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German Pages 149 [184] Year 1963
SAMMLUNG
GÖSCHEN
BAND
557
GESCHICHTE DER G R I E C H I S C H E N LITERATUR von
P R O F .
DR.
W I L H E L M
N E S T L E
f
Dritte Auflage, bearbeitet von
DR.
W E R N E R
B A N D
L I E B I C H
II
WALTER DE GRUYTER & CO. v o r m a l s G . J Gcochen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, V e r l a g s b u c h h a n d l u n g • Georg R e i m e r • Karl J. T r u b n e r • Veit & C o m p . B E R L I N
1 9 6 3
© Copyright
1963 by W a l t e r de Gruyter Sc C o . , vormals G . J .
Göschen'sche
Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung * Georg Reimer * K a r l J . Trübner • V e i t & C o m p . , Berlin 30. — Alle Rechte, einschl. der Rechte der Hersteldung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten.
—
Ardiiv-Nr.
73'21'630.
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Satz
und
Berlin 65. — Printed in Germany.
Druck:
$
Saladruck,
Inhalt
II. VON DEN PERSERKRIEGEN BIS AUF ALEXANDER D. GR. (Fortsetzung) B. D i e P r o s a Die attische Philosophie
5
Sokrates
5
Die Sokratiker
8
P i a t o n und die Akademie
11
Aristoteles
25
III. DAS ZEITALTER DES HELLENISMUS Der Hellenismus
36
A. D i e D i c h t u n g 1. Das Drama
41
Die neue attische Komödie
41
Die Tragödie
46
2. Das Epos
48
Das heroische Epos: Apollonios
48
Das Lehrgedicht: Aratos
51
3. Lyrik und Verwandtes
52
Elegie und Epyllion
53
Kallimachos
54
Hymnen
58
Paränetisdie Dichtung
59
Das Epigramm
59
Idyllendichtung: Theokritos
60
Der Mimos: Herodas
63
B. D i e P r o s a D i e Philosophie
65
Die Einzelwissenschaften: Eratosthenes
73
Die alexandrinisdie Philologie
74
D i e Pergamener
76
M a t h e m a t i k und Naturwissenschaften
. . .
77
D i e Geschichtsschreibung
. . .
80
Die Erdkunde
89
Ethnographische Utopien
90
D i e Novelle
92
Die Rhetorik
93
IV. DIE KAISERZEIT A. D i e D i c h t u n g Mimos und Pantomimos Das Epigramm
96
. . . .
96
Das Lehrgedicht
97
Das erzählende Epos
98
Religiöse Dichtung
99
B. D i e P r o s a D i e Philosophie
101
G r a m m a t i k und Rhetorik
105
D i e zweite Sophistik
107
Geschichtsschreibung und E r d k u n d e M a t h e m a t i k und Naturwissenschaften Unterhaltungsiiteratur D i e Epistolographie
114 .
. .
. . . .
. . . .
. . . .
. . .
. . . .
123
.
126
.
127
D i e Satire: Lukianos
128
D i e Buntschriftstellerei
134
D i e Aretalogie
136
Der R o m a n
136
Register
143
II. V O N D E N
PERSERKRIEGEN
BIS A U F A L E X A N D E R D E N G R O S S E N (Fortsetzung)
D i e a t t i s c h e P h i l o s o p h i e . Anaxagoras hatte die ionische Philosophie nach Athen getragen. Zum Kreise seines Schülers Archelaos gehörte nach durchaus glaubwürdigen Zeugnissen auch der junge SOKRATES (geb. 470/ 69). Er hatte, wie Piaton im Pbaidon (97Bff.) berichtet, anfänglich große Erwartungen auf die Philosophie des Anaxagoras gesetzt, war aber enttäuscht, weil dieser trotz seiner Lehre vom weltordnenden Geist der mechanischen Naturerklärung allzusehr verhaftet blieb und die Frage nach der sittlichen Aufgabe des Menschen unbeantwortet ließ. Deshalb wandte sich Sokrates von allen kosmologischen Spekulationen ab und stellte den Menschen in den Mittelpunkt seines Philosophierens. Er hat, wie Cicero (Tusc. V 4,10) sagt, „die Philosophie vom Himmel herabgeholt und sie in den Städten und Häusern angesiedelt". Seine weitreichende Wirkung erzielte er allein im fragenden, prüfenden und mahnenden Gespräch und durch sein vorbildliches Leben und Sterben, denn er selbst hat seine Gedanken niemals schriftlich festgehalten. Für die Charakterisierung seines Wirkens sind wir deshalb allein auf die Berichte seiner Freunde und Schüler angewiesen. Nun hat aber das sokratische Philosophieren, das immer wieder in der Aporie endete, sein Nichtwissen bekannte, keine geschlossene Lehre hervorbrachte und zum Weiterdenken aufforderte, eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Schulen ins Leben gerufen, die doch alle glauben durften, das echte sokratische Erbe zu verwalten. So geben uns auch Piaton und Xenophon, deren Sokratesdarstellungen aus der ursprünglichen Fülle sokratischer Literatur, von der wir sonst nur Fragmente besitzen, allein ganz erhalten sind, sehr
6
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
unterschiedliche Sokratesbilder 1 ): Xenophon will — hauptsächlich in den Memorabilien — beweisen, daß Sokrates ein frommer und gerechter Mann war, der im öffentlichen Leben stets seine Pflicht getan habe, bei Piaton dagegen ist Sokrates der Schöpfer der Ideenlehre, der Unsterblichkeitslehre und des Idealstaates. Alle Versuche der modernen Forschung, unser Sokratesverständnis allein auf Xenophons 2 ) oder Piatons 3 ) Darstellung zu gründen, sind gescheitert. Die für die Lösung des Sokratesproblems an sich nötige methodische Behutsamkeit scheint aber zu weit getrieben, wenn man mit dem Argument, daß die uns vorliegenden Texte ihrem Wesen nach Sokratesdichtung seien, aus der sich keine historischen Zeugnisse gewinnen ließen, auf die Frage nach der geschichtlichen Realität des Sokrates überhaupt verzichtet 4 ). Den richtigen Weg zur Auswertung der beiden Hauptquellen hat bereits F. S C H L E I E R M A C H E R 5 ) genannt: „Was kann Sokrates noch gewesen sein neben dem, was Xenophon von ihm meldet, ohne jedoch den Charakterzügen und Lebensmaximen zu widersprechen, welche Xenophon bestimmt als sokratisch aufstellt, und was muß er gewesen sein, um dem Piaton Veranlassung und Recht gegeben zu haben, ihn so, wie er es tut, in seinen Gesprächen aufzuführen." Neben Xenophons und Piatons Sokratesdarstellung wird man aber in Zukunft die Fragmente und Zeugnisse der übrigen Sokratiker stärker berücksichtigen müssen6). Außerdem verengt sich der Spielraum, den uns Schleiermachers methodisches Prinzip für die Bestimmung der echt sokratischen Züge in den Darstellungen Piatons und Xenophons läßt, durch die Kriterien, die uns die Sokrateszeugnisse des Aristoteles liefern 7 ). Sie ') Vgl. W . Jaeger, Paideia 2, 63 ff. *) A. Döring, Die Lehre des S. als soziales Reformsystem. Mündien 1895; W. Sdimid, Geschichte der griech. Lit. 1,3. 1940, 217 ff. •) J . Burnet, Greek Philosophy. London 1914, 126 ff.; A. E. Taylor, Sócrates. London 1932. ') So O . Gigon, Sokrates. Bern 1947, 15. 5 ) Über den Wert des S. als Philosophen. Abh. Ak. "Wiss. Berlin. Phil. KL. 18T4/15, 59; Sämtlithe Werke. 3,2. Berlin 1838, 297f. •) Reidies Material findet man bei O . Gigon, a. a. O . ') Nach dieser Methode verfuhr bereits E. Zeller, Die Philosophie der Griechen. 2,1. '1922, 91 ff.
Die attisdie Philosophie: Sokrates
7
sprechen Sokrates die Ideenlehre, die ihm Piaton in den Mund gelegt hat, ab und geben uns wichtigen Aufschluß über Methode und Ziel seines Philosophierens. Sokrates habe auf induktivem Wege Definitionen zu erlangen gesucht (Met. M 1078 b 27), sein Erkenntnisstreben sei auf die ethischen Werte gerichtet gewesen (Met. M 1078 b 17). Die uns aus den frühen platonischen Dialogen, aber auch aus den Werken Xenophons bekannte Form des s o m a tischen Gesprächs, das sich an Analogien orientiert, die dem täglichen Leben und besonders oft dem handwerklichen Bereich entnommen werden, und in wiederholtem Prüfen ethische Begriffe zu definieren sucht, hat also einen echten historischen Kern. Dieses philosophische Gespräch ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern Voraussetzung für die sittliche Tat. Denn für Sokrates ist Tugend Wissen: Niemand handelt wissentlich schlecht. Diese Überzeugung beruft sich vor allem auf zwei Gründe 8 ): Erstens sei das Gute auch immer das letzten Endes Vorteilhafte und damit das allein Erstrebenswerte, und zweitens seien Erkenntnis und Wissen die edelsten und herrscherlichsten Fähigkeiten des Menschen, die unmöglich durch unedle Leidenschaften überwältigt werden könnten. Es liegt nahe, diese Überzeugung als weltfremden Intellektualismus zu charakterisieren, aber man muß Sokrates zubilligen, daß er die erkannten ethischen Werte so intensiv erlebte, daß ihm gegenüber diesem Werterlebnis alle anderen Emotionen kraftlos erschienen 9 ). Der leidenschaftliche Einsatz für feste sittliche Normen unterscheidet das Philosophieren des Sokrates grundsätzlich von dem Wirken der Sophisten, die zwar wie er den Menschen in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens stellten, aber höchstens relativ gültige Normen des Handelns anerkannten. Als die restaurierte Demokratie den unbequemen Mahner wegen Gottlosigkeit und als Verführer der Jugend vor Gericht stellte, ging er als loyaler Bürger seiner Stadt mit philosophischer Gelassenheit für seine Überzeugung in 8) Vgl. O . G i g o n , G r u n d p r o b l e m e der 273 f . •) V g l . A . L e s k y , L j t e r a t u r g e s d i . 472
antiken
Philosophie.
Bern
1959,
8
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
den Tod (399). Gerade durch diesen Tod aber ist er für alle Zeiten unsterblich geworden. D i e S o k r a t i k e r . Sokrates gehörte zu den nicht allzu zahlreichen Gestalten der Weltgeschichte, die die Menschen zu einer sittlichen Entscheidung drängen und die daher ebenso heftigen Widerspruch wie hingebende Begeisterung hervorrufen. So entbrannte bald nach seinem Tode der literarische Kampf um seine Bedeutung. Der Sophist Polykrates (Bd. 1, S. 130) verfaßte eine dem Anytos in den Mund gelegte Anklagerede, die den Sokrates politisch verdächtigte. Piaton, Lysias (Bd. 1, S. 135) und Xenophon (Bd. 1, S. 130) dagegen veröffentlichten Verteidigungsreden des Sokrates. Wichtiger aber war es, daß nun sokratische Dialoge geschrieben wurden. Dadurch entstand eine ganz neue Form der philosophischen Literatur. Zwar berichtet uns Aristoteles (Fr. 72 R.), daß Alexamenos von Teos bereits vor den Sokratikern Dialoge geschrieben habe, aber der Wert dieser Nachricht ist umstritten. Sicher hat die von den Sophisten gelehrte Technik des Fragens und Antwortens und die sophistische Antilogik, die Kunst, von jedem Gegenstand These und Gegenthese zu beweisen, die Form des sokratischen Dialogs stark beeinflußt. Außerdem sind die in Tragödie, Komödie und besonders in den Prosamimen des Sophron entwickelten Formen der Szenengestaltung und des Wechselgesprächs bestimmt von großer Bedeutung für die Ausbildung der sokratischen Dialoge gewesen. Den entscheidenden Anstoß zu ihrer Schöpfung gab aber zweifellos der Wunsch der Sokratiker, das elenktische Philosophieren ihres Lehrers literarisch nachzugestalten. Zu dem auf diese Weise neu entstandenen Genos gehören einige Schriften X E N O P H O N S (Bd. 1 , S. 1 3 0 f.) und sieben Dialoge des A I S C H I N E S von Sphettos, die sich durch Lebhaftigkeit der Gesprächsführung und Reichtum der szenischen Gestaltung auszeichneten. Aus ihnen haben wir einige nicht unbeträchtliche Reste, z. B. aus dem Alkibiades, in dem Sokrates den ehrgeizigen und eingebildeten Alkibiades zur Einsicht seiner Unzulänglichkeit brachte, aus dem Dialog Aspasia, in dem Sokrates für die Ebenbürtigkeit der Frau mit dem Manne eintrat, und aus dem Kallias, der die Nachteile des Reichtums und die Vorzüge der Armut für die Sittlichkeit erörterte. Die Schulen, die sich an Sokrates anschlössen, gingen in ihren Lehren aus den bereits besprochenen Gründen (S. 5) weit auseinander.
Die attische Philosophie: Sokratiker
9
Als berufenen Nachfolger des Sokrates betrachtete sich AN(etwa 445—365), der Begründer der k y n i s c h e n S c h u l e . Er lehrte im Gymnasium Kynosarges, von dem man bereits in der Antike die Bezeichnung „Kyniker" herleitete. Wahrscheinlicher ist es aber, daß die Schule ihren Namen erst später empfing, als sich Diogenes von Sinope, der berühmteste Anhänger des Antisthenes, durch seine Schamlosigkeit den Spottnamen „6 KUCOV (der Hund)" zuzog 10 ). Ehe Antisthenes sich Sokrates anschloß, war er Schüler des Gorgias. Zwei erhaltene Schulreden, Aias und Odysseus, erinnern noch an seine sophistische Vergangenheit. Sonst sind von seinen zahlreichen Schriften nur kleine Bruchstücke auf uns gekommen. Die Bedürfnislosigkeit und die Beherrschung des Trieblebens schienen ihm das Wichtigste am Leben des Sokrates. Deshalb stand das Ideal der Autarkie, einer von Bedürfnissen und Leidenschaften unabhängigen Tugend, im Mittelpunkt seiner Ethik. Die Wurzel alles Obels sah er in der Lust. Davon zeugt sein Ausspruch, er wolle lieber wahnsinnig werden als Lust empfinden (Diog. Laert. 6,3). In seiner erkenntnistheoretischen Lehre ist sophistischer Einfluß unverkennbar. Er erklärte, nur identische Urteile seien möglich, da jedem Wort nur e i n Seiendes zugeordnet sein könne; Widersprüche und unwahre Aussagen seien deshalb ausgeschlossen. Aus der Verbindung sophistischer Verachtung der Konvention mit dem somatischen Streben nach sittlicher Autonomie ergaben sich seine Ablehnung der herkömmlichen Sitten und seine Verwerfung des bestehenden Staates. In religiöser Hinsicht bekannte er sich als Monotheist. Das Ideal des kynischen Weisen entwickelte er in seinem Herakles am Lebensgang dieses Heroen. In dem Dialog Archelaos oder über das Königtum, der an den von Thukydides gerühmten, von den Sokratikern als Typus des Tyrannen verabscheuten makedonischen Fürsten (Bd. 1, S. 126) anknüpfte, suchte er zu zeigen, daß nicht Herrschaft und Reichtum, sondern allein die Tugend glücklich mache. Eine boshafte Streitschrift gegen Piaton war der Dialog Sathon. — In D I O G E N E S von Sinope (etwa 400—325), dem „toll gewordenen Sokrates", erscheint das Streben nach Unabhängigkeit von der Konvention bis zur groben Verhöhnung menschlicher Sitte übersteigert. Aus seiner Hauptschrift, die den Titel Der Panther trug, stammt der auf die Umwertung aller Werte zielende Satz, daß er die geltende Münze umprägen wolle (Diog. Laert. 6,20). So wandte sich Diogenes TISTHENES
10 ) Vgl. K. v. Fritz, Quell'enuntersudiungen des D i o g e n e s v o n S i n o p e . L e i p z i g 1926, 47 ff.
zu
Leben
und
Philosophie
10
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
gegen zivilisierte Lebensformen und forderte die Rückkehr zu natürlicher Bedürfnislosigkeit. Er schrieb auch Lesetragödien, mit denen er darlegte, daß die Helden ihrem Verhängnis hätten entgehen können, wenn sie seiner Lehre gefolgt wären. — Sein Schüler KRATES von Theben (etwa 365—285) verfaßte ebenfalls Lesetragödien und ein parodisches Epos Pera (der Bettelsack), eine Verherrlichung der kynischen* Bedürfnislosigkeit. Den Gegenpol zum Kynismus bildet die von ARISTIPPOS (etwa 435—355) gegründete Schule der K y r e n a i k e r . Das Schulhaupt wird in vielen Anekdoten als ein lebensgewandter Mann geschildert, der es verstand, den Augenblick zu genießen, aus jeder Lage das Beste zu machen und so die innere Unabhängigkeit zu wahren. Erst sein Enkel, der jüngere ARISTIPPOS, scheint die kyrenaische Ethik systematisiert und auf eine skeptische Erkenntnistheorie gegründet zu haben 11 ). Da der Mensch das Sein nicht erkennen, sondern nur seine eigenen Lust- und Schmerzempfindungen wahrnehmen kann, liefern diese die Normen des auf Lusterwerb zielenden Handelns. Allerdings ist es nicht möglich, die Lust als Dauerzustand zu erreichen und so ein völlig glückliches Leben zu führen. Diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt für den Pessimismus der Kyrenaiker 12 ), der in dem unter Ptolemaios I. lebenden HEGESIAS seinen ausgeprägtesten Vertreter fand. In einer Schrift Der Verzweifelte ließ er einen durch seine Freunde vom Selbstmord Zurückgehaltenen die Beschwerden des Lebens aufzählen und empfahl in seinen Vorträgen zu Alexandria den Selbstmord (daher sein Beiname „Peisithanatos", d. h. Sterberat) mit solchem Erfolg, daß sie ihm vom König verboten wurden. Die dritte von Sokrates ausgegangene Schule ist die der M e g a r i k e r , begründet von EUKLEIDES (etwa 450—380). Er suchte die eleatisdie Ontologie mit der sokratischen Ethik zu verbinden, indem er das eine wahre Sein des Parmenides mit dem Guten gleichsetzte. Seine Nachfolger verfielen in spitzfindige Dialektik. Eine gewisse Berühmtheit erlangten in der antiken Logik die Fangschlüsse des EUBULIDES von Milet, von denen „der Lügner" der bekannteste ist. Auch STILPON von Megara (etwa 380—300) beschäftigte sich mit logischen Untersuchungen. Von dem Gründer der e l i s c h - e r e t r i s c h e n Schule, PHAIDON, dessen Namen einer der berühmtesten Dialoge Piatons " ) Vgl. E . Sdiwartz, E t h i k der Griechen. Stuttgart 1951, 181 f . ; E . Mannebach, Aristippi et Cyrenaicorum fragmenta. Leiden u. Köln 1961, l l + ff. " ) Vgl. O . Gigon (s. S. 6, Anm. 4), 304 f .
Die attisdie Philosophie: Piaton u n d die Akademie
11
trägt, kannte das Altertum zwei Dialoge, Zopyros und Simon, in denen wahrscheinlich das Verhältnis von Naturanlage und Erziehung erörtert und dargelegt wurde, daß die Philosophie auch schlechte Anlagen überwinden könne.
P l a t o n u n d d i e A k a d e m i e . Alle übrigen Schüler des Sokrates überragt an persönlicher und philosophie-
geschichtlicher B e d e u t u n g PLATON ( 4 2 8 / 2 7 — 3 4 8 / 4 7 ) ,
der
Sohn des Ariston und der Periktione. Er stammte aus vornehmer Familie — durch seine Mutter war er mit Kritias (Bd. 1, S. 102, 124) verwandt — und genoß eine sorgfältige Erziehung. Sein erster philosophischer Lehrer war der Herakliteer Kratylos (Bd. 1, S. 113), der in skeptischer Zurückhaltung auf jede gültige Aussage verzichtete, weil der stetige Fluß der Dinge ein sicheres Wissen nicht zulasse. Das entscheidende philosophische Erlebnis aber wurde für Platon die Bekanntschaft mit Sokrates, die er im 20. Lebensjahr machte. Bezeichnend dafür ist die Nachricht, daß er damals die Tragödien, die er vor dieser Begegnung schrieb, verbrannt haben soll. Sein Lebensinhalt wurde fortan die Philosophie. Seiner besonderen Begabung für dramatisch-szenische Gestaltung aber verdanken seine philosophischen Dialoge ihren großen künstlerischen Reiz. Sokrates weckte in ihm den Glauben an die Möglichkeit der Erkenntnis und die Überzeugung von der Notwendigkeit der philosophischen Begründung allgemein verbindlicher sittlicher Normen. In dieser Überzeugung bestärkten Platon die politischen Ereignisse. Zweimal wurde nämlich seine Hoffnung bitter enttäuscht, daß eine Verfassungsänderung die öffentliche Gerechtigkeit wiederherstellen könne. Zuerst hatten die Oligarchen nach dem Umsturz von 404 versucht, auch Sokrates zum Mitschuldigen ihres Terrors zu machen, dann verurteilte die restituierte Demokratie den verehrten Lehrer zum Tode. Aus diesen Erlebnissen zog Platon den Schluß, daß der Staat nicht durch eine bloße Verfassungsänderung gebessert werden könne, sondern von einem philosophischen Entwurf her ganz neu errichtet werden müsse. Nach dem Tode des Sokrates begab er sich zu Eukleides nach Megara (S. 10). Es ist möglich, daß er hier
12
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
von der neueleatischen Gleichsetzung des Guten und des e i n e n Seins Anregungen für die spätere Ausbildung seines ontologischen Prinzips des e i n e n Guten empfangen hat 13 ). Nitht allzu lange Zeit darauf scheint er allerdings wieder nach Athen zurückgekehrt zu sein. In dem folgenden Jahrzehnt verfaßte er seine frühen Dialoge 14 ). Am Beginn eines neuen Lebensabschnittes steht seine Reise nach Unteritalien und Sizilien15), die er im Frühjahr 390 oder 389 antrat. Auf ihr lernte er in Tarent den vielseitigen Pythagoreer Archytas kennen, der Staatsmann, Feldherr, Mathematiker und Philosoph zugleich war. Aus der dauerhaften Freundschaft mit ihm und den unteritalischen Pythagoreern empfing Piaton entscheidende Anregungen für seine Philosophie. Von Unteritalien führte ihn seine Reise dann an den Hof von Syrakus zu Dionysios I. Hier wurde Dion, der Schwager dieses Herrschers, Piatons begeisterter Anhänger und persönlicher Freund. Mit Dionysios selbst aber kam es zu einem schweren Zerwürfnis, der ethisch gerichtete Denker und der Mann des praktischen Erfolges paßten nicht zusammen. Auf der Heimreise wurde er, vielleicht auf Betreiben des Dionysios, auf der mit Athen im Kriegszustand befindlichen Insel Aigina an Land und dort auf den Sklavenmarkt gebracht, wo ihn ein befreundeter Kyrenäer, Annikeris, loskaufte. Nach Athen zurückgekehrt, gründete Piaton seine Schule (um 387). Sie führte den Namen „Akademie", weil Piaton in dem Bezirk, der nach einem vorgriechischen Schutzgeist Akademos oder Hekademos Akademeia hieß, zuerst in dem gleichnamigen Gymnasion, später aber auf einem eigenen Grundstück lehrte. Hier bestand die Schule unter mancherlei Wandlungen bis zum Jahre 529 n. Chr. Nach dem Thronwechsel lä ) Vgl. H . ] . K r ä m e r , Arete bei PI. und Aristoteles. A b h . Heidelberger A k . Wiss. Phil.-hist. KI. 1959, 6, 505 ff. u ) Die Möglichkeit, d a ß Piaton bereits vor dem T o d e des Sokrates zu sdireiben begann, w i r d man allerdings nicht ganz ausschließen d ü r f e n . Für sie treten u. a. ein: U . v. Wilamowitz-Moellendorff, P i a t o n . 1. Berlin '1920, 1'24 ff.; P . F r i e d e n d e r , P i a t o n . 3. Berlin 'i960, 422 f. ls ) Die N a d i r i d i t e n , d a ß Piaton audi Ägypten und Kyrene besucht habe, verdienen keinen Glauben. Vgl. J . Kersdiensteiner, PI. und der O r i e n t . Stuttgart 1945, 4 4 f f . ; H . Leisegang, A r t . P i a t o n , RE 20, 2, 1950, 2350.
Die attische Philosophie: Piaton und die Akademie
13
in Syrakus reiste Piaton noch zweimal (367 und 361) an den Hof Dionysios' II., denn er hoffte, dort seine Ansichten über Gesetz und Staat in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Beide Reisen endeten jedoch wiederum mit Zerwürfnissen und Enttäuschungen. Später (354/53) raubten ihm die Parteistreitigkeiten auch noch den Freund Dion, der von Kallippos, einem entarteten Mitglied der Akademie, ermordet wurde. In den letzten 15 Jahren seines Lebens widmete sich Piaton ganz seiner Lehrtätigkeit und seiner Schriftstellerei, bis er 348/47 im Alter von 80 Jahren starb. In Piatons Philosophie sind Positionen der heraklitischen, eleatischen, pythagoreischen und sokratischen Philosophie aufgehoben. Deshalb hat ihn Nietzsche den ersten großen Mischphilosophen genannt. Diese Charakterisierung ist allerdings nur sehr bedingt richtig; denn man muß sich klarmachen, daß Piaton nicht Eklektiker, sondern der erste große synthetische Philosoph ist, der die Gedanken seiner Vorgänger in eine einheitliche ontologische Konzeption einschmilzt und so mit völlig neuem Geiste erfüllt. Die Ontologie 18 ) Piatons nimmt die vorsokratische Fragestellung nach der Arché, dem Seinsprinzip, wieder auf. Die platonische Prinzipienlehre ist dualistisch. Dem Prinzip des Einen steht das Prinzip der Vielheit gegenüber. Das Eine transzendiert als Seinsgrund alles Seiende. Indem es Einheit setzt, stiftet es in der unbegrenzten und unbeständigen Vielheit Identität, Erkennbarkeit, Ordnung und Norm. So ist es Seins-, Erkenntnis- und Wertprinzip zugleich, das sich in der Welt als das Göttliche, Wahre, Schöne und Gute manifestiert. Das Gegenprinzip, die Vielheit, wirkt als principium individuationis. Das Spannungsgefüge beider Prinzipien konstituiert den Ideenkosmos. Das Prinzip der Einheit macht ihn zu einem geordneten Ganzen und jede einzelne Idee in ihm zu einer singulären, unveränderlichen, intelligiblen Wesenheit. Dem Prinzip der Vielheit dagegen " ) Eine grundlegend neue Analyse der platonischen Ontologie und Prinzipienlehre gibt H . T. K r ä m e r , Arete bei PI. und Aristoteles. A b h . Heidelberger A k . Wiss. Phil.-hist. K l . 1959, 6.
14
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
verdankt die Ideenwelt ihren Formenreichtum. In diesem ontologischen Ansatz ist das eine unwandelbare, dem Denken allein angemessene Sein des Parmenides in das über dem Sein stehende Seinsprinzip des Einen und die intelligible Welt einer Vielheit von ewigen Seiendheiten, die Ideen, aufgespalten. Da die Ideen als Einheiten in der Vielheit die unveränderlichen Strukturen der veränderlichen Realität repräsentieren und so eine Mittelstellung zwischen dem Einen und der vorwiegend von dem Prinzip der Vielheit beherrschten Sinnenwelt einnehmen, gelingt es Piaton, mit dieser ontologischen Konzeption die Welt des Werdens, die bei Parmenides als Scheinwelt von der noetischen Erkenntnis ausgeschlossen war, wenigstens indirekt, nämlich über die Erkennbarkeit der Ideen, dem Wissen zugänglich zu machen. So gewinnt Piaton gegenüber der heraklitischen Lehre von der fortwährenden Veränderung des Seienden und dem erkenntnistheoretischen Relativismus der Sophistik wieder feste Gegenstände der Erkenntnis. Er siedelt unter ihnen die von Sokrates gesuchten ethischen Allgemeinbegriffe an, macht das sokratische Gute als Aspekt des Seinsgrundes zum Prinzip der Ordnung alles Seienden und gibt damit der Ethik den Rang einer ontologischen Wissenschaft. Zugleich wird die elenktische Definitionsmethode des Sokrates, die vorwiegend auf die Arete des Menschen ausgerichtet war, zur Dialektik, d. h. aber zu einer allgemeinen Seinswissenschaft ausgebildet, die die hierarchische Ordnung der Ideen im Denken nachvollzieht und auf die letzten Prinzipien reduziert. Als Schulung zur Dialektik schätzt Piaton die Mathematik sehr hoch, da ihre Gegenstände, die Zahlen und Figuren, von der Sinnenwelt geschieden, teils zu den Ideen gehören, teils als unveränderliche, aber im Gegensatz zu den Ideen mehrfach existierende Wesenheiten ein eigenes intelligibles Zwischenreich bilden 17 ). Die Physik dagegen tritt bei ihm zurück und wird von ihm erst im Altersdialog Timaios in mythologischer Form behandelt, denn die Natur, die Welt des Stoffes, des " ) V g l . H . J . K r ä m e r , a . a. O . 540, A n m . 99; D. Ross, P l . ' s theory of ideas. O x f o r d 1951, 5*9 ff.
Die attische Philosophie: Piaton und die Akademie
15
Werdens und Vergehens, ist für ihn eine Abbild-weit, die nur mittelbar auf Ideen hin gedeutet und gedacht werden kann. Das logische Problem der Teilhabe der realen Einzeldinge an den Ideen ist von Piaton nie restlos geklärt worden. Im Timaios findet es eine mythisch-personale Lösung durch die Einführung des Demiurgen, des Schöpfergottes, der die sichtbaren Dinge nach dem Vorbild der ewigen Ideen gestaltet. Außerdem wird der Chorismos, die Kluft zwischen der Welt des Seins und der des Werdens, durch die aus der Ewigkeit stammende menschliche Seele überbrückt. Bereits im Leben kann sie, vom Eros beflügelt, im dialektischen Aufstieg die Welt der Ideen erreichen und bedingt gottähnlich werden, um dann nach dem Tod endgültig in das ewige Sein zurückzukehren. Piatons Kritik der Dichtung und der bildenden Kunst überhaupt erklärt sich ebenfalls aus seiner Ontologie. Dichtung und Malerei erzeugen nach ihm Spiegelungen der realen Welt, also Abbilder von Abbildungen der Ideen. Zwar können die Künstler, von Gott inspiriert, im Enthusiasmus unter Umständen Schönes und Wahres darstellen, sie kennen aber das Schöne und Wahre selbst nicht und verfehlen es deshalb oft 18 ). Aus diesem Grunde verbannt Piaton nach schwerem Kampf mit sich selbst die Dichtkunst aus seinem Staat (10, 607 B). Die philosophischen Gedankengänge, deren Grundlinien hier nur flüchtig skizziert werden konnten, bilden den umfassenden Horizont des platonischen Denkens, der in den Dialogen in Teilaspekten mehr oder weniger enthüllt, nirgends aber als ein zusammenhängendes System dargestellt wird. Die sogenannte „platonische Frage", das Problem, ob wir in der Abfolge der Schriften den Weg eines stets sich wandelnden und um Erkenntnis ringenden Wahrheitssuchers begleiten oder ob Piaton ein einheitliches Gedankengebäude schon sehr früh konstruierte oder zumindest als Ziel vor sich sah, ist bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Der Widerstreit der Ansichten geht " ) Vgl. H . Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis plat. Philosophie. Berlin 1958, 106 ff.
Von den Perserkriegen bis auf Alexander d. Gr.
16 auf
F.
SCHLEIERMACHER19)
und K .
F.
HERMANN20)
zurück,
die
die neuere Piatonforschung einleiten. Schleiermacher glaubte, daß Piaton seine Philosophie als fertiges Ganzes in sich trug, als er zu schreiben begann, um mit seinen Schriften die Leser nach einem pädagogischen Plan schrittweise in seine Lehre einzuführen. Hermann dagegen faßte die Dialoge als Zeugnisse einer philosophischen Entwicklung auf. Diese Auffassung wurde vorherrschend, als L . CAMPBELL21), W . DITTENBERGER22),
C.
RITTER23),
H . v. ARNIM23) und andere mit sprachstatistischer Methode eine im ganzen gesicherte relative Chronologie der platonischen Schriften schufen. Nur P. SHOREY24) und H. v. ARNIM25) hielten in gemäßigter Form an Schleiermachers These von der ursprünglichen Einheit des platonischen Denkens fest. Zuletzt wurde sie von H. J . KRÄMER26) in durchaus selbständiger Weise erneuert. Er suchte Piatons Vorlesung Über das Gute, von der wir durch Berichte des Aristoteles und seiner Kommentatoren und des Sextus Empiricus wissen, als Inbegriff des platonischen Philosophierens, als regelmäßige, dem Schriftwerk gleichzeitige Vorträge eines im wesentlichen konstanten esoterischen Systems zu erweisen. Die Dialoge dagegen deutete er als exoterische Lehre, als propädeutisch-protreptisdies Erziehungswerk in Fortsetzungen für einen weiteren Kreis. In ihnen habe Piaton das der persönlichen Unterweisung vorbehaltene esoterische Bildungsziel nur andeutend enthüllt, ohne es jemals ganz preiszugeben. Den Begriff der philosophischen Entwicklung wollte Krämer durch den der zunehmenden Konvergenz zwischen exoterischen Schriften und esoterischer Lehre ersetzen. Richtig ist, daß die einzelnen Dialoge über sich hinausweisen und nur im Rahmen eines umfassenderen systematischen Horizontes verstanden werden können, daß z. B. nicht nur die Ideenlehre, sondern auch die Prinzipienlehre bereits im Hintergrunde der Jugenddialoge steht. Es ist aber sehr fraglich, ob Piaton jemals ein ins einzelne ausgearbeitetes esoterisches System gelehrt hat. Der rekonstruierbare Teil der Vorlesung Üher " ) PI.s sämmtlidie Werke. 1,1. Berlin 1804, Einleitung. Geschichte und System der plat. Philosophie. 1. Heidelberg 1839. » ) T h e Sophistes and Politicus of PI. O x f o r d 1867. K ) Sprachliche Kriterien für die Chronologie der plat. Dialoge. Hermes 16, 1881, 321 ff. 2S ) Vgl. die Bibliographie der Arbeiten über Piatons Spradigebraudi in: F. Uberweg, K . Praediter: Die Philosophie des Altertums. Berlin 1219-26, 71*f. " ) T h e Unity of PI.'s thought. Univ. of Chicago decennial publications. S. 1,6, 1903, 129—214. Gesonderter Neudr. Chicago 1960. i 5 ) PI.s Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros. Leipzig 1914. »•) s. S. 13, Anm. 16.
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das Gute läßt allzu viele Fragen offen. Grundlegende Probleme, wie das der Teilhabe der realen Dinge an den Ideen und das des detaillierten Aufbaus des Ideenkosmos sind wohl bis zuletzt ungelöst geblieben. Selbst wenn man also hinter den Dialogen einen esoterischen Bereich erschließt, in dem wesentliche Positionen Piatons von Anfang an fixiert waren, wird man auch für diesen Bereich eine Entfaltung der Leitgedanken und ein ständiges Umkreisen offener Probleme annehmen müssen.
Das eigentliche platonische Philosophieren vollzog sich im persönlichen Gespräch und im Lehrvortrag in der Akademie. In diesem Sinn sah Piaton die Abfassung schriftlicher Werke nur als „ein schönes Spiel" (Phaidr. 276 E) an. Die Form seiner Schriften ist, von der Apologie abgesehen, der sokratische Dialog, den er auf die Höhe seiner Vollendung geführt hat. Mit ihnen setzte er dem Lehrer, dem er sein geistiges Leben verdankte, soweit man es einem Menschen verdanken kann, ein Denkmal höchster Pietät. Sokrates tritt mit einer einzigen Ausnahme in allen platonischen Dialogen auf. Meist führt er das Gespräch. Im Sophistes und Politikos allerdings gibt er die Gesprächsführung an den Fremden aus Elea ab. In Piatons letztem Werk, den Gesetzen, tritt dann der Athener an seine Stelle. Der äußeren Form nach zerfallen die Dialoge in zwei Gruppen: in dramatische und erzählte. In den dramatischen setzt das Gespräch ohne Einleitung sofort ein. Die Form der erzählten Dialoge bot dem Verfasser zwar die Möglichkeit, stimmungsvolle, mit höchster Feinheit und Kunst ausgeführte Szenerien zu entwerfen, wie wir sie im Protagoras und Lysis, im Pbaidros und Symposion, am Anfang des Staats und im Phaidon bewundern, sie brachte aber durch die Rahmentechnik und die Notwendigkeit, erzählende Zwischenbemerkungen einzufügen, auch eine gewisse Schwerfälligkeit mit sich. Piaton hat daher, wie er ausdrücklich erklärt (Theait. 143 C), diese Form des Dialogs später aufgegeben. Manchmal hat er sogar mehrere innerlich zusammenhängende Dialoge nach dem Vorbild der Tragödie zu Trilogien zusammengefaßt. In den spätesten Werken erstarrt die dialogische Form mehr und mehr und nähert sich dem zusammenhängenden Lehrvortrag.
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Eine wichtige Funktion hat in vielen Dialogen die Kunstform der platonischen Mythen. Sie erfüllt herkömmliche religiöse Redeformen mit neuem philosophischem Sinn und bildet so das geeignete Darstellungsmittel für die theologischen Gehalte der platonischen Ontologie. Wir erwähnen als berühmte Beispiele das Höhlengleichnis im Anfang des 7. und die Lebenswahl am Schluß des 10. Buches des Staats, das Bild vom Seelengespann im Phaidros und die Schilderung des jenseitigen Gerichts am Ende des Gorgias. Die philosophiegeschichtliche Wirkung Piatons kann kaum überschätzt werden. Mit Recht sagt W. J A E G E R 2 7 ) , daß sich noch heute der Charakter einer jeden Philosophie danach bestimmt, wie sie zu Piaton steht. In der Spätantike wurde der Neuplatonismus zur allgemeinen Geistesreligion. Das Christentum nahm ihn in sich auf und tradierte ihn dem Mittelalter. Die Renaissance war zugleich eine Renaissance der platonischen Philosophie, deren Studium in der Akademie des C O S I M O D E ' M E D I C I vor allem durch G E O R G I O S G E M I S T O S P L E T H O N und M A R S I L I U S F I C I NUS erneuert wurde. Aber auch hier blieb das Piatonverständnis durch den Neuplatonismus bestimmt. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts begann mit F . S C H L E I E R M A C H E R die Wiedergewinnung der echten platonischen Philosophie28). Wir besitzen Piatons sämtliche Schriften. Sie sind in unserer Überlieferung in 9 Tetralogien angeordnet (Apologie, 34 Dialoge und 13 Briefe, die als e i n Werk geredinet wurden). Diese Anordnung wird öfter fälschlich auf Thrasyllos, den Hofastrologen des Kaisers Tiberius, zurückgeführt. Er fand sie jedoch, als er Piatons Werke edierte, bereits in der Überlieferung vor. Sie geht wahrscheinlich auf eine ältere Ausgabe der Akademie zurück. Die relative Chronologie der platonischen Schriften ist auf Grund von stilistischen und inhaltlichen Merkmalen so weit sicher, daß wir drei Gruppen gegeneinander abgrenzen können 29 ): 1. Frühe Dialoge (vor der ersten sizilischen Reise); 2. Werke der Reifezeit " ) Paideia 2, 130. ») W . Jaeger, a. a. O . 131 ff. 1B ) Übersichten der wichtigsten An ordnungs versuche bei O. Gigon, Piaton. (Bibliographische Einfuhrungen in das Studium der Philosophie. 12.) Bern 1950, 8 f., und D. Ross, PI.'s theory of ideas. O x f o r d 1951, 2.
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(zwischen der ersten und zweiten sizilischen Reise); 3. Altersschriften (nach der zweiten sizilischen Reise). Innerhalb dieser Gruppen bleibt die Abfolge der Schriften im einzelnen oft hypothetisch. 1. F r ü h e D i a l o g e : Am Anfang der platonischen Schriftstellerei stehen drei Dialoge, in denen das Wesen einzelner Tugenden erörtert wird: Lachest") (Tapferkeit), Charmides (Besonnenheit) und Euthyphron (Frömmigkeit). Sieht man das erste Buch des Staates, das sich mit dem Wesen der Gerechtigkeit beschäftigt, als ursprünglich selbständigen Dialog Tbrasymachos an, so gehört er als vierter in diese Gruppe. Ihr ist gemeinsam die noch ganz sokratische Form der Gesprächsführung: die Suche nach einer Definition, die nach mehreren vergeblichen Versuchen in der Aporie endet. Piaton kann diese Dialoge aber nur deshalb so sicher in die Aporie führen, weil ihm seine eigenen philosophischen Grundgedanken schon deutlich vor Augen stehen: die Einheit der Tugenden, das Verhältnis des Einen und Vielen und das Gute als oberster Maßstab und höchstes Prinzip. Im Euthyphron (5 D, 6 DE) weisen die Worte „Eidos" und „Idea" bereits auf die Ideenlehre hin. — Im Lysis, der das Wesen der Freundschaft ebenfalls in definitorisch-aporetischer Form behandelt, tritt zum erstenmal die Frage nach der Arche, dem Prinzip des Seins, als Frage nach dem ersten Lieben thematisch in den Vordergrund (219 B—220 B)31). — Die Einordnung des Protagoras innerhalb der frühen Dialoge ist umstritten. Wir setzen ihn an diese Stelle, weil er unter dem Gesichtspunkt der Lehrbarkeit der Tugend ausführlich die Einheit der Einzeltugenden erörtert und in diesem Sinne die einschlägigen Frühdialoge umgreift. Zugleich beginnt in ihm Piatons Auseinandersetzung mit der Sophistik. Er spielt wie die Schmeichler des Eupolis (Bd. 1, S. 105) im Haus des reichen Kallias und führt außer Protagoras auch Prodikos und Hippias mit ihrem Anhang vor. — Im Kleinen Hippias wird das Verhältnis von Wissen, Wahrheit und Täuschung an einem Vergleich zwischen Odysseus und Achill untersucht. Mit logisch bedenklichen Fangschlüssen treibt Sokrates den Sophisten in die Enge. Die Widersprüche dieses Dialoges lassen sich nur lösen, wenn man die sokratisch-platonische Lehre im Auge behält, daß freiwilliges, wissentliches Fehlen im ethischen Bereich unmöglich ist. — Der Ion konfrontiert das auf Sachkenntnis gegründete " ) Zum Ladies als erstem Dialog Piatons vgl. W . Steidle, Der Dialog L. und PI.s Verhältnis zu Athen in den Fruhdialogen. Mus. H e l v . 7, 1950, 1'29 ff. sl ) Vgl. H . J . K r a m e r , a. a. O . 499 ff.
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Wissen des Philosophen mit dem Enthusiasmus des Dichters und eröffnet Piatons Auseinandersetzung mit der Dichtung 32 ). Im Größeren Hippias wird die Definition des Schönen an sich gesucht, das sich in allen schönen Einzelphänomenen manifestiert. Formal gehört er zur Gruppe der aporetischen Definitionsdialoge, sein Thema wird im Symposion weitergeführt, in dessen Nähe ihn die Sprachstatistik setzt. — Die Apologie gibt in der Form der Geriaitsrede eine Selbstdarstellung des Weisen, die zugleich Protreptik zur philosophischen Lebensform sein soll 33 ). — Im Kriton lehnt Sokrates die ihm angebotene Flucht aus dem Gefängnis ab. Er bekennt sich zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen, audi wenn sie von den Menschen mißbräuchlich angewendet werden; denn Unrecht tun schadet der eigenen Seele. Von hier aus führt eine inhaltliche Verbindungslinie zum Gorgias, den Piaton entweder kurz vor oder kurz nach seiner ersten sizilischen Reise verfaßte 34 ). Die Auseinandersetzung mit der sophistischen Rhetorik vertieft sich hier zu einer grundsätzlichen Gegenüberstellung zweier Lebenstypen: der Lebensform des politischen Praktikers, der entsprechend der von Kallikles mit großartigem Schwung vertretenen Lehre vom Recht des Stärkeren nur seinen Vorteil und den äußeren Erfolg im Auge hat, und der des Philosophen, für den das Sittliche die unbedingte Richtschnur seines Lebens bildet und Unrecht tun schlimmer als Unrecht leiden ist. In dem eschatologischen Schlußmythos vom Totengericht, der orphischpythagoreisches Gedankengut verwendet, wird die Ethik zum erstenmal transzendent begründet. Außerdem begegnet uns im Gorgias bereits die diabetische Methode der Begriffsbestimmung, die dann in den Spätdialogen zur festen logischen Technik ausgebildet ist. 2. W e r k e d e r R e i f e z e i t : Der Menon nimmt die Frage des Protagoras nach der Lehrbarkeit der Tugend wieder auf und verknüpft sie mit ontologischen und erkenntnistheoretischen Erörterungen. Erkenntnis wird mit Hilfe der orphisch-pythagoreischen Seelenwanderungslehre als Anamnesis, als Wiedererinnerung an die in der Präexistenz geschauten Dinge gedeutet. — Der Menexenos ist wie die Apologie ein Stück philosophischer Rhetorik. Audi hier übernimmt Piaton eine herkömmliche Redeform, die " ) Vgl. H . Flashar, Der Dialog Ion als Zeugnis p l a t . Philosophie. Berlin 1958, 106 ff. " ) Vgl. K . Gaiser, P r o t r e p t i k und Paränese bei PI. Stuttgart 1959, 23 f . ; T h . Meyer, Pl.s Apologie. Stuttgart 1962, 156 ff. " ) Zur Datierungsfrage vgl. E. R. D o d d s : Plato, Gorgias. A rev. text with i n t r o d . and comm. O x f o r d 1959, 18 ff.
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Grabrede, und erfüllt sie mit philosophischem Gehalt. Er weist im Lob Athens manche Züge des idealen Staates auf und mahnt zur Arete 35 ). — Der Euthydemos setzt sich mit der sophistischen Eristik auseinander und enthält zwei protreptische Partien, in denen Sokrates das Streben nach Weisheit und Tugend zu wecken sucht. — Der Kratylos, ein sprachphilosophischer Dialog, untersucht die Frage, ob die Wörter aus der Natur der Dinge hervorgegangen sind oder ob sie auf Übereinkunft beruhen. — Im Symposion und Phaidon erreicht Piatons dichterische Kraft ihren Höhepunkt. Sie gehören als Gegenbilder eng zusammen. Das Symposion, ein Dialog voll sprühenden Lebens, zeigt uns Sokrates in der Mitte geistreicher Freunde beim frohen Festmahl zu Ehren eines Tragödiensiegs des Dichters Agathon (Bd. 1, S. 102), wo man sich über das Wesen des Eros unterhält. Der Phaidon gibt sich als Bericht von den letzten Stunden und dem Sterben des Weisen, der heiteren Gemüts bei tiefsinnigen Gesprächen über das unsterbliche Wesen der Seele dem Tod ins Auge schaut und audi über ihn Sieger bleibt, da er sein Leben der wahren Philosophie gewidmet hatte, die ja Lösung der Seele von den Fesseln des Leibes und Übung im Sterben und Totsein ist (64 A; 67 E; 80 E). In beiden Dialogen gewinnt die platonische Ontologie schärfere Konturen: Der ontologische Rang, das transzendente Sein der Ideen wird deutlich, und das Seinsprinzip zeigt sich unter den Aspekten des letzten Unbedingten (Phaid. 101 E) 3e ) und des Schönen an sich(Symp. 210 Äff.) 3 7 ). — Die inhaltsreichste Schrift Piatons ist das von langer Hand vorbereitete Werk über den Staat. Es mag um 374 vollendet worden sein. Von den mancherlei Vermutungen über seine allmähliche Entstehung hat diejenige am meisten für sich, daß das erste Buch, das die Unterredungen des Sokrates mit Kephalos und dem weiterhin nur noch als Zuhörer (6, 498 C) beteiligten Sophisten Thrasymachos (Bd. 1, S. 123) enthält und das Piaton selbst (2, 357 A) als Prooimion bezeichnet, zur Zeit der aporetischen Frühdialoge als selbständiger Dialog konzipiert worden ist. Um das Wesen der Gerechtigkeit in der Seele zu ergründen, konstruiert Piaton als Gedankenexperiment einen Idealstaat. Den drei Seelenteilen, der Vernunft, dem Mut und dem Begehren (voüs, 6un6s, ETriSunriTiKÖv), entsprechen die drei Stände der philosophischen Regenten, der Wächter, der 35 ) I . v. Echtheit O . u. Stuttgart " ) H . J. " ) H . J.
Loewenclau, Der p l a t . Menexenos. Stuttgart 1961. Gegen die Gigon in: Piaton, Fruhd'ialoge. U b e r t r . von R. R u f e n e r . Züridi 1960, C I I . K r a m e r a. a. O . 488 f. K r a m e r a. a. O . 497 ff.
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Bauern und Gewerbetreibenden, und diesen wieder die drei Tugenden der Weisheit, der Tapferkeit und der Mäßigung. Die Gerechtigkeit wird als diejenige Tugend sichtbar, die in der Einzelseele das richtige Verhältnis der Seelenteile bestimmt und im Staat jedem Stand seinen Platz anweist. Für die beiden obersten Stände, die sich ganz dem Dienst des Staates widmen sollen, sind die Familie und das Privateigentum aufgehoben. Die Erziehung ihrer Kinder übernimmt der Staat. Die Begabtesten werden nach einem langen vorbereitenden Ausbildungsgang im 50. Lebensjahr zur Schau des Seinsprinzips, der Idee des Guten, geführt, um dann als Herrscher den Staat mit dem Wissen um das vollkommen Gute regieren zu können. Die anderen Staatsformen, Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis, sind in absteigender Linie Entartungen des idealen Staates. Sie werden im 8. und 9. Buch einer ausführlichen Kritik unterzogen. Das 10. Buch verbannt die Dichtung (Homer und die Tragödie) aus dem vollkommenen Staat, da sie nur Nachahmung der die Ideen ihrerseits nachahmenden realen Gegenstände und deshalb zur Erziehung ungeeignet sei. Am Schluß dieses Buches enthüllt der dem Pamphylier Er in den Mund gelegte Mythos vom Schicksal der Seelen den metaphysischen Hintergrund des ganzen Werkes. — Der Parmenides weist auf die Probleme der dialektischen Dialoge des platonischen Spätwerkes voraus. In seinem ersten Teil wird die Ideenlehre durch den eleatischen Philosophen einer Kritik unterzogen, die sich besonders mit dem Problem der Teilhabe der Sinnendinge an den Ideen beschäftigt. Der zweite Teil gibt eine dialektische Übung, in der alle möglichen Fälle für das Verhältnis der beiden Prinzipien, des Einen und des Vielen, durchleuchtet werden 38 ). — An das Ende dieser Periode gehört der Theaitetos, der in seiner Anlage noch einmal auf die frühen aporetischen Definitionsdialoge zurückgreift. Er befaßt sich mit der Frage nach dem Wesen des Wissens und der Möglichkeit des Irrtums. 3. A l t e r s s c h r i f t e n : Der Phaidros wurde nach einer unhaltbaren antiken Angabe (Diog. Laert. 3, 38) lange als Erstlingsschrift Piatons angesehen. Sprachliche und inhaltliche Kriterien verweisen ihn jedoch in das Spätwerk. Sein Platz innerhalb dieser Gruppe ist umstritten 39 ). Er behandelt in kunstvoller Verbindung im Anschluß an eine Rede des Lysias über die Liebe die doppelte Frage nach dem Wesen des Eros und der Möglichkeit S!
) H . J . Krämer a. a. O . 261. " ) Literatur bei P . Friedlander, P i a t o n . 3. Berlin 'i960, 466.
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einer philosophischen Rhetorik. — Im Sophistes, der den Theaitetos fortsetzt, wird die diabetische Methode, die uns bereits im Gorgias begegnete, zum erstenmal schulmäßig geübt. Die Frage nach dem Wesen des Sophisten führt zu einer Untersuchung des Verhältnisses von Sein und Nichtsein, Wahrheit und Irrtum und der Beziehung der Ideen untereinander. — An den Sophistes schließt sich der Politikos, der ebenfalls mit Hilfe der Diairesis das Wesen des Staatsmannes erörtert. Diese beiden Dialoge sollten mit einem dritten Dialog Philosophos, der aber unausgeführt blieb, eine Trilogie, bzw. mit dem Theaitetos zusammen eine Tetralogie bilden (Soph. 253 E; Pol. 257 A). — Nach der Heimkehr von der dritten sizilischen Reise schrieb Piaton den Philebos, der die Frage behandelt, ob die Erkenntnis oder die Lust höchstes Ziel des menschlichen Lebens sein soll, und zu dem Ergebnis kommt, daß eine Mischung von beiden als höchstes Gut anzusprechen sei. Die Arten der Lust und der Erkenntnis werden diairetisch bestimmt, wobei die neue Forderung auftaucht, daß bei dem Fortschreiten vom Einen zum Vielen die genaue Zahl der Glieder des diabetischen Schemas eingehalten werden müsse. Im Hintergrund steht also die Lehre von den Ideenzahlen, die für die Vorlesung Ober das Gute bezeugt ist. — Der Timaios, der einzige naturwissenschaftliche Dialog Piatons, gibt in mythologischer Form eine ausführliche Weltbildungslehre. In seiner Einleitung wird das Atlantisthema berührt, das der unvollendet gebliebene Kritias weiterführt: Hier wird dem in die Vorzeit zurüdkprojizierten Idealstaat Urathen das mächtige Seereich Atlantis gegenübergestellt, das im Kampf gegen Urathen unterliegt. Auf den Kritias sollte noch ein Dialog Hermokrates folgen, so daß diese beiden Dialoge mit dem Timaios zusammen eine Trilogie gebildet hätten. — Wie sehr Piaton daran lag, seinen ethisch-politischen Gedanken in einer breiteren Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen, erkennt man daran, daß er noch im höchsten Alter in den 12 Büchern der Gesetze einen neuen, der Wirklichkeit sich mehr annähernden Staatsentwurf vorlegte, in dem er eine gemischte Verfassung empfahl. Da er sich mit diesem Werk an ein unphilosophisches Publikum wandte 40 ), tritt die Ideenund Prinzipienlehre in den Hintergrund. Es wird aber am Schluß ausdrücklich gesagt, daß die nächtliche Ratsversammlung, die den richtigen Geist der Gesetze zu bewahren hat, als Ziel und Maßstab die eine Idee, das Schöne und Gute, im Auge behalten 40 ) So H . Görgemanns, München 1960.
Beiträge
zur
Interpretation
von
Pl.s
Nomoi.
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muß (12, 965 C, 966 A). Soweit sich die stilistischen Härten und die Mängel der Komposition nidit als Eigenheiten des Altersstils erklären, mögen sie darauf zurückzuführen sein, daß das Werk von PHILIPPOS von Opus aus Piatons Nachlaß herausgegeben worden ist, der zugleich als Anhang die Epinomis hinzufügte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch ihr ein nachgelassenes Konzept Piatons zugrundeliegt. — Die Vorlesung Uber das Gute, die trotz Krämers erwägenswerter These41) doch wohl als eine späte Entwicklung der platonischen Philosophie aufgefaßt werden muß, behandelte die beiden Prinzipien, das eine Gute und die unbegrenzte Zweiheit des Groß-Kleinen und deduzierte aus ihnen die zahlenhafte Ordnung der Ideen und des Raumes und die Wertstrukturen der Sinnenwelt. Außer den Dialogen besitzen wir unter Piatons Namen noch 13 Briefe, von denen sicher ein großer Teil gefälscht ist. Nur der 6., 7. und 8. werden vielfach für echt gehalten42). Sie beziehen sich auf Hermias von Atarneus (S. 26) und die sizilischen Verhältnisse. Unter den unechten Dialogen verdienen Beachtung der Erste Alkibiades13), der besonders von den Neuplatonikern hochgeschätzt und zur Einführung in das Piatonstudium benutzt wurde; der Hippardoos, der die Gewinnsucht behandelt 44 ); der Kleitophon, der sich mit dem Staatsproblem befaßt, und der Theages, in dem der Einfluß des Sokrates auf seine Schüler ins Wunderhafte gesteigert erscheint. Die Leitung der A k a d e m i e übernahm nach Piatons Tod sein Neffe S P E U S I P P O S (347—339), der mit seiner Schrift Über die pythagoreischen Zahlen ebenso wie sein Nachfolger X E N O KRATES aus Chalkedon (339—314) in den immer stärker pythagoreisierenden Bahnen des alternden Piaton weiterging. Literarisch widitiger als die beiden letzten Vorstände der sog. alten Akademie, POLEMON und KRATES (bis etwa 2 6 8 ) , wurde der
") s. S. 16.
A u ß e r d e m v e r t r i t t d i e E c h t h e i t des 2 . B r i e f e s P . F r i e d l ä n d e r , P i a t o n . 1. B e r l i n 8 1 9 5 4 , 2 5 4 ff. G e g e n die E c h t h e i t d e r p h i l o s o p h i s c h e n D a r l e g u n g e n des 7. B r i e f e s e r h e b t a l l e r d i n g s G . M ü l l e r ( D i e P h i l o s o p h i e i m p s e u d o p l a t . 7 . B r . , A r c h i v f . P h i l o s o p h i e 3 , 1 9 4 8 , 251 ff.) E i n w ä n d e , die t e i l w e i s e schwer w i e g e n . A u d i die U n k l a r h e i t u n d W i d e r s p r ü c h l i c h k e i t d e r h i s t o r i s c h e n B e z ü g e , die E . B a e r ( D i e historischen A n g a b e n der P l a t o n b r i e f e 7 und 8 i m U r t e i l der modernen Forschung. P h i l . Diss. B e r l i n , H u m b o l d t u n i v . 1957) aufdeckt, sprechen gegen die E c h t h e i t des 7 . u n d 8. B r i e f e s . " ) F ü r die E c h t h e i t t r i t t e i n P . F r i e d l ä n d e r , D e r G r o ß e A l k i b i a d e s . M a r b u r g 1 9 2 1 / 2 3 ; d e r s . , P i a t o n . 2 . B e r l i n 2 1 9 5 7 , 213 ff. " ) F ü r m ö g l i c h e r w e i s e echt und e i n e n d e r f r ü h e s t e n D i a l o g e P i a t o n s h ä l t ihn P . F r i e d l ä n d e r , P i a t o n 2 , 108 ff.
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Akademiker K R A N T O R aus Soloi in Kilikien (etwa 3 3 0 — 2 7 0 ) mit seiner viel gelesenen Schrift Über das Leid (flspl nevöous), die in der Gattung der antiken Trostschriften eine hervorragende Stellung einnahm und u. a. von Cicero und dem Verfasser der Plutarch fälschlich zugeschriebenen Trostschrift an Apollonios benutzt wurde. Außerdem schrieb Krantor den ersten Kommentar zu Piatons Timaios. So wenig man sich die platonische Akademie als eine Organisation für wissenschaftliche Einzelforschung vorstellen darf (trotz der Schilderung des Komikers Epikrates bei Ath. 2, 59 D ff.), so fanden doch neben der Dialektik, Ethik und Metaphysik auch Mathematik und Astronomie in ihr eifrige Pflege. Wichtige Anregungen verdankte und gab diesen Studien E U D O X O S von Knidos (etwa 395—342/4145)), der Neubegründer dei Mathematik, auf den das geometrische Lehrbuch des Eukleides großenteils zurückzugehen scheint und dessen astronomische Lehren Aratos in seinem Gedicht über Himmelserscheinungen benutzte. Schüler Piatons war auch H E R A K L E I D E S P O N T I K O S (etwa 3 9 0 bis 310). Er soll seinen Lehrer während der dritten sizilischen Reise als Schulhaupt vertreten haben. Außerdem hatte er zeitweise enge Beziehungen zu Aristoteles und wirkte mit seiner vielseitigen Schriftstellerei anregend auf den Peripatos. Er verfaßte zahlreiche Werke über philosophische und naturwissenschaftliche Fragen, viele davon hatten die Form dichterisch ausgeschmückter Dialoge. Die lange herrschende Ansicht, daß Herakleides in dem Dialog Uber die Vorgänge am Himmel als erster das heliozentrische System gelehrt hätte, ist durch F. WEHRU48) erschüttert worden. A r i s t o t e l e s . Piatons bedeutendster und zugleich selbständigster Schüler war Aristoteles aus Stageiros auf der Halbinsel Chalkidike (384/83—322/21). Von seinem Vater Nikomachos, der Leibarzt des Königs Amyntas I I I . von Makedonien gewesen ist, hat er vielleicht das Interesse für naturwissenschaftliche Studien geerbt. Mit siebzehn Jahren kam er nach Athen und war hier zwei Jahrzehnte lang (368/67—348/47) Schüler des alternden Piaton. Im Kreise der Akademie gewann außerdem Eudoxos von Knidos ent" ) Vgl. P'h. Merlan, Studies in Epicurus and' Aristotle. Wiesbaden I960, 98 ff. " ) Die Sdiule des Aristoteles. 7 : Herakleides Pontikos. Basel 1953, 94 ff. zu Fr. 104—117.
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scheidenden Einfluß auf seine philosophische Entwicklung 47 ). Überhaupt muß man annehmen, daß Aristoteles trotz aufrichtiger Verehrung für seinen Lehrer Piaton schon früh kritische Zurückhaltung gegenüber Teilen der platonischen Philosophie übte und so zu einem Platoniker eigener Art wurde. Die Ideenlehre jedenfalls hat er wahrscheinlich niemals als eigene Uberzeugung vertreten 48 ). Als nach Piatons Tod Speusippos zum Schulhaupt gewählt wurde, begaben sich Aristoteles und Xenokrates, über diese Wahl enttäuscht, nach Assos in der Troas, das Hermias, der Herrscher von Atarneus, bereits vorher aus Dankbarkeit für politischen R a t den Piatonschülern Erastos und Koriskos zum Geschenk gemacht hatte. So bildete sich hier eine Tochterniederlassung der Akademie. In Assos waren auch Kallisthenes und Theophrast Schüler des Aristoteles. Außerdem trat Aristoteles hier in enge Verbindung mit Hermias. Er vermählte sich mit dessen Nichte Pythias und verteidigte in einem leidenschaftlichen Hymnos sein Andenken, als Artaxerxes III. Hermias wegen geheimer Konspiration mit Philipp von Makedonien hatte hinrichten lassen. Nach dreijährigem Aufenthalt in Assos siedelte sich Aristoteles 345/44 zusammen mit Theophrast in dessen Heimatstadt Mytilene an, blieb dort zwei Jahre und übernahm dann 343/42 auf Wunsch König Philipps die Erziehung des Thronerben Alexander in Makedonien. Auch hierhin folgte ihm Theophrast. Für diese Berufung mögen die alten Beziehungen, die Aristoteles durch die einstige Tätigkeit seines Vaters zum makedonischen Hof hatte, und außerdem neue Verbindungen, die sich durch geheime politische Abmachungen seines Schwiegervaters Hermias mit Philipp ergaben, ausVgl 1 . W . S d i a d e w a l d t , E u d o x o s v o n K n i d o s und die Lehre v o m unbewegten Beweger. S a t u r a . Festsdirift f ü r O . Weinrcidi. B a d e n - B a d e n 1952, 103 f f . ; wiederaDgedr. i n : D e r s . , Helllas und H e s p e r i e n . Z ü r i d i u. Stuttgart 1960, 451 ff. " ) V g l . I . D ü r i n g , Problems in A . ' s Protrepticus. E r a n o s 52, 1954, 1 3 9 f f . ; d e r s . , A . the scholär. Commentationes in honorem E . Lin'komies (Arctos N . S . 1', 1954), 65; ders., A . o n ultimate principles f r o m nature and r e a l i t y : Protrepticus f r . 13. I n : A . and Plato in the m i d - f o u r t h Century. Göteborg i 9 6 0 , 3 5 f f . ; ders., A . ' s Protrepticus. G ö t e b o r g 1961', 283 f . ; R . S t a r k , Aristotelesstudien. München 1954, 101; G . M ü l l e r , Probleme der arist. Eudaimonielehre. M u s . H e l v . 17, 1960, 131 ff.
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schlaggebend gewesen sein. Aristoteles weckte in Alexander die Bewunderung für die griechische Kultur und den Sinn für wissenschaftliche Forschung. Damals mag die verlorene Schrift Über das Königtum entstanden sein, eine andere Alexander oder über Kolonisation richtete er an den König nach der Eroberung Persiens. Aber seine politischen Überzeugungen haben auf Alexander keinen Einfluß geübt; denn Aristoteles blieb immer der Idee des griechischen Stadtstaates verhaftet, während Alexander ein völkerverbindendes Weltreich zu schaffen suchte. Später trat auch eine persönliche Entfremdung zwischen dem Philosophen und dem König ein; denn Alexander ließ 327 Kallisthenes, den Großneffen und Schüler des Aristoteles, der ihn auf seinen Feldzügen als Geschichtsschreiber begleitete, nach Verweigerung der Proskynesis als angeblichen Mitwisser der Pagenverschwörung hinrichten. Nur zwei oder drei Jahre ist Aristoteles Prinzenerzieher gewesen, er hielt sich aber bis 335/34 in Makedonien auf. Wir wissen aus dieser Zeit so gut wie nichts von ihm. Sicher ist aber, daß er auch hier gemeinsam mit Theophrast Studien zur Tier- und Pflanzenbiologie fortsetzte, die sie bereits in Assos und Mytilene begonnen hatten. Nach Alexanders Thronbesteigung kehrte Aristoteles dann nach Athen zurück und gründete hier in dem Gymnasium Lykeion eine eigene Schule, die nach ihrer Wandelhalle (irephraTos) die der Peripatetiker genannt wurde. Bei der Leitung dieser Schule erwies er sich als großartiger Organisator wissenschaftlicher Arbeit. Obwohl ihn Athen durch Verleihung der Proxenie geehrt hatte, wurde er nach Alexanders Tod auf Anstiften der antimakedonischen Partei mit einer Asebieklage bedroht, weil sein Hymnos auf Hermias die Profanierung eines Götterliedes sei. So flüchtete er 322/21 nach Chalkis auf Euboia, um, wie er sagte, den Athenern nicht Gelegenheit zu geben, sich zum zweitenmal an der Philosophie zu versündigen. Hier starb er wenige Monate später an einem Magenleiden im Alter von 62 Jahren. Raffael hat auf seiner „Schule von Athen" in der Stanza
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della Segnatura des Vatikans Aristoteles und Piaton als ebenbürtige Zentralfiguren nebeneinandergestellt. Piaton weist mit der Rechten in den Himmel, zum überirdischen Ort der Ideen, Aristoteles dagegen zeigt in die hiesige Welt hinein. Dieses Bild symbolisiert den grundlegenden Unterschied der platonischen und aristotelischen Philosophie in der Wertung der wahrnehmbaren Erscheinungen. Für Piaton ist die Sinnenwelt Schein, Wertigkeit und Wesenhaftigkeit besitzt für ihn nur die Welt der Ideen. Aristoteles dagegen sieht in den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung die Realität schlechthin. Deshalb ist es ihm methodisches Gebot, die Erscheinungen zu respektieren und bei der Spekulation über das Unsichtbare immer vom Sinnfälligen auszugehen 49 ). So steht Aristoteles der N a t u r und ihrer empirischen Erforschung ganz anders gegenüber als Piaton. Die ionische Medizin und Naturphilosophie, besonders die Philosophie Demokrits, übten eine starke Anziehungskraft auf ihn aus. Auch von der Sophistik lassen sich unmittelbare Linien an Piaton vorbei zu Aristoteles ziehen, obwohl er die sophistische Eristik mit ihren Trugschlüssen entschieden ablehnte. Mit der Theorie der Rhetorik jedenfalls hat er sich eingehend befaßt, und mit seiner Theorie der Tragödie knüpft er an die Ästhetik des Gorgias (Hei. 8f.; vgl. Bd. 1, S. 122) an. Philosophische Systematik und wissenschaftliche Einzelforschung ergänzen und befruchten sich bei Aristoteles gegenseitig aufs glücklichste: Neben der erhaltenen Rhetorik gab es von ihm eine verlorene Sammlung rhetorischer Theorien (Suvaycoyf) Teyy&v), neben der Poetik die Didaskalien und andere literargeschichtliche Studien und neben der Politik eine großartige Sammlung von 158 griechischen Verfassungen, von der das 1. Buch, die Staatsverfassung der Athener, 1890 fast vollständig auf einem Papyrus wiedergefunden wurde. Man könnte nun denken, daß jeweils die Materialsammlung der philosophischen Durchdringung des betreffenden Gebietes vorangegangen sei, aber die BeVgl. O . Gigon: Aristoteles, W e r k e . 1': Einführungssdiriften. Zuridi u. S t u t t g a r t 1961, 55 ff., 62 f .
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schäftigung mit der komplizierten Entstehungsgeschichte der aristotelischen Hauptwerke zeigt uns, daß ebensooft die begriffliche Betrachtung die Sammlung von empirischen Fakten angeregt hat, zumal sich Aristoteles zu dieser Sammeltätigkeit der Hilfe seiner Schüler bedienen mußte, die ihm in größerem Umfang erst im Peripatos in Athen zur Verfügung stand 50 ). Aristoteles vereinigt unter dem Primat der Philosophie den ganzen Umfang der wissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit. Die Theorien der früheren Philosophen faßt er als Vorstufen zu seiner eigenen Philosophie auf. So gibt er im l.Buch der Metaphysik einen Überblick über die Lehren der früheren Denker, ehe er seine eigene Anschauung darlegt. Er ist der Ansicht, daß sich die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte organisch entwickelt hat und nun im System des Peripatos ihre wesensmäßige Vollendung und damit einen gewissen Abschluß erreicht (Fr. 53 R. bei Cic. Tusc. I I I 28, 69). Auch Aristoteles ist Dualist. Stoff und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit, Gott und Welt, Leib und Geist: das sind die Gegensatzpaare, die seine Philosophie beherrschen. Aber von einem selbständigen Reich der Formen, das allein wirklich und durch eine Kluft, den Chorismos, von der Sinnenwelt getrennt ist, weiß er nichts. Vielmehr lehnt er Piatons Ideenlehre in scharfer Kritik ab (Met. 1, 6; Nik. Eth. 1, 4). Aus den Ideen sind bei ihm in den Stoff eingebettete Formkräfte, Entelechien, geworden. Dadurch ist der platonische Chorismos zwischen Werden und Sein überwunden. Werden ist bei Aristoteles Entfaltung der stofflichen Möglichkeit zur geformten Wirklichkeit. Verwirklichung des Wesens bedeutet zugleich Erfüllung des Zweckes. Gott und die Natur machen nichts ohne Zweck (Vom Himmel 1, 4, 271 a 33). Ein Rest platonischer Anschauung ist der Gedanke, daß der Stoff die Natur mitunter hindert, ihre Zwecke vollständig zu erreichen. Hier setzt dann die Theorie der Kunst ein, deren Aufgabe es ist, das in der «•) Vgl. W . Jaeger, Aristoteles. Berlin 1923 (»1955), 346 ff.
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Natur Unvollkommene zur idealen Vollendung zu führen. Die Teleologie bildet also den beherrschenden Gesichtspunkt der aristotelischen Naturbetrachtung. Jedes Werden ist Bewegung, jede Bewegung hat ihre Ursache und ihren Zweck. Jede Ursache ist ihrerseits bewirkt, jeder Zweck seinerseits bedingt. Aber diese Reihe setzt sich nicht ins Unendliche fort, da Aristoteles den regressus in infinitum nicht zuläßt. Es gibt eine erste Ursache, die alles Nachfolgende bewirkt: Das ist Gott, der unbewegte Beweger, das Ziel alles Strebens. Er ist reine Form und Wirklichkeit, seine Tätigkeit besteht in dem sich selbst denkenden Denken. Er wirkt auf den Kosmos nicht handelnd, sondern durch die Vorbildlichkeit seiner Existenz ein. Man kann allerdings fragen, ob uns in diesem Verhältnis zwischen Gott und Welt nidit doch wieder der platonische Chorismos begegnet 51 ). Platonisches Erbe ist auch die Lehre von dem präexistenten und unsterblichen Geist, der von außen in den Embryo eintritt und den Menschen beim Tode wieder verläßt. Wie diese Geistseele mit der übrigen Seele, die als Entelechie des Körpers vergänglich ist, eine Einheit bildet, bleibt bei Aristoteles offen. In der Ethik zeigt sich der aristotelische Piatonismus besonders darin, daß unter den möglichen Lebensformen das der Erkenntnis gewidmete und auf die Schau des Göttlichen gerichtete Leben den höchsten Platz einnimmt. Platonischer Herkunft ist schließlich auch die Norm der praktischen Ethik: Tugend als Mitte zwischen Überschuß und Mangel 52 ). Allerdings wird diese Norm nicht mehr unmittelbar auf ein transzendentes Gut bezogen. Der Blick wendet sich der eingehenderen Analyse und Charakteristik typischer Verhaltensweisen zu, die Theophrast in seinen Charakteren fortsetzt. In der Politik vermeidet der Wirklichkeitssinn des Aristoteles die Radikalität der platonischen Staatsentwürfe. Merkwürdig ist es allerdings, daß der Erzieher des königlichen Welteroberers in den Vorstellungen des antiken Stadtstaates befangen 51 ) 5!)
V g l . H . Langerbedi, Gnomon 26, 1954, 7. Vgl. H . J . K r a m e r ( s . S . 13, A n m . 16), 346 ff., 566 f.
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bleibt. Die staatliche Ordnung wird in der menschlichen Natur begründet: Der Mensch ist ein gemeinschaftsbildendes Wesen (£ov TTOAITIKÖV; Pol. 1 , 2 , 1253 a 3 ) . Aristoteles blieb in den meisten Wissenschaften nicht nur für seine Schule, die seine Grundlehren kaum mehr weiterbildete und sich auf die Erklärung seiner Schriften und den Ausbau einzelner Wissensgebiete beschränkte, sondern auch für das ganze spätere Altertum die höchste wissenschaftliche Autorität. Vom 6. Jahrhundert an erkannte ihn auch die christliche Kirche mehr und mehr als wissenschaftlich maßgebend an. So wurde er, teilweise durch Vermittlung neuplatonischer Erklärer, der Vater der mittelalterlichen Scholastik. In der Neuzeit hat Leibniz, der sich als einziger Philosoph an Vielseitigkeit und Umfang des Wissens mit Aristoteles messen kann, seine eigene Philosophie nur als eine zeitgemäße Reform der aristotelischen bezeichnet. Noch im 19. Jahrhundert sah man Aristoteles allgemein als Vertreter eines geschlossenen Systems an. Der englische Philosoph TH. CASE53) bemühte sich als erster um die Chronologie seiner Werke und um ein Bild seiner geistigen Entwicklung. Gleichzeitig entdeckte D. W. THOMPSON54), daß die biologischen Schriften, besonders die Tierkunde, viele Ortsnamen Makedoniens und der kleinasiatischen Küste enthalten, und wies sie deshalb insgesamt — hierin ging er wahrscheinlich zu weit55) — der mittleren Schaffensperiode des Aristoteles zu. Grundlegend für die weitere Forschung wurden dann die Studien W. J A E G E R S 5 6 ) . Er sah das charakteristische Moment der geistigen Entwicklung des Aristoteles in der wachsenden Entfernung von der Ideenmetaphysik Piatons und der zunehmenden Hinwendung zur Empirie: Aristoteles sei während des ersten Aufenthaltes in Athen reiner Platoniker gewesen, habe dann während der Wanderjahre in Assos, Mytilene und Makedonien die Ideenlehre aufgegeben und die spekulativen Grundlagen seines Systems geschaffen und " ) A r t . Aristotle. The Encyclopaedia Britannica. 2. London » 1 9 1 0 , 501 ff. " ) Aristotle, W o r k s . 4 : H i s t o n a animalium. O x f o r d 1910, V I I . 5 5 ) Vgl. F . Nuyens, L'cvokition de la Psychologie d ' A . Louvain 1948, 148 ff.; W . T h e i l e r : Aristoteles, W e r k e . 13: Ober die Seele. Berlin 1959, 76, Anm. 1 zu S. 75. s a ) Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des A . Berlin 191'2; ders., Aristoteles. Berlin 1923 ( ! 1 9 5 5 ) .
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sich schließlich im Peripatos als Wissenschaftsorganisator ganz der naturwissenschaftlichen und historischen Einzelforschung gewidmet. Dieses Aristotelesbild ist heute in wesentlichen Teilen erschüttert. Im Rückgriff auf Thompsons Entdeckung machte die Kritik 57 ) geltend, daß Aristoteles nicht erst in seiner Spätzeit naturwissenschaftliche Studien getrieben habe. Er sei weder jemals reiner Platoniker gewesen noch reiner Empiriker geworden, sondern habe zeitlebens die Wirklichkeit erforscht, indem er sie spekulativ bewältigte. Man glaubt deshalb heute nicht mehr, daß Aristoteles im Laufe seiner Entwicklung seine Grundposition völlig geändert habe, sondern rechnet eher damit, daß er seinen geistigen Horizont stetig erweiterte, seinen Begriffsapparat immer mehr differenzierte und sich mit einem Problem unter verschiedenen Aspekten wiederholt beschäftigte. Über die schriftstellerische Art und Kunst des Aristoteles können wir kaum urteilen, da die von ihm literarisch geformten und publizierten e x o t e r i s c h e n S c h r i f t e n fast völlig verlorengegangen sind. Es handelt sich um 19 Werke, die wohl alle mit einer Ausnahme Dialoge waren. Ihre Titel stehen am Anfang der bei Diogenes Laertios (5,22 ff.) erhaltenen Schriftenliste, die aus hellenistischer Zeit stammt und auf Ariston von Keos 58 ) oder Hermippos54) zurückgeht. Man folgte vielfach W. JAEGER und schrieb — abgesehen von der Schrift Alexander oder Uber Kolonisation — alle Dialoge der Frühzeit des Aristoteles zu. O. GiGON60) machte dagegen mit Recht auf die Möglichkeit aufmerksam, daß sie sich über sein ganzes Leben verteilen. Nur die wichtigsten können hier genannt werden: Der Eudemos handelte über die Unsterblichkeit der Seele und konkurrierte so mit dem platonischen Phaidon. — Die wesentlichsten Fragmente der an den Fürsten Themison gerichteten Mahnschrift zur Philosophie sind uns durch den Protreptikos des Iamblichos erhalten. Sie war als einziges exoterisches Werk sehr wahrscheinlich kein Dialog, sondern eine Werberede nach sophistischem Vorbild, aber in " ) Besonders: F . D i r l m e i e r , Aristoteles. Jahrbuch für das Bistum M a i n z 5 , 1950, 1'61 ff.; I . Düring, A . the Scholar. Commentationes in honorem E . Linkomies (Arctos N . S . 1, 1954), 61 £f. ; R . S t a r k , Aristotelesstudien. München 1954. 6 8 ) So P . M o r a u x , Les Iistes anciennes des ouvrages d ' A . Louvain 1951, 243 ff. w) So zuletzt I . Düring, Ariston or Hermippus? Classica et Mediaevalia 17, 1956, 11- ff. Aristoteles, W e r k e . 1: Einführungssdiriften. Züridi u. Stuttgart 1961, 48 f .
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spezifisch aristotelischer Form 61 ). JAEGERS These, daß Aristoteles in ihr noch die platonische Ideenlehre vertreten habe, kann heute als widerlegt gelten 62 ). — In den 3 Büchern des Dialogs Über die Philosophie gab Aristoteles einen Oberblick über die Philosophiegeschichte, möglicherweise eine Kritik der platonischen Ideenlehre und eine Darlegung seiner eigenen Kosmologie und Theologie. Die f ü r den Gebrauch der Schule bestimmten, von Aristoteles selbst nicht publizierten e s o t e r i s c h e n S c h r i f t e n umfaßten nach der Angabe des hellenistischen Verzeichnisses 124 Titel 63 ). Es handelte sich ursprünglich um nachgelassene Aufzeichnungen und Entwürfe, die wahrscheinlich im Kreise Theophrasts zu größeren Einheiten geformt und einige Generationen später mit den Dialogen zu der von dem hellenistischen Verzeichnis gespiegelten Ausgabe zusammengefaßt wurden. Die esoterischen Werke haben also der Öffentlichkeit auch während der 200 Jahre zur Verfügung gestanden, in denen die Originalmanuskripte nach einem antiken Bericht im Keller eines Hauses in Skepsis verborgen waren. Zur Zeit Ciceros ordnete und redigierte dann der Peripatetiker Andronikos die ihm vorliegende Textmasse erneut und stellte sie unter Auslassung der Dialoge zu derjenigen Ausgabe zusammen, die letzten Endes unserem Aristotelestext zugrundeliegt. Seine Entstehungsgeschichte und seine Beschaffenheit zeigen uns deutlich, daß die erhaltenen Werke vielfach keine ursprünglichen Einheiten bilden, sondern aus verschiedenen kürzeren Abhandlungen und Notizen über das gleiche Thema zusammengesetzt sind. Die logischen Schriften wurden von den späteren Peripatetikern unter dem Namen Organon zusammengefaßt und an die Spitze der Werke gestellt. Es sind: 1. die frühen Kategorien, die allerdings nur verstümmelt und entstellt auf uns gekommen sind; 2. die Schrift Über Satz und Urteil (TTepl tpuT]veias), deren Echtheit bereits in der Antike umstritten war; 3. die beiden Analytiken, in denen die Syllogistik behandelt wird; 4. die vor den Analytiken entstandene Topik, die die Lehre von den Elementen der Wahrscheinlichkeitsschlüsse enthält; 5. die eng mit der Topik zusammengehörenden Sophistischen Widerlegungen, eine Analyse sophistischer Trugschlüsse. Die Metaphysik (13 bzw. 14 B.), welche die Lehre von den Prinzipien (TTpcoT-q IKT| íí