachigen Literatur in Berührung kam, stellte sich für ihn die Frage der Assimilation und Emanzipation. Beide Welten, die Welt des frommen Glaubens und die Welt der kulturoffenen Moderne prägten ihn tief. Bisweilen liebäugelte er mit dem Atheismus, aber seine religiöse Bindung verlor er nicht. Nach Beginn des literaturwissenschaftlichen Studiums in Wien, meldete er sich zu Anfang des ersten Weltkrieges zum Wehrdienst. Nach dem Krieg setzte er sein Studium nicht fort; er arbeitete als Journalist und wurde als solcher bekannt. Seine Interessen waren nach dem Krieg vor allem politischer Natur. 1925 wurde er für ein Jahr Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris. Danach reiste er rastlos durch Europa. 1922 hatte er in Wien nach jüdischem Ritus Friederike Rechler, eine Wiener Jüdin, geheiratet, die sein unstetes Leben teilte. 1925 erlebt er, wie seine Frau an Schizophrenie erkrankt. Völlig verzweifelt suchte er 1929 in Berlin einen ostjüdischen Wunderrabbi auf, der ihn sehr fasziniert hat und mit dem er stunden- und tagelang über Gott, Glaube und menschliches Schicksal sprach. Ab 1930

259 Hierzu vgl. I. U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008, bes. 432 - 448. 260 Zu J. Roth und seinem Hiobroman: Langenhorst ( wie Anm.1 ), 260 - 264; D. Bronzen, Josef Roth. Eine Biographie, Köln 1974.

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lebte seine Frau nur noch in geschlossenen Anstalten; 1940 wurde sie Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. 1929, in der Zeit des Leidens seiner Frau und seines Leidens mit ihr, begann Roth die Arbeit an seinem Roman Hiob. Dieser erschien 1930 und wurde ein großer Erfolg. 1933 emigrierte Roth vor den Nazis nach Paris. Sein Leben war von da an nur noch Leben in der Krise mit wachsender Geldnot, zunehmendem Alkoholismus. In dieser Zeit neigt er rückwärtsgewandt zur Verherrlichung der Monarchie Habsburgs. Zeugnis dessen ist sein Roman 'Radetzkymarsch'. Parallel zur Hinwendung zur Monarchie nähert er sich auch dem Katholizismus an, publiziert auch in konservativen katholischen Zeitschriften, läßt aber nie Zweifel an seiner jüdischen Verwurzelung. 1939 starb er elend. Josef Roth war ein Wanderer zwischen den Welten, heimatlos, wie er sich selbst bezeichnet hat: Ein Wanderer ohne festen Wohnsitz, der am Ende für ein katholisches deutsches Reich schwärmte, ein Jude, der dem Judentum verbunden blieb, mit dem orthodoxen Katholizismus liebäugelte, aber nie konvertierte, ein Künstler und Stilist, der in seinem persönlichen Leben sich nicht zurechtfand. Der Roman Hiob ist deshalb auch zu lesen als der Roman einer Zeit- und Lebenskrise, der, wie es in einer Veröffentlichung zu Roth heißt, eine vollmundige Gläubigkeit ebenso in die Krise führt wie eine vollmundige Ungläubigkeit.261 Roth nennt seinen Roman 'Hiob' den Roman eines einfachen Mannes. Darin schon unterscheidet er sich von der alttestamentlichen Hioberzählung. Der Hiob dort ist ja ein mit Reichtum und Glück gesegneter und angesehener Mann. Mendel Singer, der Held des Rothschen Hiobromans, lebt im galizischen Zuchnow, also in der Heimat Roths. Er ist, damit gleicht er dem ursprünglichen Hiob, ein gottesfürchtiger und frommer Jude. Als Lehrer der Heiligen Schriften für jüdische Kinder fristet er ein kärgliches, aber zufriedenes Dasein mit seiner Frau Debo261 Hierzu vgl. K.-J. Kuschel, „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter...“. Literarisch - theologische Portraits, Mainz 1991, 164 - 193.

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rah und den Kindern Jonas, Schemarjah und Mirjam. Von einem Tag auf den anderen wird er, der ganz gewöhnliche Ostjude, mit seinem Leben aus der Bahn geworfen: Sein viertes Kind, ein Sohn namens Menuchim, kommt als geistesgestörter und entwicklungsgestörter Epileptiker zur Welt. Doch ein Wunderrabbi, den Deborah aufsucht, prophezeit ihr etwas, was Mendel dann später von ihr erfährt: „Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftut, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus. Verlaß deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last wird, gib ihn nicht weg von dir“ (S. 14). Von Deborah heißt es daraufhin: „Gnade im Herzen kehrt sie heim.“262 Diese Prophezeiung erinnert an spätprophetische Weissagungen und zugleich auch an neutestamentliche Botschaft: daß Gott nämlich den Geringen, Verachteten, den leidenden Gottesknecht zur Ehre bringen wird und von ihm Heil ausgehen läßt. Die verheißene Besserung und Gesundwerdung Menuchims läßt auf sich warten. Dabei verschlechtert sich der Zustand der Familie zusehends: Die Beziehung der Eheleute erkaltet, der älteste Sohn Jonas wird, zur eigenen Freude, für den Juden Mendel aber eine von Grund auf zu verneinende Assimilation, zum Wehrdienst eingezogen; der jüngere Sohn Schemarjah kann mit Deborahs Hilfe dem Kriegsdienst entgehen und flieht nach Amerika. Dort zum reichen Mann geworden will er seine Familie nachholen, doch Mendel und Deborah wollen ihre Heimat, vor allem aber den kranken Menuchim nicht verlassen. Dann aber entdeckt Mendel, daß seine Tochter, in der Sicht eines Juden eine Schande, eine Beziehung mit einem Kosaken unterhält. Im tragischen Konflikt, entweder Mirjam zu retten oder bei Menuchim zu bleiben, entscheidet er sich 262 Benutzte Ausgabe: J. Roth, Hiob, Rowohlt Taschenbuch 480, Reinbek bei Hamburg 1976.

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für seine Tochter. Mendel zusammen mit Deborah und Mirjam emigriert nach Amerika. Zurückbleiben Jonas, der den Kontakt zu seiner Familie weitgehend abgebrochen hat, und Menuchim, dieser in der Obhut einer befreundeten Familie. Das Schuldgefühl gegenüber Menuchim und den Schmerz über die Trennung von ihm nehmen Mendel und Deborah mit und werden beides nicht mehr los. In Amerika scheint sich zunächst aber alles zum Guten zu wenden. Sam, so nennt sich der Sohn Schemarjah jetzt, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, heiratet und bekommt ein Kind, Mirjam arbeitet im Geschäft des Bruders und verlobt sich mit Sams bestem Freund Mac. Auch Mendel und Deborah gewöhnen sich ein. Sie planen, Menuchim nachzuholen. Doch dann geschieht wieder die große Wende zum Schlechten. Eine Hiobsbotschaft folgt auf die andere: Der erste Weltkrieg bricht aus. Jonas, der zuhause Gebliebene, wird als verschollen gemeldet, der Sohn Sam fällt in Frankreich, auf die Nachricht von seinem Tod stirbt Deborah, und Mirjam verfällt dem Wahnsinn. Mendel, der bis dahin sein Leben in fromm - stoischer Ergebung ertragen hat, fängt nun, ähnlich wie Hiob, an, gegen Gott zu rebellieren. Er, der alle menschlichen Beziehungen verloren hat, will nun auch seine letzte Beziehung, seine Beziehung zu Gott, von dem er sich vernichtet fühlt, abbrechen. Er macht in seiner Küche auf der offenen Herdplatte ein Feuer und will seine Gebetsriemen, seinen Gebetsmantel und seine Gebetbücher, die Insignien seiner langjährigen Gottesbeziehung, verbrennen. Und dabei ruft er wild aus, und stampft mit den Stiefeln nach draußen hörbar den Takt dazu, (S. 115): „Aus, aus ist es mit Mendel Singer, er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gott sagt: Ich habe Mendel Singer bestraft. Wofür straft er, Gott?“ Warum straft er nicht andere, fragt er, und er zählt Nachbarn auf. „Nur Mendel straft er! Mendel hat den Tod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle Gaben Gottes hat Mendel. Aus, aus ist es mit Mendel Singer.“ „Sein Herz“, so heißt es weiter, „war böse auf Gott, aber in seinen Muskeln wohnte noch die Furcht vor Gott.“ Und sie hält

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ihn davon ab, die Gebetsinsignien wirklich ins Feuer zu werfen. Die Nachbarn hören Mendels Schreien und Toben und holen die Freunde herbei. Auf ihre Frage, was er denn verbrennen wolle, sagt er: „Gott will ich verbrennen“ (S. 116). Es folgt, wie im Hiobbuch, ein Gespräch mit den Freunden. Zu Anfang des Gesprächs erinnert ihn einer der Freunde ausdrücklich an Hiob, an dessen Rebellion gegen Gott, seine Mendels Rebellion sei ebenso ungerecht wie damals die Rebellion Hiobs. In seiner Antwort bezieht sich auch Mendel auf Hiob, und zwar auf den glücklichen Ausgang der Hiobsgeschichte und sagt: „Was willst du mit dem Beispiel Hiobs? Habt ihr schon wirklich Wunder gesehen mit euren Augen? Wunder, wie sie am Schluß des Hiob berichtet werden?“ (S. 118). Wie im Buch Hiob steigern die frommen Mahnungen den Zorn Mendels. Am Ende des Gesprächs sagt er: „Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehaßt. Alle Pfeiler aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Er kann mich nur noch töten, aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben“ (S.119). Er meint damit Leben als Hölle und ahnt nicht, wie am Ende dieser Satz 'ich werde leben, leben, leben' auf wunderbare Weise wahr wird. Sein Schlußsatz „Gütiger als Gott ist der Teufel“ bringt die Freunde zum Verstummen, und sie tun das, was im Hiobbuch die Freunde am Anfang ihres Besuchs bei Hiob tun, sie bleiben bei ihm sitzen ohne Worte, wollen ihn in seinem Leiden nicht alleine lassen. Mendel Singer wohnt von da an in einem Zimmer bei einem seiner Nachbarn. Seine Gebetsinsignien hatte er zwar nicht verbrannt, aber, so heißt es, „Mendel Singe betete nicht mehr.“ Doch, so heißt es weiter, „es tat ihm weh, daß er nicht betete“ (S. 120). Und dann noch einmal eine Wende: Der Krieg ist zu Ende, und Mendel erlebt, „wie ein kleiner stiller Friede über ihn kommt“ (S. 126). Ein Heimkehrer aus der Nachbarschaft hat Schallplatten mitgebracht und Mendel hört diejenige, die obenauf liegt. Er erlebt: Niemals war ein Lied wie dieses hier gewesen. Er hört es mehrmals, summt und singt schließlich mit. Der Nachbar schaut auf den Text der Platte und sagt: „Das Lied heißt Menuchims

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Lied“ (S. 127). Eine langsame Veränderung geht von da an mit Mendel vor. Von dem Besitzer eines Ladens in der Nachbarschaft hört er danach von einem Konzert mit der Aufführung von Menuchims Lied. Der Nachbar läßt Mendel auf dem Programm auch ein Foto des Komponisten von Menuchims Lied sehen. Mendel ist zutiefst berührt von dem Foto (S. 136). Und dann kommt das Passahfest, das Fest, an dem die Erinnerung an die Befreiung des Volkes Israel die jüdische Erlösungshoffnung nährt. Mendel ist bei der Feier seiner Freunde anwesend, als ein fremder Gast hereinkommt und sich mit dem Namen Kossak als ein ferner Verwandter Mendels vorstellt. Er berichtet von der ihm zugekommenen Nachricht, daß Jonas lebt. Mendel ist sehr berührt von seinem Anblick. Nach seiner eigenen Lebensgeschichte gefragt, erzählt der Fremde eine Geschichte, die derjenigen Menuchims gleicht, die Geschichte eines, der krank war von Geburt an, dann aber gesund wurde und Musiker wurde. Im Tiefsten berührt fragt Mendel nach Menuchim. Der Fremde nach einer Pause: „Menuchim lebt“ (S. 145). Mendel bricht zum Erschrecken aller in ein großes Lachen aus, und dann weint er und fragt: „Wo ist Menuchim?“ Und dann die endgültige Wiedererkennung, als der Fremde sagt: „Ich selbst bin Menuchim“ (S. 146). Mendel rührt sich nicht, bis Menuchim ihn aufnimmt und ihn, so heißt es, wie ein Kind auf seinen Schoß setzt. Mendel flüstert die in Erfüllung gegangene Prophezeiung: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde, die Krankheit stark“, und er fügt hinzu: „Groß sind die Wunder, die der Ewige vollbringt, heute noch wie vor einigen tausend Jahren. Gelobt sei sein Name“ (S. 147). Wie Hiob bekennt sich dann auch Mendel vor Gott schuldig. Aber anders als bei Hiob, dem Gott in seiner unerforschlichen Allmacht gegenübertritt, erfährt Mendel das göttliche Wunder der Gnade in menschlicher Gestalt. Das Erscheinen Menuchims und seine Gestalt hat etwas von der Gestalt des Messias, des Erlösers. Das wird von Roth auch dadurch deutlich gemacht, daß Menuchim während der Passahfeier erscheint. Nach jüdischem Ritus

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bleibt bei der Feier des Passah immer ein Stuhl leer, als Zeichen der Erwartung, daß der Messias erscheint. Nach der Wiedererkennung nimmt Menuchim seinen Vater mit sich, zuerst in sein Hotel. Er will sich sofort um Mirjam kümmern, für die, so hat er erfahren, Heilung möglich ist. Im Schlußsatz des Romans heißt es von Mendel: „Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“ (S. 154). Bei Josef Roth wird nicht, wie in den Gottesreden des Hiobbuches, das Leiden der Allmacht Gottes zugeschrieben. Eine Erklärung des Leidens wird hier nicht gegeben. Gott vielmehr erscheint bei Roth als der, der durch das unbegreifliche und unerklärliche Leiden hindurch Wunder wirkt, auf diese Weise als gnädig, barmherzig und von großer Güte erfahrbar wird. Etwa zur gleichen Zeit wie Roth, von 1866 - 1947, lebte der englische Schriftsteller Herbert George Wells. Er ist vor allem mit seinen Science Fiction - Werken bekannt geworden. Er kombinierte darin naturwissenschaftliches Wissen, Elemente des Abenteuerromans, politische und philosophische Reflexionen und Motive einer technifizierten phantastischen Literatur. Nach 1910 schrieb er auch sogenannte Problemromane wie den Roman 'Unsterbliches Feuer.' Dieser Hiobroman ist in seinem Aufbau der biblischen Hiobgeschichte ähnlicher als der Roman von Roth. Der Roman beginnt, wie im Hiobbuch, mit einer Himmelsszene, ausführlich und phantastisch geschildert. Ausdrücklich wird betont, daß die Stellung Satans im Himmel so ungeklärt ist wie im Buch Hiob, ob er ein unerklärlicher Eindringling ist oder zu den Söhnen Gottes gehört. Hier schon zeigt sich: der Roman ist voll von geistesgeschichtlichen Anspielungen und Reflexionen. Gott und Satan spielen bei Wells miteinander Schach. Und bei diesem Spiel kommt es zu einem dialogischen Wettstreit beider: Gott wirft Satan vor, die Ebenmäßigkeit seines Universums zu zerstören, ebenso den Menschen, der von ihm zu seinem Ebenbild

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geschaffen ist. Der Satan stellt sich demgegenüber als der dar, durch den das Leben auf der Erde erst eigentlich interessant und lebendig wird. Mehrfach spielt hier Wells auf Goethes Faust an. In ihrem Gespräch kommen Gott und Satan auch auf Hiob zu sprechen und die Wette, die sie vorzeiten im Blick auf Hiob abgeschlossen hatten und streiten darüber, wer damals eigentlich gewonnen hat. Die Antwort gibt bei Wells ein Lichtwesen, und heißt: „Satan hat verloren. Hiob war zwar in jeder Hinsicht geschlagen. Aber im Menschen bleibt ein unsterbliches Feuer zurück“ (S. 13f.).263 Daraufhin sagt Satan: „Job lebt noch. Die ganze Erde ist heute Job.“ Gott gewährt dem Satan seine Bitte, zu beweisen, daß Job die ganze Menschheit geworden ist. Sie gehen eine neue Wette darüber ein, ob der Mensch Gott verfluchen oder preisen wird. Gott hält an seiner Idee von der Bestimmung des Menschen zu seinem Ebenbild fest, daran, daß sein Geist immer wieder die Menschen zum Guten fähig macht. Der Mensch, so sagt Gott, ist unsterblich und steht erst am Anfang. Er ist sterblich und nahe am Ende, so der Satan. Wenn er im Elend ist, wird er sich wie ein Tier benehmen. Gott gesteht dem Satan zu, zur Probe alles mit ihm zu machen, ihn nur nicht zu töten. Nach Beendigung der Szene im Himmel wird dann die folgende Geschichte eingeleitet, mit der an einem einzelnen Menschen, nämlich Job Huss, gezeigt werden soll, ob Satan oder Gott recht hat. Dieser Job Huss war bis zu dem Augenblick einer ihn treffenden Unglücksserie ein weithin angesehener Direktor der modernen Internatsschule von Wondingstanton in Norfolk. Das Unglück begann damit, daß infolge einer Masernepidemie und einer diesbezüglichen Nachlässigkeit zwei Schüler starben. Am selben Tag kam es zu einer Explosion im Chemiesaal, bei der ein Lehrer umkam. Und ganz kurz darauf brannte das Schulgebäude ab, und zwei Jungen starben. Alles schien sich nun gegen den Direktor zu verschwören. Am Morgen nach dem Brand nahm sich auch dessen Anwalt das Leben. Huss entschied unter dem Druck seiner Frau, wäh263 1985.

Benutzte Ausgabe: H. G. Wells, Unsterbliches Feuer, Ullstein, Frankfurt u.a.,

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rend der Ferien in der Nähe der Schule, in Sundering Sea, im Haus Seeblick, sich einzumieten. Dort erreicht das Ehepaar die Nachricht, daß ihr einziger Sohn im Krieg abgeschossen wurde. Schließlich erkrankt Huss selbst mit der Diagnose Krebs. Gegen den Gedanken an Suizid geht er an mit dem Satz: „Ich werde es bis zum Ende durchkämpfen“ (31). Bei einem Arztbesuch wird die Entscheidung zur Operation getroffen. Seine Frau sagt, wie die Frau Hiobs: „Verfluche Gott und stirb.“ Er aber antwortet: „Ich werde bis zum letzten gehen“ (S. 39). Anders als im Hiobbuch Hiob und bei Roth Mendel ist Job Huss von Anfang an der Kämpfer. Ein Szenenwechsel erfolgt, überschrieben 'Die drei Besucher'. Aber die Besucher sind nicht, wie im Hiobbuch und bei Roth, Freunde des Leidenden. Drei einflußreiche Herren, zwei davon haben als Größen in der Wirtschaft Einfluß auf die Schule, Sir Eliphas Burrowas und Mr. Dad, dazu Mr. Far, der Leiter der technischen Abteilung von Woldingstanton, kommen zusammen und planen, Huss abzusetzen und aus der Schule eine rein naturwissenschaftliche Schule zu machen.264 Sie wollen die Misere, in die die Schule und Huss durch die Unglücksfälle gekommen sind, für ihre Ziele nutzen, haben also ganz andere Motive als die Freunde im Hiobbuch und bei Roth. Sie planen einen Besuch bei Job Huss. Im Haus Seeblick ist inzwischen die Operation durch einen von außerhalb kommenden Arzt geplant. Am Tag der Operation wird das Gespräch mit den drei Besuchern angesetzt. Dieses, wie vieles in dem Roman, ist sehr konstruiert. Die Besucher treffen auf einen kämpferischen Huss, der ihnen sogleich sein Wissen über die Wahrheit ihrer Motive mitteilt. In einer langen Rede bezeichnet er seinen untadeligen und leidenschaftlichen Dienst in der Schule als Dienst an Gott. Aber angesichts dessen beginnt er auch schon, Gott anzuklagen, nach dem Warum seines Leidens zu fragen. Er fragt, warum er denn Gott nicht verfluche und gibt selbst die Antwort, indem er sagt, er warte immer noch auf ein Zeichen 264 Die Namen der drei Besucher weisen Ähnlichkeit zu den Namen der drei Freunde im Hiobbuch auf.

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von Gott (vgl. Hiob und Mendel). Gegenüber dem Versuch der Besucher, Huss Vergehen und Fehler nachzuweisen, stellt er ihnen vor Augen, was ihn leitete, nämlich: der großen Aufgabe des Menschen nachzukommen, den göttlichen Menschen in der Seele der Menschen zum Wachsen zu bringen, ihn zur Teilnahme am göttlichen Leben zu befähigen. Huss zeigt sich hier als der, der dem, was Gott im Gespräch mit dem Satan vom Menschen gesagt hat, entspricht. Die Antwort der drei Besucher auf das von Huss Gesagte lautet ähnlich wie die der Freunde im Hiobbuch und bei Roth: Gott schlägt den Menschen nicht ohne Grund, der große Lenker der Welt irrt nicht, ist auch gar nicht an den Bemühungen des Menschen interessiert. Wie bei Hiob und Mendel steigert sich durch diese Reden auch bei Huss die Aggression gegenüber einem unerklärlich handelnden Gott. Nach einiger Zeit erscheint der Hausarzt Dr. Elihu Barrak (wieder eine Namensanspielung auf das Hiobbuch) und teilt mit, daß der Operateur später als geplant kommt. Es entwickelt sich nun ein Dialog zwischen Elihu und Huss. Huss entwickelt, daß durch die geplante, vor allem technische Erziehung in Woldingstanton die Erkenntnis des Menschen von seiner göttlichen Bestimmung leidet und damit auch seine eigene Bereitschaft, an der Schaffung des Guten mitzuarbeiten. Nur im Herzen der Menschen, so Huss, leuchtet Gerechtigkeit. Vom Ankläger Gottes wird er jetzt wieder mehr zum Verteidiger seines Gottesbildes, des Gottes der Zuversicht und des Muts in den Herzen der Menschen. Zugleich aber quält ihn die Frage weiter, was Gott mit dem ganzen Elend zu tun hat, und er will keine billige, tröstende Antwort, die zur Ergebung auffordert. Elihu tadelt Huss, weil er Gott mit dem Geist des Menschen gleichsetze. Er, Huss, erfinde etwas, was er den Geist des Menschen nenne, den Gott im Herzen. Huss darauf: Er sei stolz auf den Gott in seinem Herzen. Es gebe nirgends einen Sinn, nirgends eine Schöpfung außer das unsterbliche Feuer, den Geist Gottes in den Herzen der Menschen, der gegen das Chaos anarbeite und die Menschen zur Gemeinschaft befähige. Dieser Teil des Dialogs ist voll von philosophiegeschichtlichen und zeitgeschichtlichen An-

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spielungen. An seinem Ende wiederholt Huss die Worte Hiobs: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ (S. 191). Der Dialog wird beendet durch das Eintreffen des Operateurs. Während der Narkose träumt Huss: Er sieht sich zurückversetzt in die Zeit und Situation Hiobs, aber er erlebt in dem Traum auch eine Begegnung mit einer Stimme, von der er nicht weiß, ob sie Gottes oder des Satans Stimme ist. Er hört: Das Böse sei eine notwendige Ergänzung zu dem Guten, sonst wäre das Gute nicht zu erkennen, und man brauche darum auch nicht zu kämpfen. Mit dieser Erklärung, die die Stimme im Traum gibt, wird auf eine alte und auch neuzeitliche Erklärung zur Rechtfertigung des Bösen und damit auch des Schmerzes Bezug genommen. Im Traum schreit Job verzweifelt: „O Gott, antworte mir. Habe ich ein Recht zu kämpfen? Habe ich recht, daß ich von meiner kleinen Erde herauf zu den Sternen komme?“ (S. 204). Job will eine Garantie und ein Versprechen, daß er siegen werde mit seinem Kampf für den Menschen. Und er vernimmt im Traum: „ Du kannst siegen. Solange dein Mut andauert, wirst du siegen. Wenn dieser Mut erlöscht, wenn das heilige Feuer erlöscht, dann vergehen alle Dinge und verlöschen, alles, das Gute und das Böse, Raum und Zeit“ (205). Der Schluß des Romans ist: Die Diagnose Krebs war falsch, Huss ist auf dem Weg der Gesundung. „Er hatte“, so heißt es, „nicht mehr das Gefühl, daß eine unbesiegbare Macht sein Leben umklammere; sein natürlicher Mut war zurückgekehrt“ (S. 208). Er erfährt, daß er, besonders auf den Einsatz ehemaliger Schüler hin, Direktor von Woldingstantom bleiben kann. Und dann am Ende kommt die Nachricht seiner Frau, daß der Sohn lebt. Die letzten Worte des Romans sind ein Schuldbekenntnis Jobs, ähnlich wie das Schuldbekenntnis Hiobs und Mendels: „Und ich war so böse wegen der Trauer, .. ich war so böse“ (S. 221). Die Grunderfahrungen im Hiobbuch und in den beiden von ihrer Zeit geprägten Hiobromanen sind ähnlich: Menschen, für die sich Gotteserfahrung, Welt- und Selbsterfahrung im Einklang befinden, werden durch

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übergroßes Leiden in ihrem Vertrauen zu Gott und der Welt und zu sich selbst irre. Sie verstehen Gott und die Welt nicht mehr. Sie klagen zu Gott hin und klagen Gott an, wollen ihn zur Rechenschaft ziehen. Freunde und Besucher empfinden das als Frevel gegenüber Gott, suchen dem Leiden einen Sinn zu geben und es zu erklären. Alle drei, Hiob, Mendel und Huss, sind nicht dazu bereit, ihr Leiden als gerecht und sinnvoll anzusehen; aber bei allen bleibt der Schmerz darüber, Gott verloren zu haben, es bleibt die Hoffnung, Gott doch noch als Erlöser zu erfahren. Alle drei erleben dann, daß Gott auf sie eingeht, ihr Klagen und Anklagen ernst nimmt. Hiob und Huss erkennen auf unterschiedliche Weise, daß das Böse und die Übel auf unergründliche Weise zu Gott gehören: als Ausdruck seiner Allmacht, so Hiob, als notwendiger Gegensatz zu dem Guten, aber der göttliche Geist entfaltet im Menschen immer das unsterbliche Feuer der Hoffnung und des Mutes, so Huss. Anders ist es bei Roth: Hier findet am Ende keine Begegnung mit dem im letzten unergründlichen Gott statt.Vielmehr: In der Begegnung mit seinem Sohn Menuchim, der Züge des Messias, des Erlösers, hat, erscheint Mendel der Wunder schaffende Gott in der Niedrigkeit eines Menschen. Eine Lösung, im Sinne einer allgemein überzeugenden und alle beruhigenden Lösung der Frage, ob und wie Gott und das menschliche Leiden zusammenzubringen sind, ist weder in der Hiobsgeschichte, noch in den beiden Hiobromanen zu finden. Das Leiden, wie das von Hiob, Mendel und Huss, bleibt die offene Wunde im Erleben der Menschen und damit auch in ihrer Gottesbeziehung, und deshalb bleiben im Leiden auch die drängenden, auf Gott gerichteten Warum - Fragen, die Klagen und Anklagen. Aber Klage und Anklage können, das wird in der Hiobgeschichte und in den beiden Romanen zum Ausdruck gebracht, durch die Erfahrung mit Gott doch auch immer wieder zum Vertrauen auf Gott gegen den Augenschein führen.

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Lion Feuchtwanger: Jefta und seine Tochter Frauke Dettmer Lion Feuchtwanger, 1884 in München geboren, gehörte seinerzeit zu den meist gelesenen deutschen Autoren. Er wuchs in einer begüterten, traditionsorientierten jüdischen Fabrikantenfamilie auf. Seine Promotion widmete er Heinrich Heine. Und wie dieser von ihm sehr geschätzte Literat löste sich auch Feuchtwanger vom orthodoxen Judentum, ohne vom Judentum ganz zu lassen. Mit dem historischen Roman „Jud Süß“ 1925 gelang ihm sein erster großer Erfolg, auch über Deutschland hinaus. Früh erwies er sich als hellsichtig gegenüber den von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahren (siehe z.B. sein Roman „Erfolg“, 1930), was denen nicht verborgen blieb. Als Jude und linker Intellektueller galt er ihnen in doppelter Hinsicht als Gegner, der im Sommer 1933 ausgebürgert wurde und dessen Bücher verbrannt und verboten wurden. Flucht und Exil schlugen sich auch literarisch nieder, zum Beispiel in den Romanen „Exil“ und „Die Geschwister Oppermann“. Exil bedeutete zunächst Südfrankreich. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde Feuchtwanger in ein französisches Internierungslager gesperrt. Von dort gelang ihm schließlich die Flucht über Spanien und Portugal in die USA. 1955 begann er seinen letzten Roman, den er 1957 beendete. Am 21. Dezember 1958 starb Feuchtwanger in Kalifornien. Dieser letzte Roman Feuchtwangers ist angelehnt an das Buch der Richter 11, in dem in 47 Versen von dem Richter Jefta erzählt wird. In der ersten Episode wird davon berichtet, dass Jefta der unehelich geborene Sohn des Richters Gilead und einer „Hure“ sei. Er wird von seinen ehelichen - Halbbrüdern und deren Mutter um sein Erbe gebracht und fortgejagt und zieht sich in das Land Tob (östlich von Baschan, also ein ganzes Stück nordöstlich des Jordans) zurück. In der dortigen Wildnis sammelt er Leute um sich, einen Trupp von Söldnern. Als der Stamm

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Gileads von den Ammonitern bedroht wird (sie leben südöstlich des Jordans), kommen die Ältesten Gileads zu ihm und erbitten seine Hilfe. So wird der Ausgestoßene vom Volk der Gileaditer zu ihrem Anführer erwählt. In der zweiten Episode werden die Verhandlungen mit dem König der Ammoniter geschildert. Beide Völker, die Israeliten und die Ammoniter, beanspruchen das südöstliche Jordanland für sich. Dritte Episode: Da es zu keiner friedlichen Einigung kommt, zieht Jefta mit seinen Kriegern gegen die Ammoniter. Jefta legt ein Gelübde ab. Wenn er über die Ammoniter siegt und heil nach Hause kommt, so wird er das, was ihm aus seiner Haustür als erstes entgegen kommt, Gott als Brandopfer darbringen. Er besiegt die Ammoniter. Als er sein Haus in Mizpeh erreicht, kommt ihm seine einzige Tochter mit Pauken und Tanz entgegen. Sie nimmt die Opferrolle an, bittet den Vater lediglich um eine Frist von zwei Monaten, in denen sie in der Einsamkeit der Berge mit ihren Freundinnen ihre Jungfrauenschaft beweinen will. Nach der Rückkehr vollzieht Jefta das Opfer. Sechs Jahre amtiert er dann als Richter, bis zu seinem Tod. In seinem Nachwort zu dem Roman schreibt Feuchtwanger: „Von der Zeit an, da ich als Knabe das Buch der Richter mühevoll aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzen mußte, ließ mich die merkwürdige Erzählung von dem Gelübde Jeftas nicht mehr los.“ Und an anderer Stelle spricht er von der „schönen und erregenden Erzählung“ des Gelübdes und der Opferung: „Lebendig blieben aber nur jene zehn Sätze, in denen ein Unbekannter ums neunte Jahrhundert vor unserer Zeit bewegt und bewegend von dem Gelübde und dem Opfer Jeftas erzählt.“ Diese Sätze blieben ihm lebendig und haben ja nicht nur ihn fasziniert.265 265 Lion Feuchtwanger, Jefta und seine Tochter, Hamburg 1957. Nachwort S. 375 ff.

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Es gibt mindestens 305 literarische und 174 musikalische Werke, dazu einige Gemälde und Skulpturen, die sich thematisch mit dieser Opfergeschichte beschäftigen. Am bekanntesten sind sicher Händels Oratorium „Jephta“, Robert Schumanns Lied „Die Tochter Jephtas“ und Lord Byrons Gedicht „Jephta's Daughter“ und vielleicht noch Giacomo Meyerbeers Oper „Jephtas Gelübde“. Aber es gibt auch eine Menge barocker Klagedichtungen und Renaissancedramen, die in aller Regel heute vergessen sind. Die jüdische Theologin Ruth Lapide meint, dass die Faszination vor allem christlicher Autoren für den Opferstoff damit zusammen hänge, dass ja nach ihrem Glauben Gott seinen Sohn geopfert habe.266 Dabei konzipierte Feuchtwanger die Handlung zunächst noch so, dass das Opfer letzten Endes nicht vollzogen wurde. Nicht Jefta, der Vater, sondern der Priester Abijam sollte in dieser Version das Opfer vollziehen. Der aber entscheidet sich, das Mädchen am Leben zu lassen. Aus konzeptionellen Gründen kehrte Feuchtwanger dann doch zur Bibelversion zurück.267 Darauf werde ich später eingehen. Feuchtwanger beschreibt im Nachwort, dass sein Anliegen unter anderem war, mit Hilfe der historischen Forschung die Handlung und die Personen in der Zeit anzusiedeln, in der die Richter lebten, also „um die Wende der Bronzezeit“268, 1300 bis 1000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Im biblischen Text, der später entstand, vielleicht in der letzten Version sogar erst im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, glaubt er nämlich zu spüren, dass den Autoren die Richter-Zeit schon fern und fremd war. Dem Autor Feuchtwanger lag nicht daran, einen 266 Alpha-Forum Extra: Jephtah – ein Tochter-Mörder? Ruth Lapide im Gespräch mit Walter Flemmer. Bayerischer Rundfunk, 11.10.2002, www.BR-online-Publikationab-1-2010-176609-20100730084305.pdf. 267 Tanja Kinkel, Naemi, Ester, Raquel und Ja'ala. Väter, Töchter, Machtmenschen und Judentum bei Lion Feuchtwanger. Bonn 1998. S. 108 f. 268 Feuchtwanger, Nachwort, S. 378.

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biblischen Roman zu schreiben. Vielmehr war seine Absicht, „aus dem breiteren Wissen unserer Zeit heraus“, also mit dem Wissen und im Licht der Gegenwart der Bibelerzählung eine historische Dimension zu geben. Und nur in diesem Sinne „sollte Jefta ein biblischer Roman sein“, so der Autor in seinem Nachwort.269 Der Topos von der Opferung eines geliebten Menschen ist uns allen aus der griechischen Dichtung und aus der Bibel bekannt. Nach Feuchtwanger sind die frühesten Dichtungen mit diesem Thema etwa um die gleiche Zeit in Israel und Hellas entstanden, wohl im neunten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung: Agamemnon, der seine Tochter Iphigenie opfern soll, Idomeneus, der auf Grund seines Gelübdes seinen Sohn dem Gott Poseidon verspricht. Um die gleiche Zeit entstand die Erzählung von der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham, eine Prüfung durch Gott, die schließlich ohne Opferung endet. Um diese Zeit müssen wir auch die Erzählung Jeftas und seiner Tochter ansiedeln, so Feuchtwanger.270 Jedoch hatten die Autoren dieser Epoche offenbar schon Probleme mit der Opferung von Menschen, die sie mit ihrem hellenistischen und jüdischen Gottesbild nicht vereinbaren konnten. So milderten sie die zu einer früheren Zeit und mit einer anderen Ethik an sie überlieferten Erzähltraditionen ab. Iphigenie wird gerettet, Idomeneus wird gerettet und Isaak ebenso. Nachbiblische Autoren konnten die Opferung gar nicht mehr gutheißen. In ihren Versionen ist Gott empört über das sündhafte Gelübde. Zur Strafe faulen Jefta die Glieder ab. Feuchtwanger hingegen lässt die Geschichte Jeftas und seiner Tochter, der er den Namen Ja'ala gibt, gerade in der historischen „Echtzeit“ spielen. „Der wilde, blutige, große, unselige Bandenführer Jefta“ soll in seinem Roman „zu einem

269 270

a.a.O., S. 382. a.a.O., S. 377.

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Manne historischer Wirklichkeit werden“, zugleich aber auch zu einem Gleichnis.271 Und so führt uns der Autor in den ersten vier Kapiteln in die historische „Echtzeit“ ein und macht uns mit einer Vielzahl von Personen bekannt, vor allem aber mit Jefta. Die Israeliten sind als Nomaden, als Wanderhirten in das Jordanland gekommen, haben sich in Raubzügen die Gebiete westlich des Jordans genommen (dort leben die Efraimiter) und östlich des Jordans (dort leben die Gileaditer) und erproben die Sesshaftigkeit, eine für sie neue Lebens- und Zivilisationsform. Sie sind Eroberer, kämpferisch, oft grausam und kriegerisch. Das Leben an einem ständigen Ort mit dem dazu gehörigen Rechtssystem muss sich erst entwickeln. Als Jefta von seinen Halbbrüdern und seiner Stiefmutter als Bastard seine eigene Mutter war eine Ammoniterin, also Nicht-Israelitin - enterbt und vertrieben wird, zieht er sich zwar verletzt und wütend in das Land Tob zurück, aber damit auch in die nicht sesshafte, freie Lebensform, die er eigentlich noch immer am meisten schätzt, die seinem wilden, unabhängigen Charakter entspricht. Begleitet wird er von seiner Frau Ketura, die Ammoniterin ist, eine Kriegsbeute - er wiederholte also die Handlungsweise seines Vaters, mit dem Unterschied, dass er Ketura zu seiner einzigen Frau machte. Mit ihnen zieht ihre gemeinsame Tochter Ja'ala, zu diesem Zeitpunkt etwa 12 Jahre alt. Der Autor beschreibt immer wieder die „löwenhafte“ Wildheit Jeftas, seine Spontaneität wie seinen Jähzorn, sein raues, aber auch mitreißendes Lachen, seine ungehemmten Machtambitionen; seine Eitelkeit und seine Launen; seine grundsätzliche Unfähigkeit, Befehle anderer zu akzeptieren. „Wenn ihm einer Ketten anlegt, ist er es selber.“272 Es ist 271 272

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a.a.O., S. 378 f. a.a.O., S. 229.

einerseits die wilde Natur, die ihn gern im Land Tob leben lässt, vor allem aber das Fehlen einer juristischen Ordnung, die das Zusammenleben der Sesshaften regelt. Hier bestimmt er allein. Jefta liebt Frau und Tochter. Ketura ist „Weib seiner Rippe und seines Herzens“.273 Sie teilt seine Liebe zur Wildnis, ja, mehr noch als er ist sie Teil der wilden Natur. Es gibt Momente, da stehen ihrer beider Götter zwischen ihnen: Baal, der geflügelte Stiergott und Jahwe. In solchen Momenten ist Jefta „bestürzt, wie wenig sie von ihm wußte.“ Nämlich von ihm, dem „Soldaten Jahwes“.274 Das sind zunächst nur Momente, aber auch erste Hinweise auf das, was sie später auseinander reißen, einander entfremden wird. Zunächst aber bewirkt ihre Liebe zu einander und ihr gegenseitiger Respekt, dass der religiöse Konflikt noch nicht zur Zerreißprobe wird. Tiefer noch als zu seiner Frau ist Jeftas Liebe zur Tochter. Im zweiten Kapitel wird sie uns vorgestellt, zunächst mit den Eigenschaften, die sie vor allem mit der Mutter verbinden. Ebenso wie Ketura liebt sie die Wildnis, die ungezähmte Natur. „Das Land Tob war ihre Heimat. Das Leben in den Bergen und Wäldern hatte ihr die Sinne geschärft und sie schnell gemacht von Auffassung und Entschluss ... Sie hatte den straffen und anmutigen Leib der Mutter, auch deren mattbraunes, fleischloses Gesicht und wie Ketura war sie zart und fein in aller Kraft und Härte.“275 Sie hat aber noch andere Eigenschaften, die sie von der Mutter (und auch vom Vater) unterscheiden: eine lebhafte Fantasie, die sie Geschichten und Lieder erfinden lässt. Sie lernt die Zither und eine Art Trommel zu spielen, beides bringt ihr der Vater von seinen Raubzügen mit seinen Männern mit. Sie singt mit dunkler Stimme, die alle verzau273 274 275

a.a.O., S. 98. a.a.O., S. 122. a.a.O., S. 99.

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bert. Und: „Sie fand Worte für alles, was einem Menschen durch die Brust ging.“276 Im Zusammensein Jeftas mit seiner Tochter kommt „alles was kindlich an ihm“ ist, zutage, also das, was ihn liebenswert macht. Er liebt es, ihr von seinen Abenteuern zu erzählen und sie ordentlich auszuschmücken, wie Kinder es gern tun. Er erzählt ihr auch von seinem Bild von Jahwe, dem stärksten der Götter, der in Jeftas Version launisch ist und unberechenbar, aber das Volk Israel in „sein gewaltiges Herz“ geschlossen habe und segensreich für dieses Volk wirke. So stark, launisch, unberechenbar und herzlich ist auch Jefta.277 Und nicht umsonst wird Ja'ala ein Gottesbild formen, das mehr und mehr dem Vater gleichen wird. Ja'alas Verbindung mit der Mutter ist also die Liebe zur wilden Natur und zur Tierwelt. Mit dem Vater verbindet sie darüber hinaus etwas wesentlich Fundamentaleres - der bedingungslose Glaube an ihren gemeinsamen Gott Jahwe. Ketura hat aus Liebe zu Jefta darauf verzichtet, die Tochter in ihrem Glauben zu erziehen. Gleichwohl ist sie eifersüchtig auf Ja'alas Jahweglauben und auf die enge Verbindung, die daraus mit Jefta resultiert. Ja'ala hat vom Vater übernommen, dass er und sie den „schrecklichen Gott Jahwe nicht zu fürchten“ haben. „Opfern freilich mußte man ihm häufig und ihm danken für seinen Segen...“, lässt der Autor Jefta sagen278 und gibt damit einen weiteren Hinweis auf das spätere Geschehen, das dem Mädchen Ja'ala nicht nur passieren wird, sondern das sie als (fast) selbstverständlich annehmen wird.

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a.a.O., S. 102. a.a.O., S. 101. a.a.O., S. 101.

Einmal essen Vater und Tochter zusammen das Fleisch eines Bären, den der Vater erlegt hat. Jefta erzählt Ja'ala, dass die Kraft des getöteten Tieres in den übergehe, der von dem Fleisch esse und vor allem in den, der das Tier getötet habe. In Jahwe aber sei die Kraft all derer eingegangen, die er getötet habe und auch derer, die zu seiner Ehre getötet worden seien. Tausende und Abertausende, seit Urzeiten. Wieder ein Hinweis auf die spätere Opferung und zugleich die Facette eines Jefta gleichenden grausamen Gottesbildes, das von Ja'ala in das ihre übernommen wird.279 Ja'ala gewinnt in diesem Kapitel die Konturen einer Idealfigur, eines Mädchens, das sich mit der Natur auskennt, aber auch über die Begabung des Singens und Dichtens über die Natur, die Menschen und Jahwe verfügt und damit die Menschen berührt. Ein Mädchen, das es schafft, in beiden Welten, der der Mutter und der des Vaters zu leben, ohne dass der religiöse Gegensatz - zunächst jedenfalls - zum Sprengstoff wird. Der Autor stilisiert sie zu einer wahren Lichtgestalt des Reinen und Guten, in deren Gegenwart die Lügner verstummen und die Gierigen sich ihrer Gier schämen.280 Sie bleibt bis auf wenige Szenen im Buch eine Kunstfigur, die der Autor braucht, um seinen wilden, machtgierigen, aber auch liebenden Jefta umso stärker auszumalen. So viel Gutheit ist jedoch ein wenig langweilig und gibt wenig schriftstellerischen Spielraum für weitere Entwicklungen. So wundert es nicht, dass Feuchtwangers Vorliebe eindeutig der Person des Jefta gilt. Das ist ein gewisses schriftstellerisches Manko, immerhin wird die Tochter im Romantitel genannt, wenn auch an zweiter Stelle und ohne Namen, und damit beim Leser die Erwartung geweckt, ein ebenso lebendiges Porträt Ja'alas zu erhalten wie es dem Autor mit Jefta gelingt. Über Ja'ala wird vom Autor viel behauptet, doch 279 280

a.a.O., S. 101. Kinkel, S. 114.

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nicht wirklich eingelöst (Beispiel: ihre Dichtung!) - aber dies nur am Rande, es soll hier ja nicht in erster Linie um Literaturkritik gehen. Auch Jefta selbst erhöht seine Tochter zur Lichtgestalt. Er sieht in ihrer Fähigkeit des Singens und Dichtens geradezu „priesterliche“ Eigenschaften. Sie spreche manchmal Dinge aus, die er nur ungefähr ahne. Er überhöht seine Tochter als Seherin und Künderin, so wie sie ihn ihrerseits überhöht und im wörtlichen Sinne „vergöttert“, ihn wie gesagt mit Jahwe gleichsetzt. Und es entspricht Jeftas stolzer Überheblichkeit, dass er sie nicht bremst, die Maßstäbe zurechtrückt, sondern diese Vergötterung als Bestätigung empfindet. Seine Tochter bedeutet ihm mehr als seine Frau, denn sie ist Ketura und er selbst in einer Person. Der Autor schreibt in einem seiner Entwürfe: Jeftas Beziehung zur Tochter ist „leise erotisch“.281 Da untertreibt er allerdings ein wenig, wie wir sehen werden. Doch noch sind alle drei in Liebe miteinander verbunden, das Beziehungsdreieck ist gerade noch weitgehend ausbalanciert, wenn auch schon Gefährdungen sichtbar werden. Nach dem Tod seines Vaters Gilead kehrt Jefta aus der Stadt Mizpeh zu Frau und Kind zurück, als ihm beide unerwartet entgegen kommen. Er sieht das als glückliches Zeichen und begrüßt nicht nur seine Frau wie eine Geliebte, sondern auch seine Tochter.282 Diese - glückliche, unerwartete - Begegnung wird später ihre tragische Entsprechung haben, wenn Ja'ala ihrem Vater ein weiteres Mal unerwartet entgegen kommt und damit zum Opfer seines Gelübdes wird. Feine Risse, dann immer breitere Risse entstehen im Beziehungsgeflecht Mutter-Vater-Tochter dadurch, dass Vater und Tochter Ketura mit ihrem fremden Gott nach und nach hinter sich lassen. Jahwe, der Gott Jeftas und der Gott Ja'alas trennt mehr und mehr sowohl das Ehepaar, als auch 281 282

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Kinkel, S. 109. Feuchtwanger, S. 64.

Mutter und Tochter voneinander. Je mehr Ja'ala dem Vater „verliebt“ und „ehrfürchtig“283 gegenüber steht und ihn mit Jahwe identifiziert, desto größer wird die Entfernung zu Ketura, desto enger die TochterVater-Beziehung. Seine Hybris, seinen Ehrgeiz, seinen Größenwahn, der schon längst nicht mehr darin besteht, seinen Halbbrüdern und seiner Stiefmutter zu zeigen, was für ein Kerl er ist, sondern der mit Macht auf ein israelitisches Reich und zwar „sein“ Reich gerichtet ist und mehr noch, auf ein Reich bis zum ägyptischen Meer, erkennt sie nicht, stört sie nicht. Kann sie nicht stören, da ja ihr Vater und Jahwe „Ein Gesicht“284 sind, eine Person. Ihre Bewunderung ist grenzenlos und kritiklos. Sie ist ihm „hörig“, schreibt Feuchtwanger in seinem Entwurf. „Sie verbrennt vor bewundernder Liebe.“285 Inzwischen droht der Krieg mit den Ammonitern und Jefta wird aufgrund seiner so offensichtlichen Anführerqualitäten gegen den Willen seiner Stiefmutter Silpa zum Kriegsführer der Gileaditer ausgewählt. Da macht der Ammoniter-König Nahasch Jefta ein Friedensangebot. Ja'ala soll seinen Sohn heiraten. Und erwartungsgemäß verhält sich Ja'ala so dazu: „Wenn es meinem Vater ein Dienst ist, daß ich nach Ammon gehe, sagte sie entschieden, fröhlich und ernst, dann werde ich glücklich sein. Ohne meinen Vater bin ich nichts. Wenn ich in seinen Plänen bin, dann bin ich ein Teil von ihm.“286 Jefta lehnt ab, weil er auf diese Weise Ja'ala an einen anderen Gott, vor allem aber an einen anderen Mann verlieren würde, er, der Vater, sie einem anderen Mann opfern würde. „Wie heiß wird er sie entbehren, wenn er sie den Ammonitern überläßt.“287 Immer deutlicher schält sich nicht ein „leise erotisches“ Verhältnis heraus, sondern ein inzestuöses, wenn auch nicht ausgelebtes, Liebesverhältnis.

283 284 285 286 287

a.a.O. a.a.O., zum Beispiel S. 355. Kinkel, S. 109. Feuchtwanger, S. 221. a.a.O., S. 217 f.

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Und so kommt es nach dieser abgewendeten Opferung an den Ammoniterprinzen zum Krieg. Die feindliche Übermacht ist erdrückend, die Schlacht zu gewinnen erscheint aussichtslos. Jeftas Stolz und Machtgier haben ihn daran gehindert, rechtzeitig die Hilfe des anderen israelitischen Stammes, der Efraimiter aus dem westlichen Jordanland anzunehmen. Denn er allein will siegen und die Früchte des Sieges, die Alleinherrschaft, ernten. In diesem kritischsten Moment der Schlacht gelobt Jefta, schreit er lautlos zum Himmel: „Ich will dir zum Brandopfer bringen, wer immer mir aus meinem Gut als Erster entgegenläuft.“288 Die Schlacht wendet sich, die Feinde weichen zurück. Jefta führt das auf sein Gelübde zurück, auf Jahwes Eingreifen zu seinen Gunsten, zumal die Heilige Lade inzwischen an der Front eingetroffen ist. Doch dann stellt sich heraus, dass die Efraimiter, heimlich auf Bitte des Erzpriesters Abijam zu Hilfe geholt, zum Heer Jeftas gestoßen sind und die Wende herbeigeführt haben. Die Demütigung, und noch fataler, die Sinnlosigkeit seines Gelübdes, setzen ein unheilvolles Geschehen in Gang. Jefta weiß natürlich, dass er den hilfreichen Efraimitern dankbar sein müsste. Sein Stolz und seine Schande führen aber im Gegenteil dazu, dass er den Bruderstamm blutig und unter zahlreichen Opfern auf beiden Seiten aus dem Land hinaus jagen lässt. Statt der erwünschten Einigung Israels spaltet er es zutiefst. Offen kann er es niemandem sagen, aber er selbst weiß, dass er vor Jahwe mit diesem Verrat, diesem Verbrechen an den Efraimitern, diesem Undank „befleckt“ ist. Doch da sein Gott immer nur er selbst war, Jefta erkennt es in einem Augenblick der Selbstkritik289, ist er nur vor sich selbst befleckt. Das macht diese Person so sehr viel interessanter als die Person der Ja'ala: Jefta wird als Vollblutmensch gezeigt, mit allen Widersprüchen, zu denen ein solcher Mensch fähig ist. Mit allen guten 288 289

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a.a.O., S. 272 f., S. 291. a.a.O., S. 270.

Seiten - seiner Fähigkeit zu Liebe und Herzlichkeit - und mit allen Schattenseiten, seiner Herrschaftssucht, seiner Gewaltausübung. Das fünfte und letzte Kapitel beginnt mit der Rückkehr Jeftas und der Begegnung mit der inzwischen etwa vierzehnjährigen Tochter, die ihm er hat es mit Bangen geahnt - singend und tanzend als Erste entgegen eilt. „Jeftas breites Gesicht aber verdunkelte sich auf erschreckende Art, grinste, verzerrte sich. Er wollte ausbrechen in Jammer und Wut, wollte um sich schlagen, sich den Bart raufen, sein Kleid zerreißen.“290 Als Jefta seiner Tochter von seinem Gelübde erzählt, lässt der Autor sie spontan und menschlich reagieren. „Eine grausame würgende Qual fiel sie an.“ Sie wird ohnmächtig, kommt dann unter dem Streicheln des Vaters wieder zu sich: „Von neuem überkam sie jene wilde rauschende Qual, die sie umgeworfen hatte. Aber nun war der Pein Lust beigemischt, ein Erwarten, ein der Erfüllung Entgegenströmen. Noch hatte sie nicht die Worte dafür, doch sie war sicher, sie werde diesem Wilden, Festlich-Erhabenen Worte geben können. Dem Jefta seinerseits ging mancherlei Gräßliches und Süßes durch den Sinn, allein ihm blieb es wolkig ... er hätte es niemals aussagen können... Jefta sah, daß er dieses Mädchen liebte mehr und anders als je ein Weib. Ihr aber gingen wilde und liebliche Gedanken durch die Brust. Sie sah den Stein, auf dem sie liegen wird, sie sah Jahwes Messer, und ihr schauderte. Gleichzeitig indes spürte sie Stolz und Freude; denn dieses Schauerliche war das höchste Glück, das wahrhafte und für sie das einzig rechte. Sie spürte voraus ihre Vereinigung mit Jahwe, ihr Vater und Jahwe wurden ihr ganz und gar Eines, sie war voll Frieden.“291

290 291

a.a.O., S. 294. a.a.O., S. 303 ff.

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Hier wird deutlich, dass Vater und Tochter in der Opferung den LiebesTod begreifen, als Ersatzhandlung quasi für den verbotenen Inszest.292 Aus diesem Grunde muss Jefta das Angebot des Priesters Abijam ablehnen, der ihm vorschlägt, das Opfer an seiner Stelle zu vollziehen. Jefta zögert zwar einen Augenblick: „es war verlockend, das Schreckliche nicht mit eigener Hand vollziehen zu müssen.“ Doch dann überfällt ihn „eine grauenvolle Eifersucht“. „‚Es ist mein Opfer’, antwortet er, hart, heiser.“293 Auch andere Möglichkeiten, sich von seinem Gelübde entbinden zu lassen, stehen für ihn außer Frage. So könnte er sein militärisches und politisches Ziel, als Richter über ein einiges Israel zu herrschen, auch ohne das Opfer erreichen. Denn immer noch steht das Angebot des Ammoniterkönigs einer Heirat Ja'alas mit seinem Sohn und damit eines friedlichen Status quo als Voraussetzung, einen gesicherten und vereinigten Staat zu schaffen. Einerseits schreckt Jefta zwar vor der Tat zurück „in maßlosem Schauder ... Doch kam es auch vor, daß ihn, wenn er daran dachte, eine grauenhafte Begier packte. Entsetzt wurde er gewahr, daß er sich danach sehnte.“294 Inzwischen versucht Ketura ihre Tochter zu retten. „Sie beschwor sie mit ihrer tiefen Stimme: Komm mit mir, meine Tochter! Geh mit mir!... Wenn wir am anderen Ufer sind, wird die Macht Jahwes gering, und mein Gott wird dich schützen. Geh fort von diesem Mörder! ... Laß uns leben wie früher.“ Doch Ja'alas Entscheidung für Jahwe und Jefta ist unumstößlich. Sie zögert nicht einmal. Die Mutter tut ihr leid, „doch wie ein Tier, das nicht begreift und dem man nicht helfen kann.“295

292 293 294 295

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Kinkel, S. 114. Feuchtwanger, S. 338 f. a.a.O., S. 335. a.a.O., S. 343.

Auch das Verhältnis Ketura - Jefta ist unwiederbringlich zerstört. Sie bittet ihn, mit Ja'ala und ihr „aus dem Bereich dieses hämischen, schauerlichen Jahwe“ fortzugehen. Jefta versucht sie zu trösten, doch er erkennt, dass sie immer ihrem eigenen Gott treu geblieben ist, dass „kein Funke Jahwes“ auf sie übergesprungen ist. Sie wird nie verstehen, was ihn antreibt. Sie kann jetzt in ihm nur noch den „Schlächter ihres Kindes“ sehen. Und sie flieht vor Jefta, „voll Haß und Entsetzen.“296 Vor der Opferung bittet Jefta die Tochter, sich noch einige Zeit in die Berge zurückzuziehen, „um sich zu heiligen und zu bereiten.“ Während im biblischen Text die Tochter selbst es ist, die um eine Frist von immerhin zwei Monaten bittet, „um ihre Jungfrauenschaft zu beweinen“ mit ihren Freundinnen.297 Bei Feuchtwanger dagegen ist Ja'ala sogar enttäuscht von der Bitte des Vaters. „Mein Blut ist gesättigt mit der lustvollen Demut, die Jahwe gebührt. Ich brauche keine lange Frist und Bereitung.“ Aber sie erkennt, dass es Jefta ist, der diesen Aufschub braucht und sie „hört und gehorcht“. Jedoch möchte sie sich nicht länger als „zweimal sieben Tage“ zurückziehen.298 Mit diesen beiden doch signifikanten Abweichungen von der biblischen Vorlage, die ansonsten wenig über die Tochter aussagt, wird noch einmal die Hörigkeit der Tochter dem Vater gegenüber betont. Die Bibel ist eben für Feuchtwanger nicht ein heiliges, sondern ein „menschlich-irdisches Buch“, ein großartiges Kunstwerk und historisches Dokument, aus dem er schöpft, ohne sich sklavisch daran zu orientieren.299

296 a.a.O., S. 308 f. 297 Buch Richter 11, 37. 298 a.a.O., S. 317. 299 Arnold Pistiak, Das Vermächtnis des historischen Dichters. Anmerkungen zu „Jefta und seine Tochter“ in: Pól Ó Dochartaigh/Alexander Stephan (Hrsg.), Refuge and Reality: Feuchtwanger and the European Emigrés in California, Amsterdam u.a. 2005. S. 27.

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Immerhin gestattet der Autor Ja'ala im Zusammensein mit ihren Freundinnen in der frühlingshaft blühenden Wildnis eines Hochtals Momente des Ausbruchs aus ihrer Opferrolle, „aus der Großheit des Schicksals, für das sie auserwählt war“, und das sie auch ein wenig „hochmütig“ auf ihre Freundinnen herabblicken lässt, auf die lediglich das normale, alltägliche Schicksal von Ehe und Mutterschaft wartet. „Und da ereignete sich etwas Seltsames“, schreibt der Autor. In der wilden Natur, gemeinsam mit den Gespielinnen, wird sie für kurze Augenblicke wieder zu einem ganz normalen jungen Mädchen, das Freude am Spiel und an der Natur hat. In diesem Moment, in diesem Ausbruch, in dieser Rückkehr zur Normalität eines jungen Mädchens gewinnt sie unter der Feder des Autors plötzlich Leben und die Glaubwürdigkeit, die der Leser in der Gestaltung der Ja'ala sonst vermisst: „ ... und plötzlich versank ihr alles andere, und nichts blieb als der heiße Wunsch, weiterzuleben, weiterzuatmen.“300 Aber der Autor nimmt diese Hinwendung zum lebendigen Leben nicht zum Anlass, um einen Konflikt zu schüren zwischen Tochter und Vater und zugedachter Rolle, zur Rebellion gegen Vater und Jahwe, gegen die Normen einer patriarchalischen Weltordnung. Dabei hätte der Stoff sich geradezu angeboten zu einer Gegenüberstellung und Konfrontation von weiblichem und männlichem Prinzip - so die Literaturwissenschaftlerin Tanja Kinkel.301 Doch im Romankonzept des Autors ist eine andere Botschaft vorgesehen. Feuchtwanger lag nicht daran, aus Ja'ala eine aufbegehrende Iphigenie zu machen. (Was übrigens auch die anderen Bearbeiter des Stoffes nicht getan haben.302) Und so bleibt Ja'ala die reine gute, insgesamt eindimensionale Figur, die schnell wieder in ihre Rolle, in den Bann der Hörigkeit 300 301 302

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Feuchtwanger, S. 326 f. Kinkel, S. 116. a.a.O.

zurückkehrt. „In ihr auf klangen Verse ..., Verse von der Seligkeit des Opfers und des Todes.“ Sie wird für ihren Vater sterben und sie wird im Feuer aufgehen und Teil des göttlichen Hauches, der göttlichen Kraft werden.303 Nicht zufällig kann man den Namen Ja'ala deuten als eine Zusammensetzung aus dem abgekürzten Gottesnamen „Ja“ für Jahwe und „ala“ für „alija“, das heißt „Aufsteigen“.304 Das Liebesverhältnis Vater - Tochter und vor allem das Opfer haben im Bau und der Botschaft des Romans die Funktion, einerseits den Machtwahn Jeftas in aller Drastik vorzuführen und andererseits zum Ende des Geschehens den Anstoß für seine Veränderung durch einige bittere Erkenntnisse zu bewirken. Werfen wir einen Blick auf das inzestuöse Verhältnis Vater - Tochter, gekoppelt mit der absoluten Bindung und Identifikation mit Jahwe. Wir würden den Autor doch arg unterschätzen, wenn wir dies als eine reine Männerfantasie abtun würden. Feuchtwanger kannte seinen Sigmund Freud, kannte dessen psychoanalytische Theorien. In der Psychoanalyse kann der Inzest, und ich folge hier Tanja Kinkel305, die Vereinigung mit dem eigenen Wesen bedeuten und damit den Ausschluss des Fremden, des Anderen. Vielleicht kommen wir mit dieser Deutung dem vom Autor so inzestuös gestalteten Liebesverhältnis auf die Spur, denn die gelebte Verbindung mit der Fremden (Ketura) scheitert, die mögliche Verbindung mit dem Fremden (dem Ammoniterprinzen) wird verhindert. Zu der von Jefta verhinderten Verbindung seiner Tochter mit dem Sohn des Ammoniterkönigs bringt der Autor wie schon angedeutet nicht nur des Vaters übermächtige Eifersucht ins Spiel, sondern noch einen anderen, religiös fundierten Gedankengang Jeftas: „Wenn er (Jefta) den Bund mit Ammon (durch die Ehe der Tochter) schließt, wird Gilead (also sein 303 304 305

Feuchtwanger, S. 327. Für diesen Hinweis danke ich Jörgen Sontag, Kiel. Kinkel, S. 119 f.

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Stamm) aufgehen unter den Fremden; Jahwe wird ein Gott sein unter vielen Göttern, und er, Jefta, einer der vielfältigen Hebräer des Ostjordanlandes, kein Israeliter mehr.306 In der historischen Realität, wie sie Feuchtwanger in seinem Roman schildert, stehen die Juden an einem „Wendepunkt, nicht nur zwischen Nomaden- und Städtevolk, sondern auch zwischen Integration (und damit dem möglichen Verlust von eigener Identität) und Isolation“.307 Die Ehe Ja'alas mit einem Ammoniter hätte Integration bedeutet. Jefta entscheidet sich dagegen und damit für die Einmaligkeit, Besonderheit des gerade im Entstehen begriffenen Volkes Israel. Bedenken wir zudem, wann Feuchtwanger den Roman geschrieben hat: nach dem Holocaust und angesichts der historischen Realität des neuen Staates Israel. War vor 1933 das Ideal des aufgeklärten, weltläufigen Juden Feuchtwanger das des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden, so war dieses Ideal durch das Dritte Reich erschüttert, wenn nicht ausgelöscht. Offenbar war die mögliche und sogar notwendige Lehre daraus, die Abgrenzung, die Schaffung eines eigenen jüdischen Nationalstaates. Angesichts aber der kriegerischen Aktionen, die mit der Staatsgründung verbunden waren, kann man in Feuchtwangers Jefta - Ja'ala-Konstruktion und in der ganzen Anlage des Romans auch eine Mahnung heraushören, eine Art Kommentar zur Realität des zeitgenössischen Staates Israel. Die Opferung Ja'alas führt bei Feuchtwanger zwar zunächst zur Spaltung, dann aber doch zur Einigung der israelitischen Stämme – darauf komme ich gleich noch - unter Jefta und zur Stärkung des Glaubens an den einen Gott Jahwe. Aber um welchen Preis! Jefta hat seine Menschlichkeit preisgegeben, er hat sich über alle menschlichen Gefühle 306 307

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Feuchtwanger, S. 220. Kinkel, S. 119.

in seinem Stolz und seinem Ehrgeiz hinweg gesetzt, als er Gott gleich sein wollte. Seine Tochter ist tot, seine Verbindung mit Ketura ist zerbrochen, sein Schwager, Vertrauter und bester Freund hat ihm die Freundschaft und Gefolgschaft aufgekündigt. Als der Erzpriester ihn zum obersten Richter in Israel salbt, heißt es: „Der Mann Jefta ist nicht mehr da. Was der Priester salbt, ist nicht mehr der Mann Jefta. Der Hauch ist verweht, das Leben ist verweht ... Es ist nicht der Mann Jefta, es ist der Ruhm des Jefta, der hier auf dem steinernen Stuhl sitzt.“308 „Der erste Staat Israel, wie ihn Jefta formt, kann nur durch die gewaltsame Auslöschung der Menschlichkeit, symbolisiert durch die Tochter Ja'ala, geschaffen werden.“309 So ist das Verhältnis Jeftas zu seiner Tochter und ihre Opferung sowohl psychologisch motiviert (die einzige Liebe), als auch religiös (Bindung durch das Gelübde), als auch machtpolitisch (Einigung der Stämme und Wahrung ihrer Souveränität). Wie kommt es nun, dass das Opfer Ja'alas in Feuchtwangers Roman doch noch zur Einigung der beiden israelitischen Stämme führt, so dass der Literaturwissenschaftler und Autor Manfred Flügge von einer „optimistischen Tragödie“ sprach?310 Während im biblischen Text im 12. Buch der Richter vom Bruderkrieg zwischen den Stämmen Gileads und Efraims erzählt wird, bietet Feuchtwanger eine andere Version an. In der Tat sinnen die Efraimiter nach dem blutigen Verrat an ihnen auf Rache. Doch als sie von der Opferung Ja'alas erfahren, verändert sich ihre Haltung. „Die Männer Efraims waren nach Schilo gezogen, gierig nach Rache an dem Mörder ihrer Brüder. Als aber Meldung kam von der Opfertat Jeftas, wurden sie nachdenklich. Jahwe war zwischen sie und Jefta getreten. Der Gott selber hatte Rache an ihm genommen und ihn ent308 Feuchtwanger, S. 371. 309 Kinkel, S. 120. 310 Manfred Flügge, Ein bibelfester Atheist. Anmerkungen zum Werk von Lion Feuchtwanger aus Anlass seines 50. Todestages. Vortrag vom 7.10.2008 im Centrum Judaicum, Berlin, www.feuchtwanger.de/170.html.

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sühnt; sie forderten den Gott heraus, wenn sie gegen den Entsühnten kämpften.“311 Auch hier hören wir hinter dieser signifikanten Wendung des biblischen Stoffes eine Mahnung des Autors: Wenn schon so viel sinnlose Gewalt und Tod, dann soll das Leid wenigstens zu einer Art Besinnung, zum Innehalten und schließlich zur Versöhnung führen. „Das Blut sollte nicht einfach in Erde, Holz und Feuer versickert sein ...“. Es sollte einen „Sinn“312 haben, einen Neuanfang ermöglichen. Als die Efraimiter ihrerseits von Krieg bedroht werden (durch die Stadtkönige der Kanaaniter), bedarf es allerdings erst eines Gespräches des obersten Efraimiter-Priesters Elead mit Jefta, ehe dieser sich bereit erklärt, den Efraimitern seine Truppen zu Hilfe zu schicken und ehe er auch sonst zu einem Neuanfang bereit ist. Dieses Gespräch ist ein Kernstück des Romans und macht die Absichten und Ansichten des Autors, des „bibelfesten Atheisten“313 wohl am deutlichsten. Der Priester Elead trifft auf einen Mann, dessen Gesicht müde ist. „Das Fleisch war eingeschrumpft, der knochige Grundbau, der Schädel des toten Jefta, arbeitete sich durch das Gesicht des lebendigen. Der Mann hatte mit seinem Gott gekämpft, er war erschöpft, er wollte den Kampf aufgeben. Aber er kam nicht los von Jahwe.“314 Der Priester dringt durch den Panzer Jeftas durch mit Dingen, die er ausspricht und die vor ihm nur Ja'ala ihrem Vater gesagt hat. „Du bist ein Teil von Jahwe.“ Jahwe und Jefta haben „Ein Gesicht“. Der Priester fährt fort: Er sei ein Held und mindestens zu einem Drittel Gott. „Jahwe lebt in dir und du lebst in ihm.“ Und weiter lässt der Autor den Efraimi311 312 313 314

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Feuchtwanger, S. 351. a.a.O., S. 361. Flügge, a.a.O. Feuchtwanger, S. 355.

terpriester sagen: „Die Baalim der fremden Völker leben in Bäumen, Steinen, Quellen, Bildern ... Jahwe aber, dein und mein Jahwe, lebt in den Taten Israels.“ Eine „gefährliche Lehre“ ist es, die der Priester da nach seiner eigenen Einschätzung ausspricht. Denn dieser Gott stirbt, „wenn Israel stirbt.“ Er ist lediglich das, „was wir waren und sind und sein werden.“ Und so erkennt Jefta noch einmal, aber dieses Mal aus einem anderen Grund, dass seine Opferung der Tochter sinnlos war: „Er hatte sein bestes, eigenstes Blut für einen Gott vergossen, der nicht war“, den er sich nach seinem eigenen Bild und Wunsch geschaffen hatte.315 Im Nachwort schreibt Feuchtwanger zu dem „Gott“ Jeftas und der Israeliten: „... kein Wort und kein Begriff ist so vieldeutig, hat so viele Wandlungen durchgemacht, ist so umwölkt von Weihrauch und mannigfachen Spezereien. Der Autor muß also dem Leser von Anfang an ein unmißverständliches Bild des Gottes Jahwe geben.“ Und zwar so, dass der Leser versteht, „daß es sich um den Gott des Jefta handelt, den Gott eines bestimmten Zeitalters und eines bestimmten Mannes.“ Und er zitiert Spinoza, der scherzend gesagt hat: „Das Dreieck, wenn es sprechen könnte, würde sagen, Gott sei hervorragend dreieckig.“316 Der Mensch neigt dazu, Gott nach seinem Bilde zu formen, dem Unsichtbaren menschliche Eigenschaften zu geben. Mit Eleads Gedanken verlässt Feuchtwanger die „Echtzeit“ und führt Ansichten ein, die erst in viel späterer Zeit gedacht und formuliert wurden. Elead ist ein skeptischer Denker der Neuzeit und damit Sprachrohr des Autors. Feuchtwanger will von Menschen erzählen mit all ihren Widersprüchen und mit einem Gottesbild, das sie sich selbst erschaffen haben und für das sie demnach selbst verantwortlich sind. Ein Gottesbild, das hier von Jefta verabsolutiert und instrumentalisiert wird, um Unmenschliches zu rechtfertigen. Als Motto stellt der Autor dem Roman ein Spinozawort voraus: „Ich habe mich redlich bemüht, die Handlungen 315 316

a.a.O., S. 358 ff. a.a.O., S. 380 f.

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der Menschen nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und nicht zu verabscheuen: ich habe versucht, sie zu begreifen.“ Das ist nur die eine Seite. Der Autor will auch aufklären, mahnen. Feuchtwanger zeigt den Weg in die Barbarei und eine Art Ausweg, den typischen Ausweg eines intellektuellen Aufklärers: Ein Neuanfang ist nur durch Erkenntnis möglich. Denn unter dem durch das Gespräch mit Elead gewandelten Jefta, bar aller Machtgier und bar seines Gottesbegriffes, erlebt das Volk Israel nun einige Jahre des Friedens. An Arnold Zweig schrieb Feuchtwanger im Februar 1957: „Es ist sehr erfrischend, Dinge, von denen die Bibel berichtet, ihres Weihrauchs zu entwölken.“317 Und in seinem Essay „Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans“ bekannte Feuchtwanger 1935: „Ich für meinen Teil habe mich, seitdem ich schreibe, bemüht, historische Romane für die Vernunft zu schreiben, gegen Dummheit und Gewalt ...“318 Und plötzlich wird beim heutigen Lesen des Romans deutlich, dass Feuchtwanger die biblische Geschichte nicht nur „entwölkt“ hat, sondern dass er ein Thema angeschnitten hat, das uns gegenwärtig mehr denn je unter den Nägeln brennt. Wir nennen es Fundamentalismus.

317 Pistiak, S. 27. 318 Walter Huder/FriedrichKnilli (Hrsg.), Lion Feuchtwanger: „... für die Vernunft, gegen Dummheit und Gewalt“, Berlin 1985, S. 159.

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Der Mann im Fisch. Stefan Andres „Der Mann im Fisch“ Karin Schäfer Stefan Andres ist 1906, vor dem Ersten Weltkrieg, geboren im linksrheinischen Breitwies bei Trier an der Mosel, er ist dort in einer dezidiert katholischen Welt aufgewachsen, erzogen worden, auch in eine OrdensSchule gegangen, hat ein Noviziat begonnen und abgebrochen, ebenso sein Studium in Theologie und Germanistik, um dann ganz als Schriftsteller tätig zu sein. Er war verheiratet mit einer jüdischen Ärztin, wurde im Dritten Reich entsprechend in seiner Arbeit behindert und bedroht, ging ins (innere) Exil nach Positano, kam nach dem Krieg nach Deutschland zurück, engagierte sich sehr im Kampf gegen Atomwaffen und war einer der meist gelesenen deutschen Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1961 lebte und arbeitete er wieder in Italien. 1970 ist er in Rom gestorben und dort auch begraben auf dem deutschen Friedhof des Vatikan. Aus dieser Kurzbiographie möchte ich drei Aspekte besonders hervorheben: 1.) Andres kannte die zermürbenden Selbstgespräche eines Menschen zwischen bürgerlicher Existenz und „göttlichem“ Ruf, er war geübt in dieser Tradition der argumentativen Gewissenserforschung. 2.) Herrschaftskritik und besonders Totalitarismuskritik hat sein Leben und Schaffen von früh an begleitet. 3.) Die atomare Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki und das atomare Wettrüsten nimmt er in ihrer Schreckens-Dimension als Weltenende wahr und als Thema seines Schaffens auf. Und noch eine Vermutung möchte ich anfügen: die im Roman deutlich spürbare Vertrautheit mit dem Judentum mag jenseits aller fleißigen Recherche auch mit der Nähe jüdischen Lebens in seiner Ehefrau zusammenhängen.

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Stefan Andres hat den Roman Der Mann im Fisch 1963 veröffentlicht. Als Stoff liegt ihm ein Buch aus dem Kanon des Alten Testamentes zugrunde, nämlich „Jona“, einer der 12 kleinen Propheten. Bei heutigen Würdigungen des Schaffens von Stefan Andres wird Der Mann im Fisch kaum oder gar nicht beachtet. Mit „Wir sind Utopia“ ist Andres ein Werk gelungen, das es bis in den Kanon der Schullektüre hinein geschafft hat. Ich selber habe darüber in meinem Abitur die Deutschklausur geschrieben. Der Gang des Romanhelden - mehr Entwicklung des Themas als Biographie Stefan Andres veröffentlicht seinen Roman 1963. Er weiß zwar, dass bereits das Neue Testament den Jona-Stoff als Zeichen für Tod und Auferstehung Jesu verwendet. Für Stefan Andres ist dieses symbolische Verständnis der Bildwelt des Jona-Buches jedoch nicht das handlungsbzw. konzeptionsleitende Interesse, wenn es auch am offenen Ende des Buches aufzuleuchten scheint. Er stellt uns in Jona den Menschen par excellence vor, den Menschen auf der Flucht vor Gott und vor sich selbst. Die Übertragung auf tiefenpsychologische Prozesse, wie sie C.G. Jung wahrnimmt und entfaltet, ist Stefan Andres so noch nicht gegeben. 1. Jona ist verschwunden Jona ist verschwunden, Jona, der Prophet von Hamath, ist nicht auffindbar. So beginnt der relativ umfängliche Roman. Er wird gesucht, denn er wird gebraucht, gebraucht am Hofe von König Jerobeam in Israel, der noch einmal so glorios siegen will wie einst bei Hamath. Damals war das mit Hilfe des Jona gelungen, der hatte das ganze Volk auf die Beine gebracht. Das soll er wieder tun, denn er, Jerobeam, will seine Machtinteressen gegen Juda und Assur durchsetzen. Er braucht den Propheten Jona als Erfüllungsgehilfen seiner Interessen. Im Bericht der sieben ausgeschickten Lauscher wird ein erstes Portrait des Jona gezeichnet und

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der selbstverständliche Anspruch des Machthabers auf die Verfügung über den Propheten in Szene gesetzt. Asa, einer der Lauscher spricht: „…Mache Dir einen Jona, mach Dir so viele Du brauchst: Männer wie Jona liegen auf der Straße, auf jedem Feld stapft da einer wie jener Elisa hinter den Ochsen her. Schick scharfäugige Priester übers Land mit dem Salböl im Horn und lass sie zu dem Pflügenden, hat der nur die rechte Gestalt und die donnernde Stimme, hintreten und sprechen: ‚Das Wort des Königs ergeht an dich, knie nieder und lass dich salben, du bist von dieser Stunde an ein Prophet in Israel!’“ Da sagte der König, als naschte er die Worte wie eine Ziege die Spitzen von Blumen: „Zurück in Deine Kleiderkammer, Asa, Du verstehst viel von Seide und Purpur, wenig von Politik, nichts von Propheten!“ Und während Asa mit schleppendem Schritt hinausging, sagte Jerobeam zu den Militärs: „Einerlei, woher es kommt – das Gewisse, ob von Jahwe oder Baal: Jona hat es!“ S. 11 Jona hat sich dem Anspruch des Königs entzogen. Direkt nach dem Sieg, mitten in der Orgie blutrünstiger Kopfabschlägerei, hat Jona die Bühne verlassen. Jona hatte sein prophetisches „so spricht der Herr“ zum Sieg hinzugetan: war er, Jona, oder gar der Herr selbst, schuld und beteiligt an dieser blutrünstigen Kopfabschlägerei? Er, Jona, jedenfalls will an diesem Abschlachten der Feinde nie wieder mitschuldig sein. Er gibt sein Prophetentum auf, heiratet und bekommt Kinder, pflanzt Weinberge und züchtet Esel, wird ein kleiner Gutsbesitzer bei Samaria. Seine Familie weiß von seiner prophetischen Vergangenheit nichts. Dies ist die erste Flucht des Jona - vom blutigen Sieg bei Hamath in die Rolle des kleinen jüdischen Gutsbesitzers, der nur tut, was alle tun: Haus und Hof versorgen, mit seiner Frau, seinen Kindern und seinem Hausgesinde die Feiertage und Gesetze halten, Handel treiben und die Tradition pflegen.

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2. Jona wird enttarnt Nun sucht man ihn. Seine Vergangenheit droht sein bürgerliches Leben zu zerstören. Finden tut ihn als erstes ein Traum. Aber dann, an einem dieser langen, von der Sonne fast zuschanden gerittenen Weinbergstage, die einer wie der andere kamen und gingen, an einem Nachmittag, taub von Grillenlärm, war dieser Traum durch die Wächterhütte gezogen, der Traum vom Esel. Er ist glückbringend, und Jona hätte Mirjam den Traum erzählt, aber dieser Esel war weiß, strahlend weiß und hatte schwarze Hufe und um die Augen eine schwarze Maske. Und jeder weiß, was der Traum vom weißen Esel bedeutet: er lässt sich nur auf der Brust derer nieder, die vom Herrn erwählt sind. Und erst recht könnte er nicht erzählen, wie sich der weiße Esel in seinem Traum verhalten hatte: er war herangetrippelt und hatte vor ihm seine Vorderbeine gebeugt, und als er das Traumtier scheuchte, stach ihn ein Dorn des Tamariskenzweiges, der vom Dach der Hütte herabgefallen war. Er erwachte und zog sich den Dorn aus seinem Schenkel - dabei hörte er, wie das SabbathHorn tutete, von Sichem herab. Noch nie hatte ihn dieser dumpfe, langgezogene Laut aus der Ferne auf diese Weise durchzogen, der Hornton schien nicht durch das Ohr in ihn eingedrungen zu sein, sondern durch die Dornwunde, schmerzhaft und sein Inneres aufblähend und an allen Festen rüttelnd. Und doch, so sprach Jona zu sich selbst, wirklich ist nur der Dorn, der weiße Esel ist nur geträumt, und der Traum stammt nicht vom Herrn, sondern aus der Erinnerung. S. 21f Und Jona wird gefunden von Amos, dem kleinen mikrigen Männlein, Ziegenhirt und Maulbeerpflücker, aber Prophet, an dem Stefan Andres nun klar macht, wie es ist, wenn ein wirklicher Prophet spricht (vgl. Amos 7, 10ff). Amazja ist Priester aus dem nahegelegenen Bethel, Jerobeam verpflichtet und bei Stefan Andres von Jona auf die Fährte des Amos gesetzt. „Nichts hat Dir Jahwe aufgetragen“, Amazja keuchte vor Erbitterung, „deine Worte sind leer wie deine Granatapfelhälften. Du hast kein Zei-

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chen vom Himmel hinter Dir, nicht einmal weissagen kannst du - oder hältst du deine Drohworte für Weissagungen?“ Wieder tat sich aus dem Winkel, wo Amos im Dunkel stand, dieses Schweigen auf - wie ein Trichter, wie ein Horn, man hörte nur den Atem dessen, der am Mundstück dieses Horns aus allen Kräften schwieg. Und da sah Jona, wie sich das Licht im Hof ruckhaft hob und auf Amazja zukam. Hinter der Fackel entdeckte er den, der sie aus dem Halter genommen hatte und durch den Hof trug: Amos, seine Gestalt schrieb sich, da er die Flamme nun auf eine drohende Weise über sich hielt, schwarz gegen die erleuchtete Mauer des Hofes - Jona hatte die schreckliche Vorstellung, einen Buchstaben aus dem Namen des Hochgelobten zu sehen. Da schloss er die Augen und hätte am liebsten die Finger in die Ohren gesteckt, nur um nicht diese Stimme zu hören, die nun durch das Horn des Schweigens durchkam, nicht laut und nicht leise, auch nicht drohend und furchtbar, sondern genau, ins Ohr gestochen und ganz gegenwärtig, gegenwärtiger als der Gestank von Blut und Verwesung, der sich in Jona im selben Maße verlor, wie er dieser Stimme lauschte, dieser alles andere wegfressenden Stimme, die einfach da war, ganz nah und vernehmlich, und etwas mitteilte, ohne Eifer, ohne Drohen, ohne Werben und ohne Beschwichtigen, ohne die geringste Beimischung von etwas, das nicht die Mitteilung war. Und die Stimme machte drei Mitteilungen: eine für die Kinder Amazjas: Sie werden alle durch das Schwert umkommen; eine für die Frau des Amazja: Sie wird ihre Blöße umherzeigen müssen und unter den Schenkeln fremder Krieger zur Hure werden; eine für Amazja selber: Er wird fortgeführt und in fremden Boden begraben werden - „so spricht der Herr - weil du ein Zeichen verlangtest!“ Jona hörte ein Ächzen dort, wo Amazja stehen musste, und er sah, wie Amos die Fackel hob und auf den Hohenpriester zuging. Da glühte die Mauer hinter Amazja von den ausgespannten blutigen Häuten des Gerbers auf. Amazja duckte sich, schlug beide Hände vor sein Gesicht und schrie auf, nicht anders, so kam es Jona vor, als wäre Amos ein Schinder

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und hätte in diesem Augenblick Amazja mit der Fackel geblendet. Jona sah, wie Amazja auf allen vieren davonkroch - durch das Tor, dann torkelte sein Schritt durch die gewundene Nacht. Jona lauschte noch, da hörte er vor sich ein Lachen – wie ein Kieselstein aus der Schleuder traf es ihn, er griff sich an die Stirn, sah zugleich die Fackel von unten her näher rücken, offenbar hatte er durch irgendeinen Laut des Entsetzens seine Anwesenheit verraten, und da hatte sie ihn getroffen: diese Stimme, noch ins Dunkel gezielt, trifft sie. Jona schwankte, er hielt sich nur mühsam auf dem Stapel der Häute aufrecht. Und er hörte Amos hinter der Fackel sprechen: „Du Fuchs, der Herr kennt deine Höhle. Er wird dich ausräuchern an seinem Tage!“ Amos hob die Fackel, als wollte er Jahwe zuvorkommen, Jona hörte weiter die Stimme: „Du sollst zum Zeichen werden: Du wirst den Tod erleiden und nicht sterben; weissagen wirst du und nicht recht behalten; Gnade ausgießen und der Gnade nicht teilhaftig werden, so spricht der Herr, bis du an ihm deinen Menschenwitz verbraucht hast.“ S. 56 ff Dieses Wort des Amos lässt Jona nicht mehr los. Zwar versucht er, das Amoswort als geschickte Prophetenmasche abzutun: „Um die Männer Gottes zu kennen, muss man einer von ihnen gewesen sein, dann weiß man in welchem Sumpf das beste Rohr wächst, wie man es schneidet, mit was man es anspitzt und vor allem: wie man seine Spitze vergiftet… Dann legt man es auf die Sehne und die heißt: „So spricht der Herr!’“ (S. 61) Aber Jona wird das Wort nicht los, zumal Amos bei der Familie des Jona eingekehrt ist. Der Sohn des Jona wird Schüler des Amos, seine Frau Mirjam empfängt ein Rätselwort von Amos: Du wirst einen erwachsenen Mann gebären. (Vgl. S. 47 und 79) Damit wird Jona auch in seiner Familie enttarnt. Hatte er sich in ihr als Familienvater und in Mirjam als einfacher Ehemann verborgen, muss sie ihn nun herausstoßen als das, was er wirklich ist: der berühmte Prophet von Hamath, der sie gesegnet hat, als sie noch ein Mädchen war. Jona muss sich von seinen Weinbergen und Eseln, seiner Familie und vor allem von seiner Frau, die er so betrogen hat, trennen.

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Und enttarnt wird Jona gleichzeitig von Micha, seinem Jugendfreund, inzwischen hoher Militär am Hof Jerobeams, und von dem mit ihm reisenden Simei, seinem ehemaligen Schüler, der selbst beim Gelesenwerden noch eine Schleimspur hinterlässt. Simei weiß, was zu einem Propheten gehört, was ihm zusteht und wie man ihn zu behandeln hat. Er hat den weißen Esel bereitgestellt, auf dem reitend Jona für immer seine bürgerliche Existenz verlässt und in die Berge aufbricht. Er folgt ihm. Es ist Jonas zweite Flucht, der Anlass ist seine bevorstehende Verbringung in die Fänge Jerobeams, der ihn wieder zum Dienst für die Macht des Königs verpflichten will wie bei Hamath. Die mehrfache Enttarnung des Jona stürzt diesen in eine offene Identitätskrise. Die bürgerliche Identität ist ihm genommen, die prophetische weist er weit von sich. 3. Die erste Nacht in den Bergen, - ich lese: Als sie gegen Abend auf dem Gipfel des Berges anlangten, holte Simei aus seiner Satteltasche von allem, was er besorgt hatte. Er breitete es auf einem Stein aus, verbeugte sich über den Ball seines Bauches vor Jona und sagte: „Trink und iss, Meister! Der Herr, der den Raben schickte zu Elia an den Bach Krith, hat mich zu dir geschickt.“ Jona saß düster vor dem Wein und den Speisen. Er hörte Simeis Worte und spürte Grimm gegen sich selbst, dass er nicht an Nahrung gedacht, gegen Simei aber, dass der sie besorgt hatte. Und wie auch seine Kehle vor Durst brannte und sein Leib sich vor Hunger zusammenzog, er hielt mit einer Hand die andere fest, indem er sich sagte: wenn ich seinen Wein trinke und sein Brot esse, habe ich ihn angenommen, bin ich sein Meister - wie damals. Jona erhob sich, ließ die Gaben Simeis unberührt, ging umher und suchte für sich und seinen Esel einen Platz zum Liegen. Er fand, noch ehe die Nacht herabfiel, jene Höhle wieder, die er kannte. Er wusste, es tropfte in ihr Wasser von der Wand. Er leckte an dem Wasserfaden und

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legte sich neben seinem Tier zum Schlafen nieder. Simei aber lächelte spitz vor sich hin, während er sich labte, dann ließ er seinen Esel vor sich hergehen. Als das Tier vor dem Eingang einer Höhle stehen blieb, band er es an das Stämmchen eines wilden Lorbeerbaumes, wickelte sich in seinen Mantel und lauschte, während er auf den Schlaf wartete, in die Höhle hinein, doch sie zu betreten, wagte er nicht. In der Nacht wurde Simei von einer Stimme aufgeweckt, von einer Stimme tief in der Höhle. Sie schrie und wimmerte - und Simei wusste, obgleich er die Stimme nicht wiedererkannte, dass es nur Jona sein konnte, der diese halben, unverständlichen Worte hervorstieß: es klang wie Schakalgeheul, das von den Windungen der Steine halb erstickt wurde - und doch steckten Worte in den Klumpen der Laute. Simei erschauerte - und da hörte er das in seine Silben zerbrochene und oftmals wiederholte, bald gewinselte, bald in feierlichem Staunen hingestammelte Wort: Ninive, und er begriff nicht, was diese auseinanderklaffenden dünnen Laute bedeuteten - bis es ihm fahl durch den Sinn schoss: Ninive, natürlich, Ninive! - die Stadt am Tigris, die größte in Assur, das Labyrinth aller Laster, der goldene Zwinger der Welt, in dem die Tiger und Löwen brüllen und die Welt als Beute begehren, die ganze Welt! Simei hielt den Atem an: wieder wimmerte das Wort Ninive aus den Windungen des Höhlenganges hervor, viele Male, es gab keinen Zweifel mehr: Jona hatte Gesichte - hörte Stimmen – war wieder ein Prophet! S. 87f. Er ist wieder Prophet, sagt Simei, er reitet auf einem weißen Esel, er hat Gesichte und hört Stimmen. Ninive – das Wort, der Auftrag ist da, unumstößlich. Aber Jona nimmt diese Propheten-Identität nicht an. Er will nach Jaffa, ans Meer, dort auf ein Schiff und damit seiner - wahren? Identität und dem Ruf Gottes entfliehen. So wie es hier bei Stefan Andres geschildert wird, wirkt es nahezu lächerlich, welche Anstrengungen Jona unternimmt, um dem Herrn der Welt zu entfliehen. Meint er wirklich, Entfernungen könnten diesen Herrn aufhalten, Entfernungen von Kilometern oder Entfernungen von

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Bergeshöhen und Wassertiefen? Meint er wirklich, die Entfernung vom Bürgertum oder die Entfernung aus dem Umfeld der eigenen Religion, ja der Religion überhaupt könnten diesen Herrn aufhalten? Meint er wirklich, er könnte sich mit einem Aufenthalt in der Irrenanstalt oder mit seiner jahrelangen Versklavung in Arbeit, in Sucht, in Sex - das alles schildert das vorliegende Buch - oder vielleicht Alkohol, herausreden? Wenn das ein Hindernis wäre für den Herrn der Welt, wäre er nicht der Herr. Aber so beschreibt es ja auch das biblische Buch. Und leicht ist für diesen Herrn ja nicht, jemanden wie Jona, den Kenner und Grübler, den auf unbedingte Authentizität bedachten Zweifler zu sich selbst und zu sich zu führen. Da braucht er schon ein gewaltiges Kaliber, er schickt also einen reichen assyrischen Holzhändler und Schiffsbesitzer als seinen Engel: Rapha, den freundlichen Fremden. Der rettet ihn, rettet ihn zunächst aus der Irrenanstalt mit ihren menschenverachtenden Praktiken, rettet ihn vor Simei, der buchstäblich nicht tot zu kriegen ist und erst an der Gier nach Geld stirbt, und rettet ihn auch aus dem Wunsch nach Selbsttötung. Die Rettungen gelingen relativ leicht, schwieriger ist die Hilfe zur Selbstwerdung des Jona und dessen Annahme des für ihn bestimmten Weges. Rapha führt eine zufällig erscheinende Begegnung des Jona mit einem blinden Mann namens Jabes herbei. Ich lese: Rapha neigte sich zu dem wie tot Daliegenden, stellte ihn auf die Beine und fragte ihn, der bisher keinen Laut des Schmerzes von sich gegeben hatte, wer er sei, wo er wohne und wie er ihm helfen könne. Jona war sofort in die Schenke geeilt, kam mit einem Krug Wein zurück und gab dem Blinden zu trinken. Als der den Krug halb geleert hatte, wischte er sich den Mund ab und sagte: er heiße Jabes und sei ein Israelit - aus Hamath! „Aus Hamath?“ entfuhr es Jona. „Ja, aus Hamath“, der Blinde legte den Kopf in den Nacken. Das sei lange her, er habe dem König Jerobeam damals, als der mit dem Propheten Jona gegen Hamath zog, seine Dienste angeboten. Ja, in der Nacht sei er in das Lager des Königs

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geschlichen und habe ihm Stellen in der Stadtmauer gezeigt, die aus Lehm gebaut waren, einige israelitische Familien hatten nämlich, so erzählte der Blinde, an ihren Häusern, die in der Stadtmauer standen heimlich die Steine entfernt und Lehm an ihre Stelle getan. So habe der König in die Stadt eindringen können. „Aber ich erhielt nicht den versprochenen Lohn, mein Haus wurde zerstört, meine Frau, selber Israelitin, von den Israeliten geschändet“, Jabes verhüllte das Gesicht. „Die Kinder fand ich nicht mehr, ich war ein Bettler. Und dann schlug mich der Herr mit Blindheit. Ich weinte viel über die Ungerechtigkeit - und dass keiner uns hilft!“ Rapha fragte: „Hast du damals den Propheten Jona gesehen?“ Der Blinde nickte: „Von ferne!“ „Und wie sah er aus?“ fragte Rapha und blickte dabei Jona an, der bleich dastand und das Gesicht senkte. „Großgewachsene Männer sehen oft schüchtern aus“, antwortete Jabes, „ja, ein Mann wie ein Baum, aber schüchtern!“ Da fragte Rapha: „Jabes, was glaubst du: War Jona ein Prophet?“ Der Blinde schüttelte unwillig den Kopf: „Du bist ein Fremder, ich merke das an deiner Sprache. Sicherlich war Jona ein Prophet, und was für einer!“ „Woher willst du das wissen?“ rief Jona dazwischen. Jabes schien die Misshandlungen vergessen zu haben, der genossene Wein jagte das Blut durch seine dünnhäutigen Wangen, er reckte sich: „Woher ich das weiß, woher?“ Dann lächelte er beinah listig vor sich hin: „Er war plötzlich da - und schon wieder fort! Das Wort des Herrn hieß Hamath. Als er es gedacht hatte, ging er. Seht doch: ein falscher Prophet hätte ein Leben lang von Hamath gesprochen und gesungen, gegessen und getrunken, von Hamath seinen Kindern Häuser gebaut und von Hamath seiner Frau hohe Schuhe gekauft und Hauben und Armspangen und Ringe und Spiegel und ein Sommerhaus auf dem Gebirge.“ Jabes schien wirklich betrunken. „Aber Jona“, Jabes blies durch seine Finger der Rechten, die er zu einem Ring formte, „wie der Wind - fort - unauffindbar!“ Da trat Jona von hinten an den Blinden heran und fragte mit einem giftigen Lachen in der Stimme: „Was meinst du nun, weiser Jabes, lebt Jona noch?“ Ehe noch der Gefragte antworten konnte, hob der weiße

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Esel seinen Kopf und schrie, Jona schlug dem Tier auf die Nase. Jabes sagte: „Darüber denken viele nach, ich antworte jedes Mal, wenn man mich fragt: Warum soll er noch leben? Warum soll er nicht mehr leben? Geht es um Jona - oder um das Wort des Herrn, die Gerechtigkeit!“ Wieder schrie der Esel… S. 135ff Die Fluchten selbst sind der beste Beweis für die Wahrheit seines Auftrages, so resümiert der Blinde. Noch stößt Rapha seinen Jona nicht direkt mit der Nase auf die Wahrheit, aber Jona beginnt zu ahnen, dass Rapha mehr ist als nur ein freundlicher Fremder. Und so geht er ohne Abschied von seinem Retter und Gönner ins Unbekannte. Er wird von neuer Liebe ergriffen, zu Mysia, gerät um ihretwillen in Sklaverei, flieht auch von dort und gerät auf das biblisch bekannte Schiff, das in Seenot gerät und ihn letztendlich über Bord wirft.

4. Jona in der Nichtzeit Noch im Stürzen in die Unterwelt räsoniert Jona über seine Identität und den Sinn seiner Fluchten. Die alten Worte aus der Tradition der Psalmisten sind die Folie, auf der er sich beschreibt. Ach, wenn er wüsste, wenn er mich sähe…würde er dann noch seinen Gott sagen lassen: ‚Und wenn sie sich gleich in der Unterwelt vergrüben, meine Hand holt sie heraus!’ Nein, hier holt mich niemand mehr heraus, Freund Amos, halte dich an den seligen Untergang. S. 241 Er füttert mit mir nur die Ungeheuer des Meeres, sonst nichts. Und doch weiß er: Überall ist Er schon vor mir da - und nähme ich Flügel der Morgenröte, ich entrinne Ihm nicht. S. 244 Jona im Bauch des Walfisches - das ist bei Stefan Andres: Jona in der Nichtzeit. Wie im biblischen Buch geschieht hier die Wandlung, jedenfalls die zur Annahme seines prophetischen Auftrags für Ninive, noch nicht die Annahme seiner selbst in Gott.

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Und in der Tat: auch in dieser Nichtzeit ist ER schon da. Der neue Schauplatz der Handlung untersteht einem Engel - Aphar mit Namen, später erschließt sich erst, dass auch hier der freundliche Fremde Rapha Aphar mit engelischer Macht und einigen Hilfskräften und Hilfskonstruktionen waltet. Im programmatischen Gespräch mit der sprechenden Aeseline heißt es S. 246: Das ist nun einer von den vielen, die nicht hören wollen, einer, der von Tag zu Tag es immer deutlicher spürt, wer ihn ruft - und es schließlich sogar weiß - und doch nein sagt; der vor der Stimme, die ihn meint, über Länder und Meere hin flieht und lieber bereit ist, durch den Rachen des Fisches in die Unterwelt zu schlüpfen als zu sagen: Hier bin ich! Der Engel scheut keine Mühe, nach der Rettung aus vielfacher physischer Gefahr Jona nun auch noch bei seiner Selbstwerdung zu helfen. Dr. Jona aus der Neuzeit tritt auf, Calame, ein Theologe und Pastor, der irre geworden ist an seinem Beruf und der sich in die Gründung von Hilfsprojekten aller Art (Vater Hans: kleines Haus in kleinem Garten) hineinstürzt und bejubelt wird. Das war Dein Hamath stellt Jona fest. Wie Jona flieht er, als ihm das Elend der zur Unkenntlichkeit verstümmelten Opfer des Zweiten Weltkrieges (… wie ich selber ein verknäultes Stück Elend bin, voller Torheit, Unwahrhaftigkeit, Schwäche S. 302) und die Schrecken von Hiroshima und Nagasaki (Ninive! sagt Jona) die Sprache verschlagen wie die Kopfabschlägerei vor Hamath dem Jona die Sprache verschlagen hat. Auch Dr. Jona flieht in ein bürgerliches Leben, in das des Calame, eines geehrten und anerkannten Gutsbesitzers in Italien mit Frau und Kindern, auch er wird aufgespürt von einem ehemaligen Mitarbeiter, auch er flieht und gerät in die Hände eines Drogendealers, wie Jona in die Sklaverei. Der Herr der Welt selbst und sein engelischer Ort greifen zum letzten Mittel: Jona soll zu sich selbst finden, indem er sich spiegelt im Schicksal des Dr. Jona / Calame aus dem 20. Jahrhundert. In seinen Träumen schon hatte der fliehende Jona einen Blick ins 20. Jahrhundert werfen können, naheliegend, war das doch das Jahrhundert ohne Gott, 234

wo der Mensch alles war und alles konnte und alles durfte. Könnte er dahin fliehen, so wäre sein Problem gelöst: wo es keinen Gott gibt, da gibt es auch keinen Ruf, da braucht man auch nicht fliehen. Nun begegnet er in einem engelischen Raum seinem Pendant aus eben diesem Jahrhundert, und er muss feststellen: dieses Pendant flieht genau wie er. Ich lese: Calame sagt: „Ich hielt mich ungefähr für das, was ich war: für einen intelligenten, tatkräftigen, jungen, unverheirateten Mann, der seinen Pfarrberuf nicht mehr ausfüllen konnte, ihn aber offen aufzugeben sich scheute und darum Berge zu versetzen unternahm, nicht durch den Glauben, sondern durch Organisation. Übrigens: ich habe an Gott nie grundsätzlich gezweifelt – aber es gelang mir ohne ihn auszukommen.“ Jona blies den Atem von sich. „In Eurer Zeit vielleicht“, rief er, „aber in der meinen? Überall ist Er vor mir da, und selbst in der Nuss, die du öffnest, war Er zuerst, und hat den Kern für dich gesüßt oder den Wurm hineingetan. Von allen Seiten umdrängt Er dich wie das Meer unser Schiff, wie der Wind, der uns heute die Segel zerreißt und morgen zu uns flüstert: Er sprach zu mir durch den Mund der Geliebten, und jetzt greift Er mich aus deinem Munde an, und dabei sprichst du doch nicht für sondern gegen ihn…Und selbst im Schlaf - Sein Engel dringt in jeden Traum ein, und Sein Atem - alles, alles durchbläst er, durchfragt er, durchschauert, durchängstigt, durchglüht und durcheist er, ah, und verschlingt er - ich werde mich wohl ergeben müssen…Ein solcher ist Er: nicht wird Er die Belagerung aufheben, bis ich“ - Jonas Stimme brach mitten im Satz ab. „Was habe ich geredet?“ fragte er nach einer Weile verwirrt, „ich glaube, das Licht des Engels stand über mir.“ S. 290f Sie merken, wieder wird thematisiert, was einzig Jonas Flucht entgegensteht, nun aber nicht mit Zorn gegen den Überall-Finder, der auch die Flügel der Morgenröte einholen und seinen Menschen aus der Unterwelt herausholen kann, nun aber eben in der Spiegelung in Calame, provoziert durch dessen Behauptung, er könne ohne Gott auskommen, nun

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spricht Jona im Modus des Bekennens: Ja, so ist Gott … „ich werde mich wohl ergeben müssen.“ Zur Endgültigkeit verhilft ein letzter Anstoß: unter den Fittichen des Engels in der Nichtzeit steuert Dr. Jona bzw. Calame in dieser Begegnung einen letzten Baustein für die Argumentation bei, in einem letzten Schritt kann der Prophet Jona durch Spiegelung zu sich selbst und zu seinem göttlichen Auftrag finden. Calame spricht von atomarer Zerstörung: „Was ich an jenem Sommertag vernahm, war die Wahrheit, obgleich es sich tausendmal unglaublicher anhörte als je eine Nachricht, die mich in Erstaunen setzte. Ich erfuhr, dass eine große Stadt zu Schutt und Asche geworden war - in der Dauer eines einzigen Atemzuges. Geflügelte Streitwagen, von denen ich Dir vorhin erzählte, hatten über der Stadt wie soll ich es dir erklären - ja, sie hatten - nein, es lässt sich nicht im Bilde sagen: es geschah - es fiel herab auf die Stadt - und sie existierte nicht mehr - und war doch so groß wie - wie - nenne mir eine große Stadt in deiner Zeit“ – „Ninive!“ sagte Jona. „Hör auf mit deinem Ninive!“ Calames Gesicht verzerrte sich, „meinst du gar, ich wollte dich mit dem, was ich dir sage, auf den Weg nach Ninive setzen? Da irrst du dich! Ich berichte dir das, um dir zu zeigen, wann auf den Tag genau mein Glaube an einen Gott, der sich um die Welt kümmert, zusammengebrochen ist. Ich weiß zwar, es war nicht Gott, der diese Stadt zerstörte, - es war der Mensch. Aber Gott, wäre er an der Welt interessiert, hätte den Menschen bei dieser ungeheuerlichen Tat hindern müssen.“ Jona schaute zum Mond hinüber, der lag fast auf dem Horizont. Schließlich blickte er Calame aus den Augenwinkeln an und fragte: „Diese große Stadt, von der du sprichst, ist - daran kann kein Zweifel bestehen! - wegen ihrer Sünden zerstört worden. Oder glaubst du, der

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Mensch könne vernichten - gegen Gottes willen? Siehst du! Du denkst nicht zu Ende, weil du Angst hast. Und du hast Angst, weil du tust, als wäre dein Denken ohne Anfang und Ende - und du bist doch kein Gott, wenn du auch aus einer solch großen Zeit kommst! Und was ich bereits seit langem ahne, weiß ich nun angesichts dieser in einem Nu zerstörten großen Stadt: dass Jahwe auch in der Zeit hinter hundert Generationen wohnt - die Furchtbarkeit des Gerichtes lässt immer auf die Größe des Richters schließen….“ Jona blickte schräg zum Himmel hinauf und lächelte. „Weißt du eigentlich, was du sagst? - und du lächelst dazu?“ Jona hob das Kinn: „So? Ich lächelte? Aber das sei dir ein Zeichen, dass das Lächeln des Engels über mir ist! …Der Unheilsprophet weiß: Weinen oder Lachen, das ändert an seiner Botschaft nichts. Besser also, er lächelt, das ist das Zeichen des Lichts über ihm, der großen himmlischen Sicherheit, die mich immer stärker erfüllt. Wehe dir Assur, ich komme bald! Wehe dir, Ninive, ich predige wider dich, und meine Predigt heißt Untergang, und du kannst es nicht lesen, denn ich schreibe es dir an die Stirn!“ S. 292f

5. Jona nimmt seinen Auftrag an Die große Stadt im 20. Jahrhundert ist vernichtet worden. Ninive kommentiert der fliehende Prophet. Die Größe seines Auftrages schreckt ihn nun nicht mehr. Er wird gehen und Ninive den Untergang predigen, wissend, so etwas kann und wird geschehen. Er wird seinen Auftrag erfüllen, nicht um Ninive zur Umkehr zu bringen, sondern weil er der Meinung ist, die sündige Stadt hat den Untergang verdient. Die Hure Ninive - das ist ja die Stadt des akuten Erzfeindes Israels, da sind die Sünder, da muss Gott strafend eingreifen. Als Jona dann von Calame erfährt, dass einmal auch Jerusalem vernichtet

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werden wird, da gibt es kein Halten mehr für den Propheten: er verlässt die Nichtzeit und setzt seinen Entschluss in die Tat um. Der Zorn, ja die Wut über die Hure Ninive hat Jona aus der Nichtzeit zurückkehren lassen. Selbstgerechte Wut hat ihn befähigt, Ninive den Untergang anzukündigen. Die Sünden der Allesabschneider, der großen Hure haben den Tod und den Untergang verdient. Die Gerechtigkeit muss siegen. Wenn schon selbst Jerusalem eines Tages untergehen sollte, dann jedenfalls auch Assurs Ninive.

6. Jona wird versöhnt mit Ihm und mit sich selbst Es kommt im Roman so, wie es im biblischen Buch berichtet wird: Jona predigt: In vierzig Tagen wird Ninive untergehen. Und der König samt seinem ganzen Reich tut Buße. Ninive wird verschont, der Prophet, der diesen Auftrag erst nach unzähligen Fluchten und äußerst widerwillig angenommen hat, - der Prophet weiß nicht mehr, woran er ist. Er hadert mit Gott, schilt seine Ungerechtigkeit - er hat die Sünder verschont -, bezichtigt ihn der Inkonsequenz und räsoniert darüber, welche Folgen es hat, wenn ein Ungerechter allmächtig ist. „Sollte ich mich noch mehr zum Gespött machen, als ich es bereits bin? Jetzt weiß ich wenigstens: Ninive steht noch… Ich kann versuchen, meine Schande zu verbergen, meine Lächerlichkeit. Ich kann mich wieder in die Verborgenheit retten, aber ich sage es in diesen so außerordentlich friedlich blauen Himmel hinauf: Nicht noch einmal findet mich irgendeine Stimme. Ich werde unauffindbar und steige darum nun hinab zur Scheol, wo ich längst hingehöre, ein abgelegtes Spielzeug jenes Einen, der mit uns spielt wie mit Puppen…Ich aber will ich selbst sein und nicht von der Hand eines anderen bewegt werden, ich will keine Handlungen begehen, deren Sinn ich nicht kenne…ich will ernst genommen und selbst von Ihm nicht gehänselt werden.“ S. 362

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Der Roman ist so wenig zuende wie das biblische Buch. Der Mensch Jona wie der Prophet Jona wie Dr. Jona wie Calame: der Mensch par excellence kommt nicht zu sich selbst, wenn der Gott seines Lebens die konsequente Gerechtigkeit ist. Jona muss erfahren, dass alles anders kommt. Auch das letzte Kapitel muss er noch buchstabieren. Jona bleibt in der Gegend von Ninive, er will die Wirkung seines Auftrages und seines Lebens anschauen, in Kneipen, auf den Straßen und bei Hofe. „Und Jona sah es, auf Schritt und Tritt musste er feststellen: ja, dieses Volk befand sich auf einem neuen Weg. Der Gott, der Ninive verschont hatte, besaß zwar in der Stadt keinen Tempel, aber er wohnte in den Herzen der Bewohner und herrschte von hier aus unsichtbar über die Stadt. …Ja diese Stadt glänzte nun noch schöner, kam es Jona vor, sie war aus ihren verfaulten Sünden wie eine Rose auf dem Schweinemist aufgeblüht und ihr neuer Geist duftete weit über das Land…“ (S. 368) Wie kommt es dazu, dass Jona mit seiner selbstgerechten Wut sein Lebenskonzept in anderem Licht zu sehen beginnt, dass er das Prinzip konsequenter Gerechtigkeit aufgibt? Und was gewinnt er bei diesem Abschied vom Alten, - für sich selbst und für seinen Gott? 1

In der Nacht lag die Stadt in großer Stille da, und zum Dank für die Errettung hatte der König angeordnet, dass auf den Ecken bestimmter hoher Dachsimse, vor allem am Stufentempel, sobald die Sonne unterging, in gusseisernen Pfannen Pechfeuer angezündet würden. In ihrem rötlichen Flackern sahen sie wie tausend gefaltete Hände aus, die während der ganzen Nacht ihren Dank und Preis zum Himmel hinaufschickten. Jona starrte stundenlang hinüber zu diesem milden Spiel der Flammen und seufzte: „Ja, gewiss“, murmelte er, „es heißt: ‚der Herr ist nahe bei denen, die reumütigen Herzens sind, und hilft denen, deren Gemüt zerschlagen ist.’ Aber wo soll das hinführen, wenn dieser neue Geist überspringt - von Ninive nach Assur, von Assur auf Babylon? Das wäre durchaus mög239

lich und sogar ohne Propheten, denn Er bedarf unser nicht! Er lenkt die Herzen wie Wasserbäche, und nicht der Prophet tut’s mit seinem Geschrei und seinen Drohungen. Und so kann Er aus Ninive sich ein Jerusalem bauen, sich aus den Steinherzen von Assur Kinder Abrahams erwecken, Kinder der Verheißung! Und mit ihnen einen Bund schließen, wie einst mit uns. Er kann, das hat man gesehen, beschließen und verwirklichen, was Er will…Und wenn Er dabei auch behauptet, Er sei gerecht, wer will ihm das Gegenteil beweisen? - Seine Macht ist ohne Grenzen, darum“ --- Und das war für Jona das Bitterste in dieser bitteren Erfahrung mit dem geretteten Ninive: nicht die Unbegreiflichkeit Gottes, wohl aber diese Art von Gerechtigkeit! - in jeder Gestalt ließ sie das Herz des Menschen erschauern, mochte sie nun segnen oder vernichten, heilen oder verwunden, „einfach weil sie unmenschlich ist“, das war eine von Jonas Feststellungen, die immer häufiger wiederkehrte. Aber auch immer häufiger erinnerte er sich seiner Knabenjahre, da er Gott, als säße er Ihm gegenüber, wie einem Freund Lieder auf seiner Brustharfe gespielt hatte, ja, um Ihn zu erfreuen. Und der Knabe hatte sich der Hilflosen und Notdürftigen erbarmt, so wie es in den Psalmen geboten stand - auch, um Ihn zu erfreuen, aber auch ebenso, um die Unglücklichen zu erfreuen und nicht zuletzt sich selbst - ja, diese Seligkeit des kleinen Hirtenjungen hatte sich in seiner Erinnerung ganz frisch gehalten, so selten er auch gewagt hatte, aus dieser Quelle zu trinken - man saß hernach ziemlich verloren da und durstiger als zuvor… 2

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Aber eigentlich hatte man sich doch zwischendurch an diesen kindlichen Mut zum Wecken des Namenlosen erinnert, an diesen Glanz in der Frühe, an diesen ganz anderen Gott… Auch in der Nacht nach Hamath - manchmal sogar im Traume - vor allem damals, als die Flucht begann: am Brunnen Jakobs - nicht auf dem Berg Garizim! - nein, am Brunnen, als er mit den Fingerspitzen die Rille auf dem Brunnenrand nachfühlte, diesen mundhaften Ein-

schnitt, der von dem auf- und abgleitendem Seil im Laufe der Jahrhunderte in dem Stein zurückgeblieben war und nun immerdar von der Güte des Herrn erzählte, von so viel gelöschtem Durst in Mensch und Vieh, von der Unerschöpflichkeit seiner Gnade. Und auch auf dem Schiff des assyrischen Holzhändlers… Seit Jona neben dem Tor von Ninive vor dem Bild in der Mauer niedergebrochen war, wagten seine Erinnerungen sich manchmal - aber gewissermaßen vorsichtig - zu diesem Wesen zurück, von dem er nur eins wusste, dies aber mit unumstößlicher Sicherheit: wer Rapha auch war, er hat mich geliebt. Mysia, Mirjam, Micha, die Kinder, gewiss, auch sie erwiderten seine Liebe. Aber Rapha hatte zuerst geliebt, er hatte ihn aus seiner Schmach aufgelesen, ehe er ihn darum bitten konnte. Er war verloren, Rapha fand ihn - nahm ihn mit sich. Und er verließ Rapha, nicht Rapha ihn, er verließ heimlich den Freund, und mit Lügen, nur weil der Quälengel im Traum wie Rapha aussah. Und wenn sie sogar eine Person waren: der freundliche, der ihn tags belehrte, und der furchtbare, der ihm nachts donnernd seinen Namen nachwarf „Jona! - Jona!“, läge nicht gerade dann Raphas Liebe und Sorge ganz offen da? Und damit auch die Liebe und Sorge dessen, dem der Mensch nicht zu gering ist, um ihm seinen Engel nachzuschicken? Und er gebietet dem Engel überdies, auch nicht den Saum seines blitzenden Gewandes unter seiner Hülle hervorlugen zu lassen, denn die Wahrheit soll nicht mit ihrem himmlischen Griff den Menschen würgen, sondern ihn frei machen. Das ist es wohl, deshalb wurde mir die Botschaft Gottes in den Staub geschrieben. Ja, der Engel hatte sich tief geneigt und war dicht verborgen. Und manchmal lachte Jona auf, wenn er an Rapha dachte und dabei einen Augenblick fest überzeugt war, dass sich in ihm wirklich ein Engel verborgen hatte…Aber der Glaube an den himmlischen Kern in der Gestalt des assyrischen Holzhändlers ging und kam, trotzdem wuchs er und wurde in ihm stark. Mit diesem Glauben bekamen aber auch die Worte Raphas, sooft sie in Jonas Bewusstsein hoch-

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stiegen, einen neuen, wie angespitzten Sinn, und der zielte auf ihn Raphas Worte, die man zur Ruhe gebracht zu haben glaubte, umschwirrten ihn wie Pfeile. Vor allem ging ihm Raphas seltsame Äußerung immer häufiger durch den Sinn, eigentlich sooft sich sein Blick über den Strom wagte und an Ninives Häusern sich verletzte, diese zunächst geradezu unsinnig erscheinende Bemerkung, dass der Prophet dringender seines Ninives bedürfe als Ninive seines Propheten… S. 369 - 371 Noch einmal: Wie kommt es dazu, dass Jona nicht mehr vor Gott und vor sich selbst flieht? Stefan Andres’ Antwort ist eindeutig: Er brauchte die Erfahrung von Ninive, erst diese letzte Perle in der engelischen Ereigniskette ist imstande, ihn zu verwandeln. Nun kann der Prophet von Hamath seine Kindheit anschauen, seine Erfahrungen mit der Tradition, seine hand-festen Erfahrungen mit der Rille im Brunnenrand, nun kann er seine Rettungen als Taten des Engels begreifen, nun versteht er, dass wirkliche Wandlung nicht auf Biegen und Brechen zustande kommt, sondern mit Locken und Ziehen, damit er, der Mensch par excellence, mitkommt. Die Heimkehr in die Weisheit des gnädigen Gottes und die Heimkehr aus der Fremde zu sich selbst fallen zusammen, ja sind eins. Der Jona des Stefan Andres fasst seine Geschichte zusammen als…die Geschichte vom selbstgerechten, vom menschenhassenden Unheilspropheten, der gegen seinen Willen Ninive die Gnade brachte, und der von der bußfertigen Stadt darauf selber bekehrt wurde zur Erkenntnis des unbegrenzten, allgegenwärtigen Reiches der Gnade.“ S. 380 Der Roman endet mit einer Szene in der Nichtzeit. Sie zeigt uns den unglücklichen unerlösten gequälten Calame aus der Neuzeit, der an dieses Reich nicht glauben kann. „Schaff mir ein zweites Ninive“, sagt er zu Jona, „und ich glaube an das erste.“ Und Jona macht sich auf den Weg; er wird für sich und seine Erfahrung einstehen bis zum Letzten.

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Der König David Bericht Über Stefan Heym und seinen biblischen Roman319 Joachim Liß-Walther I Der „Nachruf“ Zu den bedeutendsten Autobiographien eines Schriftstellers des 20. Jahrhunderts gehört ohne Zweifel der „Nachruf“ von Stefan Heym. 1988 erschienen, gibt das umfängliche Werk Auskunft über ein bewegtes, spannungsreiches und ungewöhnliches Leben. Der seltsame Titel geht zurück auf eine Begegnung, die Stefan Heym am Ende des Buches erzählt: „An einem Herbsttag Anfang der siebziger Jahre rief die New York Times an: ob ich bereit wäre, einem ihrer Mitarbeiter, Alden Whitman, ein Interview zu geben. Mr. Whitman erschien denn auch pünktlich zur vereinbarten Stunde, ein munterer kleiner Herr mit vergnügt zwinkernden Augen …“320 Es stellt sich heraus, dass sich Heym und Whitman bereits vor längerer Zeit in New York begegnet waren, als Heym in der New Union Press arbeitete. Statt nun aber zum Interview anzusetzen, verbreitete sich Whitman „über das ehrwürdige Alter seines Blattes und dessen Ruf, der über den Erdball reiche, und wie die Redaktion auf den sorgfältigsten Recherchen bestehe, so dass der Inhalt der Spalten der New York Times in kommenden Jahrhunderten noch den Historikern als Referenzmaterial dienen werde und daher gewissermaßen von Ewigkeitswert sei. Da begann mir´s zu dämmern. `Ach, der Whitman sind Sie´, sagte ich, `und Sie besuchen mich, um mein Obituary zu schreiben, meinen Nachruf!´ That`s it, yes, sagte er, offensichtlich erleichtert“.321 319

Der Aufsatz ist eine ergänzte und vor allem um die biographischen Notizen erweiterte Fassung des Vortrags. Es schien mir sinnvoll und erhellend, die Autobiographie Heyms einzubeziehen und sie damit der Lektüre wärmstens zu empfehlen. 320 Stefan Heym, Nachruf, 1988, S. 842.

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Alden Whitman war der Star Obituary Writer der New York Times „und seine Nachrufe die begehrtesten Amerikas, wenn nicht der Welt; fertig geschrieben stünden sie, ständig up to date gebracht und jederzeit verfügbar, im Satz, bis der Metteur sie am Tage des Ablebens ihres jeweiligen Titelhelden in die dafür bestimmte Seite einfügte“.322 Auf die Frage Heyms, ob er denn einen Abzug seines Nachrufes erhalten könne, wehrte Whitman entschieden ab: Es sei Grundsatz, dass kein Lebender seinen Nachruf zu Gesicht bekäme. Und auch Heyms spätere Bemühungen, einen Vorabdruck zu bekommen, wurden abschlägig beschieden. Und so machte sich Stefan Heym selbst an die Arbeit. Der „Nachruf“ ist ein eigenständiges literarisches Werk, gewissermaßen ein `Entwicklungsroman in eigener Sache´, denn Stefan Heym `benutzt´ sich selbst, den Schriftsteller S. H., und schildert - aus der Distanz eines kritisch kommentierenden Ich-Erzählers - die Stationen und Erlebnisse des S. H. in den Turbulenzen und Katastrophen seiner Zeit, sein Tun und Lassen, seine Überlegungen und Gefühle, erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich den jeweils herrschenden Verhältnissen nicht einfach anpasste, der sich selbst unter schwierigsten Bedingungen treu blieb und der sich in seinen Reden und Kommentaren, Essays und Interviews, Erzählungen und Romanen beständig mit den Entwicklungen und Regressionen in Politik und Gesellschaft auseinandersetzte, sich also einmischte, Konflikte provozierte und erlitt und trotzdem in all den Widerwärtigkeiten und Widrigkeiten der Zeit seinen Humor und seiner Chuzpe, seine freundliche Schärfe und Ironie, selbst wenn er sie zeitweise verlor, stets wieder fand. Die Geschichte eines Menschen und Schriftstellers, der in Wort und Tat Herz und Verstand stets auf dem rechten Fleck hat, also: links. Um den Kunstgriff, der die Autobiographie durchzieht, zu verdeutlichen, sei ein kurzes Beispiel angeführt: In Amerika verfolgte Stefan Heym 321 322

Ebd. Ebd., S. 843.

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einige Zeit den Gedanken, einen Roman mit dem Titel „The Glass Wall“ zu verfassen: Im Mittelpunkt sollte ein Mann stehen, der sich eine Mauer erbaut gegen die Welt und damit auch zwischen sich und seiner Frau, eine gläserne Wand, durch die er zwar die Vorgänge `außen´ sehen und begreifen kann, durch die er aber zugleich geschützt bleibt vor den Zumutungen `außer sich´, `bei sich´ aber auch nicht sein kann aufgrund seiner Abkapselung. Im Anschluss an die Inhaltsskizze des Romanprojektes heißt es dann: „Ich glaube nicht, dass das Problem seines Helden damals S. H.´s eigenes war, obwohl er heute noch, wie andere wohl auch, sich manchmal dabei ertappt, wie er sich selber samt zugehöriger Szenerie gleichsam von außen beobachtet: ein probates Mittel, um allzu großem seelischen Aufruhr zu entgehen. Jedenfalls schreibt er das Buch nicht und wendet sich stattdessen den Palmer Raids, den Razzien des Mr. Palmer, zu.“323 Verfolgen wir nun anhand des `Nachrufes´ und versehen mit Schlaglichtern die einzelnen Stationen des Lebensweges Stefan Heyms und werfen wir kurze Blicke auf seine zentralen Werke - auch über die Autobiographie hinaus, die bereits Mitte der siebziger Jahre mit den Berichten zum „König David Bericht“ und zum Roman „Collin“ endet. II Notizen zum Lebenslauf Stefan Heyms Helmut Flieg, wie Stefan Heym ursprünglich hieß, entstammt einer jüdischen Kaufmannsfamilie; der Vater, Daniel Flieg, hatte seine Wurzeln in der Provinz Posen, nahe der russischen Grenze, etablierte sich aber in der aufstrebenden Industriestadt Chemnitz und heiratete Elsa Primo, einzige Tochter des Juniorchefs der Firma B. Eisenberg & Sohn, Strumpf- und Wirkwaren. Helmut, der Erstgeborene, kam am 10. April

323

Ebd., S. 415. Nach der russischen Revolution, die in Amerika eine erste große Welle von Angst vor dem Bolschewismus auslöste, verfügte der damalige Generalstaatsanwalt der USA unter Präsident Wilson, A. Mitchell Palmer, die Verhaftung der `Verschwörer´, vieler hundert Arbeiter meist osteuropäischer Herkunft.

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1913 zur Welt und ahnte schon früh eine Sonderstellung, eine ungewollte, die nicht allein daran lag, dass „er ein jüdisches Kind war; es musste da noch etwas sein bei ihm, etwas schwer Definierbares, von dem er nicht einmal der Mutter erzählen konnte… Was aber tun? Er, den es so sehr danach verlangte, Teil zu werden der Gemeinschaft, die allein Sicherheit verlieh, ging noch mehr auf Distanz, schwieg, wenn er hätte mitlärmen sollen, und lärmte, wenn Stille angebracht war. Zum ersten Male damals vernahm er das Wort Arroganz, das ihm Jahre hindurch anhaften sollte, ein arroganter Bengel, ein arroganter jüdischer Bengel“.324 Bezeichnend auch eine Szene, die dem Sextaner widerfuhr: „Wer dieser Lehrer gewesen war, ist mir nicht mehr erinnerlich; nur die Stimme ist geblieben, schneidend, siegesgewiss: `Hel - mut, eh? Heller Mut, eh? Na, wir werden ja sehen! Und Flieg, Fliege, auf Latein Musca, vielleicht sollten wir dich Musca nennen, eh?´ Dieser verfluchte Name. Helmut…war schon schlimm genug, in der ganzen Klasse gab es keinen anderen Helmut,…und dann noch Flieg! Wie konnte einer einen Imperativ zum Namen haben, dazu einen, der sich nicht erfüllen ließ; auch Ikarus war abgestürzt, als er in Sonnennähe geriet; höchstens herausfliegen konnte man, woraus heraus, aus der Gruppe natürlich, der Gemeinschaft.“325 Und einige Jahre später war es dann auch soweit, es ereignete sich der „Fall Flieg“. Weit über die Leseliteratur der Schule hinaus hatte Helmut sich mit der neueren Literatur beschäftigt, las Werke von Stefan Zweig und Romain Rolland, Arnold Zweig und Jakob Wassermann, Franz Werfel und Max Brod, auch Rilke fehlte nicht, dann rückten Kästner, Tucholsky und Brecht in den Mittelpunkt seines Interesses. So begann er Gedichte zu verfassen und eines der ersten, geschrieben während einer Schulstunde, war das so genannte „Exportgeschäft“. Dazu muss man wissen, dass nach dem Ersten Weltkrieg deutsche Offiziere und Vertreter der 324 325

Ebd., S. 17. Ebd., S. 21.

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Schwerindustrie nach China gesandt wurden, um den nationalchinesischen Gerneralissimo Chiang Kaishek zu unterstützen. Heym erinnert sich noch an die wesentlichen Zeilen seines Gedichtes: Wir exportieren! Wir exportieren! Wir machen Export in Offizieren!... Die Herren exportieren deutsches Wesen Zu den Chinesen! Zu den Chinesen!... Sie haben uns einen Krieg verloren. Satt haben sie ihn noch nicht… Was tun wir denn Böses? Wir vertreten doch nur die deutsche Kultur -.326 Zu Helmuts Erstaunen akzeptierte der Kulturredakteur der „Sozialdemokratischen Volksstimme“ die provokativen Verse; sie erschienen am 7. September 1931 und - kein Wunder - erregten Skandal. Die Nationalsozialisten - und auch die Chemnitzer bürgerliche Presse - nahmen sich der Sache an, organisierten eine Massenversammlung, stellten Forderungen: dass Flieg von der Schule verschwinde und dass er überhaupt kein deutsches Abitur machen könne, dass der marxistische Geist aus allen deutschen Schulen vertrieben werden müsse, dass die deutsche Jugend nicht dulden werde, dass ihre Väter besudelt würden und so weiter und so fort. Ich wurde also relegiert, und so fing meine politische Karriere an.327 Flieg also fliegt von der Schule.

326

Ebd., S. 46f. In: Stefan Heym: Im Gespräch mit Dirk Sager, 1999, S. 14f., erwähnt Heym statt der Zeilen: „Sie haben uns einen Krieg verloren. Satt haben sie ihn noch nicht“ die weiteren „Wir machen Export! Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport! Die Herren exportieren…“ usw. und ergänzt die Schlussverse: „Es freut sich das Kind, es freut sich die Frau. Von Gas werden die Gesichter blau. Was tun wir denn Böses …“ 327 Stefan Heym: im Gespräch mit Dirk Sager, S. 15f.

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Ich habe diese Phase im Leben des Stefan Heym so ausführlich beschrieben, weil damit Grundlegendes für seine weitere Existenz verdeutlicht werden kann. Da ist zunächst der Keim gelegt für das anhaltende und sich vertiefende Interesse an der Situation der Arbeiter, die er in Chemnitz und im Betrieb wahrgenommen hat. Schon als Schüler bin ich herumgestreift in dieser Stadt, die ja eine sehr starke industrielle Ausrichtung hatte damals, große Arbeiterviertel, sehr viel Armut und Arbeitslosigkeit. Ich empfand die große Ungerechtigkeit dieser Sache…Das hat mich eigentlich…nach links getrieben…Dazu kam natürlich noch, dass ich Jude war und damit sowieso zu einer unterdrückten, angegriffenen Minderheit gehörte.328 Zum anderen führte ihn seine Leidenschaft für Literatur, und das heißt für das Wort, mitten hinein in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit. Er hat in jungen Jahren bereits am eigenen Leib gespürt, welche Kraft das Wort haben kann, in welche Konflikte es hineintreiben und welche unangenehmen Folgen es haben kann, selbst wenn es sich um ein „bestenfalls mittelmäßiges, dilettantisches Gedicht“ handelte, wie Heym später formulierte. Und schließlich wurde ihm klar - und gemeint waren die Nationalsozialisten - : „Nur ja nicht diesen noch einmal in die Hände fallen!, und daraus resultierend dessen Umkehrung, der Zwang, sich selbst immer wieder beweisen zu müssen, dass er sehr wohl imstande ist, einer feindseligen Masse gegenüberzutreten, einer Übermacht Paroli zu bieten.“329 Der um Onkel und Tanten erweiterte Familienrat veranlasste die Übersiedlung Helmuts nach Berlin, wo er sein Abitur ablegen konnte und das Studium der Philosophie, Germanistik und Journalistik aufnahm. Er begann Beiträge zu verfassen, unter anderem für die „Weltbühne“ von Carl von Ossietzky, für Zeitungen der Sozialdemokraten und Kommunisten sowie für die Sozialistische Arbeiterpartei, verkehrte in Schriftstellerkreisen und traf sich ab und an mit seinem Vorbild Erich Kästner. 328 329

Ebd., S. 17. Nachruf, S. 49, im Original kursiv.

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Das 1933 an die Macht gekommene nationalsozialistische Regime aber vergaß nicht. Am 12. März bereits suchte sein jüngerer Bruder Heym in Berlin auf und berichtete, dass „sie“ Helmut in Chemnitz gesucht und an seiner Stelle den Vater mitgenommen hätten. Seine Mutter flehe ihn an, Deutschland sofort zu verlassen. Und Helmut Flieg floh - über Schlesien, übers Riesengebirge nach Prag. Der Name „Stefan Heym“ wurde auf dem Prager Hauptpostamt geboren, da als Absender Helmut Flieg auf der Postkarte, die er nach Hause - heym! - schickte, um seine Ankunft in Prag anzuzeigen, nicht mehr in Frage kam. Um zu überleben, machte Heym weiter mit dem, was er schon kannte und konnte: Er schrieb viele Artikel und Beiträge zu allem Möglichen und in allen möglichen Zeitungen - in Prag gab es neben den tschechischen auch eine Reihe unterschiedlicher deutscher Tageblätter. Dabei lernte er - vor allem im legendären Café Continental, dem Treffpunkt exilierter deutscher Schriftsteller - neben dem Verleger Wieland Herzfeld auch dessen Bruder, den berühmten John Heartfield kennen und andere Autoren. Und selbst der große Karel Capek, Kulturredakteur der `Lidove Noviny´, Nationaldichter der demokratischen Tschechoslowakei und weltberühmt durch seine Romane, satirischen Science-Fiction-Erzählungen und Reiseberichte, war sich nicht zu schade, die ihm von Heym vorgelegten Feuilletons nicht nur nicht anzunehmen, sondern auch ins Tschechische zu übersetzen und abzudrucken. Während seiner Prager Zeit konnte Stefan auch seinen Vater in die Arme schließen, der aus seiner Geiselhaft entlassen worden war, aber nicht lange danach sich das Leben nahm.330 Eine entscheidende Weichenstellung für sein weiteres Leben im Exil erfuhr Heym 1935 durch das Angebot, das Studium wieder aufzunehmen und abzuschließen - und zwar in Amerika, finanziert durch das Stipendium einer jüdischen Studentenverbindung in den USA. Er nahm diese Möglichkeit an und beendete an der Universität von Chicago das Studium mit seiner Magisterarbeit über Heinrich Heines „Atta Troll“. Das Stipendium galt jedoch lediglich für die Dauer des Studiums. Um in den 330

Vgl. den Bericht über die Prager Zeit im `Nachruf´ S. 85 - 112.

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Genuss eines Einwanderungsvisums zu kommen, musste man ein solches Visum im Ausland bei einem amerikanischen Konsulat beantragen. Unter einem Vorwand konnte Heym in Kanada einreisen und als Einwanderer zurückkehren und sofort einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Damit wurde zugleich der Name Stefan Heym legalisiert und die Möglichkeit eröffnet, die Mutter und den Bruder in die USA kommen zu lassen; erst 1941, gerade noch rechtzeitig, trafen beide in New York ein andere Familienmitglieder wurden in den Gaskammern von Auschwitz vernichtet. Nach Mitarbeit am Blatt Volksfront in Chicago erreichte Heym das Angebot, in New York das neue Wochenblatt Deutsches Volksecho zu leiten, für zwanzig Dollar die Woche. Das Blatt hatte eine dezidiert antinationalsozialistische Stoßrichtung und wandte sich auch gegen deutsche und amerikanische Zeitungen und Kreise, die offen Antisemitismus propagierten und die Politik des `Dritten Reiches´ unterstützten. Die erste Ausgabe des Volksecho 1937 wurde enthusiastisch von vielen Prominenten begrüßt, so vom Bürgermeister New Yorks, LaGuardia, von John Heartfield und Egon Erwin Kisch, von Lion Feuchtwanger, Max Brod, Willi Bredel, Oskar Maria Graf, Heinrich Mann und selbst Thomas Mann schrieb unter anderem: „Sehr gern ermächtige ich Sie auch, meinen Namen auf Ihre Mitarbeiterliste zu setzen…“331 1938 veröffentlichte Heym eine Broschüre unter der Überschrift Nazis in USA. Doch musste das Wochenblatt bereits 1939, kurz nach dem Einmarsch der Nazis in Polen, sein Erscheinen einstellen. In den folgenden Jahren hielt sich Heym über Wasser, indem er, seit 1938 Mitglied der German-AmericanWriters-Association, als freier Schriftsteller und im Druckereigewerbe arbeitete. 1942 wurde sein erster Roman unter dem Titel Hostages veröffentlicht, der sogleich in die Bestsellerlisten gelangte. Der außerordentlich spannende Roman, in viele Sprachen übersetzt und auf deutsch als Der Fall Glasenapp 1958 verlegt, spielt in Prag zur Zeit der Besatzung Tschechiens durch die Deutschen, schildert den Widerstand gegen die 331

Ebd., S.162.

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Okkupanten und vor allem anderen die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen von Geiseln, die ein SS-Offizier, der nach dem verschwundenen Leutnant Glasenapp fahndet, in seine Gewalt gebracht hat. Während der Arbeit am Roman lernte er Gertrude Gelbin kennen, die er später heiratete und die ihm als kompetente und kritische Begleiterin bei der Entstehung seiner Werke und in schwierigen Situationen bis zu ihrem Tod 1969 zur Seite stand. Ab 1943 nahm Heym, nunmehr Bürger der USA, als Sergeant am Zweiten Weltkrieg teil und zwar bei den so genannten Richie Boys, einer Einheit für Pychologische Kriegsführung, die unter dem Kommando des Emigranten Hans Habe stand. Er hatte die Aufgabe, vor allem Texte zu verfassen, die durch Flugblätter, die mit Artilleriegeschützen über die feindlichen Linien geschossen wurden, und Rundfunksendungen und Lautsprecherübertragungen die Soldaten der deutschen Wehrmacht beeinflussen und zur Aufgabe bewegen sollten. Zudem gaben Habe und Heym die Frontpost und Feldpost für deutsche Wehrmachtsangehörige heraus. Die Wirksamkeit solcher Verlautbarungen ließ sich in einzelnen, seltenen Fällen durchaus nachweisen. Heym erzählt etwa von einer Felseninsel im Hafen von Saint Malo in der Normandie, die von Deutschen besetzt war und so den Hafen blockierte, der dadurch für die Amerikaner nicht benutzbar war. Mit Flugzeugbomben konnte die Insel nicht zerstört werden und an ein Aushungern der Besatzung war nicht zu denken - die Vorräte reichten auf viele Monate. Heym verfasste also ein Flugblatt, das am 28. August 1944 über der Insel abgeworfen wurde und unter der Überschrift „Scheibenschießen“ folgenden Text enthielt: „Soldaten auf Cézembre! Als ihr noch Rekruten wart, habt ihr auf Zielscheiben geschossen. Das ist schon lange her. Aber habt ihr euch einmal gefragt, wie es einer Zielscheibe zumute ist? Jetzt, auf eurem Inselchen, habt ihr Gelegenheit, die Gefühle einer Zielscheibe zu studieren. Denn das ist alles, was ihr seid:

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Lebendige Zielscheiben. Die meisten von euch wissen das auch. Vielleicht gibt es bei euch ein paar Offiziere oder Unteroffiziere, denen diese Art zu sterben ehrenhaft erscheint. Aber denen solltet ihr doch Vernunft beibringen können! Denn wenn ihr es nicht tut, werden unsere Artillerie, unsere Jabos, Stukas und schweren Bomber ihre Bombardements fortsetzen, bis Cézembre ein flammendes Felsengrab für euch alle ist. In dieser Lage ist der einzig vernünftige und ehrenhafte Ausweg für euch: Die weiße Fahne!“332 Einen Tag später ergaben sich die Soldaten. Nach dem Ende des Krieges übernahm Heym - weiterhin unter dem Befehl von Habe - kurzfristig die Leitung der Ruhr Zeitung in Essen und arbeitete anschließend als leitender Redakteur in München an der Neuen Zeitung, die als einflussreichstes Blatt der amerikanischen Besatzungsmacht galt. Er `er-fuhr´ ein Deutschland voller Schutt und Trümmer, berichtete über Buchenwald und andere Konzentrationslager, war entsetzter Berichterstatter beim Lüneburger Prozess gegen die Kommandeure und Verantwortlichen von Bergen-Belsen, erlebte völlig demoralisierte Menschen, die Verantwortung für die Untaten von sich wiesen, und musste erkennen, wie sich in neuem Gewande und auf verschlungenen Wegen alte Denkstrukturen, Verhaltensweisen und Verhältnisse fortpflanzten. Dennoch glaubte er weiterhin an die Möglichkeiten eines anderen Deutschlands, eines Deutschlands, das sich auf einer Verbindung von Demokratie und Sozialismus sollte gründen können. Als er sich weigerte, einen Leitartikel mit antisowjetischer Spitze zu schreiben, musste er auf Veranlassung Habes Ende 1945 in die USA zurückkehren. Dort entschied er sich, den Dienst in der Armee zu quittieren und erneut als freier Autor seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So konnte er 1948 seinen großen Roman The Crusaders abschließen und veröffentlichen, der sich rasch durchsetzte, begeistert gefeiert wurde im In- und Ausland, 332

Stefan Heym, Wege und Umwege. Streitbare Schriften aus fünf Jahrzehnten, 1998, S. 164.

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doch in Amerika auch kritische Reaktionen hervorrief: Hatte Heym doch Erlebnisse und Erfahrungen, Denkweisen und Verhalten der amerikanischen Truppen vom D-Day in der Normandie bis zur Besetzung Deutschlands, verschmolzen mit seinen eigenen Beobachtungen, zum Gegenstand seines Buches gemacht und dabei keineswegs ein reines Heldenlied auf die Befreier Deutschlands von der Hitler-Diktatur gesungen. Unter den Titeln Kreuzfahrer von heute sowie, gleichfalls 1950, Der bittere Lorbeer machte das Werk auch in Ost- und West-Deutschland Karriere. 1948 ereignete sich in der Tschechoslowakei der kommunistische Umsturz, für den Heym Sympathie entwickelte, denn es handelte sich immerhin um den ersten industriell entwickelten Staat, in dem eine sozialistische Revolution zu gelingen schien - eine Illusion, wie sich später spätestens 1968 - herausstellte. Vor Ort, in Prag und Umgebung recherchierte Heym die Verhältnisse, kontaktierte und befragte Arbeiter, Angestellte und Vertreter der Partei und schloss 1951 seinen Roman „The Eyes of Reason“ ab, in dem er zum ersten Mal die komplizierte und widersprüchliche Rolle des Intellektuellen und Schriftstellers in Umbruchsituationen und unter `real-sozialistischen´ Bedingungen reflektiert. Der Roman - 1955 unter dem Titel „Die Augen der Vernunft“ in Leipzig erschienen - rief in Amerika empörte Ablehnung hervor und wurde seines Inhalts und seiner Tendenz wegen förmlich zerrissen: Der Kalte Krieg bestimmte zunehmend die Politik weltweit und wirkte sich innenpolitisch in den USA in dramatischer Weise aus. Das nächste Werk, der Roman „Goldsborough“, der in Pennsylvania spielt und von der damals aktuellen großen Streikbewegung der Bergarbeiter und den Konflikten in und mit den Gewerkschaften handelt, konnte bereits nicht mehr in den USA veröffentlicht werden: Die in Frage kommenden Verlage waren bereits unter politischen Druck geraten, die Untersuchungskommission unter Führung des Senators McCarthy verfolgte jede antiamerikanische Äußerung, jeden Hauch sozialistischer oder gar kommunistischer Ideen und blies zur Hatz vornehmlich auf linke oder auch nur kritische Intel-

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lektuelle, Autoren, Filmschaffende, Künstler und Politiker. So hatte die Kommission auch ein Auge auf Heym geworfen, der vor die Kommission zitiert werden sollte und dem eine Gefängnisstrafe drohte. Daher zog Heym es vor - wie Charlie Chaplin, Bertolt Brecht, Thomas Mann und viele andere -, seine zweite Heimat zu verlassen und zunächst ins geliebte Prag zu ziehen - in dem berechtigten Bewusstsein, dass er als amerikanischer Staatsbürger dem Zugriff des McCarthy-Apparates auch im westlichen Europa ausgesetzt wäre, vor allem in Westdeutschland.333 Da eine dauernde Aufenthaltsberechtigung in Prag jedoch nicht zu erreichen war, siedelte Heym nach einer Reihe von Verwicklungen 1952 in die DDR über. Warum um Gottes willen in die DDR? wurde er oft gefragt und seine Antwort lautete: „Abgesehen von den biographischen, historischen, politischen Gründen, die alle mit hineinspielten in diese Entscheidung: Ost-Berlin war damals als Stadt sehr anregend. Als ich dort ankam, war die Creme der deutschen Literatur versammelt: Arnold Zweig, Anna Seghers und Brecht. Und wenn Heinrich Mann nicht bereits 1950 gestorben wäre, wäre er von Kalifornien auch dahin gegangen. Das war keine schlechte Umgebung für einen Schriftsteller.“334 Anfangs wurde Heym in der DDR als heimgekehrter, antifaschistischer Emigrant privilegiert, konnte als freier Schriftsteller arbeiten, in Zeitschriften publizieren und eine Zeitlang „Ein offenes Wort“, eine Kolumne in der Berliner Zeitung, riskieren. In diesen ersten Jahren seines DDR-Aufenthalts unterstützte Stefan Heym, der allerdings - nota bene nie Parteimitglied wurde, durchaus Anliegen sozialistischer Politik und deren kapitalismuskritische Ausrichtung. So konnte er etwa 1953 in deutscher Übersetzung „Goldsborough“ herausbringen sowie im gleichen Jahr „Die Kannibalen und andere Erzählungen“. Heyms Desillu-

333

Dazu Nachruf, S. 470 - 491. Stefan Heym: Im Gespräch mit Dirk Sager, S. 90. Vgl. die Schilderungen im Nachruf S. 534ff., besonders die Erklärung, dass S. H. „zu einer Zeit in der DDR eintraf, als dort in manchen Zirkeln noch Reste jener Aufbruchstimmung vorhanden waren, die bald darauf total verlorenging.“ (S. 547). 334

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sionierung begann allerdings bereits in diesem Jahr durch die Proteste des 17. Juni 1953. Nach dem Aufstand kamen Heym die Gedanken: Wie kann das sein: Eine Arbeiterregierung gegen die Arbeiter, die streikten und demonstrierten und die eigentlich diese Regierung doch wohl lieben und verehren müsste? Was ist da los?... Ich fuhr nach Hause und sagte mir: schon wieder ein Romanstoff, den dir der liebe Gott in die Hand gegeben hat. Das ist so seine Gewohnheit… 335 Zu Konflikten mit der Staatsführung der DDR kam es ab 1956, als trotz Entstalinisierung die Veröffentlichung des Buches „Der Tag X“ abgelehnt wurde, zumal Heym auf dem ostdeutschen Schriftstellerkongress den Genossen Walter Ulbricht öffentlich korrigierte und ihm falsche Beurteilung nachwies.336 Die Spannungen verschärften sich ab 1965, nachdem Erich Honecker während des 11. Plenums der SED Heym heftig angegriffen hatte; im gleichen Jahr wurde Heym mit einem Veröffentlichungsverbot in der DDR belegt, Schriftstellerverband und Kulturbund warfen ihm vor, gegen die DDR und den Sozialismus zu arbeiten, Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit zur Observierung abgestellt. Zu einer Geldstrafe wurde Heym 1969 verurteilt, weil sein Buch über Lassalle in der Bundesrepublik Deutschland ohne Genehmigung erschienen war. Allerdings konnte Heym durchaus die DDR zu Auslandsreisen verlassen. Und ab Anfang der 1970er Jahre durften einige seiner Bücher auch in der DDR veröffentlicht werden. Hintergrund dieser Entwicklung war eine Rede Honeckers, der - nachdem er 1971 an die Macht gekommen war - vor dem Zentralkomitee Lockerungen in der Kulturpolitik ankündigte. Diese Ansprache wurde unter dem Stichwort „Keine Tabus“ bekannt und Heym hat diese so genannte `Tauwetterperiode´ - die im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik Willy 335

Stefan Heym: Im Gespräch mit Dirk Sager, S. 90f. Es handelt sich um den Roman „Der Tag X“, der später, 1974, teilweise umgearbeitet unter dem Titel „Fünf Tage im Juni“ in Westdeutschland erscheint. Vgl. dazu vor allem im Nachruf den Abschnitt S. 563 - 596, in dem Heym über die Entstehung des Romans und seine Forschungsreise ins Herz der deutschen Arbeiterklasse Auskunft gibt. 336 Vgl. Nachruf, S. 596 - 600.

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Brandts zu sehen ist - nutzen und seine bis dahin in der DDR verbotenen Bücher Lassalle, Die Schmähschrift und Der König David Bericht herausbringen können, die bereits im Westen vorlagen. 1976 wurde Wolf Biermann während seiner Tournee in Westdeutschland ausgebürgert. Mit einer Reihe bekannter DDR-Autoren und Kulturschaffender protestierte Heym energisch gegen diese Willkürmaßnahme, die auch das Tauwetter in eine neue Eiszeit verwandelte. Stefan Heyms Werke konnten danach nur noch im Westen publiziert werden; 1979 wurde er ein zweites Mal wegen unerlaubter Veröffentlichung eines Buches im Westen verurteilt: Der Roman Collin nimmt nunmehr kein Blatt vor den Mund und ist eine mit bösem Witz ausgestattete Attacke auf die ihre sozialistischen Ideale verratende Gründungsphase der DDR, auf die Gedankenfreiheit plattrollenden Walzen der Parteiräson, die sich um ihre Opfer nicht schert oder sie auf brutale Weise `fürsorglich belagert´ und behandelt. Heym beschreibt eine eigentümliche Situation, die einer Posse gleichkommt: Er soll `zugeführt´ werden: Zuführen heißt das also, denkt S. H., und heißt das nun bei allen so, die sie hoppnehmen, oder benutzen sie nur bei ihm ihr gehobenes DDRAmtsdeutsch?... „Außerdem“, sagt Staatsanwalt Tenner, „habe ich hier einen Haftbefehl“, und nachdem er die Wirkung der Mitteilung gebührend ausgekostet, „nein, für Sie, für Ihr Sparbuch. Sie besitzen doch eines?“… S. H. hat ein Gefühl, als blickte ihm der Versicherungsangestellte Franz Kafka aus Prag über die Schulter, während er liest: Beschluss Im Strafverfahren gegen Heym, Stefan, geb. am 10. 4. 1913 wegen Devisenvergehens, wird der vom Staatsanwalt am 19. 4. 1979 über das Konto 6752 - 69 650268 bei der Sparkasse der Stadt Berlin

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Vollzogene Arrestbefehl zur Sicherung zu erwartender Ansprüche gemäß § 121 stopp richterlich bestätigt. 1026 Berlin, dem 20. 4. 1979 Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte - Dr. Oehmke - Direktor Sogar die Nummer des Sparbüchels stimmt, stellt S. H. fest…derartige Details bedürfen der Vorsorge, wahrscheinlich hat es darum so lange gedauert, bis die Genossen zuschlugen gegen den Collin; aber das arme Büchel, in Haft genommen an seiner Statt, ein Geiselfall à la DDR: und jedesmal, wenn S. H. zum Verhör muss, wird er sich besorgt nach dem Befinden des einsamen Gefangenen erkundigen.337 Heym wird mit einer Geldstrafe von 9000 Mark belegt und vermerkt, dass sie dazu beiträgt, die Auflage des Collin im Westen zu erhöhen, dass der Vorgang aber auch die Gesetzgebung beeinflusst: Denn binnen kurzem wird ein neues, ein schärferes Gesetz verkündet,..§ 219 Strafgesetzbuch, die so genannte Lex Heym, welche für dasselbe Vergehen, wegen dessen man ihn so milde abgeurteilt, zwei bis fünf Jahre Zuchthaus vorsieht, und fünf- bis sechsstellige Geldstrafen.338 Einige gegen das Urteil protestierende Schriftstellerkollegen werden im gleichen Jahr mit Heym aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. In Statements und Interviews verurteilt Heym die Zensur in der DDR und verlangt Freiheit für Literatur und Kunst auch und gerade unter sozialistischen Bedingungen. In der Zeit bis 1989 entstanden weitere Werke, die in der Bundesrepublik herauskamen: Eine Reihe von Märchen für Kinder und Erwachsene, die Essaysammlungen Wege und Umwege, Nachdenken über Deutschland und Reden an den Feind, der Roman Schwarzenberg, 1984, über den kurzen Augenblick des Aufbaus einer selbständigen sozialistischen 337 338

Nachruf, S. 824f. Ebd., S. 834.

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Republik im thüringischen Bezirk Schwarzenberg, als sich die Sowjets und die Amerikaner 1945 darum stritten, welcher Siegermacht das kleine Gebiet an der tschechoslowakischen Grenze zuzuschlagen wäre sowie der großartige, tieflotende und spannende Ahasver, 1981, der den Mythos vom Ewigen Juden aufgreift und auf mehreren Ebenen die Konflikte zwischen Revolution und Ordnung behandelt: Zwischen Luzifer Leuchtentrager -, dem abgefallenen Engel, und Gott und Christus, zwischen dem ersten protestantischen Generalsuperintendenten in Schleswig-Holstein, Paul von Eitzen, und dessen Pakt mit dem Teufel und zwischen Professor Leuchtentrager aus Tel Aviv und einem Wissenschaftler und Philosophen der DDR. Anders als Luzifer, der die Welt und die Menschen für völlig verdorben hält, lebt Ahasver in der großen Hoffnung, sie - anders wiederum als auf dem Wege Jesu - in revolutionärer Weise umzugestalten - hin auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. In den 80er Jahren unterstützte Heym die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, trat mit Lesungen hervor und hielt mehrere Reden im Herbst 1989 während der Demonstrationen in Ostberlin, so auch während der entscheidenden Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November. Nach dem Mauerfall unterzeichnete er den Aufruf „Für unser Land“, der sich für die Eigenständigkeit der DDR aussprach. Bereits im November wurde Heym wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen und im folgenden Jahr juristisch rehabilitiert. Nach der Wiedervereinigung, die Heym bereits 1981 für möglich und geradezu „naturgegeben“ hielt, äußerte er sich dezidiert über die sich anbahnende Benachteiligung der neuen Bundesländer, die fast restlos in das System des Westens aufgesaugt wurden und beharrte auf einer sozialistischen Alternative. Als Parteiloser auf der offenen Liste der PDS kandidierte Heym nach monatelangem Zögern für den Bundestag und gewann das Direktmandat in Berlin-Mitte gegen den SPD-Kandidaten und späteren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. Als Alterspräsident hielt er die Eröffnungsrede zum 13. Deutschen Bundestag 1994, bei

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der die gesamte CDU/CSU-Bundestagsfraktion bis auf Rita Süssmuth demonstrativ den Schlussapplaus verweigerte339 - ein bislang einmaliger, ungezogener und skandalöser Vorgang angesichts der Vita und des literarischen und publizistischen Werks von Stefan Heym. Bundeskanzler Helmut Kohl warf Heym gar vor, in seinem Leben immer die Fahne nach dem Wind gedreht zu haben 340 - die Offenbarung einer Geisteshaltung, die verlogener und überheblicher kaum sein konnte. Und entgegen den Gepflogenheiten ist die Rede Heyms nicht im Bulletin der Bundesregierung veröffentlicht worden. Aus Protest gegen eine geplante Verfassungsänderung im Zusammenhang mit der Erhöhung der Diäten für Bundestagsabgeordnete legte Stefan Heym 1995 sein Mandat nieder. Nach 1990 widmete er sich in Erzählungen und Aufsätzen dem Thema der deutschen Wiedervereinigung: Auf Sand gebaut und Filz. Gedanken über das neueste Deutschland. 1995 erscheint der umfängliche Roman Radek, in dem Heym das Leben des vergessenen Politikers und Journalisten Karl Bernhardowitsch Radek, eines polnischen Juden, leidenschaftlichen Revolutionärs und Weggenossen Lenins nachzeichnet, der wegen Opposition gegen Stalins Staatsapparat 1937 Opfer der Moskauer Schauprozesse wurde. Schließlich folgte drei Jahre später der historische Roman Pargfrider: Die Geschichte des Aufsteigers Joseph Pargfrider, der als Lieferant für Monturen der k. u. k. Armee zum `Napoleon des Zwillichs´ zwar als Jude Außenseiter bleibt, sich für Geld aber Freunde kaufen kann und dem es gelingt, auf seinem privaten `Heldenberg´ selbst den Nationalhelden Radetzky bestatten zu lassen. Während der Teilnahme an einem Heinrich-Heine-Symposion in Israel versagte Heyms Herz seinen Dienst, er starb am 16. September 2001 am Ufer des Toten Meers. Symbolisch gesehen schließt sich hier ein Kreis, denn wie erwähnt behandelte Heym in seiner Magisterarbeit Heines satirisches Versepos Atta Troll. So darf man Stefan Heym durchaus sowohl 339 Die Rede kann nachgelesen werden unter www.glasnost.de/db/DokZeit/9411heym. html. 340 GERMAN NEWS Deutsche Ausgabe, 6. 9. 1994.

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in seinen Romanen und Erzählungen, seinen Kolumnen und Aufrufen, seinen essayistischen Einmischungen und Eingriffen als auch in seinen geistvoll-witzigen und satirischen, ironischen und humorvollen Zügen als einen Schriftsteller in der Tradition Heines, wenn nicht gar als einen Heine der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hochschätzen. Wie bei Heine: Langeweile kommt nicht auf.

III Zur Entstehung des Romans In einer der einsamen und schwermütigen Nächte, die dem Tod seiner Frau Gertrude 1969 folgten, greift Stefan Heym zur Bibel und - so schreibt er im Nachruf über sich selbst „er öffnet den Band, wo der Finger zufällig greift, I. Samuel, Kapitel 16, die Szene, darin der Prophet zu Jesse kommt, dem Bethlehemiter und den jüngsten unter dessen Söhnen, den man erst von der Schafherde holen muss, salbt, denn dieser ist es, welchen der Herr an Sauls Statt auserwählt hat zum künftigen König von Israel. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, wessen Hand hier im Spiel war; S. H. hätte ja ebenso gut das Buch Esther aufschlagen können oder Hiob, und der Rest seines Lebens wäre anders verlaufen; so aber liest er sich fest an der Geschichte des Kleinen, der dann an den Hof des Königs kommt als Sänger, und den Goliath erschlägt, und den Jonathan liebt und gleicherweise die Frauen, und durch allerhand Winkelzüge und Schurkereien König wird in Israel mit Hilfe des Herrn, und denkt, doch das ist schon nicht mehr Schicksal, sondern der Ablauf im Hirn eines Schriftstellers: welch ein Roman! Und dann wieder frage ich mich, wie das Hirn dieses S. H. konstruiert sein muss, dass er, das Herz voll Trauer und Schwermut, gleichzeitig sein literarisches Gewerbe betreiben kann. Und ich gestehe, ich fühlte mich wohler heute, moralisch, hätte S. H. sich müde gelesen in jener Nacht an I. und II. Samuel und wäre eingeschlafen in dem Bewusstsein, dass vielleicht doch ein Gott

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lebt irgendwo, der die Gerechten in seinen Schoß nimmt; oder war das Nachdenken des S. H. über die Story des König David, und wie man sie erzählen könnte, und was in Wahrheit dahinter stecken möchte, einfach seine Art, sich bei Sinn und Verstand zu halten? Natürlich existierte eine Unmenge Geschriebenes über seinen Helden; die Goliath-Geschichte allein, archetypisch wie sie ist, hatte zahlreiche Dichter verlockt, namhafte wie namenlose;… Doch keinem von diesen, auch den anderen nicht, deren David-Dichtungen er durchblätterte, schien aufgefallen zu sein, was jedem auch nur halbwegs aufmerksamen Bibel-Leser ins Auge springen musste: die Widersprüche im Text, die doppelten Versionen, notdürftig zusammengepappt von ein und derselben Geschichte des Todes des Saul etwa, oder der ersten Begegnung von Saul mit David. Was wiederum nur ein Beweis war für die beinahe hypnotische erzählerische Kraft des einzigen Konkurrenten, den er wirklich zu fürchten hatte, sollte er es unternehmen, das Thema David zu behandeln: des Autors, oder der Autoren, des biblischen Textes. Dafür aber hatte das Projekt einen großen Vorteil: es gab, wie ihm der Dr. Beltz alsbald versicherte, keine wie immer gearteten Sekundärquellen, die sich heranziehen ließen zur Erforschung der Geschichte des Königs David,… es gab nichts außer der Bibel, und Recherchen, wie er sie bei den meisten seiner früheren Bücher hat unternehmen müssen, entfielen. Aber just die Bibel hatte es in sich. Wie die darin so packend und verführerisch einfach erzählte David-Story neu erzählen, wenn schon nicht besser, was unmöglich, dann doch anders, transparenter vielleicht, und unsere Erkenntnisse über die Macht und ihre Verführungen verwebend mit dem Stoff, aus dem die Schicksale des David und seiner Kampfgenossen, Weiber, Söhne, Heerführer und Propheten geschneidert waren?“341 Und Heym, geschult durch seine satirische Erzählung Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe, denkt an einen Erzähler und Redakteur, der den Bericht über König David zusammenstellen soll, und findet ihn im 341

Nachruf, S. 760 f.

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4. Kapitel des I. Buches der Könige, wo es heißt: „Und Gott gab Salomo sehr große Weisheit und Verstand und einen Geist, so weit, wie Sand am Ufer des Meeres liegt… Und er war weiser als alle Menschen, auch weiser als Ethan, der Esrachiter…“ (Vers 9f). Ethan also - der auch als Verfasser des 89. Psalms in der Bibel auftritt -, dem allerdings zur Bewältigung seiner Aufgabe eine Kommission, eine Art Aufsichtsrat übergeordnet wird. Ebenso sind ihm das Verfahren der Kommission und das ihres Beauftragten, des Ethan, bereits deutlich: die Durchsicht von Archiven, die Anhörung von Zeugen, die Analyse der Texte aller möglichen Volkssänger und Geschichtenerzähler, und derlei mehr, ein buntes Feld, das die bunteste Folge von Formen, Perspektiven, Erzählweisen bieten wird.342 Durch die Begegnung mit einem der führenden Dramatiker der DDR, Peter Hacks, lernte Heym den Religionswissenschaftler Dr. Walter Beltz kennen, damals Dozent an der Universität Halle.343 Beltz, dem Heym ausdrücklich im Proskript des Romans seinen Dank abstattet, berät ihn und verweist auch darauf, dass die Geschichte König Davids und Salomos nach Erkenntnissen der alttestamentlichen Forschung keinesfalls zur Zeit Salomos, sondern von einer Art Kommission oder `Autorenkollektiv´, Jahrhunderte später, nach der Rückkehr des Volkes Israels aus dem Babylonischen Exil344 aus unterschiedlichen Quellen, Traditionen und Schichten zusammengestellt worden sei und übergibt ihm die Bibelausgabe von Professor Kautzsch, in der sorgfältig notiert ist, aus 342

Ebd. S.762. Mit „ihm“ ist selbstverständlich S. H. gemeint. Beltz war in Halle später Professor und trat mit den Werken „Gott und die Götter. Biblische Mythologie“, „Sehnsucht nach dem Paradies“ und „Das Tor der Götter“ hervor; er starb 2006. 344 Die Akten über den Zeitpunkt der Endredaktion des biblischen Saul-David-SalomoKomplexes scheinen noch nicht geschlossen zu sein, verschiedene Schichten der Redaktion erschweren die Angelegenheit. Vielfach wird die Zeit der Regentschaft des Königs Josias von Juda 640 - 609 v. Chr. in den Blick genommen, aber auch die Phase der Babylonischen Gefangenschaft 597/586 - 538 v. Chr.; in Frage steht schließlich auch die Zeit nach der Rückkehr, also nach 538 v. Chr. 343

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welchen Überlieferungen die Abschnitte und Verse stammen, ob vom Jahwisten oder Elohisten oder anderen Bearbeitern oder von der Redaktion. Womit der König-David-Bericht eigentlich fertig dastünde; nur muss er noch geschrieben werden… Einschließlich mehrerer Revisionen der englischen Urfassung wie der deutschen Übersetzung dauert die Arbeit, mehrmals unterbrochen durch Krankheit oder Reisen, bis in den Frühling 1972, drei Jahre insgesamt.345

IV Der König David Bericht Auf die Rezeptionsgeschichte des Romans soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, nur so viel: Marcel Reich-Ranicki hat - wie andere auch - den Roman zum Teil missverstanden, damit simplifiziert und ähnlichen Verkürzungen Vorschub geleistet, wenn er ihn lediglich unter der Überschrift `König David und Stalin´ als Kritik an der Herrschaft eben dieses `modernen´ Diktators und Menschfressers begreift. Und auch die theologischen Einwände gegen Heyms interpretatorische und nachvollziehbare Kühnheiten helfen nicht weiter.346 Adäquater sind Beurteilungen, die den Bericht als das komplexeste und zugleich tiefschürfendste Werk Heyms bezeichnen,347 dem in anderer Hinsicht nur noch der Ahasver an die Seite zu stellen wäre. Treffend allerdings bleibt, was Heinrich Böll unter der Überschrift „Der Lorbeer ist immer noch 345

Ebd. S. 764. Vgl. etwa Walter Dietrich: Von einem, der zuviel wusste. Versuch über Stefan Heyms „König David Bericht“, in: W. Dietrich/H. Herkommer (Hg.), König David Biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Freiburg/Schweiz 2003, S. 100 112. 347 Vgl. etwa Christiane Bohnert: Stefan Heym: Der König David Bericht. Die Ohnmacht der Macht vor der Geschichte, in: P.G.Klussmann/H.Mohr (Hg.), Dialektik des Anfangs: Spiele des Lachens, Literaturpolitik in Bibliotheken, (Jahrbuch zur Literatur der DDR 5, 1986); und Peter Rusterholz: Stefan Heym - Der König David Bericht, in: s. Anm. 27, S. 809 – 830. 346

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bitter“ in die Worte kleidete: „Man möchte aus diesem Buch pausenlos zitieren. Stefan Heym ist durch die Nähte geschlüpft, die der offizielle David-Text hat; mit Phantasie, Witz und Frechheit“348, man möchte hinzufügen: und mit überlegener und virtuoser Stringenz. Man kann und darf im König David Bericht vier Ebenen unterscheiden, die allerdings nicht voneinander streng zu scheiden sind, sondern geradezu ineinander greifen. Das zentrale Thema des Romans kreist um die Problematik des Schriftstellers und Redaktors zwischen Wahrheit und Erkenntnis auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem offiziellen Auftrag, unter dem Diktat der herrschenden Verhältnisse die Geschichte König Davids zu verfassen, um die Herrschaft Salomos vor dem Urteil der Nachwelt zu legitimieren; nimmt also das Verhältnis zwischen der Wahrheit des Wortes und der Ohnmacht solchen Wortes angesichts der `real-existierenden´ Macht aufs Korn. Und in diesem Zusammenhang spielt die Beziehung zwischen Macht und Religion, Herrschaft und ihrer religiös bestimmten Legitimierung eine entscheidende Rolle. Die vier Ebenen seien vorab benannt, bevor sie mit Textbeispielen näher erläutert werden. Zunächst geht es um eine mit verschiedenen Stilmitteln aufbereitete Nacherzählung der verwickelten Geschichte Davids. In diese Nacherzählung hinein wird als zweite Schicht `Exegese getrieben´, mit hermeneutischer Logik und Fantasie eine Forschungsarbeit unternommen, durch die sich ein Subtext ergibt, der den offiziellen und bekannten biblischen Text unterläuft und seine nicht selten banale und blutige Wirklichkeit enthüllt - Ideologie-, Religions- und Herrschaftskritik in einem. Damit ist zugleich das Stichwort für die dritte Ebene benannt: Durch die Brille der biblischen Davidsgeschichte hindurch wird der Blick auf im Allgemeinen wirkende Macht- und Herrschaftsstrukturen und deren Verschleierung gelenkt und lässt daher den Roman auch verstehen als kaum verhüllte Entlarvung gegenwärtiger zynischer Zustände, wobei 348

Heinrich Böll in: Der SPIEGEL 39/1972, S. 158f.

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sowohl stalinistische als auch DDR-Mechanismen transparent gemacht werden. Gerade der Rückgriff auf die biblische Geschichte - „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“349 - gab und gibt dem Roman seine stets aktuelle Brisanz. Schließlich speist sich der König David Bericht aus der Lebensgeschichte, aus Erfahrungen und Erkenntnissen Stefan Heyms, die nicht nur, aber vor allen anderen in der Person des Ethan und dessen Leben, Lieben und Arbeiten widergespiegelt und aufgehoben sind. IV. 1 Der biblische David – Bericht als Grundlage des Romans Der biblische David - Bericht sei kurz mit Stichworten in Erinnerung gerufen. Er umfasst ab Kapitel 16 des 1. Buches Samuel das gesamte 2. Buch Samuel und die ersten Kapitel des 1. Buches der Könige - also immerhin rund 100 randvolle Seiten - und bildet daher die längste zusammenhängende Erzählung der Hebräischen Bibel.350 Beschrieben wird Gottes Auftrag an den Propheten Samuel, den jungen David, einen Schafhirten, „bräunlich, mit schönen Augen und von angenehmer Gestalt“ zum künftigen König zu salben: „Und der HERR sprach: Auf, salbe ihn, denn er ist´s“ (1. Sam. 16, 12); denn König Saul soll seines Herrscheramtes verlustig gehen. David kommt an Sauls Hof und vertreibt mit seinem Harfenspiel den düsteren und bösen Geist, von dem Saul immer wieder heimgesucht wird, besiegt außerdem den Goliath und die Philister, schließt innigste Freundschaft mit Sauls Sohn Jonathan, erregt Sauls Eifersucht, gewinnt mit einem Übersoll von zweihundert Vorhäuten der von ihm erschlagenen Philister Sauls Tochter Michal zur Frau, wird von Jonathan und danach von Michal vor den Anschlägen Sauls gerettet, flieht zum Philisterkönig Achis nach Gath und wird An349

Mit diesen Worten eröffnet Thomas Mann seinen Roman Joseph und seine Brüder. Hinzu kommt noch der David gewidmete Bericht in 1. Chronik, Kapitel 11 bis 29, der allerdings lediglich bestimmte Elemente der David-Geschichte aufgreift und vorrangig die Helden und Kämpfer Davids sowie die von David bestimmten Verordnungen und Ämter des künftigen Tempeldienstes auflistet - von Heym auch nicht weiter herangezogen.

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führer einer Bande von vierhundert Männern, die „in Not und Schulden verbitterten Herzens waren“ (1. Sam. 22,2) - bis, wie David ruft: „ich erfahre, was Gott mit mir tun wird“ (1. Sam. 22, 3); Saul nimmt Rache an den Priestern von Nob, die David geholfen haben, und lässt sie erschlagen, David treibt sich in der Wüste Juda herum, wird mehrfach von Sauls Scharen verfolgt, verschont zweimal großmütig `seinen´ König Saul, der in Davids `Hände gegeben war´ und der sich reumütig zeigt, aber nur kurz; er verlangt vom reichen Nabal Abgaben für dessen Schutz durch seine Leute, eine frühe Form des `Schutzgeldes´, das ihm von Nabals Frau Abigail, ohne dessen Wissen heimlich übergeben wird, Nabal stirbt, `vom Herrn geschlagen´, David nimmt Abigail zu sich - Michal wurde bereits einem anderen anvertraut - und schließt sich auch noch den Feinden seines Volkes, den Philistern an, verschont aber auf seinen Streif- und Beutezügen die eigenen Stammesgenossen; Saul begibt sich zur Totenbeschwörung zur Hexe von Endor und rüstet zur Schlacht gegen die Philister, die aus verständlichem Misstrauen Davids Kampftruppe an der Schlacht allerdings nicht teilnehmen lassen wollen und fortschicken. Die Schlacht geht verloren und Saul, Jonathan und andere Söhne Sauls fallen, David stimmt ein Klagelied an über Saul und Jonathan und wird als König über Juda in Hebron ausgerufen, während ein weiterer Sohn Sauls, Isch-Boscheth über die anderen Stämme Israels zum König erklärt wird; ein Bruderkrieg entspinnt sich, ein „langer Kampf zwischen dem Hause Sauls und dem Hause Davids“ (2. Sam. 3, 1). Abner, der Feldherr Sauls, wechselt zu David, zwei Männer töten Isch-Boscheth und David gewinnt die Herrschaft über ganz Israel, erobert durch seinen Feldherrn Joab Jerusalem, siegt über die Philister, holt die Bundeslade nach Jerusalem, und das Wort der Verheißung des dauernden Königtums des Hauses David ergeht vom HErrn durch den Propheten Nathan an David mit dem Hinweis, dass der Tempel des Herrn erst in Friedenszeiten von Davids Nachfolger erbaut werden kann und soll; David führt weiter Kriege und Kämpfe und siegt und siegt und baut das Großreich Israel auf und auf dem Höhepunkt seiner Macht an-

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gelangt, erblickt er Bathseba, die Frau des Uria, schläft mit ihr, sie wird schwanger, David lässt Uria aus dem Schlachtgetümmel nach Jerusalem kommen, damit er, Uria, `in Bathseba eingehe´, sodass das Kind als Urias Kind gelten müsse, aber Uria verweigert den Beischlaf, weil er es sich nicht wohl ergehen lassen will, während die Kameraden im Felde stehen, und wird daher von David zurückgeschickt, versehen mit einem Brief an Joab mit der Aufforderung, Uria an die vorderste Linie zu stellen, damit er von den Feinden getötet werde, was auch geschieht - durch David, den ersten Schreibtischtäter - , Bathseba vermehrt die Zahl der Frauen Davids, gebiert ihm einen Sohn, der wegen Davids Schuld am Tode Urias stirbt, David trauert herzzerreißend und siehe, nach weiteren Söhnen erblickt schließlich Salomo das Licht der Welt. In der Riesensippe Davids - acht Frauen werden namentlich gezählt nebst unbekannt gebliebenen und einer großen Anzahl von Töchtern und Söhnen.351 Einer von denen, Amnon, vergewaltigt seine Halbschwester Thamar, deren Bruder Absalom, Lieblingssohn Davids, seine Schwester rächt, indem er Amnon töten lässt, anschließend flieht, durch Fürsprache Joabs allerdings Gnade bei David findet, daraufhin jedoch sich beim Volk einzuschmeicheln sucht und einen Aufstand provoziert, der dazu führt, dass nun David mit Getreuen über den Jordan fliehen muss - es folgen Intrigen, Verrat und Kampf, Absalom verliert, verfängt sich auf der Flucht mit seiner Löwenmähne im Geäst eines Baumes und wird von Joab erledigt, David weint und trauert zum Steinerweichen, kehrt nach Jerusalem zurück, schlägt einen weiteren Aufstand nieder, das Haus Sauls wird endgültig ausgelöscht, die Gebeine Sauls und seiner Nachkommen beim Grab ihrer Väter bestattet, David lässt eine Volkszählung durchführen, trotz strengsten Gottesverbots, was dazu führt, dass David zwischen drei Strafgerichten zu wählen hat - er wählt drei Tage das `Schwert des HErrn und Pest im Lande´, er wird alt, vergeblich durch die blutvolle junge Abisag von Sunem erwärmt, dichtet Psalmen, Bußund Danklieder, spricht letzte Worte, setzt auf drängende Bitten Bathse351

Vgl. dazu die interessante Notiz in 1. Chronik 14, 3f.

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bas statt seines in der Erbfolge nächsten Sohnes Adonia seinen Jüngsten, Salomo, zum König ein und stirbt. Eine erstaunliche und dramatisch bewegte Geschichte, in der immer wieder die Erwählung Davids durch Gott, den Herrn, betont wird, von der David sich bis an den Rand erfüllt wähnt. Die Bibel verschweigt dabei keineswegs, welche Schuld und welche Verbrechen David auf sich lädt, ein mächtiger Mann mit Fehl und Tadel, ein homo imperfectus, der trotz allem Gnade findet vor den Augen Gottes und in der jüdischen Tradition als Schöpfer des Großreichs Israel gilt, als Glanz des Volkes, an den später messianische Hoffnungen auf Wiedererrichtung der nationalen Identität und Souveränität des Heiligen Landes geknüpft werden, die sich etwa widerspiegeln auch im Neuen Testament, wenn es beim Einzug des Rabbi Jeshua - Jesus - in Jerusalem heißt: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ (Matthäus 21, 9), deutlicher noch bei Markus 11, 9f.: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt!“ und die sich in verschiedenen Facetten bei ultraorthodoxen, orthodoxen, aber auch liberalen oder zionistisch orientierten Juden hochgehalten werden. Kein Wunder, dass Stefan Heym nicht nur wie viele andere - auch im 20. Jahrhundert - sich vornimmt, die Geschichte Davids einfach und paraphrasierend nach zu erzählen, sondern, in marxistischer Geschichtshermeneutik geschult, er unternimmt, im Nachberichten unter die Decke des biblischen Textes zu lugen und der Sache auf den Kern zu kommen.

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IV. 2 Herrschaftskritische Untersuchung der biblischen David – Erzählung Gepriesen sei der Name des Herrn, unsres Gottes, der dem einen Weisheit verleiht, dem andern Reichtum, dem dritten aber soldatische Tugenden. Ich, Ethan, der Sohn des Hoshaja, aus der Stadt Esrah, ward heute zu König Salomo bestellt. Die königlichen Schreiber Elihoreph und Ahija, die Söhne Shishas, führten mich in seine Gegenwart; und ich fand allda den Kanzler Josaphat ben Ahilud, den Priester Zadok, den Propheten Nathan und Benaja ben Jehojada, der über das Heer gebietet. Und ich warf mich dem König zu Füßen, und er befahl mir, mich zu erheben…Und der König musterte mich mit stechendem Blick und sprach: „Du also bist Ethan ben Hoshaja, aus der Stadt Ersrah?“ „Der bin ich, Herr König. Und Euer Diener.“ „Ich höre, es heißt von Dan an bis gen Beer-Sheba, du seiest einer der Weisesten in Israel?“ Ich aber erwiderte ihm: „Wer kann von sich sagen, er sei weiser als der Weiseste der Könige, Salomo?“ Worauf er die feingeschnittenen Lippen verdrossen schürzte und sprach: „Ich will dir den Traum erzählen, Ethan, den ich neulich nachts träumte, nachdem ich Opfer dargebracht und Weihrauch verbrannt auf der Höhe zu Gibeon.“ Und sich dem Kanzler Josaphat ben Ahilud zuwendend und den Schreibern Elihoreph und Ahija, den Söhnen Shishas: „Merkt euch den Traum, denn er wird in die Annalen aufgenommen.“… Dies aber ist der Traum des Königs Salomo. „Zu Gibeon des Nachts erschien mir Gott, und Jahweh sprach: Bitte, was ich dir geben soll. Und ich sprach: Du hast an meinem Vater David, deinem Knecht, große Barmherzigkeit getan, wie er denn vor dir gewandelt hat in Wahrheit und Gerechtigkeit und ehrlichen Herzens; und hast ihm deine Gnade erhalten und einen Sohn gegeben, der auf seinem Thron säße, wie es denn jetzt ist… Und nun Herr, mein Gott, sprach ich zu Jahweh, hast du

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mich, deinen Knecht, zum König gemacht an meines Vaters Statt; und ich fühle mich wie ein kleiner Knabe, weiß nicht weder meinen Ausgang noch Eingang. Und dein Knecht soll über das von dir erwählte Volk gebieten, ein Volk so groß, dass niemand es zählen noch beschreiben kann… Darum, Herr, mein Gott, sprach ich zu Jahweh, wollest deinem Knecht geben ein verstehend Herz, dass er dein Volk richten möge, und unterscheiden, was gut und böse ist. Denn wer vermag dies dein mächtig Volk zu richten? Und Gott sprach zu mir: Weil du solches bittest, und bittest nicht um langes Leben, noch um Reichtum, noch um deiner Feinde Vernichtung, siehe, so habe ich dir ein weises und verständiges Herz gegeben, so dass deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht erstehen wird.“ Der König erhob sich, warf einen prüfenden Blick auf seine Minister und stellte fest, dass ihre Mienen Ernst und Ergebenheit ausdrückten. Befriedigt schloss er: „Und ich werde dir auch das geben, sagte Jahweh noch, worum du nicht gebeten hast, nämlich Reichtum und Ehre, dass deinesgleichen keiner ist unter den Königen zu deinen Zeiten. Und so wirst du in meinen Wegen wandeln, wie dein Vater David gewandelt hat, und meine Gesetze und Gebote einhältst, so will ich dir ein langes Leben gewähren.“ Da klatschten der Priester Zadok und der Prophet Nathan verzückt in die Hände, während die Schreiber Elihoreph und Ahija, die Söhne Shishas, voller Bewunderung die Augen verdrehten. Und der Kanzler Josaphat ben Ahilud rief aus, noch nie im Leben sei ihm ein markanterer Traum begegnet, ein Traum, der besser geeignet sei, dem Volke Herz und Hirn zu rühren. Benaja ben Jehojada jedoch verharrte in Schweigen, und seine mächtigen Kinnbacken mahlten, so als wiederkäute er einen Klumpen Bitteres. König Salomo stieg vom Thron herab, trat auf mich zu, legte mir seine kurze, fette Hand auf die Schulter und fragte: „Nu?“ Ich erwiderte, der königliche Traum sei in einer Art ein wirkliches Juwel, von außerordentlicher Schönheit, reich an poetischen Formulierun-

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gen und Gedanken, und ein Beweis für das tiefe persönliche Gefühl, welches der König unserm Herrn Jahweh und Jahwehs unergründlichen Zwecken und Absichten gegenüber hege. „So spricht der Dichter“, erwiderte der König. „Aber was sagt der Historiker? Ich höre von meinen Amtleuten in Esrah, dass du an einer Geschichte des Volkes Israel arbeitest.“ „Ein Traum, o Weisester der Könige“, ich verbeugte mich tief, „kann ebenso zur historischen Kraft werden wie eine Sintflut oder ein Heer oder ein Fluch Gottes - besonders ein Traum, der so glänzend erzählt und dokumentiert ist wie der Eure.“ Der König, unsicher geworden, blickte wieder auf mich; darauf verzog er den Mund zu einem breiten Lächeln und sagte: „Ich habe Messerschlucker und Feuerfresser gesehen, aber noch nie einen Mann, der so geschickt auf der Schneide des Schwertes tanzte. Was ist deine Meinung, Benaja ben Jehojada?“ „Worte“, knurrte Benaja. „Was habe ich schon alles für Worte gehört in den Tagen Eures Vaters, König David, gescheite und fromme, bittende, drohende, prahlende, schmeichelnde - und die sie sprachen, wo sind sie heute?“ König Salomos Gesicht verdüsterte sich. Vielleicht gedachte er des Schicksals seines Bruders Amnon, oder seines Bruders Absalom, oder des Hauptmanns Uria, des ersten Gatten seiner Mutter, oder verschiedener anderer Persönlichkeiten, bei deren Ableben Benaja ben Jehojada mitgewirkt hatte. Josaphat ben Ahilud jedoch, der Kanzler, warf ein, dass ich gerade wegen meiner bekannten Fähigkeit im Gebrauch der Worte vor des Königs erhabenes Antlitz zitiert worden sei; und der Prophet Nathan gab Benaja zu bedenken, dass die einen wohl durchs Schwert lebten, die andern aber durch das Wort, wie denn unser Herr Jahweh in seiner grenzenlosen Weisheit mehr als eine Art Tiere schuf, Fische wie auch Gefleuch, die Tiere der Wildnis und das zahme Schaf, über sie alle aber den Löwen setzte, welcher gleichmaßen stark und weise ist. Womit er eine Verbeu-

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gung vor König Salomo verband, während der Priester Zadok ergänzte, dass unbeschadet dessen die Schlange es gewesen sei, die dem Menschen den Pfad zur Hölle wies; weshalb man sich hüten möge vor der glatten Zunge und dem süßklingenden Wort. Ich entnahm all dem, dass unter den mächtigen Herren in der Umgebung König Salomos gewisse Differenzen bestanden, und dass es für einen Außenstehenden ratsam sei, sich in diesem Kreis mit äußerster Vorsicht zu bewegen.352 Dieser unwesentlich gekürzte Beginn des Romans deutet bereits wie eine Ouvertüre die grundlegenden Melodien des Folgenden an: Zum einen zitiert Heym immer wieder Passagen des biblischen Textes, meist wörtlich aus der Luther-Übersetzung353, zu Anfang gleich das Traumgespräch zwischen Gott und Salomo aus 1. Könige 3, 5 - 14: Träume spielen in der Hebräischen Bibel eine außerordentliche und geschichtsbildende Rolle, man denke nur an Jakobs Traum von der Himmelsleiter oder an die Träume des jungen Joseph und seine späteren Deutungen der Traumgesichte des Pharao in Ägypten. Ethan hat schon Recht, wenn er darauf hinweist, dass Träume „zur historischen Kraft“ werden können. Zugleich aber unterläuft Heym Salomos Traum durch ironische Brechungen, allein schon durch ein Wörtlein wie „Nu?“, wie auch durch die Reaktionen der Hofgesellschaft: War es wirklich und wahrhaftig ein Gespräch mit Gott selbst, das Salomo führte oder ein Traumgebilde, das bestimmten Zwecken zu dienen erfunden wurde? Zugleich stellt Heym die künftigen Mitglieder der Kommission vor und liefert eine erste Charakteristik der Personen, wobei schon an dieser Stelle die entscheidende Rolle des brutalen Tatmenschen und Herrn über Krethi und Plethi, der Leibgarde des Königs, und des Heerführers Benaja vorausgeahnt werden kann. Und schließlich bestimmt Heym die ambivalente Rolle des Geschichtsschreibers Ethan zwischen Dichtung 352

Der König David Bericht, 1972, S. 7ff. Für die englische Fassung benutzt Heym die Authorized Version der King James Bibelübersetzung von 1611.

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und Wahrheit, Auftrag und Anspruch: „Ratsam sei, sich in diesem Kreis mit äußerster Vorsicht zu bewegen.“ Lesen wir noch ein wenig weiter: Und König Salomo begab sich zurück zu seinem Thron und ließ sich nieder zwischen den Cherubim. Ihre Nasen streichelnd, redete er zu mir wie folgt: „Es wird dir wohl bekannt sein, Ethan ben Hoshaja, dass mein Vater, König David, höchstpersönlich mich, seinen geliebten Sohn, zum Thronnachfolger bestimmt hat und veranlasste, dass ich das königliche Maultier bestieg und nach Gihon ritt, um dort zum König gesalbt zu werden, und dass er auf seinem Sterbebett sich vor mir beugte und zu unserm Herrn Jahweh betete, Gott möge meinen Thron noch größer machen denn seinen eignen.“ Ich versicherte dem König, diese Tatsachen seien mir bekannt und ich sei überzeugt, unser Herr Jahweh habe das letzte Gebet König Davids erhört und werde entsprechend verfahren. „Du wirst also erkennen, Ethan“, fuhr der König fort, „dass ich dreifach erwählt worden bin. Erstens erwählte Herr Jahweh das Volk Israel vor allen anderen Völkern; sodann erwählte er meinen Vater, König David, zum Herrscher über das solcherart erwählte Volk; und schließlich erwählte mein Vater mich, um an seiner Statt zu herrschen.“ Ich versicherte König Salomo, seine Logik sei unangreifbar, und Herr Jahweh ebenso wie König David hätten keine bessere Wahl treffen können. „Zweifellos“, antwortete der König mit einem seiner Blicke, die alles mögliche bedeuten konnten. „Doch wirst du mir zustimmen, Ethan ben Hoshaja, dass Erwählung Nummer drei nur Gültigkeit haben wird, wenn Nummer zwei unumstößlich erwiesen ist.“ „Ein Mann, der von einer Schafhürde in Bethlehem aufstieg zum Herrscher in Jerusholayim“, bemerkte Benaja ben Jehojada grimmig, „der seine sämtlichen Feinde schlug und ihre Städte unterwarf, der nicht nur den König von Moab und die Könige der Philister, sondern auch die höchst widerspenstigen Stämme Israels seinem Willen beugte: ein sol-

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cher Mann braucht weder Priester noch Prophet, noch Schreiber, um zu beweisen, dass Gott ihn erwählt hat.“ „Aber dieser Mann ist tot!“ Der aufwallende Ärger verfärbte das königliche Antlitz. „Und vielerlei Geschichten über ihn sind im Umlauf in Israel, nutzlose, und sogar schädliche. Und so wie ich unserm Herrn Jahweh einen Tempel baue, damit das Beten und Opfern auf jedem Hügel hinter jedem Dorf aufhört und die Beziehungen zwischen Mensch und Gott unter ein einheitliches Dach komme, so auch benötigen wir einen autoritativen, alle Abweichungen ausschließenden Bericht über das Leben, die großen Werke und heroischen Taten meines Vaters, König David, welcher mich erwählt hat, auf seinem Thron zu sitzen.“ Sogar Benaja ben Jehojada erschrak ein wenig angesichts des königlichen Temperamentsausbruchs, obwohl er doch eine Schlüsselfigur gewesen war bei der Erwählung Salomos zum Nachfolger seines Vaters. Der König aber gebot dem Kanzler, Josaphat ben Ahilud, zu sprechen. Josaphat ben Ahilud trat vor, zog ein Tontäfelchen aus der Ärmelfalte und verlas: „Mitglieder der königlichen Kommission zur Ausarbeitung des Einen und Einzigen Wahren und Autoritativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Berichts über den Erstaunlichen Aufstieg, das Gottesfürchtige Leben, sowie die Heroischen Taten und Wunderbaren Leistungen des David ben Jesse, Königs von Juda während Sieben und beider Juda und Israel während Dreiunddreißig Jahren, des Erwählten GOttes und Vaters König Salomo“. Es folgt die Aufzählung der bereits erwähnten Mitglieder sowie der vorgesehene Arbeitstitel `König David Bericht´ nebst der Anweisung, dass der Bericht zusammen zu stellen sei durch sorgfältige Auswahl aus und durch zweckentsprechende Benutzung von allem vorhandenen Material über den Erstaunlichen Aufstieg und so fort des verstorbenen Königs David, als da sind königliche Akten, Korrespondenz und Annalen, wie auch verfügbare mündliche Zeugnisse, ferner Legenden und Überlieferungen, Lieder, Psalmen, Sprüche und Prophezeiungen, insbesondere solche bezüglich der großen

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Liebe und Bevorzugung, die König David seinem geliebten Sohn und Nachfolger erwiesen; und soll besagten Bericht für unsere und alle kommenden Zeiten Eine Wahrheit aufstellen und dadurch Allem Widerspruch und Streit ein Ende setzen, Allen Unglauben an die Erwählung Davids ben Jesse durch unsern Herrn Jahweh beseitigen, sowie Allen Zweifel an den Glorreichen Verheißungen ausmerzen, welche unser Herr Jahweh betreffs Davids Samen und Nachkommenschaft gemacht. Josaphat ben Ahilud, der Kanzler, verbeugte sich. König Salomo sah befriedigt aus. Er winkte mich heran und sagte: „Natürlich werde ich dir helfen, Ethan ben Hoshaja, solltest du straucheln oder im Ungewissen sein, wo Irrtum liegt und wo die Wahrheit. Wann kannst du anfangen?“ 354 Der Auftrag also ist eindeutig und trotz aller Einwände kann Ethan sich diesem Befehl nicht entziehen, wobei Heym implizit Bezug nimmt auf die Berufung des Mose durch die Stimme Gottes im brennenden Dornbusch und seine Vorbehalte. So macht sich Ethan notgedrungen an die Arbeit, und verfährt wie ein gewissenhafter Geschichtsforscher, der sich kein X für ein U vormachen lässt, mit geradezu detektivischem Spürsinn, interviewt etwa Michal, die erste Frau Davids, besucht Davids ehemaligen Militärchef Joab im Gefängnis, bevor dieser durch Benaja ermordet wird, forscht in ungeordneten Archiven nach Aufzeichnungen und verwickelt die Mitglieder seines Aufsichtsrates in diffizile Debatten. Gleich bei der ersten offiziellen Sitzung - hinreissend und mit viel Witz von Heym dargeboten - wird erörtert, wie denn nun Saul und David sich kennen lernten, denn es gibt zwei Überlieferungen: Die eine besagt, dass David zuerst vor Saul Harfe spielte, um den bösen Geist zu verscheuchen, von dem Saul des Öfteren heimgesucht wurde, die andere schildert die erste Begegnung bei Gelegenheit des Kampfes Davids gegen Goliath - Benaja behauptet, dieser Kampf hätte gar nicht statt gefunden, es gäbe darüber keinerlei Unterlagen, doch drei Barden tragen die Ge354

Der König David Bericht, S. 10f.

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schichte nacheinander, aber wortgleich vor, was den anderen Mitgliedern der Kommission Beweis genug ist für die Wahrheit der Begebenheit. Wie aber passen die sich einander ausschließenden Erzählungen zusammen? Schließlich fragte Ahija ben Shisha…mit unsicherer Stimme: „Und wenn wir den Fall setzen, dass David zuerst an den Hof kommt, um vor Saul zu singen, und dann erst auszieht, den Goliath zu töten? Würde uns das helfen?“ „Kaum“, entgegnete ich. „Wenn David bereits bei Hofe ist und vor König Saul singt, um den bösen Geist zu bannen, wie schaffen wir ihn dann nach Bethlehem zurück, wo er doch hin muss, um das Brot und die Leckereien für seine im Heer dienenden drei Brüder abzuholen, und die zehn Käse für ihren Hauptmann? Und würde König Saul, da er den tapferen Herausforderer des Goliath zu sich bestellt, nicht bemerkt haben, dass dieser identisch ist mit dem jungen Mann, der so hübsch singt und die Laute spielt?... Und nach der Schlacht, da David mit dem Kopf Goliaths noch einmal zu Saul kommt und dem König auf dessen Frage hin seinen Vatersnamen nennt, merkt der König dann endlich etwas? Keineswegs. Vielmehr lädt er David munter ein, bei Hofe zu leben, wo der frischgebackene Held als des Königs Zaubersänger längst Logis und freie Mahlzeiten genießt. Nun litt der König Saul zwar an einem bösen Geist vom Herrn, aber nirgendwo steht geschrieben, dass er schwachsinnig war.“355 Müsse man nun eine Geschichte fortlassen? Aber welche? Doch man dürfe keine unterschlagen, erklärt der Kanzler, denn einerseits lebten noch Menschen, die den musizierenden David an Sauls Hofe noch kannten und andererseits sei die Legende von Kampf und Sieg Davids wichtig, denn eine Legende, „an die das Volk glaubt, gilt ebensoviel wie die Wahrheit.“356 Die letzte Entscheidung aber fällt weder der Kanzler

355 356

Ebd. S. 52f. Ebd. S. 53.

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noch der Priester noch der Prophet, sondern - Heym weiß, wie der Hase läuft - niemand anderer als Militärführer: Aber Benaja ben Jehojada runzelte die Braue, und erhob sich und sprach: „Gott tue mir dies und das, wenn ich mir von den gelehrten Tüfteleien dieses Mannes Ethan eine völlig klare Sache noch weiter verwickeln lasse. Wir müssen die beiden Geschichten in unsern Bericht aufnehmen! Also nehmen wir sie auf. Wir müssen David vom Hofe Sauls nach Bethlehem zurückschaffen? Also schaffen wir ihn zurück. Wir schreiben - lasst mich nachdenken - wir schreiben: Aber David ging wiederum von Saul, dass er die Schafe seines Vaters hütete zu Bethlehem. Und wenn da welche sind, denen die Worte ungenügend erscheinen, und die Haare spalten und das Werk einer von dem Weisesten der Könige, Salomo, ernannten Kommission anzweifeln wollen: mit diesen werden wir entsprechend verfahren.“ Und so steht es geschrieben im König-David-Bericht, und beide Geschichten sind darin enthalten.357 Schon die Darstellung des salomonischen Traumes sowie der amtlichbarocke Titel des geplanten König David Berichts lassen erkennen, dass und wie Heym in der Folge den biblisch fixierten Text unterlaufen wird: Indem er dessen ideologische, gar theo-logische Begründung und Überhöhung in Frage stellt und demaskiert auf ihren realen Kern zurück zu führen unternimmt. Um es am Beispiel der `Verwandlung´ objektivierender Rede in eine subjektiv in Anspruch genommene zu erläutern: Heißt es im bekannten biblischen Bericht „Und das Wort des HErrn erging an Samuel“ oder „Und der HErr erschien Salomo zu Gibeon im Traum“ oder ähnlich, so spricht bei Heym bezeichnenderweise Salomo 357

Ebd., S. 53f. Die biblische Forschung geht davon aus, dass dieser Einschub von der späteren Redaktion durch Priester und Schriftgelehrte stammt, um die beiden Überlieferungen notdürftig zu verbinden: Beide Erzählungen sind entscheidend, bilden sie doch die Grundlage für die zwei Hauptcharakteristika der Persönlichkeit Davids: den charmanten und liebenden Sänger, den klagenden, bittenden, fragenden, jubelnden Psalmendichter zum einen und den Kämpfer und Sieger, Streiter und Mörder zum anderen.

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„Zu Gibeon bei Nacht erschien mir Gott, und Jahweh sprach“ oder „Der HErr sprach zu mir“ - eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt kaum überprüft werden kann und den Schluss zulässt, dass Salomos hoheitsvolle Traumrede vor allem seinem Interesse an der Machterhaltung, also der Legitimierung seiner Herrschaft zu dienen hat - was Ethan bereits zu riechen beginnt. Der Verweis auf die höhere Macht, nein, die Inanspruchnahme des Höchsten wird als Mittel zum Zweck königlicher Pracht und Potenz, Willensäußerung und Willkür veranstaltet und damit verunstaltet.358 Hatte jedoch nicht Gott selbst durch den Mund Samuels gewarnt, was dem Volk Israel blühen würde, als es von Samuel damals forderte: „So setze nun einen König über uns, der uns richte, wie ihn alle Heiden haben“ (1. Sam. 8, 5) und damit Gott eben nicht Gott sein lassen wollte? Ein König - Saul wurde als erster erkoren - , so musste Samuel prophezeien, wird des Volkes Söhne nehmen zu Kriegszwecken und die Töchter zu seinen Diensten, und die Äcker und Weinberge enteignen und Steuern eintreiben und das Volk wird schreien und seufzen unter den Lasten.359 Ein Bezug auf diese Warnzeichen findet sich bei Heym, wenn er Salomo auf die Einwände Ethans, dem königlichen Auftrag nicht entsprechen zu können, entgegnen lässt, dass er, Salomo, ihm, Ethan, all 358

Das `Paradebeispiel´ eines solchen Traumes ist die von Heym erfundene `Traumansprache´ Davids, mit der dieser seine Mannen zum Sturm auf Jerusalem ermuntert und die von wem? - von Benaja erinnert und berichtet wird. Im Ausschnitt: Also, ihr Söhne Israels sowie Judas, hört den Erwählten des HErrn. Unsere Priester… schwören mir, noch nie sei ein Tag günstiger gewesen, die Stadt der Jebusiter, Jerusholayim, zu erstürmen und sie den Heiden abzunehmen. Außerdem habe ich einen Traum geträumt, in welchem Jahweh, der HErr der Heerscharen, mir erschien und sprach…Aber in dem Traum, den zu erwähnen ich schon Gelegenheit hatte, sprach Jahweh des weiteren zu mir, und er sagte: David, du bist König von allen Kindern Israels; darum soll deine Stadt… deine eigne, Davids Stadt sein, und in der Mitte gelegen; und ich, der HErr, dein GOtt, werde persönlich kommen und in Jerusholayim wohnen. Woraus ihr seht, meine Löwenherzigen, dass Jahweh… große Pläne für die Rolle Jerusholayims in der Geschichte hat; uns obliegt nur, die Stadt einzunehmen. (S. 143ff). Die Ansprache wird mehrmals durch Hurrageschrei unterbrochen. 359 Vgl. 1. Samuel 8, 11 - 18.

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das entreißen könne, was ihm lieb und wert sei360 - später wird Salomo sogar die geliebte Kebse Ethans zu und an sich nehmen. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Zusammenhang vor dem voreiligen Schluss ebenfalls zu warnen, Heym wäre ein ausgemachter Atheist, dem nur daran gelegen sei, die biblische Überlieferung zu destabilisieren und den Glauben an Gott zu eliminieren. Sein `kategorischer Imperativ´ ist und bleibt die Kritik an der Gewaltherrschaft und deren fatale Berufung auf eine höhere legitimierende Macht. Davon ist durchaus nicht ausgenommen der brutale und doch so schlaue Militär Benaja, dem zwar die Legitimierung der Macht von höchsten Gnaden gleichgültig sein kann, weil er über die Mittel zur Durchsetzung der Herrschaft verfügt, der aber dennoch sich des Sprachgebrauchs „GOtt tue mir dies und das“ bedient, weil er seine Machtposition nicht höchsten, aber hohen Gnaden, eben Salomos, verdankt, der nun wiederum immer wieder den Höchsten beschwört. Und man wird auch `in Rechnung´ stellen müssen, dass David nicht nur als Ungeheuer gezeichnet wird: Michal, Davids erste Frau, in einem Interview mit Ethan, berichtete auf die Frage Ethans „Wie siehst du David eigentlich?“: Er hat so viele Gesichter. Ich gebe zu, das macht es schwer, ihn zu ergründen. Mein Bruder Jonathan und ich haben häufig darüber gesprochen… Aber wie ist´s mit dem Königreich, fragte ich; wirst du denn nicht König sein, mein Bruder Jonathan?... Und Jonathan sagte zu mir: Um zu herrschen, darfst du nur ein Ziel sehen - die Macht. Darfst du nur einen Menschen lieben - dich selbst. Sogar dein Gott muss ausschließlich dein Gott sein, der ein jedes deiner Verbrechen rechtfertigt und es mit seinem heiligen Namen deckt… Beachte, Ethan: all das wusste Jonathan, und doch liebte er David.361

360 361

Der König David Bericht, S. 12. Ebd., S. 72.

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IV. 3 Der König David Bericht als allgemeine und zeitgenössische Herrschaftskritik Nun erzählt Heym die Geschichte Davids nicht allein deshalb nach, weil er sie im Nacherzählen zugleich `entmythologisieren´ will - das tut der biblische Bericht in mancher Hinsicht bereits selbst - , sondern weil sie ihm vor allem dazu dienen soll und kann, auf ihrem Untergrund die Mechanismen von Gewaltverhältnissen im Allgemeinen durchsichtig zu machen und der Kritik auszusetzen: David - und Salomo - gelten daher als Paradigmata diktatorischer Herrscher. Der Rückgriff auf den biblischen Bericht legt offen, wie Diktaturen funktionieren und wie sie sich durch ihre Hofberichterstattung propagandistisch abzusichern suchen. Der Rückgriff auf die Bibel verleiht dem Roman die überzeitliche Tiefendimension. Zugleich aber erhält der König David Bericht dadurch seine Aktualität und Brisanz, denn der einer nicht korrumpierten sozialistischen Idee verpflichtete DDR-Autor Stefan Heym beleuchtet und seziert die gesellschaftliche Realität, in der er lebt und schreibt. Indem Heym seine Herrschaftskritik in ein historisches Gewand kleidet, enthüllt er, ohne die gegenwärtigen Verhältnisse explizit ansprechen zu müssen, deren wahren Charakter: Das Gewand ist durchsichtig und die nackte Gewalt offenbart sich - nicht zufällig wird man sich an das Märchen `Des Kaisers neue Kleider´ von Hans Christian Andersen erinnern dürfen. Als Ethan wieder einmal vor den König Salomo und die Kommission geführt wird, ergreift Salomo selbst das Wort: „Ferner denkst du“, fuhr er fort, „warum mischt sich der König Salomo in alle Angelegenheiten wie ein Narr, der die Nase in jeden Topf steckt? Ich aber sage dir, ein Führer, der seinen Kopf auf dem Hals zu behalten wünscht, darf sich nicht nur mit Krieg und Frieden befassen und mit der Befolgung der Worte des Herrn, sondern muss sich auch darum kümmern, welche Blume auf welche Wand geschnitzt und welche Geschichte

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auf welche Art erzählt werden soll. Denn die Macht ist unteilbar: ein Stein, der herausbröckelt aus ihrem Gefüge, mag das Ganze zum Einsturz bringen.“362 Und Ethans Einsicht wächst: „denn fühlen die Mächtigen sich bedroht, so schlagen sie die Gerechten“.363 Es gibt etwa eine heimlich-unheimliche Liste Davids: Penuel aus dem königlichen Schatz berichtet Ethan: „Heute unterschreibt einer, morgen vielleicht ist er schon nicht mehr da, die Unterschrift wertlos. Wisse man denn, welche Namen noch auf der Liste stünden, die König David auf seinem Sterbebett seinem Sohn Salomo übergab?“364 Später enthüllt sich, dass Benaja dem König Vollzug melden kann, denn er hat die Konkurrenten Salomos, die Anspruch auf den Thron hätten erheben können, aus dem Weg geräumt und auch Joab, den verdienstvollen Feldhauptmann Davids und Erstürmer Jerusalems, eigenhändig und zwar vor dem geheiligten Altar des HErrn ermordet. Benaja - der mächtige und willige Vollstrecker seines Herrn - wer kann leugnen, dass Heym gerade mit dieser Figur die Willkürherrschaft unter Stalin aufs Korn nimmt. Benaja ist es auch, der Ethan zwingt, als Zeugen dem Verhör Joabs - vor dessen Ermordung - beizuwohnen. Und Ethans vorsichtiger Einwand, wer denn bei einem solchen Angeklagten noch Zeugen brauche, beantwortet Benaja - und Heym nimmt darin Bezug auf die berüchtigten Schauprozesse in der Sowjetunion: Geständnisse haben wir in der letzten Zeit überreichlich. Wir erheben Anklage gegen jemand wegen Denkens unerlaubter Gedanken: schon 362

Ebd. S. 182. Ebd. S. 181. 364 Ebd. S. 25. Vgl. auch den fingierten Bericht über David auf seinem Sterbebett in Erwartung seines Sohnes Salomo: Und David „musste ausharren, bis der Kleine zurückkam aus Gihon: da war noch die Liste, die er ihm geben wollte, damit bereinigt werde, was er zu bereinigen nicht die Kraft gehabt hatte. Wie viele hatten schon gesucht nach dieser Liste, in seinen Gemächern und in der Kammer der geheimen Aufzeichnungen. Narren, wird er gedacht haben, der sterbende König. Es gab keine Liste, die einer finden könnte. Er hatte die Namen im Kopf. Alle.“ ( S. 28f.). 363

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gesteht der Mann. Wir klagen ihn an der Abweichung, Gruppenbildung, Unterwanderung, Verschwörung, Empörung: wieder gesteht er. Das Volk Israel zweifelt nicht einmal mehr an all den Geständnissen; es zuckt einfach die Achseln. Wo geraten wir da hin mit dem Gesetz des HErrn und unserm ganzen Gerichtswesen? Das ist der Grund, weshalb der König hier einen Zeugen braucht, dessen Name noch nicht zum Gespött wurde in den Toren der Städte, einen Zeugen, der im Ruf zugleich der Gelehrsamkeit und der Ehrbarkeit steht. 365 Die Allgegenwart der Observierung im Ostblock, vor allem in der Ausgabe der Stasi in der DDR, durch das Ministerium `Guck und Horch´, wie der Volksmund es nannte, gerät ins Visier, wenn es heißt, dass David Ohren hatte in jeder Stadt und in jedem Ort seines Herrschaftsbereiches oder „und König Salomo hat Benaja geheißen, tausend Ohren zu haben; und die Stimme Israels ist leise geworden wie ein Lüftchen im Kornfeld“366, deutlicher noch: „die Diener des Benaja ben Jehojada aber schlichen umher in der Menge und lauschten, und plötzlich mochte es geschehen, dass ein Mann unter den Achselhöhlen gepackt und abgeführt wurde.“367 Trotz aller bissigen und entlarvenden Kritik Heyms an den totalitären Strukturen des `real-existierenden Sozialismus´ darf nicht übersehen werden, dass er durchaus auch zugleich Vorgänge im Westen attackierte, man denke nur an die vergiftete Spitzelatmosphäre der McCarthy-Ära in den USA, die er selbst erlebt hatte.

IV. 4 Autobiographische Züge und Bezüge In die Gestalt des Ethan, der charakterisiert wird als ein weiser und kluger Mann und Diplomat des Wortes, als Schriftsteller und Redakteur, 365

Ebd. S. 230. Ebd., S. 30. 367 Ebd. S. 188. 366

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zugleich Historiker, also der Wahrheit verpflichtet, lässt Heym eigene Erfahrungen und Persönlichkeitszüge einfließen und schreibt selbst im `Nachruf´: Man hat S. H. gefragt, ob er sich selber habe darstellen wollen in dem Ethan aus Esrah. Sicher sind manche Eigenschaft, manche Erfahrung von ihm eingeflossen in die Gestalt des Sekretärs der Königlichen Kommission, aber gleichermaßen in die anderen, in Schurken wie Edle; woher, wenn nicht aus der eignen Brust, nimmt denn der Dichter den Hauch, der seine Figuren zum Leben erweckt?368 Das Wort „gleichermaßen“ jedoch wäre zu relativieren, denn hatte Heym nicht wie `sein´ Ethan, wenn auch selbst gewählt, sich als Schriftsteller, Forscher, kritischer Chronist gesellschaftlicher Entwicklungen und Entgleisungen verstanden, der auch die unbequemen Tatsachen und Wahrheiten hinter den ideologischen Vorhängen aufzudecken sich bemühte, in all seinen zeitgeschichtlichen Romanen, Erzählungen und Essays, und schreibt er nicht dem Ethan seine eigenen Einsichten und Erlebnisse, Erfahrungen und Widerfahrnisse, Illusionen und Zweifel, Widersprüche und Wehen auf den Leib?: Es obliegt mir nicht, zu werten. Ich sammle, ich ordne, ich teile ein, ein bescheidener Diener im Hause des Wissens; ich deute und versuche, die Gestalt der Dinge darzustellen und ihren Lauf zu verzeichnen. Doch das Wort hat sein eignes Leben: es lässt sich nicht greifen, halten, zügeln, es ist doppeldeutig, es verbirgt und enthüllt, beides; und hinter jeder Zeile lauert Gefahr.369 War Heym nicht zitiert worden vor Parteikommissionen, musste er sich nicht rechtfertigen vor den maßgeblichen Genossen? Stand sein Wort nicht manchmal in Gefahr, für ihn selbst zur Gefahr zu werden? Zweimal sagt drohend Benaja, der Mächtige im Staat, Herr über Kämpfer und Lauscher, zu Ethan: „Wenn du so viel weißt, Ethan, wie ich glaube, dass

368 369

Nachruf, S. 764. Der König David Bericht, S. 125.

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du weißt, dann glaube ich, du weißt zuviel.“370 Und gegen Ende seiner Nachforschungen resigniert Ethan: „Mir bleibt nur, mein Los abzuwarten. Benaja selbst hatte mir gegenüber geäußert, ich wisse zuviel: zuviel nämlich über die Wege der Mächtigen, welche diese zu verbergen trachten.“371 Dabei ist Ethan durchaus vorsichtig und absichernd in der Wahl seiner Worte - Heym formuliert wie gemeißelt -: „Diskretion sei Wahrheit gezügelt durch Weisheit“372, aber dennoch beharrlich im Erforschen der Hintergründe. Und irritiert, entsetzt und empört durch seinen Abschlussbericht und die Untersuchungsergebnisse zur Geschichte von Aufstieg und Herrschaft des Königs David kommt es auf der letzten Aufsichtsratsitzung zum Showdown: Ich sah auch die Männer, vor denen ich stand, und die waren ohne Gnade. „Nun?“ fragte Benaja. „Wie die Sonne durch die Wolken bricht“, sagte ich achselzuckend, „so wird die Wahrheit durch alle Worte hindurchscheinen.“ „Das dürfte genügen“, sagte Josaphat. „Seine Einstellung“, sagte Nathan, „ist alles andere als erbaulich.“ Der Priester Zadok richtete seinen Blick himmelwärts und sprach: „Und wir werden hier monatelang sitzen müssen wie die Läusesucher, um diesen Wust nach wühlerischen Bemerkungen und anderen Ruchlosigkeiten zu durchstöbern.“ Und Benaja sagte lächelnd: „Wissen ist ein Segen des HErrn, wer aber zuviel weiß, ist wie eine schwärende Krankheit und wie ein Gestank vom Munde. Darum gestattet mir, dass ich diesen Ethan erschlage, damit sein Wissen mit ihm ins Grab sinkt.“373

370

Ebd., S. 114 und 190. Ebd., S. 240. 372 Ebd., S. 90. 373 Ebd., S. 255. 371

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Ethan aber wirft sich zu Füßen Salomos und verliest seinen Psalm Zum Preise des HErrn und zum Lobe Davids 374, dem Salomo höflich Beifall zollt. Sodann ergeht das salomonische Urteil: In Erwägung, dass ein jedes Wort, welches dem König und der gesetzlichen Obrigkeit missfällt, den Tatbestand des Hochverrats erfüllt,… Und in Erwägung, dass der Angeklagte der in der Anklageschrift angeführten Missetaten für schuldig befunden wurde, Darum nun verurteile ich, Salomo, der Weiseste der Könige, kraft der durch den Bund mit dem HErrn mir verliehenen Macht den genannten Ethan ben Hoshaja zum Tode. „Sehr gut“, sagte Benaja und zog sein Schwert. König Salomo aber hob die Hand und fuhr fort. SALOMONISCHES URTEIL (Fortsetzung) Da der leibliche Tod des Angeklagten Ethan ben Hoshaja dem König jedoch nicht angebracht erscheint, indem er nämlich übelmeinenden Menschen Anlass geben könnte zu der Behauptung, der Weiseste der Könige, Salomo, unterdrücke Gedanken, verfolge Schriftgelehrte, und so fort, Und da es aus dem genannten Grund gleich ungünstig erscheint, den Angeklagten Ethan ben Hoshaja in unsere Gruben oder Steinbrüche zu verschicken, oder ihn bei den Priestern von Beth-shan oder einer ähnlichen Einrichtung unterzubringen, Darum nun soll er zu Tode geschwiegen werden; keines seiner Worte soll das Ohr des Volkes erreichen, weder durch mündliche Übertragung, noch auf Tontäfelchen, noch auf Leder; auf dass sein Name vergessen sei, so als wäre er nie geboren worden und hätte nie eine Zeile geschrieben; Aber der Psalm, welchen er uns vorlas, Zum Preise des HErrn und zum Lobe Davids, und welcher im Geist und in der Art all jener verfasst ist, 374

Ebd.: Es handelt sich um den Ethan zugeschriebenen Psalm 89, den Heym an dieser Stelle aufnimmt.

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die wie die niedrigsten bediensteten schreiben, seicht und voller Plattheiten und bar jeder Gestaltungskraft, dieser Psalm soll seinen Namen tragen und bewahrt werden für alle Zeiten.375 Dieses durchaus nicht widerspruchsfreie Salomonische Urteil reflektiert die ebenfalls widersprüchliche Praxis der DDR-Kulturpolitik im Umgang mit den Werken kritischer Autoren: So durften etwa bestimmte Bücher Heyms erscheinen, wenn sie nicht wie `eine schwärende Krankheit´ ansteckende Kritik verbreiteten, während andere, die in der Zeit entstanden, als Heym in der DDR lebte, eine Zeitlang totgeschwiegen wurden. Hinzu kommt ein denkwürdiger Befund: Im König David Bericht werden die Mächtigen und deren Berater inklusive des selbstgefälligen Propheten Nathan und des Priesters als Personen geschildert, die sich zur Legitimierung ihrer Herrschaft auf Gott als der höchsten Instanz berufen, Gott also instrumentalisieren und ihren Interessen dienstbar machen. Einzig Ethan wahrt die Heiligkeit Gottes, indem er sich an ihn wendet, immer wieder, Hilfe suchend, flehend, bittend, anklagend. Ihm nimmt man es ab, wenn es etwa heißt zu Beginn des 12. Kapitels: „Gepriesen sei der Name des HErrn, unsres GOttes, der da segnet, die nach seiner Wahrheit suchen, und dem blinden Huhn bisweilen auch ein Körnchen weist“376, oder im Anschluss an die Beschreibung seines Selbstverständnisses als Redaktor: „HErr, unser GOtt, warum hast du mich auserwählt unter deinen Söhnen, dass ich den toten König auferwecken muss aus seinem Grabe! Je mehr ich erfahre über ihn, desto mehr verwächst er mit mir; wie eine Beule am Leib ist er mir, ein böses Geschwür; ich möchte ihn ausbrennen und kann es doch nicht“.377

375

Ebd., S. 257f. Ebd., S. 115. 377 Ebd., S. 125. Es ließen sich noch eine ganze Reihe von Belegen anführen. 376

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Wenn durch Ethan Heyms Selbstverständnis, seine Stellung als Mann des Wortes und seine Erfahrungen erkennbar hervortreten, dann wird man wohl auch nicht die Vermutung von der Hand weisen, dass in dieser Gestalt vor allem auch Heyms jüdisches Erbe zu Tage kommt. Gewiss hat Heym die von David, Salomo, Benaja und anderen vorgenommene Instrumentalisierung des Namens Gottes implizit in Beziehung gesetzt mit der Instrumentalisierung des in den Himmel geschraubten und geheiligten marxistisch-leninistischen Dogmas im Interesse der alleinherrschenden Partei und ihrer hohen Genossen. Und gewiss sah sich Heym der Idee eines demokratischen Sozialismus verpflichtet und opponierte gegen deren Korrumpierung. In seiner Kritik der herrschenden Verhältnisse aber wirkt die Kraft eines Unabgegoltenen: Wiewohl sich Heym selbst durchaus als Atheisten bezeichnen konnte, verstand er sich doch vor allem als Jude: „Andererseits, den König David Bericht und andere Bücher dieser Art können eben nur jüdische Schriftsteller geschrieben haben… aus der Geschichte einer ständig unterdrückten Minderheit.“378 Wer sich einen Ahasver oder einen König David Bericht vornimmt, wird unweigerlich mit Gott, dem Gott Israels konfrontiert, kommt an ihm nicht vorbei und fragt sich weniger, wie dieser Gott zu eliminieren sei, sondern vielmehr, wieso sich Gott instrumentalisieren lasse und welche Hybris die Mächtigen verleitet, den Namen Gottes zu missbrauchen. Es dürfte deshalb nicht auszuschließen sein, dass Heym, indem er Ethan Gott ansprechen und anrufen lässt, seine eigene atheistische Überzeugung wiederum durch die ihm eigene Selbstreflektion in Frage stellt und in des Wortes doppelter Bedeutung: Gott Gott sein lässt. Seltsamerweise wird kaum irgendwo erwähnt, dass Heym im König David Bericht seiner verstorbenen Frau Gertrude ein Denkmal setzt. Ethan wird zwar von ihm ausgestattet mit drei Frauen - mit der etwas älteren ersten Frau Esther, mit der für die Nachkommen, die zwei Söhne, und den Haushalt verantwortlichen Hulda und mit der jungen Kebse Lilith, 378

Koebl, Herlinde: Stefan Heym. In: Dies.: Jüdische Portraits, 1989, S. 115 - 117.

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die für die `Lenden, die Wonnen des Leibes zuständig´ ist. Aber Esther ist die wichtigste, die Lebenspartnerin, mit der Ethan alles bespricht. In der Nacht, nachdem das salomonische Urteil Ethan niedersauste, In jener Nacht betrat der Engel des Dunkels das Haus und breitete seine Schwingen, und der Schatten fiel auf Esther, meine geliebte Frau. Ich sah die Veränderung, welche der Engel über ihr Gesicht gebracht hatte, und ich schrie auf und fiel zu Boden neben ihrem Bett: ich wusste, was geschehen war, und verstand es doch nicht. Mein GOtt, mein GOtt, sprach ich zu dem HErrn, wie kann es sein, dass ihr Lächeln nicht mehr sein soll, und der Ton ihrer Stimme, und die Berührung ihrer Finger…Ohne sie werde ich sein wie ein Bach ohne Wasser, wie ein Knochen, dem das Mark entzogen ist…Bedenke, ich flehe dich an, dass du sie geschaffen hast, und jeden Gedanken, den sie dachte, jede Regung ihres Herzens; warum willst du all das wieder zu Staub machen. Du hast sie ausgestattet mit Haut und mit Fleisch, du gabst ihr das Licht in den Augen,das mir den Weg erleuchtete; warum willst du das Werk deiner Hände zerstören, o HErr, und dein Ebenbild? … Wenn ich Übles tat, wehe mir: doch warum ihr das Kleben nehmen, die gerecht war, und den Menschen ein Wohlgefallen; warum sie zu den Tiefen senden, woher keiner zurückkehrt? So rang ich mit dem HErrn; Jahweh aber hüllte sein Schweigen um sich, und das Gesicht Esthers, meiner Frau, war mir schon fremd.379 Einige Tage später besucht Ethan die Grabstätte Esthers, um dort zu beten, opfert ein Stück Lamm auf dem Altar - „Der Rauch kräuselte sich gen Himmel und ich erkannte, dass HErr Jahweh mein Opfer annahm und mir eine sichere Reise gewähren würde“380 - und verlässt mit seinen Söhnen und Hulda Jerusalem; Lilith hatte Ethan erzwungener Maßen

379 380

Der König David Bericht, S. 258f. Ebd., S. 260.

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bereits vor einiger Zeit an Salomo zu dessen Lust und Laune abtreten müssen. Als wir aber den Bach Kidron überquert und die Höhe am andern Ufer erklommen hatten, hielt ich an, um einen letzten Blick auf die Stadt Davids zu werfen. Und ich sah sie liegen auf ihren Hügeln, und ich wollte sie verfluchen; doch ich konnte es nicht, denn ein großer Glanz des HErrn lag über Jerusholayim im Lichte des Morgens.381

V Zum Ausklang Bei allem oft bitteren Ernst durchzieht den Roman, verbunden mit entmystifizierender Ironie, ein erfrischender Humor, der auch durch biblische Anspielungen aufscheint. Drei Beispiele seien noch angefügt. Im Interview Ethans mit Prinzessin Michal erzählt diese: Frage: Und was erwiderte David, Euer Gatte? Antwort: Er sagte: Ich habe letztlich einige recht interessante Verse geschrieben. Vielleicht möchtest du sie einmal hören. Ich selber singe kaum noch; ich habe einen Chormeister und Sänger mit verschiedenen Stimmen, hohen wie niedrigen, welche zum Psalter, oder zur Harfe, oder zur Laute singen; ich lasse gern ein paar zu dir kommen. So dankte ich ihm und sagte, sein Anerbieten sei höchst gnädig, und er sei mein Lieblingsdichter.382 Der Prophet Nathan liest Ethan aus dem Buch seiner Erinnerungen vor; darin einen Abschnitt, in dem David bezüglich der Schwangerschaft von Bath-sheba erklärt: „Ein Mann kann wohl den Umgang mit einer Frau verbergen, ein Kind aber lässt sich nicht verbergen; und so etwas wie eine unbefleckte Emp381

Ebd., S. 262. Ebd., S. 138. Viele der Psalmen sind David zugeschrieben und meist überschrieben: Von David.

382

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fängnis mag eines Tages vorkommen in unserer Familie, aber bisher hat es sich noch nicht ereignet.“383 Nach einer Sitzung der Kommission lädt Salomo auch Ethan zum Festmahl ein: Der König gebot mir, an seiner Seite zu sitzen, und er riss ein saftiges Stück ab von seiner Portion Fettschwanz und stopfte es mir gnädigst in den Mund. Ich kaute, und dankte ihm, und sagte, der Zorn des Königs sei wie das Brüllen eines jungen Löwen, seine Gnade aber wie der Tau auf dem Grase. „Das klingt mir wie ein gutes Sprichwort“, sagte Salomo erfreut. Und zu Elihoreph und Ahija, den Schreibern: „Schreibt es euch säuberlich auf, denn ich plane eine Sammlung bemerkensweiter Aussprüche als Zeugnis meiner außerordentlichen Weisheit.“ 384 Aus dem `Nachruf´ darf an dieser Stelle eine Begebenheit nicht fehlen, die Stefan Heym in Weimar erlebte in der Zeit, als der König David Bericht in der DDR noch nicht erscheinen durfte: Sogar bei der FDJ gibt es Umdenker, die den Boykott durchbrechen möchten; S. H. soll nach Weimar kommen, im Kasseturm lesen, dem dickgemauerten einstigen Schatzhaus der Herzöge, in dem nun ein Jugendclub sich befindet. Erfreuliches Bild, das sich ihm bietet am Abend, Trauben von jungen Menschen am Eingang; Herr H., wir bitten Sie, nehmen Sie uns mit hinein, wir stehen gerne auch während der Lesung. Er versucht es; aber irgendeiner mit dem Gehabe der Autorität zeigt stumm auf die Bänke in dem kleinen Rundraum: da sitzen bereits, aufgereiht wie die Hühner, lauter kleine Mädchen; nein, auch Stehplätze gibt es keine, Sie verstehen, Herr H., die Feuerwehr. Er beginnt mit dem DeFoe, der dürfte am leichtesten verständlich sein, leichter als David oder Lassalle. Aber noch nie hat er ein so totes Publi383 384

Ebd., S. 166. Ebd., S. 186.

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kum gehabt; die jungen Damen blicken gelangweilt, ebenso gut könnte er das Telephonverzeichnis vorlesen; er flüstert, donnert, gestikuliert, es müsste doch ankommen selbst in diesen Spatzenhirnen, er schwitzt, wird immer heiserer: ein Lacher nur, bitte, ein einziger Lacher, Kinder!...Nichts. Danach, als die Veranstaltung vorbei, erfährt er beim Wein: die Hosen der Oberen der Stadt hätten jählings geflattert, S. H. in Weimar, und vor jungen Leuten, und uns wird man dafür prügeln; aber die Sache zu verbieten hatten sie auch nicht den Mut, und so ließen sie den Mädchen sagen, die sich an der Kasse im Kasseturm anstellten um Billetts für das Tanzvergnügen am anderen Abend: wer tanzen will morgen, muss heut diese Lesung besuchen, hier ist eure Eintrittskarte, Jugendfreundinnen; denjenigen aber, die gekommen waren, den Schriftsteller S. H. zu hören, wurde der Bescheid, ausverkauft, leider. Die Behörde, und das ist das Neue, hat begonnen Humor zu entwickeln.385

385

Nachruf, S. 778f.

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Die Autorinnen und Autoren Dr. Frauke Dettmer studierte Slawistik und Kulturwissenschaften und promovierte über „Juden in Cuxhaven“. Sie war seit 1989 als Kuratorin und von 2003 bis 2007 als Leiterin im Jüdischen Museum Rendsburg tätig. Sie ist Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein. Dr. Hans-Christoph Goßmann studierte evangelische Theologie, Erziehungswissenschaft, Judaistik und Semitistik mit dem Schwerpunkt Hebraistik in München, Kiel, Jerusalem, Münster und Tunis und war von 1992 bis 2005 Beauftragter der Nordelbischen Kirche für den christlichislamischen Dialog und Lehrbeauftragter am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Er ist Pastor der Jerusalem-Kirche und Direktor der Jerusalem-Akademie. Joachim Liß-Walther, M.A. der Erziehungswissenschaften und Soziologie, Bildungsreferent in der Bundesgeschäftsstelle an der Ev. Schülerarbeit von 1976 bis 1984, Studium der Theologie und Philosophie, ab 1991 Pastor in Kiel, seit 1998 Pastor für ‚Kirche in der Stadt’ und Beauftragter des Kirchenkreises für christlich-jüdische Zusammenarbeit, seit 2008 Studienleiter an der Akademie Sankelmark. Er ist Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein. Dr. Karin Schäfer studierte Evangelische Theologie in Mainz, Tübingen und Marburg, war Wissenschaftliche Assistentin an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal sowie an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund und promovierte über Paul Tillich. Nach langjähriger Lehrtätigkeit an

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verschiedenen Hochschulen war sie bis zu ihrem Ruhestand von 1999 bis 2006 Dozentin an der Akademie Sankelmark. Dr. Monika Schwinge studierte klassische Philologie, promovierte über die griechische Tragödie und nahm das Studium der Theologie in Tübingen auf. Sie war anschließend Pastorin in Kiel, danach Referentin der Kirchenleitung und bis zum Ruhestand Pröpstin im Kirchenkreis Pinneberg. Jörgen Sontag studierte Theologie und Geschichte in Tübingen und Heidelberg, war danach Schülerpastor, Fortbildungsreferent, Gemeindepastor in Kiel und anschließend Propst im Kirchenkreis Plön. Er ist seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog engagiert und war bis 2007 Vorsitzender des Nordelbischen Arbeitskreises Christen und Juden.

Anke Wolff-Steger studierte Theologie in Berlin und Amsterdam. Sie war als Pastorin in Berlin und Schleswig tätig und ist gegenwärtig Pastorin in Schulensee bei Kiel. Sie ist Mitarbeiterin und Autorin bei der Zeitschrift „Texte und Kontexte“ zu Themen biblischer Theologie.

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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zu 65. Geburtstag, 2010, 233 S.

Band 3:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.

Band 4:

Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.

Band 5:

Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.

Band 6:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.

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