Geschichte der europäischen Integration bis 1989 3515113037, 9783515113038

Die europäische Integrationsgeschichte ist vielfältiger geworden und hat ihre normative Prägung verloren. Diese Entwickl

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EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG. HISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION
1. ANLÄUFE ZUR EUROPÄISCHEN INTEGRATION 1929/30–1950
Friedrich Kießling
Der Briand-Plan von 1929/30. Europa als Ordnungsvorstellung
in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20.
Jahrhundert
Quelle: Memorandum über die Organisation einer europäischen
Bundesordnung (1. Mai 1930)
Michael Wildt
Völkische Neuordnung Europas
Quelle: Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung
deutschen Volkstums (7. Oktober 1939)
Ernst Langthaler
Agrar-Europa unter nationalsozialistischen Vorzeichen (1933–1945)
Quelle: Herbert Backe: Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum (1942)
Volker Berghahn
August 1941. The Atlantic Charter and the Future of Europe
Quelle: “Freedom from fear and want“. The Atlantic Charter (1941)
Gerhard Altmann
Churchills Vision der Vereinigten Staaten von Europa
Quelle: The Tragedy of Europe. Winston Churchills Rede an
der Universität Zürich (19. September 1946)
Wilfried Loth
Léon Blum und das Europa der Dritten Kraft
Quelle: Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948)
Axel Schildt
Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950
Quellen: „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“
Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950
2. VON DER MONTANUNION ZUM HAAGER GIPFEL 1950–1969
Clemens A. Wurm
Der Schuman-Plan, Frankreich und Europa
Quelle: Regierungserklärung Robert Schumans vom
9. Mai 1950
Guido Thiemeyer
Das Demokratiedefizit der Europäischen Union.
Geschichtswissenschaftliche Perspektiven
Quelle: Memorandum über die Landwirtschaftsintegration
(18. Juni 1953)
Christian Henrich-Franke
Eurovision. Europäischer Fernsehprogrammaustausch in seinen
Anfangsjahren
Quelle: „EUROPA-PROGRAMM“: Vogelzwitschern aus
Versailles (1954)
Anne Lammers
Daten für das „Europa der Sechs“. Sozialstatistiken in den
Europäischen Gemeinschaften der 1950er- und 1960er-Jahre
Quellen: Die Erfassung des Lebensniveaus in den Europäischen
Gemeinschaften (1956/57 und 1963/64)
Daniel Speich Chassé
Umstrittene Souveränität. Die Assoziationspolitik der EWG
mit Afrika
Quelle: Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the
Occasion of the Signature of the Convention of Association
with the African States and Madagascar (20 July 1963)
Wolfram Kaiser
Das Europa der „Äußeren Sieben“. Die „Surcharge“-Krise der
europäischen Freihandelsgemienschaft im Herbst 1964
Quelle: European Free Trade Association, Sitzung des
Ministerrats (19.–20. November 1964)
Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel
Auf der Suche nach dem Europäer. Wissenschaftliche
Konstruktionen des Homo Europaeus
Quelle: Brockhaus Enzyklopädie, Artikel „Europide, europider
Rassenkreis“ (1968)
Jan-Henrik Meyer
Der Haager Gipfel von 1969. Von den Krisen der Europäischen
Gemeinschaften der 1960er-Jahre zum europäischen politischen
System
Quelle: Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969)
3. VON DER KRISE DER 1970ER-JAHRE BIS ZUM FALL DER MAUER 1989
Manuel Müller
Diplomatie vs. Parlamentarismus. Altiero Spinellis Ablehung
des Genscher-Colombo-Plans 1981
Quelle: Rede von Altiere Spinelli zur Genscher/Colombo-Initiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1982)
Steffi Marung
György Konráds Mein Traum von Europa. Die Mitteleuropadiskussion
der 1980er-Jahre
Quelle: Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon
(1892)
Katrin Jordan
„Die Wolke, die an der Grenze haltmachte“. Der Reaktorunfall
von Tschernobyl 1986 im französischen Fernsehen
Quelle: Verlauf der radioaktiven Wolke über Europa. Ausschnitt
aus den 20 Uhr-Nachrichten des französischen Fernsehsenders
Antenne 2 (30. April 1986)
Joaquín Abellán
Der Beitritt Spaniens zur europäischen Gemeinschaft in den
1980er-Jahren, oder: Warum die Spanier für Europa votierten
Quelle: Rede des Regierungspräsidenten Felibe González anlässlich
des spanischen EG-Beitritts (12. Juni 1985)
Christian Domnitz
Das Europa der Bürgerrechtler. Die Ost-West-Friedensbewegung
engagierte sich für eine Friedensverfassung im Rahmen der KSZE
Quelle: Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog:
Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen
(3. November 1986)
Christopher Kopper
Die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und die
Einheitliche Europäische Akte von 1986
Quelle: Auszüge aus der Einheitlichen Europäischen Akte
(1986)
Dieter Lindenlaub
Vom Wechselkursverband zur gemeinsamen Währung. Stufen und
Probleme der europäischen Währungsintegration seit dem Zerfall
des Bretton Woods-Systems fester Wechselkurse Anfang
der 1970er-Jahre
Quelle: Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion.
Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992)
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Geschichte der europäischen Integration bis 1989
 3515113037, 9783515113038

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Rüdiger Hohls / Hartmut Kaelble (Hg.)

Geschichte der euro­päischen Integration ­bis 1989

1 Geschichte Franz Steiner Verlag

Europäische Geschichte in Quellen und Essays

Rüdiger Hohls / Hartmut Kaelble (Hg.) Geschichte der europäischen Integration bis 1989

europäische geschichte in quellen und essays herausgegeben von Martin Baumeister, Rom Ewald Frie, Tübingen Madeleine Herren, Heidelberg Rüdiger Hohls, Berlin Konrad Jarausch, Chapel Hill Hartmut Kaelble, Berlin Gabriele Metzler, Berlin Matthias Middell, Leipzig Maren Möhring, Leipzig Alexander Nützenadel, Berlin Iris Schröder, Erfurt Hannes Siegrist, Leipzig Stefan Troebst, Leipzig Jakob Vogel, Paris Michael Wildt, Berlin

band 1

Rüdiger Hohls / Hartmut Kaelble (Hg.)

Geschichte der europäischen Integration bis 1989

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Bundesarchiv, Bild B 145 Bild-00017355 / Fotograf: Ludwig Wegmann Am 19. und 20. Oktober 1972 trafen sich in Paris auf Einladung des französischen Staatspräsidenten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der erweiterten Europäischen Gemeinschaften zu ihrem ersten Gipfeltreffen. Das Foto entstand während der Plenarsitzung am 19. Oktober 1972 und zeigt u.a. Bundeskanzler Willy Brandt (3.v.r.), den Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen, Helmut Schmidt (4.v.r.) und Frankreichs Präsidenten und Gastgeber Georges Pompidou (7.v.l.). Die Staats- und Regierungschefs legen neue Aufgabenfelder der Europäischen Gemeinschaften in der Regional-, Umwelt-, Sozial-, Energie- und Industriepolitik fest und sprechen sich erneut für 1980 als Frist für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion aus, festgehalten im Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Oktober 1972, Nr. 10, S. 15–24.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11303-8 (Print) ISBN 978-3-515-11306-9 (E-Book)

EUROPÄISCHE GESCHICHTE IN QUELLEN UND ESSAYS EDITORIAL Die Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays behandelt die Geschichte Europas und der Europäer vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhand origineller Text- und Bilddokumente, die mithilfe eines begleitenden Forschungsessays in die historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Historiker und historisch arbeitende Sozial- und Kulturwissenschaftler zeigen, warum und in welcher Hinsicht die von ihnen untersuchten Ereignisse, Strukturen, Prozesse, Vorstellungen und Ausdrucksformen für den Verlauf der Geschichte Europas, das historische Bewusstsein der Europäer und die gegenwärtigen Herausforderungen bedeutsam sind. Die wechselvolle Geschichte der Konstruktion Europas, der Wandel der Selbst- und Fremdbilder der Europäer und schließlich der europäischen Integration wird in die Geschichte der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und Entwicklungen eingebettet. Große Strukturen, fundamentale Konflikte, alltägliche Praktiken, subjektive Erfahrungen und kollektive Erinnerungen werden vergleichend, beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene analysiert. Zu den besonderen Anliegen der Reihe gehört es, die Spannung zwischen Tradition und Modernisierung und die damit einhergehende Dynamik der Verräumlichung sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Ordnungen zu begreifen und die Interdependenz von Prozessen der Europäisierung, Nationalisierung und Globalisierung zu analysieren. Jeder Band vertieft und spezifiziert das Anliegen der Reihe anhand eines besonderen Themas, einer fundamentalen Problematik oder einer besonderen Zeit. Die Quellen und Essays für die Print- und E-Book-Ausgabe stammen teilweise aus dem „Themenportal Europäische Geschichte“ (www.europa.clio-online.de) von Clio-online. Der intellektuelle Mehrwert der Themenbände besteht darin, dass inhaltlich verwandte Quellen und Essays unter einem übergreifenden Gesichtspunkt integriert, aufeinander abgestimmt, durch eine themenzentrierte und problemorientierte historisch-kritische Einleitung der Herausgeber ergänzt werden. Die Reihe richtet sich insbesondere an Dozenten und Studierende der Geschichtswissenschaften sowie der historischen Fachrichtungen und Spezialgebiete in den Kultur-, Kunst-, Sozial-, Medien-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Sie stimuliert und unterstützt die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung über die Geschichte Europas, der Europäer und des Europäischen in historischen, kultur-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Studiengängen und in den interdisziplinären Studiengängen der European und Area Studies.

INHALTSVERZEICHNIS Hartmut Kaelble und Rüdiger Hohls Einleitung. Historische Perspektiven auf die europäische Integration ....................................................................................................... 11

1. ANLÄUFE ZUR EUROPÄISCHEN INTEGRATION 1929/30–1950 Friedrich Kießling Der Briand-Plan von 1929/30. Europa als Ordnungsvorstellung in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ...................................................................................................... 27 Quelle: Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung (1. Mai 1930) .............................................................. 33 Michael Wildt Völkische Neuordnung Europas ..................................................................... 37 Quelle: Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939) ......................................................... 43 Ernst Langthaler Agrar-Europa unter nationalsozialistischen Vorzeichen (1933–1945) ........... 45 Quelle: Herbert Backe: Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum (1942) ........................................................... 51 Volker Berghahn August 1941. The Atlantic Charter and the Future of Europe ....................... 53 Quelle: “Freedom from fear and want“. The Atlantic Charter (1941) ............................................................................................................. 58 Gerhard Altmann Churchills Vision der Vereinigten Staaten von Europa .................................. 59 Quelle: The Tragedy of Europe. Winston Churchills Rede an der Universität Zürich (19. September 1946) ................................................ 64 Wilfried Loth Léon Blum und das Europa der Dritten Kraft ................................................. 67 Quelle: Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948) .......................... 71

8

Inhaltsverzeichnis

Axel Schildt Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950....................................... 73 Quellen: „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950 ....................................... 80

2. VON DER MONTANUNION ZUM HAAGER GIPFEL 1950-1969 Clemens A. Wurm Der Schuman-Plan, Frankreich und Europa.................................................... 85 Quelle: Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950 .................................................................................................... 91 Guido Thiemeyer Das Demokratiedefizit der Europäischen Union. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven ..................................................... 95 Quelle: Memorandum über die Landwirtschaftsintegration (18. Juni 1953) ............................................................................................. 102 Christian Henrich-Franke Eurovision. Europäischer Fernsehprogrammaustausch in seinen Anfangsjahren ............................................................................................... 107 Quelle: „EUROPA-PROGRAMM“: Vogelzwitschern aus Versailles (1954) ........................................................................................... 116 Anne Lammers Daten für das „Europa der Sechs“. Sozialstatistiken in den Europäischen Gemeinschaften der 1950er- und 1960er-Jahre ...................... 119 Quellen: Die Erfassung des Lebensniveaus in den Europäischen Gemeinschaften (1956/57 und 1963/64) ...................................................... 128 Daniel Speich-Chassé Umstrittene Souveränität. Die Assoziationspolitik der EWG mit Afrika ...................................................................................................... 131 Quelle: Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the Occasion of the Signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar (20 July 1963) .............................. 139 Wolfram Kaiser Das Europa der „Äußeren Sieben“. Die „Surcharge“-Krise der europäischen Freihandelsgemienschaft im Herbst 1964 ............................... 143

Inhaltsverzeichnis

9

Quelle: European Free Trade Association, Sitzung des Ministerrats (19.–20. November 1964) ........................................................ 147 Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel Auf der Suche nach dem Europäer. Wissenschaftliche Konstruktionen des Homo Europaeus........................................................... 151 Quelle: Brockhaus Enzyklopädie, Artikel „Europide, europider Rassenkreis“ (1968) ..................................................................................... 161 Jan-Henrik Meyer Der Haager Gipfel von 1969. Von den Krisen der Europäischen Gemeinschaften der 1960er-Jahre zum europäischen politischen System .......................................................................................................... 163 Quelle: Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969) ................. 172

3. VON DER KRISE DER 1970ER-JAHRE BIS ZUM FALL DER MAUER 1989 Manuel Müller Diplomatie vs. Parlamentarismus. Altiero Spinellis Ablehung des Genscher-Colombo-Plans 1981 ............................................................. 177 Quelle: Rede von Altiere Spinelli zur Genscher/ColomboInitiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1982) ............................................................................................................. 185 Steffi Marung György Konráds Mein Traum von Europa. Die Mitteleuropadiskussion der 1980er-Jahre .......................................................................... 189 Quelle: Osman Hamdi Bey über die Ausgrabungen in Sidon (1892) ............................................................................................................ 193 Katrin Jordan „Die Wolke, die an der Grenze haltmachte“. Der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 im französischen Fernsehen ..................................... 197 Quelle: Verlauf der radioaktiven Wolke über Europa. Ausschnitt aus den 20 Uhr-Nachrichten des französischen Fernsehsenders Antenne 2 (30. April 1986) .............................................................. 213 Joaquín Abellán Der Beitritt Spaniens zur europäischen Gemeinschaft in den 1980er-Jahren, oder: Warum die Spanier für Europa votierten .................... 215 Quelle: Rede des Regierungspräsidenten Felibe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (12. Juni 1985) .................................. 218

10

Inhaltsverzeichnis

Christian Domnitz Das Europa der Bürgerrechtler. Die Ost-West-Friedensbewegung engagierte sich für eine Friedensverfassung im Rahmen der KSZE ............. 221 Quelle: Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog: Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen (3. November 1986) ...................................................................................... 227 Christopher Kopper Die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und die Einheitliche Europäische Akte von 1986 ...................................................... 231 Quelle: Auszüge aus der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) ........................................................................................................... 240 Dieter Lindenlaub Vom Wechselkursverband zur gemeinsamen Währung. Stufen und Probleme der europäischen Währungsintegration seit dem Zerfall des Bretton Woods-Systems fester Wechselkurse Anfang der 1970er-Jahre ............................................................................................ 245 Quelle: Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992) .......................... 259 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 263

EINLEITUNG. HISTORISCHE PERSPEKTIVEN AUF DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION Hartmut Kaelble und Rüdiger Hohls Die Geschichte der europäischen Integration wird heute nicht mehr wie noch vor einem Vierteljahrhundert vor allem als eine Geschichte der internationalen Beziehungen in den großen politischen Entscheidungs- und Vertragsereignissen wie der Gründung der Montanunion oder der Römischen Verträge oder als Geschichte der europäischen Idee geschrieben. Sie wird auch nicht mehr so stark von einer überschaubaren, eng miteinander verflochtenen, internationalen Gruppe von Historikern geprägt. Die europäische Integrationsgeschichte ist vielfältiger geworden und hat ihre normative Prägung verloren. Sie ist zwar weiterhin stark organisiert, aber doch deutlich dezentraler geworden. Neben Treffen der etablierten Experten in der „groupe de liaison“, die ursprünglich von der Europäischen Kommission eingerichtet wurde und die Zeitschrift Journal of European Integration History herausgibt 1, veranstalten inzwischen auch Doktorandenorganisationen regelmäßige internationale Tagungen. Mit dem Ende des Kalten Krieges und den neuen Mitgliedsstaaten brachten ostmitteleuropäische und osteuropäische, aber auch nordeuropäische und alpenländische Historiker neue Sichtweisen in die Geschichte der europäischen Integration ein. Neue Themen Die jüngere Forschung behandelt mehr Themen. Sie lassen sich auch in den Essays dieses Bandes erkennen. Vor allem in sieben Themenfeldern der europäischen Integration sind in der Zwischenzeit interessante neue Arbeiten entstanden – weit mehr als im Einzelnen erwähnt werden können: 2 –

Die politische Geschichte der europäischen Integration wird in vielfältigerer Weise geschrieben, nicht mehr allein als eine Geschichte der großen Verträge und Erweiterungen, die sicher unverzichtbar und zentral ist. Mit der Etablierung der Europäischen Union wird mehr über die Geschichte einzelner europäischer Politikfelder wie die Umweltpolitik, die Entwicklungspolitik, die Sozialpolitik, die Migrationspolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik, mehr

1

Vgl. die Webseite des „European Union Liaison Committee of Historians“, URL: (16.11.2015). Vgl. als ein jüngerer Überblick über Forschungstendenzen vgl. Patel, Kiran Klaus, Europäische Integration, in: Dülffer, Jost; Loth, Wilfried (Hgg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 353–372. Vgl. zudem die Forschungsüberblicke in den am Ende der Einleitung aufgeführten Synthesen.

2

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Hartmut Kaelble / Rüdiger Hohls

über europäisches Recht und europäische Rechtsprechung gearbeitet. Darüber hinaus beschäftigt sich die Forschung zumindest ansatzweise stärker als zuvor mit den europäischen Parteien, Wahlen, Lobbyisten, Öffentlichkeiten, Meinungsumfragen und Parlamentsdebatten, mit der Europäisierung der Eliten, auch mit dem Wandel des europäischen Demokratiedefizits, der Unionsbürgerschaft, des politischen Vertrauens in die europäische Union und der Identifizierung mit der Union und Europa. Schließlich wird die politische Geschichte der europäischen Integration auch stärker im Kontext zu anderen großen Entwicklungen, des Kalten Krieges, der globalen Nord-Süd-Beziehungen oder der Globalisierung geschrieben. 3 –

Die Sozialgeschichte der europäischen Integration wurde gewichtiger. Sie befasst sich mit Konvergenzen, Divergenzen und Verflechtungen der europäischen Gesellschaften, aber auch mit dem Druck sozialer Kräfte auf europäische politische Entscheidungen vonseiten der Medien, der sozialen Bewegungen, der Interessengruppen, der Intellektuellen und Experten, mit der stärkeren Wahrnehmung der gesellschaftlichen Seite der europäischen Integration durch die europäischen Entscheider und mit der Einflussnahme der europäischen Politik auf die Gesellschaft. 4



Die Kulturgeschichte der europäischen Integration bekam ebenfalls eine neue Bedeutung, vor allem in der Geschichte der europäischen Erinnerungsorte,

3

Vgl. als Beispiele: Conway, Martin; Patel, Kiran Klaus, Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, Basingstoke u.a. 2010; Loth, Wilfried, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt am Main 2014; Wessels, Wolfgang, Das politische System der Europäischen Union, Wiesbaden 2008; Kaiser, Wolfram; Leucht, Brigitte; Gehler, Michael (Hgg.), Transnational Networks in Regional Integration: Governing Europe 1945–1983. Basingstoke u.a. 2010; Marès, Antoine ; Rey, Marie-Pierre (Hgg.), Mémoires et émotions. Au coeur de l’histoire des relations internationales, Paris 2014; Rempe, Martin, Entwicklung im Konflikt: Die EWG und der Senegal, 1957–1975, Köln u.a. 2012; Eichenhofer, Eberhard, Geschichte des Sozialstaates in Europa: Von der sozialen Frage bis zur Globalisierung, München 2007; Bitsch, Marie-Thérèse, Cinquante ans de traité de Rome 1957–2007. Regards sur la construction européenne, Stuttgart 2009; Rau, Christian; Zürn, Michael, Zur Politisierung der EU in der Krise, in: Heidenreich, Martin (Hg.), Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Wiesbaden 2014, S. 121–148; Meyer, Jan Henrik, Challenging the Atomic Community: The European Environmental Bureau and the Europeanization of Anti-Nuclear Protest, in: ders.; Kaiser, Wolfram (Hgg.), Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-Making 1958–1992, Basingstoke 2013, S. 197–220. Einige Literaturhinweise: Tomka, Béla, A Social History of Twentieth-Century Europe, London 2013; Bauerkämper, Arndt; Kaelble, Hartmut (Hgg.), Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er-Jahren. Migration – Konsum – Sozialpolitik – Repräsentationen, Stuttgart 2012; Heidenreich, Martin (Hg.), Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2014; Mau, Steffen; Verwiebe, Roland, Die Sozialstruktur Europas, Konstanz 2009; Kaiser, Wolfram; Meyer, Jan Henrik (Hgg.), Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-Making 1958–1992, Basingstoke 2013.

4

Einleitung

13

Mythen, Symbole und Rituale, aber auch in der Geschichte der europäischen Werte, die Geschichte der europäischen Kulturpolitik und der hohen Kultur, der europäischen Selbst- und Fremdbilder, der kulturellen Konstruktionen des europäischen Raums, der europäischen Grenzen und des Europäers, des europäischen Dialogs mit anderen Zivilisationen. 5 –

Die Vorgeschichte der europäischen Integration wurde anders geschrieben. Man blickte nicht nur auf die Anläufe während der späten 1940er-Jahre, also auf die Organization for European Economic Cooperation (OEEC), auf den Brüsseler Pakt, auf den Europarat, auf die Montanunion und auf ihre Vordenker im Widerstand und in der Europabewegung der Zwischenkriegszeit, sondern auch auf die anderen Wege der europäischen Integration schon im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf das napoleonische Europa, auf das europäische Mächtesystem, auf die internationalen Organisationen und bilateralen Vertragsnetzwerke, auf die lange Geschichte der europäischen Idee. 6



Man überprüfte das klassischen Erfolgsnarrativ der europäische Integration von der Schuman-Rede von 1950 bzw. der Churchill Rede 1946 über die wichtigsten Vertiefungen der europäischen Integration, die Römischen Verträge 1957, die Einheitliche Akte 1986, die drei Reformverträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza, bis zum Vertrag von Lissabon, auch die großen Erweiterungen von der ersten Norderweiterung von 1973 bis zur letzten großen Osterweiterung 2005/2007. Die Bedeutung anderer internationaler Organisationen für die europäische Integration wie die des Europarats, der ILO, der NATO, der UNO 7 und der europäischen Zweige ihrer Unterorganisatio-

5

Vgl. als Beispiele für kulturhistorische Zugänge: François, Etienne, Europäische lieux de mémoire, in: Budde, Gunilla; Conrad, Sebastian; Janz, Oliver (Hgg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 290–303; den Boer, Pim et al. (Hgg.), Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012; Passerini, Luisa, Europe in Love, Love in Europe. Imagination and Politics in Britain between the Wars, London 1999; dies. (Hg.), Identità culturale europea. Idee, sentimenti, relazione, Scandicci, Florenz 1998; Shore, Cris, Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London 2000; Frank, Robert, Cultural, Memorial and Reference Sphere, Public Sphere and European Democracy, in: Loth, Wilfried (Hg.), Experiencing Europe. 50 years of European construction 1957–2007, BadenBaden 2009, S. 152–168; Stråth, Bo (Hg.), Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel u.a. 22001; Jones, Priska, Europa in der Karikatur. Deutsche und britische Darstellungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2009; Schröder, Iris, Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870, Paderborn 2011; Greiner, Florian, Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, Göttingen 2014; Kaiser, Wolfram, Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln 2012. Vgl. etwa: Thiemeyer, Guido, Europäische Integration. Motive - Prozesse - Strukturen, Köln 2010; Drechsel, Benjamin et al. (Hgg.), Bilder von Europa. Innen-und Außenansichten von der Antike bis zur Gegenwart, Bielefeld 2010. Die Abkürzungen stehen für: ILO – International Labour Organization; NATO – North Atlantic Treaty Organization; UNO – United Nations Organization.

6 7

14

Hartmut Kaelble / Rüdiger Hohls

nen, auch der internationalen Organisationen im östlichen Europa, wurde stärker in die Geschichte der europäischen Integration hineingeschrieben. Die Geschichte der europäischen Integration wurde auch nicht mehr nur als Erfolgsgeschichte geschrieben. Die Misserfolge oder verlorenen Optionen auf den Feldern der sozialpolitischen, kulturellen und symbolischen, militärischen, währungs- und migrationspolitischen Integration wurden ebenso als Themen der Forschung angenommen wie das Scheitern von Erweiterungen, die ausgebliebenen Beitritte Norwegens, der Schweiz, Islands und die gescheiterte Assoziation etwa der Ukraine. 8 –

Auch die Aufmerksamkeit für die dunkle Seite der europäischen Integration nahm stark zu. Eine andere europäische Integration durch Krieg und durch die NS-Herrschaft, in Armeen, in Lagern, in Gefängnissen, aber auch im Exil, die Geschichte der europäischen Einheitserfahrung in Kolonialkonflikten, die uns heute fremd erscheinenden Kontexte und politischen Verbindungen der frühen Europabewegungen, die konzeptionellen und personellen Kontinuitäten zwischen Raumplanungen der Diktaturen und der europäischen Integration, auch die Geschichte der rechtsextremen und nicht demokratischen Europaideen werden eingehender untersucht. 9



Schließlich befasste sich die historische Forschung auch stärker mit den Krisen der europäischen Integration. Vor allem angesichts der Krise des französischen und niederländischen Nein 2005, der europäischen Finanz- und Schuldenkrise 2008 bis 2012, der lange schwelenden Griechenlandkrise und in Zukunft wohl auch der Flüchtlingskrise ab 2015 geriet dieses Thema stärker in den Fokus der Historiker, auch wenn in der allgemeinen Öffentlichkeit die früheren Krisen der europäischen Integration weit weniger heftig debattiert werden als die früheren Wirtschaftskrisen. Dabei sehen sich die Historiker mit der Frage konfrontiert, ob in der Geschichte der europäischen Integration das Konzept der produktiven Krise, die die europäische Integration vorantrieb, weiterhin das vielversprechendste Konzept bleibt oder ob man nach anderen Konzepten Ausschau halten muss, mit denen sich stärker auch Verluste,

8

Vgl. Patel, Kiran Klaus; Weisbrode, Kenneth (Hgg.), European Integration and the Atlantic Community in the 1980s, New York 2013; Wassenberg, Birte, Histoire du Conseil de l’Europe (1949–2009), Brüssel 2012; Kott, Sandrine, Constructing a European Social Model. The Fight for Social Insurance in the Interwar Period, in: van Daele, Jasmin et al. (Hgg.), ILO Histories. Essays on the International Labour Organisation and its Impact on the World during the 20th Century, Bern 2010, S.173–196; Stråth, Bo, Die enttäuschte Hoffnung auf das soziale Europa, in: Bauerkämper, Arndt; Kaelble, Hartmut (Hgg.), Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Migration – Konsum – Sozialpolitik – Repräsentationen, Stuttgart 2012, S. 23–42. Mit vielen weiteren Literaturhinweisen: Gosewinkel, Dieter; Schöttler, Peter; Schröder, Iris (Hgg.), Antiliberales Europa – eine andere Integrationsgeschichte, Themenheft der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen 9 (2012), H. 3.

9

Einleitung

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Sackgassen, Fehlentscheidungen und Umbrüche der europäischen Integration fassen und korrigieren lassen. 10 Man darf freilich den Impetus zu neuen Themen auch nicht überschätzen. Eine ganze Reihe der genannten Themen gehen noch nicht in die zahlreichen Synthesen zur europäischen Integration ein, die wir am Ende dieser Einleitung aufführen. Wichtige Themenfelder, wie etwa die Wirtschaftsgeschichte der europäischen Integration, bleiben eher Stiefkinder der Forschung. Nationale Forschungen zur europäischen Integration bleiben im Übrigen weiterhin erstaunlich stark gegeneinander abgeschlossen. Absichten des Bandes Dieser Band behandelt klassische und neue Themen der Geschichte der europäischen Integration über Essays und die dazugehörigen Quellen aus dem Themenportal Europäische Geschichte. 11 Er bietet aus den zahlreichen Essays dieses Portals eine Auswahl zur Geschichte der europäischen Integration bis 1989. Diese Essays werden nicht nach einem Themenplan geschrieben und lassen daher einerseits Lücken. Auch konnten nicht alle Essays zur Geschichte der europäischen Integration in diesen Band mit seinem begrenzten Umfang aufgenommen werden. Die rund zwanzig Essays wurden andererseits so ausgewählt, dass möglichst die wichtigen Ereignisse und Themenfelder zur Sprache kommen und die langen Linien der europäischen Integration angesprochen werden. Der Band enthält Essays von etablierten ebenso wie von jüngeren Historikern und möchte damit die Generationenvielfalt dieses Forschungsfeldes belegen. Trotz des internationalen Themas beschränkt sich der Band allerdings auf deutschsprachige Autoren, da eine 10 Vgl. als Beispiele: Bajon, Philip, Europapolitik „am Abgrund“. Die Krise des „leeren Stuhls“ 1965–1966, Stuttgart 2012; Gehler, Michael, From Crisis to Crisis, from Success to Success? European Integration Challenges and Opportunities in Light of Europe’s History (1918– 2009), in: ders.; Gu, Xuewu; Schimmelpfennig, Andreas (Hgg.), EU – China. Global Players in a Complex World, Hildesheim 2012, S. 45–74; Kühnhardt, Ludger (Hg.), Crises in European Integration. Challenges and Responses, 1945–2005, New York 2009; Lagrou, Pieter, La crise européenne, in: Magnette, Paul; Weyembergh, Anne (Hgg.), L’Union européenne, la fin d’une crise?, Brüssel 2008, S. 15–24; Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises, the European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001; Ludlow, Nicholas Piers (Hg.), The European Community and the Crisis of the 1960’s. Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006; Palayret, Jean-Marie; Wallace, Helen; Winand, Pascaline (Hgg.), Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crisis and the Luxemburg Compromise Forty Years on, Brüssel 2006; Schulz-Forberg, Hagen, On the Historical Origins of the EU’s Current Crisis or the Hypocritical Turn of European Integration, in: Chiti, Edoardo; Menéndez, Agustín José; Teixeira, Pedro Gustavo (Hgg.), The European Rescue of the European Union? The Existential Crisis of the European Political Project, Oslo 2012, S. 15–36; Kaelble, Hartmut, Eine beispiellose Krise? Die Krise der europäischen Integration seit 2010 im historischen Vergleich, in: Heidenreich, Martin (Hg.), Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Wiesbaden 2014, S. 31–51. 11 Vgl. Themenportal Europäische Geschichte, URL: (16.11.2015).

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Übersetzung von Essays aus anderen Sprachen zu kostenintensiv geworden wäre. Die Autoren des Bandes sind zudem fast ausschließlich Historiker, obwohl die interdisziplinäre Anbindung der Forschung über europäische Integration intensiv ist. Aber für Historiker besitzt der Bezug zur Quelle eine besondere Bedeutung. Sie sind deshalb noch am ehesten für ein Projekt mit Quellen und Essays zu gewinnen. Der Band ist in drei große Epochen eingeteilt: die Epoche der gescheiterten oder erfolgreichen Anläufe von der Zwischenkriegszeit bis vor der Montanunion; die Epoche der ersten Konsolidierung der europäischen Integration von der Montanunion 1951 bis zum besonders bedeutsamen Gipfel von Den Haag 1969; die Epoche von der Krise der 1970er-Jahre bis zur Rückkehr der Dynamik der europäischen Integration in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre. Der Band endet mit dem Fall der Mauer, der die europäische Integration grundlegend veränderte. Dabei wird als Vorteil angesehen, dass sich nicht alle Essays strikt an die Zeitgrenze von 1989 halten, sondern die behandelte Quelle durchaus in größere Zeiträume einordnen. Zum jüngsten Vierteljahrhundert der europäischen Integration ist ein weiterer Band geplant. Erste Epoche: Anläufe zur europäischen Integration 1929/30–1950 Für die erste Epoche der gescheiterten und erfolgreichen Anläufe zur europäischen Integration bis 1950 werden die meisten wichtigsten Projekte der europäischen Integration berücksichtigt. Fünf Anläufe zur europäischen Einheit werden behandelt: das deutsch-französische Projekt einer Zollunion der Regierungschefs Aristide Briand und Gustav Stresemann; das der dunklen Geschichte der europäischen Einheit zugehörende Projekt des NS-Europa; die dazu entgegengesetzte amerikanische Planung der europäischen Einheit in den frühen 1940er-Jahren; die britische Initiative von Winston Churchill in seiner berühmten Rede von 1946; die Ideen von Politikern des europäischen Dritten Wegs zwischen den beiden Supermächten und schließlich die Einstellungen von Intellektuellen zur europäischen Einheit. Für die Zukunft wünschte man sich, dass auch Essays zu Quellen über die Europaideen des Widerstands gegen das NS-Regime und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, über die OEEC und den Marshallplan und über den Europarat geschrieben werden. Der Band beginnt mit dem gescheiterten Versuch einer europäischen Zollunion unter französisch-deutscher Führung 1929. In seinem Essay über das Memorandum der französischen Regierung für eine europäische Bundesordnung 1930 stellt Friedrich Kießling diesen Plan in zwei Kontinuitäten: die Zusammenarbeit der europäischen Großmächte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und die zahlreichen Vorschläge von Intellektuellen und Schriftstellern für eine europäische Friedensordnung im 19. Jahrhundert. Er betont gleichzeitig, wie wichtig dieser gescheiterte Plan für die europäische Integration seit 1950 wurde. Danach folgen zwei Essays zu den 1940er-Jahren. Der eine Essay behandelt die dunkle Seite der europäischen Integration während der NS-Zeit. Ernst Langthaler stellt in diesem Essay über das 1942 erschienene Buch des NS-Ministers Herbert Backe

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die europäische NS-Agrarpolitik in die langen Kontinuitäten der gesamteuropäischen Regulierungen des Agrarmarktes von Planungen des 19. und frühen 20. Jahrhundert über die NS-Zeit bis zum europäischen Agrarmarkt nach 1950 heraus. Er hebt allerdings auch die abschreckenden Besonderheiten der europäischen NSAgrarmarktes hervor: die Idee der agrarischen Autarkie, gleichzeitig die Orientierung an moderner Produktivität, die Vorstellung von rassistischen Hierarchien in Europa, die Ausbeutung der anderen Länder zugunsten der Ernährung der Deutschen und der geplante Hungertod von Millionen von Bewohnern der UdSSR. Die Gegenseite, die Planung der europäischen Einheit durch die USA während des Zweiten Weltkrieges behandelt Volker Berghahn in seinem Essay über die Atlantikcharta von 1941. Er schildert ausführlich, wogegen die USA 1941 reagierten: gegen den Aufbau eines rassistischen, ausbeuterischen Imperiums unter Führung des NS-Deutschland, das 1941 den Russlandfeldzug und den Genozid an den Juden begann, gegen den Aufbau eines italienischen Imperiums in Afrika sowie auf dem Balkan und gegen den Aufbau eines japanischen Imperiums in Ostasien. Er behandelt dann das Gegenkonzept der USA und Großbritanniens, die vier Freiheiten der Atlantikcharta, die später auch die Grundlage für die europäische Integration und damit eine ausschlaggebende Kontinuität wurden. Danach folgen Essays über die Nachkriegszeit. Gerhard Altmann geht in seinem Essay über die berühmte historische Rede von Winston Churchill in Zürich 1946 einerseits auf die damals außergewöhnliche Kühnheit der Forderung Churchills nach der Einheit Europas unter französischdeutscher Führung ein. Andererseits schildert er den schwierigen Weg, den Großbritannien danach in seinen Beziehungen zur europäischen Integration ging und geht. In seinem Essay über einen Leitartikel des französischen Premiers Léon Blum 1948 zum Dritten Weg Europas, der anders als der amerikanische Kapitalismus und anders als der Kommunismus der Sowjetunion aussehen sollte, behandelt Wilfried Loth den französischen Beitrag zur europäischen Integration. Er arbeitet heraus, dass Léon Blum 1948 angesichts des beginnenden Kalten Krieges gegen die Vorherrschaft der Supermächte USA und UdSSR die Schaffung einer neuen europäischen Weltmacht durch europäische Integration auf der Grundlage einer französisch-britischen Achse forderte. Die Europadebatten der Intellektuellen in Gründungszeit der Bundesrepublik werden von Axel Schildt an Hand von Ausschnitten von Texten Emil Franzels und Arthur Koestlers behandelt. Axel Schildt unterscheidet drei damalige Europavorstellungen: Die Idee eines Europas der Dritten Kraft, scharf abgegrenzt von den USA ebenso wie von der UdSSR, die sich im weiteren Verlauf des Kalten Krieges abschwächen sollte; die Idee eines abendländischen Europas um die Zeitschrift Neues Abendland, auf Distanz zur westlichen Demokratie, mit Sympathien für die autoritären Regime in Spanien und Portugal, aber auch für ein enges Bündnis mit den USA; schließlich die damals noch schwache, später sich immer stärker durchsetzende Idee eines liberalen Europas der Demokratien, auch einer liberalisierten, eng an westliche Werte angebundenen, in Europa integrierten Bundesrepublik, wie sie um 1950 in der Zeitschrift Monat verbreitet wurde.

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Zweite Epoche: Von der Montanunion zum Haager Gipfel 1950–1969 Für die Phase der ersten Konsolidierung der europäischen Integration zwischen der Gründung der Montanunion 1951 und dem Gipfel von Den Haag 1969 werden in den Essays drei zentrale Ereignisse behandelt: die Rede von Robert Schuman von 1950, die zur Gründung der Montanunion und später zur Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) führte; der Gegenpart zur EWG, die unter britischer Führung gegründete European Free Trade Association (EFTA); der epochemachende Gipfel der Regierungschefs der sechs Mitgliedsländer in Den Haag 1969. Darüber hinaus werden fünf zentrale Themen der europäischen Integration angesprochen: die Außenbeziehungen des integrierten Europas am Beispiel der Afrikapolitik der EG; das Demokratiedefizit der europäischen Integration; die internationale Verflechtung der europäischen Medien; der Zusammenhang zwischen Konsum und europäischer Integration und schließlich die Vorstellungen der Experten von Europa. Bisher liegen zu drei anderen wichtigen Ereignissen dieser Epoche, zum Scheitern der europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954, zu den Römischen Verträgen 1957 und zur Krise des leeren Stuhls 1965/66, also zum vorübergehenden Rückzug der französischen Regierung unter de Gaulle aus den Gremien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, und zu dem darauf folgenden Luxemburger Kompromiss noch keine Essays vor. Man kann sich nur wünschen, dass sie bald geschrieben werden. Clemens Wurm behandelt ausführlich die wirtschaftlichen und politischen Interessen Frankreichs hinter dem Schuman-Plan von 1950, auch die Unterstützung der USA und die Ablehnung durch Großbritannien. Er entmythisiert den Schuman-Plan, an den der Europatag des 9. Mai erinnert, vermittelt aber auch die historische Bedeutung des Schuman-Plans, die er in der beeindruckenden Sprache, im Gestaltungswillen, in der Vision und im Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung sieht. Die Gegengründung zur Montanunion und zur der nachfolgenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 1959/60 gegründete EFTA, stellt Wolfram Kaiser in seinem Essay vor. Er stützt sich dabei auf das Protokoll des Ministerrats der EFTA vom November 1964. Er schildert einerseits die Erfolge der EFTA für den Abbau der Zölle zwischen den Mitgliedstaaten Großbritannien, den nordischen Ländern, der Schweiz, Österreich und Portugal. Andererseits lag für ihn die Schwäche der EFTA darin, dass die Führungsmacht Großbritannien sich nicht an die Regel der Organisation hielt und die EFTA keine supranationalen Institutionen besaß, die die Einhaltung der Regeln durchsetzen konnten. Die Bedeutung des Gipfels von Den Haag 1969 behandelt Jan Henrik Meyer an Hand des Kommuniqués der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (EG) in Den Haag am 1. und 2. Dezember 1969. Er arbeitet heraus, was diesen Gipfel in der langen Frist epochemachend werden ließ: der Beginn des Europäischen Rates, die größere Bedeutung des Europäischen Parlaments, die ständige Abstimmung zwischen den Außenministerien der Mitgliedsstaaten in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), den bedeutsamen, allerdings gescheiterte Versuch einer europäischen Wirtschafts-und Währungsunion, die ersten Anfänge der europäischen Sozialpoli-

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tik und der europäischen Forschungsprogramme, die erste geografische Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, auch die starke Resonanz dieses Gipfels in den europäischen Öffentlichkeiten. Die Entstehung der europäischen Außen- und Afrikapolitik behandelt Daniel Speich Chassé in seinem Essay über den Vertrag von Jaunde 1963 zwischen der EWG und achtzehn subsaharischen afrikanischen Staaten. Er sieht in diesem Vertrag die Überwindung der tiefen Spaltung der Mitglieder der EWG in der Politik gegenüber den ehemaligen afrikanischen Kolonien, die Überbrückung des tiefen Misstrauens von afrikanischen Regierungen gegenüber einer neuen, postkolonialen Vorherrschaft Europas und die Durchsetzung des damals noch neuen Konzepts der wirtschaftlichen Entwicklung als Steigerung des Lebensstandards durch Wirtschaftswachstum und Liberalisierung. Speich Chassé legt seinem Essay die Rede Walter Hallsteins, des damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, bei der Signatur des Vertrags von Jaunde zugrunde. Die historischen Ursachen für das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen behandelt Guido Thiemeyer. Er sieht die entscheidende Weichenstellung schon in der Montanunion, als im Misstrauen gegen die kurzfristigen Entscheidungsperspektive von Politikern in den nationalen Demokratien die supranationale Hohe Behörde geschaffen wurde. Den Experten in der Hohen Behörde der Montanunion traute man damals eher langfristige Entscheidungen im Sinne des europäischen Gemeinwohls zu. Als Beleg für dieses Vertrauen legt Guido Thiemeyer seinem Essay ein Memorandum des niederländischen Landwirtschaftsministeriums von 1953 zur europäischen Landwirtschaftsintegration bei. Erst in den 1980er-Jahren verfiel dieser permissive Konsensus und das Demokratiedefizit wurde zu einem politischen Problem. Die darauf folgenden Essays befassen sich mit der Sozial- und Kulturgeschichte. Die Verflechtung der europäischen Medien wird von Christian Heinrich-Franke am Fall der 1954 gegründeten Eurovision an Hand eines Artikels des Spiegels von 1954 behandelt. Heinrich-Franke schreibt der Eurovision zwar keinerlei Erfolg bei der Schaffung einer europäischen Identität zu, auf die damals manche hofften. Koproduktionen von Unterhaltungsfilmen scheiterten zudem an den unterschiedlichen nationalen Mentalitäten. Er sieht aber doch ein Ziel erreicht, das bei der Gründung im Vordergrund stand: der europäische Austausch zwischen nationalen Fernsehsendern besonders im Sport sowie Nachrichtenbereich und die Überwindung der verwirrenden technischen Unterschiede der europäischen Fernsehanstalten. In seinen Augen liegt die Bedeutung der Eurovision nicht in der Schaffung eines Europabewusstseins, sondern in der besseren Kenntnis anderer europäischer Länder. Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel untersuchen – illustriert durch einen Artikel der Brockhaus Enzyklopädie von 1968 – das europäische Selbstverständnis wie es sich in dem anthropologischen Konzept des „Europiden“ niederschlug. Sie zeigen, dass selbst in diesen harten biologischen Konzepten des „Europiden“ kulturelle Konstruktionen eine prägende Rolle spielten und aus wissenschaftspragmatischen und politischen Gründen nur begrenzt revidiert wurden. Anne Lammers behandelt in ihrem Essay den Wandel des Verständnisses von der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren. Mit zwei Statistiken des Statistischen Amts der Europäischen Gemeinschaften über

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private Haushaltsausgaben von 1960 und 1967 belegt Anne Lammers, dass die Statistiker der EWG in den 1950er-Jahren noch die nationalen Unterschiede des Konsums im Zentrum stellten. In den 1960er-Jahren dagegen wurden diese Unterschiede überlagert von dem Paradigma des wirtschaftlichen Wachstums. Daher wurden Unterschieden zwischen ärmeren und reicheren Mitgliedsländern als Fortschritte oder Rückstände der Modernisierung des privaten Konsums angesehen. Dritte Epoche: Von der Krise der 1970er-Jahre bis zum Fall der Mauer 1989 Für die darauf folgende dritte Epoche zwischen der Krise der europäischen Integration während der 1970er-Jahre und der Rückkehr der Dynamik mit dem Binnenmarkt und der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 werden wiederum einige wichtige Entscheidungen durch Essays behandelt: die Entscheidungskrise der europäischen Integration in den 1970er-Jahren am Beispiel des Scheiterns des Werner-Plans einer Wirtschafts-und Währungsunion; die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft am Beispiel des Beitritts Spaniens; der Vorschlag des Europäischen Parlaments für eine europäische Verfassung 1981; die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Auf drei zentrale Themen der europäischen Integration gehen weitere Essays ein: auf europäische soziale Bewegungen am Beispiel der Friedensbewegung; auf das Thema der europäischen Umweltdebatten am Beispiel des Atomkraftwerkunfalls von Tschernobyl und auf die Beziehungen Ostmitteleuropas zur europäischen Integration am Beispiel der Mitteleuropa-Debatte. Dieser Band ermuntert hoffentlich dazu, dass für diese Epoche zukünftig Essays zu weiteren Themenbereichen wie zur europäischen Frauenbewegung, zur europäischen Sozialpolitik, zur Einstellung der europäischen Eliten gegenüber der europäischen Integration, zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konvergenzen der Mitgliedsländer, zu den Europawahlen und zur Entstehung von europäischen Parteien, Interessenverbänden sowie politischen Netzwerken und schließlich zur Kulturpolitik der Europäischen Union und des Europarats verfasst werden. Den Werner-Plan einer europäischen Wirtschafts-und Währungsunion, ein wichtiges, gescheitertes Projekt der hochfliegenden europäischen Integrationspläne der frühen 1970er-Jahre seit der Haager Konferenz, behandelt Dieter Lindenlaub. Er geht von den Passagen des Maastricht-Vertrags 1992 zur Europäischen Zentralbank aus. Sein Essay setzte zwar bei einer Quelle nach dem hier behandelten Zeitraum an. Dieser Essay wurde aber in den Band aufgenommen, weil er einen sehr schönen, seltenen Überblick über die europäische Währungspolitik gibt und eines der wenigen Essays über die Wirtschaftsgeschichte der europäischen Integration ist. Zu den wichtigen Entscheidungen der 1980er-Jahre gehörte die Süderweiterung, die zweite große Erweiterung nach der Norderweiterung von 1973. Mit dieser Süderweiterung befasst sich Joaquín Abellàn. Er arbeitet heraus, dass der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft von allen spanischen Parteien, wenn auch mit unterschiedlichen Motivationen, getragen wurde. Für alle Parteien bedeutete der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft nicht nur eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, sondern auch

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eine Garantie für die damals noch junge spanische Demokratie und ein Ende der außenpolitischen Isolation Spaniens, sogar ein neues internationales Gewicht Spaniens und damit eine Ermutigung für den spanischen Nationalstolz. In Joaquín Abellàns Augen war allerdings das Europaverständnis der spanischen Politiker damals zu rhetorisch und zu vage. Es berücksichtigte zu wenig, wie sich die europäische Integration auf die spanische Souveränität auswirken würde. Joaquín Abellàn legt seinem Essay eine Rede des spanischen Regierungschefs Felipe González anlässlich der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages zwischen Spanien und der EG 1985 zugrunde. Zwei viel Aufsehen erregende, allerdings nicht erfolgreiche Pläne zur politischen Reform der frühen 1980er-Jahre behandelt der Essay von Manuel Müller, der auf einer Rede von Altiero Spinelli vor dem Europäischen Parlament 1981 aufbaut: Er dreht sich auf der einen Seite um den Genscher-Colombo-Plan von 1981, der vor allem den Europäischen Rat, der aus nationalen Regierungschefs bzw. Ministern besteht, zum Lenkungsorgan der Europäischen Gemeinschaft ausbauen, auch die außenpolitische Zusammenarbeit der Regierungen intensivieren, dagegen dem schwachen Europäischen Parlament nur wenig weitere Kompetenzen geben sollte. Auf der anderen Seite befasst er sich mit dem Gegenplan Spinellis zur Aufwertung des Europäischen Parlaments und zur Stärkung des supranationalen Charakters der Europäischen Gemeinschaft unter Umgehung der nationalen Regierungen. Beide Pläne entstanden vor der lähmenden wirtschaftlichen und politischen Stagnation der europäischen Integration der frühen 1980er-Jahre. Beide Pläne scheiterten, aber ohne die über sie geführten intensiven öffentlichen Debatten hätte der nächste, diesmal erfolgreiche Reformplan, die Einheitliche Europäische Akte, anders ausgesehen oder sich gar nicht durchsetzen lassen. Um sie dreht sich der Essay von Christopher Kopper. Der Essay schildert zuerst die wirtschaftliche Stagnation und den Plan des Binnenmarktes als entscheidende Auslöser für die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Es geht dann auf die Inhalte der Einheitlichen Akte ein, auf die Erweiterung des Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen im Europäischen Rates und auf die Erschließung neuer Felder für die europäische Politik, vor allem die Umweltpolitik, die Entwicklungspolitik, die Forschungspolitik und die Regionalpolitik. Schließlich behandelt der Essay die massiven Auswirkungen des Binnenmarktes und der Einheitlichen Akte auf den Alltag der Europäer. Danach folgen zwei Essays zur europäischen Geschichte der Öffentlichkeit und der sozialen Bewegungen. Katrin Jordan behandelt in ihrem Essay die Reaktion der Öffentlichkeit in Europa auf den Atomreaktorunfall in Tschernobyl 1986. Sie legt ihrem Essay das irreführende, kontroverse Bild von der radioaktiven ‘Wolke’ über Europa bei, das von dem französischen Fernsehsender Antenne 2 am 30. April 1986 gesendet wurde. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit der unzureichenden Öffentlichkeitspolitik der französischen Regierung gegenüber der Bedrohung durch die radioaktiven Wolken und vergleicht sie mit anderen westeuropäischen Regierungen. Sie arbeitet zudem die damaligen Schwächen des westeuropäischen Krisenmanagements in solchen Katastrophen und die Lehren heraus, die die Europäische Gemeinschaft, die nationalen Regierungen, vor allem die französische Regierung, und die Zivilgesellschaften aus dieser Katastrophe zogen.

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Christian Domnitz behandelt die Europavorstellungen und Ziele der europäischen Friedensbewegungen der 1980er-Jahre, die sich um die Leitbegriffe Frieden und Bürgerrechte im östlichen wie im westlichen Europa entwickelten. Sie verstanden sich als eine gemeinsame europäische Bewegung, die gegenüber der westlichen wie der östlichen Gesellschaft und Politik kritisch eingestellt war und kein supranationales Europa anstrebte. Ihr wichtigster Orientierungspunkt war die Schlussakte der Konferenz von Helsinki 1977. Sie sahen in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ihre wichtigste Appellationsinstanz, kritisierten die KSZE allerdings auch, da sie zu intransparent und zu bürgerfern entschied. Die Übernahme westlicher Institutionen im östlichen Europa nach 1989/90, die von vielen Bürgerrechtlern unterstützt wurde, stand in den Augen von Christian Domnitz allerdings nicht in der Kontinuität dieser Friedensbewegung. Er legt seinem Essay Ausschnitte aus dem Memorandum zum HelsinkiAbkommen zugrunde, das 1986 vom Europäischen Netzwerk für den Ost-WestDialog veröffentlicht wurde. Wir hoffen, mit diesem Band drei Ziele zu erreichen: eine größere Sichtbarkeit der neuen Themen der Geschichte der europäischen Integration, die in vielen Synthesen noch zu wenig berücksichtigt sind; darüber hinaus mehr Sensibilität für ein zentrales Profil des Historikerberufs, die Quelleninterpretation, durch Beispiele aus der Praxis des Interpretierens; schließlich mehr Aufmerksamkeit für das Themenportal Europäische Geschichte, in dem inzwischen von bald dreihundert Historikern Essays zu Quellen über eine große Vielfalt von Themen der europäischen Geschichte vorliegen. Berlin, im November 2015 Auswahlbibliografie 12 Bitsch, Marie-Thérèse, Histoire de la construction européenne, de 1945 à nos jours, Brüssel 2008. Blair, Alasdair, The European Union since 1945, Harlow 22010. Bossuat, Gérard, Histoire de l’Union européenne. Fondations, élargissements, avenir, Paris 2009. Bruneteau, Bernard, Histoire de l’idée européenne au premier XXe siècle-à travers les textes, Paris 2006. Brunn, Gerhard, Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 32009. Clemens, Gabriele; Reinfeldt, Alexander; Wille, Gerhard, Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008. Dinan, Desmond, Europe Recast. A History of the European Union, Boulder 22014. Dülffer, Jost, Europa im Ost-West-Konflikt. 1945–1991, München 2004. Elvert, Jürgen, Die Europäische Integration, Darmstadt 22013. Gaillard, Jean-Michel, Les Grands Jours de l’Europe. 1950–2004, Paris 2004. Gehler, Michael, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, München 22010. Gilbert, Mark, Surpassing Realism. The Politics of European Integration since 1945, Lanham 2003. 12 Die folgende Liste enthält nur Synthesen. Auf spezielle Literatur verweisen die Essays.

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Gillingham, John R., European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge 2003. Kahn, Sylvain, Histoire de la construction de l’Europe depuis 1945, Paris 2011. Knipping, Franz, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004. Laude, Bertrand, L’Europe en construction depuis 1945, Paris 2004. Loth, Wilfried, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt am Main 2014. Ders., Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 3 1996. Mittag, Jürgen, Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008. Navarette Donato, Fernández, Historia de la Unión Europea. España como estado miembro, Collado Villalba 2010. Olivi, Bino; Giacone, Allessandro, L’Europe difficile. Histoire politique de la construction européenne, Paris 22007. Réveillard, Christophe; Dreyfus, Emmanuel, Penser et construire l’Europe. Du traité de Versailles au traité de Maastricht (1919–1992), Paris 2007. Seeler, Hans-Joachim, Geschichte und Politik der europäischen Integration, Baden-Baden 2008. Stirk, Peter M. R., A History of European Integration since 1914, London 2001. Thiemeyer, Guido, Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, Köln 2010. Wessels, Wolfgang, Das politische System der Europäischen Union, Wiesbaden 2008. Wirsching, Andreas, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012.

1. ANLÄUFE ZUR EUROPÄISCHEN INTEGRATION 1929/30–1950

DER BRIAND-PLAN VON 1929/30. EUROPA ALS ORDNUNGSVORSTELLUNG IN DEN INTERNATIONALEN BEZIEHUNGEN IM 19. UND FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT 1 Friedrich Kießling Vorstellungen davon, wie die internationalen Beziehungen gestaltet werden könnten oder sollten, verändern sich nicht von heute auf morgen. In den meisten Fällen ist vielmehr von langfristigen Wandel- und Ablösungsprozessen auszugehen, die überdies keineswegs kontinuierlich verlaufen müssen. Auch „Europa“ als Ordnungsvorstellung der internationalen Beziehungen macht da keine Ausnahme. Gezeigt werden kann das zum Beispiel am sogenannten Briand-Plan für eine „europäische Union“ von 1929/30. Neben politisch-diplomatischen müssen dabei allgemein ideen- und mentalitätshistorische Prozesse in den Blick genommen werden. Am 5. September 1929 war es so weit. Mit einer Rede vor der Versammlung des Völkerbundes in Genf wurde der Aufbau einer Form von „europäischer Union“ zum ersten Mal Gegenstand offizieller Verhandlungen zwischen den europäischen Regierungen. Der französische Ministerpräsident Aristide Briand, gleichzeitig langjähriger Außenminister seines Landes, brachte auf einer Rede vor der Versammlung des Völkerbundes in Genf ein „föderatives Band“ ins Gespräch, das es den Europäern erlauben sollte, jederzeit „miteinander in Verbindung zu treten, über ihre Interessen zu beraten“ und „gemeinsame Entschließungen zu fassen“. 2 Daraus wurde in der Zwischenkriegszeit nichts. Ein geeintes Europa sollte erst nach 1945 konkrete Formen annehmen und nach und nach die Beziehungen der Länder auf dem Kontinent grundlegend umgestalten. Im Spätsommer 1929 wurde die französische Regierung immerhin mit der Ausarbeitung einer Denkschrift beauftragt. Am 1. Mai 1930 lag das „Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung“ vor. In vier Abschnitten präsentierte es sowohl einen detaillierten Organisationsplan mit europäischem Sekretariat und einem „ständigen politischen Ausschuß“ als auch einen Katalog von Zielen und Aufgaben einer „europäischen Union“. 3

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Essay zur Quelle: Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung (1. Mai 1930). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: < http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=294>. Rede Aristide Briands vom 09. September 1929, in: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hg. v. Auswärtigen Amt, Bonn 1953, S. 31. Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung vom 1. Mai 1930, in: ebd., S. 31–41.

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Friedrich Kießling

Als Vorstoß einer amtierenden Regierung, in dem auch konkrete Vorschläge zur institutionellen Ausgestaltung „Europas“ gemacht wurden, ist die Denkschrift immer wieder zur Vorgeschichte der europäischen Integration nach 1945 gerechnet worden. Der erste Plan zu einer europäischen Einigung war das Memorandum vom Mai 1930 aber beileibe nicht, und es war auch nicht das erste Mal, dass Regierungsvertreter das Wort „Europa“ im Mund führten und in seinem Namen Politik betrieben. Um die Bedeutung der briandschen Initiative zu bestimmen, muss sie so vor allem in zwei historische Zusammenhänge eingeordnet werden: Zum einen in die verschiedenen Traditionen von Europa als einer Ordnungsvorstellung in den internationalen Beziehungen, wie sie schon vor der Zwischenkriegszeit in der staatlichen Außenpolitik verbreitet waren, zum anderen in die seit langem vor allem publizistisch geführte Debatte um die „Vereinigten Staaten von Europa“. Er habe das Wort „Europa“, so hatte Bismarck in einer berühmten Wendung während der Orientkrise von 1876 geschrieben, „immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.“ 4 Doch auch wenn sich weitere, ähnliche Belege finden lassen, nicht immer urteilten Europas Staatsmänner und Diplomaten so. Im Gegenteil, gerade im 19. Jahrhundert existierten immer wieder Phasen, in denen ganz anders von Europa gesprochen und geschrieben wurde. Tatsächlich lässt sich in diesen Zeiten eine Ordnungsvorstellung von Europa beobachten, die die zeitgenössischen Vorstellungen davon, wie die internationalen Beziehungen funktionierten bzw. wie sie organisiert sein sollten, mitbestimmte. Einen Höhepunkt entsprechender Modelle sahen die Jahre nach 1800, als die napoleonischen Kriege den Kontinent erschütterten. Der englische Premierminister William Pitt d. J. trat beispielsweise Anfang 1805 für eine europäische Übereinkunft zur Sicherung von Frieden und Kooperation ein – „a general Agreement and Guarantee for the mutual protection and Security of different Powers, [...] a general System of public Law in Europa.“ 5 Aus solchen Überlegungen entstand das sogenannte „europäische Konzert“ der Jahre nach 1814/15. 6 Anders als den internationalen Beziehungen des 18. Jahrhunderts lag ihm über die rein mechanische Regelung von Konflikten hinaus ein tatsächlicher Wille zur Zusammenarbeit aller Großmächte zugrunde. Dieser hatte die Erfahrung der vorangegangenen langen und verheerenden Kriegsjahre zur Voraussetzung und basierte auf der Bereitschaft der Regierungen, ihre machtpolitischen Ambitionen ein Stück weit zu beschränken sowie eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. Darüber hinaus gab es eine Reihe von außenpolitischen Verfahrensregeln, 4 5 6

Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes hg. von Johannes Lepsius et al., Bd. 2: Der Berliner Kongreß und seine Vorgeschichte, Berlin 1922, S. 88. Temperley, Harold; Penson, Lillian M. (Hgg.), Foundations of British Foreign Policy from Pitt (1792) to Salisbury (1902), Cambridge 1966, S. 11. Einführungen bieten: Baumgart, Winfried, Vom europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, Darmstadt 1974; ders.: Europa, Konzert und Nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1870, Paderborn u.a. 2007.

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auf die man sich geeinigt hatte. Am wichtigsten waren die im Grundtext des Konzerts, der Quadrupelallianz zwischen Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland vom November 1815, vorgesehenen persönliche Zusammenkünfte der Monarchen oder ihrer Minister. Sie sollten, so der Vertragstext, „den großen gemeinsamen Interessen und der Prüfung der Massnahmen gewidmet“ sein, „die in den jeweiligen Zeitabschnitten als für die Ruhe und das Wohlergehen der Völker und für den Frieden Europas am erspriesslichsten erachtet werden.“ 7 Das Konzert beruhte so nicht nur auf gemeinsamen Werten und Normen – unter denen die Einstellung zu einem allgemeinen Krieg und die relative machtpolitische Zurückhaltung die wichtigsten waren –, sondern auch auf bestimmten Handlungsmustern. Dieses engere „Kongresssystem“ mit häufigen Gipfelkonferenzen der Monarchen oder ihrer Minister hielt nur wenige Jahre, die dahinter liegende Idee eines europäischen Konzerts war aber erstaunlich langlebig. Im gesamten 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg lässt sich eine Kontinuität von außenpolitischen Formen ausmachen, die auf der außenpolitischen Praxis der nach-napoleonischen Ära beruhte. Durchschnittlich alle dreieinhalb Jahre begann zwischen 1822 und 1914 eine Konferenz der Großmächte. Dies waren teilweise große, spektakuläre Kongresse und Konferenzen, häufiger aber sogenannte Botschafterkonferenzen, die in ihrer quasi-institutionellen Form ebenfalls auf die Jahre nach 1815 zurückgingen und in großer Zahl bis ins frühe 20. Jahrhundert stattfanden. „Europa“, das meinte in den internationalen Staatenbeziehungen des 19. Jahrhundert dieses Konzert der Großmächte. Es geriet Mitte des Jahrhunderts in die Krise, vor allem durch den Krimkrieg und die sogenannten Einigungskriege Bismarcks. Nichtsdestotrotz ist die Vorstellung von einer besonderen Verantwortung der Großmächte im Namen Europas auch am Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts noch greifbar. Das europäische Konzert, so der amerikanische Historiker Paul W. Schroeder einmal, habe es nach 1853/1871 geschafft, irgendwie zurückzukehren. 8 Sein vielleicht letzter Ausdruck war das europäische Krisenmanagement während der Balkankriege 1912/13: In London sorgte eine Botschafterkonferenz der Großmächte dafür, dass der Konflikt lokal begrenzt blieb, wobei die neuen Grenzen gemeinsam, aber ohne größere Abstimmung vor Ort festgelegt wurden. Das europäische Konzert des „langen“ 19. Jahrhunderts ist gelegentlich in die Nähe eines kollektiven Sicherheitssystems gerückt worden, für das im 20. Jahrhundert der Völkerbund oder die Vereinten Nationen standen. Das mag in einigen Punkten richtig sein, aber vor allem zwei Dinge unterscheiden es von den kollektiven Modellen späterer Jahrzehnte. Zum einen waren Klein- und Mittelstaaten keine eigenständigen Akteure, sondern lediglich Objekte dieser Form der internationalen Beziehungen. Das „Kollektive“ bezog sich nur auf die akzeptierten Großmächte. Zum anderen war die multilaterale Kooperation des Konzerts fast 7 8

Fontes Historiae Juris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, hg. v. Wilhelm G. Grewe, Bd. 3/1: 1915–1945, Berlin u.a. 1992, S. 104. Schroeder, Paul W., The 19th-Century International System. Changes in the Structure, in: World Politics 39 (1986/87), S. 1–26, hier S. 13.

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ausschließlich politisch konzipiert. Beides war in Briands Memorandum anders. Ausdrücklich hob es die „Souveränität“ und rechtliche „Gleichheit“ aller Staaten hervor und der Katalog der Ziele und Aufgaben machte deutlich, dass politische Fragen sich ausdrücklich mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen verbinden sollten. 9 Schon deshalb ist der Bezug zu einer weiteren Tradition in der Denkschrift von 1930 mit Händen zu greifen: den publizistischen Europaplänen. Seit dem ausgehenden Mittelalter entstanden zahllose publizistische Pläne, die sich einer wie auch immer gearteten politischen Einigung Europas widmeten. Sie stammten von Theologen, Juristen oder Philosophen, manchmal auch von ehemaligen oder aktiven Staatsbeamten, und waren seit jeher eng mit allgemeinen Friedensvorstellungen verknüpft. Im 19. Jahrhundert ergab sich vor allem eine Neuerung: Die Verfechter des Friedens oder eines einigen Europas begannen sich zu organisieren. Europapläne waren programmatischer Bestandteil der seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts überall entstehenden Friedensgesellschaften, wurden auf Juristentagungen oder allgemeinen Verständigungskonferenzen diskutiert und seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sich schließlich auch Vereinigungen, die sich speziell der europäischen Einigung verschrieben, wie die European Unity League von Anfang 1914. Die Verzahnung von wirtschaftlicher und politischer Entwicklung, die „Verrechtlichung“ der Staatenbeziehungen und die Institutionalisierung der staatlichen Kontakte durch internationale Organisationen waren die wichtigsten ihrer immer wiederkehrenden Forderungen. Das Hauptproblem im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert hatte vor allem darin bestanden, dass sich diese Friedens- und Europapläne auf der einen Seite und die offiziellen Staatenbeziehungen auf der anderen kaum einmal verbanden. Zwar wurden die Kabinette und Außenministerien von Eingaben der unterschiedlichen Organisationen überhäuft und hohe Regierungsvertreter übernahmen auch von Zeit zu Zeit die Schirmherrschaft über die nun regelmäßig stattfindenden Friedenskongresse, doch grundsätzlich glaubten Diplomaten und Außenpolitiker die Interessen ihrer Nationen und deren Sicherheit besser bei den traditionellen außenpolitischen Methoden, zu denen auch das europäische Konzert gehörte, aufgehoben. Bei der im späten 19. Jahrhundert dennoch einsetzenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, für die die zahlreichen Schiedsgerichtsabkommen jener Jahre und die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 stehen, blieben deshalb die entscheidenden „vitalen“ Fragen, insbesondere die von Krieg und Frieden, letztendlich nicht geregelt. Es bedurfte wohl des Zusammenbruchs der traditionellen internationalen Ordnung im und durch den Ersten Weltkrieg, um hier eine Änderung herbeizuführen. Das herkömmliche europäische Konzert war als Ordnungsvorstellung durch den Ersten Weltkrieg endgültig diskreditiert. Mit der „kollektiven Sicherheit“ erschien dagegen ein Konzept kooperativen Verhaltens auf der Bühne der internationalen Politik, das viele Verbindungen zu publizistischen Plänen der Vorkriegszeit aufwies und schließlich nicht nur den weltweit agierenden Völkerbund, sondern auch die Europaideen der offiziellen Politik beeinflusste. War das „lange“ 9

Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, S. 34.

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19. Jahrhundert bis 1914 die Zeit, in der die Europa- bzw. Friedenspläne eine organisatorische Basis erhielten, bereitete sich in der Zwischenkriegszeit eine Annäherung zwischen den dort entwickelten Konzepten und der staatlichen Außenpolitik vor. Die eingangs zitierte Rede Briands vom 9. September 1929 spiegelte diese Entwicklung ausdrücklich wider. Der französische Ministerpräsident sprach von der europäischen Idee, die seit langen Jahren die „Vorstellungskraft der Philosophen und Dichter“ beschäftigt habe, deren Verfechter sich dann „vereint“ hätten, und die nun – wenn auch mit Schwierigkeiten – ihn, den „Staatsmann“, beschäftige. 10 Wichtig wurde in der Zwischenkriegszeit vor allem die 1923 gegründete „Pan-Europa“-Bewegung, deren Gründer, der 1894 geborene Graf Coudenhove-Kalergi, sich unermüdlich und erfolgreich um enge Kontakte zu europäischen Politikern bemühte, unter anderem zu Aristide Briand. Die Bedeutung des Briand-Plans besteht daher vor allem in zwei Dingen. Er markierte zum einen den Eingang einer neuen Ordnungsvorstellung von Europa in die internationale Politik, die ältere wie das europäische Konzert ablöste, die zum Teil ebenfalls kooperativ gedacht, aber auf die Einbeziehung aller Staaten oder auch feste organisatorische Strukturen verzichtet hatten. Zum anderen bedeutete Briands Schritt auch eine Annäherung zwischen der langen publizistischen Europadiskussion, wie sie von nichtstaatlichen Organisationen geführt wurde, und dem Regierungshandeln. Eine ähnliche Entwicklung ist im Falle des Völkerbunds zu beobachten. Dessen Sekretariat bemühte sich ebenfalls intensiv darum, private Organisationen und staatliche Akteure zusammenzubringen. 11 Der Erfolg dieser Bestrebungen blieb aber begrenzt, erst heute sind die sogenannten NGOs, das heißt Nicht-Regierungsorganisationen, selbstverständliche Bestandteile internationaler Verhandlungen, nicht nur, aber vor allem auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Ähnlich sind auch der Erfolg und Misserfolg der briandschen Initiative der Jahre 1929/30 zu beurteilen. Kurzfristig scheiterte der Vorstoß des französischen Außenministers, zumal er in eine Phase fiel, in der durch die einsetzende Weltwirtschaftskrise die Bereitschaft zur internationalen Kooperation merklich abnahm. Ein internes Papier des britischen Außenministeriums nannte das Memorandum „a surprising and disappointing work“ 12. In Berlin betrachteten es viele als ein weiteres Instrument französischer Hegemonialbestrebungen, dazu bestimmt, wie der kurze Zeit später zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt ernannte Bernhard Wilhelm von Bülow schrieb, „uns neue Fesseln anzulegen.“ 13 Die offiziellen Antworten auf das Memorandum fielen entsprechend aus. Die deutsche Regierung, die vor allem ihr Ziel einer Revision der östlichen Grenze 10 Rede Aristide Briands vom 09. September 1929, S. 31. 11 Wöbse, Anna-Katharina, „To cultivate the international mind“. Der Völkerbund und die Förderung der globalen Zivilgesellschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 852–863. 12 Documents on British Foreign Policy 1919–1939, hg. von E.L. Woodward u. Rohan Butler, sec. Series, Bd. 1, London 1947, S. 326. 13 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie B, Bd. 15: 1. Mai bis 30. September 1930, Göttingen 1980, S. 93.

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Deutschlands bedroht sah, wandte sich gegen die im briandschen Plan vorgesehene Ausdehnung der existierenden Status quo-Garantien auf Osteuropa. Die britische Regierung machte geltend, dass die Entwicklung eigener europäischer Institutionen den Völkerbund unterhöhlen würde und das Verhältnis Europas zu den anderen Kontinenten gefährde. 14 Am deutlichsten fiel die Antwort des faschistischen Italien aus. Die römische Note enthielt nicht weniger als ein halbes Dutzend grundsätzlicher Einwände, darunter einen Vorbehalt gegen die „Vorbedingungen und Ziele“ einer europäischen Föderation. 15 Angesichts solcher Reaktionen mochte es Briand schon als Erfolg verbuchen, dass man sich auf die Errichtung einer „Studienkommission für die europäische Union“ im Rahmen des Völkerbundes einigen konnte. Aber auch diese stellte 1932 nach sechs Sitzungen ihre Arbeit ein, ohne dass man sich auf konkrete Schritte einigen konnte. Konkret war dem Briand-Plan somit kein Erfolg beschieden. Statt einer europäischen Union kam der Zweite Weltkrieg. Das Bild modifiziert sich, bezieht man die Frage längerfristiger Wirkungen in seine Überlegungen ein. Immerhin beschäftigten sich die europäischen Regierungen 1930 wochen- und monatelang mit der Frage einer engeren wirtschaftlichen wie politischen Einheit des Kontinents, hielten entsprechende interne Konferenzen ab und tauschten untereinander Noten aus. Wenn es um die Entwicklung leitender Ordnungsvorstellungen internationaler Beziehungen geht, sollte man diese Tatsache nicht unterschätzen. Zusammen mit dem Völkerbund gehört der Europaplan Aristide Briands in diesem Sinne zu einem sich seit dem 19. Jahrhundert vollziehenden Prozess, innerhalb dessen alte Praktiken der internationalen Beziehungen erschüttert wurden, neue denkbar erschienen und Stück für Stück zu realen Handlungsmöglichkeiten wurden. Auch in den internationalen Beziehungen verändern sich Ordnungsmuster eben nicht kurzfristig, sondern müssen meist in einer längeren „Latenzphase“ erprobt bzw. eingeübt werden. Als der französische Außenminister Robert Schuman nach 1945 und einem weiteren Weltkrieg den Plan für eine Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion vorlegte, bezog er sich gleich zu Beginn auf die Europaideen und Europainitiativen der Zwischenkriegszeit. Seit mehr als 20 Jahren habe sich Frankreich um ein vereintes Europa bemüht. Das war im Mai 1950, fast auf den Tag genau 20 Jahre zuvor hatte Aristide Briand sein „Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung“ präsentiert. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg war es noch ein weiter Weg zu einem integrierten Europa. Der Verdacht, „Europa“ bemäntele nur nationale Ambitionen, traf noch so manchen Vorschlag nach 1945, darunter auch den Schuman-Plan. Überdies erwies sich, dass die gleichzeitige wirtschaftliche wie politische Einigung, wie sie bereits im Briand-Plan vorgesehen war, zunächst illusorisch bleiben musste. Europa war nach 1945 zunächst vor allem als wirtschaftliches Projekt erfolgreich. Die politische (und militärische) Zusammenarbeit begegnete von Anfang an weit größeren Schwierigkeiten. Und bis über den Westen Europas hinaus

14 Ebd., S. 330 bzw. Documents on British Foreign Policy, sec. Series, Bd. 1, S. 345–348. 15 Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, S. 44.

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auch daran gegangen werden konnte, den östlichen Teil des Kontinents einzubeziehen, sollten noch weitere fast fünf Jahrzehnte vergehen. Literaturhinweise Borodziej, Włodzimierz et al. (Hgg.), Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts, 3 Bde., Göttingen 2005. Fleury, Antoine (Hg.), Der Briand-Plan eines europäischen Bündnissystems. Nationale und transnationale Perspektiven, mit Dokumenten, Bern u.a. 1998. Globalisierung und transnationale Zivilgesellschaft in der Ära des Völkerbundes. Themenheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54/10 (2006), hg. v. Eckhardt Fuchs u. Matthias Schulz. Schroeder, Paul W., The 19th-Century International System. Changes in the Structure, in: World Politics 39 (1986/87), S. 1–26. Schulz, Matthias, Normen und Praxis. Das europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860, München 2009.

Quelle Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung (1. Mai 1930) 16 [...] I. Notwendigkeit eines allgemeinen, wenn auch noch so elementaren Vertrages zur Aufstellung des Grundsatzes der moralischen Union Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität. In einer Formel, die so liberal wie möglich gehalten wäre, aber den wesentlichen Zweck dieses Verbandes im Dienst des gemeinsamen Werkes der friedlichen Organisation Europas klar zum Ausdruck bringen müßte, würden sich die Signatarregierungen verpflichten, in periodisch wiederkehrenden oder in außerordentlichen Tagungen regelmäßig miteinander Fühlung zu nehmen, um gemeinsam alle Fragen zu prüfen, die in erster Linie die Gemeinschaft der europäischen Völker interessieren können. II. Notwendigkeit einer Einrichtung, die die der europäischen Union zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Organe sichert. A. Notwendigkeit eines repräsentativen und verantwortlichen Organs in Gestalt einer regelrechten Einrichtung der ‚Europäischen Konferenz’, bestehend aus den Vertretern aller europäischen Regierungen, die Mitglieder des Völkerbundes sind und von dauerndem Bestand als wesentliches leitendes Organ der europäischen Union in Verbindung mit dem Völkerbund. Die Befugnisse dieser Konferenz, die Organisation ihres Vorsitzes und ihrer ordentlichen oder außerordentlichen Sitzungsperioden müßten bei der nächsten Zusammenkunft der europäischen Staaten bestimmt werden. Auf dieser soll über die Schlußfolgerungen 16 Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung, in: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hg. v. Auswärtigen Amt, Bonn 1953, S. 31–41. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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des Berichts über die Umfrage beraten und vorbehaltlich der Zustimmung der Regierungen oder der erforderlichen Ratifizierungen durch die Parlamente die Ausarbeitung des Entwurfs der europäischen Organisationen sichergestellt werden. B. Notwendigkeit eines Vollzugsorgans in Gestalt eines ständigen politischen Ausschusses, der lediglich aus einer gewissen Anzahl von Mitgliedern der europäischen Konferenz besteht und der europäischen Union faktisch ihr Studienorgan wie ihr Werkzeug zum Handeln liefert. Die Zusammensetzung und die Befugnisse des europäischen Ausschusses, die Art der Ernennung seiner Mitglieder, die Organisation seines Vorsitzes und seiner ordentlichen oder außerordentlichen Sitzungsperioden müßten bei der nächsten Zusammenkunft der europäischen Staaten bestimmt werden. Da die Tätigkeit dieses Ausschusses wie die der Konferenz im Rahmen des Völkerbundes stattfinden soll, müßte er in Genf selbst tagen, wo seine ordentlichen Sitzungsperioden mit denen des Völkerbundrats zusammenfallen könnten. C. Notwendigkeit eines diensttuenden Sekretariats, mag es anfangs noch so klein sein, um die Durchführung der Weisungen des Vorsitzenden der Konferenz oder des europäischen Ausschusses, die Vorbereitung ihrer Tagesordnungen, den Verkehr zwischen den Signatarmächten des europäischen Vertrages, die Einberufungen der Konferenz oder des Ausschusses, die Eintragung und Bekanntgabe ihrer Entschließungen usw. verwaltungstechnisch sicherzustellen. [...] IV. Zweckmäßigkeit, die Untersuchung aller Fragen der Durchführung entweder der nächsten europäischen Konferenz oder dem künftigen europäischen Ausschuß vorzubehalten. Darunter folgende Fragen: A. Bestimmung des Bereichs des europäischen Zusammenwirkens, besonders auf folgenden Gebieten: 1. Allgemeine Volkswirtschaft. – Wirkliche Durchführung des von der letzten Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes aufgestellten Programms in Europa; Kontrolle der Politik der Industrie-Verbände und Kartelle zwischen verschiedenen Ländern. – Prüfung und Vorbereitung aller künftigen Möglichkeiten in Sachen des fortschrittlichen Abbaus der Tarife usw. 2. Wirtschaftliche Ausrüstung. – Zusammenwirken bei den großen öffentlichen Arbeiten der europäischen Staaten (Großverkehrsstraßen für Kraftwagen, Kanäle usw.). 3. Verkehrswege und Durchgangsverkehr – zu Lande, zu Wasser und in der Luft: Regelung und Verbesserung des europäischen Verkehrs; Zusammenwirken bei den Arbeiten der europäischen Stromkommission; Vereinbarungen zwischen Eisenbahnen; europäisches Post-, Telegraphen- und Fernsprechsystem; Statut der Radiosendung usw. 4. Finanzen. – Unterstützung des Kreditwesens für die Aufschließung der wirtschaftlich minder entwickelten Gegenden Europas; europäischer Markt; Währungsfragen usw. 5. Arbeit. – Lösung gewisser europäischer Sonderfragen der Arbeit, wie die Arbeit in der Flußschiffahrt und in der Glasindustrie; Fragen von kontinentalem oder regionalem Charakter wie die Regelung der sozialen Folgen der Auswanderung innerhalb Europas (Anwendung der Gesetze über die Betriebsunfälle, die Sozialversicherungen, die Altersversorgung der Arbeiter usw. von Land zu Land).

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Hygiene. – Allgemeine Anwendung gewisser hygienischer Methoden, die durch die Hygiene-Organisation des Völkerbundes erprobt worden sind (insbesondere Hebung der Gesundheit in den landwirtschaftlichen Gebieten; Anwendung der Krankenversicherung; nationale Schulen für Hygiene; europäische Seuchenmaßnahmen; Austausch von Auskünften und Beamten zwischen den nationalen Hygiene-Anstalten; wissenschaftliches und verwaltungstechnisches Zusammenwirken im Kampfe gegen die großen sozialen Gebrechen, die Berufskrankheiten und die Kindersterblichkeit usw.). Geistiges Zusammenwirken. – Zusammenarbeiten der Universitäten und Akademien; literarische und künstlerische Beziehungen; Zusammenfassung der wissenschaftlichen Forschung; Verbesserung des Pressewesens in den Beziehungen zwischen den Agenturen und im Zeitungsversand usw. Interparlamentarische Beziehungen. – Benutzung der Organisation und der Arbeit der ‚Interparlamentarischen Union’ zur Förderung der Fühlungnahme und des Meinungsaustausches zwischen den parlamentarischen Kreisen der verschiedenen europäischen Länder (Zwecks Ebnung des politischen Gebietes für die Verwirklichung der Zwecke der europäischen Union, die der parlamentarischen Zustimmung bedürfen, und überhaupt zwecks Verbesserung der internationalen Atmosphäre in Europa durch gegenseitiges Verständnis für die Interessen und Empfindungen der Völker).

VÖLKISCHE NEUORDNUNG EUROPAS 1 Michael Wildt Der Begriff, mit dem Hitler die rassistische Neuordnung Ostmitteleuropas umschrieb, fiel gleich zu Beginn des Krieges gegen Polen im September 1939: „Flurbereinigung“. Dieser Terminus aus der Agrarpolitik, mit dem die Zusammenfassung und Neuaufteilung von Feldern bezeichnet wird, um sie effizienter bewirtschaften zu können, bezeichnete treffend die Verbindung von Territorialität, Siedlungspolitik und rassenbiologischer Ordnungsphantasie, die der NS-Führung vorschwebte. Menschen waren in ihren Augen nichts anderes als Bodengewächse, die man hier und dort anpflanzen oder auch wie Unkraut ausreißen konnte. Räume mussten „bereinigt“ werden, das heißt die in ihnen lebenden Menschen unterworfen, vertrieben, deportiert oder getötet werden, um diese Räume zu beherrschen, auszubeuten oder zu besiedeln. „Lebensraum“ bildete einen zentralen Terminus nationalsozialistischer Politik. 2 Dass dieser „Lebensraum“ nicht in fernen Kolonien zu suchen sei, sondern im Osten, zu Lasten Russlands, hatte Hitler unmissverständlich in Mein Kampf geschrieben. Das neue deutsche Reich müsse sich wie einst die Ordensritter in Marsch setzen, „um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben“. 3 Ganz anders als die preußische Politik kenne die nationalsozialistische Bewegung kein „Germanisieren“, das sich auf kulturelle Vorherrschaft, insbesondere auf die Durchsetzung der deutschen Sprache gründete. Nicht Menschen, nur der Boden könne „germanisiert“ werden, wenn er mit dem Schwert erobert und mit deutschen Bauern besiedelt würde. Ein völkischer Staat dürfe daher „unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen“, sondern müsse die Polen „kurzerhand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen“. 4

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Essay zur Quelle: Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal europäische Geschichte, URL: < http://www.europa.clio-online.de/2016/Article=641>. Vgl. Schwartz, Michael, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013; Jureit, Ulrike, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebens-raum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. Hitler, Adolf, Mein Kampf, 349.–351. Auflage, München 1938, S. 154. Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 81; vgl. dazu das Kapitel „Die Eroberung von Raum“ bei Jäckel, Eberhard, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, erw. u. über-

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In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, die der Beauftragung Himmlers mit der „Festigung deutschen Volkstums“ unmittelbar vorausging, brachte Hitler die völkische „Lebensraum“-Politik als Kernstück seiner Kriegsziele zur Sprache. Die Aufgaben, die sich dem Deutschen Reich durch den „Zerfall des polnischen Staates“ stellten, bestünden in der „Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen, ethnografischen und wirtschaftlichen Gegebenheit gerecht wird“, in der „Befriedung des gesamten Gebiets“, der „Gewährleistung der Sicherheit“ und dem Neuaufbau von Wirtschaft und Verkehr. „Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnografischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten so, daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennlinien ergeben, als es heute der Fall ist.“

Eine solche Aufgabe greife aber weit über Polen hinaus. Der ganze Osten und Südosten Europas seien „mit nichthaltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt“, die nun rückgesiedelt werden sollten. „Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne.“

Was hier als vornehmlich auf die volksdeutschen Minoritäten bezogen zu sein scheint, beinhaltet in Wirklichkeit ein umfassendes völkisch-rassisches Neuordnungskonzept, das mittels Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für „arische“ Deutsche schaffen sollte. Wenig später sprach Hitler dann konsequent nicht mehr nur von der „Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten“, sondern auch von einer „Ordnung und Regelung des jüdischen Problems“. 5 Aber auch etliche Planer, Historiker, Ökonomen, Agrarwissenschaftler und Soziologen waren von den Möglichkeiten, die sich im „Osten“ eröffneten, fasziniert und bemühten sich, ihr Wissen für eine „Germanisierung“ des Ostens in die politische Praxis einfließen zu lassen. Zum Beispiel verfasste Theodor Schieder auf der Grundlage von verschiedenen Diskussionen unter Forscherkollegen Anfang Oktober 1939 eine Denkschrift über „Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Ostprovinzen“, in der als „oberstes Gesetz einer Neuordnung“ die

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arb. Neuausg., Stuttgart 1991, S. 29–54; Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012. Der Text der gut einstündigen Rede wurde in den Reichstagsprotokollen veröffentlicht (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460: Stenografische Protokolle 1939–1942, 4. Sitzung, 06.10.1939, S. 51–63) und ist im Internet verfügbar unter der URL: (16.11.2015); vgl. dazu meinen Aufsatz: „Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 1, S. 129–137, URL: (16.11.2015).

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„Sicherung des deutschen Volksbodens im Osten durch eine geschlossen siedelnde, alle Schichten umfassende deutsche Bevölkerung mit einer gesunden sozialen Ordnung“

gefordert wurde, die „Bevölkerungsverschiebungen allergrössten Ausmasses“ und neben anderen Maßnahmen die „Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten“ notwendig mache. 6 Am 22. August 1939 hatte Hitler den Befehlshabern der Wehrmacht auf dem Obersalzberg seine Vorstellungen zum bevorstehenden Krieg gegen Polen erläutert: „Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. [...] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill. Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“ 7

Seit Beginn des Krieges gegen Polen führten Milizen der volksdeutschen Minderheit, SS-Einsatzgruppen und Polizeiverbände wie auch Einheiten der Wehrmacht einen mörderischen Kampf gegen die polnische Zivilbevölkerung, insbesondere gegen die Angehörigen der polnischen Intelligenz, die, wie Heydrich formulierte, „so gut wie möglich unschädlich gemacht“ werden solle. 8 Am 20. September legte Hitler den Oberbefehlshabern des Heeres seine Pläne von einer „Umsiedlung im großen“, wie es im Kriegstagebuch des Generalsstabschefs hieß, dar, also die Vertreibung von Polen und Juden aus den westpolnischen Gebieten. 9 Die Verant6

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Zitiert nach: Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, eingeleitet und kommentiert von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), H. 1, S. 62–94, hier: S. 86f., 90; siehe dazu die Debattenbeiträge vor allem von Götz Aly, Wolfgang J. Mommsen und Ingo Haar in: Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999. Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Serie D: 1937–1941, Bd. 7: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch. 9. August bis 3. September 1939, Baden-Baden 1956, S. 172. Über diese Rede Hitlers am 22.08.1939 existieren fünf Aufzeichnungen, die allesamt keine offiziellen Protokolle darstellen, da Hitler den Teilnehmern ausdrücklich untersagt hatte mitzuschreiben, sondern es handelt sich um private Mitschriften bzw. Notizen, deren Verfasser zum Teil unbekannt sind. Zwei Fassungen gelangten als offizielle Dokumente in die Beweisunterlagen des Nürnberger Prozesses (Dok. 798-PS, IMG, Bd. 26, S. 338–344, und Dok. 1014-PS, ebd., S. 523–524); vgl. dazu Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 120–149; Boehm, Hermann; Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers am 22. August 1939. Miszelle, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 294–304. Protokoll der Amtschefbesprechung vom 07.09.1939, Bundesarchiv, R 58/825, Bl. 1f.; vgl. Mallmann, Klaus-Michael; Böhler, Jochen; Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, hrsg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Darmstadt 2008; Mallmann, Klaus-Michael; Musial, Bogdan (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941, Darmstadt 2004. Generaloberst Halder, Kriegstagebuch, bearbeitet von Hans-Adolf Jacobsen in Verbindung mit Alfred Philippi, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 82.

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wortung für die „Bereinigung“ liege nicht beim Militär, sondern bei der Zivilverwaltung. Tags darauf informierte Heydrich seine führenden Mitarbeiter und Einsatzgruppenchefs in Berlin, dass Westpolen deutsches Gebiet werden solle, durch einen noch zu bauenden Ostwall geschützt, und jenseits des Walls ein „fremdsprachiger Gau“ geschaffen würde, in den die Juden, auch aus Deutschland, deportiert werden sollten. Zum „Siedlungskommissar für den Osten“ werde Heinrich Himmler eingesetzt, der bereits im Sommer 1939 mit der geplanten Umsiedlung der Südtiroler beauftragt worden war. 10 Die grundsätzliche Entscheidung, die SS mit der „völkischen Neuordnung“ zu beauftragen, war also zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen, als mit der Umsiedlung der Volksdeutschen aus der Sowjetunion die Volkstumspolitik eine zusätzliche Radikalisierung erfuhr. Nachdem der Landesleiter der Lettlanddeutschen, Erhard Kroeger, in einem Gespräch mit Heinrich Himmler am 26. September die drohende Bolschewisierung beschwor und sich für eine „Rückführung“ aller Baltendeutschen stark machte, führten hektische diplomatische Aktivitäten zwei Tage später, am 28. September, zu einer geheimen Vereinbarung mit der Sowjetführung zur Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerungen aus dem Baltikum und der Sowjetunion ins Deutsche Reich. Die Ankunft zehntausender Volksdeutscher aus den baltischen Staaten in den nächsten Wochen – das erste Schiff mit Volksdeutschen aus Estland traf bereits am 18. Oktober in Danzig ein – verschärfte die Deportationspolitik erheblich, sollte doch jetzt innerhalb kürzester Zeit Platz für die Neuankömmlinge in den annektierten westpolnischen Gebieten geschaffen werden. Die Aufgaben, mit denen Himmler am 7. Oktober 1939 von Hitler beauftragt wurde, reichten denn auch weit über die bloße Funktion eines „Siedlungskommissars für den Osten“ hinaus. 11 Himmler war nunmehr nicht nur für die „Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland“

verantwortlich, sondern zugleich für die „Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten“ und für die „Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch die Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen“.

Veröffentlicht wurde der Erlass nicht; im Gegenteil, in seinem Schreiben, mit dem der Chef der Reichskanzlei Lammers die obersten Reichsbehörden informierte,

10 Protokoll der Besprechung vom 21.09.1939, Bundesarchiv R 58/825, Bl. 26–30. 11 Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939), in: Bundesarchiv, R 43 II/604, Bl. 7–9; abgedruckt in: Martin Moll (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945, Stuttgart 1997. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, aus der hier abgedruckten Quelle.

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wies er ausdrücklich darauf hin, dass es nicht erwünscht sei, dass der Erlass „weiteren Kreisen bekannt“ würde. Himmler, der sich aufgrund dieses Erlasses eigenmächtig, doch unwidersprochen den Titel eines Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) zulegte, war damit die Gesamtkompetenz für die Volkstumspolitik zugefallen – eine Schlüsselposition innerhalb der rassistischen Politik des NS-Regimes, die Himmler sogleich auszubauen verstand. In einer ersten Anordnung wenige Tage nach seiner Ernennung richtete er eine zentrale Dienststelle unter Ulrich Greifelt ein, der unter Himmler bereits bei der geplanten Umsiedlung der Südtiroler gearbeitet hatte. Bestand anfangs die RKF-Dienststelle nur aus wenigen Mitarbeitern, so expandierte sie in den kommenden zwei Jahren personell wie institutionell rasch. Im Juni 1941 erhob Himmler den RKF-Stab zu einem SSHauptamt und stellte es damit auf eine institutionelle Ebene wie das Reichssicherheitshauptamt oder das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. 12 Die Volkstumspolitik der SS war von vornherein auf mehrere Institutionen verteilt. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beanspruchte für sich die Exekutivkompetenz für die Deportationen und Mordpolitik. Unter seiner Führung entstanden die so genannten Umsiedlerzentralstellen (UWZ) in den annektierten polnischen Gebieten, die die Räumung der polnischen Höfe und Vertreibung von Polen und Juden organisierten, sowie die Einwandererzentralstelle (EWZ), die die eintreffenden Volksdeutschen rassisch überprüfte und kategorisierte. Die Volksdeutsche Mittelstelle, die seit 1937 vom Himmler-Vertrauten Lorenz geleitet wurde, sorgte sich um die Unterbringung der Volksdeutschen in den Übergangslagern. Wirtschaftlich kümmerte sich die Deutsche Umsiedlungstreuhand GmbH (DUT) um das zurückgelassene Vermögen der volksdeutschen Einwanderer und kompensierte es mit der entschädigungslosen Enteignung polnischen und jüdischen Eigentums. Das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) war wiederum verantwortlich für eine laufende rassische Überprüfung der als „deutsch“ bzw. „eindeutschungsfähig“ eingestuften Angehörigen der einheimischen Bevölkerungen in den besetzten Gebieten. Der RKF-Dienststelle fiel dabei eine insgesamt koordinierende und konzeptionelle Funktion zu. Hier entstanden unter der Federführung des Agrarwissenschaftlers Konrad Meyer die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Schwerpunktprojekt finanziell geförderten Arbeiten am berüchtigten „Generalplan Ost“, der die Vertreibung und Ermordung von Millionen Menschen in Osteuropa und der Sowjetunion vorsah. Nach eigenen Angaben hatte der RKF bis Ende 1942 über 600.000 Volksdeutsche „umgesiedelt“, was nicht zuletzt selbst für diese Gruppen vielschichtige, widerspruchsvolle Erfahrungen von Heimatverlust und (Zwangs-)Migration, völkischer Aufwertung, „Heim-ins-Reich“-Hoffnungen und schließlich Vertreibung bedeuteten. Denn der sicher geglaubte militärische Sieg gegen die Rote Armee 12 Vgl. Stiller, Alexa, Gewalt und Alltag der Volkstumspolitik. Der Apparat des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und andere gesellschaftliche Akteure der veralltäglichten Gewalt, in: Böhler, Jochen; Lehnstaedt, Stephan (Hgg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, Osnabrück 2012, S. 45–66.

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blieb aus und die deutschen Besatzer hatten sich gegen einen immer stärker werdenden Gegner zu wehren. An groß angelegte Siedlungsprojekte war nicht mehr zu denken, was aber keineswegs hieß, dass Himmler seine „Germanisierungs“Pläne aufgab. Den ganzen Krieg hindurch bemühte er sich stets darum, in der Ukraine oder Zentralpolen deutsche Siedlungen zu gründen, die mehr Wehrdörfern glichen als friedlichen Ortschaften. Zuvor wurde die einheimische Bevölkerung brutal enteignet und vertrieben, die volksdeutschen Siedlungsanwärter wiederum von den SS-Rasseexperten erfasst, geprüft und klassifiziert. Auf der Suche nach so genanntem „guten Blut“ musterten sie Soldatenkinder ebenso wie Kinder von ermordeten Einheimischen und verschleppten sie, falls sie zu einem positiven Urteil kamen, nach Deutschland, wo diese geraubten Kinder in Heimen oder deutschen Familien aufwuchsen, ohne mehr etwas von ihren wirklichen Eltern zu erfahren. Die völkischen Neuordnungspläne der NS-Führung hatten keine Karte von Staaten mehr im Blick, sondern allein Völker und Volksgruppen, die rassenbiologisch bewertet und dementsprechend in ihrer Existenzberechtigung und „Nutzbarmachung“ für das deutsche „Herrenvolk“ hierarchisch eingestuft wurden. Europa, so Hitler, sei kein geografischer, sondern ein „blutsmäßig bedingter Begriff“. 13 Konsequent wurde deshalb keine staatliche Behörde, sondern eine spezifisch nationalsozialistische Institution, die SS, mit der Ausarbeitung wie Exekution der rassistischen Volkstumspolitik beauftragt. Himmler verstand seine Aufgabe von vornherein keineswegs als bloße organisatorische Bewältigung dieser Zwangsumsiedlungs- und Vertreibungspläne. Ihm ging es vor allem um ethnische Säuberung, um eine rassische Neuordnung der gesamten Region. Die SS bildete den organisatorischen wie konzeptionellen Kern einer nationalsozialistischen Biopolitik, die, in den Worten Michel Foucaults, darüber entschied, wer leben soll und wer sterben muss. Volkstumspolitik beinhaltete stets zwei Seiten, die beide im Erlass Hitlers vom 7. Oktober 1939 benannt werden: die Ansiedlung der eigenen Volksgenossen, die als „rassisch einwandfrei“ bewertet wurden, ebenso wie eine erbbiologische Politik der Züchtung und Förderung „rassisch wertvoller“ neuer Volksgenossen auf der einen Seite und das Ausmerzen „lebensunwerten“ Lebens sowie die „Ausschaltung“, Vertreibung, Ermordung „rassisch minderwertiger“ Völker auf der anderen Seite. Beide Seiten gehören untrennbar zusammen. Literaturhinweise Aly, Götz, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995. Heinemann, Isabel; Wagner, Patrick (Hgg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. Mallmann, Klaus-Michael; Musial, Bogdan (Hgg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941, Darmstadt 2004. 13 Picker, Henry, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, vollst. überarb. u. erw. Neuausg., Stuttgart 1977, S. 69 (08./09.09.1941).

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Schwartz, Michael, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkun-gen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013. Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germani-sierungspolitik in Polen, Hamburg 2012.

Quelle Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939) 14 Die Folgen von Versailles in Europa sind beseitigt. Damit hat das Großdeutsche Reich die Möglichkeit, deutsche Menschen, die bisher in der Fremde leben mußten, in seinem Raum aufzunehmen und anzusiedeln und innerhalb seiner Interessengrenzen die Siedlung der Volksgruppen so zu gestalten, daß bessere Trennungslinien zwischen ihnen erreicht werden. Die Durchführung dieser Aufgabe übertrage ich dem Reichsführer-SS nach folgenden Bestimmungen: I. Dem Reichsführer-SS obliegt nach meinen Richtlinien: 1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland, 2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten, 3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen. Der Reichsführer-SS ist ermächtigt, alle zur Durchführung dieser Obliegenheiten notwendigen allgemeinen Anordnungen und Verwaltungsmaßnahmen zu treffen. Zur Erfüllung der ihm in Absatz 1 Nr. 2 gestellten Aufgaben kann der Reichsführer-SS den in Frage stehenden Bevölkerungsteilen bestimmte Wohngebiete zuweisen. II. In den besetzten ehemals polnischen Gebieten führt der Verwaltungschef Ober-Ost die dem Reichsführer-SS übertragenen Aufgaben nach dessen allgemeinen Anordnungen aus. Der Verwaltungschef Ober-Ost und die nachgeordneten Verwaltungschefs der Militärbezirke tragen für die Durchführung die Verantwortung. Ihre Maßnahmen sind den Bedürfnissen der militärischen Führung anzupassen. Personen, die zur Durchführung dieser Aufgaben mit Sonderaufträgen versehen sind, unterstehen insoweit nicht der Wehrmachtsgerichtsbarkeit.

14 Der Erlass befindet sich im Bundesarchiv: Bundesarchiv, R 43 II/604, Bl. 7–9; als Beweisdokument PS-686 abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947, Bd. 26, S. 255–257 sowie in: Moll, Martin (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945, Stuttgart 1997, S. 100–102. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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III. Die dem Reichsführer-SS übertragenen Aufgaben werden, soweit es sich um die Neubildung deutschen Bauerntums handelt, von dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft nach den allgemeinen Anordnungen des Reichsführers-SS durchgeführt. Im übrigen bedient sich im Gebiete des Deutschen Reichs der Reichsführer-SS zur Durchführung seines Auftrages der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften und der bestehenden Siedlungsgesellschaften. Falls über eine zu treffende Maßnahme zwischen dem Reichsführer-SS einerseits und der zuständigen obersten Reichsbehörde – im Operationsgebiet dem Oberbefehlshaber des Heeres – eine nach Gesetzgebung und Verwaltungsorganisation erforderliche Einigung nicht erzielt werden sollte, ist meine Entscheidung durch den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei einzuholen. IV. Verhandlungen mit ausländischen Regierungsstellen und Behörden sowie mit den Volksdeutschen, solange sich diese noch im Auslande befinden, sind im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Auswärtigen zu führen. V. Sofern für die Seßhaftmachung zurückkehrender Reichs- oder Volksdeutscher Grund und Boden im Gebiet des Reichs benötigt wird, so finden für die Beschaffung des benötigten Landes das Gesetz über die Landbeschaffung für Zwecke der Wehrmacht vom 29. März 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 467) und die zu ihm ergangenen Durchführungsverordnungen entsprechende Anwendung. Die Aufgaben der Reichsstelle für Landbeschaffung übernimmt die vom Reichsführer-SS bestimmte Stelle. VI. Die zur Durchführung der Maßnahmen erforderlichen Mittel stellt der Reichsminister der Finanzen dem Reichsführer-SS zur Verfügung.

Berlin, 7. Oktober 1939

Der Führer und Reichskanzler gez. Adolf Hitler Der Vorsitzende des Ministerrats für die Reichsverteidigung gez. Göring Generalfeldmarschall Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei gez. Dr. Lammers Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht gez. Keitel

AGRAR-EUROPA UNTER NATIONALSOZIALISTISCHEN VORZEICHEN (1933–1945)1 Ernst Langthaler „Agrar-Europa“ ist heutzutage in aller Munde, wenn von der Landwirtschaft der Staaten der Europäischen Union (EU) die Rede ist. Für heutige EU-Bürgerinnen und -Bürger versteht es sich von selbst, die Landwirtschaft ihres jeweiligen Landes mit „Brüssel“ zu assoziieren; so etwa laden demonstrierende Agrarverbände ihre Mistfuhren kaum mehr vor den nationalen Regierungssitzen, sondern dem Sitz der EU-Kommission ab. Diese Begriffsassoziation wurde vor rund einem halben Jahrhundert im Zuge der Formierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geprägt; 2 so etwa erscheint seit 1960 der mehrsprachige Presse- und Informationsdienst Agra-Europe. 3 Der Agrarbereich zählt gewiss zu den am stärksten europäisierten Feldern der Gegenwartsgesellschaft. Die Idee der gesamteuropäischen Regulierung der Landwirtschaft reicht jedoch über die Epochenschwelle 1945 zurück; eines ihrer Dokumente steht im Zentrum dieses Essay: die im Wilhelm Goldmann Verlag in Leipzig 1942 erschienene Programmschrift Um die Nahrungsfreiheit Europas 4 von Herbert Backe, dem Staatssekretär und späteren Minister für Ernährung und Landwirtschaft im Deutschen Reich. 5 Angesichts der Ämterfülle des „Ernährungsdiktators“ – neben seinem Amt als Staatssekretär gehörte er auch dem Generalrat von Hermann Görings Vierjahresplanbehörde und dem Präsidium der Kaiser-Wilhelm1

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Essay zur Quelle: Herbert Backe: Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum (1942). Der Autor dankt Gesine Gerhard und Michael Wildt für wertvolle Hinweise. Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zum Forschungsstand zur GAP vgl. Patel, Kiran Klaus (Hg.), Fertile Ground for Europe? The History of European Integration and the Common Agricultural Policy since 1945, BadenBaden 2009. Agra-Europe. Unabhängiger Europäischer Presse- und Informationsdienst für Agrarpolitik und Agrarwirtschaft 1 (1960), URL: (16.11.2015). Backe, Herbert, Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum, Leipzig 1942. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Zur Biografie vgl. Lehmann, Joachim, Herbert Backe – Technokrat und Agrarideologe, in: Smelser, Ronald; Syring, Enrico; Zitelmann, Rainer (Hgg.), Die braune Elite II, Darmstadt 1993, S. 1–12; Alleweldt, Berthold, Herbert Backe. Eine politische Biographie, Berlin 2011; Gerhard, Gesine, Nazi Hunger Politics. A History of Food in the Third Reich, Plymouth 2015.

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Gesellschaft an – dürfte die Endfassung des in einem Vorentwurf bereits zu Kriegsbeginn vorliegenden Manuskripts mit Hilfe eines Ghostwriter entstanden sein. 6 Das Buch propagiert als Alternative zur weltweiten Verflechtung der Agrarmärkte unter britischer Hegemonie seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen kontinentaleuropäischen „Großraum“ unter deutscher Führung – „Agrar-Europa“ avant la lettre sozusagen. Versuchen wir, die darin verknüpften Diskursstränge zu entflechten und in den gesellschaftlichen Kontext einzubetten. Herbert Backes „Großraum“-Konzept fügt sich bruchlos in den nationalsozialistischen Diskurs von „Raum“ und „Rasse“: „An die Stelle der internationalen Weltwirtschaft tritt die Großraumwirtschaft, gekennzeichnet durch den Zusammenschluß der Völker gleicher oder verwandter Rasse und gleichen 7 Raumes.“

Dementsprechend behauptete es eine klare Hierarchie zwischen Zentrum und Peripherie, sollten doch „die Ergänzungsräume den Bedürfnissen Kontinentaleuropas entsprechend aufgebaut und ausgerichtet werden“. 8 Als Modell dienten die „Thünen’schen Ringe“, die rund um ein Marktzentrum angeordneten Landbauzonen, die Herbert Backe im kontinentalen und weltweiten Maßstab anzuwenden suchte. 9 Dieser imperialistisch-rassistische Raumentwurf stand in Verbindung mit Deutungsfiguren, die bis ins Kaiserreich zurückreichten. Die Vorstellung einer unter deutscher Führung stehenden „Großraumwirtschaft“, bereits vom Nationalökonomen Friedrich List vor Mitte des 19. Jahrhunderts formuliert, gewann um die Jahrhundertwende in der völkischen Bewegung, etwa im Alldeutschen Verband, sowie in Industrie- und Finanzkreisen, etwa im Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein, enorm an Rückhalt. Die Blickrichtung wies nach Ost- und Südosteuropa als agrarischer „Ergänzungsraum“ des hochindustrialisierten Deutschen Reiches. „Mitteleuropa“ bildete den diffusen, aber umso wirkmächtigeren Fluchtpunkt der unterschiedlichen „Großraum“-Entwürfe. Diese verbanden sich zusehends mit dem völkischen Diskurs der „Rasse“, so etwa im „Lebensraum“-Konzept des Geografen Friedrich Ratzel und der daraus abgeleiteten „Geopolitik“ des Geografen Karl Haushofer. Der teils nationalistisch, teils rassistisch grundierte Imperialismus, der den Weg in die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges bereitet hatte, rückte nach 1918 in der Weimarer Republik durch das Nahziel der Revision des „Diktatfriedens“ von Versailles etwas in die Ferne. Doch mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise und der zunehmenden Lähmung des Völker-

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Vgl. Tooze, Adam, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 811. Herbert Backe selbst dankt im Vorwort Horst Wagenführ, Professor für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik an der Universität Erlangen, und dem Berliner Diplomlandwirt H. Gerdesmann für „wertvolle Unterstützung“ (vgl. Backe, Nahrungsfreiheit, S. 11). Backe, Nahrungsfreiheit, S. 246. Ebd., S. 254. Vgl. ebd., S. 30–56.

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bundes traten die deutschen „Großraum“-Visionen, etwa im Mitteleuropäischen Wirtschaftstag, wiederum hervor. 10 Die 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten knüpften an die jahrzehntelangen Diskursstränge von „Raum“ und „Rasse“ an; zugleich steigerten sie deren Radikalität ins Extrem. Die imperialistisch-rassistische Radikalität von Herbert Backes „Großraum“-Entwurf wird im Buch durch die Verteidigungshaltung gegen den „jüdischen“ Liberalismus in Gestalt der britisch dominierten „Weltwirtschaft“ überdeckt; es liest sich wie ein verzweifelter Aufschrei all jener, denen dieser scheinbar übermächtige Gegner das „Lebensrecht“ genommen habe. Das volle Ausmaß der Radikalität offenbart sich erst im Kontext des Jahres 1941, als Herbert Backe die Druckfassung fertig stellte (oder fertig stellen ließ). 11 Im Zuge der militärisch-ökonomischen Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion um die Jahreswende 1940/41 reifte in Verhandlungen des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft unter Federführung Herbert Backes mit der Wehrmacht ein „Hungerplan“, der den Tod von abermillionen Menschen vorsah. Die NS-Führung trachtete danach, ein Krisenszenario wie im Ersten Weltkrieg – die Mangelversorgung mit Nahrungsmitteln hatte den Durchhaltewillen der Bevölkerung unterminiert – unter allen Umständen zu verhindern. Angesichts der angespannten Ernährungslage im Reichsgebiet fassten die Vordenker des „Unternehmens Barbarossa“ die Umleitung der Getreideüberschüsse der Ukraine von den Mägen der sowjetischen Stadtbevölkerung in die Mägen der deutschen Militär- und Zivilbevölkerung ins Auge. Die Planer kalkulierten dabei den Hungertod von 20 bis 30 Millionen „überflüssiger“ Sowjetbürgerinnen und -bürger offen ein. 12 Als sich nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie der „Hungerplan“ – vor allem die Abriegelung der Großstädte und die Aussiedelung der Bevölkerung – als undurchführbar erwiesen hatte, trieb Herbert Backe in der zweiten Jahreshälfte 1941 und der ersten Jahreshälfte 1942 alternative ‚Lösungen’ des sich im Reichsgebiet verschärfenden Ernährungsproblems entscheidend voran: erstens den Hungertod der nicht zur Arbeit vorgesehenen sowjetischen Kriegsgefangenen; zweitens die Ermordung zunächst der „arbeitsunfähigen“, schließlich der gesamten jüdischen Bevölkerung im sowjetischen Besatzungsbiet und – nach der Grundsatzentscheidung zum Judenmord noch während des Krieges zur Jahreswende 1941/42 – im Generalgouvernement. 13 10 Zum diskursiven und gesellschaftlichen Kontext vgl. Corni, Gustavo; Gies, Horst (Hgg.), Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, S. 365–371. 11 Vgl. Backe, Nahrungsfreiheit, S. 11, wo das Vorwort mit September 1941 datiert ist. 12 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 550–554; Corni; Gies, Brot, S. 531–552; Aly, Götz; Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991, S. 331–440. 13 Vgl. vor allem Gerlach, Christian, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 10–84, 167–257; Müller, Rolf-Dieter, Von der Wirtschaftsallianz zum kolonialen Ausbeutungskrieg, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 98–189; ders., Das Scheitern der wirt-

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Zwar resultierte diese mörderische, millionenfachen Tod einkalkulierende Strategie aus dem Wechselspiel einer Vielzahl an hoch- und niederrangigen, militärischen und zivilen Entscheidungsträgern; doch trug sie unverkennbar die Handschrift Herbert Backes. 1896 in Georgien als Sohn deutscher Auswanderer geboren und 1918 vor den revolutionären Wirren nach Deutschland geflüchtet, hatte er sich bereits 1926 in seiner (von den Gutachtern jedoch abgelehnten) Dissertation mit der russischen Getreidewirtschaft befasst; dieses „Manifest des rassistischen Imperialismus“ wurde 1941, etwa zeitgleich mit der Ausarbeitung des „Hungerplans“, im Eigenverlag „nur für den Dienstgebrauch“ veröffentlicht.14 Nicht nur der nationalsozialistische Erwartungshorizont, sondern auch der lebensgeschichtliche Erfahrungsraum rechtfertigte für den Russland-Experten die Opferung von Millionen slawischer und jüdischer „Untermenschen“ zur Rettung des deutschen „Herrenvolks“ als Lösung des Problems „Volk ohne Raum“. In diesem Kontext entpuppt sich Um die Nahrungsfreiheit Europas als – offenbar auch noch in der Nachkriegsgesellschaft 15 – öffentlichkeitstaugliche Werbebotschaft für einen Raumentwurf, dessen imperialistisch-rassistische Radikalität in der angewandten „Hungerpolitik“ der Jahre 1941/42 unverhohlen zum Ausdruck kam. Es würde zu kurz greifen, Herbert Backes Schrift allein im imperialistischrassistischen Diskursfeld zu verorten; zugleich bezog sie sich auf die gleichermaßen bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichende Debatte um die „Agrarfrage“ – die Frage nach der Stellung der bäuerlich geprägten Landwirtschaft in der entstehenden Industriegesellschaft. Liberale wie sozialistische Theoretiker stimmten darin überein, dass sich auch im Agrarbereich à la longue kapitalistische Verhältnisse nach dem Muster der Industrie – das heißt Großbetriebe auf Lohnarbeitsbasis – durchsetzen würden. Diese Debatte wurde seit den 1870er-Jahren durch die im Zuge der „ersten Globalisierung“ entstandene Agrarkrise, der Preisverfall für Getreide auf dem Weltmarkt durch außereuropäische Billigproduzenten, angeheizt. Während etwa Großbritannien einen liberalen Kurs beschritt und seinen Bedarf an Grundnahrungsmitteln weitgehend über seine Kolonien und den Weltmarkt deckte, verfolgten die meisten kontinentaleuropäischen Staaten, darunter das Deutsche Reich, einen protektionistischen Kurs und errichteten Zollschranken zum Schutz der inländischen Nahrungsmittelanbieter. Neben dem Drängen von Großagrarier-Lobbies wirkten dahinter gesellschaftlich breiter verankerte Momente politisch-ideologischer wie politisch-ökonomischer Art: Einerseits galt das schaftlichen „Blitzkriegsstrategie“, in: ebd., S. 936–1029; Kay, Alex J., Exploitation, Resettlement, Mass Murder. Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940–1941, New York u.a. 2006; Gerhard, Gesine, Food and Genocide. Agrarian Politics in the Occupied Territories of the Soviet Union, in: Contemporary European History 18 (2009), S. 45–65. 14 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 209–211, 217 (Zitat); Backe, Herbert, Die russische Getreidewirtschaft als Grundlage der Land- und Volkswirtschaft Russlands, Berlin 1941. 15 Die historisch angelegten ersten beiden der insgesamt vier Teile des Buches wurden zehn Jahre nach dem Selbstmord des Autors 1947 im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis im Verlag des Instituts für Geosoziologie und Politik unter neuem Titel wieder veröffentlicht: Backe, Herbert, Kapitalismus und Nahrungsfreiheit, Bad Godesberg 1957.

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„Bauerntum“, vor allem in konservativen Kreisen, als Rückgrat der traditionellen „Gemeinschaft“ gegen die Auswüchse der industriellen „Gesellschaft“, etwa die erstarkte Arbeiterbewegung. Andererseits zeigten sich die bäuerlichen Familienwirtschaften, vor allem in Krisenzeiten, als weitaus beständiger als die kapitalistischen Gutsbetriebe: Während bei sinkenden Profiten die letztgenannten die Landarbeiterlöhne zu drücken suchten oder, falls dies nicht gelang, die Agrarproduktion zurückfuhren, steigerten die erstgenannten den Arbeitseinsatz zur Versorgung der Familienangehörigen bei verringerten Ansprüchen („Selbstausbeutung“). Kurz, in der Krise begünstigte der Agrarkapitalismus die Extensivierung, die bäuerliche Familienwirtschaft hingegen die Intensivierung der Agrarproduktion. Das waren gewichtige Argumente in einer Zeit wachsender Spannungen in den Staaten, etwa zwischen alten Eliten und neuen Massenbewegungen, sowie zwischen den nationalistisch aufgestachelten Staaten. Das sich organisierende „Bauerntum“ erschien den Herrschenden als verlässlicher Bündnispartner und die im Kriegsfall existenzielle „Nahrungssicherheit“ als nationale Aufgabe ersten Ranges. Folglich betrieben die Nationalstaaten teils direkt mittels der Ministerialbürokratie sowie staatlicher Forschungs- und Ausbildungsstätten, teils indirekt mittels Agrarverbänden im öffentlichen Auftrag („Agrarkorporatismus“), die Förderung des bäuerlichen Agrarsektors – in Verbindung mit der Forderung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit im Interesse der „Volksernährung“. Die Versorgungsmängel im Ersten Weltkrieg und die Überschussproblematik in der Weltwirtschaftskrise führten selbst Zweiflern die Notwendigkeit direkter oder indirekter Staatseingriffe in den Agrarsektor eindrücklich vor Augen. Folglich dehnten die Staaten Europas in den 1930er-Jahren die Agrarregulierung vom Zollaußenschutz auf die Faktor- und Produktmärkte im Inneren aus; selbst Großbritannien begann nun vom liberalen Kurs abzurücken. 16 So gesehen lag die harsche Polemik Herbert Backes gegen die liberalistische Weltwirtschaft zwar nahe an der agrarpolitischen Debatte im Europa der 1930erJahre; zugleich gab die Alternative des kontinentaleuropäischen „Großraumes“ eine genuin nationalsozialistische Antwort auf die durch den Globalisierungsschub des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufgeworfene „Agrarfrage“: Die globale Verflechtung der Landwirtschaft unter dem liberalistischen Regiment der „unsichtbaren Hand“ der Marktkräfte führe die bäuerliche Landwirtschaft geradewegs in den Untergang; daher müsse die „sichtbare Hand“ der Staatsführung als Organ des „Volkswillens“ das „Bauerntum“ im europäischen „Großraum“ schützen sowie dessen ökonomisches und „rassisches“ Leitungspotenzial zur Entfaltung bringen. Dass diese „Großraumwirtschaft“ arbeitsteilig organisiert sein sollte, erschien aus der Sicht Herbert Backes nur schlüssig: Einerseits hatten die seit 1934 propagierten „Erzeugungsschlachten“ den Selbstversorgungsgrad an Nah16 Zum diskursiven und gesellschaftlichen Kontext vgl. Koning, Niek, The Failure of Agrarian Capitalism. Agrarian politics in the United Kingdom, Germany, the Netherlands and the USA 1846–1919, London u.a. 1994; Langthaler, Ernst, Landwirtschaft vor und in der Globalisierung, in: Sieder, Reinhard; ders. (Hgg.), Globalgeschichte 1800–2010, Wien u.a. 2010, S. 135–169, hier S. 143–149.

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rungsmitteln von anfänglich 80 bis Kriegsbeginn auf lediglich 83 Prozent gesteigert; vor allem klaffte eine gewaltige „Eiweiß- und Fettlücke“ in der Bilanzrechnung. Andererseits strebten Herbert Backe wie auch die übrigen Entscheidungsträger im NS-Agrarapparat keineswegs die Rückkehr zu einem Agrarstaat an; es ging ihnen vielmehr um die Existenz einer kritischen Masse an ökonomisch und „rassisch“ leistungsfähigem „Bauerntum“ innerhalb Deutschlands als Industriestaat. Kühlen Rechnern wie Herbert Backe schien die überlebenswichtige „Nahrungssicherheit“, wenn überhaupt, allein in einem unter deutscher Führung stehenden „Großraum“ unter Einschluss der Agrarüberschussgebiete Ost- und Südosteuropas machbar. Bereits in den 1930er-Jahren suchte Deutschland dieses Potenzial, vor allem hinsichtlich Getreide und Ölfrüchten, mittels Handelsverträgen auszuschöpfen; ab Kriegsbeginn sollte die – jedoch weit hinter den überzogenen Erwartungen nachhinkende – Ausplünderung der besetzten und abhängigen Gebiete die Lücken füllen. Herbert Backes Rede von der „Lebensraumgemeinschaft“ der „Völker Europas“ erscheint angesichts der im „Hungerplan“ und dem darauf Bezug nehmenden „Generalplan Ost“ kalkulierten Entrechtung, Enteignung und massenhaften Vernichtung der Bevölkerung dieser Länder als blanker Zynismus. 17 In der Schrift Um die Nahrungsfreiheit Europas verknoten sich zumindest vier Diskursstränge, die mit den Leitbegriffen „Großraum“, „Rasse“, „Bauerntum“ und „Nahrungssicherheit“ zu fassen sind. Jeder dieser Stränge lässt sich bis ins Kaiserreich – und damit weit vor die NS-Ära – zurückverfolgen. Erst durch ihre Verschränkung im Kontext des Nationalsozialismus in den späten 1930er-, frühen 1940er-Jahren gewannen sie jene Radikalität, die das „Zeitalter der Extreme“ auszeichnet. Folglich mag man aus einer Nach-1945er-Perspektive, oberflächlich besehen, darin ein Manifest der Anti-Moderne erkennen. Doch eine genaue Lektüre der darin eingeschriebenen Vor-1945er-Perspektive lässt Zweifel an einer solchen Etikettierung aufkommen. Herbert Backe schwebte keine Rückkehr in vormoderne Verhältnisse vor; sein Blick war nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gewandt: Das Buch entwirft eine Alternative zur Modernisierung der Gesellschaft jenseits der scheinbar gescheiterten Modelle des liberalistischen Agrarindividualismus und des sozialistischen Agrarkollektivismus, der USamerikanischen Farm und der sowjetischen Kolchose. 18 Dieser „dritte Weg“ peilte eine kontinentaleuropäisch integrierte Hochleistungslandwirtschaft auf familienwirtschaftlicher Grundlage im Dienst der zentralbürokratisch regulierten „Volksernährung“ an. 17 Vgl. Corni; Gies, Brot, S. 261–318; Tooze, Ökonomie, S. 224–239; Volkmann, Heinrich E., Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reichs und der Zweite Weltkrieg, Bd. 1: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979, S. 177–368. 18 Vgl. Bavaj, Riccardo, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, S. 199–204, der von einem seines normativen Gehalts entkleideten Modernisierungsbegriff aus im Nationalsozialismus den Entwurf einer „alternativen Moderne“ sieht. Als Regionalstudie dazu vgl. Langthaler, Ernst, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938-1945, Wien u.a. 2016.

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Damit ähnelt dieser Entwurf einer „alternativen Moderne“ in manchen Zügen jenem agrarpolitischen Leitbild, das Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre der GAP der EWG zugrunde lag. Wohl lässt sich zwischen der „Großraumwirtschaft“ à la Herbert Backe und dem Agrar-Europa der EWG keine Gleichartigkeit behaupten; dagegen sprechen allein schon der imperialistisch-rassistische Hegemonieanspruch Nazi-Deutschlands, vor allem gegenüber Ost- und Südosteuropa, im einen Fall, der internationale Kompromisse voraussetzende Interessenausgleich westeuropäischer Staaten im anderen Fall. Doch eine Ähnlichkeit, eine – um eine treffende Metapher zu entlehnen – „entfernte Verwandtschaft“, liegt auf der Hand 19: Beide Fälle repräsentieren anti-agrarkapitalistische, „bäuerliche“ Antworten auf die durch die Globalisierung aufgeworfene „Agrarfrage“ jenseits des nationalstaatlichen Rahmens. Diesen verwickelten Zusammenhang präziser zu benennen, wäre eine lohnende Aufgabe künftiger Geschichtsforschung. 20 Literaturhinweise Corni, Gustavo; Gies, Horst (Hgg.), Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997. Gerhard, Gesine, Food and Genocide. Agrarian Politics in the Occupied Territories of the Soviet Union, in: Contemporary European History 18 (2009), S. 45–65. Gerlach, Christian, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998 [überarbeitete Neuauflage: München 2001]. Langthaler, Ernst, Landwirtschaft vor und in der Globalisierung, in: ders.; Sieder, Reinhard (Hgg.), Globalgeschichte 1800–2010, Wien u.a. 2010, S. 135–169. Tooze, Adam, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007.

Quelle Herbert Backe: Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum (1942) 21 Der geistige Umbruch, eine Voraussetzung für die Gestaltung Kontinentaleuropas Durch die Erschließung der Welt hat der Liberalismus die meisten Staaten Europas ernährungswirtschaftlich in ein Abhängigkeitsverhältnis von den Kolonialländern gebracht. Zwei Möglichkeiten gab es, den durch die Industrialisierung Europas enorm gestiegenen Bedarf an Nahrungsgütern und landwirtschaftlichen Rohstoffen zu decken: den Weg der Intensivie19 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, Frankfurt am Main 2008. 20 Zu aktuellen Forschungsarbeiten vgl. Patel, Ground; zum Konnex von NS-Agrarpolitik und GAP vgl. Patel, Kiran Klaus, Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955–1973, München 2009, S. 508. 21 Backe, Herbert, Um die Nahrungsfreiheit Europas. Weltwirtschaft oder Großraum, Leipzig 1942, S. 261f. (Schlusskapitel). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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rung der eigenen Landwirtschaften in Europa oder den Weg der extensiven Ausweitung der landwirtschaftlichen Erzeugungsstätten nach Übersee. Der Liberalismus erzwang das Beschreiten des zweiten Weges. Damit war jedoch eine Lösung der Ernährungsfrage Europas nicht gegeben, vielmehr entstand nur ein scheinbares Gleichgewicht zwischen Bedarf und Bedarfsdeckung, ein Gleichgewicht, das Europa einige Jahrzehnte eine Ernährungssicherheit vortäuschen konnte. Das Ergebnis dieser Entwicklung war die Schwächung der Landbevölkerung, des Bauerntums. Durch die liberale Entwicklung wurden also nicht nur die Grundlagen der europäischen Volkswirtschaften, die Landwirtschaften, unterhöhlt, sondern auch das Bauerntum als Lebensquell der Völker getroffen. Diese Entwicklung musste – da gegen die völkische und wirtschaftliche Existenz Europas gerichtet – einmal ihr Ende finden. Wohl hat der Weltkrieg die Nachteile dieses Systems offenkundig gemacht, sie aber nicht abzustellen vermocht. Erst der Nationalsozialismus als weltanschauliche Bewegung schuf in Deutschland die Grundlagen für den Aufbau, indem er die eigenen Kräfte seines Bauerntums und seines Bodens mobilisierte. Der Krieg von 1939/42 wird auch den anderen Völkern Europas die Richtigkeit des deutschen Weges beweisen und sie erkennen lassen, daß nur durch eine arbeitsteilige Gemeinschaft der kontinentaleuropäischen Völker die Ernährung Europas gesichert werden kann. Der Weg der landwirtschaftlichen Intensivierung, den der Liberalismus mit einer extensiven Flächenausweitung nach Übersee verschüttete, muß nunmehr nach dem deutschen Beispiel im Rahmen Kontinentaleuropas beschritten werden. Notwendig hierzu ist nicht nur das Verständnis der Staatsmänner, sondern ein geistiger Umbruch bei den Völkern. Genau so wie die Erzeugungsschlacht in Deutschland ohne einen weltanschaulichen Umbruch im Nationalsozialismus ohne Erfolg geblieben wäre, da der Wille und die Erziehung zur Gemeinschaft fehlten, ist für die anderen Völker Europas ein geistiger Umbruch und die Einstellung auf das Ziel einer kontinentaleuropäischen Wirtschaft notwendig. Mit alten Bausteinen und altem Denken kann das Neue nicht erbaut und geschaffen werden, Dieses Neue jedoch muß bald beschaffen werden, wenn nicht Jahre oder gar Jahrzehnte schwerster Ernährungssorgen einzelne Staaten Kontinentaleuropas treffen sollen. Der Liberalismus hatte für sein System der Schaffung eines Ernährungsgleichgewichts hundert Jahre Zeit, dem Nationalsozialismus blieben nur sechs Jahre für den Aufbau. Kontinentaleuropa wird noch weniger Zeit haben. Nicht einzelne Völker haben sich von der Weltwirtschaft abgewandt, um der Autarkie als Ideal nachzustreben, sondern die Weltwirtschaft hat im Kriege 1914/18 und nach dem Krieg durch Versailles den besiegten europäischen Völkern, aber auch vielen anderen Staaten in Europa die Lebensmöglichkeiten genommen. Heute nimmt diese zusammenbrechende Weltwirtschaft unter Führung der angelsächsischen Demokratien allen europäischen Staaten das Lebensrecht durch die erweiterte Hungerblockade. Schon aus Gründen der Abwehr gegen diesen englischen Schlag müssen alle europäischen Völker von dem fanatischen Willen beseelt sein, die Nahrungsfreiheit Kontinentaleuropas zu sichern. Abwehr allein jedoch ist Schwäche, ist der Versuch, Altes zu erhalten. In den nächsten Jahren muß ein Neues wachsen. Dazu genügt nicht Abwehr allein, sondern bedingungsloser Einsatz für die neue Aufgabe ist erforderlich. Das Ziel dieser Aufgabe ist: für Kontinentaleuropa die Nahrungsfreiheit und Unabhängigkeit von der liberalen Weltwirtschaft zu sichern. Der Weg, der zu diesem Ziele führt, ist vorgezeichnet. Es ist die europäische Lebensraumgemeinschaft, an der alle Völker Europas mitzuarbeiten verpflichtet sind.

AUGUST 1941. THE ATLANTIC CHARTER AND THE FUTURE OF EUROPE1 Volker Berghahn Viewed from across the Atlantic, it is no doubt remarkable that a growing number of prominent historians, Ute Frevert and Hartmut Kaelble among them, have been vigorously promoting the notion of a “Europeanization” of German historiography whose predominant focus so far has been the rise and development of the modern nation-state. Whether this has something to do with the Zeitgeist of the enlarging European Union or is due to the fact that multi-volume national histories like those by Thomas Nipperdey and Hans-Ulrich Wehler have lost their allure, it represents a shift that is presumably permanent. But there is also the shift in perspective that looks beyond Europe and is global, even if it is too early to say how this new kind of transnational and transregional history will develop. Furthermore, there is the related question of the continuities and discontinuities in European history. As far as the 20th century is concerned, 1914, 1917, 1933, 1945, and 1989 have long been identified as major turning points and have been examined in innumerable studies. The argument underlying this essay is that 1941 was perhaps the most crucial year in the history of Europe, if not of the world, during the past century. The choice of this year was partly determined by the fact that this year is marked by the decision of the Nazi regime to initiate the “Final Solution of the Jewish Question”. However, this decision was delimited in the sense that this was the beginning of the mass murder of the Jews of Europe. There is, of course, evidence that Hitler and his anti-Semitic cronies would also have targeted Jews in other parts of the world, but this presupposed a victory against the Soviet Union which would then have provided the launching pad for further territorial conquests. Given Hitler’s fanaticism, to this extent Jews all over the world were potentially in danger. To be sure, in the absence of a written order, the precise date of Hitler’s decision remains unclear, even though it, too, seems to be related to American behavior and policy. Tobias Jersak has dated it to the summer 1941 and linked it directly to the proclamation of the Atlantic Charter which the Führer is said to have interpreted as evidence of the obsessively suspected anti-Nazi conspiracy. 2 1 2

Essay relates to source: “Freedom from fear and want.“ The Atlantic Charter (1941). Essay and source are published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: . The Atlantic Charter, reprinted from: Brinkley, Douglas; Facey-Crowther, David A. (eds.), The Atlantic Charter, New York 1994, pp. xxvii–xxviii.

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Christian Gerlach, Saul Friedländer and others have put the decision into December 1941, following the American entry into World War II and the sense that Europe’s Jews were no longer useful as hostages to keep Roosevelt from officially joining Churchill and Stalin. However, this contribution is primarily concerned with another context that points beyond the traditional boundaries of Europe. 1941 is not only the year when Hitler attacked the Soviet Union; it is also the year when Mussolini expanded into North Africa in hopes of conquering Egypt and when the Japanese overran the Chinese mainland and made plans to move into Southeast Asia. As to Hitler’s eastern campaign, he and his generals confidently expected in the summer of 1941 the quick and early collapse of the Red Army after German troops had reached the outskirts of Moscow in a number of daring pincer movements that netted several hundred thousand Russian prisoners of war. No less telling, in anticipation of a swift victory that would give the Germans access to vast territories and their raw materials, an army of ministerial bureaucrats and academics at various research institutes had developed ambitious postwar plans. It might be argued that they merely produced worthless blueprints of the kind that are always compiled in such circumstances. However, in this case, they were more than pieces of paper written by eager civil servants. There can be little doubt that in the face of impending triumph, many of them would have been implemented. Indeed, the regime was so committed to its war aims that the policies of systematic looting and mass murder that had begun in Poland in 1939 were simply extended into the Soviet Union with the help of organizations and precepts that had been established in 1940/41. This included the inhuman practices of ethnic cleansing, mass liquidations, deportations of the Polish inhabitants of the country’s western parts to the Generalgouvernement in the South-East from where the able-bodied among them were recruited as slave laborers. It also included the countless groups of agricultural experts and managers of German industrial and commercial enterprises who scoured the occupied territories for economic resources and opportunities to take over former Soviet production facilities. The aim was, for one, to create resettlement opportunities for ethnic Germans from the Baltic states and Transylvania. The second objective was to build an economic empire that was geared exclusively to the economic needs of Germany. Accordingly, the travellers from Germany tried to introduce the same principles of a centralized command economy that was highly cartelized through agreements between independent firms over prices and conditions, while upholding the principle of private property. As regards the country’s involvement in the world market, the achievement of self-sufficiency and a far-reaching de-coupling from the international system became the priority. In 1941, the economist Arno Sölter wrote an influential brochure which he entitled Grossraumkartell, as a model of how the Germans proposed to reorganize the economic structures of the occupied nations. After 1945, some radical-rightist circles promoted a very misleading interpretation of what the Nazi New Order represented. It was presented as a realiza-

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tion of the old dream of a united Europe in which its non-Jewish and non-Slavic populations and governments would all happily cooperate as equal partners in a world of large regional blocs. This was also a much more ambitious framework of European integration and world politics than the “Fortress Europe” that emerged from 1943 when Nazi Germany found itself on the defensive and faced Allied invasions from all sides. This means that from all we know, Europe was to be organized in 1941 as a formal empire in which the various peripheral parts would be geared to the dominant interests of the Reich. German power would be exerted without much regard to the needs and expectations of Berlin’s neighboring societies. Wherever there was not compliance and collaboration but resistance to this concept, German military superiority would be used brutally to eradicate the opponents. These German aspirations and developments must be seen against the background of Mussolini’s activities in the eastern Mediterranean and Japan’s efforts to create a “Greater East Asia Co-Prosperity Sphere” based on the subjugation of the indigenous peoples and their economic exploitation. What has been said so far is the proverbial one side of the coin. The other side is represented by the Soviet entry into the war in June 1941 and that of the United States that same December. The Americans came into the conflict after the Japanese attack on Pearl Harbor and Hitler’s declaration of war against the United States. But once they were in, the defeat of the Axis powers Germany, Japan, and Italy was merely a matter of time. The Allied victory was anticipated by contemporaries and is reflected in a simple comparison of industrial output. Thus in 1943, with the American war production machine in high gear, the Allies produced military hardware in the value of 62.5 billion US Dollar as against 18.3 billion US Dollar churned out by Germany and Japan. In short, the Axis never came close to matching American output and, in a tacit admission of their material inferiority, typically relied increasingly on will power and individual heroism as the allegedly more important factors that would bring the Allies to their knees. What has been said so far takes us to the question of the war aims that the Americans were beginning to develop in the summer 1941. In the face of the isolationism into which the United States had retreated after 1918 and even more so after the start of the Great Slump that rocked the world economy after 1929, a sauve qui peut attitude became widespread. By the beginning of the Second World War those who wanted to re-engage the United States in the world economy were still in a minority. The rest of the population was not yet prepared for a realignment. Consequently, it took some time for an infrastructure to emerge that could begin to work on Allied peace aims in greater detail. It is against this background that the acceptance of the text of the Atlantic Charter gains its significance. In it, US President Franklin D. Roosevelt and British Prime Minister Winston Churchill developed the contours of a peace that looked totally different from the one that Hitler envisioned for Europe and with which the United States entered the war a few months later. The document was drawn up as part of a conference that the two leaders held on board of warships in Placentia Bay off the coast of Newfoundland. It is not quite clear where the first

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draft originated. Churchill later claimed it for himself. However, it seems that Harry Hopkins, Roosevelt’s right-hand person, tipped off Churchill before the meeting that a draft declaration of this kind was expected. Finally, there is the assertion of Sir Alexander Cardogan, the permanent under secretary, that he wrote down the draft early in the morning of August 10 and that Churchill merely made a few unimportant changes. However, the intermediate negotiations between the two sides were not entirely harmonious where the future of the British Empire was concerned. Roosevelt had at one point remarked that extracting raw materials from colonies without promoting the industrialization of those regions was an outmoded method of international relations that could not secure postwar peace and stability. Churchill, who had once remarked that he had not become prime minister to preside over the dissolution of the British Empire, did not like this idea. And so, for the sake of Allied cooperation, references that related to equal access to the raw materials of the world were deleted and those that mentioned open trade were watered down to a vague sentence that existing obligations were to be respected. But whatever the immediate origins of the Atlantic Charter, the document demonstrates very impressively what kind of world Roosevelt and Churchill thought about at exactly the same moment when the Axis powers began to realize their visions of a New European Order. The contrast could not have been starker and offers a good glimpse of the two worlds that confronted each other during this crucial year in European and indeed world history. Some scholars have argued that the proclamation of these universalist aims was not purely altruistic and reflected a continuity in American foreign policy that was in effect imperialistic, though in an informal sense of economic penetration without military occupation. While it is possible to find evidence of such a design in later years, as revealed by “revisionist” historians such as Gabriel Kolko, it seems more likely that Roosevelt’s Atlantic Charter was born from a defensive mentality and the urgent need to rally the resistance against the so patently aggressive Axis powers. In 1941, it was difficult enough to move the American population away from its isolationism. There was also the problem that the liberal democracies of the West had barely recovered from the prolonged depression with its mass unemployment that had sown many doubts about the future viability of liberalism. Authoritarianism in its rightist or leftist guise appeared in the eyes of many to be the wave of the future. In this situation and at a time when Japan was expanding into mainland Asia, the Soviet Union faced military collapse, and Britain was the only European power left to confront Hitler, it seemed important to enunciate the principles of an alternative vision of world order to those of the Axis powers. It is also interesting to look at the evolution of attitudes in Washington. For some time, Roosevelt had been no less alarmed by the aggressiveness of the fascist powers than Churchill who, by this time, was involved in a war with Hitler. Thus, the President used his weekly radio fireside chat on 29 December 1940 to talk about the “two worlds that stand opposed to each other.” A few weeks later, he spoke of the “four freedoms” – from want and fear and of religion and infor-

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mation – whose preservation he deemed essential. Pushed by his advisors to elaborate on these axioms as a way of formulating an alternative to the new orders envisioned by the Axis powers and also of convincing the American people that basic values and principles were at stake, the ground for the Atlantic Charter was being prepared in the weeks before August. And since the Charter had mentioned only two of the four freedoms (from want and fear), Roosevelt, in a speech before the US Congress on 21 August 1941, explicitly included the other two. Stalin signed on to the Charter a month later. In light of all this, it is surprising but perhaps typical that neo-Nazi circles advanced the argument after the war that Himmler’s SS with its recruits from many other European countries had fought for the New Europe that was emerging in the Western parts of the region after 1945 and that Hitler’s New Order anticipated the postwar European community and the West’s struggle against communism. It should be clear that nothing was further from the truth and that there is simply no valid comparison to be made, both in terms of Allied peace aims during the Second World War and of the structures and spirit of cooperation and equality that pervaded the emergent European Community after its end. When this Community was forged, first in the shape of the European Coal and Steel Community, there were some who thought of it as a Continental association rather than an Atlantic one. While such tendencies also emerged later on in the unification process, for example, in the shape of Gaullism, the United States, as the hegemonic power of the West, always insisted that the orientation of the Community had to be Atlanticist. It had to be politically democratic and economically open and geared to the multilateral, liberal-capitalist world trading system without imperial blocs and cartels that Washington envisioned in 1941 and was determined to implement after 1945. All this is meant to stress the significance of 1941 for the future of Europe and indeed the rest of the world. Hitler came very close to defeating Stalin that summer. The tide then turned and the Second World War was won by the Allies in the East with enormous sacrifices on the part of the Russian army and population. But the American contribution was also indispensable and the Allied victory then facilitated, at least in the Western half, the construction of a peaceful and democratic Europe that we have today and that tries to live by the principles of the Atlantic Charter and the basic human rights and freedoms that are also enshrined in the European Union. Bibliography Brinkley, Douglas; Facey-Crowther (eds.), The Atlantic Charter, New York 1994. Hildebrand, Klaus, Deutsche Außenpolitik, 1933–1945, Stuttgart 1973; English translation: The Foreign Policy of the Third Reich, London 1973. Junker, Detlev, Kampf um die Weltmacht. Die USA und das Dritte Reich, 1933–1945, Düsseldorf 1988. Kolko, Gabriel, The Politics of War. The World United States Policy, 1943–1945, New York 1968.

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Loth, Wilfried, Die Teilung der Welt, München 1987; English translation: The Division of the World, 1941–1955, London 1988. Wilson, Theodore A., The First Summit. Roosevelt and Churchill at Placentia Bay, 1941, Lawrence, KS, 1991.

Source “Freedom from fear and want”. The Atlantic Charter (1941) 3 On 14 August 1941 US President Roosevelt and British Prime Minister Churchill made the following declaration of “certain common principles in the national policies of their respective countries on which they base their hopes for a better future of the world”: First, their countries seek no aggrandizement, territorial or other; Second, they desire to see no territorial changes that do not accord with the freely expressed wishes of the people concerned; Third, they respect the right of all peoples to choose the form of government under which they live; and they wish to see sovereign rights and self-government restored to those who have been forcibly deprived of them; Fourth, they will endeavor, with due respect for their existing obligations, to further the enjoyment by all States, great or small, victor or vanquished, of access, on equal terms, to the trade and raw materials of the world which are needed for their economic prosperity; Fifth, they desire to bring about the fullest cooperation between all nations in the economic field with the object of securing, for all, improved labor standards, economic advancement and social security; Sixth, after the final destruction of the Nazi tyranny, they hope to see established a peace which will afford to all nations the means of dwelling in safety within their own boundaries, and which will afford assurance that all the men in all the lands may live out their lives in freedom from fear and want; Seventh, such a peace should enable all men to traverse the high seas and oceans without hindrance; Eighth, they believe that all of the nations of the world, for realistic as well as spiritual reasons, must come to the abandonment of the use of force since no future peace can be maintained if land, sea and air armaments continue to be employed by nations which threaten, or may threaten, aggression outside of their frontiers, they believe, pending the establishment of a wider and permanent system of general security, that the disarmament of such nations is essential. They will likewise aid and encourage all other practicable measures which will lighten for peace-loving peoples the crushing burden of armaments. 3

The Atlantic Charter, reprinted from: Brinkley, Douglas; Facey-Crowther, David A. (eds.), The Atlantic Charter, New York 1994, pp. xxvii–xxviii. The source is published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: .

CHURCHILLS VISION DER VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA 1 Gerhard Altmann David Cameron muss derzeit an vielen Fronten kämpfen. Es ächzt vernehmlich im Gebälk der für Briten ohnehin fremdartig anmutenden Koalitionsregierung, die sich inzwischen mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner eines raschen wirtschaftlichen Aufschwungs zufriedenzugeben scheint. Das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands im Sommer 2014 legt zudem die Axt an die singulär erfolgreiche Union aus Engländern und keltischer Peripherie – just zu dem Zeitpunkt, wenn mit der Hanoverian succession von 1714 die innere Befriedung des Königreichs nach Jahrzehnten des Aufruhrs gefeiert wird. Und dann Europa. Immer wieder Europa. Wie ein Menetekel scheint der Name des Alten Kontinents an den Wänden von Whitehall zu prangen. Nachdem sich die Konservative Partei seit Mitte der 1990er-Jahre in europapolitischen Grabenkämpfen selbst zerfleischt hatte und so – mit dem Hautgout des Sektiererischen behaftet – für das Gros der Wähler lange nicht als satisfaktionsfähig galt, muss nun Cameron sein europäisches Gesellenstück abliefern. Die Eurosceptics in der eigenen Partei, vor allem aber die isolationistische UKIP, treiben den Premier vor sich her: Um Zeit zu gewinnen, hat der Vernunfteuropäer Cameron widerwillig ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU anberaumt. Es soll 2017 stattfinden. Bis dahin möchte Cameron die europäischen Partner von der Notwendigkeit einer Vertragsrevision überzeugen, damit er nicht mit leeren Händen in die Referendumskampagne einsteigen muss. Für die Tories, so der Labour-Politiker Thomas McAvoy süffisant, sei Europa das „politische Äquivalent eines Vollmonds – alle möglichen seltsamen Kreaturen erscheinen.“ 2 Doch woher kommt es, dass sich die Parteien Großbritanniens mit unvergleichlicher Wollust dem Zankapfel Europa hingeben? Um es vorwegzunehmen: Die Insellage und das Empire allein erklären gar nichts. Es lohnt sich daher, einen Blick zurück auf den Beginn der britisch-europäischen Mesalliance nach dem Zweiten Weltkrieg zu werfen. Gut ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs wandte sich Winston Churchill an die akademische Jugend der Universität Zürich. Ohne sich regierungsamtliche Rücksichten auferlegen zu müssen, konnte der britische Oppositi1 2

Essay zur Quelle: The Tragedy of Europe. Winston Churchills Rede an der Universität Zürich (19. September 1946). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zitiert in: Dugher, Michael, We Know the Economics of Cameron’s Europe Speech Is a Disaster, But the Politics Is All Wrong Too, in: Huffington Post, The Blog, URL: (16.11.2015).

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onsführer seine Gedanken über die Zukunft Europas schweifen lassen. Mit gewohnter rhetorischer Finesse entwarf der abgewählte Kriegsheld dabei ein Szenario, das Europa den Weg aus der selbstverschuldeten Erniedrigung ebnen sollte. Noch sei nämlich ein Zeitfenster geöffnet, um vor dem „approach of some new peril“ 3 die Gelegenheit zu einem europäischen Neuanfang zu ergreifen. Dazu müssten die Europäer jedoch über ihre Schatten springen und die von den „Teutonic nations“ entfachten „frightful nationalistic quarrels“ ein für alle Mal beilegen. Am Ende dieses, so Churchill, durchaus einfachen Prozesses, in dessen Verlauf „the European Family“ neu erschaffen würde, stünden die „United States of Europe“. Die Wiedergeburt Europas aus den Ruinen des dreißigjährigen Kriegs Deutschlands um die Hegemonie auf dem Kontinent müsste indes nicht voraussetzungslos vonstattengehen. Churchill verwies auf die Vorarbeit, die Graf Coudenhove-Kalergi und Aristide Briand in der Zwischenkriegszeit geleistet hätten. Auch der Völkerbund sei durch sein Scheitern nicht diskreditiert worden. Vielmehr habe die Idee, verschiedene Staaten unter dem Dach einer nationale Partikularinteressen überwölbenden Organisation zusammenzuführen in den Vereinten Nationen neue Gestalt angenommen. Und neben dem britischen Geschenk an die Weltgemeinschaft, dem Commonwealth of Nations, habe eine europäische Gruppierung ebenfalls ihre Berechtigung. Bei aller Begeisterung für seine Vision eines wiedervereinigten Europas übersah Churchill die allenthalben lauernden Fallstricke freilich nicht. Doch zwei Willensakte sollten verhindern, dass Europa vor lauter Vergangenheitsfixierung die Chancen einer gemeinsamen Zukunft aus den Augen verlor. Ein „act of faith“ müsse den Grundstein für das europäische Haus legen, in das dann unter den Auspizien eines „enlarged patriotism“ die bislang verfeindeten Nationen einziehen. Und nach der unerlässlichen Bestrafung der Schuldigen und der Reduzierung Deutschlands auf ein für alle Europäer erträgliches und berechenbares Maß bedürfe es – so Churchill William Gladstone zitierend – eines „blessed act of oblivion“, damit nicht Rachsucht die Oberhand über die Zukunft Europas gewinne. Der Elder Statesman aus Großbritannien, der sich in seiner Rolle als Oppositionsführer im Unterhaus kaum ausgelastet gefühlt haben dürfte, versuchte, seine Zürcher Zuhörer zu verblüffen, als er ihnen den ersten Schritt auf dem Weg zur Wiedergeburt der europäischen Familie skizzierte. Denn immerhin beschwor Churchill eine „partnership between France and Germany“ als unabdingbare Gründungsvoraussetzung der Vereinigten Staaten von Europa – ein zweifelsohne ambitioniertes Unterfangen vor dem Hintergrund zweier Weltkriege, aber andererseits nicht präzedenzlos, wenn man auf die Aussöhnungsbemühungen der 1920er-Jahre schaut. Und genau in diesem Punkt hat Churchills Vision dann auch die tatsächliche Entwicklung am präzisesten vorweggenommen.

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Churchill, Winston, The Tragedy of Europe, in: ders., His Complete Speeches 1897–1963, Bd. VII: 1943–1949, hg. von Robert Rhodes James, New York u.a. 1974, S. 7379–7382. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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Wenn Frankreich und Deutschland aus Churchills Sicht die Führungsrolle im Prozess der europäischen Wiedervereinigung zufalle, welche Funktion bliebe dann Großbritannien? Abgesehen von dem Hinweis auf das Commonwealth hatte sich Churchill über die britische Haltung Europa gegenüber ausgeschwiegen. Erst am Ende seiner Rede äußerte er sich hierzu konkreter, allerdings in einer Weise, die einen Vorgeschmack auf Großbritanniens zukünftige Rolle als „awkward partner“ 4 Europas bot: Großbritannien, das Commonwealth, Amerika, im Idealfall auch die Sowjetunion müssten „the friends and sponsors of the new Europe“ sein. Damit zeichnete der Kriegspremier den Sonderweg vor, den Großbritannien fortan in europäischen Fragen beschreiten sollte. Denn Churchill empfahl dem Vereinigten Königreich, den Prozess des Zusammenwachsens Europas wohlwollend zu begleiten und zu fördern. Von einer aktiven Teilhabe Großbritanniens an der europäischen Integration war indes nicht die Rede. Zwei Jahre nach seiner Zürcher Rede erläuterte Churchill vor Parteifreunden seine geopolitische Mengenlehre. Drei Kreise seien es, in denen sich die freien Nationen bewegten: das britische Commonwealth und Empire, die englischsprachige Welt, wozu Churchill die „weißen“ Dominions und die Vereinigten Staaten von Amerika zählte, sowie ein Vereinigtes Europa. Großbritannien spiele deshalb eine besondere Rolle in der freien Welt, weil es als einziger Staat an allen drei Kreisen partizipiere. 5 Unabhängig von der politischen Couleur der Verantwortlichen in London blieb diese strategische Matrix bis zum Ende der 1960er-Jahre maßgeblich für die außenpolitische Orientierung Großbritanniens. Dabei konnte freilich niemandem in Whitehall verborgen bleiben, dass sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die geopolitischen Gewichte dauerhaft verschoben hatten. Innerhalb des neuen, bipolaren Kraftfelds wurde auch die insulare Imperialnation in jene Entscheidungssituation hineingezwungen, die fast allen europäischen Staaten ein Glaubensbekenntnis abverlangte. Und dass sich London der Führung Washingtons anschließen würde, stand zu keinem Zeitpunkt in Frage. Gleichwohl erschien es Großbritannien in dem Vierteljahrhundert nach Ende des Kriegs als Gebot nationaler Selbstachtung to punch above its weight. Und im Grunde genommen ist dieser Habitus des Führen-Wollens bis heute als Movens britischer Außenpolitik spürbar, wie zuletzt der Irak-Krieg des Tandems Bush-Blair gezeigt hat. 6 Die – keineswegs unumstrittene – Special Relationship mit den Vereinigten Staaten wirkte gewissermaßen wie eine Frischzellenkur für die britische Weltmachtrolle, die auf der singulär erfolgreichen Verknüpfung des überseeischen Engagements mit einer globalisierten Industrieproduktion beruht hatte. Die Tradition britischer Herrschaft über Ozeane und Kontinente hinweg schien London sogar eine besondere Verantwortung aufzuerlegen: Wer sonst wäre angesichts der 4 5 6

George, Stephen, An Awkward Partner. Britain in the European Community, Oxford 32004. Vgl. Churchill, Winston, His Complete Speeches 1897–1963, Bd. VII: 1943–1949, hg. von Robert Rhodes James, New York u.a. 1974, S. 7712. Vgl. Deighton, Anne, The Past in the Present. British Imperial Memories and the European Question, in: Müller, Jan-Werner (Hg.), Memory and Power in Post-War Europe. Studies in the Presence of the Past, Cambridge 2002, S. 100–120, hier S. 100 und S. 119f.

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strategischen Turbulenzen, die Hitlers Krieg ausgelöst hatte, in der Lage gewesen, einer aus den Fugen geratenen Welt die Richtung zu weisen? Und auch wenn sich 1945 das Ende der europäischen Kolonialreiche deutlich am Horizont der Nachkriegszeit abzeichnete, so herrschte selbst unter den Befürwortern einer raschen Dekolonisation Einvernehmen darüber, dass man „rasch“ unter den spezifischen Bedingungen afrikanischer und asiatischer Verhältnisse interpretieren musste. Insgesamt drängte sich also die europäische Integration Großbritannien nicht als Bereicherung der eigenen Staatsraison auf, sondern war eher als Konzept für jene anderen europäischen Länder gedacht, die 1945 auf den Scherbenhaufen ihrer Geschichte blickten. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich, da sie verstehen helfen, weshalb Großbritannien bis heute – und dies keineswegs nur in der Außenwahrnehmung – als „a stranger in Europe“ 7 erscheint. Erstens galt das europäische Einigungswerk den Verantwortlichen in London lange Zeit als eine Art Krücke, mit deren Hilfe sich die geschlagenen Nationen von 1945 wiederaufrichten sollten. All jene, die sich wie Deutschland dem Totalitarismus verschrieben oder sich wie Frankreich im Zwielicht der Kollaboration kompromittiert hatten, bedurften nach dem Krieg eines neuen Daseinszwecks, da der alte Nationalstaat mit seinen hochgemuten Verheißungen in Trümmern lag. Nicht so in Großbritannien. Die Abwehr einer Invasion der Wehrmacht 1940 befeuerte dort die ohnehin stark ausgeprägte Überzeugung, auf dem bewährten Pfad der seit 1066 im Wesentlichen ungebrochenen Nationalgeschichte in die Zukunft voranschreiten zu können. Jede Preisgabe nationaler Souveränität zugunsten supranationaler Einheiten musste demnach die Freiheitsgeschichte seit den Tagen der Glorious Revolution Lügen strafen. Wenn Churchill 1946 in Zürich seinen Zuhörern die Zukunft eines Europas ausmalte, das „as free and as happy as Switzerland“ sein könne, dann ist dies als captatio benevolentiae zu verstehen, in der die Schweiz lediglich als rhetorischer Platzhalter für Großbritannien selbst fungierte. Eng damit zusammen hängt, zweitens, die britische Sicht auf die „deutschen Kriege“ des 20. Jahrhunderts. Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Mitte der 1950erJahre Gestalt anzunehmen begann und Westdeutschland im Glanz des „Wirtschaftswunders“ die Schatten der Niederlage von 1945 vergessen machte, regte sich bei vielen Briten ein gewisser Argwohn: Sollte Deutschland auf friedlichem Wege gelingen, was ihm mit kriegerischen Mitteln versagt blieb, nämlich die Hegemonie Europas zu erringen? Dann wäre es womöglich fatal, einer Gemeinschaft beizutreten, deren institutionelles Gepräge so unübersehbar kontinentale Vorstellungen widerspiegelte. Aus der Distanz, durchaus wohlwollend, aber keinesfalls mit bindender Wirkung für Großbritannien selbst, wollte man die kontinentale Einigung als Rückversicherung gegen einen dritten Zusammenbruch der europäischen Zivilisation unterstützen. Als Churchill 1946 generös Frankreich und Deutschland die Führung der Vereinigten Staaten von Europa zusprach, setzte er vermutlich auch darauf, dass dieser Prozess langwierig sein und viele Ressourcen 7

Wall, Stephen, A Stranger in Europe. Britain and the EU from Thatcher to Blair, Oxford 2008.

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in Anspruch nehmen würde. In dieser Zeit konnte sich Großbritannien getrost der Regeneration seiner Weltmachtrolle widmen. Letzteres gelang freilich nur eingeschränkt, wohingegen das französisch-deutsche Duumvirat tatsächlich zum Schrittmacher der europäischen Integration avancierte – mit folgenschweren Konsequenzen für die verspäteten europäischen Ambitionen Großbritanniens. Churchills Zürcher Rede erhellt die historischen Hypotheken, mit denen jeder Premierminister seit dem britischen EG-Beitritt im Jahr 1973 rechnen muss. Margaret Thatcher hat in den 1980er-Jahren zwar keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Vereinigten Staaten von Europa die kalte Schulter zeigen würde. Was aber, wenn die anderen Mitgliedsstaaten genau das anstreben: einen europäischen Nationalstaat? Als sich Churchills Option der splendid inspiration von einem vorgeschobenen Beobachterposten aus nicht länger durchhalten ließ; als Großbritannien unter Premierminister Macmillan Anfang der 1960er-Jahre erstmals ein Beitrittsgesuch in Brüssel einreichte, nur um durch Präsident de Gaulles Non gedemütigt zu werden; und als die Mitgliedschaft Anfang der 1970er-Jahre dann doch vollzogen wurde, hatte Großbritannien die Chance vergeben, die Logik der europäischen Integration nach eigenen Vorstellungen zu prägen. Zwar gilt Großbritannien unter EU-Juristen heute als Musterknabe, der europäische Richtlinien zügiger in nationales Recht umsetzt als etwa Deutschland oder Frankreich. Und die Einheitliche Europäische Akte von 1987, die das Tor zum Gemeinsamen Binnenmarkt aufstieß, trägt deutlich die marktliberale Handschrift Margaret Thatchers. Doch dies ändert nichts an dem für alle Beteiligten unbefriedigenden Gesamteindruck, dass man in London der Entwicklung hinterherläuft und bestenfalls schmollend die Opt-Out-Klausel zücken kann, um eine weitere Integrationsstufe zumindest für Großbritannien zu umgehen. Was sich im Jahr 1946 wie der Königsweg in die europäische Zukunft ausnahm, entpuppt sich für Großbritannien zu Beginn des 21. Jahrhunderts daher mehr und mehr als Spießrutenlauf. Literaturhinweise Broad, Roger, Labour’s European Dilemmas. From Bevin to Blair, Basingstoke 2001. N.N., Making the Break. How Britain Could Fall Out of the European Union, and What it Would Mean, in: The Economist (08.12.2012). Sandbrook, Dominic, Seasons in the Sun. The Battle for Britain, 1974–1979, London 2012. Turner, John, The Tories and Europe, Manchester u.a. 2000. Young, Hugo, This Blessed Plot. Britain and Europe from Churchill to Blair, Basingstoke u.a. 1999.

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Quelle The Tragedy of Europe. Winston Churchills Rede an der Universität Zürich (19. September 1946) 8 I wish to speak to you to-day about the tragedy of Europe. This noble continent […] is the home of all the great parent races of the western world. It is the fountain of Christian faith and Christian ethics. It is the origin of most of the culture, arts, philosophy and science both of ancient and modern times. If Europe were once united in the sharing of its common inheritance, there would be no limit to the happiness, to the prosperity and glory which its three or four hundred million people would enjoy. Yet it is from Europe that have sprung that series of frightful nationalistic quarrels, originated by the Teutonic nations, which we have seen even in this twentieth century and in our own lifetime, wreck the peace and mar the prospects of all mankind. And what is this plight to which Europe has been reduced? Some of the smaller States have indeed made a good recovery, but over wide areas a vast, quivering mass of tormented, hungry, care-worn and bewildered human beings gape at the ruins of their cities and homes, and scan the dark horizons for the approach of some new peril, tyranny or terror. Among the victors there is a babel of jarring voices; among the vanquished the sullen silence of despair. That is all that Europeans, grouped in so many ancient States and nations, that is all that the Germanic Powers have got by tearing each other to pieces and spreading havoc far and wide. Indeed, but for the fact that the great Republic across the Atlantic Ocean has at length realised that the ruin or enslavement of Europe would involve their own fate as well, and has stretched out hands of succour and guidance, the Dark Ages would have returned in all their cruelty and squalor. They may still return. Yet all the while there is a remedy which, if it were generally and spontaneously adopted, would as if by a miracle transform the whole scene, and would in a few years make all Europe, or the greater part of it, as free and happy as Switzerland is to-day. What is this sovereign remedy? It is to re-create the European Family, or as much of it as we can, and provide it with a structure under which it can dwell in peace, in safety and in freedom. We must build a kind of United States of Europe. In this way only will hundreds of millions of toilers be able to regain the simple joys and hopes which make life worth living. The process is simple. All that is needed is the resolve of hundreds of millions of men and women to do right instead of wrong and to gain as their reward blessing instead of cursing. Much work has been done upon this task by the exertions of the Pan-European Union which owes so much to Count Coudenhove-Kalergi and which commanded the services of the famous French patriot and statesman, Aristide Briand. There is also that immense body of doctrine and procedure, which was brought into being amid high hopes after the first world war, as the League of Nations. The League did not fail because of its principles or conceptions. It failed because these principles were deserted by those States who had brought it into being. It failed because the Governments of those days feared to face the facts, and act while time remained. This disaster must not be repeated. There is therefore 8

Churchill, Winston, The Tragedy of Europe, in: ders., His Complete Speeches 1897–1963, Bd. VII: 1943–1949, hg. von Robert Rhodes James, New York u.a. 1974, S. 7379–7382. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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much knowledge and material with which to build; and also bitter dear-bought experience. […] There is no reason why a regional organization of Europe should in any way conflict with the world organization of the United Nations. On the contrary, I believe that the larger synthesis will only survive if it is founded upon coherent natural groupings. There is already a natural grouping in the Western Hemisphere. We British have our own Commonwealth of Nations. These do not weaken, on the contrary they strengthen, the world organization. They are in fact its main support. And why should there not be a European group which could give a sense of enlarged patriotism and common citizenship to the distracted peoples of this turbulent and mighty continent? And why should it not take its rightful place with other great groupings in shaping the destinies of men? In order that this should be accomplished there must be an act of faith in which millions of families speaking many languages must consciously take part. We all know that the two World Wars through which we have passed arose out of the vain passion of a newly-united Germany to play the dominating part in the world. In this last struggle crimes and massacres have been committed for which there is no parallel since the invasion of the Mongols in the fourteenth century and no equal at any time in human history. The guilty must be punished. Germany must be deprived of the power to rearm and make another aggressive war. But when all this has been done, as it will be done, as it is being done, there must be an end to retribution. There must be what Mr. Gladstone many years ago called a “blessed act of oblivion”. We must all turn our backs upon the horrors of the past. We must look to the future. We cannot afford to drag forward across the years that are to come the hatreds and revenges which have sprung from the injuries of the past. If Europe is to be saved from infinite misery, and indeed from final doom, there must be an act of faith in the European family and an act of oblivion against all the crimes and follies of the past. Can the free peoples of Europe rise to the height of these resolves of the soul and instincts of the spirit of man? If they can, the wrongs and injuries which have been inflicted will have been washed away on all sides by the miseries which have been endured. Is there any need for further floods of agony? Is it the only lesson of history that mankind is unteachable? Let there be justice, mercy and freedom. The peoples have only to will it, and all will achieve their heart’s desire. I am now going to say something that will astonish you. The first step in the re-creation of the European family must be a partnership between France and Germany. In this way only can France recover the moral leadership of Europe. There can be no revival of Europe without a spiritually great France and a spiritually great Germany. The structure of the United States of Europe, if well and truly built, will be such as to make the material strength of a single state less important. Small nations will count as much as large ones and gain their honour by a contribution to the common cause. The ancient states and principalities of Germany, freely joined together for mutual convenience in a federal system, might each take their individual places among the United States of Europe. […] But I must give you warning. Time may be short. At present there is a breathing-space. The cannons have ceased firing. The fighting has stopped; but the dangers have not stopped. If we are to form the United States of Europe or whatever name or form it may take, we must begin now. In these present days we dwell strangely and precariously under the shield and protection of the atomic bomb. The atomic bomb is still only in the hands of a State and nation

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which we know will never use it except in the cause of right and freedom. But it may well be that in a few years this awful agency of destruction will be widespread and that the catastrophe following from its use by several warring nations will not only bring to an end all that we call civilisation, but may possibly disintegrate the globe itself. I now sum up the propositions which are before you. Our constant aim must be to build and fortify the strength of U.N.O. Under and within that world concept we must recreate the European family in a regional structure called, it may be, the United States of Europe. The first step is to form a Council of Europe. If at first all the States of Europe are not willing or able to join the Union, we must nevertheless proceed to assemble and combine those who will and who can. The salvation of the common people of every race and of every land from war and servitude must be established on solid foundations and must be guarded by the readiness of all men and women to die rather than submit to tyranny. In all this urgent work, France and Germany must take the lead together. Great Britain, the British Commonwealth of Nations, mighty America, and I trust Soviet Russia – for then indeed all would be well – must be the friends and sponsors of the new Europe and must champion its right to live and shine.

LÉON BLUM UND DAS EUROPA DER DRITTEN KRAFT 1 Wilfried Loth Wie kommen wir zu Europa? Auch jenseits der Frage, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll, interessiert uns, wie sie entstanden ist und warum sie sich so entwickelt hat, wie wir es erlebt haben. Diplomatie- und Wirtschaftshistoriker haben die Antwort auf diese Frage in den Akten der Regierungen gesucht und herausgefunden, was dort zu finden war: Unterschiedliche nationale Interessen, unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, unterschiedliche Konzeptionen treffen aufeinander und führen zu schwierigen, mehr oder weniger haltbaren Kompromissen. Tatsächlich lassen sich so einzelne Ereignisse und konkrete Regelungen erklären, etwa die Entstehung des Pariser Vertrages über die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Entstehung des Vertrages von Maastricht oder auch die Verabschiedung des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses kann aus den Regierungsakten allein freilich nicht ermittelt werden. Regierungen agieren nicht im luftleeren Raum, sie reagieren auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Entwicklungen und ihr Erfolg bemisst sich daran, wieweit sie diesen Entwicklungen entsprechen. Wer den Gang der europäischen Integration verstehen will, muss auch nach den Tiefenkräften Ausschau halten, die auf sie einwirken. Eine dieser „forces profondes“ wird in dem Leitartikel deutlich, den Léon Blum, der langjährige Führer der französischen Sozialisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, am 6. Januar 1948 in der Parteizeitung Le Populaire veröffentlicht hat. 2 Blum, ein Intellektueller mit politischer Mission, der den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet war, schrieb dort fast jeden Tag; der beständige Kommentar zu den laufenden Ereignissen war seine Methode, die Partei zu führen und über die Parteianhänger hinaus politisch zu wirken. Kurz zuvor, im November 1947, hatte er ein viertes Mal für das Amt des Ministerpräsidenten kandidiert, dabei aber, anders als 1936, 1938 und im Dezember 1946, nicht die erforderliche parlamentarische Mehrheit erhalten. Entgegen der Absprache zwischen den Fraktionen hatten ihm zehn Stimmen gefehlt: Einige Christdemo-

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Essay zur Quelle: Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Blum, Léon, Die internationale Dritte Kraft, wieder abgedruckt in: L’œuvre de Léon Blum, Bd. 7: 1947–1950, Paris 1963, S. 150–151. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier mit abgedruckten Quellenausschnitten.

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kraten schreckten vor dem Kurswechsel in der Deutschlandpolitik zurück, den er seit Monaten inständig gefordert hatte. Die Vision einer „internationalen Dritten Kraft“ hatte Léon Blum bei der Vorstellung seines Regierungsprogramms in der Nationalversammlung am 21. November 1947 zum ersten Mal präsentiert: „In Europa und überall auf der Welt gibt es Staaten, Gruppen und Individuen, die verstanden haben, dass beim gegenwärtigen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung keines der großen Probleme mehr im Rahmen der Grenzen zufrieden stellend gelöst werden kann, dass ohne eine lebendige Solidarität mit den anderen kein Volk mehr in Wohlstand leben, ja überhaupt überleben kann, und dass man sich gruppieren, föderieren, einigen muss oder untergehen wird. Sie lehnen es ab, sich von vornherein in eines der Lager einschließen zu lassen, die sich die Welt zu teilen scheinen, weil sie die Notwendigkeit einer universellen Solidarität empfinden, weil sie die Gefahr für den Frieden ermessen, die ein Fortdauern der Teilung und der 3 Gegensätze enthält, und weil sie begreifen, was das Wort Krieg heute bedeutet.“

Am 17. Dezember 1947 hatte sich der Nationalrat der sozialistischen Partei das Programm der Dritten Kraft offiziell zu Eigen gemacht, und seither wurde es auch von Guy Mollet als Generalsekretär der Partei propagiert. Blums Vision einer „internationalen Dritten Kraft“ war sichtlich eine Reaktion auf den Ausbruch des Kalten Krieges, genauer gesagt: auf die sowjetische Absage an den Marshall-Plan im Juli 1947 und die daraus resultierende Verfestigung der Ost-West-Teilung Europas. Sie hob sich von der Truman-Doktrin ab, mit der der amerikanische Präsident im März 1947 den Anspruch der USA auf Führung der „freien Völker“ begründet hatte, und sie kontrastierte mit der Rede von Andrej Shdanow auf der Gründungskonferenz des Kominform im Oktober 1947, in der die Sowjetunion als Führerin eines „antiimperialistischen und demokratischen Lagers“ präsentiert worden war, das sich der Expansion des amerikanischen Imperialismus entgegenstellte. Das Streben nach Etablierung einer „Dritten Kraft“ beruhte auf der Weigerung, die Teilung der Welt in einen östlichen und einen westlichen Block als unabänderlich hinzunehmen. Getrieben von der Furcht vor einem neuen Krieg, der diesmal das Risiko der atomaren Selbstzerstörung in sich tragen würde, drängten ihre Verfechter darauf, zwischen den Blöcken zu vermitteln. Das Konzept der „Dritten Kraft“ war insofern ebenso realpolitisch gedacht wie die Truman-Doktrin und die Shdanow-Thesen, als seine Verfechter ebenfalls eine Großmacht als führende Kraft einer internationalen Bewegung ansahen. Anders als bei den beiden Basisdoktrinen des Kalten Krieges war diese Großmacht aber nicht schon vorhanden, sie musste erst noch geschaffen werden: die Großmacht Europa. In realpolitische Kategorien umgesetzt hieß das, dass die europäischen Nationalstaaten, die dazu in der Lage waren (und das bedeutete im Wesentlichen: die sechzehn Staaten, die sich für eine Beteiligung am Marshall-Plan entscheiden konnten), ihre Kräfte bündelten und einen gemeinsamen Willen artikulierten. In erster Linie mussten sich darauf die beiden verbliebenen Großmächte 3

Blum, Léon, Regierungserklärung vom 21.11.1947, wieder abgedruckt in: ebd., S. 125–128.

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des westlichen Europa, Großbritannien und Frankreich, verständigen. Um ihr Bündnis herum sollten sie die weiteren europäischen Nationen scharen, einschließlich jenes Teils von Deutschland, für den die westlichen Besatzungsmächte Verantwortung trugen. Ein wesentliches Element des „Dritte-Kraft“-Konzepts war also die Gewinnung von Macht: Einfluss auf den Gang der internationalen Politik sollten die europäischen Nationen dadurch gewinnen, dass sie sich zusammenschlossen und ihre Ressourcen gemeinsam organisierten. Diese Macht sollten sie dazu nutzen, auf den offenkundig gewordenen machtpolitischen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion mäßigend einzuwirken, und sie sollte ihnen helfen, ihre Eigenständigkeit zu wahren und ihre spezifische Lebensweise zu verteidigen. Die europäische Einigung, so wie sie den Verfechtern des „Dritte-Kraft“-Konzepts vorschwebte, lief damit auf die Schaffung eines neuen Machtzentrums in der Weltpolitik hinaus, das die Europäer in die Lage versetzte, ihre Zivilisation in der Ära der neuen Weltmächte zu behaupten. Die europäische Zivilisation behaupten hieß auch: sie gegenüber den USA zu behaupten, die mit den Unterstützungszusagen der Truman-Doktrin als Schutzmacht der „freien Völker“ auftraten. Diese Funktion eines geeinten Europas war insofern besonders wichtig, als sich die Länder, die hier zur Einigung aufgerufen wurden, ja gerade entschlossen hatten, am Marshall-Plan teilzunehmen, was bedeutete, dass sie für ihren Wiederaufbau amerikanische Unterstützung in Anspruch nahmen. Es war ein weiteres wesentliches Motiv für den Zusammenschluss, Unabhängigkeit trotz der Beteiligung am Marshall-Plan und in einem weiteren Sinne trotz der Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft zu sichern. Dies wurde umso dringender empfunden, je kritischer die amerikanische Macht gesehen wurde. Wenn Léon Blum hier von einem dritten gesellschaftlichen Ordnungsmodell spricht, neben dem sowjetischen und dem amerikanischen, bedeutet das nicht Äquidistanz in der Auseinandersetzung zwischen freiheitlicher Ordnung und Unterdrückung. Es besagt im Kern zunächst nur, dass sich die Ordnungsmodelle, zwischen denen man wählen musste, nicht auf zwei reduzieren ließen, wie das die beiden Basisdoktrinen des Kalten Krieges übereinstimmend, wenn auch mit gegensätzlicher Bewertung behaupteten. Auch wenn man sich für die Freiheit und gegen die Unterdrückung entschied – und diese Grundsatzentscheidung war für Blum so selbstverständlich, dass er sie gar nicht mehr diskutierte –, blieben immer noch unterschiedliche Gesellschaftsmodelle unter demokratischen Vorzeichen. Mehr noch: Die Entscheidung für die Freiheit schloss auch die Freiheit ein, das amerikanische Modell nicht sklavisch zu übernehmen; sie gebot geradezu, sich auch um die Unabhängigkeit von der amerikanischen Schutzmacht zu bemühen. Wer sich im Europa des Winters 1947/48 umschaut, wird rasch feststellen, dass Blums Wahrnehmung zutraf: Die Weigerung, sich vorbehaltlos einem westlichen Block anzuschließen, war weit verbreitet, das Bedürfnis, Europa eigenständig zu organisieren, war groß. Wenn von europäischer Einigung die Rede war, dann meist im Zusammenhang mit der Vorstellung, ein einiges Europa könne, müsse, werde als „Dritte Kraft“ operieren. In Frankreich zählten etwa Claude

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Bourdet, Ernest Labrousse, Emmanuel Mounier, Jean-Marie Domenach, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty zu den Unterzeichnern eines Manifests, in dem Ende Dezember 1947 zur Schaffung eines Europas der Dritten Kraft aufgerufen wurde; ein Teil der Christdemokraten äußerte sich in gleicher Weise wie die Sozialisten. In Großbritannien hatte George D. H. Cole das Konzept vorgedacht, in Deutschland Richard Löwenthal (der unter dem Pseudonym Paul Sering publizierte). Überall argumentierten Sozialdemokraten und Christdemokraten in diesem Sinne, die Union europäischer Föderalisten formierte sich unter diesen Vorzeichen. Nicht alle Verfechter der „Dritten Kraft“ teilten Blums Überzeugung, dass in den USA eine „unmenschliche Härte“ des Kapitalismus zu verzeichnen war und das europäische Gegenmodell darum auf den „demokratischen Sozialismus“ hinauslaufe. Liberale und gemäßigt konservative Autoren nannten, wesentlich bescheidener, die Sicherung der Unabhängigkeit, die Schaffung von Wohlstand und die Nutzung der verbliebenen Chancen für eine Stärkung der Vereinten Nationen als die wichtigsten Motive für einen Zusammenschluss des westlichen Europa. Für alle aber galt der Zusammenhang von eigenständiger Organisation Europas und Vermittlungsmission der Europäer im Kalten Krieg, den Blum in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt hatte. Diese doppelte Motivation trieb die Bewegung für eine Einigung Europas voran; ohne sie wäre ihr der Durchbruch auf die Ebene von Regierungsverhandlungen im Sommer 1948 nicht gelungen. Die Sorge um die Unabhängigkeit der Europäer und die Überwindung der Spaltung Europas blieben auch weiterhin wesentliche Antriebskräfte der Europapolitik. Auch ein Konrad Adenauer sorgte sich um die Unabhängigkeit von den USA; für ihn hieß das: Rückversicherung für den Fall, dass sich die USA doch wieder aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen würden oder sie zumindest nachrangig behandelten. Charles de Gaulle trug die beiden Komponenten eines unabhängigen Europa-Verständnisses so plakativ vor, dass sie vielfach als Antiamerikanismus missverstanden wurden. Die Multilateralisierung der Entspannungspolitik beförderte auch den Ausbau der politischen Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft; und die Gefahr eines zweiten Kalten Krieges waren für François Mitterrand wie für Helmut Kohl ein wichtiges Motiv, sie weiter zu verstärken. Freilich wurde die Sorge um die Eigenständigkeit der Europäer oft durch andere Motive konterkariert. Gerade einmal sieben Wochen nach Blums Artikel im Populaire lösten die Nachrichten von der Durchsetzung der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei eine breite Welle der Furcht vor einem sowjetischen Vormarsch nach Westeuropa aus. Viele Europäer riefen jetzt nach einem militärischen Schutz der USA. Oft waren es die gleichen, die zuvor ein Europa der „Dritten Kraft“ gefordert hatten; sie sahen entweder nicht oder nahmen es notgedrungen in Kauf, dass sie damit eine Militarisierung der Eindämmungspolitik in Gang setzten, die den Abbau des Kalten Krieges erschwerte. Das Ziel eines unabhängigen Europas, das die gefährliche Spannung zwischen den Weltmächten überwand, ging nicht verloren, aber es konnte sich gegenüber anderen Impulsen und Interessen oft nur schwer behaupten.

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Zudem gelang es nicht, das zu verwirklichen, was Léon Blum in durchaus realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse als „festen Kern“ der „Dritten Kraft“ gefordert hatte: die Achse Paris – London, um die sich die übrigen europäischen Staaten scharen sollten. Die Rede Clement Attlees, auf die Blum hier seine Hoffnungen setzte, erwies sich als trügerisch. Über zwei Jahre bemühten sich die französischen Sozialisten und wechselnde französische Regierungen, die britische Labour-Regierung für eine Beteiligung an der europäischen Konstruktion zu gewinnen. Erst dann wagte Robert Schuman mit der Montanunion einen Anfang ohne britische Beteiligung. Das Europa, das so zustande kam, war weniger kraftvoll, als es Blum und den anderen Verfechtern der „Dritten Kraft“ vorgeschwebt hatte. Die Idee der Unabhängigkeit auch gegenüber den amerikanischen Verbündeten und der Verteidigung einer spezifischen europäischen Lebensform blieb aber – und bleibt – ein zentrales Motiv für seine Stärkung. Literaturhinweise Blum, Léon, Socialiste européen. Textes de Gérard Bossuat et al., Brüssel 1995. Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 1996. Ders., Ost-West-Konflikt und deutsche Frage. Historische Ortsbestimmungen, München 1989. Ders., Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940–1950, Stuttgart 1977.

Quelle Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948) 4 Die Pariser Presse [...] hat der Rede unseres Freundes Attlee, des britischen Premierministers, nicht sehr viel Platz eingeräumt. Sie hat ihr aber große Wichtigkeit beigemessen. Sie hat ihre hohe Bedeutung verstanden oder zumindest geahnt. Tatsächlich stellt Attlees Rede eine Hinwendung der Labour-Regierung zur Idee und zum System der internationalen Dritten Kraft dar. Attlee definiert sie mit ganz ähnlichen Begriffen, wie es unsere Partei getan hat und wie sie sich sowohl in der Rede Guy Mollets in der Nationalversammlung wiederfinden als auch in meiner Regierungserklärung und in den jüngsten Beschlüssen des Parteivorstands. Zwischen den Vereinigten Staaten, den „Meistern der individuellen Freiheit und der Menschenrechte“, bei denen aber die kapitalistische Wirtschaft in all ihrer unmenschlichen Härte uneingeschränkt fortdauert, und der Sowjetunion, die zwar das kapitalistische Privateigentum abgeschafft, aber auch alle privaten, bürgerlichen und sozialen Freiheiten aufgehoben hat, 4

Blum, Léon, Die internationale Dritte Kraft, wieder abgedruckt in: L’œuvre de Léon Blum, Bd. 7: 1947–1950, Paris 1963, S. 150–151; Übersetzung aus dem Französischen durch Wilfried Loth. Die Quelle sowie das französische Original sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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gibt es Platz für jene Nationen, die persönliche Freiheit und kollektive Wirtschaft zugleich anstreben, sowohl Demokratie als auch soziale Gerechtigkeit. Das heißt, dass zwischen dem amerikanischen Kapitalismus – der, wie alle Kapitalismen mit aufsteigender Tendenz „expansionistisch“ ist – und dem totalitären, imperialistischen Kommunismus der Sowjets Platz für die Sozialdemokratie besteht, für den Sozialismus. Es ist weder übertrieben noch überheblich zu behaupten, dass der demokratische Sozialismus gegenwärtig die Haupttendenz des alten Europa darstellt, insbesondere des westlichen Europa. Diese Tendenz wird der Vielfalt der Länder, der politischen Verhältnisse und den sozialen Kategorien entsprechend mehr oder weniger klar empfunden, mehr oder weniger offen oder logisch ausgedrückt. Dennoch bildet es das, was man als den geometrischen Ort der europäischen Ideologien bezeichnen kann. Die internationale Dritte Kraft ist also wirklich eine Kraft. Und damit sie als solche handeln kann, genügt es, dass sie sich ihrer selbst, ihrer Natur und ihrer aktuellen Mission bewusst wird. Diese Mission ist ihr mit der Evidenz des Notwendigen vorgezeichnet. Sie besteht darin, nicht als Barriere oder Puffer, sondern als Instrument der Annäherung, des wechselseitigen Verständnisses und der Vermittlung zwischen den beiden gegensätzlichen Blöcken zu dienen, deren Antagonismus schon jetzt die friedliche Ordnung der Welt stört und auf Dauer den Frieden bedroht. Die Rolle, die so auf sie zugekommen ist, ist ganz einfach diejenige, welche die internationale Gemeinschaft, das heißt UNO spielen müsste, wenn diese nicht durch die ihr angeborenen Mängel selbst unter den Folgen dieses Antagonismus leiden würde, bis hin zu ihrer Ohnmacht und ihrer Lähmung. Auf diese Weise würde der demokratische Sozialismus, wie es einer langen Tradition entspricht, wieder einmal zum Herold und Interpreten des Friedens werden. Durch welchen Appell, unter welchem Einfluss kann die internationale Dritte Kraft ihrer Selbst, ihrer Natur und ihrer Berufung bewusst werden? Was mich betrifft, so wünsche ich, dass es durch den Appell und unter dem Einfluss des internationalen Sozialismus selbst geschehen möge. Welche Staaten können den festen Kern bilden, um den sich die in Europa und in der Welt mehr oder weniger zerstreuten Elemente der Dritten Kraft zusammenfinden könnten? Zweifellos sind dies Großbritannien und Frankreich. Die großartige Rede unseres Freundes Attlee lässt hoffen, dass die britische Regierung bereit ist, diese Rolle zu übernehmen. Wir warten auf die Antwort der französischen Regierung.

INTELLEKTUELLE KONSTRUKTIONEN (WEST-)EUROPAS 1950 1 Axel Schildt Die Dramatik des Kalten Krieges in seiner heißesten Phase um 1950 kann man sich überhaupt nicht krass genug ausmalen. Demoskopisch immer wieder ermittelt, erwartete die Mehrheit der Westdeutschen den Ausbruch eines dritten und mit atomaren Waffen ausgetragenen Weltkriegs in naher Zukunft. Man wähnte sich lediglich in einer kurzen historischen Atempause zwischen zwei planetarischen Waffengängen. Der ferne Korea-Krieg, der am Anfang eines beispiellosen Exportbooms stand, führte in der Bundesrepublik zu angsterfüllten Hamsterkäufen. Das Wohnen in Hochhäusern wurde von manchen Experten abgelehnt, weil jene leichte Ziele für feindliche Flieger böten. Dem Kalten Krieg korrespondierte eine in allen westlichen Ländern dominierende „culture of fear“, die allerdings in der Bundesrepublik als Frontstaat des westlichen Bündnisses besonders virulent war und angesichts der nicht weit zurückliegenden nationalistischen Hybris des „Großdeutschen Reiches“ einige eigentümliche Züge besaß 2, die auch in zeitgenössischen ideologischen Konstruktionen zum Ausdruck kam. Dazu zählte die ausgeprägte Europa-Euphorie vor allem großer Teile der bürgerlichen Jugend und der jüngeren intellektuellen Szene. Deutschland sollte nicht mehr die Welt beherrschen, sondern als Partner im Einklang mit den Mächten des Westens den Wiederaufstieg aus der Not organisieren und einen Schutzschild gegen den „Osten“ schmieden. Der rege westdeutsche Europa-Diskurs, wie er sich vor allem in einschlägigen politisch-kulturellen Zeitschriften gehobener Publizistik und prominenten Buchveröffentlichungen niederschlug, folgte allerdings ungeachtet aller Rhetorik des gänzlich Neuen weitgehend ideengeschichtlichen Mustern, die in der Kontinuität der Zwischenkriegszeit standen 3, wie insgesamt die Selbstverständigung der gerade rekonstruierten bürgerlichen Gesellschaft im 1 2

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Essay zur Quelle: „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-) Europas 1950. Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. für Hinweise auf die Forschung Schildt, Axel, „German Angst“. Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Münkel, Daniela; Schwarzkopf, Jutta (Hgg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt am Main 2004, S. 87–97. Conze, Vanessa, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1070), München 2005; Schildt, Axel, Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert, in: DoeringManteuffel, Anselm (Hg. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 225–239.

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westdeutschen Wiederaufbau in starkem Maße von den konzeptionellen Angeboten der Zwischenkriegszeit geprägt wurde. Es wäre unzutreffend, von einer schlichten Transformation des hybriden großdeutschen Nationalismus in supranationales Europa-Gedankengut auszugehen, denn in der Zwischenkriegszeit, auch im „Dritten Reich“, war das Denken in geopolitischen Räumen, von denen Europa welthistorisch die entscheidende Rolle zukommen sollte 4, zu keinem Zeitpunkt unterbrochen, sondern in charakteristischer Weise – wie bereits vor und im Ersten Weltkrieg – radikalisiert worden. Kontinentaleuropa unter deutscher Führung, angegliedert der Osten Europas als wirtschaftlicher Ergänzungsraum – diese Vorstellung eines „Europa unter dem Hakenkreuz“ schien in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs sogar zur dauerhaften Realität werden zu können. Dass in der nationalsozialistischen Propaganda immer wieder die kulturelle Vielfalt Europas als zu schützender Wert hervorgehoben wurde 5, verdient Erwähnung, um publizistische Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen einordnen zu können. Allerdings fanden sich Anklänge an eine europäische Ideologie auch auf der Seite der Hitler-Gegner, bei prominenten Frondeuren des 20. Juli 1944 6, was die Rezeptionsbreite nach dem Krieg beträchtlich erweiterte. Es wirkt angesichts der Kontinuität des Europagedankens durch das „Dritte Reich“ hindurch nur auf den ersten Blick überraschend, dass der supranationaleuropäische Diskurs, abgesehen von einer schmalen geistigen Gegenelite unter der Ägide der alliierten Besatzungsmächte, zu der einige Remigranten zählten, nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend von Publizisten getragen wurde, die auch zuvor in Deutschland über dieses Thema geschrieben hatten. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es für sie aber keine Möglichkeiten, von Revanche zu träumen. 7 Man sah sich vielmehr am Ende der Revolutionen, geworfen in eine Welt, die von den globalen Mächten der Moderne, ob nun in sowjetischen oder amerikanischen Formen, beherrscht wurde. Ein elegischer Ton dominierte, statt deutschem Machtstaat sollte europäischer Geist, aber auch die militärische Einheit Westeuropas als rettender Halt fungieren. Die Kriegsniederlage war zugleich die Stunde der Beschwörung von Europa als einer „Dritten Kraft“ 8, die zunächst wesentlich geistig und spirituell und nur in vagen staatlichen und außenpolitischen Kategorien gedacht wurde. Vom Links4 5 6 7 8

Besonders bekannt, aber nicht das einzige Projekt dieser Art war der Paneuropa-Zusammenhang des Grafen Coudenhove-Kalergi; vgl. als Überblick Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 1990. Neulen, Werner, Eurofaschismus und der Zweite Weltkrieg. Europas verratene Söhne, München 1980; Elvert, Jürgen, „Germanen“ und „Imperialisten“. Zwei Europakonzepte aus nationalsozialistischer Zeit, in: Historische Mitteilungen 5 (1992), S. 161–184. Vgl. die Dokumentation von Lipgens, Walter (Hg.), Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945, München 1968. Niedhart, Gottfried; Riesenberger, Dieter (Hgg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945: Beiträge zur historischen Friedensforschung, München 1992. Loth, Wilfried, Die Europa-Diskussion in den deutschen Besatzungszonen, in: ders. (Hg.), Die Anfänge der europäischen Integration 1945–1950, Bonn 1990, S. 103–128.

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katholizismus der Frankfurter Hefte um Walter Dirks und Eugen Kogon bis zu protestantisch-nationalkonservativen Kreisen in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), vom „Ruf“ Hans Werner Richters und sozialdemokratischen Theoretikern wie Richard Löwenthal bis hin zu neoliberalen Publizisten wie Wilhelm Röpke und Parteiführern der CDU wie Jakob Kaiser wurde in den ersten Nachkriegsjahren der Gedanke einer europäischen Dritten Kraft als Abwendung einer globalen Konfrontation der beiden größten alliierten Mächte propagiert, die nach ihrem von Hitler erzwungenen Zweckbündnis schon bald sichtbar auf Konfrontationskurs gingen. Das Denken in den Mustern von Europa als Dritter Kraft, ebenfalls ein Produkt der Zwischenkriegszeit, war der Nukleus dreier allerdings nur idealtypisch zu unterscheidender ideologischer Strömungen, die sich im beginnenden Kalten Krieg ausformten und diesen begleiteten. Die erste dieser Strömungen lässt sich als selbstbewusstes Festhalten der Vorstellung von einem politisch eigenständigen Europa als Dritter Kraft trotz der weltpolitischen Entwicklung verstehen 9, die immer mehr auf eine Entscheidung zugunsten eines west-östlichen Blockdenkens drängte. Und in dieser Perspektive verbanden sich Konzeptionen einer Dritten Kraft zunehmend mit „nationalneutralistischen Positionen“, die mindestens einen Vorrang der Wiedergewinnung deutscher Einheit vor der westlichen Integration behaupteten. 10 Während die Protagonisten dieser Strömung rasch als „fellow traveller“ des Ostens stigmatisiert und isoliert wurden, konkurrierten – idealtypisch konstruiert – zwei „Lager“ um die politische Meinungsführerschaft, die sich hinsichtlich der Radikalität im Kampf gegen den Kommunismus jeweils nicht übertreffen lassen wollten, aber hinsichtlich der Akzeptanz liberaler westlicher Ideen und damit hinsichtlich der jeweiligen Konstruktion des Westens gegenüber dem Osten beträchtliche Unterschiede aufwiesen. Auf der einen Seite standen die Anhänger einer politisch-kulturellen Einheit des christlichen Abendlandes, die zwar – dies wurde durchaus betont – auf den militärischen Schutz der USA angewiesen, aber doch in Distanz zu liberalen westlichen Ideen konzipiert war. Einen organisatorischen Kern bildeten die Zeitschrift Neues Abendland (1946–1958), die Anfang der 1950er-Jahre existierende Abendländische Aktion und die 1952 gegründete Abendländische Akademie als jährliche Zusammenkunft von vornehmlich katholischen Intellektuellen, Publizisten, Kirchenführern und Politikern. 11 Auf der anderen Seite stand ein intellektuelles Netzwerk vornehmlich liberaler und sozialdemokratischer, aber auch einiger konservativer und sehr vieler ehemaliger kom9

Selbst das bizarre „Atlantropa“-Projekt zur Absenkung des Mittelmeeres und zur Bewässerung der Sahara unter europäischer Ägide erlebte Anfang der 1950er-Jahre eine Spätblüte (vgl. Gall, Alexander, Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Hermann Sörgel und die Absenkung des Mittelmeeres, Frankfurt am Main 1998). 10 Gallus, Alexander, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West, 1945–1990, Düsseldorf 2001. 11 Vgl. zum Folgenden und für detaillierte Hinweise zur Literatur Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 1950er-Jahre, München 1999, S. 21 ff.

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munistischer Politiker und Publizisten, als dessen organisierender Kern der in etlichen westeuropäischen Ländern wirkende Kongreß für kulturelle Freiheit fungierte, der seine erste und vielbeachtete internationale Tagung 1950 in West-Berlin ausrichtete. 12 Zentrales publizistisches Organ dieses Zusammenschlusses in Westdeutschland war die Zeitschrift Der Monat (1948–1971). 13 In schärfstem Gegensatz zum östlichen Stalinismus befindlich, kritisierten die Intellektuellen der Kongreß-Bewegung bald zunehmend illiberale Tendenzen in westlichen Ländern, etwa die McCarthy-Hysterie in den USA, obwohl die verdeckte finanzielle Förderung von dort kam. Wenn von idealtypisch konstruierten „Lagern“ die Rede war, ist damit gemeint, dass die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen um 1950 nicht leicht zu unterscheiden waren, weil die gemeinsame antikommunistische Gegnerschaft im Vordergrund stand, eine aufeinander bezogene Polemik nicht bzw. kaum stattfand und es sogar vorkommen konnte, dass Autoren der Zeitschrift Neues Abendland auch im Monat publizierten. 14 Allerdings stehen die Verfasser der beiden hier auszugsweise wiedergegebenen programmatischen Schriften auch für die biografische Kluft, die jeweils den Hauptteil der Intellektuellen beider „Lager“, selbst wenn sie zur gleichen Generation zählten, voneinander trennte. Emil Franzel (1901–1976), der von der Sozialdemokratie 1937 zur faschistischen deutschen Henlein-Bewegung in der Tschechoslowakei übertrat und nach 1945 engen Anschluss an die CSU suchte, wurde einer der Schlüsselfiguren der rechtskatholischen und Vertriebenen-Publizistik 15; Arthur Koestler (1905–1983), ungarischer Zionist in den 1920er-Jahren, aktiver Kommunist und Antifaschist im spanischen Bürgerkrieg in den 1930er-Jahren, nach seiner Flucht nach England dort 1948 eingebürgert, machte sich einen Namen als Verfasser von Romanen und anderen Büchern, die um die Vernichtung und Selbstbehauptung des Individuums angesichts totalitärer Bedrohungen kreisten. 16 Der Bezug auf das christliche Abendland stellte auf der konservativen Seite um 1950 die hegemoniale Integrationsideologie dar. In seiner ersten Regierungserklärung 1949 – und bei vielen anderen Anlässen – nahm der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer eine charakteristische Trennung zwischen Westeuropa und den USA vor: 12 Die Textauszüge von Arthur Koestler entstammen den Materialien des ersten dieser Kongresse in West-Berlin 1950; vgl. umfassend Hochgeschwender, Michael, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. 13 Vgl. als Übersicht über die breite Thematisierung von Europa in dieser Zeitschrift: Der Monat. Register der Hefte 1–150. Oktober 1948 bis März 1961 (Bde. I–XXV), Berlin 1962. 14 Hinzuweisen ist hier etwa auf Franz Borkenau (1900–1957), vgl. Lange-Enzmann, Birgit, Frank Borkenau als politischer Denker, Berlin 1996; Kessler, Mario, Zwischen Kommunismus und Antikommunismus. Franz Borkenau (1900–1957), in: ders. (Hg.), Deutsche Historiker im Exil (1933–1945). Ausgewählte Studien, Berlin 2005, S. 169–196. 15 Vgl. die Lebenserinnerungen; Franzel, Emil, Gegen den Wind der Zeit. Erinnerungen eines Unbequemen, München 1983. 16 Vgl. zuletzt Buckard, Christian, Arthur Koestler. Ein extremes Leben 1905–1983, München 2004; Strelka, Joseph P., Arthur Koestler. Autor-Kämpfer-Visionär, Tübingen 2006.

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„Es besteht für uns kein Zweifel, dass wir nach unserer Herkunft und nach unserer Gesinnung zur westeuropäischen Welt gehören.“

Damit wurde betont, dass der Westen nicht nur eine geografische Größe, sondern darüber hinausgehend ein Wertbegriff sei. Als solcher aber blieb der „Westen“ auf Westeuropa beschränkt. Der Rolle der USA gedachte der Kanzler in dieser Erklärung mit „besonderem Dank“, aber er betonte zugleich: „Unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur.“ 17 Nachdem die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) eindrücklich gezeigt habe, dass die Säkularisierung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen von technisch-rationalem Denken, Vermassung und zivilisatorischem Fortschritt die gesamte abendländische Welt zu einem geistigen Vakuum und dann als äußerste Konsequenz – aber nur quasi zufällig und stellvertretend in Deutschland – zu einer nihilistisch-totalitären Diktatur geführt habe, musste ganz Europa in dieser Sicht zwingend zur Umkehr im Sinne einer christlichen renovatio bewegt werden. Im Medium einer geschichtsphilosophisch-metaphysischen Schulddiskussion, wie sie in zahlreichen politisch-kulturellen Periodika ausgetragen wurde, erneuerte sich die geistige Hegemonie eines nun christlich geprägten Konservatismus, der letztlich Aufklärung und Moderne erfolgreich auf die Anklagebank setzte. Deutsche Politik – zunächst auch deutsche Innenpolitik – war nur im Rahmen des jeweiligen globalen Machtblocks noch möglich, war auf die Beachtung der Fronten des Kalten Krieges und damit auch auf die Pläne einer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Integration Westeuropas in einem transatlantischen Bündnis verwiesen. Es gab zwar zunächst nur wenige Propagandisten, die ganz offen davon ausgingen, dass die Westintegration auf lange Sicht die deutsche Spaltung herbeiführen würde, wie etwa Wilhelm Röpke, der in die Schweiz emigrierte Theoretiker des Neoliberalismus. Er hatte schon im Frühjahr 1945 dafür plädiert, einen westdeutschen Staat im Rahmen eines freihändlerischen Westblocks zu schaffen mit einer „vollkommene(n) Scheidung der moralischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundsätze“ entlang der Elbe-Linie. 18 Aber solche Gedanken wurden, und selbst dort häufig verklausuliert, allein in föderalistischen Richtungsorganen wie dem Rheinischen Merkur vertreten, der schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit für eine Schwerpunktverlagerung Deutschlands auf die kulturellen Kernländer des Westens plädierte. Hier verbanden sich dann auch neoliberale und katholisch-konservative Ideologen in gegenseitiger Wertschätzung. In der offiziösen politischen Sprache und vorzugsweise in den Sonntagsreden, in denen in den 1950er-Jahren die Wiedervereinigung beschworen wurde, dominierte eine andere Argumentationsfigur, nämlich die – übrigens auch von Röpke schon früh formulierte – Magnettheorie, der zufolge die westliche Integration so attraktiv sein würde, dass sie die Sowjetunion isolieren und den

17 Zitiert nach Behn, Hans-Ulrich, Die Regierungserklärungen der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 331–333. 18 Zitiert nach Loth, Die Europa-Diskussion, S. 111.

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östlichen Block zum Einsturz bringen würde. Die Regierung Adenauer hatte dies bekanntlich in die Formel einer „Politik der Stärke“ gekleidet. Der abendländische Kern Kontinentaleuropas als politischer und kultureller Garant „antibolschewistischer“ Verteidigung war – dies galt als unzweifelhafter Konsens – die Achse Paris-Bonn. In dem von Franzel in der Quelle genannten Orchester gehörten daneben an erster Stelle die anderen kontinentaleuropäischen Länder, darunter immer wieder demonstrativ genannt Spanien und Portugal. 19 Die Glorifizierung der rechtsdiktatorischen Regime der iberischen Halbinsel als verlässliche Stützen abendländischen Denkens nahm in der rechtskatholischen Publizistik der 1950er-Jahre mitunter bizarre Formen an. Gerade die publizistischen Bemühungen um die Einbeziehung Francos und Salazars in die Verteidigung gegen den Bolschewismus zeigten, dass der Kampf gegen den totalitären „Dämon“ nicht im Zeichen liberaler Freiheitsrechte, sondern als christlicher Feldzug gegen den „AntiMessias“ geführt werden sollte – der Liberalismus galt demgegenüber als lediglich mildere Variante oder Vorstufe des drohenden Bolschewismus, mindestens aber unterminierte er die geistige Geschlossenheit der abendländischen Verteidigung.20 In diese Sicht mischten sich mitunter spezifisch katholische Gedanken über das oströmische Schisma; demnach verlief die Grenze Europas nicht entlang rassistischer Kriterien, sondern religiös-kultureller Traditionen. Dass die slawischen Völker zwischen Russland und Europa, von der Sowjetunion in Knechtschaft gehalten, ein Aktivposten für die abendländische Welt im kommenden Krieg mit der Sowjetunion sein würden, hatte des Öfteren Otto von Habsburg, ein nimmermüder Streiter in paneuropäischen und abendländischen Zirkeln, mit Genugtuung festgestellt. Nach seiner Rechnung standen 231 Millionen Kontinentaleuropäer 230 Millionen Russen gegenüber, während 100 Millionen versklavte Osteuropäer sich auf die Seite des Abendlandes schlagen würden. Europa werde demzufolge „bis an die echten Grenzen Rußlands“ heranrücken. 21 Im Unterschied zu den skizzierten Strömungen, in denen Europa als Dritte Kraft in umfassender Äquidistanz zu den neuen globalen Supermächten USA und Sowjetunion verharrte, ließ die Abendland-Ideologie keinen Zweifel an der unabdingbaren Notwendigkeit eines transatlantischen Verteidigungsbündnisses, und die militärische und wirtschaftliche Stärke der USA wurden als Sicherheitsschirm dankbar geschätzt. Der stets betonte Zusammenhang von europäischer Eigenständigkeit und transatlantischem Bündnis ließ bekanntlich noch genug Interpretationsraum für politische Konzeptionen, wie sich in den Auseinandersetzungen um den „Gaullismus“ in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre zeigen sollte. Aber offen amerikafeindliche Elemente wurden in der abendländischen Ideologie auf Randbereiche 19 „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950: Franzel, Emil, Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes, in: Neues Abendland 5 (1950), S. 1–4, hier S. 3, 4; Koestler, Arthur, Das falsche Dilemma, in: Der Monat 3 (1950) H. 22/23, S. 436–441, hier S. 436, 437, 441; ders., Für eine europäische Freiheitslegion, in: Der Monat 3 (1950) H. 26, S. 115–119, hier S. 115. 20 In diesem Sinne betonten etliche Abendland-Ideologen, dass der Bolschewismus auch als Degeneration der westlichen Säkularisierung verstanden werden müsse. 21 von Habsburg, Otto, Entscheidung um Europa, Innsbruck 1953, S. 20 f.

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traditioneller hochkultureller Dünkel zurückgedrängt – konzentriert in der neuhumanistischen Analogie des antiken Griechenland (für Europa) und des Römischen Reiches (für die USA), und parallel dazu wurden immer wieder die abendländischen Wurzeln Amerikas in Erinnerung gerufen. Die politische Entwicklung in den USA während der 1950er-Jahre – vor allem nach dem Wahlsieg von Eisenhauer – hellte zudem das Amerika-Bild im konservativen deutschen Spektrum weiter auf. Die liberale Strömung des westdeutschen (und westeuropäischen) Europa-Diskurses lässt sich wie erwähnt erst im Rückblick deutlich als eigenständige Variante absetzen. Der Öffentlichkeit vermittelt wurde sie von Publizisten, die sich in der Schärfe ihrer antikommunistischen Stoßrichtung um 1950 ebenso wenig von den Abendland-Ideologen übertreffen lassen wollten wie in der Propaganda für eine westeuropäische Integration; auch findet man bei ihnen bisweilen Anleihen an die dortige Begriffswelt, die eine genaue Unterscheidung ebenso erschweren wie die schwierige einzelbiografische Zuordnung. Entscheidend aber war, dass diese dritte Strömung mit ihrer Option für ein atlantisches Bündnis und eine europäische Integration ein anderes Bild vom Westen verband, dass weitgehend frei war vom Antimodernismus und Antiliberalismus der Abendland-Ideologie. Der ideengeschichtliche Clou der 1950er-Jahre, als im Wiederaufbau immer deutlicher neue, modernisierende Momente sichtbar wurden, war es, dass die Hegemonie konservativ-abendländischen Denkens eben nicht von der traditionellen Linken zerstört wurde, die in ihren nationalen Schranken verharrte, sondern von jenen demokratischen und liberalen Intellektuellen, die sich nach dem Krieg – quasi als Gegenelite unter der Ägide vor allem der amerikanischen Besatzungsmacht – zunächst in einer minoritären Position gesehen hatten. In ihren Reihen befanden sich etliche Hitler-Flüchtlinge, wie auch der Autor des in Auszügen wiedergegebenen Aufsatzes aus dem Monat. Durch ein langjähriges Tübinger Forschungsprojekt sind wir mittlerweile recht gut über den untergründig wirksamen Beitrag der intellektuellen Netzwerke für die ideelle Verwestlichung der politischen Kultur der Bundesrepublik informiert. 22 Neben dem Monat und dem Kongreß für kulturelle Freiheit, auf dessen internationalen Tagungen sich prominente europäische Intellektuelle und Politiker, vornehmlich von den Rändern der Sozialdemokratie und aus linksliberalen Zusammenhängen, nicht selten auch enttäuschte ehemalige Kommunisten, trafen, ist auch auf die Europa-Konzeption führender Gewerkschaftsfunktionäre hinzuweisen, die als USA-Remigranten eine klare Westoption in sozialradikaler Terminologie verfolgten. Ludwig Rosenberg forderte in den Gewerkschaftlichen Monatsheften, heute müsse „die Idee der Sozialen Revolution zum Inhalt des neuen Europa werden.“ 23 Mochte auf der ersten großen Tagung in West-Berlin 1950 noch die Betonung der antikommunistischen Abwehrfront gegen die totalitäre Bedrohung aus dem Osten im Vordergrund gestanden haben und der Unterschied zur abendländischen Ideologie unscharf gewe22 Vgl. als instruktive Skizze Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen. Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 23 Angster, Julia, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.

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sen sein, so wurde bald deutlich, dass durch die Kongreß-Bewegung Kräfte freigesetzt wurden, die auf die Liberalisierung der westlichen Länder Europas und der USA und selbstverständlich der Bundesrepublik drängten. Dies wurde nicht zuletzt damit begründet, dass der Westen nicht im Kampf mit dem Bolschewismus selbst totalitär werden dürfe. Nicht eine einheitliche Ideologie dürfe diesem entgegengestellt werden, wie es die konservativen Abendland-Protagonisten forderten, sondern pluralistische Gedankenfreiheit. Der Westen sollte dadurch attraktiv werden, dass er in diesem Sinne einfach moderner war als der Osten. 24 Dieses Denken erhielt seit der Mitte der 1950er-Jahre immer größere Resonanz und war nun längst nicht mehr nur auf den Monat und verwandte Organe verwiesen. Literaturhinweise Conze, Vanessa, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005. Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Hochgeschwender, Michael, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. Loth, Wilfried, Die Anfänge der europäischen Integration 1945–1950, Bonn 1990. Schildt, Axel, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.

Quellen „Europa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge.“ Intellektuelle Konstruktionen (West-)Europas 1950 25 1 Emil Franzel: Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes 26 „In dem dramatischen Ringen des deutschen Geistes um seine neue abendländische Mission spielt anregend und herausfordernd der französische Geist wieder die Rolle, die er schon in der Gotik für Deutschland hatte. [...] Gewiß ist diese Zusammenfassung keine erschöpfende Wertung der abendländischen Völkersymphonie. Italiener, Spanier, Slawen, die Skandinavier wie die Portugiesen sind aus ihr ebenso wenig wegzudenken wie die beiden großen Völker des Kontinents, von dem engen Zusammenhang der festländischen mit der englischen Kulturgeschichte ganz zu schweigen. Die Motive in dieser Symphonie geben aber in den entscheidenden Partien immer wieder Franzosen und Deutsche an. Zwischen ihnen ist vor 24 Schildt, Axel, Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: ders.; Sywottek, Arnold (Hgg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 1950er-Jahre, Bonn 1993 (aktualisierte Studienausgabe 1998), S. 627–635. 25 Die Quellenauszüge sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . 26 Franzel, Emil, Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes, in: Neues Abendland 5 (1950), S. 1–4, hier S. 3, 4.

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allem das wie Ruf und Echo, Motiv und Gegenmotiv wirkende Spiel der Ideen und Formen am stärksten ausgebildet. Ohne sie ist die Geschichte des Abendlandes nicht denkbar, ohne sie aber und ihre Zusammenarbeit hat das Abendland auch keine Zukunft. [...] Das gilt nicht nur auf dem Felde der Macht, wo Frankreichs Sicherheit die Deutschlands, und Deutschlands Schutz den Frankreichs bedeuten, das gilt vor allem im Reiche des Geistes. Soll in der westlichen Hemisphäre das Licht noch leuchten, das einst vom Abendland ausging, dann müssen Frankreich und Deutschland die Flamme hüten, die zu Gottes Ehre und unserem Heil entzündet ward: pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament.“ 2 Arthur Koestler: Das falsche Dilemma 27 „Die These, die ich Ihnen hier unterbreiten möchte, besagt, dass die Antinomie: rechts oder links, Sozialismus oder Kapitalismus, heute weitgehend ihren Sinn eingebüßt hat und dass, solange Europa in diesen falschen Alternativen stecken bleibt, die alles klare Denken hindern, keine konstruktive Lösung der Probleme unserer Zeit möglich ist. [...] Europa lebt in einem Klima, in dem Worte nicht mehr ernst genommen werden. Oder, um unser früheres Gleichnis zu variieren, wir leben in einer sprachlichen Inflation, die einen Schwarzen Markt der Sprache geschaffen hat, auf dem Worte zu einem illegalen Kurs gehandelt werden, der grundverschieden von ihrem offiziellen Kurs ist. Das gilt nicht nur für den erbärmlichen Schwarzhandel, der jetzt mit Ausdrücken wie „Volksdemokratie“ oder „Friedensoffensive“ getrieben wird. [...] Während die Mehrzahl unserer europäischen Zeitgenossen immer noch von dem überholten Kriegsgeschrei der Rechten und der Linken, hie Kapitalismus, hie Sozialismus, hypnotisiert ist, hat die Geschichte bereits neue Positionen bezogen und uns vor eine neue Alternative gestellt, die alle Grenzen überschneidet. Das Wesen dieses neuen Konfliktes kann in einem neuen Satz zusammengefasst werden: totale Tyrannei gegen relative Freiheit.“ 3 Arthur Koestler: Für eine europäische Freiheitslegion 28 „Westeuropa ist ein Patient in einer Eisernen Lunge. Die wirtschaftliche und militärische Unterstützung Amerikas versorgt es mit Sauerstoff, allein kann es nicht leben und atmen. Diese Lähmung beruht weder auf wirtschaftlichen Faktoren noch auf sozialen Spannungen, noch auf dem kommunistischen Schreckgespenst. Das alles sind Symptome der Krankheit, nicht ihre Ursache, die tiefer liegt und zugleich einfacher ist: Europa hat den Glauben an sich selbst verloren. [...] Im größeren Teil Europas ist die Zivilisation, die seine Größe ausmachte, bereits vernichtet und das menschliche Leben zu einer Art Zuchthausregime degradiert worden. Auch der verstümmelte Rest ist zum Untergang verurteilt – wenn nicht ein radikaler politischer und moralischer Umschwung eintritt. Diese Erneuerung, diese geistige Wiedergeburt ist der einzige Exportartikel, der nicht aus Amerika bezogen werden kann. Sie muß aus Europa selbst kommen.“ 27 Koestler, Arthur, Das falsche Dilemma, in: Der Monat 3 (1950) H. 22/23, S. 436–441, hier S. 436, 437, 441. 28 Ders., Für eine europäische Freiheitslegion, in: Der Monat 3 (1950) H. 26, S. 115–119, hier S. 115.

2. VON DER MONTANUNION ZUM HAAGER GIPFEL 1950–1969

DER SCHUMAN-PLAN, FRANKREICH UND EUROPA 1 Clemens A. Wurm Am Nachmittag des 9. Mai 1950, einem Dienstag, verlas der französische Außenminister Robert Schuman um 18 Uhr vor eiligst in den Uhrensaal des Quai d’Orsay eingeladenen Pressevertretern die nach ihm benannte Erklärung 2, die das Gesicht Europas verändern sollte. Konzeptioneller Urheber der Erklärung war Jean Monnet, damals Vorsitzender des Commissariat général du Plan. Schuman hatte den Vorschlag übernommen und er hat ihn gegen starke Widerstände in Frankreich politisch durchgesetzt. Der Plan war geheim und unter Zeitdruck von Monnet und seinem Stab erarbeitet worden. Nur wenige Personen wurden in die Überlegungen eingeweiht. In den Archiven sind insgesamt neun Fassungen des Textes überliefert, die zwischen dem 16. April und dem 6. Mai entstanden sind. Die am 20. Juli 1950 über den Schuman-Plan aufgenommenen, von Monnet geleiteten und zügig durchgeführten Verhandlungen mündeten im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion), der bereits am 21. April 1951 in Paris unterzeichnet werden konnte. Die EGKS umfasste neben Frankreich die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Die Erklärung Schumans gilt weithin als Gründungsakt der Europäischen Gemeinschaft. In der Europäischen Union wird der 9. Mai als „Europatag“ gefeiert. Der Schuman-Plan ist längst zum Mythos geworden, der seine eigene Wirkung entfaltet. Wie eine umfangreiche Forschung gezeigt hat, haben Monnet und Schuman mit dem Plan mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, die Hierarchie der Ziele scheint für beide nicht identisch gewesen zu sein. Als Hauptziele sind in der Erklärung Schumans und in dem die Reflexionen Monnets zusammenfassenden Memorandum Monnets vom 3. Mai 1950 3 genannt: Friede, Sicherheit, europäische Einigung, Modernisierung der französischen Wirtschaft und Verbesserung der Produktionsbedingungen der Industrie, insbesondere der Stahlindustrie, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die Herstellung gleicher Produktionsbedingungen zwischen Deutschland und Frankreich. Der Schuman-Plan 1 2 3

Essay zur Quelle: Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Der Essay ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Minister für Auswärtige Angelegenheiten Robert Schuman, Regierungserklärung, 09.05. 1950, in: Fontaine, Pascal, Eine neue Ordnung für Europa. Vierzig Jahre Schuman-Plan (1950–1990), Luxemburg 1990, S. 46–48. Veröffentlicht in Le Monde, 09.05.1970. Erneut abgedruckt in: Möller, Horst; Hildebrand, Klaus (Hgg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963, Bd. 2: Wirtschaft. Bearbeitet von Andreas Wilkens, München 1997, S. 577–580.

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verknüpfte das schwierige Deutschland-Problem mit der nicht weniger komplizierten Frage einer neuen Organisation (West-)Europas, die den Erwartungen verantwortlicher Kreise in den betroffenen Ländern entsprach. Die vorgeschlagene Lösung bestand in einer Transformation der in der Vergangenheit konfliktreichen, antagonistischen deutsch-französischen Beziehungen über eine Fusion wirtschaftlicher Interessen auf europäischer Ebene als erstem Schritt zu einer „fédération européenne“. Der Zusammenschluss sollte in einem begrenzten, aber symbolischen Bereich (Kohle und Stahl) im Rahmen einer supranationalen Institution erfolgen. Die deutschen Ressourcen sollten für den europäischen Wiederaufbau genutzt werden, Frankreich und Deutschland den Kern eines geeinten Europas bilden. Die Wahl der Sektoren – Kohle und Stahl – war alles andere als zufällig. Für sie waren neben kurzfristigen Ursachen und sehr konkreten französischen Interessen auch weiter in die Geschichte zurückreichende Faktoren verantwortlich. Die kommerziellen und wirtschaftlichen Strukturen, die sich in Westeuropa seit der Industrialisierung herausgebildet hatten, drängten auf eine um die Beneluxländer erweiterte deutsch-französische Annäherung, besonders auf dem Gebiet der Schwerindustrie. Konstanten der Geografie, der Austausch von Kohle und Erz und finanzielle Verflechtungen hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg beiderseits des Rheins einen komplementären Wirtschaftsraum entstehen lassen, der über scharfe Brüche, Zäsuren und Konflikte hinweg ein Fundament für Kooperation und Integration bildete. Die internationalen Stahlkartelle der Zwischenkriegszeit waren Ausdruck der Interdependenzen und wechselseitigen Abhängigkeiten, die sich im schwerindustriellen Bereich herausgebildet hatten. Kohle und Stahl spielen heute in Europa keine größere politische oder wirtschaftliche Rolle mehr. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts anders. Für die nationale Rüstungsindustrie, das Kriegspotential und das wirtschaftliche Wachstum waren Kohle und Stahl zentral. Beide Sektoren besaßen hohen Symbolwert. Die Höhe der Stahlproduktion galt vielfach als Gradmesser für die Macht einer Nation. Im Herbst 1949 war Schuman vom amerikanischen Außenminister aufgefordert worden, in der Deutschlandpolitik die Führungsrolle des Westens zu übernehmen und einen konkreten Plan vorzulegen. Die Erklärung vom 9. Mai 1950 ging unmittelbar dem Treffen der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und der USA vom 11.–12. Mai 1950 in London voraus, auf dem die Internationale Ruhrbehörde und die Höhe der westdeutschen, durch den Industrieniveauplan der Alliierten begrenzten, Stahlproduktion beraten werden sollten. Zug um Zug drohten die Westdeutschland nach dem Kriege auferlegten Kontrollen und Hemmnisse abgebaut zu werden und Deutschland auf direktem Wege seine Souveränität zurückzugewinnen, ohne dass Frankreich daraus Kapital für seine künftige politische und wirtschaftliche Sicherheit schlagen konnte. Anliegen des Schuman-Plans war es, die französische Außenpolitik aus der Sackgasse herauszuführen, in der sie sich mit ihrer Politik der Schwächung Deutschlands befand. Schließlich: Kohle war zu jener Zeit ein knappes Gut. Lieferungen aus England, das neben Deutschland traditionell den französischen Markt mit Kohle ver-

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sorgt hatte, waren nach dem Kriege nicht mehr, amerikanische Lieferungen noch nicht verfügbar. Es galt, die Lieferung deutscher Ruhrkohle zu günstigen Preisen und identischen Bedingungen sicherzustellen, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden und die Modernisierung der französischen Stahlindustrie zu gewährleisten, die entsprechend dem Modernisierungs- und Entwicklungsplan der französischen Regierung („Monnet-Plan“) prioritär ausgebaut werden sollte. Insoweit ist die Behauptung von Alan Milward und Frances Lynch zutreffend: „The Schuman Plan was invented to safeguard the Monnet Plan.“ 4 In Frankreich war der Schuman-Plan umstritten. Innerhalb der französischen Administration stieß er auf starke Gegnerschaft. Strittig waren die Privilegierung Deutschlands (eines ehemaligen Gegners) auf Kosten Großbritanniens (eines engen Verbündeten), die Supranationalität wie auch die ganze Methode Monnets. Monnet und Schuman gingen mit der Präferenz für Deutschland ein hohes politisches Risiko ein. Auch die französische Öffentlichkeit hatte große Vorbehalte gegenüber einer Partnerschaft mit Deutschland. Die Kritiker, traditionellen Vorstellungen französischer und innereuropäischer Sicherheit durch Dominanz und Balance verhaftet, fürchteten, dass in einem deutsch-französischen Duo Deutschland Frankreich über kurz oder lang an die Wand drücken würde. Sie hielten die Beteiligung Großbritanniens für erforderlich, um das überlegene deutsche Potential auszugleichen. Entsprechende Befürchtungen kommen in einem Gespräch zwischen Staatspräsident Vincent Auriol und Monnet zum Ausdruck, als dieser Auriol seine Vorstellungen darlegte: „Je [Vincent Auriol, CAW] dis à Monnet que son plan est intéressant, mais qu’il devrait être inclus dans une organisation politique de l’Europe et non pas dans une tête-à-tête avec l’Allemagne qui l’emportera avant peu sur la France. Il faut organiser politiquement l’Europe [...] il faut absolument maintenir l’internationalisation de la Ruhr, sinon, si la Ruhr va à l’Allemagne, alors dans cette Autorité charbon-acier, c’est l’Allemagne qui l’emportera. Monnet est d’accord, mais estime qu’il faut commencer par des affaires concrètes, et notamment les questions économiques. C’est là où nous divergeons.“5

Frankreich hatte bis 1949 wiederholt Versuche unternommen, Westeuropa als kohärente Einheit in Zusammenarbeit mit Großbritannien zu organisieren. Die Bestrebungen waren in London aber auf Ablehnung gestoßen. Die britische Regierung forderte die Einbeziehung Deutschlands, war vornehmlich am Commonwealth und am Bündnis mit den USA interessiert, aber nicht bereit, sein Schicksal mit dem Kontinentaleuropas bis zum „point of no return“ zu verknüpfen und sich eng an das als schwach und unzuverlässig eingeschätzte Frankreich zu binden. Die vertragliche Abtretung von Souveränität lehnte die britische Regierung ab. 4

5

Milward, Alan S., The Reconstruction of Western Europe 1945–51, London 1984, S. 395; Lynch, Frances M. B., France and the International Economy. From Vichy to the Treaty of Rome, London 1997. So auch, wenngleich mit anderer Akzentsetzung, Kipping, Matthias, Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944–1952, Berlin 1996. Auriol, Vincent, Journal du septennat 1947–1954. Bd. IV: Année 1950, Paris 2003, S. 200 (Gespräch vom 03.05.1950).

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Gemeinsame europäische Institutionen sollten sich nach britischer Auffassung allmählich Schritt für Schritt aus innereuropäischer Kooperation ergeben, nicht, wie Monnet und Schuman es umgekehrt vorschwebte, an den Anfang gestellt werden. Hier offenbarten sich tiefe Unterschiede in der politischen Kultur, dem Selbstverständnis und den historischen Erfahrungen beider Länder. Seit 1948 war das französische Außenministerium auf der Suche nach einer neuen Deutschlandpolitik, die den von den USA und Großbritannien betriebenen westdeutschen Wiederaufstieg mit dem französischen Sicherheitsbedürfnis in Einklang zu bringen suchte. Von verschiedener Seite wurden Vorschläge zur Organisierung Europas und zur Zusammenfassung der Schwerindustrie unterbreitet. Auch in Deutschland wurden Pläne diskutiert, Kohle und Stahl unter ein supranationales Gesetz zu stellen. Insoweit lag die Präferenz für Deutschland in der Logik der Dinge und der Schuman-Plan gleichsam in der Luft. An die Stelle einer auf Dominanz und auf Ausgrenzung Deutschlands beruhenden, Frankreich in Westeuropa zunehmend isolierenden Politik trat mit der Erklärung vom 9. Mai eine Politik, die Deutschland Gleichberechtigung anbot. Der Schuman-Plan verband dieses Angebot mit der gleichzeitigen Anerkennung einer gegenseitigen, freilich auch dauerhaften Einschränkung der Souveränität in einem begrenzten, aber zentralen Bereich (Kohle und Stahl) im Rahmen integrierter europäischer Strukturen. Monnet hat in den Gesprächen mit der britischen Regierung das Prinzip der Supranationalität kompromisslos verteidigt, während Schuman zu Zugeständnissen an London bereit schien. Aus der Sicht Monnets durften Entscheidungen, die für erstrebenswert oder erforderlich gehalten wurden, nicht am Veto eines oder mehrerer Partner scheitern. Die Kontrolle über Kohle und Stahl sollte deutscher Verfügungsgewalt entzogen werden, um Frankreichs Sicherheit zu gewährleisten und den Frieden zu sichern. Über Regelungen mit bindendem Charakter sollte die Versorgung mit deutscher Kohle politisch abgesichert werden. An die Stelle bloßer Kooperation, die – das zeigte die Zwischenkriegszeit – leicht und schnell aufgekündigt werden konnte, sollte die Integration im Rahmen starker Institutionen treten. Dass Nationalstaaten freiwillig einen Teil ihrer Souveränität an die Hohe Behörde der EGKS abtraten, war ein Novum in der europäischen Geschichte. Die Erklärung vom 9. Mai spricht zweimal davon, dass die Beschlüsse der Hohen Behörde für die teilnehmenden Länder „bindend“ sein werden. Der Begriff supranational selbst kommt im Text nicht vor. An zwei Stellen ist von den „gleichen Bedingungen“ die Rede, zu denen die Lieferung von Kohle und Stahl erfolgen soll. Auch das unterstreicht, wie wichtig diese beiden Punkte für Monnet und Schuman waren. Monnet musste in den Verhandlungen mit den Partnerländern, auf Verlangen insbesondere der Beneluxländer, zahlreiche Abstriche an seinem Plan hinnehmen. Die EGKS ist nicht identisch mit dem Schuman-Plan. Die Kompetenzen der Hohen Behörde wurden abgeschwächt. Die Beneluxländer hatten mit Nachdruck, wie bereits die Briten in den Konsultationsgesprächen mit der französischen Regierung nach dem 9. Mai, die Frage nach der „democratic accountability“ der Hohen Behörde aufgeworfen.

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Die EGKS hat nur wenige Jahre effektiv und zufriedenstellend funktioniert. Als Modell für die Organisation Europas hat sich die sektorale Integration nicht durchgesetzt. An ihre Stelle ist bald die gesamtwirtschaftliche Integration getreten. Sicher war der Schuman-Plan nicht „die Geburtsstunde Europas“, wie es eine mythische und überhöhte Sicht des 9. Mai und der Gründungsväter Monnet und Schuman will. 6 Erinnert sei nur an den Marshall-Plan, die OEEC oder den Europarat. Die neuere Forschung hat überdies gezeigt, wie viel die europäische Einigung nach 1945 der Zwischenkriegszeit als Ideenlaboratorium verdankt. Der Schuman-Plan selbst nimmt auf den Briand-Plan Bezug. Die Vorstellung, dass Frankreich und Deutschland den Eckstein der europäischen Versöhnung bilden müssten, war in den 1920er-Jahren weit verbreitet. Die Entzauberung des Schuman-Plans lässt sich freilich zu weit treiben, hat doch der von ihm ausgehende Mythos durchaus „un fondement dans le réel“ 7. Die EGKS ist Grundlage und Keimzelle der heutigen EU. Mit ihr wurde deren institutionelles Gerüst geschaffen. Die Supranationalität hat überlebt. Im Anschluss an die Formulierung von René Girault lässt sich der Schuman-Plan als „accoucheur“ 8 des sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die blutigen Erfahrungen der europäischen Geschichte herausbildenden „neuen Europa“ des Friedens und der Prosperität begreifen. Die Erklärung fasziniert durch ihre Sprache, die bei einer Übersetzung viel von ihrer Eleganz verliert. Gleich der Eingangssatz – „La paix mondiale ne saurait être sauvegardée sans des efforts créateurs à la mesure des dangers qui la menacent“ – ist ein Stück gelungener Prosa und nimmt den Leser gefangen. Überhaupt verstand es Monnet, Begriffe zu prägen, Formulierungen in Umlauf zu bringen und Worte in Handeln umzusetzen. Bis heute ist die Rhetorik der europäischen Integration stark von Monnet geprägt. Der Schuman-Plan beeindruckt durch Voluntarismus, Gestaltungswillen und politischen Mut. Über „eine konkrete und entschlossene“, auf einen „begrenzten aber entscheidenden Punkt“ abzielende Aktion sollte, so Monnet in seinem Memorandum vom 3. Mai 1950, „der Lauf der Ereignisse“ geändert werden. Diese Aktion würde einen „fundamentalen Wandel“ bewirken, der „Schritt für Schritt die einzelnen Bestandteile des Problems selbst“ ändern würde. Sicher, Frankreich befand sich Anfang Mai 1950 außenpolitisch in der Defensive. Der Schuman-Plan war aber nicht nur ein Befreiungsschlag, der die französische Diplomatie aus der Sackgasse geführt hat. Er skizzierte eine neue Architektur für Europa, ließ über-

6 7 8

Vgl. den Titel der Schrift der Fondation Jean Monnet pour l’Europe/Centre de Recherches Européennes, Ce jour-là, l’Europe est née … (09.05.1950), Lausanne 1980. Loth, Wilfried, Plan Schuman et construction européenne: conclusion, in: Wilkens, Andreas (Hg.), Le plan Schuman dans l’histoire. Intérêts nationaux et projet européen, Brüssel 2004, S. 421–429, hier S. 429. Girault, René, Interrogations, réflexions d’un historien sur Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, in: Bossuat, Gérard; Wilkens, Andreas (Hgg.), Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, Paris 1999, S. 13–19, hier S. 15. Girault bezeichnet Jean Monnet als „accoucheur“.

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kommene Probleme in einem anderen Licht erscheinen und änderte die Richtung der Entwicklungen. Der Schuman-Plan verband visionäre Elemente mit nationalen Interessen. Letzteres war für die Durchsetzbarkeit des Vorschlags entscheidend. Mit der Erklärung der französischen Regierung vom 9. Mai wurde – im Unterschied zu zahlreichen Europaplänen vorher – ein handhabbarer Plan vorgelegt. Die europäische Integration wurde, als Prozess, in Teilschritte aufgelöst. Aus dem Reich der Ideen wurde „Europa“ in machbare, umsetzbare Politik überführt. Der Schuman-Plan wurde überdies in einem günstigen Augenblick präsentiert. Spätere Kritiker Monnets und seiner Methode haben – aus heutiger Sicht – die Neigung Monnets bedauert, Europa von der Wirtschaft und Währung her zu denken und die kulturelle Dimension zu vernachlässigen. Angeblich hat Monnet dies später selbst bedauert. Den in diesem Zusammenhang immer wieder zitierten Satz „Et si c’était à refaire, je commencerais par la culture“ hat Monnet jedoch nie gesprochen, und, soviel wir wissen, hat er dergleichen auch nicht gedacht – ganz abgesehen davon, dass „Kultur“ um 1950 in der Regel etwas anderes meinte als heute, und der Weg der Einigung über die Kultur aufgrund nationaler Widerstände damals kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Das Schicksal diesbezüglicher Ambitionen eines Teils der Europäischen Bewegung mit ihrem „militanten“ Verständnis von Kultur und die Vor- und Frühgeschichte des Europarates zeigen dies. Allerdings hat Monnet bedauert, nicht mehr am Europa der Bildung und Erziehung gearbeitet zu haben. Schließlich: Der Schuman-Plan markiert den „mühsamen Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung“. 9 Vermutlich liegt hierin sein wichtigstes Verdienst. Literaturhinweise Bossuat, Gérard; Wilkens, Andreas (Hgg.), Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, Paris 1999. Poidevin, Raymond, Robert Schuman, homme d’État 1886–1963, Paris 1986. Roussel, Éric, Jean Monnet 1888–1979, Paris 1996. Schwabe, Klaus (Hg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden 1988. Wilkens, Andreas (Hg.), Le plan Schuman dans l’histoire. Intérêts nationaux et projet européen, Brüssel 2004.

9

Lappenküper, Ulrich, Der Schuman-Plan. Mühsamer Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 403–445.

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Quelle Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950 10 Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt. Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muß in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zwecke schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerläßlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren.

10 Minister für Auswärtige Angelegenheiten Robert Schuman, Regierungserklärung, 09.05. 1950, in: Fontaine, Pascal, Eine neue Ordnung für Europa. Vierzig Jahre Schuman-Plan (1950–1990), Luxemburg 1990, S. 46–48. Hervorhebungen im Original. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist. Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen: Die der gemeinsamen Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien. Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten. Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten. Die Grundsätze und die wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen Gegenstand eines Vertrages werden, der von den Staaten unterzeichnet und durch die Parlamente ratifiziert wird. Die Verhandlungen, die zur Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen unerläßlich sind, werden mit Hilfe eines Schiedsrichters geführt werden, der durch ein gemeinsames Abkommen ernannt wird. Dieser Schiedsrichter wird darüber zu wachen haben, daß die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und hat im Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung zu bestimmen, die dann angenommen werden wird. Die gemeinsame Hohe Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen werden Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Hohen Behörde gewährleisten. Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behörde wird damit beauftragt, zweimal jährlich einen öffentlichen Bericht an die Organisation der Vereinten Nationen zu erstatten, der über die Tätigkeit des neuen Organismus, besonders was die Wahrung seiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt. Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde

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die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, solange diese bestehen.

DAS DEMOKRATIEDEFIZIT DER EUROPÄISCHEN UNION. GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN 1 Guido Thiemeyer Die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Union gehört zu den Hauptproblemen der politik- und rechtswissenschaftlichen Europa-Forschung. Daher erstaunt es, dass die Geschichtswissenschaft in dieser Debatte bislang sehr wenig präsent ist. Hier konzentrierte man sich zunächst auf die Erforschung der politischen und wirtschaftlichen Aspekte der europäischen Integration, seit etwa zehn Jahren dominieren gesellschafts- und vor allem kulturgeschichtliche Perspektiven die Forschung. Dabei könnte ein geschichtswissenschaftlich orientierter Zugang zu dem Problem des Demokratiedefizits die Debatte durchaus bereichern. Er könnte fragen, welche Bedeutung das Problem der demokratischen Legitimation in der Gründungsphase der EU, insbesondere bei der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) oder auch der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte. Hier wurde der Kern des institutionellen Gefüges der Europäischen Union entworfen und es wäre interessant und wichtig zu wissen, warum beispielsweise die „Parlamentarischen Versammlung“ in der EGKS und auch in der EWG eine so schwache Stellung im Rechtssetzungsprozess erhielt. Eine „Verfassungsgeschichte“ der europäischen Integration, die diesen Aspekt behandeln müsste, ist ein Forschungsdesiderat. Man könnte auch kulturgeschichtlich nach Denkmustern fragen, die die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften begleiteten. Warum wurde „Europa“ immer mit dem Stichwort „Demokratie“ assoziiert und die demokratische Verfassung von Nationalstaaten als Kriterium für Beitrittskandidaten erhoben, obwohl die Organisation selbst den Anforderungen der Demokratietheorie nur ansatzweise gerecht wird? Warum nahmen die europäischen Gesellschaften das Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaften bis Ende der 1980er-Jahre hin? Erst mit dem Vertrag von Maastricht und der Europäischen Währungsunion scheint der „Permissive Consensus“, das heißt das wohlwollende Einverständnis zwischen den Eliten, die den Integrationsprozess weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit vorantrieben, und der Masse der Europäer zerbrochen zu sein, mit dem die Bevölkerung der europäischen Staaten den Integrationsprozess seit dem Zweiten Weltkrieg begleitet hatte. Auch hierüber wissen wir sehr wenig. Das hier im Zentrum stehende Geheimmemorandum des niederländischen Landwirtschaftsministers vom Juni 1953 2 legt eine Kombination aus beiden An1

Essay zur Quelle: Memorandum über die Landwirtschaftsintegration (18. Juni 1953). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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sätzen nahe: Welche Ziele verfolgten einzelne Akteure im Integrationsprozess? Warum wurden die Europäischen Institutionen in der frühen Phase der Integration so und nicht anders konstruiert? Welche politischen Denkmuster prägten diese Vorstellungen, und welche Rolle spielte hier schließlich die demokratische Legitimation der europäischen Organisation? Das Dokument ist ein internes Arbeitspapier, dessen Verfasser nicht klar zu ermitteln ist. Sicher ist, dass es entweder vom damaligen niederländischen Landwirtschaftsminister Sicco Mansholt selbst oder von einem seiner engen Mitarbeiter stammt. Mansholt verwandte viele der in diesem Papier erstmals formulierten Gedanken in Gesprächen mit europäischen Minister-Kollegen und auch in öffentlichen Reden. Wenn er also nicht selbst der Autor ist, dann stand er diesem zumindest sehr nahe. Bemerkenswerterweise wurde das Dokument, obwohl es ein internes Arbeitspapier des niederländischen Landwirtschaftsministeriums ist, in deutscher Sprache verfasst. In den Akten der Abteilung für internationale Organisationen des niederländischen Landwirtschaftsministeriums, die 1953 von Jaap van der Lee geleitet wurde, finden sich aber neben niederländischen auch Dokumente in französischer, englischer oder eben deutscher Sprache. Das Dokument ist unterteilt in einen politischen und einen agrarwirtschaftlichen Teil der Diskussion. Wichtig für die hier interessierende Frage nach dem Demokratiedefizit der Europäischen Union ist vor allem die politische Argumentation. Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass die wirtschaftliche Integration Europas, die auch die Landwirtschaft umfasse, notwendig sei zur Stärkung der wirtschaftlichen und daher auch politischen Widerstandskraft Westeuropas (Absatz 1). Damit ist das übergeordnete Ziel bezeichnet: Die Sicherung Westeuropas gegen einen befürchteten Angriff der Sowjetunion. Gleich unter Punkt 2 wird festgehalten, dass die bislang im Sektor der Landwirtschaftsintegration tätigen internationalen Organisationen wie die OEEC und GATT erfolglos geblieben seien, weil sie nach dem Einstimmigkeitsprinzip arbeiteten, das heißt das Veto eines Mitgliedes konnte einen von allen anderen Mitgliedern gewünschten Beschluss verhindern. Daher, das ist die Konsequenz, müsse ein neues Prinzip auch in der Landwirtschaftsintegration eingeführt werden, das Prinzip der Supranationalität. Hierbei könne eine über den Nationalstaaten stehende „Hohe Gewalt“ Entscheidungen mit einfacher oder absoluter Mehrheit fällen (Absatz 3). Der Abschnitt vier erläutert den Hintergrund dieser Überlegungen. Nur durch die supranationale Methode könne verhindert werden, dass Entscheidungen, die erwünscht und notwendig seien, durch ein Veto eines oder mehrerer Teilnehmerstaaten verhindert würden. Ein solches Veto würde immer dann ausgesprochen, wenn ein Staat zentrale Interessen bedroht sehe. Diese Interessen würden, so die Überlegung weiter, durch Interessengruppen in der innenpolitischen Diskussion formuliert und durchgesetzt. Oft, und insbesondere in der Landwirtschaft, ginge es da2

Memorandum über die Landwirtschaftsintegration. Geheim. 18.06.1953. Ministerie van Landbouw, Natuurbeheer en Vissereij. Archiefdepot, Den Haag. Directie internationale organisaties, Blok 2, Vol. 822. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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rum, nationale Märkte gegen Konkurrenz von außen zu schützen. Positionen dieser Art ließen sich aber „nicht oder nur zum Teil“ vom wirtschaftlichen Standpunkt aus verantworten. Um zu verhindern, dass Partikularinteressen das Allgemeinwohl behindern, so die Argumentation weiter, sei es notwendig, auf westeuropäischer Ebene ein supranationales Regierungssystem einzuführen, das die „beratende Methode“ auf nationaler Ebene ersetzt. Das Prinzip der Supranationalität hätten aber bislang nur die Staaten der Montanunion akzeptiert, sie seien mit der Resolution über die Europäische Politische Gemeinschaft vom 10. September 1952 sogar schon einen entscheidenden Schritt weiter gegangen. Daher plädierte der Autor des Memorandums für die europäische Integration der landwirtschaftlichen Märkte auf supranationaler Basis in diesem Rahmen. Der Hintergrund dieser Argumentation war die schlechte Erfahrung, die der niederländische Landwirtschaftsminister Mansholt mit den agrarischen Interessenverbänden in Europa gemacht hatte. 3 Insbesondere der Deutsche Bauernverband und die verschiedenen französischen Landwirtschaftsverbände hatten alle Versuche des Niederländers zu einer Öffnung der Agrarmärkte zu Beginn der 1950er-Jahre verhindert. 4 Vor allem in Frankreich hatte sich in der Nationalversammlung eine parteiübergreifende „Groupe Paysan“ formiert, die alle ihren Interessen entgegenstehenden politischen Projekte zu verhindern suchte. Hierzu gehörte auch die von den Niederlanden sehr gewünschte europäische Agrargemeinschaft. Die französischen Landwirte fürchteten – ebenso wie ihre deutschen Kollegen – die Konkurrenz der leistungsfähigen niederländischen Produzenten auf dem heimischen Markt. 5 Eine Öffnung der europäischen Agrarmärkte war zweifellos in besonderem Interesse der Niederlande, bei denen der Anteil landwirtschaftlicher Produkte am Gesamtexport nach dem Krieg fast ein Drittel ausmachte. Gleichwohl war der niederländische Landwirtschaftsminister davon überzeugt, dass eine allgemeine Öffnung der europäischen Agrarmärkte im Rahmen einer „Agrargemeinschaft“ nicht nur zum Vorteil der holländischen Landwirte sei, sondern zum Nutzen von Westeuropa insgesamt (Absatz 12). Die (agrar-) wirtschaftliche Integration Westeuropas war für ihn eine Voraussetzung für die politische Integration, die wiederum entscheidend für die Selbstbehauptung des Kontinents im Kalten Krieg war. Die europäische politische Integration war aus seiner Perspektive ein übergeordnetes politisches Ziel, dessen Realisierung durch vehement hervorgebrachte Partikularinteressen in den Nationalstaaten verhindert wurde. Die Supranationalität war für Mansholt ein Instrument, um diese Partikularinteressen, die eine Lösung im Sinne des Allgemeinwohls verhinderten, zu überwinden und langfristig auszuschalten. Die „Hohe Gewalt“ konnte unabhängig von 3 4 5

Thiemeyer, Guido, Vom „Pool Vert“ zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Europäische Integration, Kalter Krieg und die Anfänge der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, München 1999. Noel, Gilbert, France, Allemagne et „Europe Verte“, Bern 1995, S. 49–100. Bührer, Werner, Agricultural Pressure Groups and International Politics. The German Example, in: Griffiths, Richard; Girvin, Brian (Hgg.), The Green Pool and the Origins of the Common Agricultural Policy, London 1995, S. 77–90.

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nationalen Einzelinteressen Beschlüsse fassen, die „erwünscht und erforderlich“ sind (Absatz 4). Damit formulierte Mansholt eine politische Vorstellung, deren Bedeutung in der Diskussion um die Motive für die europäische Integration von der Forschung bislang unterschätzt worden ist. Die supranationale europäische Integration war auch ein Instrument, um den westlichen Nationalstaaten jene Effizienz in der Wirtschaftspolitik zurückzugeben, die ihnen im beständigen, systembedingten Konflikt zwischen den Interessenverbänden abhandengekommen war. Wirtschaftspolitische Entscheidungen, so die Überlegung, sollten von einem dem Allgemeinwohl verpflichteten Expertengremium, der Hohen Behörde, später der Europäischen Kommission, getroffen werden. Doch nicht nur die Tätigkeit der Interessenverbände, sondern das demokratische System an sich betrachtete Mansholt in dieser Hinsicht als Problem, weil es Politiker zwinge, immer den kurzfristigen Vorteil zu suchen, der ihnen den nächsten Wahlerfolg sichere. Langfristige, am Gemeinwohl orientierte Konzepte, hätten so einen schweren Stand: „A cause de leur clientèle électorale, ils [die Politiker, G.T.] sont contraints de servir les in6 tèrêts immédiats. Pour les politiciens, c´est toujours le même conflit.“

Die supranationale europäische Integration schien ein Ausweg aus diesem Dilemma zu sein, weil die Mitglieder der Hohen Behörde unabhängig waren, sie sollten weder dem Einfluss von Interessenverbänden ausgesetzt werden, noch abhängig von Wählerentscheidungen sein. Mansholt lehnte die Demokratie nicht grundsätzlich als politisches System ab, er sah allerdings die Defekte der modernen westeuropäischen Demokratie und versuchte sie durch die supranationale europäische Integration zu überwinden. Dies war ein Gedanke, der gerade in der Frühphase der supranationalen Integration eine wichtige Rolle spielte. So erklärte Paul Reuter, einer der engen rechtswissenschaftlichen Berater Jean Monnets in der Gründungsphase der Montanunion, warum der „Beratenden Versammlung“ eine schwache Rolle im Institutionengefüge der Montanunion gegeben worden war: „Mais le désir de maintenir l´ensemble des institutions dans un cadre très technique anima pendant toutes les négociations un certain nombre de délégations, peu désireuses de voir tout le système dégénérer en un régime conventionnel, voué à l´impuissance. Ceci explique pour7 quoi le rôle de l´Assemblée a été si étroitement limité.”

Auch hier geht es darum, dass die neue Gemeinschaft unabhängig vom aufwändigen demokratischen Verfahren schnell und effizient entscheiden müsse. Würde man der Gemeinschaft für Kohle und Stahl ein mächtiges Parlament als Kontrollorgan zur Seite stellen, wäre sie zur Ohnmacht verurteilt. In ganz ähnlicher Weise tauchte der Gedanke auch im so genannten Spaak-Bericht vom 21. April 1956 auf,

6 7

Mansholt, Sicco, La Crise. Conversation avec Janine Delaunay, Paris 1974, S. 123f. Reuter, Paul, La Communauté européenne de Charbon de l´Acier, Paris 1953, S. 52.

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der als Verhandlungsgrundlage für den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft diente: „Wegen der Eilbedürftigkeit der Überprüfung und der Entscheidung ist das komplizierte Verfahren, das bei zwischenstaatlichen Beziehungen oder Organisationen angewandt wird, nicht möglich. Auch kann man sich nicht vorstellen, dass die Kontrolle über die Durchführung der von Staaten übernommenen Verpflichtungen und die Anwendung der Schutzklauseln von einem Votum der Regierungen abhängig sein sollten. Würde hierfür Einstimmigkeit vorgesehen, so könnte jeder Staat durch sein Veto das Verfahren lahm legen oder seine Zustimmung von gewissen Bedingungen abhängig machen, bei Mehrheitsentscheidungen bliebe die Ge8 fahr, dass Interessenverflechtungen eine objektive Entscheidung verhindern.“

Auch hinter diesen Überlegungen stand die Ansicht, dass die neu zu schaffenden europäischen Institutionen unabhängig von den überkommenen Entscheidungsverfahren arbeiten müssten, um effizient zu sein. Das komplizierte, nicht zuletzt von innenpolitischen Faktoren und Kräften abhängige Verhandeln zwischen Regierungen sollte im Gemeinsamen Markt durch die raschen Entscheidungen einer von den Regierungen unabhängigen supranationalen Behörde ersetzt werden. Hier würden Experten nach rationalen, dem Allgemeinwohl verpflichteten Kriterien entscheiden; Wirtschaftspolitik wurde damit zumindest zum Teil dem demokratischen Prozess in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft entzogen. Es ist dies ein Motiv der europäischen Integration, das sich seit Beginn der supranationalen europäischen Zusammenarbeit immer wieder finden lässt. Es spielte nicht nur im Sektor der Agrarpolitik eine Rolle, sondern auch in der gemeinsamen Währungspolitik seit 1999. Die der demokratischen Kontrolle entzogene Europäische Zentralbank trifft ihre geldpolitischen Entscheidungen ausschließlich nach technokratischen Gesichtspunkten. 9 Sie ist nur insofern an das politische System gebunden, als dieses der Bank im Vertrag das Ziel ihres Handelns vorgegeben hat, nämlich die Geldwertstabilität im Euro-Raum zu sichern. Ansonsten sind Zentralbankrat und Zentralbankdirektorium völlig unabhängig von den nationalen Regierungen und den anderen Gemeinschaftsinstitutionen in politischer, institutioneller und personeller Hinsicht. Die hinter diesen Gedanken stehende Vorstellung von einer dem Allgemeinwohl verpflichteten „Expertokratie“ ist der politischen Ideengeschichte nicht neu: Sie beginnt mit der Staatsphilosophie Platons, dessen Idealstaat von Philosophenkönigen regiert wird. „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Poleis, oder die heutigen so genannten Könige und Gewalthaber sich aufrichtig und gründlich mit Philosophie befassen

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Der Spaak-Bericht vom 21.04.1956, in: Schwarz, Jürgen (Hg.), Der Aufbau Europas, Bonn 1980, S. 277–334, hier S. 286. Jochum, Georg et al. (Hgg.), Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität, Berlin 2007, S. 197–236.

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Guido Thiemeyer und beides in eines zusammenfällt, politische Macht und Philosophie, […] gibt es kein Ende 10 des Unheils für die Poleis […] und auch nicht die einzelnen Menschen.“

Herrschaft wurde hier legitimiert durch Einsicht, durch Expertentum. Eben das war das, was auch Mansholt vorschwebte, wenn er forderte, dass „Entscheidungen, welche erwünscht und erforderlich sind“ durch ein mit Experten besetztes Gremium und nicht durch von der Wählergunst abhängige Politiker gefällt werden. Aus diesem Grunde plädierte er im Kontext der europäischen Landwirtschaftsintegration für eine supranationale Gemeinschaft, die unabhängig von den Nationalstaaten und den hier dominierenden politischen Einflüssen wären. Aus ideengeschichtlicher Perspektive ist aber auch ein anderer Aspekt wichtig. Mansholt geht es auch um die Effizienz politischer Entscheidungen. Die nationalen Systeme, so seine Überzeugung, hätten in dieser Hinsicht versagt, politische Entscheidungsprozesse seien ineffizient und nicht immer am Gemeinwohl orientiert. Dies, so zeigte er sich überzeugt, war zurückzuführen auf das langwierige, von vielfältigen partikularen Interessen beeinflusste Entscheidungsverfahren in den Mitgliedstaaten. Ganz ähnlich argumentierten die Autoren des Spaak-Berichtes, wenn sie die weitgehende Unabhängigkeit der Europäischen Kommission im Gemeinsamen Markt damit rechtfertigten, dass „Interessenverflechtungen objektive Entscheidungen verhindern“. Es ging Mansholt ebenso wie den Autoren des Spaak-Berichtes also darum, die Effizienz politischen Handelns zu erhöhen. Der demokratische Nationalstaat hatte bei der Lösung wesentlicher Probleme (hier der Landwirtschaft) versagt, weil das hier dominierende Mehrheitsprinzip effiziente Entscheidungen verhinderte. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen waren zwar im Nationalstaat durch die Mehrheitsentscheidung legitimiert, das Ergebnis war aber eben deswegen unzureichend. Es handelte sich aus Mansholts Sicht um ein grundsätzliches Problem der Demokratie, um ein Effizienzdefizit. Hierhinter steht eine Einschätzung, die die Legitimität politischen Handelns nicht von Art der Entstehung einer politischen Entscheidung her betrachtet (Input), sondern vom Ergebnis dieses Handelns (Output). 11 Es ist der Unterschied zwischen der „Herrschaft durch das Volk“ (Input) und jener „für das Volk“ (Output). Legitim ist eine politische Entscheidung also auch dann, wenn sie ein politisches Ergebnis erzeugt, das von der Mehrheit der Betroffenen als befriedigend betrachtet wird und es deswegen keinen breiten Widerstand gegen die Entscheidung gibt. Noch ein letzter Aspekt ist aus kulturgeschichtlicher Sicht bedeutsam: Das Dokument zeigt, dass das Vertrauen in Experten, in diesem Fall Ökonomen und Unternehmer, als Leistungsträger für Fortschritt und Modernität sehr hoch war und ist. Gerade im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg waren Experten gefragt, ihnen wurde vertraut, weil sie scheinbar völlig unpolitisch, dem Allge10 Platon, Sämtliche Werke, hg. von Walter F. Otto; Ernesto Grasso; Gert Plamböck, Bd. 3: Politeia, Hamburg 1953, S. 193, 473cd. 11 Scharpf, Fritz, Regieren in Europa, Frankfurt 1999, S. 16–26.

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meinwohl und der Effizienz verpflichtet, Lösungen für Probleme anboten. Dieses Vertrauen hat auch die Entdeckung der „Grenzen des Wachstums“ in den 1970erJahren scheinbar nur kurzfristig erschüttert. Das Vertrauen der breiten Bevölkerung in die Expertokratie der Europäischen Zentralbank mag dies belegen. Das niederländische Memorandum über die Landwirtschaftsintegration ist daher für die europäische Integrationsforschung aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen zeigt es, dass es neben dem Motiv der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland, dem der Selbstbehauptung Europas in der Welt und wirtschaftlichen Interessen ein weiteres wichtiges Motiv für die supranationale europäische Integration gab, das von der bisherigen geschichtswissenschaftlichen Forschung kaum beachtet wurde. Europäische Integration war auch ein Instrument, um die Defizite der input-orientierten nationalen demokratischen Systeme, das heißt vor allem ihre Ineffizienz in wirtschaftspolitischer Hinsicht, zu überwinden. Zeit- und kostenaufwändige Entscheidungsverfahren sollten in bestimmten Sektoren der Wirtschaft (Landwirtschaft, Währungspolitik) an nicht-politische, technokratische Experten delegiert werden, die schneller und besser im Sinne des Gemeinwohls entscheiden konnten. Hierhinter stand auch ein neuer Anspruch an staatliches Handeln, das sich mit den ökonomischen Kategorien der Effizienz messen lassen musste. Entscheidend war aus dieser Sicht nicht mehr die Input-Legimation, das heißt die Entscheidung durch demokratische Mehrheitsverfahren, sondern die Output-Legitimation, das heißt, die Rechtfertigung staatlichen Handelns durch sein Ergebnis. Das Motiv tauchte mit den Überlegungen Mansholts für eine europäische Agrarunion zu Beginn der 1950er-Jahre zum ersten Mal auf und hat bis in die Gegenwart nicht an seiner Bedeutung eingebüßt, wie die immer wieder aufflammende Debatte um die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zeigt. Diese Entwicklung aber führte – zweitens – zum Kern dessen, was heute als Demokratiedefizit der Europäischen Union wahrgenommen wird. Die OutputLegitimation der EU wurde von der Bevölkerung vor allem in der ersten Phase des Integrations-Prozesses in begrenztem Umfang – etwa in der Agrarpolitik – akzeptiert. Die Input-Legitimation konnte unter diesen Voraussetzungen schwach bleiben. Vor allem aber mit der Vollendung des Binnenmarktes und der vollen Zuständigkeit der Kommission für die Wettbewerbspolitik in der EU scheint die Grenze der Akzeptanz erreicht. Zumal die ordoliberale Ausgestaltung des Binnenmarktes und die auf dieser Basis von der Europäischen Kommission gestaltete Wettbewerbspolitik auf wachsenden Widerstand stoßen, wie nicht zuletzt die Diskussion im Vorfeld des Referendums um den europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden 2005 gezeigt hat. Es gibt – auch wenn es durchaus verschiedene Motive für die Ablehnung des Verfassungsvertrages in beiden Ländern gab – offenbar weder in Frankreich noch in den Niederlanden jene wirtschaftsliberale Grundhaltung, die Voraussetzung für die Akzeptanz der outputorientierten Legitimation ist. Dieses Problem wird auch durch den neuen Reformvertrag von Lissabon nicht gelöst werden.

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Literaturhinweise Jochum, Georg et al. (Hgg.), Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität, Berlin 2007. Merrienboer, Johan van, Mansholt. Een Biografie, Amsterdam 2006. Scharpf, Fritz, Regieren in Europa, Frankfurt 1999. Thiemeyer, Guido, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Köln u.a. 2010. Ders., Sicco Mansholt and European Supranationalism, in: Loth, Wilfried (Hg.), La gouvernance supranationale dans la construction européenne, Brüssel 2005, S. 39-53.

Quelle Memorandum über die Landwirtschaftsintegration (18. Juni 1953) 12 GS/DIO 1878 GEHEIM Politischer Teil der Diskussion. 1. Die europäische Landwirtschaftsintegration will auf dem Wege eines gemeinschaftlichen Marktes zu der Hebung der europäischen Wohlfahrt beitragen. Eine Landwirtschaftsintegration verstärkt die wirtschaftliche, und folglich auch die politische Widerstandsfähigkeit Westeuropas. 2. Internationale Organisationen wie die OEEC und die GATT, sind, wie die Erfahrung gezeigt hat, nicht imstande, dieses Ziel zu erreichen, im besonderen wegen der von ihnen angenommenen festen Regel der Unanimität. Aus diesem Grunde wird man sich diesem Problem von einer andren Seite aus, auf supranationalen Wegen, nähern müssen. 3. In einer supranationalen Organisation kann eine Hohe Gewalt in einigen im Vertrag festzulegenden Fällen und unter bestimmten Bedingungen bei einfacher oder absoluter Stimmenmehrheit Entscheidungen treffen. 4. A. Nur auf diese Weise kann vermieden werden, dass Entscheidungen, welche erwünscht und erforderlich sind, auf das Veto von einem oder mehreren Teilnehmerstaaten scheitern. Ein solches Veto wird öfters ausgesprochen, wenn unveräusserliche Interessen angegriffen werden sollten. In einigen Ländern haben Gruppen unveräusserlicher Interessen Stellungen eingenommen, die sich nicht oder nur zum Teil vom wirtschaftlichen Standpunkte aus verantworten lassen. Solche Gruppen fühlen sich sicher hinter den Barrieren protektionistischer Natur. Diese Barrieren wurden aufgeworfen durch den Einfluss, den die betreffende Gruppe auf die Regierung ausübte. Es sei denn, dass die beratende Methode durch ein supranationales System ersetzt werden würde, werden solche Gruppen dauernd Widerstand, wie oben umschrieben, leisten können.

12 Memorandum über die Landwirtschaftsintegration. Geheim. 18.06.1953. Ministerie van Landbouw, Natuurbeheer en Vissereij. Archiefdepot, Den Haag. Directie internationale organisaties, Blok 2, Vol. 822. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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B. Einerseits wird ein supranationales System ein Ausweg aus dieser Sackgasse sein können, indem es andrerseits möglich sein wird, im Vertrag Garantien niederzulegen, welche die Lage des sozial und wirtschaftlich berechtigten gut geführten Betriebs sichern werden. 5. Der Umfang der zu errichtenden Landwirtschaftsgemeinschaft wird deshalb bedingt werden durch die Anzahl Länder [sic!], die im Prinzip bereit sind, in die Schaffung eines supranationalen Organs einzuwilligen. 6. Die sechs Regierungen, die den Vertrag ratifiziert haben, wobei die Kohlen- und Stahlgemeinschaft in Kraft trat, und die den Europäischen Defensions-Vertrag unterzeichnet haben, haben damit gezeigt, im Prinzip bereit zu sein, eine supranationale Organisation anzuerkennen. 7. Dieselben Regierungen haben durch die Unterzeichnung der Luxemburger Resolution vom 10 September 1952 bewiesen, dass sie über die Notwendigkeit einer engen politischen Zusammenarbeit gleichfalls auf supranationaler Basis einig sind. Kraft dieser selben Resolution haben sie die ersten Vorbereitungen dazu getroffen. Die Assemblee ad hoc und der Verfassungsausschuss, die im Rahmen dieser Vorbereitungen eingesetzt worden waren, haben sich an die Ausführung ihrer Aufgabe herangemacht und werden am 10 März ein Entwurf-Statut für eine Europäische Politische Gemeinschaft entworfen haben, das den betreffenden Regierungen unterbreitet werden wird. 8. Ausserdem legt die Luxemburger Resolution das unlösliche Band zwischen politischer und wirtschaftlicher Integration mit dem folgenden Wortlaut fest: „Aus der Erkenntnis heraus, dass die Errichtung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft mit einem föderativen oder bundesgenossenschaftlichen Charakter beschränkt bleiben muss auf das Legen gemeinschaftlicher Basen für die wirtschaftliche Entwicklung und auf ein Zusammenschweissen der hauptsächlichsten Interessen der Teilnehmerstaaten….“. 9. Im Lichte dieser Darlegung liegt es klar auf der Hand, dass Integration von Sektoren der Nationalwirtschaft (Integration auf funktionellen Linien) im Rahmen und als ein Teil der wirtschaftlichen und politischen Vereinheitlichung Westeuropas betrachtet werden muss. Deshalb muss man bedenken, ob ein Land sich einer sektoralen Wirtschaftsgemeinschaft anschliessen kann, ohne zu gleicher Zeit an der Integration andrer wirtschaftlichen [sic!] Sektoren, sowie an der Integration auf politischem Gebiet teilzunehmen. 10. Das unlösliche Band zwischen der politischen und wirtschaftlichen Integration wurde noch einmal hervorgehoben in einem Memorandum, das die niederländische Regierung am 11 Dezember 1952 überreicht hat an die Regierungen der fünf andren Länder, die sich der Kohlen- und Stahlgemeinschaft angeschlossen, die Europäische Defensions-Gemeinschaft unterzeichnet, und die Luxemburger Resolution angenommen haben. 11. Die Landwirtschaft wird in dem Memorandum vom 11 Dezember 1952 nachdrücklichst als einer der Sektoren genannt, der kurzfristig integriert werden soll, sowohl wegen der vorbereitenden Studien, die schon beendet worden sind, wie wegen des verwickelten Charakters des Problems, das eine lange Uebergangsperiode verlangt. Das Zustandebringen einer Landwirtschaftsintegration an einem späteren Zeitpunkt würde die grosse Gefahr mit sich bringen, dass die Landwirtschaft in der letzten Phase auf dem Wege nach einem gemeinschaftlichen Markt für alle Erzeugnisse in eine Zwangslage geraten würde, gerade weil die Uebergangsperiode dann zu kurz sein würde. In jenem Falle würde ein verwickeltes Ganze [sic!] von Massnahmen auf kurzen Termin improvisiert werden müssen. 12. Nachdrücklichst wird darauf hingewiesen, dass die geplante Landwirtschaftsgemeinschaft nicht als eine geschlossene Organisation gestaltet werden wird. Vom politischen

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Standpunkte aus steht die Mitgliedschaft für alle westeuropäischen Länder, welche die im Vorstehenden dargelegten Grundsätze unterschreiben, offen. Vom wirtschaftlichen Standpunkte aus, wird die Gemeinschaft keineswegs einen autarkischen Charakter tragen, jedoch wird sie einen grösseren Austausch landwirtschaftlicher Erzeugnisse, und vor allen Dingen die Instandhaltung von Beziehungen mit andren Absatzgebieten anstreben. 13. Zum Schlusse muss man auch grossen Wert legen auf die Anknüpfung besonderer Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und jenen Ländern, die sich zwar nicht anschliessen, aber trotzdem enge Beziehungen zu ihr unterhalten wollen. Agrarwirtschaftlicher Teil der Diskussion. 1. Hauptsächlichste Ausgangspunkte für eine europäische Agrar-Wirtschaftspolitik. 1. Bei dieser Politik müssen sämtliche Produkte miteinbezogen werden, weil ein enger gegenseitiger Zusammenhang zwischen einer Erhöhung der Produktivität und der gesamten Agrarproduktion besteht. 2. Es kommt darauf an, einen maximalfreien Handelsverkehr nach und aus den NichtTeilnehmerstaaten zu fördern zur Verhütung einer autarkischen Entwicklung innerhalb der Gemeinschaft selbst. Mit andren Worten, die Steigerung der Produktivität darf nicht innerhalb eines von dem Weltmarkt getrennten Gebietes erfolgen. 3. Weil die Fühlungnahme mit dem Weltmarkt von vornherein so eng wie möglich sein muss, wird der Handel anfänglich hauptsächlich von jenen Ländern getrieben werden, die, vom agrar-wirtschaftlichen Standpunkte aus, die stärkste Stellung einnehmen. 4. Es ist deshalb dringend notwendig, dass die zu 3 genannten Länder, imstande sind, ihr niedriges Preisniveau aufrechtzuerhalten, was auch für sehr erwünscht erachtet werden muss im Hinblick auf die Anregung einer grösseren Spezialisierung. 5. Die Instandhaltung durch einige der technisch besser entwickelten Länder eines niedrigen Preisniveaus einerseits, und die erheblich höheren Preise in den andren Ländern der Gemeinschaft andrerseits, fordern während einer längeren Uebergangsperiode ein Preisstoppsystem im intereuropäischen Güterverkehr. 6. Dieses Preisstoppsystem wird faktisch keine grundstürzende Veränderung in dem jetzigen Sachverhalt herbeiführen. 2. Die hauptsächlichsten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen a. Will die Landwirtschaftsgemeinschaft die Zielsetzungen der OEEC und der GATT, die jetzt auf Grund der Freiwilligkeit angestrebt werden (nämlich die allmähliche Aufschliessung der nationalen geschlossenen Gemeinschaften), so wird es notwendig, dass auf die Politik, welche die Nationalssouveränität [sic!] unangefochten lässt, Verzicht geleistet wird. Bei der Durchführung dieses Aufschliessungssystems wird ein gewisses Mass von Kollektivverwaltung notwendigerweise am Platze sein. b. Wenn sich aber die Aufgabe eines solchen gemeinschaftlichen Organs auf die Einschränkung des Schutzes und dessen allmähliche Behebung beschränken würde, dann würde es nur Druck ausüben, ohne, dass es tätige Hilfe bieten würde. Aus diesem Grunde will Holland die Kompetenz dieses Organs ausweiten zur Förderung der Preisstabilisierung, sowie

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der Regional-Meliorationspläne, der wissenschaftlichen Forschungs-, Unterrichts - und Aufklärungstätigkeit. c. Die Aufsicht über den Nationalschutz, sowie die Vorkehrungen zur Erlangung einer grösseren Preisstabilität, bilden den Kern der Agrar-Wirtschaftspolitik. d. Durch die Instandhaltung der Exportbeziehungen mit Nicht-Teilnehmerstaaten, wird man imstande sein, wesentlich zu der Befestigung der sosehr geschätzten Bande zwischen der Gemeinschaft und dem Vereinigten Königreich beizutragen. e. Die Beteiligung an der Landwirtschaftsgemeinschaft würde zu einer starken Vorzugsstellung führen in einem dichtbevölkerten Absatzgebiet, wie Westeuropa ist, für verhältnismässig schwache Exportprodukte, ohne den Kontakt mit wichtigen Märkten ausserhalb von Westeuropa zu verlieren. Besonders zu Zeiten einer wirtschaftlichen Depression, Währungsschwierigkeiten, u.s.w. würde eine einseitige Abhängigkeit von einem oder nur einigen Märkten sehr ernstliche Folgen haben. 3. Die Technik der Agrar-Wirtschaftspolitik a. Das gemeinschaftliche Organ setzt Mindestpreise an für den intereuropäischen Handelsverkehr für alle Erzeugnisse, die für den europäischen Markt von wesentlicher Bedeutung sind; die Mindestpreise müssen auf die Preise in den Ländern mit den niedrigsten Produktionskosten gegründet sein. b. Dieses Organ bestimmt ein allgemein zulässiges Maximum an Nationalschutz auf Grund der Mindestpreise pro Produkt oder Produktgruppe, und periodisch ebenfalls ein Minimum für die Verringerung dieses Schutzes. c. Wenn im europäischen Handelsverkehr die Preise eines oder mehrerer Produkte das Minimum erreichen würden und die Ausfuhr nach den Nicht-Teilnehmerstaaten zu lohnenden Preisen ebenfalls unmöglich sein würde, würden, auf Rechnung der Gemeinschaft, Massnahmen für Einlagerung, Bearbeitung oder Konservierung getroffen werden müssen. d. Wenn der Mindestpreis erreicht wird, wird das gemeinschaftliche zu a genannte Organ die Umstände angeben, unter denen die besagten Massnahmen durchgeführt werden müssen. e. Der Schutz dritten Ländern gegenüber kommt praktisch dem Maximalschutz gleich, der in dem Handel zwischen den Teilnehmerstaaten erlaubt ist. Ein geringer zusätzlicher Kollektivschutz dritten Ländern gegenüber ist aber erforderlich, um eine Vorzugslage für die Mitglieder zu schaffen. f. Wenn aber Einfuhr aus dritten Ländern stattfinden kann zu Preisen, welche niedriger sind als die zu a genannten Mindestpreise, ist ein zusätzlicher Schutz dritten Ländern gegenüber erforderlich zur Stabilisierung des Preisniveaus auf dem europäischen Markt. g. Falls die Preise im integrierten Gebiet stark anziehen, kann die Ausfuhr einer Anzahl der hauptsächlichsten Konsumartikel eingeschränkt, oder zeitweilig stillgelegt werden. h. Auf die finanziellen Folgen des zwischen den Teilnehmern in der Uebergangszeit zugelassenen Nationalschutzes, sowie des Schutzes dritten Ländern gegenüber, muss die Gemeinschaft eine gewisse Aufsicht ausüben. Ein Teil der Gelder muss für die Durchführung der zu c und d aufgeführten Massnahmen, und, wenn möglich, mit oder ohne Ergänzung aus andren Quellen, für die agrartechnische Entwicklung bestimmt werden. Haag, 18/6’53

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EUROVISION. EUROPÄISCHER FERNSEHPROGRAMMAUSTAUSCH IN SEINEN ANFANGSJAHREN 1 Christian Henrich-Franke Der Bericht des Spiegel über das „Europa-Programm“ erschien am 2. Juni 1954 unmittelbar vor dem Auftakt zu der Summer Season of European Television Programme Exchanges, welche den Startschuss für den (west-) europäischen Austausch von Fernsehprogrammen über das Sendenetz der Eurovision gab. Wie viele andere Presseberichte auch äußerte sich der Spiegel kritisch hinsichtlich des europäischen Fernsehprogrammaustauschs. 2 Der Bericht spiegelt die Skepsis wider, die dem neuen Medium Fernsehen generell und in besonderem Maße dem internationalen Austausch im Rahmen der Eurovision entgegengebracht wurde. Gleichzeitig wird in ihm eine Reihe von rechtlichen, programmatischen und wirtschaftlichen Aspekten angesprochen, die die Eurovision in ihrer Entwicklung entscheidend prägen sollten. 3 Der Eurovision lag die Idee zugrunde, den europäischen Kontinent mit einem Netz aus technischen Sende- und Empfangsstationen zu überziehen, welches alle europäischen Fernsehanstalten mit Programm versorgen sollte. Jedes Mitglied der Eurovision sollte frei sein, seine besten (nationalen) Produktionen in das Eurovisionsangebot einzuspeisen und gleichzeitig die jeweils für sich selber attraktivsten Beiträge aus dem europäischen Angebot entnehmen zu dürfen. Die Auftaktsendung der Summer Season of European Television Programme Exchanges bestand in einem knapp einstündigen Report über das Narzissenfest in Montreux. Den Höhepunkt stellten dann die Übertragungen der Spiele der Fußball Weltmeisterschaft von 1954 in der Schweiz dar. Erstmals konnten die nationalen Teams in ihrem Wettstreit um die Krone des Fußballs nicht nur von einem kleinen Kreis der Zuschauer in den jeweiligen Stadien mit eigenen Augen verfolgt werden, sondern von einer großen Zuschauerschaft in allen Teilnehmerländern der Eurovision. Die

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Essay zur Quelle: EUROPA-PROGRAMM: Vogelzwitschern aus Versailles (1954). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . EUROPA-PROGRAMM: Vogelzwitschern aus Versailles (1954), in: Der Spiegel (1954), H. 23, S. 37–38, URL: (16.11.2015). Die folgenden Quellenzitate stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Fickers, Andreas, Eventing Europe. Europäische Fernseh- und Mediengeschichte als Zeitgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 391–416.

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Eurovision transportierte die Spiele quer durch Europa und machte die Fußball Weltmeisterschaft zu einem transnationalen europäischen Event. Schon im Jahr zuvor hatten sich sechs europäische Fernsehanstalten zusammengeschlossen, um im Testbetrieb ein erstes transnationales Netz aus Übertragungsantennen zu errichten, welches dafür sorgen sollte, dass ein und dasselbe Fernsehprogramm gleichzeitig in allen beteiligten Ländern empfangen werden konnte. Die Krönung Queen Elisabeths II. am 2. Juni 1953 hatte sich dabei als erstes transnationales Event des neuen Mediums Fernsehen erwiesen und den Verkauf von Fernsehgeräten und -Lizenzen in ganz Europa enorm angekurbelt. Die Summer Season of European Television Programme Exchanges wurde unter der Ägide der Europäischen Rundfunkunion durchgeführt, innerhalb derer sich die westeuropäischen Rundfunk- und Fernsehanstalten zusammengeschlossen hatten. Allerdings war man innerhalb der Europäischen Rundfunkunion der Zusammenarbeit in Programmfragen gegenüber eher skeptisch eingestellt. Freilich hatte man schon in der Zwischenkriegszeit praktische Erfahrungen mit gemeinsamen Programmübertragungen im Radio – den so genannten Europäischen Konzerten – gesammelt, 4 doch war die Europäische Rundfunkunion in den frühen 1950er-Jahren in erster Linie ein Zusammenschluss aus Juristen und Technikern. Eine administrative Einheit für Programmproduktion und -distribution war nicht einmal vorhanden. Im Gegensatz zur eher negativen Erwartung der Autoren des Spiegel-Artikels, die zwischen den Zeilen klar erkennen lassen, dass sie eher „ein Programm von […] Dürftigkeit“ befürchteten, erwies sich die Summer Season of European Television Programme Exchanges als ein Riesenerfolg für die Verantwortlichen der Europäischen Rundfunkunion. Sogar der Verwaltungsrat der Union, der die Skepsis der Spiegel-Autoren hinsichtlich der Möglichkeiten eines internationalen Austauschs von Fernsehprogrammen geteilt hatte, zeigte sich nun gewillt, die Eurovision zu einer festen Größe im Rahmen der Aktivitäten der Europäischen Rundfunkunion auszubauen. Nichtsdestotrotz betrachtete man die Eurovision vornehmlich als ein pragmatisches Instrument, welches den Mitgliedsorganisationen dabei helfen sollte, ausreichend und kostengünstig Sendungen für das nationale Fernsehprogramm zu erhalten. Die Europäische Rundfunkunion errichtete die Eurovision mit zwei Intentionen: Sie sollte den Austausch von nationalen Fernsehprogrammen koordinieren sowie Koproduktionen zwischen den Mitgliedern der Europäischen Rundfunkunion initiieren und fördern. Eigene Produktionen gestanden die europäischen Fernsehanstalten der Europäischen Rundfunkunion jedoch nicht zu. Diese sollte auf die Rolle eines technisch-administrativen Assistenten begrenzt bleiben, ohne in Eigenverantwortung „Europäisches Programm“ zu produzieren. Letzteres konnte folglich nur die Folge von Koproduktionen zwischen den Rundfunkanstalten Europas sein. Der Austausch von Fernsehprogrammen über die Eurovision baute von Beginn an auf den Prinzipien der Solidarität und Gleichheit der europäischen Fern4

Lommers, Suzanne, Europe on Air, Amsterdam 2012.

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sehanstalten auf. Die Fernsehsendungen sollten möglichst kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Größe und finanzielle Ausstattung der europäischen Fernsehanstalten waren insofern entscheidende Faktoren, als finanzstarke Organisationen wie die britische BBC aus Prestigegründen ihre besten Produktionen den europäischen Partnern kostenfrei zur Verfügung stellen sollten. Lediglich die Kosten für die technische Übertragung und eventuelle Rechtezahlungen an Dritte (Künstlerverbände, Sportverbände etc.) mussten getragen werden. Der schwedische Fernsehpionier, Henrik Hahr, vermerkte hierzu, dass die Eurovision auf der „Generosität“ der großen, finanzstarken Rundfunkanstalten in Europa aufbaute. 5 Im Jahr 1954 konnte freilich niemand die Relevanz und gesellschaftliche Bedeutung abschätzen, welche die Eurovision bis heute für die internationale Fernsehzusammenarbeit entwickeln würde. Noch zwei Jahre später zeigten sich viele Mitgliedsorganisationen der europäischen Rundfunkunion davon überzeugt, dass die Eurovision nur eine vorübergehende administrative Einrichtung sei, bevor die europäischen Fernsehanstalten die Übertragung der Fernsehprogramme in eigener Regie übernehmen würden. Auch die Befürchtung des Spiegel, die Eurovision würde in finanzieller Hinsicht „das deutsche Fernsehen so […] belasten“, dass es von „Konserven“ leben müsse, erwiesen sich als gänzlich falsch. Ausgehend von dem Artikel des Spiegel im unmittelbaren Vorfeld der Summer Season of European Television Programme Exchanges sollen in diesem Essay die Visionen und Ziele beleuchtet werden, die mit der Errichtung der Eurovision verbunden waren, um diese dann an der tatsächlichen Entwicklung des Programmaustauschs zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren zu spiegeln. Schaffte es die Eurovision, wie der Spiegel schreibt, „Europa auf dem Bildschirm Wirklichkeit werden zu lassen“ und die Völker Europas friedlich vor dem Fernsehschirm zu vereinen, um so einen Beitrag zur Herausbildung einer transnationalen europäischen Gemeinschaft zu leisten? Entgegen der potentiell völkerverständigenden Wirkung der Eurovision sah die Realität des internationalen europäischen Rundfunks in vielerlei Hinsicht weniger friedlich aus. Im Gegenteil, der Äther präsentierte sich als ein Schlachtfeld um Meinungsführerschaft, Programmprinzipien und Weltanschauungen. Nicht nur zwischen Ost- und Westeuropa sondern auch innerhalb Westeuropas prägten Konflikte das Bild des Rundfunks in Europa. Den breitesten Graben riss die Propagandaschlacht über den Eisernen Vorhang zwischen den Hörfunkanbietern. Sender wie Radio Free Europe, Radio Liberty, Radio Moskau, BBC World Service, der Deutschlandsender und der Deutschlandfunk lieferten sich hier einen erbitterten Schlagabtausch. 6 Der Konflikt zwischen Ost und West riss auch in institutioneller Hinsicht einen breiten Graben quer durch Europa. So war die im Februar 1950 von 23 (west-) europäischen Rundfunkanstalten gegründete Europäische Rundfunkunion selber das Pro5 6

Hahr, Henrik, Televisionens och Radions internationella samarbete (unveröffentlichtes Maniskript, 1983), Archives of Sveriges Radio, Stockholm. Johnson, Ross, Cold War Broadcasting. Impact on the Soviet Union and Eastern Europe, Budapest 2010.

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dukt eines zähen Ringens um die Art und Weise der innereuropäischen Zusammenarbeit, die in einer Spaltung entlang des Eisernen Vorhangs mündete. In Osteuropa regelte die Organisation Internationale de Radiodiffusion die grenzübergreifende Zusammenarbeit. An eine Form der Zusammenarbeit zwischen beiden Organisationen war in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre nicht zu denken. Vielmehr lehnten die Staaten des Ostblocks zunächst jegliche Zusammenarbeit mit der Europäischen Rundfunkunion ab und klagten deren Mitglieder wegen antisozialistischer Propaganda an. Doch auch innerhalb Westeuropas spalteten kleinere Gräben den europäischen Rundfunkraum. An der Spitze stand Radio Luxemburg, das mit seinem werbefinanzierten Populärprogramm, welches extra für ein ausländisches Publikum konzipiert war, den Unmut der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender auf sich zog. 7 Letztlich trennten auch technische Gräben die Staaten Westeuropas, denn die technischen Standards der Fernsehgeräte wichen voneinander ab und erschwerten so den gegenseitigen Empfang. Diese Art Gräben konnte die Europäische Rundfunkunion derweil nach und nach überwinden. Hinter der Idee der Eurovision versteckte sich eine Reihe von Visionen und Zielen, die nicht immer scharf voneinander zu trennen waren. Dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Idee der Völkerverständigung in den Hinterköpfen der Funktionäre und Akteure der Europäischen Rundfunkunion eine Rolle spielte, versteht sich dabei von selbst. Noch bevor der Generaldirektor des Schweizer Fernsehens, Marcel Bezençon, die Idee des internationalen Fernsehprogrammaustausch innerhalb der Europäischen Rundfunkunion lancierte, hatte er bereits im Jahr 1947 der UNESCO ein Memorandum zukommen lassen, in dem ebenfalls ein internationaler Austausch von Programmen vorgeschlagen wurde, seinerzeit noch mit Blick auf das Radio. Interessanterweise prägte diesen Vorschlag aber noch eine kulturelle Argumentation und unterstrich nachdrücklich die völkerverbindende Wirkung des kulturellen Austauschs. Bemerkenswerterweise griff der Spiegel-Artikel diesen Aspekt nicht auf. Der Fernsehprogrammaustausch wurde innerhalb der Europäischen Rundfunkunion zunächst mit ökonomischen Motiven propagiert: Nicht die „Wirklichkeitswerdung Europas“ sondern pragmatische Gründe wurden genannt. Der Austausch von Fernsehprogrammen zwischen den Mitgliedsorganisationen sollte die Kosten des Fernsehprogramms insgesamt reduzieren und den europäischen Fernsehanstalten dabei helfen, attraktive Vollprogramme aufzubauen. Diese wiederum waren notwendige Voraussetzungen, um den Absatz von Fernsehgeräten und lizenzen anzukurbeln und damit dem neuen Medium zum Durchbruch zu verhelfen. Schon im Jahr 1949, also bereits vier Jahre bevor das Schweizer Fernsehen überhaupt einen regelmäßigen Fernsehbetrieb startete, setzte sich die Erkenntnis durch, dass ein regelmäßiger Fernsehbetrieb aufgrund der hohen Eigenproduktionskosten ganz maßgeblich vom (kostengünstigen) Import ausländischen Programms abhängen würde. Die Schweizer Fernsehpioniere antizipierten ein Di7

Spohrer, Jennifer, ‘Ruling the Airwaves: Radio Luxembourg and the Origins of European National Broadcasting, 1929–1950’, Columbia 2008.

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lemma: Die kleineren Fernsehanstalten in Europa würden auf absehbare Zukunft kaum die finanziellen Mittel zur Verfügung haben, um ein umfangreiches und attraktives Fernsehprogramm zu senden. Schon im Mai 1950 brachte Bezençon deshalb die Idee eines Fernsehprogrammaustauschs zwischen den Mitgliedern der Europäischen Rundfunkunion ins Gespräch. Er dachte dabei an eine Art Marktplatz für Filme, Programmaufzeichnungen und Livesendungen. Das Fernsehen steckte in den frühen 1950er-Jahren noch in seinen technischen Kinderschuhen und so waren Fernsehprogramme zumeist Direktsendungen, die nicht auf Band oder Film aufgezeichnet wurden. 8 Sie konnten folglich nur zwischen europäischen Fernsehanstalten getauscht werden, wenn sie direkt in alle Staaten übertragen wurden. Allerdings spielten technische Visionen eine entscheidende Rolle. Für die Fernsehtechniker der Europäischen Rundfunkunion stellte die Errichtung eines europaweiten Sende- und Empfangsnetzes für Fernsehprogramme eine technologische Herausforderung dar. Insbesondere die Überbrückung des Ärmelkanals faszinierte die Fernsehtechniker. Sogar der ansonsten skeptische Spiegel-Artikel hob die Realisierung der technischen Vision positiv hervor und lobte das Netz als ein „Optimum […], das Europas sehr verschiedenartig organisierte Fernsehländer“ aus dem Boden stampfen konnten. In den technikeuphorischen 1950er-Jahren wurde der technische Erfolg der Eurovision selbstverständlich nicht hinterfragt. Politische oder kulturelle Visionen äußerte man innerhalb der Europäischen Rundfunkunion derweil nicht. Im Gegenteil, der britische Präsident der Europäischen Rundfunkunion, Sir Ian Jacobs, wurde nicht Müde darin zu betonen, dass die Eurovision eine „solely functionalistic institution“ sein sollte. Unter keinen Umständen wollte er die Eurovision als „a political or propagandistic organization“ verstanden wissen. 9 Freilich blieben in den frühen 1950er-Jahren, in denen die europäische Idee weiterhin aktuell war und der Ausbau der europäischen Institutionen trotz des Rückschlags mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft weiter vorangetrieben wurde, auch die Stimme der Europaenthusiasten nicht stumm. So schwärmte der deutsche Fernsehpionier, Heinz von Plato, bereits 1954 von der Eurovision als „a television with the lovely task to open the view across borders and to make each country’s audience participate in other countries happenings.“ 10 Sogar die notorisch europakritische britische Presse hegte hohe Erwartungen. Als der britische Journalist Peter Black jedoch 1959 in der Daily Mail die Äußerung tätigte,

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Fickers, Andreas; Lommers, Suzanne, Eventing Europe. Broadcasting and the Mediated Performances of Europe, in: Badenoch, Alec; Fickers, Andreas (Hgg.), Europe Materializing. Transnational Infrastructures and the Project of Europe, London, Palgrave 2011, S. 225–251. 9 Jacob, Ian, Message from the President of the Union on the Fifth Anniversary of Eurovision, in: EBU-Review 56 (1959), S.1. 10 Plato, Heinz von, Eurovision – Idee und Wirklichkeit, in: Rundfunk und Fernsehen 2 (1954), S. 335.

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Christian Henrich-Franke „the original and enduring dream of Eurovision was a flexible link between the countries, which would establish and feed the idea in the minds of the European tribes that we are one people“,

konnte er freilich nicht auf die ursprünglichen Absichten der Offiziellen der Europäischen Rundfunkunion rekurrieren. 11 Umso überraschender ist es, dass die Europäische Rundfunkunion die Eurovision allmählich als ein Werkzeug für die Schaffung Europas und einer europäischen Identität entdeckte. Im Nachhinein wurden in die Gründung der Eurovision immer öfter völkerverständigende Visionen hineingedeutet. Sogar Marcel Bezençon, der noch 1950 die ökonomischen Vorteile des Fernsehprogrammaustauschs herausgestellt hatte, schwelgte förmlich im kulturellen Sendungsauftrag der Eurovision. So schrieb er in einem Artikel in der EBU Zeitschrift anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Eurovision, dass „Eurovision must not be just a toy, but an instrument as well. An instrument to be used for what purpose? To build Europe, for example!“ 12 In ebenso verklärender Weise drückte sich im Jahr 1979 der Initiator des Eurovisions-Nachrichtenaustauschs, Jan Willem Rengeling, aus, der die Errichtung der Eurovision auf den allgemeinen Willen zurückführte, „which existed shortly after the end of the war to arrive at a better and more peaceful forms of society.“ 13 Freilich entsprachen solche Interpretationen kaum den tatsächlichen Intentionen, die ursprünglich innerhalb der Europäischen Rundfunkunion mit der Eurovision verknüpft gewesen waren. Das „Fenster zur Welt“ wurde anfangs weniger als Instrument zur Schaffung einer Europäischen Identität als vielmehr zur Schaffung nationaler Identitäten gesehen und so verwundert es kaum, wenn Andreas Fickers im Fernsehen eine „konservative Revolution“ vermutet, die den Fokus des Leitmediums weg von der Internationalität des Radios wieder stärker auf nationale Zusammenhänge im Fernsehen verlagerte. Programme ausländischen Ursprungs wurden oftmals nur als Notlösung betrachtet, um dort die Programmschemata zu füllen, wo es die nationalen Ressourcen nicht erlaubten. Schon kurz nach ihrer Errichtung erwies sich die Eurovision als eine feste Größe der nationalen Fernsehprogramme quer durch Europa. Die Mitgliedsorganisationen der Europäischen Rundfunkunion speisten entsprechend ihrer Möglichkeiten und Größe Beiträge in das Netzwerk ein. Nur zwei Jahre nach der Summer Season of European Television Programme Exchanges von 1956 wurde in Brüssel eigens ein Koordinationszentrum installiert, um die Eurovisionsübertragungen technisch und administrativ koordinieren zu können. Insbesondere in den Staaten mit den eher finanzschwachen Fernsehanstalten sollte sich – ganz im Sinne der ursprünglichen Intention Bezençons – die Eurovision als Stützpfeiler des Programmangebots erweisen, der maßgeblich dazu beitrug, ein nationales 11 Daily Mail, 31.07.1959. 12 Sherman, Charles, The Eurovision News Exchange, in: Journalism Quarterly 3 (1974), S. 478–485. 13 Rengelink, Jan Willem, Origin and Development of News Exchange, in: EBU-Review 29 (1979), S. 26.

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Vollprogramm zu etablieren. In Schweden beispielsweise machten die Eurovisionsübertragungen 12,3 Prozent des gesamten wöchentlichen Programmangebotes aus. Bis Ende der 1970er-Jahre pendelte sich dies bei einem Anteil von etwa 10 Prozent ein, wobei Spitzenwerte in Jahren mit Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften erzielt wurden. In den größeren Ländern wie etwa Deutschland konnte eine ähnliche Tendenz festgestellt werden, wenngleich hier der Anteil der Eurovision am Gesamtprogramm geringer ausfiel. Insgesamt leistete die Eurovision einen wichtigen Beitrag für den Auf- und Ausbau des Fernsehens in Europa. Nimmt man die einzelnen Programmsparten in den Blick, dann fällt auf, dass die Eurovision sehr bald von Sport- und Nachrichtenprogrammen dominiert wurde, wie es der Spiegel-Bericht mit seinen kritischen Äußerungen zum Potential europäischer Programmangebote schon 1954 erahnen ließ. Diese Entwicklung wurde auch durch technische Innovationen bedingt, weil die technische Weiterentwicklung von Filmbändern es zu Beginn der 1960er-Jahre finanziell attraktiv gemacht hatte, andere Programme zunehmend auf kommerziellen Märkten zwischen zwei Fernsehstationen zu tauschen oder zu handeln. 14 Bei Filmbändern konnte die produzierende Fernsehanstalt immerhin noch einen Preis erzielen, nachdem die Kosten der Rechte und der Administration enorm gestiegen waren. Sobald Programme außerhalb des Ursprungslandes verwertet werden sollten, waren nämlich die Rechts- und Finanzansprüche von Autoren, Künstlern oder Musikverlagen betroffen. Diese hatten den Eurovisionsaustausch von Beginn an erschwert und schon im Testbetrieb der Summer Season of European Television Programme Exchanges dafür gesorgt, dass eine Vielzahl von Programmen wie die im Spiegel erwähnte dänische Produktion aus dem unentgeltlichen Eurovisionsaustausch verschwanden. Mit Beginn der Fußball Weltmeisterschaften im Jahr 1954 versorgte die Eurovision das Europäische Publikum mit allen größeren Sportveranstaltungen. Der Sport machte durchschnittlich 70 Prozent der gesamten Eurovisionsübertragungen aus. Der Spiegel behielt in dieser Hinsicht also Recht, wenn er die Fußball-WM von 1954 als eine „einzigartige Programm-Attraktion“ bezeichnete, welche die vorherige Schlappe des intereuropäischen Programmaustauschs wieder ausbügeln könne. Im Jahr 1958 kam der Austausch von Nachrichtenprogrammen als spezieller Dienst im Rahmen des Eurovisionsangebotes hinzu. Hierbei wurden Nachrichtenbilder und -filme zentral gesammelt und dann an alle Mitglieder der Europäischen Rundfunkunion mittels des Eurovisions-Netzes übermittelt. Neben den Kostengründen hatten Nachrichten und Sport den Vorteil, dass bei ihnen Bild und Ton leicht zu entkoppeln waren. Es wurde – wie es im Fachjargon heißt – Footage getauscht. Ein neuer Ton, beispielsweise ein nationaler Kommentar, konnte so recht einfach und kostengünstig auf das Eurovisionsbild aufgespielt werden. Die transnational geschauten Programme ließen sich auf diese Weise recht einfach mit 14 Henrich-Franke, Christian, Creating Transnationality Through an International Organization? The European Broadcasting Union’s (EBU) Television Programme Activities, in: Media History 1 (2010), S.67–81.

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einer nationalen Bedeutung versehen. Jede Mitgliedsorganisation der Europäischen Rundfunkunion versah die Sport- und Nachrichtenbilder einfach mit einem nationalen Kommentar und adaptierte sie so für die nationalen Codes und Symbole. Die Bilder erhielten ein nationales Framing, wurden im nationalen Kontext gesendet und mit einer nationalen Stimme versehen. Doch nicht nur die Rechte bremsten ein vielfältiges Programmangebot aus. Auch die Frage, was überhaupt ein Fernsehprogramm für europäische Zuschauer ausmachte, stellte die Fernsehmacher in ganz Europa vor große Definitionsprobleme. Dies zeigte sich besonders deutlich bei den in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre gestarteten Bemühungen, die Eurovision als ein Instrument zu nutzen, um Koproduktionen mit einer europäischen Anziehungskraft anzuregen. Da sich auch die Stimmen mehrten, die Eurovision als Katalysator eines europäischen Bewusstseins gezielt einzusetzen, wurden verschiedene Projekte in Angriff genommen. Nichtsdestotrotz, sollte die Europäische Rundfunkunion in der Folgezeit wiederholt daran scheitern, erfolgreiche Koproduktionen oder Gemeinschaftsprogramme zu initiieren. Obgleich eine ganze Palette unterschiedlicher Programme und Formate produziert und gesendet wurden, schaffte es keines von ihnen, das Publikum zufrieden zu stellen. Eine Reihe von Gründen lässt sich hier anführen: Unterschiede in den Punkten Mentalität, Humor, Interesse und Sprache – um nur einige zu nennen – ließen das Publikum quer durch Europa dieses „Europäische Programm“ unterschiedlich bewerten. Es gelang der Eurovision nicht, Europa in kultureller Vielfalt vor dem Fernseher zu vereinen. Überdies zeigten sich die Offiziellen der Europäischen Rundfunkunion – allen voran der Vorsitzende des Programmkomitees, Marcel Bezençon – nicht gewillt, sich am Geschmack der Zuschauer zu orientieren. Ihrer Ansicht nach sollte das Programm der Eurovision von hohem kulturellen Wert sein: zumindest in der Form, wie sie es verstanden. Leichte Unterhaltung, die sich schon zu Radiozeiten als Lieblingsprogramm des Zuschauers erwiesen hatte, erfüllte freilich nicht ihre Kriterien des hohen kulturellen Wertes. Eine Reihe von Rückschlägen verschob in den 1960er-Jahren allmählich die Prioritäten. Von pan-europäischen Gemeinschaftsproduktionen verlagerte man den Fokus immer stärker auf bilaterale Produktionen. Nur einige wenige Produktionen überlebten, die prominenteste ist sicherlich der Eurovision Song Contest. Ob dieser jedoch eine völkerverbindende Unterhaltungssendung ist oder eher den Charakter eines Wettstreits der Länder Europas aufweist, soll an dieser Stelle offen gelassen werden. 15 Die Eurovision blieb in ihrem Wirkungskreis nicht auf Westeuropa beschränkt. Inspiriert von ihrer Idee etablierten die osteuropäischen Fernsehanstalten zu Beginn der 1960er-Jahre ein vergleichbares Sendernetz, welches den Austausch von Fernsehprogrammen untereinander ermöglichte. Da sich im Sozialismus auch keine Ansprüche von Künstlerverbänden dem Austausch in den Weg stellten, konnte eine wesentlich breitere Palette von Programmsparten ausgetauscht werden. Bemerkenswerterweise wurden Euro- und Intervision bereits 15 Raykoff, Ivan; Tobin, Robert Deam (Hgg.), A Song for Europe. Popular Music and Politics in the Eurovision Song Contest, Ashgate 2007.

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1960 technisch miteinander verbunden, sodass ein Austausch von Fernsehprogrammen über den Eisernen Vorhang bereits in den frühen 1960er-Jahren Realität wurde. Der Blick über den Eisernen Vorhang war technisch grundsätzlich möglich geworden. Der Programmfluss sollte sich aber im Folgenden als eine klare Einbahnstraße von West- nach Osteuropa erweisen, auf der in erster Linie Nachrichten- und Sportprogramme ausgetauscht wurden. 16 Historiker haben sich oft darüber beklagt, dass es der Eurovision nicht gelungen sei, Europa auf dem Bildschirm Wirklichkeit werden zu lassen. 17 Eine Europäische Identität oder transnationale Normen und Werte schuf die Eurovision ihrer Meinung nach allenfalls in sehr begrenztem Umfang. Ob die Eurovision einen Baustein für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit lieferte, soll an dieser Stelle offen gelassen werden. Jerome Bourdon – einer der intimsten Kenner der Szene – hat jedenfalls den „unhappy engineers of the European soul“ der Europäischen Rundfunkunion gar vorgeworfen, sie hätten in dieser Hinsicht komplett versagt, weil sie ihre Bemühungen auf der falschen, deterministischen Annahme aufgebaut hätten, dass das Fernsehen ein Medium mit dem Potential sei, kollektive Identitäten zu gestalten. Auffallend an diesen – und ähnlichen Bewertungen der historischen Forschung – ist jedoch die Fehleinschätzung hinsichtlich der ursprünglichen Intentionen der Eurovision. Die Übertragung von Programmen mit der innewohnenden Kraft die Völker Europa zu befrieden und sie in einer Europäischen Gesellschaft zusammenzuschweißen, war anfangs kaum intendiert. Wirft man den Blick zurück auf den ersten Vorschlag Bezençons, so findet sich dort nicht mehr – aber auch nicht weniger – als die Absicht, Produktionskosten zu senken, um den Mitgliedern der europäischen Rundfunkunion beim Aufbau nationaler Vollprogramme behilflich zu sein. Dies war angestrebt und es ist zumindest in einigen Programmsparten erreicht worden. Ohnehin erschien es – und erscheint es bis heute – kaum möglich, ein Fernsehprogramm zu entwerfen, welches ein pan-europäisches Publikum anspricht. Produktionen mit einer gesamteuropäischen Attraktivität konnte die Eurovision jedenfalls kaum innerhalb Europas verbreiten. Bemerkenswerterweise spiegelt sich die Entwicklung der Eurovision schon im Spiegel-Bericht von 1954 wieder. So legte der Bericht den Finger in die zentralen Wunden, welche die Eurovision letztlich auf einen Lieferanten von Sport- und Nachrichtensendungen beschränken sollten: die rechtlichen Probleme des internationalen Austauschs und der fehlende Konsens über gutes Fernsehprogramm zwischen den Fernsehnationen Europas. Unabhängig davon, wie man die Eurovision bewertet, stellte sie sich allerdings als eines der friedlichsten Aspekte des Rundfunks auf pan-europäischer 16 Henrich-Franke, Christian; Immel, Regina, Making Holes Into the Iron Curtain? Television Programme Exchange Across the Iron Curtain, in: Badenoch, Alexander; Fickers, Andreas; Henrich-Franke, Christian (Hgg.), Airy Curtains in the European Ether: Broadcasting and the Cold War, Baden-Baden 2013, S.183–219. 17 Bourdon, Jérôme, Unhappy Engineers of the European Soul. The EBU and the Woes of PanEuropean Television, in: The International Communication Gazette 69 (2007), S. 263–280; Degenhardt, Wolfgang; Strautz, Elisabeth, Auf der Suche nach dem europäischen Programm. Die Eurovision 1954–1970, Baden-Baden 1999.

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Ebene heraus. Um die Eurovision zu charakterisieren, lässt sich der Journalist, Charles Sherman, zitieren, der 1974 in einem Artikel in Journalism Quarterly über die Eurovision sagte, sie sei „an outstanding example of international pragmatism and cooperation. It illustrates how professional needs and interests can readily unite diverse cultures and personalities in joint ac18 tion.”

Was die Eurovision beim Zuschauer erzeugte, war wohl eher ein Bewusstsein für Europa denn ein europäisches Bewusstsein oder eine europäische Identität. Literaturhinweise Bourdon, Jérôme, Unhappy Engineers of the European Soul. The EBU and the Woes of Pan-European Television, in: The International Communication Gazette 69 (2007), S. 263–280. Degenhardt, Wolfgang; Strautz, Elisabeth, Auf der Suche nach dem europäischen Programm. Die Eurovision 1954–1970, Baden-Baden 1999. Fickers, Andreas, Eventing Europe. Europäische Fernseh- und Mediengeschichte als Zeitgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 391–416. Henrich-Franke, Christian, Creating Transnationality through an International Organization? The European Broadcasting Union’s (EBU) Television Programme Activities, in: Media History 1 (2010), S.67–81. Zeller, Rüdiger, Die EBU Union Européenne de Radio Télévision (UER) European Broadcasting Union (EBU). Internationale Rundfunkkooperation im Wandel, Baden-Baden 1999.

Quelle EUROPA-PROGRAMM: Vogelzwitschern aus Versailles (1954) 19 Die Verbilligung des teuren Fernsehprogramms (in Deutschland rund 250 Mark pro Minute) durch einen europäischen Programmaustausch ist der Lieblingsplan einiger deutscher und ausländischer Intendanten. Die Engländer erprobten die Idee schon 1952, als sie aus Paris Übertragungen von den Festlichkeiten des Nationalfeiertags (14. Juli) brachten. Da die Techniker mittlerweile auch das Problem der Zeilenumsetzung[*], das zunächst wie eine unüberwindliche Mauer vor dem internationalen Austausch stand, gelöst hatten, wurden rasch weitere Pläne entwickelt. Die englische Krönung, die außer in England auch in Frankreich, Holland und Deutschland zu sehen war, wurde zum Fernseh-Höhepunkt des vergangenen Sommers und ließ die Zahl der in Betrieb befindlichen Empfänger überall stei-

18 Sherman, Charles, The Eurovision News Exchange, in: Journalism Quarterly 3 (1974), S. 478–485. 19 EUROPA-PROGRAMM: Vogelzwitschern aus Versailles (1954), in: Der Spiegel (1954), H. 23, S. 37–38, URL: (16.11.2015). Transkription durch Christian Henrich-Franke. Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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gen. Das, erklärte Lord George Barnes, der Direktor des BBC-Fernsehens, „gab den Ansporn zu neuen, noch weiter ausgebauten internationalen Sendungen“. Seit Juli vergangenen Jahres brüten Europas Fernseh-Leute nun über einem Plan für den „ersten großen intereuropäischen Fernseh-Programmaustausch“. Vom Pfingstsonntag (6. Juni) bis zum 4. Juli sollen nun 45 Fernsehsender in acht Staaten Europas durch rund 80 Relais-Stationen miteinander verbunden sein und Übertragungen aus England, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Italien, der Schweiz und der Bundesrepublik zur gleichen Zeit für die rund 3,5 Millionen Fernseher in diesen Ländern ausstrahlen. Um aber auch schon in den elf Monaten vom Juli 1953 bis Juni 1954 den Europa-Gedanken im Fernsehen zu pflegen, hatte der NWDR-Programmchef ein „Europa-Magazin“ angeregt. Es sollte an einem bestimmten Tag von allen Fernsehländern Europas zur gleichen Stunde gesendet werden und Filmvorträge aller fernsehaktiven europäischen Nationen enthalten. Doch schon in der zweiten Folge schieden zwei der beteiligten Länder aus, und nach der dritten Sendung erklärten die Fernseh-Leute von der BBC resigniert, ein Programm von solcher Dürftigkeit könnten sie ihren Zuschauern nicht anbieten. Der große intereuropäische Programmaustausch dieses Sommers (Titel: „Eurovision“) wird nun – so hoffen die Fernseh-Europäer – die Schlappe wieder ausbügeln und Europa auf dem Bildschirm Wirklichkeit werden lassen. Im Mittelpunkt der Übertragung steht denn auch eine einzigartige Programm-Attraktion: die Übertragung der Spiele um die Fußballweltmeisterschaft aus der Schweiz. Die restlichen Programmstunden sollen durch Live-Sendungen aus den acht FernsehNationen gefüllt werden. Jedes Land wurde aufgefordert, einen „typischen“ Beitrag zu liefern. Doch selbst auf dem Fernseh-Forum Sandpoort (Holland), wo Fernseh-Journalisten aus acht europäischen Ländern versammelt waren, fand man kaum eine Handvoll Themen, die von internationalem Interesse gewesen wären. Lakonisch beschränkten sich die englischen Journalisten auf die Anregung: „Another coronation“ (Noch eine Krönung). So war es kein Wunder, daß sich schon im ersten Planungsstadium die Vertreter der Bundesrepublik besonders schwer taten bei der Frage, welches deutsche Thema für die anderen sieben Länder ebenso interessant wie politisch unbedenklich wäre. Der Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Sowjet-Union, das einzige „historische“ Datum dieser Zeit, erschien verständlicherweise unangebracht. Weder Sportler noch Politiker taten indessen den Fernseh-Leuten den Gefallen, ein europäisch interessantes Ereignis für den fraglichen Zeitraum anzukündigen. [...] Klar, daß sich Europas Fernseh-Direktoren eher für die Übertragung aus dem Vatikan mit Papst Pius XII. und für das vielseitige Programm der BBC interessierten. Es umfaßt Übertragungen von den Leichtathletikmeisterschaften in Glasgow, von einem Reitturnier in Richmond und einer Marineparade vor der Königin sowie die glanzvolle Standard-Sendung der BBC, „Café Continental“. Gerade diese bunte Sendung aber bereitete der BBC unerwartet Ärger, denn darin treten gewerkschaftlich organisierte Künstler auf. Kaum daß die Pläne der Fernseh-Leute bekanntgeworden waren, tauchten Gewerkschaftsvertreter von einem Dutzend europäischer Länder mit dem Argument auf, der internationale Programmaustausch schaffe eine völlig neue Gagensituation für die mitwirkenden Künstler und Artisten. Der verbreiterte Zuschauerkreis (schätzungsweise 3,5 Millionen europäische Fernsehteilnehmer) erfordere eine 50prozentige Gagenerhöhung.

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Als die Fernseh-Gesellschaften die Forderungen ablehnten, drangen die Gewerkschaften auf Verhandlungen mit der UER[**]. Andernfalls würden sie ihre Mitglieder auffordern, die Mitwirkung an internationalen Fernsehprogrammen einzustellen. Beide Parteien einigten sich schließlich auf einen Kompromiß: Sie wollen den Fall auf der Juni-Tagung des Verwaltungsrates der UER grundsätzlich besprechen. Doch als erstes Opfer des gewerkschaftlichen Ultimatums fiel Dänemarks Programmbeitrag aus. Da die Verhandlungen mit den dänischen Gewerkschaften gescheitert waren, mußte das dänische Fernsehen seine für den 23. Juni geplante Übertragung aus dem Kopenhagener „Tivoli“ absagen. Die Sendung soll durch die Übertragung einer Art Volksfest in den Straßen der dänischen Hauptstadt mit dem Titel „Rendezvous in Kopenhagen“ ersetzt werden. Der Schwerpunkt des dänischen Ersatzprogramms ist eine Vorführung prämiierter Zuchttiere. Rindvieh ist in keiner Gewerkschaft. Die Techniker haben inzwischen von England bis Italien ein Dezimeter-Netz geschaffen, das mit 80 Relais-Stationen, 45 Sendern und weit über 50 000 Sende- und Verstärkerröhren das Optimum darstellt, das Europas sehr verschiedenartig organisierte Fernsehländer aus dem Boden zu stampfen vermögen. [...] Die deutsche Fernseh-Industrie knüpft an den europäischen Programmaustausch konkrete Hoffnungen. Sie erwartet, daß die internationalen Sendungen – besonders die Übertragungen von den Fußballweltmeisterschaftsspielen – das Interesse des Publikums und den Absatz von Fernsehgeräten steigern (letzter Stand in der Bundesrepublik: 24 788 Empfänger in Betrieb). Doch die europäischen Fernseh-Leute, die sich vom Austausch ihrer Programme anfangs eine Verbilligung erhofften, müssen ihre Etats gewaltig strapazieren, um diese einmonatige Kraftanstrengung überhaupt zustande zu bringen. Allein in Deutschland werden die zusätzlichen Leitungskosten ungefähr 100 000 Mark betragen. Die sonstigen Unkosten und Reisen der Sprecher scheinen das deutsche Fernsehen so zu belasten, daß es im Juli und August hauptsächlich von „Konserven“ leben muß. Das Programm wird dann vorwiegend aus (alten) Spielfilmen bestehen. Anmerkungen: [*] Das englische Fernsehen arbeitet mit 405, das französische mit 819 Bildzeilen, während alle anderen europäischen Länder sich für die Norm von 625 Zeilen entschieden. [**] Union Europenne de Radiodiffusion: Nachfolgerin des ehemaligen Weltrundfunkvereins (UIR), der in der Mitte der zwanziger Jahre gegründet wurde und die Rundfunkgesellschaften der europäischen Länder zusammenschloß.

DATEN FÜR DAS „EUROPA DER SECHS“. SOZIALSTATISTIKEN IN DEN EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN DER 1950ER- UND 1960ER-JAHRE 1 Anne Lammers Was für die französischen Arbeiterfamilien in der Eisen- und Stahlindustrie der Wein, ist für die Deutschen der Branntwein. Während die Italiener am liebsten Spaghetti essen und der Luxemburger am meisten Fleisch verzehrt, zieht der Saarländer Kartoffeln vor. Und die Niederländer lieben ihre Milch so sehr, dass sie sie am liebsten direkt aus der Flasche trinken, während sich der Belgier mit reichlich Kaffee durch den Tag bringt. So ließe sich zugespitzt eine grafische Darstellung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1956/57 beschreiben, die als Teil einer umfangreichen Statistik über die Lebensbedingungen von Arbeiterfamilien in der Montanindustrie erschien (Quelle 1). Als 1963/64 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine zweite Studie dieser Art durchgeführt wurde, hatten sich der Erhebungsbereich sowie die Parameter zur Bestimmung des Lebensniveaus verändert. Als am ehesten aussagekräftig für unterschiedliche Lebensstandards wurde nun die materielle Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern angesehen, wobei zwischen landwirtschaftlichen Haushalten und denen von Lohn- und Gehaltsempfängern unterschieden wurde (Quelle 2). Langlebige Konsumgüter konnten den Umfang und die Zusammensetzung der Ernährung als Indikator für das Lebensniveau zwar nicht ersetzen, galten nun jedoch als unbedingt zu berücksichtigende Faktoren, um zu einem genauen Bild unterschiedlicher Lebensstandards zu gelangen. Demnach besaß knapp die Hälfte der deutschen Lohn- und Gehaltsempfänger einen Fernseher, bei deutschen Landwirten war dieses Unterhaltungsmedium in weniger als einem Fünftel aller Haushalte vorzufinden. In Frankreich leisteten sich nur ein Viertel aller landwirtschaftlichen Haushalte einen Kühlschrank, während immerhin mehr als die Hälfte der Haushalte mit Lohn- und Gehaltsempfängern die Vorzüge eines solchen Gerätes genießen konnten. Und während 20 Prozent der italienischen Lohn- und Gehaltsempfänger über eine Waschmaschine verfügten, besaßen nur magere zwei Prozent der italienischen Landwirte diese Haushaltshilfe. Auch in den Benelux-Ländern Belgien, Luxemburg und den Niederlanden lassen sich Beispiele für die abweichende Ausstattung landwirtschaftlicher und nichtlandwirtschaftlicher Haushalte finden. 1

Essay zur Quelle: Die Erfassung des Lebensniveaus in den Europäischen Gemeinschaften (1956/57 und 1963/64). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Entnommen wurden diese Quellen zwei jeweils mehrere hundert Seiten langen Veröffentlichungen, die mit Wirtschaftsrechnungen der Arbeiterfamilien der EGKS 1956/57 2 bzw. Wirtschaftsrechnungen 1963/64. Ergebnisse für die Gemeinschaft 3 betitelt wurden. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (SAEG), das bis 1957 noch statistischer Dienst oder statistische Abteilung genannt wurde, führte diese Erhebungen im Auftrag der Hohen Behörde bzw. der Kommission durch. Ziel war es, mittels Haushaltsbefragungen detaillierte Angaben zum Einkommen, den Ausgaben und dem Verbrauch privater Haushalte zu erhalten. Dadurch war es möglich, den Lebensstandard verschiedener Bevölkerungsteile der EGKS/EWG zwischen den sechs Mitgliedsländern 4 vergleichbar darzustellen. Diese Informationen waren essentiell, sollte doch untersucht werden, wie sich die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes auf die Lebensbedingungen in der Gemeinschaft auswirkte. 5 Erhebungen dieser Art – sogenannte Haushalts- oder Wirtschaftsrechnungen, gelegentlich auch Einkommens- und Verbrauchsstatistiken genannt – waren in vielen europäischen Ländern Mitte des 20. Jahrhunderts keine Seltenheit. Mehrere Länder, darunter Frankreich, Deutschland oder die Niederlande, hatten schon knapp hundert Jahre zuvor begonnen, derartige Zahlen zur Erfassung der Lebensbedingungen bestimmter Bevölkerungsteile zusammenzutragen. 6 Internationale Statistikämter, darunter jene des Völkerbundes bzw. der Vereinten Nationen, beschäftigten sich bereits seit der Zwischenkriegszeit mit Haushaltsrechnungen im länderübergreifenden Vergleich. Die spezifischen Rahmenbedingungen, die im supranationalen Umfeld des SAEG herrschten, prägten die Erhebung über Wirtschaftsrechnungen dennoch in einem solchen Maße, dass sie sich deutlich von nationalen oder internationalen Erhebungen abgrenzten. Studien über Wirtschaftsrechnungen wurden in den darauffolgenden Jahren von der EG/EU nicht noch einmal auf diese Weise erstellt. Im Unterschied zu den hier untersuchten Statistiken handelte es sich bei späteren Erhebungen über Einnahmen, Ausgaben und Verbrauch privater Haushalte im Rahmen der Gemein2

3

4 5 6

Vgl. Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften (SAEG), Die Wirtschaftsrechnungen der Arbeiterfamilien der EGKS 1956/57, in: Statistische Informationen, Serie Sozialstatistik (1960), H. 1, S. 111, online verfügbar im EU-Bookshop, URL: (16.11.2015). Vgl. SAEG, Wirtschaftsrechnungen 1963/64. Ergebnisse für die Gemeinschaft, in: Sonderreihe Sozialstatistik (1967), H. 7, S. 41–42, online verfügbar im EU-Bookshop, URL:

(16.11.2015). Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Italien und die Niederlande (das sogenannte Europa der Sechs). Bis Ende der 1950er-Jahre wurde das Saarland noch separat erfasst. Damit kam die Kommission einer Verpflichtung nach, die sowohl im EGKS-, als auch im EWG-Vertrag festgehalten wurde, vgl. Artikel 117 des EWG-Vertrages und Artikel 46 des EGKS-Vertrages. Vgl. für das deutsche Beispiel: Fischer, Hendrik, Konsum im Kaiserreich. Eine statistischanalytische Untersuchung privater Haushalte im wilhelminischen Deutschland, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beiheft, Bd. 15, Berlin 2011.

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schaft um eine Zusammenstellung nationaler Daten. Wurden in den hier analysierten Fällen noch Definitionen, Erhebungsbereich und -art sowie Klassifikationen direkt vom SAEG vorgegeben, um eine möglichst große Vergleichbarkeit zu erreichen, stellte die nächste Veröffentlichung zu Wirtschaftsrechnungen bezogen auf das Jahr 1979 den Versuch dar, die Zahlen aus nationalen Erhebungen in den einzelnen statistischen Ämtern der Mitgliedsländer im Nachhinein dergestalt aufzubereiten, dass sie sich vergleichen ließen. Wie das SAEG selbstkritisch anmerkte, gelang dies jedoch nur bedingt. 7 Als Grund für diese veränderte Vorgehensweise führte das Amt die Erweiterung der Gemeinschaft um die Mitgliedsländer Großbritannien, Dänemark und der Republik Irland an. Stellte es sich schon als extrem kompliziert heraus, sechs Mitgliedsländer in einer einheitlichen Gemeinschaftserhebung zu erfassen, handelte es sich bei neun Ländern scheinbar um ein nicht mehr zu stemmendes Unterfangen. Auch aus diesem Grund handelt es sich bei diesen zwei frühen Studien um einzigartige Quellen, da gemeinschaftspolitische Ansprüche an eine solche Erhebung bereits in der Planungsphase berücksichtigt werden konnten, und die nationalen Daten eben nicht nur im Nachhinein so aufbereitet wurden, dass sie den Belangen der Gemeinschaftspolitik dienen konnten. Bis heute werden keine Gemeinschaftserhebungen mehr zu diesem speziellen Thema durchgeführt, sondern Eurostat veröffentlicht vielmehr harmonisierte Daten der nationalen Erhebungen über Wirtschaftsrechnungen. Anstatt die Einhaltung bestimmter Standards verpflichtend zu machen, werden lediglich Empfehlungen an die Mitgliedsländer ausgesprochen, die zu mehr Vergleichbarkeit führen sollen. 8 In den sieben Jahren, die zwischen beiden Erhebungen lagen, hatte sich der gemeinschaftspolitische Kontext, in dem die Studien durchgeführt wurden, radikal verändert. Diese Entwicklung trug maßgeblich, aber nicht alleinig, dazu bei, dass sich sowohl der Aufbau der Studien, ihre Zielsetzungen und Präsentationsformen stark voneinander unterschieden. In den 1950er-Jahren, im engeren Rahmen der damaligen EGKS, standen nur die Arbeiter der Montanindustrie – Bergbau, Eisenund Stahlindustrie – im Fokus der Statistiker, während in den 1960er-Jahren, mit der 1957 erfolgten Erweiterung der Gemeinschaft auf alle Industriebereiche, den Dienstleistungssektor und die Atomenergie, die Erhebung über Wirtschaftsrechnungen auf 13 Industriebereiche sowie zusätzlich auf Angestellte und Beamte, Landarbeiter und Landwirte ausgedehnt wurde. Das wesentliche Ziel in den 1950er-Jahren war es, mithilfe dieser Erhebung das Lebensniveau einer spezifi7

8

„Es läßt sich nicht leugnen, daß die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den Beobachtungstechniken zu Ergebnissen führen, die sich nicht unbedingt für Vergleiche eignen, und daß die entsprechenden Auswirkungen nur schwer quantifizierbar sind.“, in: Eurostat, Haushaltsrechnungen. Einige vergleichbare Ergebnisse: BR Deutschland, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich, Luxemburg 1985, S. 5, online verfügbar im EU-Bookshop, URL: (16.11.2015). Vgl. Eurostat, Houshold Budget Surveys in the EU. Methodology and Recommendations for Harmonisation 2003, Luxemburg 2003, online verfügbar im EU-Bookshop, URL:

(16.11.2015).

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schen Arbeitergruppe konkret bestimmen zu können. Es handelte sich dabei um eine echte Pionierleistung, denn noch nie zuvor war es gelungen, eine über mehrere Länder hinweg methodisch einheitliche und vergleichbare Studie über Einkommen und Ausgaben bestimmter Bevölkerungsteile zu erstellen. Anfang der 1960er-Jahre konnte das SAEG bereits von den einige Jahre zuvor gemachten Erfahrungen profitieren und erweiterte die Zielsetzung der Studie gemäß zeitgenössischer Ansprüche um die Nutzbarmachung der Daten für Fragen, die sich aus dem erweiterten politischen Spektrum der EWG ergaben. So sollte eine detaillierte Erfragung vom Nahrungsmittelverbrauch privater Haushalte auch der neu geschaffenen Gemeinsamen Agrarpolitik von 1962 (GAP) dabei helfen, aktuelle und zukünftige Absatzmöglichkeiten hinsichtlich landwirtschaftlich erzeugter Produkte abschätzen zu können. Wirft man einen genaueren Blick auf die beiden hier besprochenen Quellen, so zeigt sich, dass die Aufwendungen der Haushalte für langlebige Konsumgüter in den 1960er-Jahren den Nahrungsmittelverbrauch – konkreter: den Anteil des Einkommens, der für die Deckung existentieller Bedürfnisse genutzt wird – als ein wesentliches Bestimmungsmerkmal für das Lebensniveau eingeholt hatten. Diese Entwicklung lässt sich auf die allgemein gestiegenen Löhne und damit verbundenen größeren finanziellen Spielräume privater Haushalte im Laufe der 1950er- und besonders der 1960er-Jahre zurückführen. Zwar wurden in den 1960er-Jahren der Nahrungsmittelverbrauch und in den 1950er-Jahren Ausgaben für langlebige Konsumgüter erfasst, die Rollen, die sie in der Präsentation der jeweiligen Erhebung einnehmen, hat sich jedoch gewandelt. In der EGKS-Erhebung von 1956/57 überwiegen die Textabschnitte sowie Tabellen und Grafiken, die sich mit Ernährungsfragen oder sonstigen Dingen des sogenannten „starren Bedarfs“ (Nahrungsmittel, Wohnung, Heizung, Kleidung) auseinandersetzen. 1963/64 hingegen wird die Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern als „Hauptindikator“ für das Lebensniveau angepriesen und es finden sich in diesen Tabellen erste Ergebnisse zum Lebensniveau, die dem Leser/der Leserin mitgeteilt werden. Diese veränderten Schwerpunktsetzungen in der Statistik spiegeln demnach ein neuartiges Wohlstandsniveau und die reale Veränderung des Konsums europäischer Gesellschaften wider. Davon waren zwar nicht alle Länder und Bevölkerungsteile in gleichem Maße betroffen, gleichwohl handelte es sich um eine in den 1950er-Jahren einsetzende Entwicklung, die die privaten Ausgabenanteile für Nahrungsmittel zugunsten solcher für langlebige Verbrauchsgüter stetig zurückgehen ließ. Jedoch unterscheiden sich die Quellen nicht nur darin, dass sie andere Konsumgüter zu ihren Hauptthemen machen, sondern auch in ihrer Darstellungsform. Verwendeten die Statistiker des SAEG in den 1950er-Jahren neben textlichen Beiträgen auch „einige fröhliche Schaubilder“ 9, beschränkten sie sich in den 1960erJahren ganz auf Textbeiträge sowie mehrere Tabellen. Ganz allgemein wirkt letztere Erhebung sehr viel spröder als erstere, macht jedoch auch einen professionelleren Eindruck. Diese nüchterne, unprätentiös wirkende Darstellung der „Fak9

SAEG, Die Wirtschaftsrechnungen der Arbeiterfamilien der EGKS 1956/57, S. 7.

Daten für das „Europa der Sechs“

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ten“ steht einer teils comicartigen, ja ironisch überzeichneten Präsentation der Ergebnisse gegenüber. In letzterer stehen auf einer Art Schachbrett grafisch gezeichnete Figuren für jedes Land auf Feldern, die mit Zahlen gefüllt sind. Diese Zahlen wiederum sollen zeigen, wie viel (gemessen in Kilogramm oder Liter) eines bestimmten Produktes von den Familien innerhalb eines Jahres verbraucht wurde. Dabei macht gerade die bildliche Darstellung statistischer Ergebnisse in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Wirtschaftsrechnungen eben nicht nur allgemeine Rückschlüsse über das Lebensniveau spezifischer Bevölkerungsgruppen und Länder zulassen, sondern dass sie darüber hinaus einen einzigartigen Einblick in die Lebenswelten bestimmter Bevölkerungsteile bieten. Die Repräsentation einzelner Länder durch Figuren, die durch das Tragen einer „typischen“ Kleidung charakteristisch für ihre jeweilige nationale Bevölkerung sein sollten, vermittelt gar den Eindruck, mithilfe quantifizierbarer Daten den Archetyp einer jeden Nation ausmachen zu können. Die Kombination von wiedererkennbarer Verbildlichung „typischer“ äußerlicher Merkmale einerseits und der Quantifizierung der „charakteristischen“ Gewohnheiten andererseits ist dabei besonders wirkmächtig. Es scheint, als seien nationsspezifische Eigenheiten nun mit statistischen „Fakten“ belegt und unumstößlich bewiesen. Die Zuweisung scheinbar „charakteristischer“ Ernährungsgewohnheiten wird dabei in erster Linie nach bereits existierenden Vorstellungen über die jeweiligen Länder erfolgt sein. Während zum Beispiel die Figur, die Belgien darstellen soll, im Quadrat für Kaffeeverbrauch platziert wurde und somit impliziert, belgische Familien konsumierten typischerweise am meisten davon, lag der Kaffeeverbrauch von Franzosen tatsächlich noch über dem der Belgier (wenn auch nur ganz leicht: 12, 6 l/p.a. gegenüber 12, 7 l/p.a.). Den Franzosen wurde dagegen der Weinkonsum als „typisches“ Merkmal zugeordnet, während die Italiener sie dabei mengenmäßig noch übertrafen, nämlich mit 339 l/p.a. gegenüber 338 l./p.a. Letztere wurden jedoch den Teigwaren – exemplarisch dargestellt anhand von Spaghetti – zugeordnet. Überhaupt zeigt ein Vergleich aller derartiger schachbrettartig angeordneter Zeichnungen (insgesamt gibt es drei: für Familien des Steinkohlebergbaus, des Eisenerzbergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie), dass die Zuordnung der einzelnen Länder zu den für sie „typischen“ Nahrungsmitteln zumindest einmal variiert – nur die Italiener stehen in allen drei Fällen mit einem Teller Spaghetti auf dem gleichen Quadrat. Dies passt zu den immer wieder in Statistiken des SAEG geäußerten Ergebnissen, dass sich Italien eben doch wesentlich von den übrigen Ländern unterscheide. 10 Die Statistiker der Gemeinschaft waren damit sicherlich nicht die ersten, die diesen Befund äußerten, jedoch sorgten gerade diese bildlichen Darstellungen eher noch für eine Zementierung dieser 10 So wurden vereinzelte Berechnungen ausdrücklich durchgeführt ohne Italien zu berücksichtigen, um das Ergebnis nicht zu verzerren, vgl. EGKS, Die Arbeitereinkommen der Industrien der Gemeinschaft im Realvergleich. Eine statistische Analyse, Luxemburg 1956, S. 129ff., online verfügbar im EU-Bookshop, URL: (16.11.2015).

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Stereotype, anstatt sich auf Gemeinsamkeiten zu konzentrieren (so lagen Italien und Frankreich in vielen Ernährungsgewohnheiten dicht beieinander – etwa beim bereits erwähnten Weinkonsum –, während Italien, das Saarland, Deutschland und die Niederlande beinahe identische Mengen an Kaffee verbrauchten). Die Tabelle aus den 1960er-Jahren wirkt dagegen schon fast unaufgeregt und in ihrer Darstellung „neutraler“. Jedoch zeigt hier die Auflistung der Länder hinsichtlich der in ihnen festgestellten Verbreitung langlebiger Gebrauchsgüter eine hierarchische Ordnung, die einem Ranking nach Höhe des Lebensniveaus gleicht. Die dadurch mittransportierte Vorstellung über die Länder der Gemeinschaft unterscheidet sich aber fundamental gegenüber derjenigen aus den 1950er-Jahren. Denn hier ging es nicht mehr so sehr darum zu fragen, wer „typischerweise“ was konsumierte, sondern wer sich welche Dinge leisten konnte. Die Demarkationslinien zwischen den Ländern verlaufen nun nicht mehr anhand der den nationalen Personengruppen scheinbar innewohnenden charakteristischen Eigenschaften (der „typische“ italienische Arbeiter isst „typischerweise“ Spaghetti), sondern anhand ökonomischer Potentiale der Haushalte. Erst dann, so die implizierte Aussage, wenn sich alle Haushalte einen vergleichbaren Luxus leisten können, werde die „Angleichung im Fortschritt“, wie sie oft als ultimatives sozialpolitisches Ziel bei der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes postuliert wurde, Realität. 11 Diesen Fortschritt zu messen bedeutete in den 1960er-Jahren allerdings nicht mehr in erster Linie, die Möglichkeiten der Haushalte, sich mit den wichtigsten Dingen des täglichen Bedarfs wie Nahrungsmitteln oder Kleidung auszustatten, statistisch zu ermitteln. Vielmehr verlagerte sich seit den 1950er-Jahren der von vielen Politikern wie Statistikern gewählte Ansatzpunkt mehr und mehr dahingehend, das Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen größeren ökonomischen Spielräume privater Haushalte als Wohlstandsindikator anzusehen. In diesem Zusammenhang gewannen die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) seit den 1950er-Jahren enorm an Bedeutung. Die in ihnen enthaltenen Aggregate etwa über Einkommen, Konsum, Investitionen, Spartätigkeit und Staatsausgaben sollten jedoch nicht nur das Wirtschaftsgeschehen eines Landes sichtbar machen, sondern sie sollten als Planungsinstrument dienen, welches zukünftiges Wirtschaftswachstum garantieren könne. 12 Die Erhebungen über Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte wurden in dieser Zeit mehr und mehr darauf abgestellt, den Ansprüchen der VGR zu genügen, denn für letztere lieferten sie wichtige Angaben über den sogenannten letzten Verbrauch, also die marktrele11 Laut EWG-Vertrag solle die Verbesserung der Lebensbedingungen eine „Angleichung“ im „Fortschritt“ bewirken, vgl. Artikel 117 EWGV. 12 Weshalb sich auch in solchen Länder wie die Bundesrepublik, die dem Planungsoptimismus eher skeptisch gegenüberstanden, die Weiterentwicklung der VGR langsamer vollzog als dort, wo die Planungseuphorie fester Bestandteil nationaler Politik wurde (wie etwa in Frankreich), vgl. Nützenadel, Alexander, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, S. 102; zur Geschichte und Entwicklung der VGR vgl. auch Speich, Daniel, The Use of Global Abstractions: National Income Accounting in the Period of Imperial Decline, in: Journal of Global History (2011) H. 6, S. 7–28.

Daten für das „Europa der Sechs“

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vanten Käufe privater Haushalte. Wirtschaftsrechnungen privater Haushalte verloren damit in ihrer Funktion als sozialstatistisches Instrument nicht völlig an Bedeutung, viele in ihnen enthaltene Definitionen, Erhebungskonzepte oder Nomenklaturen wurden jedoch zunehmend auch makroökonomischen Fragestellungen angepasst. Ziel der Statistik wurde es dadurch, wirtschafts- wie sozialpolitischen Planungsideen ein nützliches Instrumentarium zu sein, an dem sich konkrete politische Entscheidungen andocken ließen. Die Tabelle über die Ausstattung mit langlebigen Verbrauchsgütern aus den 1960er-Jahren verdeutlicht diesen Anspruch: Reduziert auf die „wichtigsten“ Konsumgüter und im zweifachen Vergleich zwischen Ländern einerseits und zwei Haushaltstypen andererseits zeigt sie an, wo noch „Versorgungspotential“ bestand (PKWs und Fernsehgeräte waren noch wenig verbreitet), welche Bevölkerungsteile bisher besonders gut vom Wirtschaftswachstum profitierten (Lohn- und Gehaltsempfänger schnitten im Durchschnitt besser ab als landwirtschaftliche Haushalte) und welche Diskrepanzen zwischen den „reichsten“ und „ärmsten“ Ländern der Gemeinschaft noch bestanden (Italien bildete in vielen Ausstattungspunkten das Schlusslicht, während insbesondere die Niederlande und Luxemburg oft die vorderen Plätze einnahmen). Dass in zentralen Schaubildern/Tabellen eher die Differenzen als die Gemeinsamkeiten der Mitgliedsländer herausgestellt wurden, war auch eng mit dem eigenen Anspruch der SAEG-Statistiker verbunden, dem Fortkommen der Integrationsbemühungen eben durch das Aufweisen von noch bestehenden Unterschieden zwischen den Ländern zu dienen und dadurch „indirekte Integrationswirkungen“ zu erzielen. 13 Denn, so der damalige Generaldirektor des SAEG Rolf Wagenführ, die vergleichbaren Daten bewirken, dass sich die Mitgliedsländer eher „integrationsgerecht verhalten“. Gerade das Feststellen von bestehenden Missständen, wie dem immer noch sehr niedrigen Lebensniveau in Italien, könne die Verantwortlichen aus der Politik zu Gegenmaßnahmen bewegen, die wiederum zur „vielzitierten ‚Angleichung im Fortschritt’“ führen würden. 14 Bedeutsam war diese Art der Repräsentation von Heterogenität in der Gemeinschaft dabei vor allem deshalb, weil selbstverständlich die Erstellung sozialstatistischer Expertise nicht in einem Vakuum stattfand, sondern vielseitig aufgegriffen wurde. So wurden Gemeinschaftsstatistiken medial wahrgenommen und fanden dadurch auch über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus Verbreitung. Als 1967 sämtliche Ergebnisse der Wirtschaftsrechnungen vorlagen und auf Pressekonferenzen vorgestellt wurden, wurden in Zeitungsartikeln häufig die „typischen“ Lebensgewohnheiten vor allem in Bezug auf Ernährung rezipiert. Einige bereits vorhandene Stereotype seien durch die Statistik bestätigt: Die französische Tageszeitung Le Figaro verkündete, das Bild, das man sich immer von Franzosen mache, sei korrekt, da sie nachweislich tatsächlich am meisten Wein und Brot verzehrten. 15 Die britische Financial 13 Vgl. Wagenführ, Rolf, Die Statistik in der Integration der Sechs, in: Statistische Hefte 7 (1966), H. 1/2, S. 52. 14 Ebd., S. 52. 15 Vgl. Historisches Archiv der Kommission (HAK), BDT 63 1980 Nr. 363, Le Luxembourgeois dandy de la Communauté, in : Le Figaro, 24.11.1967, S. 8.

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Times sah es als erwiesen an, dass Niederländer in der Tat „reinlich, enthaltsam, häuslich“ seien, wie man es von ihnen immer angenommen habe, da sie laut Wirtschaftsrechnungen am häufigsten über Badezimmer in ihren Häusern verfügten, am wenigsten Genussmittel zu sich nahmen und am meisten Geld für Möbel ausgaben. 16 Besonders erwähnenswert fanden viele Artikel schließlich, dass es in Frankreich die meisten Autos gebe, in den Niederlanden die meisten Fernsehgeräte und dass Deutschland sich durch Mittelmäßigkeit auszeichne: Die Bundesrepublik stach weder in Ernährungsfragen noch hinsichtlich des Besitzes langlebiger Konsumgüter durch „Rekordzahlen“ hervor, sondern fand sich fast immer im Mittelfeld wieder. Neben diesen „typischen“, länderspezifischen Charakteristika verwiesen die Daten eben auch auf die noch herrschende Disparität im Lebensstandard zwischen den Ländern, was einige Zeitungsartikel integrationskritisch kommentierten: Aufgrund der großen Unterschiede zwischen ärmsten (Italien) und reichstem Land (Luxemburg) sowie den immer noch bestehenden Disparitäten in den Lebensformen könne auch zehn Jahre nach der Gründung des Gemeinsamen Marktes kaum von großen Schritten auf dem Gebiet der „Angleichung im Fortschritt“ die Rede sein. 17 Lediglich die Financial Times konnte diesem Zustand etwas positives abgewinnen: Aufgrund noch ungenutzter Potentiale hinsichtlich des materiellen Lebensstandards der Mitgliedsländer, der mit dem US-amerikanischer Haushalte noch nicht annähernd mithalten könne 18, riet sie britischen Exporteuren, diese „Marktstudie“ als Ausgangspunkt für eine Expansion auf den gemeinschaftlichen Markt zu nutzen. 19 Der Vergleich der beiden hier verwendeten Quellen macht deutlich, dass die Wirtschaftsrechnungen im Rahmen der EGKS und der EWG ihrer prinzipiellen Aufgabe als sozialstatistisches Überwachungsinstrument für die Gemeinschaften nachgekommen sind. In beiden Fällen machten sie Angaben über den Stand der Dinge hinsichtlich des Lebensniveaus wichtiger Bevölkerungsteile. Es ist gleichzeitig aber auch gezeigt worden, dass sich die Erhebungen fundamental voneinander unterscheiden, da sich zugrundeliegende Auffassungen hinsichtlich der Erfassung des Lebensniveaus im Laufe der Jahre verändert hatten. Das Ergebnis dieser Entwicklung, die veröffentlichten Statistiken, offenbart einen veränderten Blick auf die Bevölkerung der Gemeinschaften, sowohl seitens der Statistiker als auch der Politiker, in deren Auftrag die Erhebungen durchgeführt wurden. Im Kontext der sich stetig verbessernden wirtschaftlichen Lage seit dem Kriegsende gewannen private Haushalte in ihrer Funktion als marktrelevante, wirtschaftende Einheiten zunehmend an Bedeutung. In der medialen Wahrnehmung hingegen spielten nationale Besonderheiten in den Lebensgewohnheiten, wie sie die Statistik in 16 Vgl. ebd. The French, Dutch – and Others – Run True to Form, in: The Financial Times, 24.11.1967, S. 39. 17 Vgl. ebd., Le niveau de vie chez le „Six“, in : La Croix, 13.12.1967, S. 5 und ebd. Les différences de niveau et de mode de vie entre les six pays du Marché commun reste très importantes, in: Le Monde, 27.12.1967, S. 3. 18 Vgl. ebd., Living Standard Gap in EEC Stays Wide, in: International Herald Tribune, 23.11.1967, S. 40. 19 Vgl. ebd., The Financial Times, 24.11.1967, S. 39.

Daten für das „Europa der Sechs“

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Form scheinbar objektiver Daten sichtbar machte, eine herausragende Rolle. Besonders im Kontext einer immer engeren Verflechtung der sechs Mitgliedsländer im Rahmen des Gemeinsamen Marktes ließen sich die Zahlen scheinbar gut instrumentalisieren, um die eigene nationale Identität im Vergleich mit bzw. in Abgrenzung zu „den anderen“ herauszustellen. Zeigten die EWG-Statistiken nun aber, dass nach wie vor bedeutende Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Mitgliedsländern bestanden, verwies dies auf einen Missstand, der einer politischen Lösung bedurfte. In den Wirtschaftsrechnungen selbst, die von der Financial Times nicht zufällig als „Marktstudie“ bezeichnet wurden, war indessen die grundsätzliche Richtung weiterer gemeinschaftspolitischer Schritte bereits eingeschrieben. Schließlich ermöglichten die Wirtschaftsrechnungen die „Untersuchung über die Nachfrage“ privater Haushalte, das Herausarbeiten von Konjunkturdaten sowie – im Rahmen der VGR – die Erstellung kurzfristiger Marktprognosen. 20 Diese Maßnahmen reihten sich wiederum in Planungen ein, mithilfe wirtschaftlichen Wachstums größeren Wohlstand zu generieren. In den 1960er-Jahren blieben also auch Sozialstatistiken der Gemeinschaft von dieser Dynamik nicht unberührt und spiegeln auf diese Weise eine Entwicklung wider, in der „das Ausgreifen des ‚Ökonomischen’ in fast alle Politikfelder und gesellschaftliche Bereiche 21 ein Merkmal moderner Industriegesellschaften überhaupt zu sein“ scheint.

Die Gemeinsame Agrarpolitik oder die sich seit 1957 allmählich konstituierenden Sozial- und Strukturfonds sind zwei Bereiche gemeinschaftlicher Politik, die letztendlich darauf abzielten, strukturschwachen Regionen bzw. benachteiligten Wirtschaftszweigen den Anschluss an das allgemeine Wirtschaftswachstum und damit an ein höheres Wohlstandsniveau zu ermöglichen. Die Sozialstatistik der Gemeinschaften wurde an diese Bestrebungen angepasst, ihre Grafiken und Tabellen sind Ausdruck sich wandelnder wirtschaftspolitischer Leitideen im Kontext des europäischen Integrationsprozesses. Literaturhinweise Michelis, Alberto de; Chantraine, Alain, Erinnerungen Eurostats. Fünfzig Jahre im Dienst Europas, Luxemburg 2003, online verfügbar im EU-Bookshop, URL: (16.11.2015). Nützenadel, Alexander, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005. Starr, Paul, The Sociology of Official Statistics, in: Alonso, William; ders. (Hgg.) The Politics of Numbers, New York 1987, S. 7–57. Wagenführ, Rolf, Die Statistik in der Integration der Sechs, in: Statistische Hefte 7 (1966), H. 1/2, S. 51–73.

20 SAEG, Wirtschaftsrechnungen 1962/63. Deutschland (BR), in: Sonderreihe Sozialstatistik (1967), H. 5, S. 16. 21 Nützenadel, Stunde der Ökonomen, S. 12.

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Wildt, Michael, Das Ende der Bescheidenheit. Wirtschaftsrechnungen von Arbeitnehmerhaushalten in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1963, in: Tenfelde, Klaus (Hg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 573–610.

Quellen Die Erfassung des Lebensniveaus in den Europäischen Gemeinschaften (1956/57 und 1963/64) 22 Quelle 1: Jährlicher Verbrauch an Nahrungs- und Genussmitteln pro Arbeiterfamilie in der Eisen- und Stahlindustrie der EGKS (1956/57) 23

22 Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . 23 SAEG, Die Wirtschaftsrechnungen der Arbeiterfamilien der EGKS 1956/57, in: Statistische Informationen, Serie Sozialstatistik (1960), H. 1, S. 111, URL: (16.11.2015).

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Daten für das „Europa der Sechs“

Quelle 2: „Hauptindikatoren des Lebensniveaus“ in der EWG: Die Ausstattung von Haushalten mit langlebigen Konsumgütern (1963/64)24

Tabelle 4 Tableau Hauptindikatoren des Lebensniveaus der Haushalte von Lohn- und Gehaltsempfängern und der Landwirtschaftlichen

Haushalte (in % der Gesamtzahl der Haushalte) Principaux indicateurs du niveau de vie des ménages de salariés et des ménages agricoles (en % du nombre total de ménages)

Haushalte von Lohn- und Gehaltsempfängern Ménages de salariés

Landwirtschaftliche Haushalte Ménages agricoles

Motorrad, Motorroller, Moped usw. Motocyclette, scooter, vélomoteur, etc. 1. France 2. Nederland 3. Belgique/België 4. Italia 5. Luxembourg 6. Deutschland (BR) 1. France 2. Luxembourg 3. Belgique/België 4. Deutschland (BR) 5. Nederland

41 41 24 22 17 9 48 41 37 31 24

6. Italia

20

1. Nederland 2. Italia

57

3. Deutschland (BR) 4. Belgique/België 5. France 6. Luxembourg 1. Luxembourg 2. Nederland 3. Belgique/België 4. Deutschland (BR) 5. France 6. Italia

55 51 48 37 27 82 78 73 65 43 20

1. Nederland 2. France 3. Italia 4. Belgique/België 5. Deutschland (BR) 6. Luxembourg Kraftfahrzeug – Voiture 1. Luxembourg

2. France 3. Nederland 3. Belgique/België 5. Deutschland (BR) 6. Italia Fernsehgerät – Appareil de télévision

1. Nederland 2. Belgique/België 3. Deutschland (BR) 4. Italia 5. France 6. Luxembourg Waschmaschine – Machine à laver 1. Nederland

1. Belgique/België 3. Luxembourg 4. Deutschland (BR) 5. France 6. Italia

55 53 32 18 13 13 49 48 39 39 37 10 35 26 18 14 13 3 83 83 82 73 29 2

24 SAEG, Wirtschaftsrechnungen 1963/64. Ergebnisse für die Gemeinschaft, in: Sonderreihe Sozialstatistik (1967), H. 7, S. 41–42, URL: (16.11.2015).

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Haushalte von Lohn- und Gehaltsempfängern

Landwirtschaftliche Haushalte

Ménages de salariés

Ménages agricoles Kühlschrank – Réfrigérateur 1. Deutschland (BR)

1. Luxembourg

70

2. Deutschland (BR) 3. Italia

68 57

2. Belgique/België 3. Luxembourg

54 32

4. France 5. Nederland

55 36

4. Deutschland (BR) 5. France

26 18

5. Belgique/België

36

1. Luxembourg 2. Italia

40 29

1. Luxembourg 2. Nederland

77 46

3. Nederland 4. Belgique/België

27 19

3. Belgique/België 4. Deutschland (BR)

28 11

5. Deutschland (BR) 6. France

9 6

5. France 6. Italia

5 2

1. Nederland

9

Dienstpersonal – Personnel domestique 1. France

15

2. Belgique/België 3. France

8 5

2. Nederland 3. Belgique/België

11 6

4. Luxembourg 4. Deutschland (BR)

4 4

4. Deutschland (BR) 5. Italia

1 0

6. Italia

1. Luxembourg 2. Belgique/België

6. Italia Telephonanschluß – Téléphone

1 6. Luxembourg Garten, Kleinvieh, Schweine – Jardin familial, petit bétail, porcs 81 1. Belgique/België 58 1. Luxembourg

55

15

– 100 100

3. France 4. Deutschland (BR)

47 45

3. Deutschland (BR) 4. France

99 97

5. Nederland 6. Italia

21 17

5. Nederland 6. Italia

92 71

UMSTRITTENE SOUVERÄNITÄT. 1 DIE ASSOZIATIONSPOLITIK DER EWG MIT AFRIKA Daniel Speich Chassé Am 20. Juli 1963 kam es in der kamerunischen Stadt Jaunde zur Unterzeichnung eines wirtschaftspolitischen Assoziationsvertrags zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und einer Reihe von afrikanischen Staaten. Der König der Belgier, die Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Italiens, die Großherzogin von Luxemburg und die Königin der Niederlande verpflichteten sich in dem Vertragswerk, ihre internationalen Handelsbeziehungen gewissen Regeln zu unterstellen und ihre Souveränität einzuschränken. Die Vertragspartner waren seine Majestät, der Mwami von Burundi, die Präsidenten von Kamerun, der zentralafrikanischen Republik, von Kongo-Brazzaville und KongoLéopoldville, der Elfenbeinküste, Dahomey, Gabun, Ober-Volta, Madagaskar sowie die Staatsoberhäupter von Mali, Mauretanien, Niger, Rwanda, Senegal, Somalia, Tschad und Togo. Alle diese Würdenträgerinnen und Würdenträger waren entweder selbst präsent oder hatten hochrangige Vertreter entsandt. Der Vertrag markierte den vorläufigen Abschluss eines zentralen Kapitels in der Geschichte der europäischen Integrationsbemühungen. Man hatte in der schwierigen Frage der gemeinsamen europäischen Außenpolitik einen Standpunkt errungen. Und auch aus der afrikanischen Perspektive setzte der Vertrag einen wichtigen Stein. Die meisten der Unterzeichner hatten eben erst ihre nationale Souveränität errungen und sahen diese durch das Abkommen bestätigt. Entsprechend freudige Worte wählte der EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein in seiner Ansprache bei der Unterzeichnung. 2 Nachdem er die Leistungen des EWG-Kommissars für Entwicklung und humanitäre Hilfe, Henri Rochereau, verdankt hatte, würdigte er kurz den Gastgeberstaat Kamerun als Schmelztiegel kultureller Diversität, um dann die historische Besonderheit des Augenblicks zu beschwören. „Today marks an historic stage in the long evolution of relations between the industrialized and developing nations“, führte er aus. 1

2

Essay zur Quelle: Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the Occasion of the Signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar (20 July 1963). Der Essay ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Address by Professor Dr. Walter Hallstein, President of the Commission of the European Economic Community, on the Occasion of the Signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar, Yaoundé, 20 July 1963, in: University of Pittsburgh, Archive of European Integration (AEI), URL: (16.11. 2015). Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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Daniel Speich Chassé „It is a most remarkable fact, of great political and human value, that after most of these countries attained independence they should have wished to conclude with the Community – on a footing of equal partnership – an agreement which has no precedent in history.“

Höflichkeiten gegenüber den Gastgebern und pathetische Sätze aller Art gehören zum Ritual der Unterzeichnung von Staatsverträgen, denn sie bestätigen allen Anwesenden die Wichtigkeit ihres Amtes und ihrer Person. Gerne wird daher bei solchen Anlässen von „historischen Momenten“ und von der weltweiten Präzedenzlosigkeit des eigenen Tuns gesprochen. Doch was auf den ersten Blick als reine Rhetorik erscheint, verdient genauere Aufmerksamkeit. Als Hallstein im Juli 1963 in Jaunde sprach, gab es in der Praxis der Diplomatie und der internationalen Staatsakte noch kaum gefestigte Routinen im Umgang mit Afrikanerinnen und Afrikanern. Das Konzept der „equal partnership“, die auf Augenhöhe verhandelten, war keine Selbstverständlichkeit. Jedes einzelne seiner Worte ist im analytischen Rückblick bedeutungsvoll, weil Hallstein nicht einfach bekannte Floskeln in Anspruch nehmen konnte, sondern Formeln zu wählen hatte, die den divergierenden Erfahrungen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer einigermaßen gerecht wurden – oder zumindest nicht allzu kontrovers verstanden werden konnten. Eine bewährte Ressource für die Floskeln, mit denen Staatsakte begleitet werden, ist die gemeinsame Tradition. Hallstein bemühte sich um die Herstellung solcher Traditionen, was allerdings kein leichtes Unterfangen war. Drei Problemfelder sind genauer zu erörtern. Erstens erhob Hallstein Kamerun zu einem Schulbeispiel politischer Integration. Er freue sich, dass man just Jaunde als Versammlungsort gewählt habe, denn die Geschichte Kameruns biete reiches Anschauungsmaterial für die Kraft der politischen Einigung über regionale, kulturelle und sprachliche Differenzen hinweg. Dem Europapolitiker war solche Einheitsrhetorik Programm, da ja im europäischen Einigungsprozess die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ein starkes Vertiefungspotenzial aufwies und Großbritannien überhaupt noch einzubinden war. Hier am Äquator spüre man förmlich, welch außergewöhnliche kollektive Anstrengung nötig sei, um „so many races, religions and diverse historical heritages“ in einer neuen politischen Körperschaft zu verschmelzen und welcher Gewinn aus einem solchen Projekt resultiere. Allen Zuhörerinnen und Zuhörern war klar, dass die deutsche, die französische und die englische Kolonialherrschaft Teile dieses Gebiets geprägt hatten, und man freute sich darüber, diese Einflüsse nun vereint zu sehen. Die Konflikthaftigkeit des historischen Erbes von Kamerun war aus dem Versammlungslokal in Jaunde allerdings kaum zu vertreiben. 3 Und dennoch nahm Hallstein das Land als Vorbild für seine Vision von Europa. Zweitens sah Hallstein in Kamerun „a fine symbol, a fine example for Africa as a whole“. Damit rekurrierte er auf die unter afrikanischen Politikern zu der Zeit äußerst kontrovers diskutierte Frage der afrikanischen Einheit. Er stilisierte den 3

Wirz, Albert, Vom Sklavenhandel zum Kolonialen Handel. Wirtschaftsräume und Wirtschaftsformen in Kamerun vor 1914, Zürich 1972.

Umstrittene Souveränität

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eben unabhängig gewordenen Staat zu einer Homogenität empor, die dieser so nicht darstellte. Und er brachte die Hoffnung zum Ausdruck, auch die Vielfalt des gesamten afrikanischen Kontinents lasse sich dereinst in eine homogene Einheit verwandeln, damit der südliche Nachbar zu einem vertraglich fassbaren Partner der EWG würde. Alternative Visionen der afrikanischen Einheit, die sich nicht ohne Weiteres an das Projekt der europäischen Integration anschließen ließen, wurden von Hallstein beiseitegeschoben. Drittens schließlich konstruierte der EWG-Kommissionspräsident in fast meisterhafter Weise eine historisch völlig unbegründete Tradition. Er sprach nämlich von der „long evolution of relations between the industrialized and developing nations“. Mit den „Industrieländern“ und den „Entwicklungsländern“ benannte er zwei soziale Kollektive, welche die Sozialwissenschaften erst zehn Jahre zuvor erfunden hatten. 4 Eine lange Dauer ihrer gleichberechtigten Begegnung gab es nicht, denn bis anhin waren afrikanische Territorien mit ihren europäischen „Mutterländern“ in kolonialen Herrschaftsbeziehungen verbunden gewesen. Die Sprechweise von Hallstein erlaubte es, koloniale Vergangenheiten in eine zukunftsfähige Konzeption zu überführen. Sie stellte Kollektive her und reduzierte das Maß der weltpolitischen Komplexität ihrer wechselseitigen Beziehungen. Der erste Problembereich, den Hallstein in seiner Rede ansprach, betraf die europäische Geschichte mehr als die afrikanische. Seine Rede in Jaunde zeigt, wie eng die wirtschaftliche und politische Einigung Europas mit der Afrikapolitik der EWG verbunden war. 5 Als nach dem Zweiten Weltkrieg neue Kooperationsformen zwischen den europäischen Nationalstaaten Gestalt annahmen, erwies sich Afrika als ein kompliziertes Problem. Einerseits boten die reichen Ressourcen des südlichen Nachbars Anlass zur Wiederbelebung von geopolitischen Großraumphantasien, die in der Zwischenkriegszeit vielerorts geträumt worden waren. 6 Und andererseits stellten die seit jeher besonderen Beziehungen einzelner europäischer Länder zu Afrika ein schwieriges Hindernis bei der europäischen Einigung dar. Schon in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die kolonialen Metropolen in Europa schrittweise ihre Besitzungen im Nahen Osten sowie in Süd- und Südostasien, während ein gewaltiges Handelsbilanzdefizit gegenüber dem Dollarraum ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den Kolonien vergrö-

4 5

6

Sauvy, Alfred, Trois mondes, une planète, in: L’Observateur, 14.08.1952, S. 14. Rempe, Martin, Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957–1975, Köln 2012; Vahsen, Urban, Eurafrikanische Entwicklungskooperation. Die Assoziierungspolitik der EWG gegenüber dem subsaharischen Afrika in den 1960er-Jahren, Stuttgart 2010; van Laak, Dirk, Detours around Africa. The Connection between Developing Colonies and Integrating Europe, in: Badenoch, Alec; Fickers, Andreas (Hgg.), Materializing Europe. Transnational Infrastructures and the Project of Europe, Houndmills 2010, S. 27–43; Dimier, Véronique, Bringing the Neo-Patrimonial State back to Europe. French decolonization and the making of the European development aid policy, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 433–457; Migani, Guia, La France et l’Afrique subsaharienne 1957–1961. Histoire d’une décolonisation entre idéaux eurafricains et politique de puissance, Brüssel 2008. Zischka, Anton, Afrika. Europas Gemeinschaftsaufgabe Nr. 1, Oldenburg 1951.

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Daniel Speich Chassé

ßerte. 7 Es resultierte eine neue und intensivierte Form des europäischen Kolonialismus, welche die nationalstaatlich verfassten „Mutterländer“ in eine erneuerte Konkurrenzsituation zueinander stellte und Afrika in der europäischen Imagination mit einer neuen Bedeutung versah. Schon im European Recovery Program bzw. dem Marshall-Plan, mit dem die USA das Interaktionsgefüge Europas der Vorkriegszeit wieder herzustellen versuchten, trat das Problem der Kolonien auf. Zehn Prozent der Geldflüsse, die an Frankreich adressiert waren, gingen nach Westafrika. Die Organization of European Economic Cooperation (OEEC), welche zur Allokation der Marshall-PlanGelder gegründet worden war, schuf 1948 ein eigenes Direktorium für Überseegebiete. 8 Und der Europarat setzte kurz nach seiner im selben Jahr erfolgten Gründung eine Kommission ein, welche sich den Südbeziehungen widmete. 9 Prominent war Afrika außerdem in der Ankündigung einer koordinierten Kohle- und Stahlpolitik zwischen Deutschland und Frankreich, die Robert Schuman 1950 machte. Aufgrund dieser Kooperation werde Europa „mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen 10 können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“

In den komplizierten Verhandlungen, die zu den Römischen Verträgen von 1957 führten, blieb Afrika ein Zankapfel. Die Staatskonstruktion, die sich Frankreich im Zuge seiner Wiederherstellung nach dem Krieg gab, band die Überseegebiete fest an die Metropole. Die Verfassung der Vierten Republik schuf einen einheitlichen Rechtsraum über das Mittelmeer hinweg, und der französische Staat entwarf Investitionsprojekte in großem Maßstab, etwa im Malischen Office du Niger, zu deren Finanzierung ein Entwicklungsfonds eröffnet wurde. 11 Als die Assemblé Nationale im Juli 1949 über den Beitritt zum Europarat debattierte, rief der senegalesische Abgeordnete Léopold Sédar Senghor in Erinnerung:

7

Cooper, Frederick, Reconstructing Empire in British and French Africa, in: Mazower, Mark et al. (Hgg.), Post-war Reconstruction in Europe. International Perspectives, 1945–1949, Oxford 2011, S. 196–210. 8 Schreurs, Rik, A Marshall Plan for Africa? The Overseas Territories Committee and the Origins of European Co-operation in Africa, in: Griffiths, Richard T. (Hg.), Explorations in OEEC History, Paris 1997, S. 87–98. 9 Generalsekretariat des Europarats, Le plan de Strasbourg pour une amélioration des relations économiques entre les états membres du Conseil de l’Europe et les pays d’outre-mer avec lesquels ils ont des liens constitutionnels, Strasbourg 1952. 10 Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, in: Die EU im Überblick, URL: (16.11.2015). 11 Cooper, Frederick, Africa Since 1940. The Past of the Present, Cambridge 2002; Marseille, Jacques, Empire colonial et capitalimse français. Histoire d’une divorce, Paris 1984.

Umstrittene Souveränität

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„Ce n’est pas la France qui entre au Conseil de l’Europe, c’est la République française, et […] la République française n’est pas seulement composée de la métropole mais encore des 12 départements et territoires d’outre-mer.“

So sehr die Französische Republik daran interessiert war, den Erzfeind Deutschland mittels einer supranationalen Organisationsstruktur zu binden, so klar war in Paris auch, dass der europäische Einigungsprozess die Überseegebiete integral einschließen musste. Und tatsächlich gelang es der französischen Diplomatie, im vierten Teil der Römischen Verträge von 1957 Zollpräferenzen und Investitionsmechanismen zugunsten der eigenen Kolonien festzuschreiben. 13 Belgien war zunächst gegen die Schaffung einer solchen Sonderzone, da ein bedeutender Handel zwischen dem Kongo und dem Dollarraum bestand. 14 Italien befürchtete eine Konkurrenz zu der Aufbau- und Investitionshilfe, die man sich von der EWG für den Süden des eigenen Landes versprach. Und in Deutschland fand Ludwig Erhard als vehementer Verfechter des Freihandels viel Resonanz: Eine Sonderzone nach französischen Präferenzen schränke die Entfaltungsmöglichkeit der deutschen Exportwirtschaft auf dem Weltmarkt zu sehr ein, hielt er fest. 15 Insgesamt drückten sich in der kontroversen Frage der Grenzziehung nach außen die ganz unterschiedlichen „héritages historiques“ der europäischen Länder aus. Für Großbritannien bestätigte sich der Verdacht, die EWG sei ein französisches Projekt, dem man fern bleiben müsse. Umso erstaunlicher ist es, dass im weiteren Verlauf des Integrationsprozesses eine einheitliche Afrikapolitik möglich wurde. Der zweite Problembereich, dem Hallstein Rechnung zu tragen hatte, umfasste die geschichtliche, politische und wirtschaftliche Heterogenität des afrikanischen Kontinents. So unterschiedlich die europäischen imperialen Machtbezüge nach Süden waren, so sehr hatten sich bestehende Unterschiede in den Interessenlagen der vielen afrikanischen Länder und Gebiete seit der Berliner KongoKonferenz 1884–1885 noch verschärft. Diese Vielfalt prägte auch den Dekolonisationsprozess und die Vorstellungen von staatlicher Souveränität, die in seinem Zuge formuliert wurden. Für die Vertreter der französischen Territorien blieb vor der Erfahrung der Vierten Republik (1946–1958) die Perspektive einer staatsrechtlichen Assoziation mit Europa noch lange eine Option. Allerdings hatte Senghor schon 1957, als die Assemblé die Ratifizierung des EWG-Vertrags debattierte, gewarnt:

12 Senghor, Léopold Sédar, Place de l’Afrique dans l’Europe unie, 9. Juillet 1949, in: ders., Liberté, tome 2, Nations en voie de développement et socialisme, Paris 1971, S. 60–64, bes. S. 60. 13 Cosgrove-Twitchett, Carol, Europe and Africa. From Association to Partnership, Farnborough 1978, S. 17–32. 14 Deschamps, Etienne, L’Afrique belge et le projet de Communauté politique européenne (1952–1954), in: Remacle, Eric; Winand, Pascaline (Hgg.), America, Europe, Africa – l’Amérique, l’Europe, l’Afrique, 1945–1973, Brüssel 2009, S. 307–324. 15 Erhard, Ludwig, Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1953.

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Daniel Speich Chassé „Nos réserves, encore une fois, monsieur le ministre des affaires étrangères, sont que l’Eurafrique que l’on nous propose ne soit pas une Eurafrika totalitaire à la manière de Hitler, 16 mais qu’elle soit démocratique et fraternelle.“

Er sah in der Assoziation das Potenzial eines demokratisch legitimierten Verhandlungsraums, in dem die europäisch-afrikanischen Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen intensiviert werden könnten. In dieser Hinsicht stimmte er dem Souveränitätsverzicht zu, der mit der Assoziation einherging. Und zugleich befürchtete er, die Assoziation diene lediglich der Zementierung von wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen. Sein ivorianischer Kollege im französischen Parlament, Félix Houphouët-Boigny, war weniger pessimistisch. Souveränität, so meinte dieser 1957 in einem Vortrag vor britischem Publikum, sei angesichts der weltweiten Wirtschaftsverflechtungen ein relativer Begriff. „Indeed, who doubts that close and sustained economic relations are essential to a country which wants to raise its standard of living? What countries are self-sufficient? Not even the United States. Indeed, the countries of Europe in the Coal and Steel Community, in Euratom and in the Common Market are prepared to relinquish a part of their sovereignty, that is to say, a part of their national independence. […] This is also our goal, because it is in our inter17 est.”

Ähnlich äußerte sich auch Mamadou Dia, der wie Senghor Senegal und Mali in Paris vertrat. 18 Einen Kurs des radikalen Bruches mit den kolonialen Zentren fuhren hingegen Sékou Touré in Guinea und Kwame Nkrumah in Ghana. Dabei stellte sich insbesondere Nkrumah in die Tradition des amerikanischen Panafrikanismus und denunzierte die Assoziation einiger afrikanischer Territorien mit der EWG als institutionelle Verlängerung der kolonialen Situation. Auch für Nkrumah war Souveränität ein relativer Begriff. Auch er verstand den Abbau von Zöllen und die Schaffung von supranationalen Kooperationsverhältnissen als wohlstandsfördernde Maßnahmen und sah in der EWG den besten Beleg hierfür. Doch die besondere historische Lage Afrikas fordere andere Vorgehensweisen. In seinem Hauptwerk „Africa must unite“ schrieb er 1963: „It seems […] curiously paradoxical that in this period when national exclusivism in Europe is making concessions to supernational organizations, many of the new African states should cling to their new-found sovereignty as something more precious than the total well-being of 16 Senghor, Léopold Sédar, Intervention en séance lors de la discussion du projet de ratification du traité de Rome, Procès verbal de l’Assemblée Nationale, 2e Séance du 4. Juillet 1957, S. 3262. Online verfügbar auf den Seiten der Assemblée Nationale, URL: (16.11.2015). 17 Houphouët-Boigny, Félix, Black Africa and the French Union, in: Foreign Affairs 35 (1957), H. 4, S. 593–599. 18 „Nation souveraine, le Mali sera, dans ses nouveaux rapports avec la République française, maître de son commerce extérieur, dans la mesure où cette souveraineté a une signification pour toutes les nations, petites ou grandes, dans ce monde interdépendant.“ Dia, Mamadou, Nations Africaines et solidarité mondiale, Paris 1960, S. 117.

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Africa and seek alliances with the states that are combining to balkanize our continent in neo19 colonial interests.”

Der Souveränitätsverzicht sei nicht gegenüber Europa zu leisten, sondern gegenüber den anderen afrikanischen Ländern. Man solle das Assoziationsmodell übernehmen, um gegenüber Europa als geeinte Kraft auftreten zu können. „If technical and economic co-operation between Africans is a feasibility, […] then where is the need to tie it in with the European Common Market, which is a European organization 20 promoted to further European interests?“, fragte er.

Das dritte Problemfeld in Hallsteins Rede war geprägt von ökonomischer Expertise. 21 Vor dem Hintergrund der problembeladenen Beziehung zwischen Europa und Afrika, welche durch den neuen Diskurs des Selbstbestimmungsrechts der Völker im Dekolonisationsprozess noch akzentuiert wurde 22, tritt deutlich hervor, welches Potenzial die neue Rede von „Entwicklungsländern“ und „Industrieländern“ hatte. Hallsteins Diskurs entpolitisierte das Verhältnis zwischen Europa und den ehemaligen Kolonialbesitzungen und eröffnete der Diplomatie einen technischen Verhandlungsraum, in welchem vertragliche Übereinkünfte wie jene von Jaunde 1963 möglich wurden. 23 In dieser Technizität lag die historische Neuartigkeit des Abkommens, welche der EWG-Kommissionspräsident so klar beschwor. „It is a peaceful venture, intended to provide a decent standard of living for men and women and to lead to mutual understanding amongst States. Everybody is talking about this, but today the Community and the associated African States and Madagascar are acting“, hielt er fest.

Tatsächlich hatte sich von der Gründungsversammlung der Vereinten Nationen in San Francisco 1945 her eine neue Sprechweise ergeben, welche die Souveränität von nationalstaatlich verfassten Kollektiven zum höchsten Gut erhob. Das war mit der Stabilisierung von imperialen Herrschaftsverhältnissen, wie sie Frankreich in der Vierten Republik vertrat, schwer zu vereinbaren. Schon im EWG-Vertrag rekurrierte man explizit auf die UNO-Charta, um die Assoziierung mit Afrika nicht dem Verdacht des Neokolonialismus auszusetzen. Der Verdacht blieb. Und im Abkommen von Jaunde wurde diese Referenz an übergeordnete staatsrechtliche Setzungen wiederholt. Der Jurist Hallstein nahm darauf Bezug, als er betonte, gerade die grundsätzliche Annahme der Gleichheit aller Vertragspartner sei das hervorstechende Merkmal des Dokuments und erhebe seine Unterzeichnung zu einem historischen Moment. 19 Nkrumah, Kwame, Africa Must Unite, London 1963, S. 158. 20 Ebd., S. 160. 21 Speich, Daniel, The Use of Global Abstractions. National Income Accounting in the Period of Imperial Decline, in: Journal of Global History 6 (2011), H. 1, S. 7–28. 22 Fisch, Jörg, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010. 23 Ferguson, James, The Antipolitics Machine. Development, Depoliticization, and Bureaucratic Power in Lesotho, Cambridge 1990.

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Das Korrelat dieser Gleichheitsannahme war eine neue, sozialwissenschaftlich gestützte Verständnisweise Afrikas, welche die Länder dieses Kontinents integral auf ihren ökonomischen Entwicklungsgrad bezog. In Hallsteins Sicht war Europa nicht mit historisch gewachsenen, unterschiedlichen Kolonialbeziehungen zu Afrika konfrontiert, sondern mit einer Gruppe von „unterentwickelten“ Ländern, die eine Einheit darstellten, und deren Probleme durch gezielte Kapitalinvestitionen und durch den Transfer von technischem Knowhow zu lösen waren. Er hatte diese Vision schon 1961 konkretisiert, als sich afrikanische Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Straßburg mit dem Europarat zusammenfanden, um das Verhältnis der EWG zu den gerade unabhängig werdenden afrikanischen Staaten zu definieren. 24 Und er stellte diesen entwicklungspolitischen Gedanken auch rückblickend in seinem Buch über die Europäische Gemeinschaft von 1973 in dem Kapitel über „Die Gemeinschaft und die Welt“ als leitend vor. 25 Diese Konzeption, die man vielleicht als eine entwicklungspolitische „Hallstein-Doktrin“ bezeichnen könnte, war eng verknüpft mit jenen wirtschaftlichen Modernisierungstheorien, die etwa auch der US-Außenpolitik zugrunde lagen. 26 Sie gewann aber im Rahmen der europäisch-afrikanischen Beziehungen eine besondere Färbung: Ihr Reduktionismus verbannte politische und historische Differenzen zwischen den afrikanischen Ländern und Territorien aus dem diplomatischen Diskurs und stellte nach Maßgabe der Entwicklungsdefizite dieser Gebiete ein neues Länderkollektiv her, zu dem die EWG als eine Einheit vertraglich in ein Verhältnis treten konnte. Die Konzeption entzog den afrikanischen Kritikern der Assoziation wie Nkrumah den intellektuellen Boden. Vor dem Weltmarkt geschützte Handelszonen, wie sie die EWG mit dem Jaunde-Abkommen schuf, beförderten in dieser Lesart keine „Balkanisierung“ des afrikanischen Kontinents, sondern waren im Rahmen der UNO-Charta ganz auf die Förderung von Wohlstand und Entwicklung gerichtet. Souveränitätsverzichte in dieser Hinsicht mussten das Selbstwertgefühl der Afrikanerinnen und der Afrikaner nicht unterlaufen, sondern waren Hilfestellungen in der Ausgestaltung ihrer Kollektive. Der Souveränitätsverzicht, den die assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar gegenüber der EWG eingingen, war auf die Stärkung dieser neuen Länder im Weltmarkt und auf der weltpolitischen Bühne gerichtet und das Abkommen bestätigte sie als souveräne Entitäten. Das Abkommen von Jaunde integrierte einen transkontinentalen Wirtschaftsraum. Es stellte Wohlstandsgewinne in Aussicht, und machte den partiellen Verlust von Souveränität dadurch auf beiden Seiten des Mittelmeers legitimierbar. Im Deutungshorizont der technischen Entwicklungsproblematik wurden die unglei24 Hallstein, Walter, Europäische Afrikapolitik. Rede an der Universität Tübingen am 5. Mai 1961, in: Oppermann, Thomas (Hg.), Walter Hallstein. Europäischen Reden, Stuttgart 1979, S. 261–275; zur Konferenz in Straßburg am 19.–24. Juni 1961, an welcher der Europarat und Vertreter von afrikanischen Parlamenten debattierten, siehe Vahsen, Entwicklungskooperation, S. 135f. 25 Hallstein, Walter, Die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1973, S. 276ff. 26 Ekbladh, David, The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Princeton 2010.

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chen Partner Afrika und Europa staatsrechtlich zu Nehmern und Gebern in einem übergreifenden Austauschprozess und rückten in einen gemeinsamen Handlungsraum ein. Damit war für das politische Projekt der europäischen Einigung die koloniale Vergangenheit gebannt und eine Zukunftsperspektive entworfen, welche für die afrikanischen Partner eine staatstragende Ressource darstellte. Die Assoziationsform des Jaunde-Vertrages von 1963 erwies sich jedenfalls als stabil und wurde in den 1970er-Jahren mit den Lomé-Abkommen auch auf die ehemals britischen Territorien in Afrika ausgeweitet. Literaturhinweise Bitsch, Marie-Thérèse; Bossuat, Gérard (Hgg.), L’Europe Unie et l’Afrique. De l’idée d’Eurafrique à la convention de Lomé I, Bruxelles 2005. Cooper, Frederick, Reconstructing Empire in British and French Africa, in: Mazower, Mark et al. (Hgg.), Post-war Reconstruction in Europe. International Perspectives, 1945–1949, Oxford 2011, S. 196–210. Cosgrove-Twitchett, Carol, Europe and Africa. From association to partnership, Farnborough 1978. Rempe, Martin, Entwicklung im Konflikt. Die EWG und der Senegal 1957–1975, Köln 2012. Vahsen, Urban, Eurafrikanische Entwicklungskooperation. Die Assoziierungspolitik der EWG gegenüber dem subsaharischen Afrika in den 1960er-Jahren, Stuttgart 2010.

Quelle Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the Occasion of the Signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar (20 July 1963) 27 Address by Professor Dr. Walter Hallstein President of the Commission Of the European Economic Community On the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar Yaoundé 20 July 1963 Embargoed until Saturday, 20 July 1963 27 Address by Professor Dr. Walter Hallstein, President of the Commission of the European Economic Community, on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar, Yaoundé, 20 July 1963, in: University of Pittsburgh, Archive of European Integration (AEI), URL: (16.11.2015). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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3.00 p.m. Brussels time It is both an honour and a pleasure for the Commission of the European Economic Community to take part here in Yaoundé in the ceremony for the signature of the new Convention of Association. As I stand before this illustrious gathering, my first duty as President of that Commission is to thank once again the man who within the Commission carries the main responsibility for questions concerned with this Association, my colleague Henri Rochereau. What contribution the Commission has been able to make to the success of this venture is largely due to him. To spare him embarrassment I will only speak of his devotion to Europe and Africa; I know that he would wish me to associate with this well merited homage all those who are working under his inspiration. The ceremony to which we have come today has great significance. The very fact that our friends of the associated States should have chosen Yaoundé is symbolic. In this city with its fraternal welcome we understand and sense the difficult but peaceful and confident effort of a whole people to merge so many races, religions and diverse historical heritages in the melting-pot of unity: in truth, a fine symbol, a fine example for Africa as a whole. Today marks an historic stage in the long evolution of relations between the industrialized and developing nations. From the very inception of the Treaty of Rome the founders of the European Economic Community resolutely undertook to support the development of the overseas countries with which some of them at that time had special relations. It is a most remarkable fact, of great political and human value, that after most of these countries attained independence they should have wished to conclude with the Community – on a footing of equal partnership – an agreement which has no precedent in history and which establishes new, more numerous and stronger links through a great joint venture, and that such an agreement should have been successfully concluded. It is a peaceful venture, intended to provide a decent standard of living for men and women and to lead to mutual understanding amongst States. Everybody is talking about this, but today the Community and the associated African States and Madagascar are acting. The signing of the new Convention sets the seal on our present relations and opens up new prospects of progress. In perfecting and renewing our association, in adapting it to the political and economic necessities of our age, we have had to meet several requirements. The Community, that at the end of the five years for which the new Convention of Association has been concluded will be approaching the end of the common market’s transition period, must simultaneously continue its internal build-up and face its world responsibilities; at the same time, this Community feels itself bound to contribute to the economic and social progress of the associated countries and, so far as possible, to take into account the interests of other developing countries. The foremost task for the developing countries is to lead their peoples towards living conditions conducive to the unfolding of human dignity so that they may reach that stage of economic security without which true sovereignty cannot assert itself. We may say that the Association reflects a fair balance between all these objectives, which are not contradictory but difficult to harmonize and to attain reasonably quickly.

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It is equally noteworthy that the experience gained during the initial years of association has not been wasted. Both sides have analysed and used it so that, with the modesty called for in the appreciation of such an undertaking, we may say that the Convention of Association between the European Economic Community and the African States and Madagascar marks a substantial improvement on the system in force until 31 December 1962. This is the result of the active goodwill which inspired all the Governments concerned and the institutions of the Community. In this context we must pay tribute to the work of the European Parliament and to its perseverance in close co-operation with the Parliaments of the African countries and Madagascar. It would seem to me that over and above the very comprehensive character of the Association with its well balanced and carefully worked out solutions to often highly complicated technical problems, the essential point is that there is a permanent and almost exhaustive confrontation between the economic interests of the two groups of countries, and that problems are to be solved on the basis of the common interest of all concerned. That common interest has already led us to co-operate for five years; we have together presented it to the world and, when necessary, we have defended it together. By so doing we think we have merited the praise received from well-qualified observers who have described our association as the sort of agreement which they would like to see applied at a continental or even al world level. I am no less aware than anyone here of the criticisms which the advocates of this association have met, and which they may still meet. Nor do I claim that this association is the answer to all our problems. It is with all this in mind that the Commission, when putting forward an Action Programme for the Community, suggested that an effort be made to conclude world-wide agreements on the main agricultural commodities – a field in which the European Economic Community will be intervening with greater authority. Such action would help: To stabilize the prices of tropical products at a profitable level, and so To guarantee a more regular and higher income to producers and To improve the structure of production. Europe must in addition take the necessary steps to increase consumption of these products. By applying such a policy the Community would evidently improve conditions not only for its associates but also for many other developing countries. But I cannot follow the critics when they argue the African partners of this association with having committed themselves, in their relations with the European Economic Community, to a closed system incompatible with their sovereignty or their membership of other bodies. All members of the association, whatever their economic strength, are on an equal footing: a) At the highest level of decision the associated States together and the Community each have one vote, and no decision can be imposed on either party unless both votes are in favour; b) Far from maintaining old or erecting new artificial barriers between developing countries, the association favours any regrouping which the associates might wish to

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undertake and at the same time it allows close economic relations with non-associated countries to be maintained or established; c) The Convention is not closed to non-member countries whose economic structure is comparable to that of the present associates, but on the contrary it is expressly open to any such countries prepared to accept the rights and obligations involved. I would add that association in no way excludes the conclusion of other types of agreement with any developing country which wishes to make such an agreement; d) Finally, owing to a body of solutions, some of which are already found in other systems of international relations but some of which are quite new, the Association really does provide its economically least developed members with certain means of speeding their progress and of catching up with more highly developed countries. I refer here in particular to the tariff, quota and financial provisions which allow the associated States to promote diversification and rationalization in their economic structure, in other words their industrialization. May I therefore wish every success to this venture which is today getting off to a new start. The millions of men and women who must back it and who are also to benefit from it, the men and women who have placed their hopes in it, must not be disappointed. I can assure you that within the European Economic Community the Commission will for its part do all in its power to ensure the success of this agreement which, under the name of the Yaoundé Convention, has so felicitously brought us together here today.

DAS EUROPA DER „ÄUßEREN SIEBEN“. DIE „SURCHARGE“-KRISE DER EUROPÄISCHEN FREIHANDELSGEMEINSCHAFT IM HERBST 1964 1 Wolfram Kaiser Als Resultat ihrer Erweiterung auf inzwischen 28 Mitgliedstaaten zum 1. Juli 2013 ist die heutige Europäische Union (EU) nahezu identisch mit einem geografisch definierten Europa. Das war in der frühen Nachkriegszeit keineswegs so. Vielmehr wurde das „Kerneuropa“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951/52) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957/58) von nur sechs westeuropäischen Staaten gegründet, nämlich Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Andere demokratisch verfasste Staaten Westeuropas schlossen sich zunächst nicht an. Großbritanniens noch immer enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem Commonwealth schienen die Teilnahme an einer europäischen Zollunion auszuschließen, die Schweiz, Schweden und (wenngleich weniger rigide) Österreich lehnten diese Option zunächst als nicht kompatibel mit ihrer Neutralität ab, und die sozialdemokratisch regierten Länder Dänemark und Norwegen entschieden sich gegen die Teilnahme, weil sie für zwischenstaatliche institutionelle Lösungen waren und das neue „Kerneuropa“ vielfach als katholisch und konservativ dominiert wahrnahmen. 2 Noch während der Verhandlungen, die zur EWG-Gründung führen sollten, schlug die konservative britische Regierung zunächst im Rahmen der Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) vor, eine größere und institutionell strikt zwischenstaatliche Freihandelszone zu gründen. 3 Damit wollte sie vor allem die wirtschaftlichen Gefahren ihres Selbstausschlusses von der EWG abwenden. Die anschließenden Regierungsverhandlungen scheiterten jedoch endgültig Ende 1958 am ersten europäischen Veto des neuen französischen Präsidenten Charles de Gaulle. Daraufhin gründeten Großbritannien, Schweden, Norwegen, Dänemark, die Schweiz, Österreich und Portugal 1959/60 die Europäi-

1 2 3

Essay zur Quelle: European Free Trade Association, Sitzung des Ministerrats (19.–20. November 1964). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Zur Europapolitik der „latecomer“ siehe in vergleichender Perspektive: Kaiser, Wolfram; Elvert, Jürgen (Hgg.), European Union Enlargement. A Comparative History, London 2004. Kaiser, Wolfram, Großbritannien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1955–1961. Von Messina nach Canossa, Berlin 1996.

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sche Freihandelsgemeinschaft (EFTA). 4 Anders als die EWG war diese Organisation zwischenstaatlich organisiert und anfänglich ausschließlich auf den zollfreien Handel von Industrieprodukten ausgerichtet. Außerdem war der Vertrag informell mit bilateralen Konzessionen im landwirtschaftlichen Handel diplomatisch verbunden. Allerdings sah die EFTA durchaus Mehrheitsabstimmungen vor, und zwar in Abwesenheit eines supranationalen Gerichtshofs wie in der EWG durch die Mitgliedstaaten, um einen Vertragsbruch festzustellen und andere Mitgliedstaaten zu Gegenmaßnahmen zu autorisieren. Mit der Ausnahme der Schweiz, Liechtensteins, Norwegens und Islands sind inzwischen (2016) alle früheren EFTA-Staaten der EU beigetreten. Norwegen und Liechtenstein sind immerhin über den Europäischen Wirtschaftsraum wirtschaftlich, rechtlich und institutionell eng mit der EU verbunden, allerdings ohne direkten Einfluss auf EU-Entscheidungen zu haben. Die Rolle der EFTA beschränkt sich daher inzwischen hauptsächlich auf die informelle Koordinierung der Außenhandelspolitik der Mitgliedstaaten, vor allem im Kontext der Welthandelsorganisation (WTO). Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EFTA nach ihrer Gründung wichtige Funktionen im europäischen Integrationsprozess hatte. Diese waren zunächst wirtschaftlicher Natur. So gelang es der EFTA anderthalb Jahre vor der EWG, alle Binnenzölle auf Industrieprodukte zum 31. Dezember 1966 abzuschaffen. Die industrielle Freihandelszone schuf indirekt erstmals einen weitgehend integrierten Wirtschaftsraum der nordischen Staaten, deren grenzüberschreitender Handel nach der EFTA-Gründung geradezu explodierte. Wie erst in Ansätzen erforscht worden ist, war die EFTA mit ihren Institutionen darüber hinaus nicht nur auf Regierungsebene, sondern auch für gesellschaftliche Organisationen wie politische Parteien und Gewerkschaften ein Forum für grenzüberschreitende Kontakte und Sozialisierung, zunächst im EFTA-Rahmen, aber später auch organisationsübergreifend mit staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aus der heutigen EU. Dies half wiederum, kulturelle Barrieren gegen eine Annäherung und einen möglichen Beitritt zur EWG/EU abzubauen. Die EFTA litt jedoch von Anfang an unter erheblichen strukturellen ökonomischen, politischen und institutionellen Schwächen, die in der sogenannten „surcharge“-Krise im Herbst 1964 auf das Schärfste deutlich wurden. 5 Dies war knapp ein Jahr bevor die EWG ihrerseits infolge der Politik des leeren Stuhls ihre größte Krise bis dato erlebte, als de Gaulle alle Sitzungen des Ministerrats durch französische Absenz boykottieren ließ. Die neue britische Labour-Regierung von Premierminister Harold Wilson löste die „surcharge“-Krise mit der Erhöhung aller Zölle auf industrielle Importe um 15 Prozent im Oktober 1964 aus, mit der sie das wachsende Zahlungsbilanzdefizit Großbritanniens kontrollieren wollte. Dieses 4 5

af Malmborg, Mikael; Laursen, Johnny, The Creation of EFTA, in: Olesen, Thorsten B. (Hg.), Interdependence versus Integration. Denmark, Scandinavia and Western Europe, 1945–1960, Odense 1995, S. 197–212. Kaiser, Wolfram, The Successes and Limits of Industrial Market Integration. The European Free Trade Association 1963–1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 371–390.

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war keinesfalls exorbitant hoch, aber aus britischer Sicht deshalb besorgniserregend, weil das Land eigentlich Zahlungsbilanzüberschüsse erwirtschaften musste, um weiterhin den Sterling-Währungsraum und seine verbliebene Großmachtrolle zu finanzieren. Anstatt binnenwirtschaftliche Maßnahmen wie eine Abwertung des Pfund Sterling oder die zeitweise Wiedereinführung von quantitativen Beschränkungen zur Begrenzung steigender Importe zu wählen, entschied sich die Regierung Wilson ausgerechnet für die einzige Politikoption, die im Rahmen des EFTA-Vertrags offensichtlich illegal war. Sie tat dies zunächst, ohne die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf die EFTA überhaupt sorgfältig zu erwägen oder gar die anderen EFTA-Regierungen zu konsultieren. Als diese sehr scharf protestierten, bemühte sich die britische Regierung halbherzig, die EFTA-Staaten de facto von der Zollerhöhung auszunehmen, verzichtete darauf aber sofort, als deutlich wurde, dass die Vereinigten Staaten, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland unter diesen Umständen nicht bereit gewesen wären, Großbritannien dringend benötigte Kredite zur Verfügung zu stellen. Vor diesem Hintergrund wurden die Auswirkungen der britischen Zollerhöhung auf die EFTA und deren Handel zunächst auf Beamtenebene diskutiert, bevor sich am 19.–20. November 1964 die Außen- und Handelsminister der EFTAStaaten im Finnland-EFTA-Ministerrat trafen. Bei diesem Gremium handelte es sich zunächst um eine institutionelle Konzession an die Sowjetunion als Vorbedingung für deren Zustimmung zur Assoziierung Finnlands mit der EFTA im Jahr 1961. Nach und nach trafen sich die Vertreter der sieben EFTA-Regierungen jedoch nicht mehr separat – als EFTA-Ministerrat –, sondern nur noch mit den finnischen Vertretern in diesem Gremium. Insofern wurde Finnland bis 1964 de facto, wenngleich nicht de jure, ein gleichberechtigtes Mitglied der Organisation. Der Auszug aus dem Protokoll dieser Sitzung vom November 1964, der diesem Essay als Quelle beigefügt ist 6, verdeutlicht auf eindeutige Weise die Bedenken und Einwände der Partner Großbritanniens gegen die Zollerhöhung. Vor allem die Schweizer und schwedischen Minister kritisierten die britische Politik scharf und hielten ohne Wenn und Aber fest, dass die Maßnahme illegal war. Hans Schaffner, der Schweizer Handelsminister, stellte klar: „The 15 per cent charge was not compatible with the Stockholm Convention.“ Besonders die Schweden und Dänen verwiesen auch darauf, wie nachteilig die britische Maßnahme nicht nur für den EFTA-Handel war, sondern auch für den politischen Zusammenhalt der Organisation. Der schwedische Handelsminister Gunnar Lange warnte: „The measure itself and the way it had been handled contributed to the crisis of confidence in which EFTA now found itself. [...] Unintentionally it had dealt a severe blow to the Association which he could only hope would not be fatal“.

Der sozialdemokratische Außenminister Dänemarks, Per Haekkerup, verwies auf die parlamentarische Initiative der Konservativen und der rechtsliberalen Venstre6

Joint Council FINLAND-EFTA, 25. Sitzung, 19.–20.11.1964, EFTA-Archiv Genf, FINEFTA/JC.SR 25/64, 22.01.1965. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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Partei, die nun zunehmend offen dafür plädierten, zur EWG überzulaufen, wozu Dänemark schon im Januar 1963 von de Gaulle eingeladen worden war, als dieser den Beitritt Großbritanniens erstmals blockierte. Die Teilnehmer an der vertraulichen Sitzung äußerten sich sehr direkt. Die scharfe Kritik an der britischen Politik spiegelt nicht zuletzt die sich rasch verbreitende Wahrnehmung wider, dass Großbritannien als Führungsmacht innerhalb der EFTA und in der europäischen Politik sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu schwach war und wegen seines ursprünglichen Selbstausschlusses vom „Kerneuropa“ der sechs Gründungsstaaten auch nicht über genügend Einfluss verfügte, um gegen die Präferenzen de Gaulles die handelspolitische Spaltung Westeuropas in die EWG und EFTA zu überwinden. Nach einem ersten vergeblichen Versuch 1960, ein handelspolitisches Arrangement zwischen den beiden Blöcken zu erreichen, hatte die konservative britische Regierung im Jahr 1961 den Beitritt zur EWG beantragt. Dieser Versuch, wirtschaftliche Kerninteressen und eine vermeintliche Sonderstellung in den transatlantischen Beziehungen zu sichern, scheiterte jedoch im Januar 1963 an dem Veto de Gaulles. Obwohl Premierminister Harold Macmillan den EFTA-Regierungen 1961 zugesagt hatte, ihre Kerninteressen in den Verhandlungen zu wahren, waren diese allerdings bis Januar 1963 über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Dänemark hinaus noch nicht einmal thematisiert worden. Von der neuen Labour-Regierung, die 1964 gewählt wurde, hatten sich die EFTA-Staaten eher eine Stärkung des inneren Zusammenhalts der EFTA erwartet, sodass sie von der „surcharge“-Entscheidung besonders enttäuscht waren. Schließlich beantragte die Regierung Wilson 1967 sogar selbst den EWG-Beitritt, der allerdings erst Anfang 1973 erfolgen sollte. Ob bürgerlich oder mehr sozialdemokratisch in ihrer politischen Orientierung, waren sich alle anderen EFTA-Regierungen einschließlich des portugiesischen Vertreters der Salazar-Diktatur einig, dass die britische Wirtschaftspolitik ungeeignet war, die immer deutlicher zu Tage tretenden strukturellen Probleme des Landes zu lösen. Außerdem hatte die britische Zollerhöhung massive Auswirkungen auf den Handel der kleineren EFTA-Staaten, die – vor allem im Falle der skandinavischen Länder – einen bedeutenden Teil ihres Außenhandels mit Großbritannien abwickelten. Zugleich blieben Staaten wie die Schweiz und Österreich in ihrem Handel stärker auf die Bundesrepublik Deutschland (und teilweise Frankreich und Italien) orientiert, da die Zollerleichterungen nicht die anderen Wettbewerbsvorteile wie geografische Nähe ausgleichen konnten. Der Verlauf der „surcharge“-Krise verdeutlicht darüber hinaus auch eine gravierende institutionelle Schwäche der EFTA. Die britische Regierung versuchte gar nicht erst, ihre Zollerhöhung als mit dem EFTA-Vertrag vereinbar darzustellen. Sie stimmte vielmehr zu, dass diese eindeutig illegal war. Für diesen Fall hätte es jedoch die Option gegeben, dazu einen formellen Beschluss zu fassen und die anderen EFTA-Staaten zu ermächtigen, gleichwertige Gegenmaßnahmen gegen Importe aus Großbritannien zu ergreifen. Die EFTA-Partner entschieden sich jedoch dagegen. Für diesen Fall wäre die Organisation vermutlich zerbrochen. Großbritannien wäre öffentlich diskreditiert gewesen, während Finnland und Portugal, aber auch die Schweiz und Schweden andererseits keine Möglichkeit sahen,

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in einem solchen Fall der EWG beizutreten – dies abgesehen davon, dass gerade gegen die Assoziierung der Schweiz und Schwedens innerhalb der EWG große Vorbehalte bestanden, da erwartet wurde, dass beide Länder zwar die wirtschaftlichen Vorteile, aber ohne die rechtlich-institutionellen und finanziellen Verpflichtungen wählen wollten, sodass beide Länder in der Europäischen Kommission sogar als „les nations SS“ bekannt waren. 7 Innerhalb der EWG wäre hingegen die Kommission verpflichtet gewesen, einen so eklatanten Vertragsbruch durch einen Mitgliedstaat vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, und dieser, den Mitgliedstaat zu vertragskonformem Verhalten zu verpflichten. Diese supranationale rechtlich-institutionelle Organisation der heutigen EU reflektiert nicht nur die ursprünglichen tendenziell föderalistischen Präferenzen der Gründungsstaaten, sondern hat sich auch als insgesamt wirksamer konstitutioneller Rahmen erwiesen, um kleinere Mitgliedstaaten genauso wie schwächere gesellschaftliche Akteure und Interessen vor der Willkür der „Großen“ zu schützen. Literaturhinweise Kaiser, Wolfram, Großbritannien und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1955–1961. Von Messina nach Canossa, Berlin 1996. Ders.; Elvert, Jürgen (Hgg.), European Union Enlargement. A Comparative History, London 2004. Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001.

Quelle European Free Trade Association, Sitzung des Ministerrats (19.–20. November 1964) 8 [...] The Chairman [Douglas Jay, WK], speaking as the United Kingdom Delegate, opened the discussion. He emphasized the great importance attached by the new Government of his country to EFTA, both in the present and in the future. It was, therefore, somewhat ironical that within so short a time after taking office that the Government had had to institute measures which must have surprised and disappointed many of its EFTA partners. [...] In his Government’s opinion it was no less in the interests of the other EFTA countries and many other sterling countries that the currency [pound sterling, WK] should be strengthened and its strength demonstrated. Action had had to be taken to that end. [...] It could be argued that it would have been better in the circumstances for the United Kingdom to impose quotas 7

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Laut dem französischen Botschafter in Schweden, de la Chauvinière. Zitiert nach af Malmborg, Mikael, Gaullism in the North? Sweden, Finland and the EEC in the 1960s, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 489–508. Joint Council FINLAND-EFTA, 25. Sitzung, 19.–20.11.1964, EFTA-Archiv Genf, FINEFTA/JC.SR 25/64, 22.1.1965, Transkription durch Wolfram Kaiser. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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rather than a surcharge. The reason why that had not been done was that the necessary machinery had been dismantled and it would not have been practicable to institute quotas before the growth of imports became too great. [...] In either case the effect on imports in total would have been the same. [...] The same would have been true had internal deflationary measures been taken. [...] Moreover, in the short term it would have been as damaging to the other EFTA countries as either quotas or import charges. [...] Since his Government regarded the strengthening and cohesion of EFTA as a major aim of British political and economic policy, it had been extremely anxious to frame and conduct the measures taken as to minimize the temporary disadvantage caused to Britain’s EFTA partners. As Ministers were aware, his Government had considered very carefully the possibility of unilateral acceleration of the protective industrial tariffs that it still maintained within EFTA. [...] The responsibility for having to sacrifice that solution did not lie with the United Kingdom. [...] The United Kingdom Delegate [Patrick Gordon-Walker, WK] said that from the point of view of foreign policy his Government regarded the continuing success, expansion and prosperity of EFTA as one of its major national interests. Commenting that it was the first time a British Foreign Secretary had attended a meeting of the Council, he suggested that it might be useful if the Foreign Ministers of the EFTA countries met from time to time to discuss the whole range of common problems and policies. EFTA, which he regarded as having great permanent value, had been steadily acquiring a role of increasing stature in the world and greater account was being taken of it on both sides of the Atlantic. One sign of that was the fact that it was now the subject of attack from people outside who did not wish it well. [...] A strong EFTA and a weak Britain or any other Member state was impossible. He assured Ministers that the United Kingdom Government would do all it could, in the immediate difficulties and thereafter, to help EFTA: it felt itself wholly and completely a part of the Association. [...] The question was not whether the charge could be abolished immediately or in the very near future but what else would have to be done in that case. [...] He thought all alternatives would have the same, if not worse, effects for EFTA. [...] Turning to the time factor, he said it was the firm intention of the Government that the charge should be only temporary. However, an exact date for its removal could not be given. [...] In conclusion he said that the United Kingdom was very ready to agree to proposals for an economic policy committee within EFTA to consider the economic situation and problems of Member countries and other matters of common interests. [...] The Swiss Delegate [Hans Schaffner, WK] thanked the United Kingdom Delegates for the positive aspects of their statements [...]. He would only point out that the development of trade with Switzerland had been very encouraging for the British economy ever since the foundation of EFTA. From 1960 to 1963 British exports to Switzerland had increased by 62 per cent and British imports from Switzerland by 36 per cent. At the same time the trade balance in favour of Great Britain had shown an increase of 77 per cent. [...] If the total of British exports was unsatisfactory, that was definitely not due to the trade with Switzerland. However, as to the methods applied by Great Britain to improve its balance of payments, in his opinion they ran counter to a policy of integration, were incompatible with the rules of the Stockholm Convention, and had shaken confidence in the future of EFTA. [...] The measures were contrary to integration for they cancelled unilaterally the advantages conceded on tariff cuts [...]. The measures were in effect protectionist and represented, from the EFTA point of view, a reversal of the integration so far achieved. [...] In his opinion there was little doubt that the 15 per cent charge, if not abolished within a few months, would not only

Das Europa der „äußeren Sieben“

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perpetuate a unilateral disintegration but also start a vicious circle fraught with the risk of leading to the devaluation of sterling. [...] The 15 per cent charge was not compatible with the Stockholm Convention. [...] The Association was now faced with a breach of the Convention and that was most damaging in a closely knit association with precisely defined objectives. If the rule of law were not quickly restored the disruption would go further, causing more uncertainty and distrust. [...] In the circumstances the Swiss Government urgently requested the Government of the United Kingdom to give the following assurances: (a) to reduce the charge from 15 to, say, 10 per cent in a matter of weeks; [...] (b) to eliminate the charge altogether in a matter of a few months; [...] The Swiss Delegate [Friedrich Traugott Wahlen, WK] drew attention to the effects of the British measures. In EFTA itself there was no doubt that a great deal of damage had been done to the confidence linking the eight countries. A step had been taken which, in the eyes of the small EFTA countries that also had very difficult economic problems to solve, might seem like an invitation to take unilateral measures that were indefensible under the Convention. That, of course, would be the beginning of the end. As to integration as a whole, in the last few years EFTA had grown in appreciation whereas the European Economic Community had experienced great difficulties. The disintegrating factor introduced into EFTA by the British action went beyond the boundaries of EFTA and affected the Members of the EEC, strengthening their approach while weakening that of the EFTA countries. [...] The Swedish Delegate [Gunnar Lange, WK] said his Government had taken note with great apprehension and anxiety of the message from the British Foreign Secretary [...] regarding the introduction [...] of a 15 per cent charge on imports from all sources, thus including also imports from the EFTA countries [...] If imports into the United Kingdom from EFTA countries had increased by 26 per cent in the first nine months of 1964, at the same time imports from the EEC had increased by 25 per cent and imports from the United States by even more. EFTA was, therefore, not in a special position in that respect. On the other hand, the reduction in trade resulting from the British measures would hit the small EFTA countries harder than the EEC and the United States because the United Kingdom was a much bigger market for them. That was one of the reasons for the very critical attitude taken within EFTA. The import charge was obviously incompatible with the Convention. The measure itself and the way it had been handled contributed to the crisis of confidence in which EFTA now found itself. [...] Unintentionally it had dealt a severe blow to the Association which he could only hope would not be fatal. [...] In the Swedish view the first step to be taken must be to create efficient machinery to handle not only the present critical situation of the United Kingdom but also to prevent similar situations from arising in the future. Had such machinery been operating the British difficulties could probably have been tackled already in the summer and solutions arrived at that would have been much less detrimental than those now adopted. [...] The Danish Delegate [Per Haekkerup, WK] said his country was the least affected by the import charge [...], as only 13 per cent of Danish exports to that country would come under the rule. He, therefore, wished to speak [...] rather of the question of general principle involved in the British action. [...] He associated himself with those speakers who had said that the most important consideration was that the step taken by the United Kingdom Government was against the letter and the spirit of the EFTA Convention. [...] What would be the consequences of it? Other EFTA countries were experiencing balance of payments diffi-

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culties. In the case of Denmark the deficit in the balance of payments for the first six months of 1964 had been half that of the United Kingdom, but on a per capita basis it was seven times as great. [...] When the United Kingdom introduced methods that merely resulted in part of its balance of payments difficulties being transferred to Denmark, all the arguments were on the side of the element in the country that desired affiliation with the EEC. It gave them a basis for saying that EFTA was not really the solution for Denmark. Thus the previous week the two big opposition parties in the Danish Parliament [the Conservatives and the liberal Venstre, WK], which held 40 per cent of the votes, had come forward for the first time with resolutions demanding a reversal of Denmark’s marketing policy. The Government had succeeded in avoiding a vote on that and in getting a compromise solution voted. [...] Ministers then held an informal discussion of this item of their agenda, of which the following is an agreed minute: (1) Ministers have considered the report of the working party which had been studying the recent British economic measures and their implications for EFTA. (2) The other Ministers pointed out to the British Ministers that the application of the 15 per cent charge on imports into the United Kingdom was inconsistent with the United Kingdom’s obligations under the Convention and the Association Agreement [with Finland, WK]. It was generally urged on British Ministers that a firm date in a few months’ time should be fixed for removing or reducing the charge. (...) (3) British Ministers, while not claiming that the charge came within the terms of the Convention and the Association Agreement, pointed out that Article 19 provided for the use of quantitative restrictions on imports to correct a serious balance of payments deficit. Although such measures would have brought the United Kingdom within the terms of the Stockholm Convention, they would, in the British view, have been more damaging to EFTA and to the development of EFTA trade in the United Kingdom market. British Ministers affirmed that the charge was a temporary measure and that the British Government was firmly resolved in the interests of the United Kingdom, as well as that of their EFTA partners, to reduce it and to abolish it at the earliest possible moment. [...] (6) The Council of Ministers agreed to keep the situation under close and continuous review. [...] (8) Furthermore, in order to provide better means for giving effect in future to the consultations provided for in Article 30 of the Convention, Ministers decided to set up an Economic Committee of senior officials from capitals to meet as frequently as necessary. [...]

AUF DER SUCHE NACH DEM EUROPÄER. WISSENSCHAFTLICHE KONSTRUKTIONEN DES HOMO EUROPAEUS 1 Veronika Lipphardt und Kiran Klaus Patel Europa ist eine Erfindung des Europäers – aber wer erfand den Europäer? Vorstellungen vom „europäischen Menschen“ gehen bis in die Antike zurück. Damals betrachtete man dessen Eigenschaften – Stärke, Kriegslust, geistige Regheit – als Folgen des wechselnden Klimas in Europa, während das gleichmäßige Klima Asiens angeblich Gleichgültigkeit und Feigheit hervorrufe. 2 Als wissenschaftliche Kategorie taucht der Begriff des „Homo Europaeus“ erstmals bei Carl Linné 1735 in seinem Werk Systema Naturae auf, in dem er den „Homo Europaeus“ als Unterart des „Homo Sapiens“ in sein Klassifikationssystem der Lebewesen einführte und ihn vom „Homo Asiaticus Luridus“, „Homo Africanus“ und „Homo Americanus Rufus“ unterschied. Seitdem sind die sogenannten exakten Naturwissenschaften mit der Klassifizierung, Beschreibung und Erforschung der Varietäten der menschlichen Spezies beschäftigt. Während Linné sich darum bemühte, in seinem Klassifikationssystem die Ordnung der Natur, „systema naturae“, abzubilden, betrieben Philosophen das Klassifizieren und Ordnen von Wissensbeständen mit einem weit umfassenderen Anspruch. Parallel zum Aufstieg der modernen Wissenschaften und eng damit verbunden vollzog sich der Siegeszug der modernen Enzyklopädien, weshalb das 18. Jahrhundert auch das „Jahrhundert der Enzyklopädie“ genannt wird. Deren Initiatoren sahen in der Kompilation und Systematisierung sämtlichen Wissens der Menschheit eine Hauptaufgabe der Gelehrten. In Anlehnung an ältere Traditionen organisierten sie ihre Enzyklopädien zunächst in der Form eines „Baums des Wissens“, kehrten diesem Prinzip jedoch zunehmend den Rücken zu: Die moderne Enzyklopädie sollte sich vor allem durch ihre alphabetische, nichthierarchische Ordnung auszeichnen, wobei ein ausgefeiltes Verweissystem die „natürliche“ Verflochtenheit der einzelnen Wissensbestände untereinander zum Vorschein bringen sollte. Der 1707 geborene Linné überlebte die Entstehung der berühmtesten Enzyklopädie, der binnen eines Vierteljahrhunderts publizierten Encyclopédie von Diderot und D’Alembert, um sechs Jahre.

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Essay zur Quelle: Brockhaus Enzyklopädie, Artikel „Europide, europider Rassenkreis“ (1968). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. Schmale, Wolfgang, Die Konstruktion des Homo Europaeus, in: Comparative European History Review 1 (2001), S. 165–184, hier S. 167.

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Wenn hier der Brockhaus – in der Erstauflage rund 50 Jahre jünger als die Encyclopédie, aber seitdem durch mehr Neuauflagen und Überarbeitungen gesegnet – als Textquelle herangezogen wird, so handelt es sich um ein Medium, dass sich selbst früh die „Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse“ zur Aufgabe gemacht hatte. 3 Enzyklopädien und Lexika erheben somit den Anspruch, den konsolidierten Wissensstand einer Gesellschaft wiederzugeben; zugleich führen sie die Forschungserkenntnisse verschiedener Disziplinen zusammen. Sie geben Auskunft über die Ordnung des Wissens, das heißt über die Frage, welche Disziplinen und Ansätze für ein Problem als auskunftsfähig gelten. Sie bilden ab, was zu einer Zeit in einer Gesellschaft gesagt werden kann und was nicht. Die Enzyklopädieforschung zielt dementsprechend darauf ab, gesellschaftlich breiter wirksame Ideen zu erfassen, anstatt sich den ideengeschichtlichen Konturen einer Epoche über die Werke der bedeutendsten Philosophen oder Schriftsteller zu nähern. Im konkreten Fall eines Brockhaus-Eintrags über „Europide“ haben wir es vordergründig mit Wissensbeständen der Biowissenschaften zu tun. Seit Carl Linnés erster Klassifikation bemühten sich Anthropologen darum, die biologischen Erkennungsmerkmale der nichteuropäischen wie auch der europäischen Menschen zu erfassen und klare, naturwissenschaftlich fundierte Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen zu ziehen. Johann Friedrich Blumenbach, der als Begründer der neuzeitlichen Anthropologie gilt, differenzierte 1795 fünf Menschenrassen. Er prägte für Menschen weißer Hautfarbe, die seiner Ansicht nach dem Kaukasus entstammten und die Ahnherren der Menschheit gewesen sein mussten, den Begriff „Kaukasier“. 4 In der Folge arbeiteten europäische und amerikanische Anthropologen mit drei- bis fünfteiligen Klassifikationsschemata. Schon in den 1930er-Jahren setzte sich in Europa, unter anderem in Deutschland, eine Dreiteilung durch, die bis in die 1990er-Jahre auch in deutschen Lexika und Lehrbüchern nachzulesen war: „Europide“ – „Negride“ – „Mongolide“. In den USA etablierte sich im Lauf des 20. Jahrhundert eine fünfteilige Klassifikation: „Caucaisan“ oder „White“; „African American“ oder „Black“; „Asian“; „Native Hawaiian“ (sowie „Other Pacific Islander“) und schließlich „American Indian“ (sowie „Alaska Native“). Diese Einteilung dient dem amerikanischen Zensus bis heute als Grundlage. 5 3 4

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Zur Charakteristik und Geschichte des Conversations-Lexikons, in: Brockhaus Conversations-Lexikon, 1. Aufl., Bd. 15, 1868, S. V–XXIV, hier S. V. Blumenbach, Johann Friedrich, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, Leipzig 1798. In seiner Dissertation (De Generis Humani Varietate Nativa Liber, Göttingen 1776) hatte Blumenbach noch die Linné’sche Klassifikation benutzt. Eine kürzlich erschienene Gesamtdarstellung zum Konstrukt der „Caucasian Race“ schildert vorwiegend die Entwicklung in den USA: Baum, Bruce, The Rise and Fall of the Caucasian Race. A Political History of Racial Identity, New York 2006. Vgl. Jacobson, Matthew F., Whiteness of a Different Color. European Immigrants and the Alchemy of Race, Cambridge 1998; vgl URL: (16.11.2015). Der US-Census 2000 unterscheidet folgende „Race alone“-Kategorien: „White alone“, „Black or African-American alone“, „American Indian or

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Dass die Europäer eine eindeutig abgrenzbare Gruppe darstellten, wurde von den Anthropologen lange Zeit so selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie weniger als Forschungsobjekt, sondern vielmehr als Referenz- und Kontrollgröße gegenüber den intensiv beforschten Nichteuropäern herangezogen wurden. Auf Forschungsreisen in den Kolonien versuchten Anthropologen und Mediziner, Menschengruppen nach körperlichen Merkmalen zu unterscheiden und miteinander zu vergleichen. Dabei stellten sie den Europäer dem Nicht-Europäer gegenüber und wandten das anthropologische Methodeninstrumentarium auf beide Gruppen an. 6 Mehr Aufmerksamkeit erfuhr jedoch die Abgrenzung der verschiedenen Europäer untereinander. Vor dem Hintergrund des gemeinsamen, als selbstverständlich vorausgesetzten Europäertums konzentrierten sich die Anthropologen auf die biologischen Grenzen zwischen den Europäern: zwischen Süd-, Ost- und Nordeuropäern, zwischen Nationen und noch feiner differenzierten Gruppen. Das hob jedoch die grobe Einteilung der Menschheit in drei bis fünf Rassen nicht auf. Im nationalsozialistischen Deutschland erlangte die Vorstellung einer „arischen Rasse“ zwar wesentlich mehr Bedeutung, aber die Dreiteilung der Menschheit, die der Anthropologe Egon Freiherr von Eickstedt zu Beginn der 1930er-Jahre in die deutsche Anthropologie eingeführt hatte, blieb als gesichertes Wissen bestehen. 7 Das hierarchisch organisierte Klassifikationssystem der Biologie erlaubt es, eine bestimmte klassifikatorische Ebene in den Blick zu nehmen, ohne dabei die über- oder untergeordnete zu negieren. Je nach Interesse des Klassifizierenden rückte die Klassifizierungsebene der Europiden also lediglich in den Hintergrund; sie büßte an Visibilität ein. Sie konnte jedoch auch, auf Kosten der untergeordneten Klassifikationsebene, besonders hervorgehoben werden. Zum Beispiel vertrat Julian Huxley, ein britischer Anthropologe, in den späten 1930er-Jahren die Ansicht, es sei nicht möglich, die Europäer in noch kleinere Gruppen zu untertei-

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Alaska Native alone“, „Asian alone“, „Native Hawaiian or other Pacific Islander alone“ und erlaubt zusätzlich eine freie „Race alone“-Kategorie: „Some other race alone“. Außerdem wurden 2000 für kompliziertere Fälle erstmals Mehrfachnennungen und Unterkategorien ermöglicht, die der Diversität der US-Bevölkerung Rechnung tragen sollten, welche aufgrund von „interracial marriages and immigration“ stetig zunehme, vgl. ebd., Eintrag „Race“; vgl. Executice Office of the President (Office of Management and Budget, OMB), Draft: Provisional Guidance on the Implementation of the 1997 Standards for the Collection of Federal Data on Race and Ethnicity, December 15, 2000, S.6; vgl. URL: (16.11.2015). Vgl. z.B. Bruck, Carl, Die biologische Differenzierung von Affenarten und menschlichen Rassen durch spezifische Blutreaktionen, in: Berliner klinische Wochenschrift (1907), H. 26, S. 793–797. Besonders großes anthropologisches Interesse erfuhr der Nachwuchs aus „Rassenkreuzungen“, was jedoch die Unterscheidbarkeit der Eltern voraussetzte. Auch hierbei wurde zwischen Europäern und „Eingeborenen“ unterschieden und nicht zwischen einzelnen Nationen; so z.B. bei Fischer, Eugen, Die Rehobother Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen. Anthropologische und ethnographische Studien am Rehobother Bastardvolk in Deutsch-Südwest-Afrika, Jena 1913. Vgl. Eickstedt, Egon von, Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit, Stuttgart 1934.

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len. Daraus folgte, dass die Europäer nicht gut daran taten, Aversionen gegeneinander zu hegen, sondern sich besser auf ihre Zusammengehörigkeit besinnen sollten. An der Dreiteilung der Menschheit hielt aber auch Huxley fest. Letztlich verlieh er damit dem Wissen um den Europäer eine höhere Bedeutung als etwa seine deutschen Kollegen. Ein Dissens ergab sich so nur hinsichtlich der Frage der Differenzen zwischen Europäern und der daraus folgenden innereuropäischen Konsequenzen. Dass es „den Europäer“ gab und dass er sich vom Nicht-Europäer unterschied, war hingegen Konsens. 8 Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die nationalsozialistische Rassentheorie, der Rassismus und die Vorstellung einer „arischen Rasse“ unter Anthropologen als inakzeptabel. Für das Antirassismus-Statement der UNESCO von 1950/51 engagierten sich Biologen aus der ganzen Welt. Nichtsdestotrotz hielt sich in der Humanbiologie das „Wissen“ um die Unterschiedlichkeit der drei bzw. fünf „Großrassen“ der Menschheit als wissenschaftlich bewiesene „Tatsache“; man distanzierte sich lediglich vom Missbrauch jener Kategorien. Allerdings gelang es Biowissenschaftlern und Populationsgenetikern gegen Ende des 20. Jahrhunderts, das Rassenkonzept nachhaltig zu kritisieren und dem interessierten Publikum eine klar verständliche Argumentation für diese Kritik zu vermitteln. Die genetische Diversität der Menschheit ließe keine Grobeinteilungen zu, so das Hauptargument. Vielmehr bestünde sie aus zahllosen Populationen, zwischen denen kontinuierliche Übergänge herrschten. 9 Aufklärende und pädagogische Publikationen berufen sich auf zwei weitere Argumente 10: Zum einen heißt es, die individuellen genetischen Differenzen könnten innerhalb einer ethnischen Gruppe viel größer sein als zwischen den Vertretern zweier Ethnien; zum anderen wird hervorgehoben, dass die Menschheit – verglichen mit anderen Spezies – genetisch so homogen sei, dass man nur von einer sehr nah verwandten Großgruppe sprechen könne, die sich von Afrika ausgehend über den gesamten Globus verbreitet habe. 11 Diese Konklusionen implizieren, dass jedwede Grenzziehung zwischen verschiedenen menschlichen Populationen ein epistemisch unsinniges Unterfangen sei. Die Humanbiologie solle den Begriff der Rasse daher endgültig aufgeben, forderten Wissenschaftler wie Politiker in den 1990er-Jahren. 12 Zwar fand diese 8

Vgl. Huxley, Julian S.; Haddon, Alfred C.; Carr-Saunders, Alexander M., We Europeans. A Survey of „Racial“ Problems, New York 1936. 9 Cavalli-Sforza, Luca, Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage, München 1994. 10 Vgl. z.B. die Website der American Anthropology Association, URLs: und (16.11.2015). 11 Alle drei Argumentationsmuster funktionieren nur dann, wenn andere Thesen und Ergebnisse aus der Diversitätsforschung vorübergehend ausgeblendet werden. Siehe z.B. Schüller, Christian; Leet, Petrus van der, Rasse Mensch. Jeder Mensch ein Mischling, Aschaffenburg 1999. Als Beispiel der dritten Argumentation siehe die Wanderausstellung „Wir Afrikaner. Die genetische Verwandtschaft der Menschen“ aus dem Jahr 2006; vgl. URL: (16.11.2015). 12 Vgl. Stoczkowski, Wiktor, L’antiracisme doit-il romper avec la science? In: La Recherche 401 (2006), S. 44–48. Zwei bedeutende Dokumente seien hier zitiert: „‚Rassen’ des Men-

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Forderung breite gesellschaftliche Zustimmung, auch unter den Adressaten, aber vor allem aus Gründen der Praktikabilität und Kompatibilität bleibt die Forschung dabei, Klassifikationen mit einigen wenigen Kategorien zu verwenden. Warum das so ist, wird noch zu zeigen sein. Ohne Zweifel bietet die Populationsgenetik mit dem Populationskonzept und ihrer klaren Absage an das Denkmuster „Rasse“ eine äußerst wichtige Grundlage für jede wissenschaftliche, pädagogische und politische Herangehensweise an das Thema Humandiversität. Allerdings bedarf auch das Populationskonzept selbst einer kritischen Betrachtung. Es kann nämlich nicht darum gehen, eine „falsche“, weil „nicht der Natur entsprechende“, Kategorisierung durch eine „richtige“, die Natur treffend abbildende, zu ersetzen. Vielmehr basieren – so unsere These – sämtliche Versuche naturwissenschaftlicher Objektivierung, das heißt sämtliche Definitions- und Unterscheidungsversuche zwischen Menschengruppen, auf kulturellen Grundlagen. Mit dem Begriff der biohistorischen Narrative kann gezeigt werden, wie kulturelle Vorannahmen in biowissenschaftliche Forschungen einfließen, und wie zum anderen die Forschungsergebnisse die diskursiv vermittelten Vorstellungen von der menschlichen Natur beeinflussen. Biohistorische Narrative sind Erzählungen über die Natur, Geschichten über Vererbung, Diversität, geografische Barrieren, Migration, Selektion, Generationen und Evolution, die zur unverzichtbaren Grundlage für die empirischen Lebenswissenschaften geworden sind, aber selten als deren kulturelle Vorannahmen reflektiert werden. Die biologische Geschichte des Europäers ist ein Beispiel für eine solche Narration: Durch ihre jahrtausende währende Anwesenheit in Europa und die dort auf sie einwirkenden biologischen Faktoren, so die Evolutionsbiologie, durch die dort statt-

schen werden traditionell als genetisch einheitlich, aber untereinander verschieden angesehen. [...] Neue auf den Methoden der molekularen Genetik und mathematischen Modellen der Populationsgenetik beruhende Fortschritte zeigen jedoch, dass diese Definition völlig unangemessen ist. Die neuen wissenschaftlichen Befunde stützen nicht die frühere Auffassung, dass menschliche Populationen in getrennte ‚Rassen’ wie ‚Afrikaner’, ‚Eurasier’ [...] oder irgendeine größere Anzahl von Untergruppen klassifiziert werden könnten. [...] Mit diesem Dokument wird nachdrücklich erklärt, dass es keinen wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen ‚rassischer’ Kategorien oder dem traditionellen ‚Rassen’-Konzept zu charakterisieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff ‚Rasse’ weiterhin zu verwenden“ (UNESCO-Workshop, Stellungnahme zur Rassenfrage, in: Biologen in unserer Zeit. Informationen des Verbandes deutscher Biologen e.V. 5 (1996), S. 71–72, vgl. URL: (16.11.2015). „For centuries scholars have sought to comprehend patterns in nature by classifying living things. The only living species in the human family, Homo sapiens , has become a highly diversified global array of populations. The geographic pattern of genetic variation within this array is complex, and presents no major discontinuity. Humanity cannot be classified into discrete geographic categories with absolute boundaries. Furthermore, the complexities of human history make it difficult to determine the position of certain groups in classifications. Multiplying subcategories cannot correct the inadequacies of theses classifications“ (American Association of Physical Anthropologists, Statement on Biological Aspects of Race, in: American Journal of Physical Anthropology 101 (1996), S. 569–570.).

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gefundenen Migrationen und „reproduktiven Mischungen“ wurden die Europäer, was sie heute sind. 13 Schon die Antwort auf die forschungspraktische Frage, welche Nationalitäten, Ethnien und Gruppen berücksichtigt werden, um Erkenntnisse über den „europäischen Menschen“ zu gewinnen, basiert auf kulturellen Vorannahmen. Denn nimmt man den „Homo Europaeus“ als Maßstab, um Aussagen über den europäischen Menschen zu machen, begibt man sich in einen Zirkelschluss; bezieht man sich auf Europa – sei es definiert über Geografie, Kultur oder Geschichte –, orientiert man sich an Kriterien, die letztlich sozial konstruiert werden. 14 Kulturell fundierte Vorstellungen vom Europäer – und natürlich auch der Europäerin – fließen so in wissenschaftliche Untersuchungen ein und werden in diesen wissenschaftlich reformuliert. Anschließend finden sie als wissenschaftlich bewiesene Fakten Verwendung in den unterschiedlichsten Bereichen der Wissensgesellschaft; kulturell Konstruiertes und naturwissenschaftlich „Bewiesenes“ stabilisieren sich wechselseitig und markieren so die Wissensbestände einer Gesellschaft. Das soll freilich nicht heißen, dass es den „Europäer“ nicht gibt – sein epistemischer Status wird hier lediglich anders gesehen als in essentialistischen Modellen. Denn gerade durch den Kreislauf kultureller und wissenschaftlicher Wissensgenese ist er auf der Ebene der Sinnstiftung wie der gesellschaftlicher Praktiken hoch relevant. Menschen, die sich selbst als Europäer verstehen bzw. von anderen als solche bezeichnet werden, handeln als Europäer, sie schaffen europäische Lebenswelten und verleihen Vorstellungen von Europa Sinn und Ausstrahlungskraft. Sie werden als Europäer behandelt und grenzen sich von Nichteuropäern ab. Die Europäer bilden damit eine imagined community – und eine lived community. 15 An unserer ausgewählten Textquelle lässt sich die kulturelle Konstruktion naturwissenschaftlicher „Tatsachen“ über menschliche Diversität gut aufzeigen. Aufschlussreich ist der Vergleich der Einträge „Menschenrassen“ oder „Europide“ in mehreren aufeinander folgenden Brockhaus-Ausgaben. Die Verschiebungen, Auslassungen und Umformulierungen lassen erahnen, wie prekär die Frage der menschlichen Diversität in der gesamten Wissensgeschichte des „europäischen Menschen“ gewesen ist. Wir möchten hier nur einige besonders auffallende Entwicklungen kurz skizzieren. Während in den Ausgaben der Nachkriegszeit die rassistische Fundierung wesentlich deutlicher hervortritt, werden diese Bezüge erst in den letzten drei Jahrzehnten sukzessive schwächer, ohne dass sich die Einträge wirklich davon verabschiedeten: Die Prekarität des Wissens wird nur ansatzweise angemerkt; fragwür13 Vgl. Lipphardt, Veronika, Biologie der Juden: jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung: 1900–1935, Göttingen 2008. 14 Vgl. Osterhammel, Jürgen, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 (2004), S. 157–181; Kocka, Jürgen, Die Grenzen Europas. Ein Essay historischer Perspektive, in: Schuppert, Gunnar F.; Pernice, Ingolf; Haltern, Ulrich (Hgg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 275–286. 15 Vgl. Bach, Maurizio, Integration durch Fremdenfeindlichkeit? Über die Grenzen Europas und die kollektive Identität der Europäer, in: Gellner, Winand; Strohmeier, Gerd (Hgg.), Identität und Fremdheit. Eine amerikanische Leitkultur für Europa?, Baden-Baden 2001, S. 141–149.

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dige Textteile bleiben erhalten, andere werden umformuliert, wieder andere werden ersatzlos gestrichen. Erst die Brockhaus-Ausgabe von 2006, die noch immer Einträge zu „Menschenrassen“ und „Europiden“ enthält, distanziert sich von diesem Wissensbestand; die vagen und zum Teil widersprüchlichen Formulierungen verraten jedoch die Schwierigkeiten, die die Neufassung der Einträge bereitet haben muss. 16 Wie prekär die Erstellung eines Lexikonartikels zum Thema „Menschenrassen“ ist, zeigt auch die angegebene Literatur. Im zitierten Text entschied man sich für Jahrzehnte alte Titel, darunter das in den 1930er-Jahren erschienene deutsche Standardwerk des Freiherrn von Eickstedt, der während des Nationalsozialismus die durchaus rassistische „Breslauer Schule“ der deutschen Anthropologie prägte. Ilse Schwidetzky, eine Schülerin Eickstedts, führte dessen Richtung nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre fort und wird hier mit einem 1962 erschienenen Titel zitiert. Daneben stehen Monografien von per definitionem unverdächtigen angloamerikanischen Autoren aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg, was die international verbürgte Objektivität der deutschen Anthropologie à la Eickstedt suggerieren soll. Das scheinbar so harmlose Medium der Literaturliste wird hier zum Instrument der Kontinuitätsbehauptung und politischen Entlastung. Die Brockhausausgabe von 1978 meint selbst auf diesen Kunstgriff verzichten zu können und nennt ausschließlich die deutschen Titel von 1934 bzw. 1962. Bis in die 1980er-Jahre begleiten außerdem aufschlussreiche Abbildungen die lexikalischen Artikel: Stammbäume, in denen die Evolution der Menschheit und der „Menschenrassen“ dargestellt wird; geografische Skizzen zu den Wanderungsbewegungen einzelner „Rassen“; und schließlich Fotografien von Menschen, die als Vertreter ihrer „Rasse“ stehen sollen. Während Stammbäume und Landkarten sich stark veränderten und schließlich ganz aus den Lexika verschwanden, blieben die Fotografiensammlungen ein unveränderter Bestandteil der LexikaEinträge. Bemerkenswert ist nicht nur die ungebrochene Karriere, die diese Bilder über Jahrzehnte hinweg durch die verschiedenen Ausgaben absolvierten. Auch die Anzahl der Bilder pro „Rasse“ spricht für sich. Während bis zu 20 Abbildungen auf die „Europiden“ und ihre verschiedenen Untergruppen entfallen, genügten je zwei bis sieben Abbildungen für alle anderen Gruppen. Ob die einzelne Fotografie als Repräsentant, Idealtypus oder als Durchschnitt gelesen werden soll, bleibt freilich unausgesprochen. Verschwiegen werden die ästhetischen Kriterien der Motivauswahl wie der Abbildungsform. Unklar bleibt, warum manche Personen auf den Bildern folkloristische Kleidung tragen, andere nicht. Die bloße Aneinanderreihung der Fotografien suggeriert ein reines „AbBilden“, eine schlichte, objektive Aufzählung ohne implizite Wertung. Interpretiert man sie als Illustration des Textes, untermalen sie jedoch eine biologische Geschichte, einen Stammbaum, in dem den einzelnen Gruppen Qualitäten und Defizite zugeschrieben werden – und das auch ohne eine grafische Repräsentation 21

16 Vgl. Artikel „Menschenrassen“, in: Brockhaus Enzyklopädie 18 ( 2006), S. 256; Artikel „Europide“, in: ebd., S. 585.

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dieses Stammbaumes. Dies legt eine Analogie zur Geschichte der Enzyklopädik nahe. Die Diderot’sche Enzyklopädie leitete nach Robert Darnton die Abkehr von der Idee eines Wissensstammbaums und das neue Verständnis der Enzyklopädie als objektive Wissenssammlung, die die herkömmlichen Wissenshierarchien bewusst vermied, ein. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienene Enzyklopädie Diderots und D’Alemberts listete dementsprechend unter der Rubrik „humaine espece“ sämtliche Völker hintereinander auf, und zwar in der Reihenfolge, in der ein Reisender auf seinem Weg vom Nordpol zum Südpol sie anträfe. Ohne Stammbaum, ohne Herkunft kommt freilich auch dieser Eintrag nicht aus: „Les Européens sortent d’une même souche.“ 17 So liegt jeder Wissensordnung, auch der bloßen Aneinanderreihung von Wissensbeständen, eine Vorstellung von der (historischen) Entstehung von Differenzen zugrunde. Wie unser Ausgangstext zeigt, spielt Kultur eine bedeutende Rolle für Konzepte menschlicher Diversität. Der Europäer trägt der Quelle zufolge nicht nur die Erbanlagen für seine körperlichen Eigenschaften in sich, sondern auch „jene geistig-seel. Anlagen, aus denen u.a. die abendländ. Kultur erwachsen ist“. Der Begriff der „Europiden“ oder der „Europeans“ erscheint damit kulturell stärker aufgeladen als die im amerikanischen Raum gebräuchlichen Begriffen der „Caucasians“ oder der „Whites“, wenngleich in der wissenschaftlichen Literatur heute alle drei Begriffe weitgehend synonym verwendet werden. Der Streit um den Leistungsanteil der einzelnen „Unterrassen“ an der europäischen Kultur erschien dem Autor des Lexikonartikels noch 1968 erwähnenswert. Im Folgeartikel von 1978 sind alle auf die europäische Kultur bzw. Kulturbeiträge der einzelnen Untergruppen bezogenen Passagen ersatzlos gestrichen – die Unterteilungen an sich wurden jedoch beibehalten. 18 Das Beispiel „Wissen über den Europäer“, so unser Fazit, zeigt, welche Persistenz essentialistische – oder sogar biologistische – Menschenbilder im Wissenssystem der Moderne haben können. Dass solches Wissen sich auch noch wesentlich später in den allgemeinen „Wissensspeichern“ nachweisen lässt, als der Stand der Forschung es erlaubt, ist nicht nur der Trägheit jener Übertragung geschuldet, die Ludwik Fleck als den Übergang des Wissens von der „Zeitschriftenwissenschaft“ in die „Handbuchwissenschaft“ bezeichnet hat. 19 Es ist die vermeintlich unwiderlegbare Evidenz dessen, was für „natürlich“ gehalten wird, die eine Hinterfragung gängiger Klassifikationen so schwierig macht. Dies gilt freilich nicht nur für biologische „Ordnungen der Natur“, sondern auch für gesell17 Encyclopédie ou Dictionnaire raisoné des siencs des arts et des métiers, Bd. 8, Stuttgart 1967 (Faksimilé der Erstauflage 1751–1780), S. 344–348, hier: S. 348; vgl. auch Darnton, Robert, Philosophers Trim the Tree of Knowledge. The Epistemological Strategy of the Encyclopédie, in: ders., The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History, London 1991, S. 191–214; ders., Eine kleine Geschichte der Encyclopédie und des enzyklopädischen Geistes, in: Selg, Anette; Wieland, Rainer (Hgg.), Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt am Main 2001, S. 355–464. 18 18 Vgl. Artikel „Europide“, in: Brockhaus Enzyklopädie, 3 ( 1978), S. 588. 19 Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980, S. 157–163.

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schaftliche und kulturelle Ordnungen, die ebenso selbstverständlich erscheinen wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen europäischer und nichteuropäischer Kultur. Geisteswissenschaftliche Analysen des Europäischen haben sich bisher mit gutem Grund auf Europa-Imaginationen und europäische Identitäten als gesellschaftliche Konstruktionen konzentriert und dabei Diskurse, berühmte Denker oder politische Debatten in den Blick genommen. Auch dieser Aufsatz beschäftigt sich in gewisser Weise mit Ideengeschichte. Im Wesentlichen geht es uns in diesem Beitrag – der zugleich einige Ergebnisse des BMBF-Verbundprojektes „Imagined Europeans: Wissenschaftliche Konstruktionen des Homo Europaeus“ vorstellt – weniger um Debatten und Diskurse als um gesellschaftliche und wissenschaftliche Praktiken. So rücken Bereiche in den Blick, die aus geistes- wie sozialwissenschaftlicher Sicht eher entlegen, unspektakulär oder gar unschuldig erscheinen, jedoch weitgehend unbemerkt den Alltag der Europäer bestimmen. Die Suche nach dem europäischen Menschen kann so zu scheinbar entlegenen Orten führen wie z.B. der Automobilproduktion oder der Nahrungsforschung, oder aber zu Orten der Konstruktion des Europäers „von außen“, vom nichteuropäischen oder internationalen Raum aus, sowie in kolonialen Kontexten. 20 Heute forschen mehr Genetiker denn je zur menschlichen Diversität, wobei die „Europeans“ oder „European Americans“, wohl primär aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Potenz ein wichtiges Untersuchungsobjekt darstellen. Archäologen und Paläontologen suchen nach mumifizierten und fossilen Überresten der ersten Europäer; Humangenetiker konstruieren den Stammbaum des heutigen europäischen Menschen und beschreiben die Beschaffenheit seines Körpers. Biowissenschaftler berichten, wie die Europäer so wurden, wie sie heute zu sein scheinen: zum Beispiel, wann die Europäer in Europa sesshaft wurden; warum Europäer nicht von eingewanderten nahöstlichen Bauern, sondern von in Europa ansässigen Jägern und Sammlern abstammen; wann, wo und wie ihre Haut weiß wurde und warum sie gewisse Enzyme besitzen, die ihnen bis heute eine bestimmte Gesundheit, einen spezifischen Stoffwechsel und eine ganz eigene Ernährung ermöglichen. Und schließlich auch, dass ihr Bauchumfang größer sein kann als der eines Chinesen, bevor sie als Risikopatient für Herz- und Kreislaufkrankheiten klassifiziert werden müssen. Trotz der Kritik der Populationsgenetiker an Grobeinteilungen der Menschheit wird jenen fünf Gruppen, von denen die „Europeans“ eine sein sollen, in der medizinischen Forschung und Versorgung nach wie vor große Aufmerksamkeit geschenkt. Die empirisch ermittelten (und daher als naturhaft angesehenen) genetischen Differenzen dienen heute dazu, Menschen entsprechend ihrer ethnischen 20 Vgl. für die Ergebnisses des Verbundprojektes v.a. Bluche, Lorraine; Lipphardt, Veronika; Patel, Kiran Klaus (Hgg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009; Special Issue: Wissensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2008), H. 4, S. 425–523; ferner Conway, Martin; Patel, Kiran Klaus (Hgg.), Europeanization in the Twentieth Century: Historical Approaches, New York 2010.

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Zugehörigkeit im Gesundheitswesen unterschiedlich zu behandeln. Die Pharmaindustrie entwickelt mittlerweile Medikamente für spezifische ethnische Gruppen. In den USA wird seit einigen Jahren eine heftige Debatte um diese neuartige Produktion von rassenbiologischem Wissen geführt. Die Frage nach der Naturhaftigkeit ethnischer Differenzen ist brisant wie eh und je. 21 Das Festhalten an diesen Kategorien hat erstens wissenschaftspragmatische Gründe. Die Operationalisierung des neuen Konzepts menschlicher Diversität erweist sich als äußerst schwierig. Denn populationsgenetische Untersuchungen haben ergeben, dass zwischen verschiedenen menschlichen Populationen keine klaren genetischen Unterschiede, sondern vielmehr kontinuierliche Übergänge festzustellen sind. Wie sollen jedoch Fragestellungen zur menschlichen Diversität oder Vergleiche zwischen verschiedenen Gruppen in Forschungsvorhaben praktisch umgesetzt werden, wenn diese Diversität komplex und im ständigen Wandel begriffen ist? Zudem schreiben Anti-Diskriminierungsgesetze in den USA die Berücksichtigung aller Zensus-Gruppen in jeder medizinischen Studie fest. Da bereits seit Jahrzehnten Studien auf der Grundlage jener Klassifikation erstellt werden, würden neue Klassifikationen die Vergleichbarkeit der erhobenen Daten einbüßen. Zweitens beruht, wissenschaftstheoretisch gesehen, jedes biologische Konzept menschlicher Diversität auf der Persistenz kultureller Deutungsmuster. Deren Persistenz erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass sie auf der Alltagsebene auf den ersten Blick einzuleuchten scheinen. Sie reduzieren Komplexität und bieten Orientierungswissen; sie machen Wissenschaft nicht nur operationalisierbar, sondern auch verständlich und vermarktbar. Das herkömmliche Konzept mit einer dreioder fünfteiligen Aufteilung, das die moderne Wissenschaft seit mehreren Jahrhunderten bestätigt und geformt hat, genießt dabei wesentlich mehr gesellschaftlichen Rückhalt als das modernere Populationskonzept, welches ebenfalls nicht ohne kulturelle Deutungsmuster auskommt. 22 Drittens verbinden sich mit dem bisherigen Modell handfeste politische und ökonomische Interessen. Ironischerweise hat sich dieses Schema, um Menschen einzuordnen, vom Unterdrückungs- zum Gleichstellungsinstrument gewandelt. So sind es heute in den USA zum Beispiel gerade die ethnischen Minderheiten, die auf die Beibehaltung der oben erwähnten Zensus-Gruppen pochen. Nicht zuletzt aufgrund von affirmative action-Programmen und erfolgreichen SchadensersatzKlagen für vergangenes Unrecht kann die Zuschreibung zu einer ethnischen Minderheit zu einem Bonus werden. Das hat unter anderem dazu geführt, dass die Zahl der Menschen, die sich in den USA selbst der Gruppe der „Ureinwohner Amerikas“ zuschreiben, explodiert ist. 23 21 Die Zeitschrift Nature Genetics brachte 2004 ein Sonderheft zum Thema „Genetics for the Human Race“ heraus; vgl. Nature Genetics 36 (2004) H. 11 (Supplement). 22 Eine äußerst aufschlussreiche Laborstudie zum Human Genome Diversity Project hat die niederländische Ethnologin Amade M’Charek verfasst: M’Charek, Amade, The Human Genome Diversity Project. An Ethnography of Scientific Practice, Cambridge 2005. 23 Vgl. Stoczkowski, Wiktor, L’antiracisme doit-il romper avec la science?, in: La Recherche 401 (2006), S. 44–48.

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Das Problem der kulturwissenschaftlichen Wende der Geschichtswissenschaften – zumindest in Deutschland – ist, dass sie sich zu häufig nur auf Themen aus dem engeren Bereich der Kultur bezieht. Hier wurde dagegen gezeigt, wie fruchtbar eine kulturwissenschaftliche Analyse scheinbar „harter“ naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist. Naturwissenschaftlich generierte Identitätskonstrukte mögen heute als obsolet erscheinen; offen rassistische Modelle haben sich überlebt. Allerdings sind wir weiterhin tagtäglich von wissenschaftlich generierten Wissensbeständen und Artefakten umgeben, die sich aus kulturellen Vorannahmen herleiten, diese Genese aber häufig nicht reflektieren. Wie in diesem Beitrag verdeutlicht, kommen auch die Biowissenschaften offensichtlich ohne kulturelles Wissen nicht aus, und sie verdienen es deswegen auch, mit kulturhistorischen Ansätzen befragt zu werden. Literaturhinweise Baum, Bruce, The Rise and Fall of the Caucasian Race. A Political History of Racial Identity, New York 2006. Bluche, Lorraine; Lipphardt, Veronika; Patel, Kiran Klaus (Hgg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009. Conway, Martin; Patel, Kiran Klaus (Hgg.), Europeanization in the Twentieth Century: Historical Approaches, New York 2010. Lipphardt, Veronika, Biologie der Juden: jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung: 1900–1935, Göttingen 2008. Schmale, Wolfgang, Die Konstruktion des Homo Europaeus, in: Comparative European History Review 1 (2001), S. 165–184.

Quelle Brockhaus Enzyklopädie, Artikel „Europide, europider Rassenkreis“ (1968) 24 Europide, europider Rassenkreis (Tafeln Menschenrassen), die Gesamtheit der in Europa einheimischen  Menschenrassen, gekennzeichnet durch helle Haut, z.T. auch helle Augen und Haare, weiches, schlichtes bis lockiges Haar, relativ starke Körperbehaarung usw., sowie durch jene geistig-seel. Anlagen, aus denen u.a. die abendländ. Kultur erwachsen ist. Der Ursprung der E. verliert sich im Dunkel der Vorzeit; teils wird Einwanderung aus Asien angenommen, teils Ableitung und Entwicklung aus europäischen Menschenformen der Eiszeit. Am Ende der Altsteinzeit zeigt die Menschheit Europas bereits ähnl. Formverschiedenheiten (in Einzelfunden) wie heute, und in Jungsteinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit beginnt sich die heutige räuml. Ordnung der E. schon abzuzeichnen. Die niemals vollständige Trennung der einzelnen Gruppen (Vermischung in Überschneidungszonen), Überschichtungen und Durchdringungen durch Eroberungs- und Wanderzüge mit Ausgriffen bis weit nach Asien (Indo-Arier) hinein und nichteuropide Einbrüche (Mongolen, Hunnen usw.) verhin17

24 Artikel „Europide, europider Rassenkreis“, in: Brockhaus Enzyklopädie 5 ( 1968), S. 792f. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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derten eine scharfe räuml. und merkmalsmäßige Abgrenzung der E. voneinander und ließen es nur zu Anreicherungen bestimmter Merkmale und Merkmalskombinationen in den verschiedenen Gebieten Europas kommen, die allgemein der rassischen Untergliederung der E. zugrunde gelegt werden. In Überschneidungsgebieten mit Mongoliden und Negriden haben sich durch Vermischung mehr oder minder stabile Übergangsformen (‚Zwischenrassen’) gebildet (z.B.  Äthiopide). Die neuzeitl. europide Besiedelung Amerikas hat zu ausgedehnter europid-indianider ( Mestizen) und europid-negrider ( Mulatten) Vermischung geführt. Gliederung der Europiden Es gibt zahlreiche Versuche zur Klassifizierung der E., die in den grundlegenden Anschauungen einander mehr oder minder ähneln, in Einzelheiten aber erheblich voneinander abweichen. Meist werden heute nordische, mediterrane, alpine, dinarische und osteuropide Rasse (E. von Eickstedt) unterschieden, zu denen als Randformen im SO die der mediterranen eng verwandte orientalide und die der dinarischen nahe stehende armenide (vorderasiatische) Rasse hinzukommen; gelegentlich wird auch noch von einer fälischen (dalischen, dalo-nordischen) Rasse gesprochen, die von anderen jedoch nur als ein schwerer Schlag der nordischen (teutonordischen) Rasse bezeichnet wird. Auch bei der mediterranen Rasse wird oft ein schwerer (atlanto-mediterraner) Schlag von einem leichteren (grazil-mediterranen) unterschieden. E. von Eickstedt bezeichnet nordische (mit fälischer) und osteuropide Rasse als ‚aufgehellte Nordformen’, fasst alpine und dinarische Rasse im ‚mitteleurop. Kurzkopfgürtel’, sowie mediterrane und orientalide als ‚südliche Langkopfformen’ zusammen. Diese Rassen sind nicht nur durch körperl. Merkmale (vgl. Übersicht) gekennzeichnet, sondern es bestehen auch hinsichtlich ihrer geistig-seel. Veranlagung erhebl. Unterschiede zwischen ihnen, wie sie z.B. in der Lebenslust und Begeisterungsfähigkeit südländ. Menschen (vorwiegend mediterraner Rasse) im Gegensatz zur Verschlossenheit der Nordeuropäer (nord. Rasse) zum Ausdruck kommen, wie sich aber auch in der Beharrlichkeit und dem Fleiß alpiner Menschen oder der lauten Fröhlichkeit der Dinarier äußern. Einseitige, politisch gefärbte Überbewertungen dieser oder jener Rasse in bezug auf ihre Leistung im Rahmen der europ. Kultur gehen an den tatsächl. Begebenheiten vorbei. An der kulturellen Leistung der E. sind alle Rassen (Unterrassen) beteiligt; diese Leistung ist nicht zuletzt gerade aus dem Zusammenspiel all ihrer Teile entstanden. W.Z. RIPLEY: The races of Europe (Neuausg., London 1913); E. FISCHER: Rassenlehre, in: Die Kultur der Gegenwart, 3, 5 (1923); E.V. EICKSTEDT: Die Forschung am Menschen, 3 Tle. (in Lfgn. 1937–63; Lfg. 1-12, 193–43 u.d.T. Rassenkunde u. Rassengesch. der Menschheit); C.S. COON: The races of Europe (New York 1939); Die neue Rassenkunde, hg. Von Ilse SCHWIDETZKY (1962, mit Lit.).

DER HAAGER GIPFEL 1969. VON DEN KRISEN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN DER 1960ER-JAHRE ZUM EUROPÄISCHEN POLITISCHEN SYSTEM 1 Jan-Henrik Meyer In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort 2, seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer wahrzunehmen vermeinten 3, betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen. 4 Die Vertreter der beiden wichtigsten Mitgliedsstaaten waren neu in ihren Ämtern. De Gaulles Nachfolger, der am 15. Juni 1969 gewählte französische Präsident Georges Pompidou, traf hier auf den ehemaligen deutschen Außenminister der Großen Koalition. Willy Brandt war nach den Bundestagswahlen vom 28. September 1969 erster sozialdemokratischer Bundeskanzler geworden. Pompidou war, wie im ersten Absatz des hier diskutierten Schlusskommuniqué 5 angedeutet wird, Initiator der Gipfel-Konferenz. Die Idee eines Treffens auf der höchsten politischen Ebene hatte er schon als Präsidentschaftskandidat am 6. Juni 1969 ins Spiel gebracht und ein „Triptychon“ aus drei Leitthemen vorgeschlagen. Neben dem „achèvement“, also der Vollendung des Gemeinsamen Marktes durch 1 2

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Essay zur Quelle: Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. zur Diskussion über die Übertragbarkeit von Pierre Noras Konzept der „Lieux de Mémoire“: Lottes, Günther, Europäische Erinnerung und europäische Erinnerungsorte?, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 3 (2002), S. 81–92. Kürzlich auch: Boer, Pim den et al., Europäische Erinnerungsorte (3 Bde.), München 2012. So beispielsweise: Jenkins, Peter, Flesh on Old Bones, in: The Guardian, 02.12.1969, S. 11. Drouin, Pierre, Le Nerf de l’Europe, in: Le Monde, 27.11.1969, S. 1; Strick, Hans-Josef, In die zweite Generation, in: Süddeutsche Zeitung, 29.11.1969, S. 25. Für die wissenschaftliche Diskussion siehe: Knipping, Franz; Schönwald, Matthias, Vorwort, in: dies. (Hgg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969–1984, Trier 2004, S. IX–X. Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969), in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 3 (1970), H. 1, S. 12–17. Die folgenden Quellenzitate stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.

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Festzurren der Finanzierungsregelung für das Budget, war ihm ein zweites wichtiges Ziel das „approfondissement“, nämlich die Vertiefung der Zusammenarbeit in neuen Politikfeldern. „Elargissement“, also die Erweiterung der Gemeinschaft, war für den Gaullisten eher ein Zugeständnis an die Wünsche der fünf übrigen Mitgliedsstaaten als seine eigene politische Präferenz. Mit diesen drei Rahmenthemen machte Pompidou deutlich, dass er die konfrontative Politik de Gaulles nicht fortzuführen gedachte. Der General hatte im Verlauf der 1960erJahre zweimal den britischen Beitritt und damit jede Erweiterung im Alleingang durch sein „Veto“ durchkreuzt. Dies war in Großbritannien als grobe Zurückweisung empfunden worden. 6 Die Vollendung der Finanzordnung und damit der langfristigen Finanzierung der Agrarpolitik, von der Frankreich überproportional profitierte, begriff Pompidou als Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitgliedsstaaten. So zeigte der neue Präsident nach der langen Blockade durch de Gaulle erstmals Lösungsmöglichkeiten für die beiden Probleme auf, die in der EG der 1960er-Jahre mehrfach zu krisenhafter Konfrontation geführt hatten. 7 Damit eröffnete Pompidou den Weg für eine konstruktive Diskussion über neue Politikfelder jenseits der Agrarpolitik und institutionelle Veränderungen, die in den 1970er-Jahren das in den Römischen Verträgen angelegte europäische politische System komplettierten. Neben Pompidous Initiative spielte auch die von den Römischen Verträgen vorgegebene zeitliche Ordnung eine Rolle für das Timing der Konferenz. Im Dezember 1969 lief nicht nur die Frist für die abschließende Neuregelung der Finanzordnung ab, sondern es ging auch die Übergangszeit zum Eintritt in die Endphase des Gemeinsamen Marktes zu Ende. Schon 1967 waren die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion), die Atomgemeinschaft (EURATOM) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) verschmolzen. Im Juli 1968 war die Zollunion vorfristig erreicht worden. Der Moment des Übergangs in die Schlussphase gab Anlass zu einer Selbstverortung EG-Europas in der Zeit – zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ohne Scheu vor großen Worten bezeichneten die Staats- und Regierungschefs selbst den Gipfel als „Wendepunkt“. Sie blickten zurück mit Stolz auf das bisher Erreichte, dessen „Unumstößlichkeit“ sie beschworen (Absatz 3). Gleichzeitig proklamierten sie in der utopischen Tradition des „progressiven Europäismus“ 8 den „Glauben“ an die Notwendigkeit der „politischen Zielsetzun-

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Vgl. z.B. Davis, William, ‘Let's Get Blowing’ Suggests Aunt Bertha, in: The Guardian, 24.11.1969, S. 10. Vgl. Ludlow, Piers N., The European Community and the Crises of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge. Strategy and History, London 2005, S. 174ff. Trenz, Hans-Jörg, Europa in den Medien. Die europäische Integration im Spiegel nationaler Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2005, S. 360–373; vgl. zur Kritik der utopischen Tradition: Schulz-Forberg, Hagen, Europas post-nationale Legitimation. Überlegungen gegen eine Essentialisierung von Kultur und Identität, in: Schöning, Matthias; Seidendorf, Stefan (Hgg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, S. 216–239, hier S. 216; Stråth, Bo, A European Identity. To the Historical

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gen“, der finalité politique. Diese würden unumstößlich zur Vollendung der Einigung Europas in der Zukunft führen (Absatz 4). Rekurrierend auf den vorgeblichen europäischen Zivilisationsauftrag deuteten die Staats- und Regierungschefs Europa als „ungewöhnliche Quelle der Entwicklung, des Fortschritts und der Kultur“ (Absatz 4). „Verantwortung in der Welt von morgen [zu] übernehmen“ entspreche der „Tradition und Aufgabe“ Europas (Absatz 3). Derartige Argumente einer europäischen zivilisatorischen Berufung waren seit dem 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung des Kolonialismus verwendet worden 9 und fanden sich in expliziterer Form noch in der Schuman Deklaration von 1950. 10 In dieser Tradition steht auch die Bemerkung, dass Europa „seine Anstrengungen zugunsten der Entwicklungsländer zu steigern“ habe (Absatz 4). Vor dem Hintergrund der Entspannungs- und Ostpolitik lag der Fokus der weltpolitischen Berufung nun aber auf dem europäischen Kontinent. Aufgabe war jetzt Frieden und Völkerverständigung „in erster Linie zwischen den Völkern des ganzen europäischen Kontinents“ (Absatz 4). So schien Mittel- und Osteuropa zwar nicht vergessen, blieb aber ambivalent. Das Europa jenseits des Eisernen Vorhangs war sowohl das andere als auch das in eine Friedensordnung einzuschließende. Neben den bereits erwähnten Elementen föderalistisch inspirierter Europa-Ideologie enthält dieses Kompromissdokument gleichfalls eine verbale Verneigung vor dem gaullistischen Europa der Vaterländer und der „Wahrung der nationalen Eigenart“ (Absatz 4). Dieses Motiv, die Beschwörung des Paradoxons der Einheit in Vielfalt, prägt die Debatte um Europa bis heute. Als Pompidou eine Gipfelkonferenz vorschlug, suchte er in gaullistischer Tradition die Probleme durch Zusammenarbeit der Regierungen auf der höchsten politischen Ebene zu lösen. Damit begann eine Reihe von Gipfelkonferenzen in den frühen 1970er-Jahren, die 1974 zur Schaffung einer neuen Institution führten. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs war in den Römischen Verträgen nicht vorgesehen. Als Entscheidungsgremium und Vertretung der Mitgliedsstaaten fungierten vertragsgemäß lediglich die Ministerräte. EG-Gipfeltreffen allerdings hatte es bereits dreimal zuvor gegeben, 1961 in Paris und Bonn auf Initiative de Gaulles im Kontext des Fouchet-Plans zur europäischen Verteidigung, sowie 1967 in Rom zur Feier des zehnten Jahrestags der Römischen Verträge. Dort war auch festgelegt worden, dass ein nächster Gipfel in Den Haag Limits of a Concept, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), S. 387–401, hier S. 388, S. 391. 9 Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 52f. 10 Erklärung von Robert Schuman (Paris, 9. Mai 1950), Archives Nationales du Luxembourg, Luxembourg. Plan Schuman (Négociations). La déclaration du 9 mai 1950 et premières réactions, AE 11346, online auf Deutsch verfügbar unter: Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe (CVCE), URL: (16.11.2015): „Mit dem so [durch die Montanunion, JHM] erzielten Zuwachs an Mitteln kann dann Europa an die Verwirklichung einer seiner wesentlichen Aufgaben herangehen, nämlich die Erschließung des afrikanischen Kontinents.“

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stattfinden solle. In der zweiten Jahreshälfte 1969 hatten die Niederlande den Ratsvorsitz inne, so dass die niederländische Regierung nun die Einladung nach Den Haag aussprach. Da der Gipfel aber formal keine Sitzung einer europäischen Institution war, sondern ein Treffen der Staats- und Regierungschefs, war die Teilnahme der Europäischen Kommission nicht geregelt. Gerade die supranational orientierten kleineren Mitgliedsstaaten sahen angesichts der gaullistischen Tradition die intergouvernementale Orientierung des Vorschlags mit Sorge und bestanden darauf, dass der Kommissionspräsident, der Belgier Jean Rey, zumindest am zweiten Tag anwesend sein sollte (Absatz 1). Der zweite Aspekt institutioneller Neuerung betraf die Rolle des Europäischen Parlaments. Zwar sah der Artikel 138 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 vor, dass das Parlament dem Rat Vorschläge zu seiner Direktwahl zur Entscheidung unterbreiten sollte. Obwohl das Europäische Parlament 1960 bereits erstmals einen Entwurf vorgelegt hatte, war der Rat aber untätig geblieben. Eine einstimmige Entscheidung war nicht möglich, solange die französischen Minister die Zustimmung verweigerten. Präsident de Gaulle begriff ein direkt gewähltes Europäisches Parlament als Einschränkung der französischen Souveränität. Ungeduldig hatte die Straßburger Versammlung 1969 mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gedroht. Daher scheint der Hinweis, die Direktwahl des Parlaments weiterhin im Ministerrat zu prüfen, zunächst beschwichtigend gemeint (Absatz 5). Pompidou versuchte unter dem Leitmotiv der „Vollendung“, also der endgültigen Regelung über die Eigenmittel zur Finanzierung der Agrarpolitik, den Konflikt grundsätzlich zu lösen, der 1965 zur „Krise des leeren Stuhls“ geführt hatte. Der damalige Kommissionspräsident Hallstein hatte mit einem ambitionierten Vorschlag die französische Regierung zu institutionellen Zugeständnissen bewegen wollen. Die Finanzierung der Agrarsubventionierung durch Zölle und Abgaben sollte mit einer Stärkung von Parlament und Kommission in Budgetfragen einhergehen, der Rat mit Zweidrittelmehrheit entscheiden. 11 Nach dem Luxemburger Kompromiss von 1966, der das Einstimmigkeitsprinzip bestätigt und Hallsteins Pläne ad acta gelegt hatte, ging die Lösung der Budgetfrage von 1969 viel schonender mit Sorgen um nationale Souveränität um. Der Rat blieb zentral in Finanzangelegenheiten, das nationale Veto erhalten. Die Einführung der Eigenmittel – also die Übertragung von Zöllen und Abgaben und eines Anteils von einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer auf die Europäische Gemeinschaft – verbanden die Staats- und Regierungschefs mit einer Stärkung der „Haushaltsbefugnisse“ des Parlaments (Absatz 5). Nach dem Grundsatz „no taxation without representation“ nahm damit aber auch der Druck auf die Einführung von Direktwahlen zu. Die Regierungen gerieten in Erklärungsnot, wenn sie begründen wollten, warum auf nationalstaatlicher Ebene akzeptierte Grundsätze parlamentari11 Vgl. Bajon, Philip Robert, Die Krise des leeren Stuhls 1965/66. Ursachen, Verlauf und Folgen, in: Gehler, Michael (Hg.), Vom Gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957–2007, Wien 2008, S. 371–392; Bajon, Philip Robert, Europapolitik ‚am Abgrund’. Die Krise des ‚leeren Stuhls’ 1965–66, Stuttgart 2012.

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scher Budgetrechte auf europäischer Ebene nicht gälten. 12 Nach einer grundsätzlichen Entscheidung auf dem Gipfel von Paris 1974, parallel zur Schaffung des Europäischen Rates auch die Direktwahl des Parlaments einzuführen, dauerte es noch bis zum Juni 1979, ehe die Europäer ihre Vertretung in Straßburg erstmals selbst wählen konnten. 13 Nach der Klärung der Finanzfrage, die nicht nur mittels Einstimmigkeitsprinzip sondern auch durch die Klausel, dass „die Grundsätze dieser Regelung nicht verfälscht werden dürf[t]en“ nunmehr doppelt vor Veränderung gesichert war (Absatz 7), erschien aus der Sicht des französischen Präsidenten die Erweiterung weit weniger bedrohlich. Das Zugeständnis an die Nettozahler, vor allem an die Bundesregierung, dass „Anstrengungen für eine bessere Beherrschung des Marktes durch eine landwirtschaftliche Erzeugungspolitik, die eine Beschränkung der Haushaltslasten gestattet“,

unternommen würden (Absatz 6), erwies sich als Papiertiger. Zur gleichen Zeit gab beispielsweise der Ministerrat italienischen Forderungen nach der Einbeziehung der Obstproduktion in das Garantiepreis-Regime nach, was die Kosten eher erhöhte als beschränkte. 14 Die Staats- und Regierungschefs sicherten zudem den acquis communautaire, also den gemeinsamen Besitzstand gemeinschaftsrechtlicher Regelungen, gegen Veränderung im Zuge oder Gefolge eines britischen Beitritts ab. Sie legten fest, dass die Mitgliedsstaaten sich zunächst untereinander auf eine einheitliche Verhandlungsposition einigen würden, um dann als geschlossene Front gegenüber den Kandidaten auftreten zu können. Außerdem verlangten sie von den beitrittswilligen Staaten, dass diese „die Verträge und deren politische Zielsetzung, das seit Vertragsbeginn eingetretene Folgerecht und die hinsichtlich des Ausbaus getroffenen Optionen akzeptier[t]en“ (Absatz 13).

Damit war sichergestellt, dass vom 1950/57 begonnenen Entwicklungspfad kerneuropäischer Integration nicht abgewichen würde. 15 Trotz dieser vielfältigen Absicherung ließ sich Präsident Pompidou nicht auf einen konkreten Termin für den 12 Vgl. für dieses Argument: Rittberger, Berthold, ‘No Integration Without Representation!’ Parlamentarische Demokratie, Europäische Integration und die beiden vergessenen Gemeinschaften, in: ders.; Schimmelfennig, Frank (Hgg.), Die Europäische Union auf dem Weg in den Verfassungsstaat, Frankfurt am Main 2006, S. 139–164. 13 Vgl. Brunn, Gerhard, Die europäische Einigung, Stuttgart 2002, S. 207–211; vgl. Gfeller, Aurélie Élisa; Loth, Wilfried; Schulz, Matthias, Democratizing Europe, Reaching Out to the Citizens, in: Journal of European Integration History 17 (2011) H. 1, S. 5–12 und die Beiträge in diesem Sonderheft. 14 Vgl. kpk, Noch mehr Obstüberschüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1969, S. 17. 15 Vgl. zur Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten im Integrationsprozess: Rasmussen, Morten, Supranational Governance in the Making. Towards a European Political System, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950–72, London 2009, S. 34–55, hier S. 38f.

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Beginn von Beitrittsverhandlungen festlegen. In einem separaten Statement erklärte die niederländische Ratspräsidentschaft, dass die Vorbereitungen für die Beitrittsverhandlungen in der ersten Jahreshälfte 1970 beginnen und die Verhandlungen selbst direkt im Anschluss daran stattfinden würden. 16 Aber nicht nur die Sorgen der französischen Regierung, sondern auch die Gründe der übrigen Mitgliedsstaaten für deren Interesse am britischen Beitritt fanden ihren Niederschlag im Dokument. Eine größere Gemeinschaft, ein größerer Markt würde Skaleneffekte ermöglichen, ein Wirtschaften in Dimensionen, „die mehr und mehr dem heutigen Stand der Wirtschaft und der Technologie entsprechen“. Hier verbindet sich Fortschrittsoptimismus mit dem Denken in Kategorien des internationalen Wettbewerbs zwischen den Weltregionen. Dies nimmt zentrale Argumente für die Verwirklichung des Binnenmarkts in den 1980er-Jahren vorweg (Absatz 4). Die Vertiefung der Zusammenarbeit in neuen Politikfeldern wies endgültig über das Erbe der Krisen der 1960er-Jahre hinaus. Drei Bereiche standen dabei im Vordergrund: die Wirtschafts- und Währungsunion, die politische Zusammenarbeit und die Forschungs- und Technologiepolitik. Daneben wurde auch die Reform des Europäischen Sozialfonds angemahnt, sowie die Abstimmung der Sozialpolitik (Absatz 12). Auch wenn der Rat 1974 ein Aktionsprogramm in der Sozialpolitik akzeptierte, das grundsätzliche Regelungen zur Gleichbehandlung und zu den Arbeitsbedingungen vorsah und nachfolgend umgesetzt wurde, blieb der Kern der Sozialpolitik bis heute fest in den Händen der Nationalstaaten, für die dieses Politikfeld eine wichtige finanzielle und Legitimitätsressource darstellt. Die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion war auf die Tagesordnung gekommen, als sich gegen Ende der 1960er-Jahre erste Auflösungserscheinungen des Systems von Bretton Woods zu zeigen begannen. Dieses hatte seit den 1940er-Jahren für feste Wechselkurse auf der Basis einer amerikanischen Garantie gesorgt. Die Kosten des Vietnamkrieges und die Zahlungsbilanzungleichgewichte zwischen den USA und den exportstarken Europäern stellten die Währungsparitäten in Frage. Die D-Mark wurde 1969 auf-, der schwächelnde französische Franc dagegen abgewertet, allerdings ohne dass sich die Regierungen auf ein koordiniertes Vorgehen einigen konnten. Diese Währungsverschiebungen untergruben das System einheitlicher Agrarpreise und führten zu Verzerrungen und Planungsunsicherheit auf dem Gemeinsamen Markt. Nicht zuletzt deshalb befürwortete die EG-Kommission die Idee der Währungsunion, für die der französische Kommissar Raymond Barre das erwähnte Memorandum ausgearbeitet hatte. Trotz anfänglichen Zögerns der deutschen Seite einigten sich die Regierungen in Den Haag darauf, auf Ratsebene einen Plan dafür zu erarbeiten (Absatz 8). Unter Vorsitz des Luxemburger Premiers Pierre Werner legte die Arbeitsgruppe im Oktober 1970 den Werner-Plan vor, der die Verwirklichung der Währungsunion in drei Etappen bis 1980 vorsah. Die turbulente Entwicklung der Währungsmärkte und 16 Bitsch, Marie-Thérèse, Le sommet de la Haye. La mise en route de la relance de 1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, BadenBaden 2001, S. 539–565, hier S. 562.

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das Auseinanderbrechen des Bretton Woods Systems in den frühen 1970er-Jahren machten diesen Plan rasch obsolet. Im Jahr 1978 allerdings konnten sich die Regierungen in einem neuen währungspolitischen Anlauf auf das weniger ambitionierte Europäische Währungssystem einigen, das auch den bereits in Den Haag angedachten Europäischen Reservefonds umfasste (Absatz 8). Kommissionspräsident Jacques Delors griff in den späten 1980er-Jahren das Dreistufenmodell des Werner-Plans wieder auf. Die Hauptkonfliktlinie zur Frage der Währungsunion, die besonders in der Bundesrepublik Deutschland als eine Gefahr für die Währungsstabilität abgelehnt wurde, zeichnete sich bereits in Den Haag ab. Während die „Monetaristen“, vor allem aus Frankreich und Belgien, annahmen, dass die Währungsunion die Konvergenz der Volkswirtschaften nach sich ziehen würde, waren die „Ökonomen“, vor allem aus der Bundesrepublik, den Niederlanden und Italien, der Ansicht, dass eine Währungsunion nur erfolgreich sein konnte, wenn zuvor die Volkswirtschaften in Einklang gebracht würden. Entsprechend ist auch die Mahnung des Schlusskommuniqués zu lesen, dass sich die „Entwicklung der Zusammenarbeit in Währungsfragen […] auf die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik stützen“ müsse (Absatz 8).

Die mit dem Maastrichter Vertrag (1991/93) mehr als 20 Jahre später schließlich umgesetzte Währungsunion lief auf einen Kompromiss zwischen beiden Positionen heraus. Die aktuelle Euro-Krise scheint die Mahnungen der „Ökonomen“ aber zu bestätigen. Die „Fortschritte auf dem Gebiet der politischen Einigung“ ließen sich dagegen eher verwirklichen (Absatz 15). Die Vorschläge, die im Jahr 1970 gleichfalls von einer Arbeitsgruppe der Regierungen – unter dem Vorsitz des belgischen Diplomaten Etienne Davignon – ausgearbeitet wurden, führten zur Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die streng intergouvernemental blieb. Allerdings schufen die regelmäßigen Konsultationen, der ständige Austausch zwischen den politischen Direktoren der Außenministerien ein Klima der Kooperation und des Vertrauens. Die Politische Zusammenarbeit bewährte sich bereits im Helsinki-Prozess, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, auf der Ratspräsident Aldo Moro 1975 die Schlussakte unterzeichnete. Die etablierte Praxis der EPZ fand erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987 Eingang in die Verträge und war Grundlage für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Maastrichter Vertrag von 1993. Mit Bildung, Forschung und Technologiepolitik markierten die Staats- und Regierungschefs ein weiteres wichtiges neues europäisches Politikfeld. Inwieweit der Staat Industrieforschung finanzieren sollte, blieb aber gerade zwischen deutschen und französischen Politikern umstritten (Absatz 9). So richtete die Gemeinschaft zwar 1974 Forschungsprogramme ein, in denen sich Forschungseinrichtungen und Industrie die Kosten teilten. Umfassende mehrjährige Europäische Forschungsrahmenprogramme wurden aber erst 1984 eingeführt. Das Forschungszentrum von EURATOM litt bereits in den 1960er-Jahren darunter, dass die Na-

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tionalstaaten ihre Atompolitik und -forschung jeweils national organisierten (Absatz 10). Mit der Einrichtung des Europäischen Hochschulinstituts, das schließlich 1976 seine Tore für den Lehrbetrieb in Florenz öffnete, wurde das lang gehegte Interesse an einer Europäischen Universität relativ rasch umgesetzt (Absatz 11). Das Hochschulinstitut jedoch war keine Volluniversität, sondern blieb lediglich eine postgraduale Ausbildungsstätte der Wirtschafts-, Rechts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Der Schlussappell an die Jugend, „engen Anteil“ an der europäischen Sache zu nehmen, wirkte schon in den Augen zeitgenössischer Beobachter seltsam und pathetisch (Absatz 16). 17 Dahinter verbarg sich die Idee eines Europäischen Jugendwerks nach dem Vorbild des deutsch-französischen. Dies wurde allerdings nie verwirklicht. Ob es wirklich vor allem die Jugend war, die in den Straßen von Den Haag für Europa demonstrierte oder doch eher die Veteranen der europäischen Bewegung, ist unklar. In jedem Fall war der Gipfel von Den Haag ein Ereignis, das von einer temporär höchst aktiven Europäischen Öffentlichkeit begleitet wurde. 18 Die europäische Zivilgesellschaft, vor allem die EG-nahen Organisationen wie der europäische Industriellenverband UNICE oder der Bauernverband COPA, sowie die Europäische Bewegung, deren Präsident Ex-Kommissionspräsident Hallstein eine Erklärung an den Ratspräsidenten übergeben hatte, intervenierten im Vorfeld des Gipfels und bauten eine Atmosphäre hoher Erwartungen auf. 19 Die Medienöffentlichkeit nahm ebenfalls großen Anteil an diesem Ereignis, diesseits wie jenseits des Kanals. Deutsche, britische und französische Qualitätszeitungen widmeten in den vierzehn Tagen um den Gipfel herum europäischer Integrationspolitik fast fünf Prozent aller Artikel im Wirtschafts- und Politikteil. 20 In den Printmedien aller drei Länder gab es nicht nur große Ähnlichkeiten im Umfang der Berichterstattung und Kommentierung über den Gipfel, sondern auch in der thematischen Orientierung. Da britische Medien vor allem an der Frage des Beitritts interessiert waren, war die Ähnlichkeit etwas geringer als bei späteren Gipfeltreffen. Auch transnationaler Austausch ließ sich nachweisen. Kommentierende Journalisten machten deutlich, dass sie mit den Debatten in den anderen europäischen Ländern vertraut waren. Sie zitierten über Grenzen hinweg, 17 So schreibt der EG-Korrespondent der FAZ: „Der Verweis auf die Beteiligung der Jugend an der schöpferischen Gestaltung Europas hat etwas Formelhaftes“, Götz, Hans Herbert, Neues Vertrauen in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.1969, S. 1. 18 Meyer, Jan-Henrik, Was There a European Public Sphere at the Summit of The Hague 1969? An Analysis of Discourses on the Legitimacy of the EC, in: Bitsch, Marie-Thérèse; Loth, Wilfried; Barthel, Charles (Hgg.), Cultures politiques, opinions publiques et intégration européenne. Brüssel 2007, S. 227–245, hier S. 245; ders., A European Public Sphere at the Summits of The Hague (1969) and Paris (1974)? Indications on the Basis of British, French and German Newspapers, in: Harst, Jan van der (Hg.), Beyond the Customs Union. The European Community’s Quest for Completion, Deepening and Enlargement, 1969–1975, Brüssel 2007, S. 341–357, hier S. 356f. 19 Bitsch, Le sommet de la Haye, S. 552–556. 20 Der Vergleichswert für den Maastrichter Gipfel 22 Jahre später liegt bei zehn Prozent. Meyer, Jan-Henrik, The European Public Sphere. Media and Transnational Communication in European Integration 1969–1991, Stuttgart 2010, S. 170.

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wenn auch asymmetrisch nur französische Zeitungen. Die Europadebatte war transnational integriert. Es dominierte derselbe „progressive Europäismus“, der auch das Kommuniqué prägt. Kommentatoren interpretierten die Europapolitik vor dem Hintergrund der Idee, dass Europa die Zukunft gehöre und Integration unausweichlich sei. Dies hätten nationale Politiker nur noch nicht eingesehen. Verstärkt wurde die Dominanz dieser föderalistisch inspirierten Ideologie dadurch, dass vor allem die Elite alter Europapolitiker als Gastkommentatoren zu Wort kam. Insgesamt zeigt sich das Bild einer überraschend umfangreichen, transnational integrierten, aber konform pro-europäischen Öffentlichkeit. 21 Lässt sich der Haager Gipfel wirklich als der „Wendepunkt“ (Absatz 3) deuten, als den die Staats- und Regierungschefs und die wissenschaftlichen Vertreter der Position des Europas der „Zweiten Generation“ ihn werteten? Markiert er den Übergang zum entstehenden europäischen politischen System? Sicher löste der Gipfel die Krisen der EG der 1960er-Jahre und eröffnete die Perspektive auf neue Politikfelder und institutionelle Reformen. Die Wirtschaftskrisen der 1970erJahre, die erst langsam einsetzende Erkenntnis der wirtschaftlichen Interdependenz und der langwierige Prozess der Verhandlungen zwischen den Regierungen trugen dazu bei, dass die in Den Haag auf die Tagesordnung gesetzte Agenda erst mit großer Verzögerung umgesetzt wurde. Allerdings ist bemerkenswert, wie stark die drei Leitthemen Pompidous den weiteren Integrationsprozess bestimmt haben. Die den Gipfel begleitende temporäre europäische Öffentlichkeit blieb dagegen eher altmodisch. Die Gastkommentarspalten dominierte die politischadministrative Elite der Veteranen der europäischen Integration. Zudem deutete die Mehrzahl der Journalisten und Kommentatoren den Integrationsprozess unkritisch im Sinne der Idee des progressiven Europäismus und suchte das zarte Pflänzchen Europa zu schützen und zu unterstützen. Eine offenere, differenziertere und pluralistischere europäische Öffentlichkeit, die sich zunehmend kritisch dem entstehenden europäischen politischen System gegenüberstellte, fand sich erst mehr als zwanzig Jahre später in Maastricht. Literaturhinweise Bitsch, Marie-Thérèse, Le sommet de la Haye. La mise en route de la relance de 1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and Compromises. The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 539–565. Harst, Jan van der (Hg.), Themenheft „The Hague Summit of 1969“, Journal of European Integration History 9 (2003), H. 2, S. 5–126. Harst, Jan van der (Hg.), Beyond the Customs Union. The European Community’s Quest for Completion, Deepening and Enlargement, 1969–1975, Brüssel 2007. Knipping, Franz; Schönwald, Matthias (Hgg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969–1984, Trier 2004. 21 Ders., Tracing Transnational Communication in the European public sphere. The Summit of The Hague 1969, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950–72, London 2009, S. 110–128, hier S. 121f.

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Meyer, Jan-Henrik, Tracing Transnational Communication in the European Public Sphere. The Summit of The Hague 1969, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950–72, London 2009, S. 110–128.

Quelle Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969) 22 1. Die Staats- bzw. Regierungschefs und die Außenminister der EWG-Mitgliedstaaten kamen auf französische Initiative und auf Einladung der niederländischen Regierung am 1. und 2. Dezember 1969 im Haag zusammen. Am zweiten Tage wurde die Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur Teilnahme an den Arbeiten der Konferenz eingeladen. 2. Angesichts des bevorstehenden Eintritts in die Endphase des Gemeinsamen Marktes vertraten sie die Auffassung, es sei Pflicht der Träger der höchsten politischen Verantwortung in den Mitgliedstaaten, über die bisherige Leistung Rechenschaft zu geben, ihre Entschlossenheit zur Fortsetzung dieses Werkes zu bekunden und die Leitlinien für die Zukunft abzustecken. 3. Rückblickend stellten sie fest, daß wohl nie zuvor unabhängige Staaten eine weitergehende Zusammenarbeit verwirklicht haben, und waren einhellig der Auffassung, die Gemeinschaft sei gerade wegen der erzielten Fortschritte heute an einem Wendepunkt ihrer Geschichte angelangt. Dem Jahresende kommt daher über die anstehenden technischen oder juristischen Probleme hinaus wesentliche politische Bedeutung zu. Der Eintritt in die Endphase des Gemeinsamen Marktes heißt ja nicht nur die Unumstößlichkeit des bisher von den Gemeinschaften Erreichten anerkennen, sondern einem geeinten Europa den Weg zu bahnen, das seine Verantwortung in der Welt von morgen übernehmen und den Beitrag leisten kann, der seiner Tradition und Aufgabe entspricht. 4. Die Staats- bzw. Regierungschefs bekräftigen daher nachdrücklich ihren Glauben an die politischen Zielsetzungen, die der Gemeinschaft ihren ganzen Sinn und ihre Tragweite verleihen, sie bekunden ihre Entschlossenheit, dieses Unterfangen zu Ende zu führen, und sie betonen ihr Vertrauen auf den schließlichen Erfolg ihrer Bemühungen. Soll eine ungewöhnliche Quelle der Entwicklung, des Fortschritts und der Kultur nicht versiegen, soll das Gleichgewicht der Welt erhalten und der Friede gewahrt bleiben, so ist nach ihrer gemeinsamen Überzeugung ein Europa unerläßlich, das Staaten in sich vereint, deren wesentliche Interessen bei Wahrung der nationalen Eigenart übereinstimmen, ein Europa, das seines eigenen Zusammenhalts gewiß ist, das zu einer Freundschaft mit anderen Staaten steht, und das sich der ihm zukommenden Aufgabe bewußt ist, die internationale Entspannung und die Verständigung der Völker – in erster Linie zwischen den Völkern des ganzen europäischen Kontinents – zu fördern. Die Europäischen Gemeinschaften sind unbestritten der Urkern, aus dem die europäische Einheit sich entwickelt und ihren Aufschwung genommen hat. Der Beitritt anderer Länder unseres Kontinents zu dieser Gemeinschaft gemäß den im Rom-Vertrag vorgesehe22 Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969), in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 3 (1970), H. 1, S. 12–17. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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nen Modalitäten würde zweifellos dazu beitragen, den Gemeinschaften zu Dimensionen zu verhelfen, die mehr und mehr dem heutigen Stand der Wirtschaft und der Technologie entsprechen. Auch die Schaffung besonderer Beziehungen mit anderen europäischen Staaten, die diesen Wunsch geäußert haben, sollte dazu beitragen. Eine solche Entwicklung würde es Europa gestatten, seiner weltoffenen Tradition treu zu bleiben und seine Anstrengungen zugunsten der Entwicklungsländer zu steigern. 5. Hinsichtlich der Vollendung der Gemeinschaften haben die Staats- bzw. die Regierungschefs den Willen ihrer Regierungen bekräftigt, von der Übergangszeit in die Endphase der Europäischen Gemeinschaft einzutreten und Ende 1969 die endgültigen Finanzregelungen der gemeinsamen Agrarpolitik festzulegen. Sie vereinbarten, im Rahmen dieser Finanzregelungen unter Berücksichtigung aller gegebenen Interessen die Beiträge der Mitgliedstaaten im Verfahren des Artikels 201 des EWG-Vertrags schrittweise durch eigene Einnahmen zu ersetzen mit dem Ziel, fristgerecht zu einer vollständigen Finanzierung der Haushalte der Gemeinschaften zu gelangen; desgleichen kamen sie überein, die Haushaltsbefugnisse des Europäischen Parlaments zu verstärken. Die Frage der direkten Wahl wird weiter vom Ministerrat geprüft. 6. Sie forderten die Regierungen auf, im Rat die bereits unternommenen Anstrengungen für eine bessere Beherrschung des Marktes durch eine landwirtschaftliche Erzeugungspolitik, die eine Beschränkung der Haushaltslasten gestattet, zügig fortzusetzen. 7. Die Annahme einer Finanzregelung für die Endphase schließt ihre einstimmig vorzunehmende Anpassung, insbesondere an die erweiterte Gemeinschaft, nicht aus, wobei jedoch die Grundsätze dieser Regelung nicht verfälscht werden dürfen. 8. Sie bekräftigen ihren Willen, den für die Stärkung der Gemeinschaft und für ihre Entwicklung zur Wirtschaftsunion erforderlichen weiteren Ausbau beschleunigt voranzutreiben. Sie sind der Auffassung, daß der Prozeß der Integration zu einer Gemeinschaft der Stabilität und des Wachstums führen muß. Zu diesem Zweck sind sie übereingekommen, daß im Rat, ausgehend vom Memorandum der Kommission vom 12. Februar 1969 und in enger Zusammenarbeit mit dieser, im Laufe des Jahres 1970 ein Stufenplan für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion ausgearbeitet wird. Die Entwicklung der Zusammenarbeit in Währungsfragen sollte sich auf die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik stützen. Sie sind übereingekommen, die Möglichkeit der Errichtung eines europäischen Reservefonds prüfen zu lassen, zu dem eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik hinführen müßte. 9. Sie bekräftigen ihren Willen, die technologische Aktivität der Gemeinschaft zu intensivieren und insbesondere durch Gemeinschaftsprogramme die industrielle Forschung und Entwicklung in den wichtigen Spitzenbereichen zu koordinieren und zu fördern und die dazu nötigen Finanzmittel bereitzustellen. 10. Sie halten außerdem neue Bemühungen für notwendig, um bald ein nach den Erfordernissen des modernen industriellen Management gestaltetes Forschungsprogramm für Euratom auszuarbeiten, das den wirksamsten Einsatz des Gemeinsamen Forschungszentrums ermöglichen soll. 11. Sie bekundeten erneut ihr Interesse an der Schaffung der Europäischen Universität. 12. Die Staats- bzw. Regierungschefs halten eine Reform des Sozialfonds im Rahmen einer weitgehenden Abstimmung der Sozialpolitik für angebracht.

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13. Sie bekräftigten ihre Übereinstimmung hinsichtlich des Grundsatzes der Erweiterung der Gemeinschaft, wie sie in Artikel 237 des Rom-Vertrags vorgesehen ist. Soweit die beitrittswilligen Staaten die Verträge und deren politische Zielsetzung, das seit Vertragsbeginn eingetretene Folgerecht und die hinsichtlich des Ausbaus getroffenen Optionen akzeptieren, haben die Staats- bzw. Regierungschefs der Eröffnung von Verhandlungen zwischen der Gemeinschaft und den beitrittswilligen Staaten zugestimmt. Sie waren sich einig, daß die für die Erarbeitung einer gemeinsamen Verhandlungsbasis unerläßlichen Vorbereitungen innerhalb nützlichster und kürzester Frist durchgeführt werden können; diese Vorbereitungen sollen nach übereinstimmender Auffassung in sehr positivem Geist getroffen werden. 14. Sobald die Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten eröffnet sind, werden mit den anderen Efta-Mitgliedstaaten, die diesen Wunsch äußern, Gespräche über ihr Verhältnis zur EWG eingeleitet. 15. Sie beauftragten die Außenminister mit der Prüfung der Frage, wie, in der Perspektive der Erweiterung, am besten Fortschritte auf dem Gebiet der politischen Einigung erzielt werden können. Die Minister werden dazu vor Ende Juli 1970 Vorschläge machen. 16. Den hier beschlossenen Maßnahmen für die schöpferische Gestaltung und das Wachstum Europas steht eine größere Zukunft offen, wenn die Jugend daran engen Anteil hat; dieses Anliegen haben die Regierungen beherzigt, und die Gemeinschaften werden sich dessen annehmen.

3. VON DER KRISE DER 1970ER-JAHRE BIS ZUM FALL DER MAUER 1989

DIPLOMATIE VS. PARLAMENTARISMUS. ALTIERO SPINELLIS ABLEHNUNG DES GENSCHERCOLOMBO-PLANS 1981 1 Manuel Müller Als der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Plan, den er zusammen mit seinem italienischen Amtskollegen Emilio Colombo entwickelt hatte, am 19. November 1981 im Europäischen Parlament vorstellte, wusste er bereits, dass er nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde: „Ich könnte mir denken, daß dieses Hohe Haus am ehesten kritisieren wird, daß unser Entwurf für eine Europäische Akte nicht weit genug geht“,

räumte er ein und appellierte, man solle aber „die Wirkungen der Initiative nicht gering schätzen“. 2 Auch Colombo, der nach Genscher sprach, kündigte an, die Außenminister würden es „nicht übel nehmen“, wenn den Parlamentariern der Vorschlag zu klein erscheine. 3 Die Erwiderung, mit der der italienische Abgeordnete Altiero Spinelli ihnen antwortete – Colombo hatte den Plenarsaal inzwischen allerdings schon wieder verlassen –, bezog sich jedoch nicht nur auf die Frage größerer oder kleinerer Ambitionen. 4 Für den über siebzigjährigen Nestor des europäischen Föderalismus, der seit 1976 der kommunistischen Fraktion im Europaparlament angehörte, ging es vielmehr um das grundsätzliche Problem, welche Institution der Motor der europäischen Integration sein sollte: die Regierungen der Mitgliedstaaten oder das Europäische Parlament. Den Hintergrund für die Reformbestrebungen Anfang der 1980er-Jahre bildete eine tiefgreifende Krise der Europäischen Gemeinschaften (EG). Nachdem der europäische Integrationsprozess in den 1960er-Jahren wegen Unstimmigkei1

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Essay zur Quelle: Rede von Altiero Spinelli zur Genscher/Colombo-Initiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Rede von Hans-Dietrich Genscher vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang: Verhandlungen des Europäischen Parlaments 1–277, S. 233–236, hier S. 235, URL: (16.11.2015). Rede von Emilio Colombo vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981), in: ebd., S. 236–239, hier S. 237. Rede von Altiero Spinelli zur Genscher/Colombo-Initiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang: Verhandlungen des Europäischen Parlaments 1–277 (19. November 1981), S. 244f. Die folgenden Quellenzitate stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus der hier abgedruckten Quelle.

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ten zwischen Frankreich und den übrigen Mitgliedern stagniert hatte, hatte 1969 der Gipfel von Den Haag, bei dem sich erstmals die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten versammelten, zu einer Überwindung der Blockade geführt. Ab 1974 fanden diese Gipfeltreffen unter der Bezeichnung „Europäischer Rat“ regelmäßig statt, und obgleich er nicht ausdrücklich als Gemeinschaftsorgan in die EG-Verträge aufgenommen wurde, entwickelte sich der Europäische Rat rasch zu der wichtigsten Institution, auf deren Initiativen die meisten Integrationserfolge der 1970er-Jahre zurückgingen. So konnten die Staats- und Regierungschefs mehrere eingefahrene Probleme lösen, an denen die Gemeinschaft zuvor gelitten hatte: 1969 vereinbarten sie die Einführung von finanziellen Eigenmitteln für die Gemeinschaft, 1970 die Einrichtung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die eine bessere Koordinierung der Regierungen vor allem in außenpolitischen Fragen zum Ziel hatte. 1973 kam es zur Erweiterung der EG um Großbritannien, Irland und Dänemark, 1976 wurde beschlossen, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments ab 1979 direkt gewählt und nicht mehr, wie bisher, von den nationalen Parlamenten entsandt werden sollten. Die Etablierung regelmäßiger Gipfeltreffen bewirkte allerdings auch, dass die Europäische Kommission, die in den ersten Jahren den Integrationsprozess maßgeblich beeinflusst hatte, an Gewicht verlor. Wichtige Entscheidungen – etwa in der Außen- und Währungspolitik – wurden nun nicht mehr supranational getroffen, sondern intergouvernemental zwischen den Regierungen abgestimmt. Zugleich mehrten sich seit Mitte der 1970er-Jahre immer deutlichere Krisenerscheinungen. Die Ölschocks von 1973 und 1979 führten zum Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu nationalen Alleingängen bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und ab 1981 zur tiefsten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg; hinzu kam die Sorge vor einem Zurückbleiben der europäischen gegenüber der amerikanischen und japanischen Wirtschaft. Neben diese ökonomische Stagnation trat außerdem eine politische Lähmung der Gemeinschaft, die vor allem durch Großbritannien ausgelöst worden war. Da das Land aufgrund seiner fehlenden Landwirtschaft kaum Rückflüsse aus dem EG-Agrarfonds erhielt, leistete es im Vergleich mit den übrigen Mitgliedstaaten einen unproportional hohen Nettobeitrag zum Gemeinschaftshaushalt. Die 1979 zur Premierministerin gewählte Margaret Thatcher forderte deshalb eine Absenkung der britischen Zahlungen – und verhinderte mit ihrem Vetorecht alle bedeutenden Initiativen im Europäischen Rat, bis die „British Budget Question“ gelöst sein würde. Diese inneren Schwierigkeiten schließlich fielen zusammen mit einer zunehmend angespannten weltpolitischen Lage: Nach der Entspannungsphase Anfang der 1970erJahre hatte im Ost-West-Konflikt der Rüstungswettlauf wieder eingesetzt, 1979 kam es kurz nacheinander zum NATO-Doppelbeschluss und zum Angriff der Sowjetunion auf Afghanistan. Die mangelnde politische Handlungsfähigkeit der EG – die noch auf der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1973–1975 als ein maßgeblicher Akteur der Entspannungspolitik aufgetreten war – erschien vor diesem Hintergrund noch einmal gravierender. In dieser Situation versuchten die Außenminister Genscher und Colombo 1981, die Europäische Gemeinschaft mit ihrem Plan wiederzubeleben und weitere

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Blockaden zu verhindern. Ausdrückliches Ziel war dabei die Konzentration auf Maßnahmen, die unter den Regierungen konsensfähig und kurzfristig erreichbar sein sollten. Zunächst ohne die bestehenden EG-Verträge zu verändern – erst nach fünf Jahren sollte im Licht der gesammelten Erfahrungen über eine Revision beraten werden –, sollten sich die Staats- und Regierungschefs mit einer „Europäischen Akte“ zu dem Ziel einer intensivierten politischen Zusammenarbeit bekennen, die unter dem Dach einer neuen „Europäischen Union“ angesiedelt wäre. Der Ministerrat sollte künftig auch in der Zusammensetzung der Justiz- und der Kulturminister tagen, außerdem sollte als neue Institution ein „ausbaufähiges Sekretariat der Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ eingerichtet werden. Nationale Vetomöglichkeiten sollten reduziert, die Kompetenzen des Europäischen Parlaments geringfügig erweitert werden. Es würde künftig „zu allen Bereichen der Europäischen Union mündliche oder schriftliche Anfragen an die Ministerräte und an die Kommission richten“

und Empfehlungen unterbreiten dürfen, aber weiterhin so gut wie keine eigenen Entscheidungsbefugnisse besitzen. Maßgeblich für die Entwicklung der Gemeinschaft sollten auch künftig die jeweils nationalen Regierungen bleiben: Der Europäische Rat sollte nach dem vorgeschlagenen Text der Akte „das politische Lenkungsorgan der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ sein und damit endgültig zum Integrationsmotor werden. 5 Dieser Ansatz der beiden Außenminister kontrastierte scharf mit den Europavorstellungen der europäischen Föderalisten, deren bekanntester Vertreter Altiero Spinelli war. Für ihn konnte die Lösung der Probleme der Gemeinschaft nicht in einer Intensivierung der intergouvernementalen Regierungszusammenarbeit, sondern nur in deren Überwindung zugunsten der supranationalen Ebene liegen. 1907 geboren, war Spinelli zunächst im kommunistischen Widerstand gegen den italienischen Faschismus aktiv gewesen; von 1927 bis 1943 war er deshalb zunächst zehn Jahre in Haft und danach auf die Gefängnisinseln Ponza und Ventotene verbannt. Angesichts der stalinistischen Gewalttaten in der Sowjetunion distanzierte er sich hier von der Kommunistischen Partei und näherte sich stattdessen den Ideen des europäischen Föderalismus an. 6 Zusammen mit Ernesto Rossi und anderen Mitgefangenen verfasste er 1941 das „Manifest von Ventotene“, in dem die absolute Souveränität der Nationalstaaten als struktureller Grund für Totalitarismus und Krieg dargestellt und ein europäischer Bundesstaat als einzige dauerhafte Friedenslösung propagiert wurde. Die Einrichtung dieses Bundesstaats sollte auf revolutionäre Weise erreicht werden: In der „kurzen intensiven Zeitspanne allgemeiner Krise“, die auf das Ende des Weltkrieges folgen würde, sollte durch eine 5

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Gemeinsamer deutsch-italienischer Vorschlag für die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, zit. nach: Rosengarten, Ulrich, Die Genscher-ColomboInitiative. Baustein für die Europäische Union, Baden-Baden 2008, S. 199–206; zu den Zielen des Vorschlags im Einzelnen vgl. ebd., S. 49f. 1937, kurz nach seiner Verlegung nach Ponza, wurde Spinelli als „Trotzkist“ aus der Partei ausgeschlossen (vgl. Graglia, Piero S., Altiero Spinelli, Bologna 2008, S. 119–123).

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„wahre revolutionäre Bewegung“ die nationalstaatliche Souveränität überwunden und eine europäische Verfassung in Kraft gesetzt werden. 7 Nach seiner Freilassung rief Spinelli das italienische Movimento Federalista Europeo ins Leben, 1946 war er an der Gründung der Union Europäischer Föderalisten beteiligt, die die Idee der europäischen Integration in der Nachkriegszeit maßgeblich vorantrieb. Der Plan einer europäischen Verfassung scheiterte allerdings; die Bemühungen der Föderalisten führten 1949 lediglich zur Gründung des Europarats, der jedoch die Souveränität der Nationalstaaten nicht in Frage stellte und in der Praxis weitgehend machtlos blieb. Erfolgreich war stattdessen das Projekt der Europäischen Gemeinschaften, das sich zunächst auf die wirtschaftliche Integration konzentrierte. In ihrem Mittelpunkt stand eine nicht gewählte supranationale Kommission, die vom Rat der nationalen Minister kontrolliert wurde, während das Parlament der Gemeinschaften kaum Kompetenzen besaß. Für Spinelli blieb dieser Ansatz unbefriedigend, dennoch erkannte er in der EG die einzig erfolgreiche Institution, mit der die europäische Integration auch im politischen Bereich vorangetrieben werden konnte. 1952 überzeugte er den italienischen Ministerpräsidenten de Gasperi, sich im Rahmen der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft auch für die Gründung einer umfassenden Europäischen Politischen Gemeinschaft einzusetzen, die der Weiterentwicklung zu einem europäischen Bundesstaat offen stehen sollte; 1954 schlug er vor, dem Europäischen Parlament ein verfassunggebendes Mandat zu erteilen, mit dem es über den weiteren Verlauf der Integration bestimmen sollte. Beide Vorhaben scheiterten jedoch, als die Ratifizierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und damit verbunden der Europäischen Politischen Gemeinschaft im französischen Parlament abgelehnt wurde. 8 1970 wurde Spinelli selbst Mitglied der Europäischen Kommission, wo er für Industrie und Handel zuständig war. Allerdings hielt er auch in diesem Amt die Idee einer europäischen verfassunggebenden Versammlung aufrecht. Die Gelegenheit dazu schien gekommen, als 1976 der Europäische Rat beschloss, das Europäische Parlament ab 1979 unmittelbar von der Bevölkerung wählen zu lassen. Zwar sollte die Direktwahl nicht mit zusätzlichen Befugnissen für das Parlament verbunden sein; nach den Vorstellungen der Staats- und Regierungschefs würde es auch weiterhin nur in bestimmten wirtschaftspolitischen Bereichen als beratende Institution tätig werden. Die hohe demokratische Legitimation, die es durch die Direktwahl gewann, erschien Spinelli jedoch als Möglichkeit, aus dem Rahmen der bestehenden EG-Verträge auszubrechen und dem Europäischen Parla-

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Spinelli, Altiero; Rossi, Ernesto, Per un’Europa libera e unita – Progetto d’un manifesto, zit. nach: Spadolino, Giovanni (Hg.), Per l’unità europea. Dalla “Giovine Europa” al “Manifesto di Ventotene”, Florenz 1984, S. 105–118, hier S. 109 und S. 112; deutsche Übersetzung online verfügbar, URL: (16.11.2015). Vgl. Chiti-Batelli, Andrea, L’idea d’Europa nel pensiero di Altiero Spinelli, Manduria 1989, S. 167–189.

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ment von innen heraus neue Kompetenzen zu schaffen. 9 Als Unabhängiger auf der Liste der italienischen Kommunisten gewählt, machte er sich deshalb ab 1979 daran, das föderalistische Konzept einer verfassunggebenden Versammlung auch ohne formales Mandat umzusetzen. Die Krise, in der sich die EG seit Mitte der 1970er-Jahre befand, musste Spinelli als ein weiterer Beweis für die Unzulänglichkeit der bisherigen Integrationsmethode erscheinen, da es weder der supranational-technokratischen Kommission noch dem intergouvernementalen Europäischen Rat gelang, überzeugende Vorschläge für eine Wiederbelebung des Einigungsprozesses zu präsentieren. Den letzten Ausschlag gab schließlich ein Konflikt über den Haushaltsplan der Gemeinschaften, der verdeutlichte, dass das Parlament ohne eine grundlegende institutionelle Reform auch weiterhin kaum Einfluss würde ausüben können: Nachdem es Ende 1979 auf Betreiben Spinellis den Etatvorschlag des Rates abgelehnt hatte (eine der wenigen Kompetenzen, die ihm nach den bestehenden Verträgen zustanden), legte der Rat diesen wenige Monate später mit nur kleinen Veränderungen erneut vor – und stieß diesmal auf Zustimmung, da die Abgeordneten neben der wirtschaftlichen und politischen nicht auch noch eine finanzielle Blockade der Gemeinschaften riskieren wollten. 10 Noch am selben Tag, an dem der Haushaltsausschuss des Parlaments den neuen Etatvorschlag annahm, verschickte Spinelli an alle übrigen Abgeordneten einen Brief, in dem er ihnen das Projekt einer europäischen Verfassung unterbreitete, die das Parlament ausarbeiten sollte. Zwei Wochen später traf sich daraufhin am 9. Juli 1980 eine kleine fraktionenübergreifende Gruppe von Abgeordneten – die nach dem Straßburger Restaurant, in dem das Treffen stattfand, als Club du Crocodile bekannt wurde –, um eine entsprechende Initiative vorzubereiten. Das Besondere an ihrem Plan war, dass er die nationalen Regierungen vollkommen aus dem Reformprozess herauszuhalten versuchte: Sobald das Europäische Parlament den Verfassungsentwurf ausgearbeitet haben würde, sollte er unmittelbar den Parlamenten der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt werden. Obwohl dieses Vorhaben insbesondere in der christdemokratischen Fraktion auch auf Widerstand stieß 11, wuchs der Club du Crocodile in den folgenden Monaten auf bis zu 180 Mitglieder an. Am 9. Juli 1981 nahm das Parlament schließlich mit großer Mehr9

Tatsächlich hatte Spinelli eine Direktwahl des Europäischen Parlaments noch 1960 öffentlich abgelehnt, da ein gewähltes Parlament ohne legislative Befugnisse und ohne eine echte europäische Regierung sinnlos sei. 1978 betonte er dagegen, dass das Parlament als gewählte europäische Volksvertretung höheren Druck auf die Kommission und die Mitgliedstaaten ausüben und eine verfassunggebende Rolle würde einfordern können (vgl. Chiti-Batelli, L’idea d’Europa, S. 267–289). 10 Spinelli versuchte dabei bis zuletzt, ein positives Votum zu verhindern, vor allem um die Position des Parlaments im institutionellen Gefüge der EG zu stärken. In seinem Tagebuch bemerkte er: „Es ist nicht so schlimm, dass in dieser Abnutzungsschlacht der Rat gewonnen hat. Es ist schlimm, dass das Parlament meint, einen Teilsieg errungen zu haben, und sich fast noch beim Rat dafür bedankt“ (Spinelli, Altiero, Diario europeo, hg. von Edmondo Paolini, Bd. 3: 1976–1986, Bologna 1992, S. 485, Übersetzung MM). 11 Vgl. Pasquinucci, Daniele, Europeismo e democrazia. Altiero Spinelli e la sinistra europea 1950–1986, Bologna 2000, S. 331–334.

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heit einen Entschließungsantrag an, dem zufolge ein neu einzusetzender Ausschuss für institutionelle Fragen Vorschläge für eine Strukturreform der Gemeinschaft unterbreiten sollte. Ausschussvorsitzender sollte der italienische Sozialist Mauro Ferri werden, Spinelli selbst wurde Berichterstatter für das Projekt eines Verfassungsvertrags für die „Europäische Union“, wie das Konzept einer nicht mehr nur wirtschaftlich, sondern auch politisch ausgerichteten Gemeinschaft nun üblicherweise genannt wurde. Vor allem auf Betreiben der christdemokratischen Fraktion wurde allerdings festgelegt, dass der Ausschuss seine Arbeit erst ab Beginn der zweiten Hälfte der Legislaturperiode Anfang 1982 aufnehmen sollte. In dieser Situation nun wurde das Parlament Anfang November 1981 mit der Initiative Genschers und Colombos konfrontiert. Unter den Abgeordneten stieß sie auf gemischte Reaktionen: Zwar wurde von einigen die mangelnde Reichweite des Plans kritisiert, vielen erschien er aber auch als der einzige kurzfristig realisierbare Reformansatz. Spinelli musste daher das Verfassungsprojekt des Club du Crocodile verteidigen, noch bevor es vollständig in Gang gesetzt war. Die kurze Stellungnahme, mit der er in der Plenardebatte auf Genschers und Colombos Vorträge antwortete – er hatte die zehn Minuten Redezeit, die jeder Fraktion nach der Geschäftsordnung zustanden, mit einem Abgeordneten der Kommunistischen Partei Frankreichs teilen müssen –, begann mit einem knappen Lob an die Außenminister, überhaupt die Initiative zu einer politischen Union ergriffen zu haben. Wie aus Spinellis Tagebuch hervorgeht, folgte aber schon dieses Zugeständnis letztlich nur den Bitten anderer Fraktionsmitglieder. 12 Der Hauptteil der Rede war einer grundsätzlichen Kritik an dem Vorgehen Genschers und Colombos gewidmet. Auch wenn er den guten Willen der Minister und ihrer Mitarbeiter nicht in Zweifel zog, argumentierte Spinelli, dass diese grundsätzlich nicht in der Lage seien, ein erfolgreiches Integrationsprojekt zu entwickeln. Diese Skepsis gegenüber diplomatischen Verhandlungen hatte eine lange, bis auf die Zwischenkriegszeit zurückgehende Tradition im föderalistischen Integrationsverständnis. In einem bekannten Vortrag unter dem Titel „Pacifism is not Enough“ hatte der englische Föderalist Lord Lothian bereits 1935 argumentiert, dass auch friedliebende Regierungen den Ausbruch von Kriegen nicht verhindern könnten, da dieser auf die strukturellen Handlungszwänge nationaler Politiker in einem System der „Anarchie der souveränen Staaten“ zurückgehe; Lord Lothian hatte daher den Völkerbund als unzureichend kritisiert und die Schaffung einer übernationalen Staatsorganisation gefordert. 13 Ende der 1950er-Jahre, nach dem Scheitern der Europäischen Politischen Gemeinschaft, hatte Spinelli selbst in mehreren Schriften dargelegt, dass die nationalen Regierungen aus strukturellen Gründen keine politischen Vorschläge entwickeln könnten, mit denen sie die nationale Souveränität und damit ihre eigene Macht in Frage stellten. 14 Nun variierte 12 Spinelli, Diario, S. 693. 13 Kerr, Philipp (Marquess of Lothian), Pacifism is not enough nor patriotism either, in: Pinder, John; Bosco, Andrea (Hgg.), Pacifism is not Enough. Collected Lectures and Speeches of Lord Lothian (Philip Kerr), London 1990, S. 217–263, bes. S. 230–241. 14 Vgl. Chiti-Batelli, L’idea d’Europa, S. 195–212, bes. S. 199 und S. 209.

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er dieses Argument im Sinne des Club du Crocodile: Auch wenn die Diplomaten, die den Genscher-Colombo-Plan ausgearbeitet hatten, dabei die besten Intentionen gehabt hätten, sei von ihnen kein Entwurf zur Stärkung der supranationalen Institutionen zu erwarten gewesen. Vielmehr führe der Ansatz des deutschen und italienischen Ministers lediglich zu einer Vervielfältigung der intergouvernementalen Organe und damit zu einer Verzettelung der gemeinsamen Politik. Eine echte europäische Verfassung hingegen könne nur durch das Europäische Parlament initiiert werden, in dem Spinelli – wie er in der Rede mehrmals betonte – die legitime Vertretung des „europäischen Volkes“ sah, also des Souveräns eines möglichen europäischen Bundesstaats. Allerdings beschränkte sich Spinelli nicht auf eine Ablehnung des GenscherColombo-Plans, sondern ging noch einen Schritt weiter, indem er den nationalen Regierungen einen Vorschlag zur provisorischen weiteren Gestaltung ihrer Zusammenarbeit machte: Bis der Verfassungsentwurf des Parlaments verabschiedet und ratifiziert sein würde, sollten sie vorläufig einen außen- und sicherheitspolitischen Sonderbevollmächtigten ernennen. Seinem Tagebuch zufolge wollte Spinelli für dieses Amt den französischen Sozialisten Claude Cheysson empfehlen, der ab 1973 in der Europäischen Kommission für Entwicklungspolitik zuständig gewesen und im Mai 1981 zum französischen Außenminister ernannt worden war; die entsprechenden Passagen der Rede fielen jedoch der Zeitbegrenzung zum Opfer. 15 Die Art und vor allem die Begründung dieses Vorschlags – in Anlehnung an die Bevollmächtigten der Alliierten in den Weltkriegen – verdeutlichen, wie sehr die Schwierigkeiten der frühen 1980er-Jahre von Spinelli als Existenzkrise der Gemeinschaft verstanden wurden, in der die intergouvernementale Zusammenarbeit auch kurzfristig keine Erfolge mehr versprach. Für die Regierungen der europäischen Staaten waren diese Vorschläge freilich nicht annehmbar. Hatten schon Genscher und Colombo wenig Einsatz für eine Stärkung der supranationalen Institutionen gezeigt, so lehnte Großbritannien unter Margaret Thatcher jegliche Form einer vertieften Integration mit dem Hinweis auf den überhöhten britischen Nettobeitrag zum Haushalt der Gemeinschaft ab. Da sich der Konflikt um die British Budget Question während der nächsten Jahre noch weiter verschärfte, konnte sich selbst der deutsch-italienische Plan – der sich nach den Worten Genschers doch darauf beschränkte, „das Erreichbare zu formulieren“ 16 – nicht durchsetzen. Auf dem Europäischen Rat von London wurde Ende November 1981 zunächst eine intergouvernementale Arbeitsgruppe zu dem Projekt eingesetzt, die in ihren über ein Jahr andauernden Beratungen die Vorschläge weiter zurückschnitt. 17 Bei einer Aussprache, die im Oktober 1982 im Europäischen Parlament über den Zwischenstand der Verhandlungen stattfand, kritisierte Spinelli die Initiative Genschers und Colombos deshalb noch einmal als wir15 Spinelli, Diario, S. 697. 16 Rede von Hans-Dietrich Genscher vor dem Europäischen Parlament, S. 235. 17 Neben Großbritannien lehnten vor allem Dänemark und Griechenland das Projekt ab, von dem sie eine Einschränkung ihrer Souveränität befürchteten (vgl. Rosengarten, GenscherColombo-Initiative, S. 74f.).

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kungslos. Sie sei zum Scheitern verurteilt, „und zwar nicht wegen Ihrer Vorschläge, sondern wegen des von Ihnen eingeschlagenen Wegs“. 18 Stattdessen empfahl er erneut das Verfassungsprojekt des Parlaments als Angelpunkt für die institutionelle Reform der Gemeinschaft. Zuletzt kam es im Juni 1983 auf dem Europäischen Rat von Stuttgart zu einer „feierlichen Erklärung“ der Regierungen, die gewisse Inhalte des Plans aufgriff, aber keinerlei rechtlich bindende Wirkung hatte und in der Praxis weitgehend folgenlos blieb. Doch auch Spinellis Entwurf einer Europäischen Union scheiterte wenig später. Zwar nahm der Ausschuss für institutionelle Fragen wie vorgesehen seine Arbeit auf und präsentierte am 14. Februar 1984 einen Verfassungsvertrag, der vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Er sah eine Erweiterung der Kompetenzen der Union auf den außen- und sicherheitspolitischen Bereich vor, führte erstmals ein legislatives Mitentscheidungs- und Initiativrecht für das Parlament ein und reduzierte die Vetomöglichkeiten einzelner nationaler Regierungen im Rat. Spinellis Plan, diesen Entwurf unter Umgehung der Regierungen unmittelbar von den Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifizieren zu lassen, erwies sich jedoch als aussichtsloses Unterfangen. Obwohl die Verfassungsinitiative selbst in vielen Staaten auf Lob stieß, wurde darüber nur in wenigen nationalen Parlamenten offiziell debattiert und in keinem einzigen abgestimmt. Auch der französische Staatspräsident François Mitterrand, zu dieser Zeit Vorsitzender des Europäischen Rates, machte sich am 23. Mai 1984 in einer viel beachteten Rede im Europäischen Parlament zwar die Inhalte des Verfassungsentwurfes zu Eigen. Er beschränkte sich dabei jedoch auf den Vorschlag, „vorbereitende Gespräche in Angriff zu nehmen, die zu einer Konferenz der beteiligten Mitgliedstaaten führen könnten“ 19 – ging also gerade nicht auf die von Spinelli angestrebte Vorgehensweise zur Ratifizierung ein. Die Entscheidung fiel schließlich auf dem Europäischen Rat von Fontainebleau im Juni 1984. Hier wurde nicht nur das britische Nettobeitragsproblem endlich gelöst, sondern auch ein Ausschuss von Regierungsvertretern eingesetzt, der Vorschläge zu einer institutionellen Reform erarbeiten sollte – auf der Grundlage der existierenden Entwürfe, aber ohne jede Beteiligung des Parlaments. Ende 1985 beschlossen die Staats- und Regierungschefs schließlich die Einheitliche Europäische Akte, einen Reformvertrag, dessen institutionelle Neuerungen sich allerdings eher am Genscher-Colombo-Plan als am Spinelli-Entwurf orientierten. Die Überwindung der Integrationskrise der frühen 1980er-Jahre erfolgte also auf intergouvernementale Weise durch den Europäischen Rat, nicht auf dem Weg einer föderalistischen Verfassung. Diese erschien nun immer mehr als unrealis18 Rede von Altiero Spinelli vor dem Europäischen Parlament (14. Oktober 1982), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang: Verhandlungen des Europäischen Parlaments 1– 289, hier S. 282. 19 Rede von François Mitterrand vor dem Europäischen Parlament (23. Mai 1984), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang: Verhandlungen des Europäischen Parlaments 1– 314, S. 273–279, hier S. 278, URL: (16.11.2015).

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tisch und wurde selbst als Möglichkeit kaum noch in Betracht gezogen. Am 31. Dezember 1985, wenige Monate vor seinem Tod, notierte Spinelli in seinem Tagebuch: „Was bei der Initiative des Crocodile noch ernsthaft gewesen ist, wäre heute lächerlich.“ 20 Und auch wenn zahlreiche Inhalte des Spinelli-Entwurfs – etwa das Mitentscheidungsverfahren im Gesetzgebungsprozess – im Vertrag von Maastricht 1992 doch noch Aufnahme in das politische System der Europäischen Union fanden, war zu diesem Zeitpunkt längst deutlich geworden, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht darauf verzichten würden, als Herren der Verträge die Kontrolle über den Integrationsprozess zu behalten. Auch der neue Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags, der 2004 vom Europäischen Rat verabschiedet wurde und letztlich an nationalen Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte, folgte einer Initiative der nationalen Regierungen. Obwohl die Idee einer verfassunggebenden Versammlung mit dem Europäischen Konvent noch einmal aufgegriffen wurde, wurden dessen Vorschläge anschließend wie selbstverständlich von einer Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten modifiziert. Das Europäische Parlament arbeitete an diesen Vertragsreformen zwar mit – das in den Augen Altiero Spinellis einzige Organ, „das im Namen des europäischen Volks, das es gewählt hat, sprechen und Vorschläge machen darf“, trat jedoch nicht mehr als Impulsgeber des Integrationsprozesses in Erscheinung. Literaturhinweise Bosco, Andrea, A „Federator“ for Europe: Altiero Spinelli and the Constituent Role of the European Parliament (EUI Working Paper RSC 94/19), San Domenico 1994. Chiti-Batelli, Andrea, L’idea d’Europa nel pensiero di Altiero Spinelli, Manduria 1989. Graglia, Piero S., Altiero Spinelli, Bologna 2008. Rosengarten, Ulrich, Die Genscher-Colombo-Initiative. Baustein für die Europäische Union, Baden-Baden 2008.

Quelle Rede von Altiero Spinelli zur Genscher/Colombo-Initiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981) 21 Frau Präsidentin, ich möchte noch einmal eine Hilfssprache benutzen. Wenn ich gläubig wäre, würde ich mit den Worten beginnen „Gott helfe mir!“ Denn eine derartige unerklärliche Hilfe brauche ich für das, was ich in den mir von der Geschäftsordnung zugebilligten erbärmlichen 5 Minuten zu sagen versuche. Ich will versuchen, Herr Gen20 Spinelli, Diario, S. 1286 (Übersetzung MM). 21 Rede von Altiero Spinelli zur Genscher/Colombo-Initiative vor dem Europäischen Parlament (19. November 1981), in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang: Verhandlungen des Europäischen Parlaments 1–277 (19. November 1981), S. 244f. Die Quelle sowie das französische Original sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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scher und Herr Colombo, Sie dazu aufzufordern, über sich selbst hinauszuwachsen, um der Aufgabe gerecht zu werden, die Sie sich selber vorgenommen haben. Wir sind Ihnen, Herr deutscher und Herr italienischer Außenminister, vornehmlich für Ihre Initiative dankbar, denn mit dem Vorschlag dieser europäischen Akte haben Sie mit einem Tabu gebrochen, das schon viel zu lange auf dem gesamten europäischen Aufbauwerk lastete: das Tabu, wonach es verboten war, den Blick über die der Gemeinschaft obliegenden Wirtschaftsaufgaben hinaus zu richten. Ihnen kam das Verdienst zu, daß Sie jetzt den Augenblick für gekommen halten, mit den Arbeiten zum allmählichen Aufbau der europäischen Union zu beginnen, d. h. einer politischen Union, die sich natürlich auch der Vertiefung der gemeinsamen Wirtschaftspolitik, aber auch der Förderung einer gemeinsamen Außenpolitik und einer gemeinsamen Sicherheitspolitik annimmt. Es müssen also gemeinsam diplomatische und strategische Initiativen ergriffen werden, die geeignet sind, das Friedenswerk aktiv zu fördern. Wir danken Ihnen also dafür, daß Sie unsere Regierungen, unsere Gemeinschaft, unsere Völker zu der Überlegung veranlaßt haben, daß diese neuen gemeinsamen Politiken gemeinsamer Entscheidungs- und Durchführungsinstrumente bedürfen. Dennoch, meine Herren Minister, wie haben Sie sich in dieser Initiative als kleingläubig und phantasiearm erwiesen! Ich habe nicht vergessen, Herr Genscher, daß Sie vor 6 oder 7 Jahren Ihre Partei davon überzeugt haben, daß sie sich für eine europäische verfassunggebende Versammlung einsetzen muß. Sie haben es aber vielleicht vergessen. Vor nicht allzulanger Zeit, am 26. November 1980, als Sie von dieser Wiederbelebung der europäischen Union zu sprechen begannen, haben Sie im Bundestag etwa folgendes gesagt: „Ich habe nicht den Eindruck, daß die Impulse, sich mit einem Verfassungsentwurf für Europa zu befassen, von den nationalen Regierungen kommen können. Sie können nur aus dem direkt gewählten Europäischen Parlament kommen.“ Als Sie dies aussprachen, wussten Sie, daß die Initiative des „Krokodilclubs“ in diesem Parlament bereits anlief. Und ich will gerne zugeben, daß es Schuld des Parlaments ist, bei Übernahme dieser Aufgabe viel zu langsam gewesen zu sein … Es hat sie aber schließlich übernommen, und in Kürze wird es sich an die Arbeit machen, Sie aber, Herr Genscher, Sie hatten keine Geduld. Sie haben sich im Parlament sehr schnell den Schneid abkaufen lassen. Sie haben sehr schnell Ihren Diplomaten die Abfassung dieser Akte übertragen. Und Sie haben von ihnen bekommen, was sie [sic] selbst schon ahnten: sie haben Ihnen nämlich eine n-te Variante einer regierungsübergreifenden Zusammenarbeit vorgeführt und angedreht. (Beifall auf einzelnen Bänken) Sie kennen doch das Sprichwort „Auch das schönste Mädchen der Welt kann nur das geben, was es hat.“ Ihre Diplomaten können auch nicht mehr. Ich gebe zu, daß Ihnen im Augenblick nichts anderes zur Verfügung steht als diese regierungsübergreifende Zusammenarbeit und daß Sie über sie darauf hinwirken müssen, die brennendsten internationalen Probleme zu überwinden. Wir bitten Sie aber, genau zu bedenken, wie provisorisch, zufallsbedingt und anfällig diese Methode ist. Sagen Sie uns jetzt nicht, in fünf Jahren – zu Beginn sagten Sie in drei Jahren, jetzt sind es aber bereits schon fünf Jahre geworden – wird der Rat im Licht der Erfahrung, falls erforderlich, einen Vertrag zur Festigung der Union vorschlagen … Sagen Sie lieber, daß man keine Erfahrungen machen wird, daß diejenigen, die hören wollen, in dieser Frage bestens Bescheid wissen, daß Sie aber Ihr möglichstes tun werden,

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um diese ungewisse und zerbrechliche Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, um dem Parlament die 2 oder 2½ Jahre zu geben, die es braucht, um den Entwurf eines Grundgesetzes der europäischen Union vorzubereiten und den Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorzulegen. In diesem Fall würde das Europäische Parlament im Namen des europäischen Volks, das es gewählt hat, vorbehaltlos Ihre Initiative begrüßen und sich ermutigt fühlen, seine Verfassungsarbeit zu beschleunigen, um Ihnen schnellstmöglich in Ihrer bedrängten Lage zu Hilfe zu kommen, die auf Dauer nicht haltbar ist. Und Sie hätten sich um Europa verdient gemacht. Ich möchte auch Herrn Colombo sagen – der im Augenblick abwesend ist –, der sich als Erbe des europäischen Geists De Gasperis betrachtet, daß ich auch ihn auffordern werde, dieselbe Ausdauer unter Beweis zu stellen, die De Gasperi zeigte, als er seinen Kollegen ähnliche Vorschläge machte. Aber, Herr Minister, von diesem Parlament, dem einzigen Organ, das im Namen des europäischen Volks, das es gewählt hat, sprechen und Vorschläge machen darf, von diesem Parlament müssen Sie die Zukunft Europas erwarten und nicht von ihren interministeriellen Vorschlägen! Ich habe außerdem gesagt, daß es Ihnen an Phantasie mangelte. Sie sind sich zwar darüber im klaren, daß unsere Regierungen vorläufig und unverzüglich zusammenarbeiten müssen, um hier und da ein Mindestmaß an gemeinsamer Politik, schließlich aber, sagen wir es deutlich, vor allem eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu erreichen. Und Sie sind sich darüber im klaren, daß Sie sich nicht darauf beschränken dürfen, deren Notwendigkeit zu proklamieren, sondern daß Sie es mit einem Mindestmaß an Effizienz machen müssen. In Ihrer Akte aber suchen Sie die Effizienz in einer Vervielfältigung von Räten, Ausschüssen, Unterausschüssen, in einem ausgefallenen Sekretariat mit variablen Strukturen und Sitzen, d. h. in einer Vervielfältigung von Organen und Gremien, alle mit der gleichen regierungsübergreifenden Eigenschaft. Und dann, wenn alles von diesen Ausschüssen und Räten durchgeknetet und verdaut worden ist, dann würde sich Ihnen zufolge jeder Staat ausrechnen, was an politischer Errungenschaft dabei herausgekommen ist. Meine Herren Minister, haben Sie noch nie gehört, daß die Alliierten im Ersten und Zweiten Weltkrieg – als sie sich im Notstand befanden, der sie zu einer gemeinsamen Militärpolitik an den Kriegsfronten, zu einer gemeinsamen Nachschubpolitik und zu einer gemeinsamen Kontrolle ihrer Währungen zwang – durch ähnliche Akte wie die Ihren, ohne juristische Formalitäten, ohne institutionelle Verpflichtung, ohne zukünftige Entwicklungen zu präjudizieren, daß sie beschlossen haben, einen Foch, einen Eisenhower, einen Monnet zu ihren jeweiligen Bevollmächtigten zu ernennen? Genau dies sollten Sie vorschlagen, um Ihren Initiativen in der derzeitigen Lage, provisorisch, in Form der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, zum Durchbruch zu verhelfen. (Beifall)

GYÖRGY KONRÁDS MEIN TRAUM VON EUROPA: DIE MITTELEUROPADISKUSSION DER 1980ER-JAHRE1 Steffi Marung Der Essay des ungarischen Schriftstellers György Konrád Mein Traum von Europa steht neben Milan Kunderas berühmten Diktum vom „occident kidnappé“ 2 (1984) am Beginn einer intensiven Diskussion über Mitteleuropa. Diese beschäftigte während der 1980er-Jahre dissidente und exilierte Intellektuelle und Künstler in und aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, teilweise auch der DDR, aber ebenso zunehmend westliche Intellektuelle und Politiker. Dabei ging es im Allgemeinen um die Identität und Einheit Europas und im Besonderen um das Selbstverständnis jener Länder, die damals im sowjetischen Einflussbereich lagen, historisch jedoch auf eine lange Geschichte der Verbundenheit mit dem westlichen Europa zurückblicken konnten. Außer in Samizdat-Publikationen fand die Diskussion in einer Reihe internationaler Foren statt. Dazu gehörte die Zeitschrift Cross Currents. A Yearbook of Central European Culture, die 1982 vom Slavic Department der Universität Michigan mit dem Ziel begründet wurde, die Kultur und Geschichte derjenigen Nationen zu bewahren, die durch den Eisernen Vorhang von der Bildfläche westlicher Wahrnehmungen zu verschwinden drohten; 3 außerdem das westdeutsche Kursbuch und die in New York erscheinende Social Research. An International Quarterly of the Social Sciences mit ihren thematischen Serien zu Ostmitteleuropa. György Konráds 1985 im Kursbuch veröffentlichter „Traum von Europa“, der in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht, repräsentiert dabei nicht nur eine Debatte, die gegen Ende des Kalten Krieges einigen Einfluss erlangte. 4 Er kann gleichermaßen als Etappe einer lang andauernden Selbstverständigung Europas über seine Identität gelten und damit dem Prozess des modernen mental mapping Europas zugeordnet werden. Dessen Teilung in Ost und West mithilfe 1 2

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Essay zur Quelle: György Konrád: Mein Traum von Europa (1985). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. den im Themenportal Europäische Geschichte 2007 veröffentlichen Ausschnitt aus Kundera, Milan, Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983), URL: (16.11.2015) und den dazu gehörigen Essay von Ther, Philipp, Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas, URL: (16.11.2015). Die Zeitschrift wurde 1993 eingestellt. Konrád, György, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch (1985), H. 81, S. 175–193. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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kultureller Kriterien hatte sich im Zuge der Aufklärung herausgebildet. 5 Zwischen diese beiden Hälften des Kontinents schob sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung einer „Mitte“. Seither wird über deren geografische, kulturelle und politische Bestimmung wie auch über deren Bedeutung und Funktion für die Einheit, Identität und politische Gliederung des Kontinents gestritten. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert können in der Diskussion über die Mitte Europas bzw. Mitteleuropa zunächst zwei Argumentations- und Traditionsstränge unterschieden werden. Die erste Variante stand im Zusammenhang mit den Hegemoniebestrebungen des Deutschen Kaiserreichs und war von Friedrich Naumann 1915 richtungweisend formuliert worden. 6 Die nationalsozialistische Ideologie und Praxis entwickelte diese für die Begründung des Vernichtungskriegs im Osten weiter, sodass dieser Entwurf zum Synonym für deutsche Allmachtsphantasien wurde. Eine zweite Auffassung von „Mitteleuropa“ stand für den habsburgisch geprägten Entwurf eines Vermittlungsraums zwischen der lateinischen, germanischen und slawischen Tradition. Diese Vorstellung basierte auf einer dynastischen Staatsauffassung, betonte die transnationalen und regionalen Beziehungen und verwarf das Konzept der Staatsnation. Dahinter stand die Idee eines organischen Raums der Vielfalt, dessen gemeinsame Interessen in der geopolitischen Lage einerseits und in der Vermittlung dieser Vielfalt andererseits lagen. Die Überlegungen T.G. Masaryks, nach 1918 der erste tschechoslowakische Präsident, schlossen daran an. Er entwarf Mitteleuropa als Zone der „kleinen“, demokratischen Staaten zwischen Deutschland und Russland. 7 Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Mitte Europas durch die politische Teilung des Kontinents verloren gegangen zu sein. Winston Churchill beschrieb es damals so: „From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic an iron curtain has descended across the Continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of Central and Eastern Europe.” 8 Vierzig Jahre später, vor dem Hintergrund des mit der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eingeleiteten Entspannungsprozesses, der Abrüstungsdebatte und der Perestroika in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, gewannen die Gebiete und Gesellschaften gleich hinter dem Eisernen Vorhang wieder mehr Sichtbarkeit und Gewicht in der westlichen Wahrnehmung. In den heute als ostmitteleuropäisch bezeichneten Ländern war zuvor eine Reihe von Ausbruchsversuchen aus 5 6

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Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of Enlightenment, Stanford 1995. Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915; vgl. auch den im Themenportal Europäische Geschichte 2008 veröffentlichten Essay von Kiesewetter, Hubert, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert, URL: (16.11.2015) sowie die dazu gehörende Quelle Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 1904, URL: (16.11.2015). Vgl. u.a. LeRider, Jacques, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs, Wien 1994. Churchill, Winston, The Iron Curtain; in: Blood, Toil, Tears and Sweat. The Speeches of Winston Churchill, hg. von David Cannadine, Boston 1989, S. 303–305.

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dem Ostblock gescheitert: die ungarische Revolution 1956, die polnischen Aufstände 1956, 1968, 1970, 1976 und 1980/81 sowie der Prager Frühling 1968. Der Mitteleuropa-Diskurs tschechoslowakischer, ungarischer und polnischer Prägung entfaltete in den 1980er-Jahren eine neue Qualität und Dynamik, weil hier versucht wurde, über die Grenzen des Ostblocks hinweg, auch an den Westen adressiert und für diesen wahrnehmbar, mithilfe des Begriffs „Mitteleuropa“ Gegenentwürfe und Alternativstrategien zur damals bestehenden politischen Ordnung Europas zu entwickeln. Dabei sprachen aus ihm nicht eine gemeinschaftliche, sondern viele verschiedene Stimmen, die sich aber alle gemeinsam auf die Position und Gestalt der Mitte Europas im Verhältnis zu Ost und West sowie auf den Charakter des gesamten Kontinents und die daran geknüpften politischen und kulturellen Visionen bezogen. Eine Strömung ist dabei unter anderem mit dem Namen Václav Havels verknüpft, der mit seinem Modell der Antipolitik die Logik des Politischen grundsätzlich in Frage stellte und in seine Zivilisationskritik auch den Westen einschloss. Eine gesonderte Rolle nahm die Mitteleuropadiskussion in Polen ein, wo der Begriff das Stigma der deutschen expansionistischen Tradition schwer loswerden konnte. Konrád kam in der Diskussion eine vermittelnde Position zu, unter anderem in Bezug auf seine Bewertung der Blockkonfrontation und deren Ursachen. Er forderte dabei auch eine kritische Haltung gegenüber der ostmitteleuropäischen Geschichte. Milan Kundera, der damals wohl prominenteste Vertreter der Mitteleuropadebatte, betonte dagegen unversöhnlich die Differenz zum „russischen“ Osten, hob den Opferstatus der Völker der Region hervor und hatte keine Zweifel an der Zugehörigkeit Mitteleuropas zum Westen. Das Verhältnis zu Russland und der Sowjetunion spielte für die Diskussion, wie auch schon in den erwähnten älteren Traditionen, eine besondere Rolle. Die zivilisatorische Konfrontation Mitteleuropas mit „Osteuropa“, womit im Wesentlichen Russland und die Sowjetunion gemeint waren, wurde damals und wird bis heute von einer ganzen Reihe ostmitteleuropäischer Intellektueller betont. Für sie war und ist Russland das europäische „Andere“ und seine Kultur, seine Geschichte, seine Bestimmung seien grundlegend von denen des Westens zu unterscheiden. Konrád vertrat 1985 auch hier eine moderate Haltung: „Die Sowjetunion besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems.“ Konráds Essay von 1985 enthielt zentrale Muster der Mitteleuropadiskussion, bot aber Nuancen an. Der Verfasser ordnete den mitteleuropäischen Raum nicht so eindeutig dem Westen zu, wie dies Kundera in seinem ein Jahr früher erschienen Essay getan hatte. 9 Er problematisierte außerdem die Gleichsetzung Westeuropas mit Europa schlechthin. Konráds „Mitte Europas“ stellte die Teilung des Kontinents radikal in Frage, sie ist in diesem Zusammenhang aber weniger geografisch bestimmt. Ihre räumliche Ausdehnung war dabei immer umstritten. Am einfachsten schien die Abgrenzung nach Westen, gegenüber Frankreich, erheblich diffuser blieb dies Richtung Osten. Die Diskussion der 1980er-Jahre suchte die 9

Vgl. Kundera, Milan, Un occident kidnappé.

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Antwort auf dieses Problem nicht so sehr in der Geografie und Politik als in der Kultur und Mentalität. So formulierte der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz 1986 in der eingangs erwähnten amerikanischen Zeitschrift „Cross Currents“: „Central Europe is hardly a geographical notion. […] The ways of feeling and thinking of its inhabitants must thus suffice for drawing mental lines which seem to be more durable than the borders of the states.” 10 Die gemeinsame Geschichte und Kultur, insbesondere des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, begründeten die räumliche Definition der Zusammengehörigkeit. György Konrád ging auch in diesem Punkt noch einen Schritt weiter: Ob jemand Mitteleuropäer ist oder nicht, sei eine Frage der Weltanschauung und der Einstellung. Ein zentrales Argument innerhalb der Mitteleuropadiskussion war das Verhältnis der so genannten „kleinen“ Nationen zu ihrer Geschichte. Die „großen“ westeuropäischen Nationen könnten sich als Subjekt ihrer eigenen Geschichte verstehen, wogegen die „kleinen“ ihr stärker ausgeliefert und permanent in ihrer Existenz bedroht seien. „For us, every new turn of history has brought great losses. We spend a lot on history, we have an ongoing affair with it, we love it, we hate it; after supper we can argue heatedly over five hundred years of events”, schrieb György Konrád 1986. 11 Er plädierte dafür, sich aus dieser scheinbaren Unmündigkeit zu befreien. 12 In einem späteren Aufsatz, der 1990 veröffentlicht wurde, als die Einigung Europas schon greifbar schien, wurde er mit Blick auf die Judenvernichtung noch deutlicher: „Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hier in Osteuropa ist ziemlich trostlos [...]. Die Ermordung von zwei Dritteln des europäischen Judentums war nicht nur das Werk der Deutschen. Die faschistischen Bewegungen der gesamten Region haben dabei mitgewirkt.“ 13

Prägend für die gesamte Mitteleuropadiskussion war der Versuch der Vermittlung von Nation und übernationalem Raum. Letzterer steht bei Konrád im Zentrum. Dieser Raum wurde als Gemeinschaft von „kleinen“ Nationen beschrieben, die ständig durch die Ambitionen der mächtigeren in ihrer Existenz bedroht seien. Der Eigenwert der mitteleuropäischen Völker speise sich aber aus der Teilhabe an gemeinsamen historischen und kulturellen Erfahrungen. Die Verflechtung mit anderen nationalen Kulturen sei die Quelle der eigenen Stärken, einer anderen Art von „Größe“. Auch die Entwicklung des westlichen Europa wurde kritisch bewertet. „Die Idee der europäischen Identität“ stand laut Konrád „im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems“. „Mitteleuropäer zu sein ist heute für die herrschenden Klischeesysteme eine Herausforderung.“ Die westliche Identitätskrise, die sich exemplarisch und radikalisiert im Schicksal Mitteleuropas zeige, könne genau hier gelöst werden. Mitteleuropa könne für Westeuropa „ein lehr10 Miłosz, Czesław, Central European Attitudes, in: Cross Currents 5 (1986), S. 101–108, hier S. 101. 11 Konrád, György, Is The Dream Of Central Europe Still Alive?, in: ebd., S. 109–121, hier S. 114. 12 Ebd., S. 184. 13 Ders., Die Melancholie der Wiedergeburt, in: Kursbuch (1990), H. 102, S. 25–42, hier S. 41.

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reiches Versuchslabor“ werden: „Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen.“ Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Der Diskurs über Mitteleuropa war immer auch eine Verständigung über europäische Identität und Werte, nicht nur für die heutigen ostmitteleuropäischen Neumitglieder der Europäischen Union, sondern mit dem Anspruch einer gesamteuropäischen Vision. Deshalb besitzt er bis heute Relevanz auch für die gegenwärtigen Diskussionen über europäische Identitäten, die Grenzen Europas, die Konstitution eines Kerneuropas und das Verhältnis zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern. Der Konsens und Dissens über politisch-kulturelle Leitbegriffe wie Demokratie, Menschenrechte, Souveränität und Gerechtigkeit wird durch den historischen Mitteleuropadiskurs mitgeprägt. Seine genauere Betrachtung kann damit auch Aufschluss über Missverständnisse zwischen „alten“ und „neuen“ EU-Mitgliedern geben, die zwar alle die gleichen Begriffe verwenden, diesen aber aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen partiell eine andere Bedeutung geben. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge sollte die Grundlage für den Dialog unter denjenigen sein, die sich heute über die Bedeutungen und Funktionen Europas verständigen. Literaturhinweise Konrád, György, Is The Dream Of Central Europe Still Alive?, in: Cross Currents 5 (1986), S. 109–121. Ders., Die Melancholie der Wiedergeburt, in: Kursbuch (Dezember 1990), H. 102, S. 25–42. LeRider, Jacques, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs, Wien 1994. Miłosz, Czesław, Central European Attitudes, in: Cross Currents 5 (1986), S. 101–108. Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of Enlightenment, Stanford 1995.

Quelle György Konrád: Mein Traum von Europa (1985) 14 Der demokratische Nationalismus und der Nationalstaat Bis wohin erstreckt sich Europa? Vom Atlantischen Ozean bis zur Elbe? Bis zur sowjetischen Grenze? Bis zum Ural? Bis zum Stillen Ozean? Gehören nur die Länder des Gemeinsamen Marktes zu Europa, die neutralen Staaten Westeuropas nicht? Und was ist mit uns Osteuropäern, die wir uns lieber als Mitteleuropäer bezeichnen? Es ist mir sympathisch, wenn der wirtschaftlichen Integration in den Ländern des Gemeinsamen Marktes die politische Integration folgt. Es ist gut, wenn sich mit der ersten Person Plural nicht nur eine nationale Gemeinschaft, sondern ein halber Kontinent verbindet. Der supranationale Zusammenschluß erhöht die Selbständigkeit der Agglomerationen und 14 Konrád, György, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch (1985), H. 81, S. 175–193. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Regionen innerhalb des Nationalstaats. Als geschlossene Einheiten sind die europäischen Nationalstaaten ziemlich provinziell; Europäer zu sein ist wenigstens so vernünftig wie Franzose oder Ungar zu sein. Die Union des kleinen Europa – ein Weg zur Union des großen Europa. Ist Europa groß? Keineswegs. Es ist eine feingliedrige und rege westliche Halbinsel Eurasiens. Das kleine Westeuropa irrt, wenn es sich mit Europa im allgemeinen identifiziert. Es irrt, wenn es sich, indem es dem Osten den Rücken zukehrt, innerhalb des Blocksystems Ruhe und Sicherheit erhofft. Selbst seine inneren Konflikte wird es erst dann lösen können, wenn es die Utopie von der Einheit Europas vorantreibt. Die Idee der europäischen Identität steht im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems. [...] In einer konstitutionellen europäischen Friedensordnung würden die osteuropäischen Länder militärisch neutral sein und zur Sowjetunion gutnachbarliche Beziehungen unterhalten. Ebenso wie Finnland. Polen, Tschechen und Ungarn sehnen sich nach einer Finnlandisierung. Durch stufenweise geschlossene Verträge könnten wir zu dieser Station der Emanzipation gelangen. Nur so wäre eine Entwicklung zu ausgeglichenen, demokratisch-sozialistischen Gesellschaften vorstellbar, in denen ein eventueller Regierungswechsel nicht gleichbedeutend sein würde mit einem Systemwechsel. Die Sowjetunion besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems. Wünschenswert für unsere Länder sind die militärische Neutralität, die wirtschaftliche-kulturelle Kooperation und im Inneren die Selbstbestimmung. Sozialistische und kapitalistische Elemente in Wirtschaft und Kultur sollten sich ganz nach den Bedürfnissen unserer Gesellschaft durchsetzen können. [...] Der demokratische Sozialismus osteuropäischer Prägung wäre auch für den westeuropäischen Raum, wo die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien heute nicht nur durch die konservativen und liberalen Parteien, sondern auch durch das bedrückende Beispiel des osteuropäischen Staatssozialismus in ihrer Rolle als Erneuerer behindert werden, ein lehrreiches Versuchslabor. Es könnte sich eine Kultur entwickeln, die nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen demokratische und verfassungsmäßige Verhältnisse beanspruchen, sondern die Europäer zu Bürgern eines zivilen Europa machen würde. Wenn sich der Sozialismus von der Zwangsvorstellung trennen könnte, daß der Nationalstaat sein einziges zuverlässiges Medium sei, könnte er als mehrdimensionale, pluralistische, komplexe Gesellschaft imponieren, deren vornehmstes und auf unveräußerlichen Rechten bestehendes Subjekt (im Sinne der europäischen Kulturtradition) der zivile Bürger wäre: wenigstens ebenso Bürger Europas wie des Nationalstaats. [...] Gibt es noch einen Traum von Mitteleuropa? Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa. Er erfordert jedoch einige Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit. Die Massenkulturen sind national. Der mitteleuropäische Traum ist kein massenkulturelles Phänomen, er ist romantisch und subversiv. Der Begriff Mitteleuropa transzendiert die Blockgrenzen und läßt sie zweifelhaft erscheinen. [...] Ein gegenseitiges besseres Kennen- und Verstehenlernen setzt voraus, daß wir uns frei machen von unseren Minderwertigkeitskomplexen. Heute schämen wir uns noch ein biß-

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chen für den anderen. Wie die armen Verwandten. Solange wir uns nicht gegenseitig entdecken, bleiben wir provinziell. Wir sind Kinder kleiner und mittelgroßer Völker. Wir mögen ein bis zweihundert Millionen Mitteleuropäer sein. Es gibt schon viele, die sich so sehen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese Qualifikation Mode werden wird. Wir brauchen diesen konzentrischen Kreis einer Erweiterung unseres persönlichen Selbstbewußtseins. [...] Zu Mitteleuropa gehört eigentlich auch das deutsche Volk, das mehrere Male vergebens versuchte, die umliegenden Völker zu unterwerfen, während die eigene Selbstbestimmung chronisch krank war. Dieser Größenwahnsinn des deutschen Reiches führte dazu, daß es heute kein Mitteleuropa gibt und sich die Kontakte zwischen unseren Völkern vermutlich auf einer niedrigeren Stufe bewegen als vor hundert Jahren. In unserer Gegend ist der homogene Nationalstaat die Ausnahme und als Norm nicht brauchbar. Zu unserer heterogenen Wirklichkeit passen keine homogenen Vorstellungen und Formen. Wir sind nicht einsprachig, verschiedene Wertsysteme und Denkweisen bestehen nebeneinander. Die mitteleuropäische Idee bedeutet die blühende Vielfalt der Bestandteile, des Selbstbewußtseins der Diversität. [...] Einer kleinen Nation angehören heißt, mehr lernen müssen als andere. Können wir uns organisch über das Nationale hinweg ausdehnen? Bis zum nächstliegenden Kreisring, bis nach Mitteleuropa. Der Weg zu Europa und zur weiten Welt führt über Mitteleuropa. Mitteleuropäer ist der, dessen staatliche Existenz und dessen staatlicher Kontext irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Wenn sich die mitteleuropäischen Städte voneinander entfremden, so ist das ein künstlicher Zustand. Solange wir von Budapest aus nicht ohne Genehmigung für einen Opernbesuch nach Wien fahren dürfen, entspricht unsere Lage nicht der Friedenszeit. Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt. In den vergangenen Jahrhunderten haben wir unsere Aufgaben erfüllt. Wir haben den Osten und den Westen voneinander getrennt und ihn einander näher gebracht. Gäbe es ein selbstbewußtes Mitteleuropa, dann könnte von dort eine Inspiration zu einer europäischen Friedensregelung kommen. Mitteleuropäer ist, wer die Teilung Europas weder für natürlich noch für endgültig hält. Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen. Aus unserer Lage ergibt sich eine Philosophie der paradoxen Mitte, die eigentlich analog ist zu einer europäischen Ideologie. [...] Wir kokettieren mit dem Begriff des Schicksals, wir sind daran gewöhnt, die Niederlage für verhängnisvoll zu halten und nicht für einen Fehler, der zu beheben ist. Wir neigen verdächtig zum Pathos, deshalb sind wir ironisch. Da wir uns gern in einer tragischen Rolle sehen, nehmen wir das Bestehende mit östlicher Ergebenheit hin. Wir sind eine ziemlich phantastische und groteske Menge von halsstarrigen Subjekten, die sich ihrer Umgebung nicht unterwerfen. [...] Im Vergleich zur geopolitischen Realität Osteuropas und Westeuropas existiert Mitteleuropa heute lediglich als eine kulturpolitische Antihypothese. Da es Mitteleuropa de facto nicht gibt, ist der mitteleuropäische Standpunkt ein blocktranszendenter. Mitteleuropäer zu sein ist eine Weltanschauung, keine Staatsangehörigkeit. [...]

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Die Verbreitung der Mitteleuropa-Idee hängt mit dem Wunsch zusammen, daß wir im eigenen Schicksal Subjekte sein wollen und nicht Objekte. Als jeweilige Nation können wir weder souverän noch originell sein. Die Städte Mitteleuropas bleiben unrettbar provinziell, solange sie sich nicht zusammen mit den anderen als Städtesternhaufen betrachten. [...] Mitteleuropa hat seine Souveränität seit tausend Jahren nicht aufgegeben. Warum sollte es sie gerade jetzt aufgeben? Mitteleuropäer zu sein ist heute für die herrschenden Klischeesysteme eine Herausforderung. Wir haben eine blocktranszendierende Interessen-, man könnte fast sagen Schicksalsgemeinschaft. Es ist einfach unmöglich, den anderen zu vergessen, wenn wir wechselseitig verschmutztes oder sauber gehaltenes Wasser trinken. Wie sollten wir voneinander unabhängig sein, wenn es in unserer Macht steht, uns gegenseitig zu vergiften? Vielleicht ist Mitteleuropa tatsächlich eine konservative Idee, aber mich interessiert ein Roman mehr als die neueste Technologie, und ich sehe unsere Umgebung gerne romanhaft. Allein die Vorstellung und das Festhalten daran, daß die östliche und die westliche Hälfte zusammen Europa bilden, ist schon romanhaft. [...] Der Mensch wird dumm und häßlich, wenn er keine Utopie hat. Man kann die Idee Mitteleuropas für eine halsstarrige Träumerei halten, allerdings besteht die Besonderheit des Phänomens darin, daß viele Menschen in Mitteleuropa dieses Bewußtsein brauchen, das scheinbar weiter ist als das nationalstaatliche Selbstbewußtsein. Ohne Mitteleuropa bleiben alle unsere größeren Städte Endstationen, Grenzstädte, vielleicht sogar Frontstädte. Wenn wir keine Strategie haben, sind wir Statisten und Opfer. [...]

„DIE WOLKE, DIE AN DER GRENZE HALTMACHTE.“ DER REAKTORUNFALL VON TSCHERNOBYL 1986 IM FRANZÖSISCHEN FERNSEHEN 1 Katrin Jordan Tschernobyl ist überall – nur nicht in Frankreich. 2 Diesen Eindruck konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer der Abendnachrichten vom 30. April 1986 gewinnen, als sie den Wetterbericht des französischen Fernsehsenders Antenne 2 sahen. Vier Tage zuvor, am 26. April 1986, hatte sich im sowjetischen Kernkraftwerk Wladimir Iljitsch Lenin der zum damaligen Zeitpunkt schwerste Unfall 3 in der zivilen Kernenergienutzung ereignet. Bei einem planmäßigen Test war der Reaktor des vierten Blocks außer Kontrolle geraten. Ein ungehinderter Leistungs- und Temperaturanstieg führte zu einer Explosion, bei der der Reaktorkern zerstört und die Abdeckplatte samt Dach des Reaktorgebäudes gesprengt wurden. Durch das offene Dach entwichen über Tage hinweg radioaktive Substanzen, darunter die leicht flüchtigen Isotope Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90. Sie erreichten aufgrund der großen Hitze von mehr als 2.000 Grad Celsius, die vom brennenden Grafitmantel ausging, eine Höhe von bis zu 10.000 Metern und bildeten im Wesentlichen die sogenannte radioaktive ‚Wolke’. In den ersten Tagen trieb diese über Polen und die baltischen Länder hinweg in Richtung Skandinavien, wo im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark am 28. April 1986 aufgrund der erhöhten radioaktiven Strahlung Alarm ausgelöst wurde. Am gleichen Abend meldete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS erstmals den Unfall. 4 Einen Tag später griff das französische Fernsehen die Meldung auf; die zuständige Zentralstelle für Strahlenschutz, der Service central de protection contre les rayonnements ionisants (SCPRI), vertreten durch seinen Be1

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Essay zur Quelle: Verlauf der radioaktiven ‚Wolke’ über Europa. Ausschnitt aus den 20 Uhr-Nachrichten des französischen Fernsehsender Antenne 2 (30. April 1986). Der Essay ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Den Slogan „Tschernobyl ist überall“ prägte die Partei der Grünen kurz nach dem Reaktorunfall, um auf die Relevanz des Unfalls und die Risiken der zivilen Kernenergienutzung auch in der Bundesrepublik aufmerksam zu machen; vgl. Arndt, Melanie, Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 32012, S. 5. Klassifizierung auf der höchsten Stufe 7 „Katastrophaler Unfall“ der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES). „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet. Einer der Kernreaktoren wurde beschädigt. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie ergriffen. Den Betroffenen wird Hilfe erwiesen. Es wurde eine Regierungskommission eingesetzt.“, zit. nach Neues Deutschland, 29.04.1986, S. 5.

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gründer und Direktor Pierre Pellerin, gab jedoch in den 13 Uhr-Nachrichten des Fernsehsenders TF1 Entwarnung für Frankreich. Die Radioaktivität sei zwar messbar, aber gesundheitlich vollkommen unbedenklich. Ergänzend warnte er vor „Katastrophismus“ und Panikmache. 5 Dennoch war ‚Tschernobyl’ am 30. April 1986 – die ‚Wolke’ hatte mittlerweile mit drehendem Wind Tschechien, Österreich, Süddeutschland und Norditalien erreicht 6 – ebenso in Frankreich das Ereignis, das die Medienberichterstattung bestimmte. Der Reaktorunfall war der Aufmacher aller französischen Nachrichtensendungen der folgenden Tage. In den 20 Uhr-Nachrichten des staatlichen Senders Antenne 2 vom 30. April 1986 wurden ihm 18 Minuten, fast zwei Drittel der 30-minütigen Sendezeit, gewidmet. Der vorliegende Fernsehausschnitt, auf den sich dieser Essay als Quelle bezieht, stammt aus dieser Sendung. Darin prognostiziert die Wettermoderatorin Brigitte Simonetta anhand einer schematischen Landkarte den Verlauf der radioaktiven ‚Wolke’ über Westeuropa. Ein Azorenhoch, symbolisiert durch einen grünen Pfeil und ein „A“, würde demnach verhindern, dass sie auch über französisches Territorium hinwegzieht: „Und nun die Vorhersage: Über Sardinien hat sich ein Tiefdruckgebiet gebildet, in dem sich die Winde gegen den Uhrzeigersinn drehen. Sollte sich die Radioaktivität halten, ist davon auszugehen, dass der nukleare Staub Richtung Italien, Jugoslawien und Österreich geschickt wird. In Frankreich hat sich ein Azorenhoch entwickelt. Die Wettervorhersage bestätigt, dass es bis nächsten Freitag stark genug bleiben wird und uns eine regelrechte Schutzschranke schenkt. Das Hoch blockiert in der Tat sämtliche aus dem Osten kommenden Strömungen.“ 7 Ein rotes ‚Stop’-Schild wie aus dem Straßenverkehr, das an der Ostgrenze Frankreichs auftaucht, visualisiert das Gesagte: just an der französischen Grenze macht die Wolke Halt. Einschränkend fügt die Moderatorin hinzu: „Aber Vorsicht, diese Vorhersagen sind nur auf drei Tage berechnet. Es wird zu zeigen sein, wie lange es noch dauert, bis das Feuer gelöscht ist.“ Doch schon am selben Tag zog die ‚Wolke’ auch über Frankreich hinweg. 8

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„Il s’agit d’une radioactivité qui est notable, qui est mesurable, mais qui ne présente aucun inconvénient sur le plan de la santé publique. On a fait tellement de catastrophisme sur le plan du nucléaire qu’on risque de déclencher la panique. Je voudrais bien dire ici, clairement, que même pour les Scandinaves, la santé n’est absolument pas menacée.“ Pierre Pellerin im Interview mit Michel Chevalet und Yves Mourousi, Journal de 13 heures, TF1, 29.04.1986, 13.00–13.40 Uhr. Vgl. die Animationen des Verlaufs der radioaktiven ‚Wolke’ nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, URL: (16.11.2015), und des Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire von 2005; URL: (16.11.2015). Kommentar von Brigitte Simonetta zur Wetterkarte, Journal de 20 heures, Antenne 2, 30.04.1986, 20.00–20.30 Uhr. Alle Übersetzungen ins Deutsche durch die Verfasserin. Als erstes maß das Laboratoire d’écologie marine in Monaco am 30. April 1986 einen Anstieg der Radioaktivität an der Côte d’Azur. Der SCPRI bestätigte am Abend die Meldung, ohne Werte bekannt zu geben.

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Der zitierte Ausschnitt ist bis heute in Frankreich berühmt, ist er doch der sinnbildliche Niederschlag einer Einschätzung, die vielen Zeitgenossen angesichts der in den Nachbarländern ergriffenen Maßnahmen und geführten Diskussionen recht absurd vorkam. Die Wendung von der ‚Wolke’, die an der Grenze haltgemacht hätte – „le nuage qui s’est arrêté à la frontière“ – fasst für die Kritiker die Informationspolitik der zuständigen Einrichtungen nach ‚Tschernobyl’ zusammen, die in ihren Augen die wahre Gefährdung bewusst verschwiegen hätten, um die Legitimität des eigenen Atomprogramms nicht infrage zu stellen. 9 Frankreich hatte mit dem 1974 erlassenen Plan Messmer in den Vorjahren massiv den Ausbau der Kerntechnik vorangetrieben. 1986 besaß das Land 34 Reaktoren und gehörte, gemessen an der insgesamt aus Kernkraft erzeugten elektrischen Energie, zu den größten Kernenergienationen. Die Kernkraft sollte die Abhängigkeit vom Erdöl reduzieren, aber auch der militärischen Nutzung dienen und so die Autonomie und

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Besonders prononciert findet sich die Kritik in den Äußerungen der kernenergiekritischen Mitglieder der GSIEN und der CRII-Rad. So veröffentlichten bereits am 1. Mai 1986 Bella Belbéoch, Ingenieurin am Kernforschungszentrum in Saclay, und Roger Belbéoch, Physiker am CNRS, einen Aufsatz, in dem sie den offiziellen Experten vorwarfen, die Auswirkungen des Unfalls zu verharmlosen, um die zivile wie militärische Nutzung der Kernenergie weiter verfolgen zu können. Die beiden Mitglieder der GSIEN zielten dabei nicht nur auf die französischen Verantwortlichen, sondern sprachen gar von einem „internationalen Komplott“: „Il faut s’attendre dans les jours qui viennent à un complot international des experts officiels pour minimiser au maximum l’évaluation des victimes que causera cette catastrophe. La poursuite des programmes civils et militaires impose à l’ensemble des États une complicité tacite qui dépasse les conflits idéologiques ou économiques. Les organismes internationaux de la Santé, en principe indépendants des États mais strictement contrôlés par les grandes puissances, pourront servir d’organes de liaison entre celles-ci tout en maintenant une apparence d’objectivité et de neutralité.“ Belbéoch, Bella, „On nous cache tout, on nous dit rien“, in: Écologie 371 (1986), S. 11/12, hier S. 11; vgl. auch dies., Tchernobyl, une catastrophe. Quelques elements pour un bilan, Paris 1993, S. 17. Das Zitat eröffnet auch die Argumentation der Leiterin der CRII-Rad zur „Tschernobyl-Lüge“ der französischen Stellen, vgl. Castanier, Corinne, Les preuves du mensonge. Contamination des sols français par les retombées de l’accident de Tchernobyl, 2. akt. Aufl. Juli 2005, URL: (16.11.2015), wobei es sich um die aktualisierte Version eines Beitrages aus CRII-Rad/Paris, André (Hg.), „Contaminations radioactives. Atlas France et Europe, Barret-sur-Méouge 2002“, S. 7–52, handelt; vgl. auch die thematischen Ausgaben der von der GSIEN herausgegebenen Gazette Nucléaire, insbesondere GN 7/8 (1986), GN 88/89 (1988) sowie Crié, Hélène; Rivasi, Michèle, Ce nucléaire qu’on nous cache, Paris 1998. Die ‚Wolke’, die an der Grenze haltmachte, ist auch Thema weiterer Veröffentlichungen. Große Bekanntheit erlangten die Bücher von Jean-Michel Jacquemin, obgleich sie kaum wissenschaftlich fundiert sind, insbesondere: Ce fameux nuage… Tchernobyl, la France contaminée, Paris 1998. Hingegen werden die Verantwortlichen des französischen Nuklearsystems entlastet in: Lecerf, Yves; Parker, Édouard, L’affaire Tchernobyl. La guerre des rumeurs, Paris 1987; Lerouge, Bernard, Tchernobyl, un „nuage“ passe… Les faits et les controverses, Paris 2008. Vielmehr schreiben sie den Journalisten die Schuld an dem „Mythos der Tschernobyl-Lüge“ zu. Zur Medienberichterstattung über ‚Tschernobyl’ in Frankreich vgl. auch Strazzulla, Jéromô; Zerbib, JeanClaude, Tchernobyl – Les médias et l’événement, Paris 1991 (La Documentation française).

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das Prestige Frankreichs sichern. 10 Regierung und Kernenergiewirtschaft betonten denn auch nach dem Unfall von Tschernobyl immer wieder die Unterschiedlichkeit der sowjetischen und französischen Anlagen und die deutlich höheren Sicherheitsstandards der eigenen Reaktoren. Anders als in der Bundesrepublik, wo eine kontroverse Diskussion zwischen den politischen Parteien um die zulässigen Strahlengrenzwerte losbrach und die Bundesländer schließlich eigene Werte festlegten, äußerten sich in Frankreich Vertreter der Politik nur selten öffentlich. Die Informationsaufgabe wurde in erster Linie von Experten der Nuklearindustrie übernommen. Der von Pierre Pellerin geleitete Service central de protection contre les rayonnements ionisants, der dem Gesundheitsministerium unterstellt war, stand an der Spitze der Informationspolitik. Ihm oblag die Erfassung und Interpretation der Messwerte, die über das landesweite Netz an Messstationen erhoben wurden. Er legte fest, ob und welche Maßnahmen zu ergreifen sind und kam zu dem Schluss, dass keinerlei Schritte zu unternehmen seien. Der Direktor des der Atomkommission (Commissariat à l'Énergie Atomique, CEA) unterstellten Institut de Protection et de Sûreté Nucléaire (IPSN, Institut für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit), François Cogné, sah ebenfalls keinen Grund zur Beunruhigung 11 und warnte bereits am Abend des 29. April 1986 auf TF1 vor einer möglichen „Psychose“. 12 Auch Cognés Vorgänger und mittlerweile Generalinspektor für Nuklearsicherheit beim staatlichen Kernkraftwerksbetreiber und Energieversorger Électricité de France (EDF), Pierre Tanguy, gab schon am Mittag des 30. Aprils 1986 in den Nachrichten von Antenne 2 an, dass die Meteorologen den Verlauf der ‚Wolke’ eher prognostizieren könnten als die Kernkraftexperten, aber in jedem Falle diese keine Gefährdung darstelle. 13 Alle drei waren wichtige Ansprechpartner für die Journalistinnen und Journalisten und wurden nicht nur oft in den Zeitungen zitiert. Cogné und Tanguy waren häufig selbst Gast in den Fernsehnachrichten und Gesprächsrunden. Auch die Politik berief sich stets auf die Aussagen der Kernkraftexperten, allen voran Pellerins, um zu begründen, warum Frankreich anfangs keinerlei Schutzmaßnahmen ergriff oder Empfehlungen herausgab. 14 Erst am 9. Mai 1986 wurde auch hier der Import osteuropäischer Waren eingeschränkt und

10 Vgl. dazu Hecht, Gabrielle, Le rayonnement de la France. Énergie nucléaire et identité sociale après la seconde guerre mondiale, Paris 2004 [engl. Originalausgabe Cambridge 1998]. 11 Vgl. Antenne 2 Midi, Antenne 2, 29.04.1986, 12.00–13.00 Uhr. 12 Vgl. François Cogné im Interview mit Michel Chevalet, Journal de la nuit, TF1, 29.04.1986, 23.30–00.00 Uhr. 13 Vgl. Pierre Tanguy im Interview mit Noël Mamère, Antenne 2 Midi, Antenne 2, 30.04.1986, 12.00–13.00 Uhr. 14 So lautete es in der Pressemitteilung der Gesundheitsministerin Michèle Barzach: „La Santé Publique n’est aucunement menacée par les conséquences de l’accident. Les activités courantes peuvent donc être poursuivies sans précautions particulières […]. Aucune précaution particulière ne s’impose donc, mais les règles ordinaires d’hygiène s’appliquent normalement.“ Pressemitteilung der Ministerin für Gesundheit und Familie vom 16.05.1986; vgl. auch „Désinformation nucléaire“, Le Monde, 13.05.1986.

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am 13. Mai 1986 der Verkauf von elsässischem Spinat verboten. Weitere Maßnahmen wurden nicht erlassen. War die Berichterstattung in den ersten Tagen noch den Einschätzungen der Kernkraftexperten gefolgt, dass der Reaktorunfall ein rein sowjetisches Problem sei und der radioaktive Fallout keine gesundheitlichen Folgen in Frankreich nach sich ziehen werde, wandelten sich die Medien Mitte Mai 1986 zum Forum der Kritik an der Passivität der Regierung angesichts der in den Nachbarländern erlassenen Importstopps und Verkaufsverbote. Die nun einsetzende Debatte um ‚Tschernobyl’, ihre Inhalte, ihr Verlauf und Erregungspotential, können nur hinreichend erklärt werden, wenn die Medienberichterstattung, besonders das Fernsehen, in die historische Analyse mit einbezogen werden. Schließlich war ‚Tschernobyl’ in den westeuropäischen Ländern schon durch die Tatsache, dass die Bevölkerung hier nicht den Unfall selbst erlebte, sondern ihre Informationen vorrangig aus Presse, Radio und Fernsehen bezog, im Wesentlichen ein durch die Medien vermitteltes Ereignis. Fernsehbilder und Magazintitel prägten die Wahrnehmung des Unfalls. Auch bestimmte die Berichterstattung durch die Themensetzung und die Auswahl der zitierten Positionen den Diskursverlauf. Der vorliegende Beitrag will den Erkenntniswert einer Debattenanalyse durch die Einbeziehung medialer Quellen aufzeigen. In der historischen Forschung ist ein solcher Ansatz, besonders in einer europäischen Dimension, nach wie vor selten 15 – ein Umstand, der wesentlich auf den schwierigen Zugang audiovisuellen Quellenmaterials zurückzuführen ist. Es mag aber auch an der Eigenart audiovisueller Quellen liegen, die sich vom traditionell schriftlichen Korpus des Historikers unterscheiden, und an deren Analyse er sich mangels methodischer Fertigkeiten nur zögerlich heranwagt. Wichtige Anregungen erhält die Geschichtswissenschaft dafür aus der Medienwissenschaft, auf die sich auch der vorliegende Beitrag bezieht. Als Grundlage für die Beschäftigung mit TV-Sendungen werden die Einführungswerke zur Fernsehanalyse von Knut Hickethier 16, Werner Faulstich 17 und Lothar Mikos 18 herangezogen, die die Medientheorien und verschiedenen methodischen Ansätze behandeln. Sie eint der Ansatz, dass gesellschaftliche Kommunikation im 20. Jahrhundert maßgeblich 15 Eine europäisch vergleichende Debattenanalyse zu ‚Tschernobyl’, mit besonderem Augenmerk auf die Rolle der Medien, ist Gegenstand meiner Dissertation, die gegenwärtig an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) entsteht. Hier vergleiche ich die Diskussionen in Frankreich und der Bundesrepublik in den Jahren 1986–1991/92 miteinander; für weitere Informationen siehe die Mitarbeiterseiten des ZZF, URL: (16.11.2015). Karena Kalmbach hat eine Dissertation am Europäischen Hochschulinstitut Florenz zu den Debatten rund um den 10. und 20. Jahrestag des Reaktorunfalls in Frankreich und Großbritannien eingereicht. Sie untersucht, inwieweit die nationale Nuklearpolitik die Diskussionen über die Auswirkungen ‚Tschernobyls’ beeinflussten und welche politischen Argumente das Gedenken an den Reaktorunfall prägten. 16 Hickethier, Knut, Film- und Fernsehanalyse, 5. akt. und erw. Auflage, Stuttgart 2012. 17 Faulstich, Werner, Grundkurs Fernsehanalyse, Paderborn 2008. 18 Mikos, Lothar, Film- und Fernsehanalyse, 2., überarb. und erw. Auflage, Konstanz 2008.

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durch die Medien bestimmt sei 19, was sie für die historische Betrachtung interessant macht. Wenngleich das anleitungsgetreue Befolgen der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fernsehsendungen in ihrer systematischen Auflistung von Sequenzen, Zeiten und Schnitten hier zu formal erscheinen mag, lohnt doch die Beschäftigung mit den Strukturmerkmalen der Sendung. Sie schärft den Blick auf das Medium an sich, seine Logik und Funktionen, die elementar für das Verständnis der Quelle sind. Beim Fernsehen ist das, was gesagt und gezeigt wird, genauso wichtig wie die Art und Weise, wie es präsentiert wird. TV-Nachrichten lassen den Zuschauer durch Live-Bilder vermeintlich teilhaben am Ereignis und vermitteln den Eindruck der Augenzeugenschaft. Authentizität und Objektivität sind indes nur scheinbar gegeben, denn schon die Auswahl und Gewichtung der Themen ist eine Interpretation der Wirklichkeit. Zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls haben Fernsehnachrichten in Frankreich längst Zeitungen als wichtigste Informationsquelle abgelöst. Besonders die Abendnachrichten des Senders Antenne 2 erreichten ein großes Publikum. In der Ausgabe der 20 Uhr-Nachrichten vom 30. April 1986 war der Reaktorunfall von Tschernobyl das Hauptthema. Dabei stand die Redaktion vor dem Problem, dass die Sowjetunion keine konkreten Informationen lieferte, wie der Sprecher Bernard Rapp einleitend betonte. Hinweise zum möglichen Unfallhergang stammten nur von US-amerikanischen Stellen und schwer überprüfbaren Quellen wie Funksprüchen aus der Ukraine. Die gelieferten Angaben zum Unfall waren daher mehrheitlich Hypothesen. Auch die Bilder fehlten. 20 Reportern wurde die Reise an den Unfallort verwehrt. Heute übliche Direktübertragungen waren aus politischen sowie technischen Gründen nicht möglich. Damit erfüllte ‚Tschernobyl’ in den ersten Tagen ein wesentliches Kriterium des Mediums Fernsehen nicht: Ihm fehlte die Sichtbarkeit. Ohnehin ist radioaktive Strahlung selbst nicht wahrnehmbar. Um ‚Tschernobyl’ zu visualisieren, wurde daher auf Stellvertreterbilder, häufig Archivaufnahmen aus einem Kernkraftwerk, schematische Simulationen des Unfallhergangs und Modelle sowie Karten zur Abbildung des Verlaufs der radioaktiven ‚Wolke’, zurückgegriffen. Im behandelten Nachrichtenbeitrag werden der Unfallhergang und seine Auswirkungen eingangs anhand einer Reihe von Aufnahmen erläutert, die der US-amerikanische Zivilsatellit LANDSAT-5 einen Tag zuvor gemacht hatte. Eine Infrarotaufnahme der Rauchwolke über dem Reaktor wird als Beweis angeführt, dass sich in dem Kraftwerk ein Unfall ereignet haben muss. Eine weitere Aufnahme, auf der zwei rote Kästchen die austretende Hitze markieren, soll zudem belegen, dass die Kernschmelze auch in einem zweiten Reaktor eingetreten sei – eine Vermutung, die sich später als falsch er19 Vgl. Hickethier, Knut, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 348. 20 Lediglich eine im sowjetischen Fernsehen veröffentlichte Schwarz-Weiß-Fotografie des Unfallreaktors, aufgenommen vom Werksfotografen Anatolij Rasskasov, liegt vor. Später stellte sich heraus, dass auf dieser Trümmer, herabhängende Kabel und Rauch wegretuschiert wurden, sodass die Zerstörungen weniger gravierend aussahen; vgl. dazu Paul, Gerhard, Tschernobyl. Die Unsichtbarkeit der atomaren Katastrophe, in: ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. II: 1949 bis heute, Göttingen 2009, S. 526–531, hier S. 527f.

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wies. Der mögliche Unfallverlauf wird schließlich anhand eines animierten Schemas und eines Kernkraftwerk-Modells erläutert. Die Auswirkungen des Reaktorunfalls auf Frankreich und die Sicherheit französischer Kernkraftwerke sind Gegenstand der anschließenden Beiträge der Sendung. Zur thematischen Einbettung und Kompensation des Mangels an Live-Bildern wird direkt in die zentralfranzösische Kommune Saint-Laurent-des-Eaux geschaltet, wo der Reporter Claude Sérillon vor das dortige Kernkraftwerk in Position gebracht wurde. Der 1969 in Betrieb genommene Meiler war einer von zu diesem Zeitpunkt insgesamt sechzehn in Frankreich stehenden UNGG-Reaktoren. Die Abkürzung steht für die in Frankreich in den 1950er- und 1960er-Jahren entwickelte Baureihe der Uranium Naturel Graphite Gaz-Reaktoren, die Brennelemente aus Natururan besaßen und mit Grafit moderiert sowie mit Kohlenstoffdioxid gekühlt wurden. 21 Damit wird sinnfällig die Verbindung zwischen dem Unfall in der Ukraine und Frankreich hergestellt. Der nächste Beitrag – die bereits erläuterte Verlaufsprognose der radioaktiven ‚Wolke’ – ist sogleich der Frage gewidmet, ob auch die französische Bevölkerung vom Fallout betroffen sei. Am Beispiel der Wettervorhersage zeigt sich am deutlichsten, dass die notwendige Bebilderung der Fernsehnachrichten nicht bloße Illustration ist, sondern maßgeblich Einfluss auf die Aussage hat. Fernsehbilder, in Begleitung des Kommentars, sind nicht Abbild einer vermeintlichen Realität, sondern sie sind selbst an der Sinnkonstruktion beteiligt. Im vorliegenden Fall verdichtet das ‚Stop’-Schild auf der Europakarte sinnbildlich die Wendung von der ‚Wolke’, die an der französischen Grenze haltgemacht hätte. Frankreich ist nicht betroffen, so die Aussage, die durch die darauffolgenden Beiträge noch untermauert wird. Aufnahmen aus den Laboratorien des SCPRI zeigen kontinuierliche Kontrollen von Lebensmitteln auf Radioaktivität, der Geschäftsführer Jean Chanteur schließt jegliche gesundheitliche Gefährdung aus. Im Kommandoraum des Kernkraftwerks Saint-Laurent erläutern Mitarbeiter die Arbeitsabläufe und Sicherheitsvorkehrungen. In regelmäßig durchgeführten Notfallübungen werde das Personal auf den Ernstfall vorbereitet, so der Kommentar Sérillons. Ein mit dem im Kernkraftwerk Tschernobyl vergleichbarer Unfall könne sich laut dem Werksdirektor aber in Frankreich aufgrund der unterschiedlichen Bauweise der Reaktoren ohnehin nicht ereignen. O-Töne von auf der Straße Befragten bestätigen denn auch, dass sich die Anwohner sicher und gut unterrichtet fühlen. Am Ende dankt der Reporter Électricité de France für den Empfang und lobt, dass das Unternehmen die Öffentlichkeit umfassend informiert. Alles unter Kontrolle, kein Grund zur Beunruhigung – so der Tenor der Berichterstattung. Dass die grenzüberschreitenden Folgen ‚Tschernobyls’ in Form der radioaktiven ‚Wolke’ in der Bundesrepublik und Italien zu einer Reihe von Schutzmaßnahmen und Empfehlungen führten, aber Frankreich nicht einmal gestreift haben sollte, wurde jedoch bald in Zweifel gezogen. Den Wendepunkt der Debatte bildete ein Fernsehauftritt Pierre Pellerins in der Mittagsausgabe der Nachrichten von TF1 am 10. Mai 1986. Im Studio traf der Direktor des SCPRI auf Monique 21 Sie sind mittlerweile nicht mehr in Betrieb.

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Sené, Physikerin am nationalen Forschungsinstitut CNRS und Vorsitzende der Groupement des scientifiques pour l’information sur l’énergie nucléaire (GSIEN), einer 1975 gegründeten Vereinigung kernenergiekritischer Wissenschaftler. Sené sah im Gegensatz zu Pellerin die in der Bundesrepublik erlassenen Schutzmaßnahmen als angemessen an. Schon in den Tagen zuvor hatte sie die Kommunikationspolitik des SCPRI kritisiert und warf ihm auch hier vor, die Bevölkerung nicht ausreichend zu informieren. Alle Informationen seien über den SCPRI gegangen und niemand sonst hätte sich dazu äußern können. 22 Um den Vorwurf zu entkräften, der SCPRI habe die Öffentlichkeit nur mangelhaft aufgeklärt, erläuterte Pellerin anhand von Karten die radioaktive Belastung Frankreichs zwischen dem 28. April und 6. Mai 1986 und nannte erstmals auch genaue Werte. Dabei wurde ersichtlich, dass die Radioaktivität in der Luft zwischenzeitlich um das 400-fache höher lag als vor dem Reaktorunfall. Während der SCPRI-Direktor darauf nicht weiter einging, da er bestätigt sah, dass keine Vorsorgemaßnahmen erforderlich waren, interpretierte der Moderator der Sendung Jean-Claude Bourret die Aussage als Entdeckung. In den folgenden Tagen griff eine Reihe von Medien die vermeintliche Neuigkeit auf, dass die radioaktive ‚Wolke’ sehr wohl über das französische Territorium hinweg gezogen sei. 23 Tatsächlich hatte der SCPRI schon in der Nacht zum 1. Mai 1986 in einer Pressemitteilung auf den leichten Anstieg der Radioaktivität hingewiesen, jedoch wie auch die Tage davor keine genauen Werte genannt, sondern stets nur qualitative Aussagen getroffen, dass keinerlei Gefahr bestünde. 24 Wurde anfangs auch in der französischen Presse und im Fernsehen die bundesdeutsche Diskussion als hysterisch bezeichnet und die dort ergriffenen Schutzmaßnahmen als übertrieben abgetan, rückte ab dem 11. Mai 1986 die mögliche Gefährdung der französischen Bevölkerung durch ausbleibende Schutzvorkehrungen in den Mittelpunkt. Die Medien bildeten nun ein wichtiges Forum der Kritik am Krisenmanagement, indem sie jetzt auch kernenergiekritische Stimmen zu Wort kommen ließen und überdies selbst die Informationspolitik der offiziellen Stellen angriffen. Die linksliberale Tageszeitung Libération titelte am 12. Mai 1986 „Le mensonge radioactif“ 25, die radioaktive Lüge, denn die staatlichen Einrichtungen hätten gelogen, was die Gefahren für Frankreich anbetraf. Le 22 „Il se trouve qu’en France, il est regrettable de le dire, il y a eu un véritable blocage de l’information. […] et je regrette de constater que personnellement cette fois-ci, je n’ai pas pu avoir l’information que j’ai d’habitude, parce que toutes les informations sont passées spécialement par vous et chaque informateur ne pouvait plus parler. Ce qui est encore pire que d’habitude. Là, il y a vraiment un problème. Il y a un problème grave.“ Monique Sené im Gespräch mit Pierre Pellerin, Journal de 13 heures, TF1, 10.05.1986, 13.00–13.40 Uhr. 23 Vgl. Libération, 12.05.1986, Titelseite. 24 „Tendance pour l’ensemble des stations du territoire à un alignement de la radioactivité atmosphérique sur le niveau relevé le 30 avril dans le sud-est. Il est rappelé que ce niveau est sans aucune incidence sur la santé publique.“ SCPRI-Telex 12480, 01.05.1986. Die Schlussfolgerung der Pressemitteilung vom 02.05.1986 lautet, dass weder zum damaligen Zeitpunkt noch vorher Schutzmaßnahmen nötig gewesen seien: „Ni la situation actuelle, ni son évolution ultérieure ne justifient dans notre pays quelque contre-mesure sanitaire que ce soit.“ 25 Libération, 12.05.1986, Titelseite.

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Monde schrieb am 13. Mai 1986 von der „Désinformation nucléaire“, der nuklearen Desinformation. 26 Presse und Fernsehen präsentierten sich nun als Aufklärer, die die „Wahrheit“ ans Licht bringen würden. 27 In der Folge entwickelte sich die französische Debatte zu einer innenpolitischen Kontroverse, die die Glaubwürdigkeit und Transparenz der offiziellen Informationsquellen zum Gegenstand hatte. Hauptkritikpunkte waren, dass zum einen die Messwerte ausschließlich von staatlichen Einrichtungen erhoben wurden – in der Bundesrepublik hingegen nahmen auch vom Staat unabhängige Institute und Vereine Messungen vor – und zum anderen diese nicht rechtzeitig und ausführlich genug publik gemacht wurden. „Le nuage qui s’est arrêté à la frontière“ avancierte zur halb zornigen, halb sarkastischen Formel, um die Beschwichtigungen durch die französischen Behörden, allen voran des SCPRI-Direktors Pierre Pellerin, zu umschreiben. Zwar hatte dieser den ihm bald zugeschriebenen Satz nie gesagt. Gegen mehrere Medien und Personen, die dies behauptet hatten, ging Pellerin sogar gerichtlich vor und bekam recht. Doch die Überzeugung, von den offiziellen Stellen bevormundet oder gar belogen worden zu sein, verbreitete sich ab Mitte Mai 1986 schnell in weiten Teilen der französischen Bevölkerung. Auch Michèle Rivasi, damals Biologieprofessorin in Valence im Südosten des Landes, glaubte den offiziellen Einschätzungen nicht und gründete daher am 15. Mai 1986 die Commission de Recherche et d’Information Indépendantes sur la Radioactivité (CRII-Rad), eine Einrichtung, die selbstständig Messungen vornahm – und zu Ergebnissen kam, die deutlich von denen des SCPRI abwichen. Während der SCPRI die Radioaktivität in der Luft maß und Durchschnittswerte für das gesamte französische Territorium veröffentlichte, berücksichtigten die Messungen der CRII-Rad die in einigen Regionen durch Niederschläge erhöhte radioaktive Belastung der Böden. Demnach waren besonders Korsika und der Osten Frankreichs einer durchaus gesundheitlich relevanten Menge an Jod-131 und Cäsium137 ausgesetzt. Auf Basis dieser Messwerte prangerte Rivasi die in ihren Augen gezielte Verschleierung und Verharmlosung der Strahlenbelastung durch die offiziellen Stellen an. 28 Dieser Kritik schlossen sich eine Reihe von Medien, vornehmlich linksliberal ausgerichtete Zeitungen wie Libération und Le Nouvel Observateur, an. Aufgrund des medialen Interesses an der „Tschernobyl-Lüge“ sah sich nun auch die Politik gezwungen, sich öffentlich zum Krisenmanagement zu äußern. Der Umweltminister Alain Carignon kündigte – nachdem er den Medien die Verantwortung für die Nichtverbreitung der gemessenen Werte zugeschrieben hatte – am 11. Mai 1986 in den Mittagsnachrichten von Antenne 2 an, eine interministe-

26 Le Monde, 13.05.1986, Titelseite. 27 Vgl. „Contamination nucléaire en France. La vérité“, Le Parisien, 12.05.1986, Titelseite. 28 Vgl. Journal de 13 heures, TF1, 25.04.1987, 13.00–13.40 Uhr. Zur Strahlenbelastung und dem Vorwurf der „Tschernobyl-Lüge“ vgl. Castanier, Corinne (CRII-Rad), Les preuves du mensonge.

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rielle Koordinationsstelle zu schaffen. 29 Sie sollte bei künftigen Störfällen die Informationen zentral zusammenführen. Fünf Tage später gab der Minister für Industrie, Alain Madelin, in den Mittagsnachrichten auf Antenne 2 die Einrichtung einer Informationshotline bekannt. Unter einer kostenlosen Rufnummer könnten besorgte Bürger ihre Fragen stellen. Man erhielte „alle Auskünfte, die man haben möchte, von den besten französischen Spezialisten. Alle Werte, wir haben nichts zu verbergen, wir legen die Karten auf den Tisch, versprochen ist versprochen, wir sind bereit, den Franzosen alle Informationen zu geben.“ 30 Doch das Vertrauen der Bevölkerung in die offiziellen Stellen war bereits erschüttert, wie auch die Schlagzeilen der französischen Zeitungen offenbarten. „Nuklearkatastrophe. Was die Experten Ihnen verschweigen“ 31, titelte die Wochenzeitung Le Nouvel Observateur am 9. Mai 1986. Le Parisien schrieb vom „Gesetz des Schweigens“ („France: La loi du silence“ 32), das auch andere Medien den zuständigen Stellen attestierten. 33 Das Augenmerk der Kritiker und der Medienberichterstattung richtete sich bald auch auf die Organisation des französischen Nuklearsektors an sich. Sie prangerten die Abgeschlossenheit und Intransparenz des Systems an, in dem sowohl der Bau und Betrieb der Kernanlagen als auch deren Kontrolle lediglich staatlichen, personell eng verflochtenen Organen oblagen, nämlich der Atomenergiebehörde CEA und des von ihm gegründeten Strahlenschutzinstituts IPSN sowie dem Kernkraftwerksbetreiber EDF und der Gesamtaufsicht für Strahlenschutz SCPRI. 34 Die Dominanz einer kleinen Elite, die an der Spitze der Einrichtungen stand, bezeichneten sie in Anlehnung an den Begriff der „Technokratie“ als „Nu-

29 Gesundheits-, Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium sowie Vertreter verschiedener Einrichtungen, darunter CEA, EDF und SCPRI, sollten darin vertreten sein; vgl. Alain Carignon im Interview, Antenne 2 Midi, Antenne 2, 11.05.1986, 12.00–13.00 Uhr. 30 „Tous les renseignements que vous voulez de la part des meilleurs spécialistes français. Toutes les données, nous n’avons rien à cacher, nous mettons cartes sur table, chose promise, chose due, nous jouons le jeu de l’information avec les français.“ Alain Madelin im Interview mit Noël Mamère, Antenne 2 Midi, Antenne 2, 16.05.1986, 12:00–13.00 Uhr. 31 „Catastrophe nucléaire. Ce que les experts vous cachent“, Le Nouvel Observateur, 09.– 15.05.1986, Titelseite. 32 Le Parisien, 10.05.1986, S. 2. 33 „Il semble bien pourtant qu’aucun responsable au plus niveau de l’État n’ai donné la moindre consigne de censure. On s’est simplement tué par réflexe. Une sorte de loi de silence, traditionnelle en France pour tout ce qui touche au nucléaire, sujet tabou entre tous. On a eu peur de susciter la peur, de réveiller les vieux daemons irrationnels opposés à tout progrès technologique.“ Kommentar von Marcel Trillat, Journal de 20 heures, Antenne 2, 12.05.1986, 20.00–20.30 Uhr. 34 Vgl. dazu Kalmbach, Karena, Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des Reaktorunfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur, (Magisterarbeit FU Berlin 2009) Frankfurt am Main 2011 (Zivilisationen und Geschichte, Bd. 7); dies., Die Wolke, die an der Grenze haltmachte. Zur Wahrnehmung der Auswirkungen von Tschernobyl in Frankreich, in: Internationales Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund/Junge-Wentrup, Peter (Hg.), Tschernobyl und die europäische Solidaritätsbewegung, Norderstedt 2011, S. 74–88.

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kleokratie“. 35 Diese setze sich sozial homogen aus Absolventen der Elitehochschule École Polytechnique zusammen, die später als Mitglieder des Corps des Mines als hohe Beamte in Verwaltung und Wirtschaft Karriere gemacht hatten und die wissenschaftliche Expertise im Nuklearsektor stellten. Der Vorwurf lautete, dass die Neutralität der Experten nicht gegeben sei, da die sich gegenseitig kontrollierenden Organisationen voneinander abhingen und ein reelles Gegengewicht nicht existiere. Zweifel an der Kerntechnik würden nicht zugelassen, Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen, jegliche Einflussnahme von außen abgewehrt und Informationen gezielt zurückgehalten. Die „culture du secret“, die Geheimniskultur, präge nach wie vor die französische Nuklearindustrie. 36 Die in Frankreich ohnehin, im Vergleich zur Bundesrepublik, deutlich ausgeprägtere Kluft zwischen Bürgern und politischen bzw. Verwaltungseliten offenbarte sich damit auch in der ‚Tschernobyl’-Debatte. 37 Atompolitik war Sache des Zentralstaates, die nur über die etablierten Institutionen gestaltet werden konnte. Doch die politische Elite verfolgte parteiübergreifend das ambitionierte Nuklearprogramm, das Unabhängigkeit vom Öl, wirtschaftliches Wachstum sowie eine Vorreiterrolle Frankreichs im technischen Fortschritt garantieren sollte. Zur Atompolitik de Gaulles bildete sich im linken Lager nur eine klare Opposition gegen die militärische Nutzung. Sowohl die kommunistische als auch die sozialistische Partei unterstützten seit den 1950er-Jahren teilweise euphorisch das Projekt der zivilen Kernenergienutzung, die die Unabhängigkeit vom Ausland bringen und den technologischen Rückstand Frankreichs reduzieren sollte. Die großen Gewerkschaften CGT (Confédération générale du travail), Force ouvrière und CFTC/CFDT (Confédération française des travailleurs chrétiens/Confédération française démocratique du travail) verbanden mit dem technischen Fortschritt, für den die Kerntechnik schlechthin stand, die Hoffnung auf einen sozialen Wandel hin zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter und konkret auf Arbeitsplätze. 38 Zwar wurde in den 1970er-Jahren auch Kritik am massiven Ausbau der Kernenergie laut. Insbesondere die CFDT forderte eine Verbesserung der Sicherheitsstandards, eine Lösung des Problems der Lagerung radioaktiven Abfalls, einen verstärkten Strahlenschutz der in den Anlagen beschäftigten Arbeiter und der Anwohner sowie 35 „Les écologistes ont souvent reprochés à ces organismes d’être tous peuplés de gens ‚du même monde’, des polytechniciens qui se connaissent bien, qu’ils ont surnommés les ‚nucléocrates’.“ O’Dy, Sylvie, „Les zones critiques“, L’Express, 16.–22.05.1986, S. 25. 36 Vgl. Georges Waysand, Physiker am CNRS, im Interview, Journal de 20 heures, Antenne 2, 11.05.1986, 20.00–20.30 Uhr; Camé, François, „Pierre Pellerin. Le templier du nucléaire“, Libération, 12.05.1986, S. 8; Chiquelin, Jacques, „Le clan de l’atome français“, Libération, 13.05.1986; Gaviglioli, François, „Le syndrome Pellerin“, Le Nouvel Observateur, 16.– 22.05.1986, S. 37/38; Guihannec, Yves, „Nucléaire: Les silences de la France“, L’Express, 16.–22.05.1986, S. 19–22. Die Gründe für die ‚Tschernobyl’-Lüge sieht auch der Historiker Raymond Micoulaut im französischen Elitensystems: ders., Tchernobyl. L’histoire d’une désinformation, Paris 2006. 37 Vgl. dazu Schild, Joachim; Uterwedde, Henrik, Frankreich: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, 2. akt. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 22ff. 38 Vgl. dazu Hecht, Rayonnement de la France, S. 105ff.

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mehr Transparenz und Beteiligung in den Entscheidungsprozessen. Doch der Ausstieg aus der Kerntechnik war nicht das Ziel, sondern vielmehr eine Energiepolitik, die nicht nur auf die Kernkraft, sondern auch auf andere Energieträger setzte. 39 Darüber hinaus meldeten die Einwohner der Kommunen, in denen die Kernkraftwerke errichtet wurden, zumindest Bedenken gegen die Bauvorhaben an, auch demonstrierten die Kernenergiegegner. Allerdings gelang es CEA und EDF zum einen, die lokalen und regionalen Verwaltungsbeamten für ihre Ziele zu gewinnen, indem sie diese in die Planungen zum Kraftwerksbau einbezogen und eine wirtschaftliche Belebung sowie die Aufwertung der Region in Aussicht stellten. Die Bürgermeister und Präfekten konnten ihrer Wählerschaft die mit dem Anlagenbau einhergehenden hohen Investitionen in die lokale Infrastruktur und die Schaffung von Arbeitsplätzen als überzeugende Argumente präsentieren. 40 Zum anderen scheiterte der durchaus nennenswerte Widerstand der französischen Anti-AKW-Bewegung der 1970er-Jahre, der anfangs der bundesdeutschen Bewegung sogar als Vorbild diente, an der zentralistischen Organisation des Kernenergiesektors. Sie verhinderte, dass die Kernenergiegegner sich überhaupt politisch artikulieren oder gar auf institutioneller Ebene durchsetzen konnten. 41 Das bipolare französische Parteiensystem und das Mehrheitswahlrecht blockierten außerdem den Aufstieg neuer politischer Kräfte wie die Partei der Grünen in der Bundesrepublik. 42 Der breite nuklearpolitische Konsens wurde auch durch die Proteste der Kernenergiegegner in den 1970er-Jahren nicht herausgefordert. Zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls in Tschernobyl war die Kritik bereits weitgehend verstummt, die französische Bevölkerung hatte sich mit den Reaktoren arrangiert und die billige Energie zu schätzen gelernt. Die Kerntechnik an sich war nach ‚Tschernobyl’ nicht Thema der breiten Diskussion, die Kritiker konzentrierten sich auf die Informationspolitik und die Abgeschlossenheit des Nuklearsektors. Außerhalb der nunmehr kleinen Gruppe der Kernenergiegegner wurde die Sicherheit der eigenen Anlagen nicht infrage gestellt. Somit war ‚Tschernobyl’ in

39 Vgl. Syndicat CFDT de l’énergie atomique, L’électronucléaire en France, Paris 1975; dies., Le dossier électronucléaire, Paris 1980. 40 Vgl. Hecht, Rayonnement de la France, S. 179ff. 41 Joachim Radkau sieht im Zentralismus den entscheidenden Grund für die letztliche Erfolglosigkeit der französischen Kernenergiegegner, vgl. ders., Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1090), S. 215. 42 Vgl. dazu die Arbeiten von Sabine von Oppeln, die einen vermeintlichen Unterschied in der Mentalität als Erklärung für das divergierende Verhältnis zur Kerntechnik in Frankreich und der Bundesrepublik zurückweist und stattdessen auf die unterschiedlichen Artikulations- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Kritiker verweist: dies., Die Linke im Kernenergiekonflikt. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Frankfurt am Main 1989 (Deutsch-französische Studien zur Industriegesellschaft, 9); konzise: dies., „Gefährlicher Atomnachbar Frankreich?“, in: Elsenhans, Hartmut (Hg.), Frankreich, Europa, Weltpolitik. Festschrift für Gilbert Ziebura zum 65. Geburtstag, Opladen 1989, S. 125–137.

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Frankreich kein Wendepunkt in der Einstellung zur Kernenergie. Auch nach dem Unfall stellten die Anhänger der Kerntechnik die Mehrheit. 43 Damit stand die französische ‚Tschernobyl’-Debatte im deutlichen Gegensatz zu den Diskussionen ihrer Nachbarländer. In der Bundesrepublik führte das tatsächliche Eintreten des vermeintlich unmöglichen ‚Größten Anzunehmenden Unfalls’ (GAU) zu einer Remobilisierung der Anti-AKW-Bewegung und zur Gründung neuer kernenergiekritischer Initiativen wie die Mütter gegen Atomkraft. Über die Gruppe der Kernenergiegegner hinaus fühlten sich weite Teile der Bevölkerung von den Auswirkungen des Reaktorunfalls betroffen. Neben den Grünen sprachen sich nun auch die SPD und einige Gewerkschaften gegen die Kernenergie aus, der Ausstieg wurde zur mehrheitsfähigen Option. 44 Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gab in der Bundesrepublik dann auch den finalen Anstoß, das neue Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit am 6. Juni 1986 zu gründen. Auch in Italien, das Anfang Mai 1986 die europaweit strengsten Schutzmaßnahmen in Form von Verzehrverboten für Kinder und Schwangere erließ, gab der Reaktorunfall der Anti-AKW-Bewegung deutlich Auftrieb. Im November 1987 sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung per Referendum gegen die weitere Nutzung der Kernenergie aus, woraufhin der Ausbau gestoppt und ein Jahr später schließlich der Ausstieg aus der Kerntechnik beschlossen wurden. Die vier bestehenden Anlagen wurden bis 1990 stillgelegt. Doch nicht nur die langfristigen Schlüsse, die nach ‚Tschernobyl’ auf energiepolitischer Ebene gezogen wurden, waren von Land zu Land verschieden. Auch die unmittelbaren Reaktionen der westeuropäischen Staaten auf den Reaktorunfall unterschieden sich teils deutlich. Zwar hatten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) 1957 bei der Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) neben der Förderung der Kernenergie auch den Schutz der Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung vertraglich vereinbart. Ein einheitliches Vorgehen zur Bewältigung der Auswirkungen ‚Tschernobyls’ gab es jedoch nicht. Auf einen grenzüberschreitenden Reaktorunfall war die EG nicht vorbereitet. Schon die europaweite Erhebung der Radioaktivitätswerte war problematisch, da nicht ausreichend Messstationen vorhanden waren und nur einige Mitgliedsstaaten ihre Ergebnisse an die Europäische Kommission meldeten. Zudem interpretierten die Experten der jeweiligen nationalen Strahlenschutzorganisation die Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf den menschlichen Körper verschieden. Parallel zu den Beschlüssen auf EG-Ebene legten die nationalen Regierungen eigene Strahlengrenzwerte und Schutzmaßnahmen fest. So empfahl 43 Topçu zeigt in ihrer Dissertation, dass die Strategie der Geheimhaltung in der Informationspolitik nach ‚Tschernobyl’ dazu führte, dass die Kritik sich vorrangig auf Fragen der Information und Transparenz fokussierte. Dies - so ihre These - verhinderte, dass die Kernenergie an sich infrage gestellt wurde und sicherte damit die Zukunft des französischen Atomprogramms. Vgl. auch zum Erfolg der „Nuklearisierung“ Frankreichs entgegen der in den 1970er-Jahren noch starken Widerstände: Topçu, Sezin, La France nucléaire. L’art de gouverner une technologie contestée, Paris 2013. 44 Vgl. Radkau, Joachim; Hahn, Lothar, Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013, S. 340.

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die Europäische Kommission am 6. Mai 1986 zwar einen Grenzwert für Jod-131 von 500 Becquerel pro Liter Milch und 350 Becquerel pro Kilogramm Obst und Gemüse. In der Bundesrepublik aber setzten einige Bundesländer wie Hessen weitaus strengere Grenzen für Milch von 20 Becquerel pro Liter fest, während in Frankreich wiederum der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene deutlich höhere Grenzwert von 2.000 Becquerel pro Kilogramm galt. Hinzu kamen die unterschiedlichen wirtschaftlichen sowie energiepolitischen Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten, die auf Gemeinschaftsebene zusammenzubringen waren. Das am 12. Mai 1986 verhängte zeitweilige Einfuhrverbot für Agrarerzeugnisse aus osteuropäischen Ländern nahm beispielsweise auf Wunsch der Bundesrepublik die DDR aus. Mit der am 30. Mai 1986 erlassenen Verordnung erzielte die Europäische Kommission letztlich einen Kompromiss. Sie hob das Importverbot wieder auf und untersagte stattdessen die Einfuhr von Waren, die den Grenzwert für Cäsium-134 und Cäsium-137 von 370 Becquerel pro Liter Milch und 600 Becquerel pro Kilogramm für alle anderen Lebensmittel überschritten. Frankreich, Großbritannien und Griechenland hatten deutlich höhere Grenzwerte gefordert, während die beratenden Experten niedrigere Werte empfohlen hatten. 45 Der Reaktorunfall von Tschernobyl zeigte damit die Schwächen des europäischen Krisenmanagements auf und machte die Notwendigkeit deutlich, sich einer solchen gesamteuropäischen Herausforderung gemeinsam zu stellen. In den Folgejahren strebte die EG daher eine schnellere und flächendeckende Sammlung von Messdaten durch die Einrichtung einer zentralen Datenbank an und legte 1996 den Grenzwert für die effektive Dosis radioaktiver Strahlung auf maximal einen Millisievert pro Jahr für die allgemeine Bevölkerung fest. Zudem finanzierte sie Forschungsprojekte zur Klärung der Ursachen und Folgen ‚Tschernobyls’ und engagierte sich in der Prävention nuklearer Unfälle. Hier kooperierte sie mit den Regierungen der durch den radioaktiven Fallout am stärksten betroffenen Länder Belarus, Ukraine und Russland. Neben den Bemühungen einer supranationalen Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene gründeten sich in Westeuropa Ende der 1980er-Jahre und vor allem nach dem Ende der Sowjetunion außerdem mehrere Hundert zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich der Hilfe der Tschernobyl-Opfer verschrieben. Den größten Anteil stellen Projekte, die Kinder aus den kontaminierten Gebieten zum Erholungsurlaub ins eigene Land einladen oder Spenden sammeln. 46 Damit trug der Reaktorunfall von Tschernobyl nicht nur zu einer verstärkten Abstimmung und Zusammenarbeit der

45 Vgl. dazu Liberatore, Angela, The Management of Uncertainty. Learning from Chernobyl, Amsterdam 1999 (International Studies in Global Change, Bd. 10), S. 202ff. 46 Vgl. dazu Junge-Wentrup, Peter (Hg.), Tschernobyl und die europäische Solidaritätsbewegung, Norderstedt 2011; Sahm, Astrid, Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe, in: Osteuropa 56 (2006) H. 4, S. 105–166; vgl. auch zu Solidaritätsinitiativen in Deutschland: Arndt, Melanie, Tschernobyl in Deutschland, in: Greiner, Bernd (Hg.), Erbe des Kalten Krieges, Hamburg 2013 (Studien zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges, Bd. 6), S. 364–382.

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EG-Mitgliedsstaaten im Bereich der nuklearen Sicherheit bei. Er begründete auch eine gesamteuropäische, die Blockgrenzen übergreifende Solidaritätsbewegung. Auffällig ist dennoch, dass ‚Tschernobyl’ trotz seiner grenzüberschreitenden Auswirkungen vorrangig im nationalen Rahmen diskutiert wurde, was das französische Beispiel nachdrücklich belegt. Die französische ‚Tschernobyl’-Debatte drehte sich wesentlich um die Frage, inwieweit die eigene Bevölkerung betroffen war. Die Vertreter beider Positionen in der Debatte – auf der einen Seite diejenigen, die das Krisenmanagement für angemessen hielten und die Hysterie der Medien beklagten, auf der anderen Seite die Kritiker, die den Kernkraftexperten und der Politik die gezielte Verharmlosung der Fallout-Folgen vorwarfen – stehen sich bis heute unversöhnlich gegenüber. Zu den Jahrestagen ‚Tschernobyls’ und Anlässen wie dem Reaktorunfall in Fukushima lebt die Kontroverse wieder auf. Weder die genaue Strahlenbelastung Frankreichs noch ihre gesundheitlichen Auswirkungen sind bisher eindeutig geklärt. Klar ist hingegen, dass die zentralisierte Informationspolitik nach ‚Tschernobyl’ ihr Ziel verfehlte. Statt die Bevölkerung zu beruhigen, hatte die kanalisierte Kommunikation zu der Annahme geführt, dass der Öffentlichkeit Informationen bewusst vorenthalten wurden. 47 Ein Verlust der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens in die zuständigen Behörden war die Konsequenz. Eine wichtige Rolle in dem Meinungswandel spielten die Medien, die ab Mitte Mai 1986 eine Plattform für die Kritiker boten. Damit gerieten die Medien aber auch selbst unter Rechtfertigungsdruck, hatten sie doch anfänglich die Einschätzungen der Behörden unhinterfragt übernommen. Andere Quellen wurden in den ersten zwei Wochen nach dem Reaktorunfall kaum zitiert. Die Berichterstattung folgte bis auf wenige Ausnahmen der offiziellen Sichtweise, dass es sich bei ‚Tschernobyl’ um ein externes Problem handele, welches Frankreich selbst nicht beträfe. Dies begründet sich zum einen darin, dass es kaum Informationen gab, auf die sich die Medien beziehen konnten – weder seitens der Sowjetunion noch seitens der französischen Behörden und mangels unabhängiger Expertise. Nur einzelne Journalisten besaßen zudem ausreichend technisches Knowhow, um die Expertenaussagen einordnen zu können. Zum anderen sind die Gründe für die weitgehend unkritische Wiedergabe der offiziellen Einschätzungen aber auch im französischen Mediensystem selbst zu suchen, in dem vor allem das Fernsehen jahrzehntelang unter staatlicher Einflussnahme stand. Ein Jahr vor der Privatisierung des Fernsehsenders TF1 und der damit beförderten Pluralisierung der audiovisuellen Medienlandschaft zeigte sich am Beispiel ‚Tschernobyl’, dass die Unabhängigkeit von politischem Einfluss und eine eigenständige, gar investigative Recherche im Medium Fernsehen noch keine lange Tradition besaßen. 48 Erst nachdem 47 Vgl. das Ergebnis einer Meinungsumfrage unter 1.000 Einwohnern in Frankreich, durchgeführt von IPSOS vom 26.–28.06.1986, URL: (16.11.2015): 74 % der französischen Bevölkerung meinten demnach, dass ihnen nicht die Wahrheit gesagt wurde. 48 Vgl. Requate, Jörg, Frankreich seit 1945, Göttingen 2011 (Europäische Zeitgeschichte, Bd. 4), S. 146ff; vgl. auch Sauvage, Monique; Veyrat-Masson, Isabelle, Histoire de la télévision française de 1935 à nos jours, Paris 2012.

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bekannt geworden war, dass die ‚Wolke’ sehr wohl über französisches Territorium hinweggezogen war, stellten die Medien den offiziellen Verlautbarungen auch alternative Einschätzungen der Auswirkungen des Reaktorunfalls gegenüber. Fehler in der eigenen Berichterstattung wurden jedoch nicht eingestanden. Stattdessen ging die Redaktion von Antenne 2 in der Abendausgabe der Nachrichten vom 12. Mai 1986 dem Informationsverlauf nach und rechtfertigte sich für die Wettervorhersage vom 30. April 1986, indem sie auf fehlende Informationen seitens der Behörden und die Tatsache verwies, dass auch kein anderes Medium die ‚Wolke’ thematisiert hätte. 49 Ab Mitte Mai 1986 stellten die Medien schließlich die Informationspolitik und das Krisenmanagement der offiziellen Stellen doch infrage und griffen diese zum Teil scharf an – wobei die offene Kritik weniger im Fernsehen und vielmehr in den Printmedien zu finden war. Dabei ging es jedoch nicht nur darum, die Wahrheit herauszufinden, wie sie ihren Anspruch formulierten. Es galt letztlich auch, in den Augen der Bevölkerung nicht selbst an Glaubwürdigkeit zu verlieren. 50 Medien, hier konkret Fernsehsendungen, sind daher nicht nur als Chronisten einer Debatte zu lesen, anhand derer sich im Nachhinein die Ereignisse rekonstruieren lassen. Vielmehr sind sie als Akteure in den Blick zu nehmen, die zum einen durch ihre Form und Funktionsweise die Ereignisse interpretieren und zum anderen von Menschen gemachte Produkte sind, die Intentionen verfolgen und aktiv in die Debatte eingreifen. Ihre Organisation, ihre Abhängigkeit von staatlicher Einflussnahme und wirtschaftlichen Interessen, aber auch ihre technischen Bedingungen sind daher stärker in die Analyse einzubeziehen, als es an dieser Stelle möglich war. Die französische ‚Tschernobyl’-Debatte lässt sich nur erklären, wenn die aktive Rolle der Medien differenzierter als mit den bisherigen Labels „Panikmache“ und „Verlautbarungsjournalismus“ beschrieben wird. 51 Dass ihr Einfluss in der Diskussion prägend war, beweist das Bild der ‚Wolke’, die an der Grenze haltmachte. Es wird in Frankreich bis heute mit dem Begriff „Tschernobyl“ assoziiert, der damit nicht nur für den Reaktorunfall in der Sowjetunion und dessen Folgen für die Bevölkerung in der unmittelbaren Umgebung des Kernkraftwerks steht, sondern auch für das Krisenmanagement in Frankreich und die Verantwortung politischer Vertreter und Kernkraftexperten. Literaturhinweise Arndt, Melanie, Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 32012. Kalmbach, Karena, Tschernobyl und Frankreich. Die Debatte um die Auswirkungen des Reaktorunfalls im Kontext der französischen Atompolitik und Elitenkultur, (Magisterarbeit FU Berlin 2009) Frankfurt am Main 2011 (Zivilisationen und Geschichte, Bd. 7). 49 Vgl. Journal de 20 heures, Antenne 2, 12.05.1986, 20:00–20.30 Uhr. 50 Vgl. dazu auch Liberatore, Management of Uncertainty, S. 185. 51 Dies hat mein Promotionsprojekt zu „Tschernobyl und die Medien. Die ‚Tschernobyl’-Debatte in der bundesrepublikanischen und französischen Medienöffentlichkeit in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre“ zum Ziel.

„Die Wolke, die an der Grenze haltmachte.“

213

Liberatore, Angela, The Management of Uncertainty. Learning from Chernobyl, Amsterdam 1999 (International Studies in Global Change, Bd. 10). Strazzulla, Jéromô; Zerbib, Jean-Claude, Tchernobyl – Les médias et l’événement, Paris 1991 (La Documentation française). Topçu, Sezin, La France nucléaire. L’art de gouverner une technologie contestée, Paris 2013.

Quelle Verlauf der radioaktiven Wolke über Europa. Ausschnitt aus den 20 UhrNachrichten des französischen Fernsehsenders Antenne 2 (30. April 1986) 52

52 Screenshot: Filmstill aus Journal de 20 heures, Antenne 2, 30.04.1986, 20.00–20.30 Uhr. Der Film kann online abgerufen werden auf den Seiten des Institut National Audiovisuel (INA), URL: (16.11.2015). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

DER BEITRITT SPANIENS ZUR EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT IN DEN 1980ER-JAHREN, ODER: WARUM DIE SPANIER FÜR EUROPA VOTIERTEN 1 Joaquín Abellán Am 12. Juni 1985 wurde in Madrid der Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft (EG) feierlich unterzeichnet. Beide Länder erlangten am 1. Januar 1986 die Vollmitgliedschaft. Damit wurde ein 1977 eingeleiteter Entwicklungsprozess abgeschlossen. Dieser ging auf das Beitrittsgesuch durch das erste demokratische Parlament nach dem Tod Francos (1975) zurück. Eine halbe Generation zuvor war im Jahr 1962 die Franco-Regierung von der EG schon einmal abgewiesen worden, mit dem Hinweis, dass es diktatorischen Regimen nicht möglich sei, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten. Das darauf folgende Abkommen Spaniens mit Brüssel von 1970 beschränkte sich dementsprechend allein auf Wirtschaftsfragen und wurde nach der ersten Erweiterung der EG 1975 auch nicht wiederverhandelt, nachdem in Spanien eine Reihe von inhaftierten Terroristen hingerichtet worden waren. Zeitweilig verließen damals alle europäischen Botschafter Madrid. Die im Folgenden in Auszügen abgedruckte Rede von Felipe González, der von 1982 bis 1996 spanischer Regierungschef war, markiert eine neue Epoche: In seiner Rede unterstrich González mehrfach die von allen Seiten geteilten spanischen Gründe, der EG beizutreten, ein Wunsch, der im Übrigen auch das gesamte Parteienspektrum einte. 2 Die neue Hinwendung Spaniens zu Europa versprach eine Reihe historischer Probleme zu lösen. Hierzu gehörten der Wunsch nach einer Konsolidierung der Demokratie, die Hoffnung auf die wirtschaftliche und soziale Modernisierung des Landes sowie die als dringend notwendig erachtete Aufhebung der franquistischen Isolation und damit die Rückkehr Spaniens in die internationale Gemeinschaft. Der einhellige Konsens, der sich auf den EG-Beitritt sowie – fast ebenso einhellig auch – auf die neue demokratische Verfassung Spaniens aus dem Jahre 1978 bezog, war zu dieser Zeit allerdings relativ neu und erst zustande gekommen, nachdem einige Parteien wesentliche Aspekte ihres Parteiprogramms revidiert hatten. Die Mitte-Rechts-Parteien wie etwa die Unión de Centro Democrático und die Alianza Popular waren freilich zuvor schon entschie1 2

Essay zur Quelle: Rede des Regierungspräsidenten Felipe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (12. Juni 1985). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Feierliche Rede des Regierungspräsidenten Felipe González zum Anlass der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages zwischen Spanien und der EG, Madrid, 12.06.1985, in: El País (Madrid), 13.06.1985.

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dene Europabefürworter gewesen. Aus ihrer Sicht bestand die europäische Integration vor allem in einem „wirtschaftlichen Imperativ“, der sich aus dem bereits erreichten Niveau der spanisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen ergab und der gleichzeitig die neue spanische Demokratie stabilisieren helfen sollte. Für beide Parteien bildete ein künftiger NATO-Beitritt Spaniens die notwendige Ergänzung zur EG-Mitgliedschaft, die die vorangegangene internationale Isolation Spaniens mit überwinden sollte. Die Sozialdemokraten (Partido Socialista Obrero Español), die sich ausdrücklich zu Europa bekannt hatten, mussten ihr Parteiprogramm hingegen abändern und vor allem ihre marxistische Interpretation des europäischen Imperialismus und Kapitalismus revidieren. Auf einem geschichtsträchtigen Kongress von 1978 verabschiedete sich die Partei von ihrer marxistischen Basisideologie sowie von der dazugehörigen Deutung der Wirtschaftsbeziehungen und bekannte sich uneingeschränkt zur wirtschaftlichen Integration in die EG. Gegenüber einem möglichen NATO-Beitritt vertraten die Sozialdemokraten jedoch eine andere Position. Diese sollten sie dann aber ebenfalls Ende der 1980er-Jahre nach dem tatsächlichen Betritt zur NATO revidieren. Seit 1977, dem Jahr ihrer Legalisierung, befürworteten auch die Kommunisten (Partido Comunista de España) die europäische Integration. In Zusammenhang mit dem erstarkenden Eurokommunismus der 1960er-Jahre hatten sie sich grundsätzlich auf Europa zurückorientiert. Da auch die Partido Comunista de Espagña darauf hoffte, dass sich die junge spanische Demokratie im Zuge der europäischen Integration stabilisieren werde, votierte sie ebenfalls für den spanischen Beitritt, zugleich aber widersprach sie entschieden einem Beitritt zur NATO, eine Frage, die sie als vollkommen unabhängig von dem anvisierten EG-Beitritt zur Debatte stellte. Die Bereitschaft der spanischen Parteien, das Beitrittsgesuch der Regierung zu unterstützen, war also mit sehr unterschiedlichen, klar erkennbaren politischen Motiven verbunden. Obwohl die damalige EG vor allem den Charakter einer Wirtschaftgemeinschaft besaß, verstanden schließlich nahezu alle Parteien die europäische Integration in erster Linie als eine wirksame Garantie für die junge spanische Demokratie. So war schon zu Zeiten der Franco-Diktatur der Umstand, dass Spanien von der EG ausgeschlossen geblieben war, von der demokratischen Opposition als ein schlagkräftiges Argument vorgebracht worden, um den Franquismus zu delegitimieren. Und ebenso politisch motiviert war auch die Hoffnung auf ein mit dem EG-Beitritt verbundenes Ende der internationalen Isolation. Die Aufnahme Spaniens in die Institutionen der EG verdeutlichte somit auch unmissverständlich das Scheitern der Franco-Diktatur. Nicht zuletzt deshalb betonte Felipe González in seiner Rede, in welchem Umfang der Beitritt Spaniens einen qualitativen Sprung innerhalb der politischen Entwicklung des eigenen Landes bedeute. So klar der von allen Seiten immer wieder betonte Konsens zur europäischen Integration zu beobachten war, so interessant ist es zu sehen, welcher Europabegriff die Debatten der spanischen Parlamentarier zwischen 1977 und 1985 bestimmte, ein Begriff, der im Übrigen ohne Zweifel auch die Rede von Felipe González grundlegend prägte. Besonders aufschlussreich und wichtig ist es dabei zu erkennen, dass die Begriffe „EG“ und „Europa“ nicht nur in den Parlaments-

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debatten, sondern auch in der Presse synonym verwandt wurden. Europa verstand man hier als ein Symbol für die Ideale der Freiheit, des Friedens und der Modernisierung. Und darüber hinaus stand Europa für ein vitales Interesse in vielen Lebensbereichen der spanischen Politik, ohne dass der Rückbezug auf Europa jedoch zu klaren Definitionen und politischen Handlungsdirektiven geführt hätte. Bei näherem Hinsehen wird entsprechend deutlich, dass insbesondere diese begriffliche Unschärfe die breite Zustimmung zu Europa erst ermöglichte. Mit anderen Worten erlaubte der Symbolcharakter Europas es den spanischen Abgeordneten, in ausschweifender Ambivalenz, ohne ein klares Konzept und ohne sich der tatsächlichen Konsequenzen bewusst zu sein, über die Integration ihres Landes zu sprechen. In gewisser Weise wandelte sich der Europabegriff auf diesem Weg zu einem metapolitischen Phänomen, ohne dass er an Wichtigkeit in den öffentlichen Debatten eingebüßt hätte. Dessen ungeachtet verlor er aber die Möglichkeit, im Rahmen politischer Auseinandersetzungen neu definiert zu werden. Auf derselben Linie bewegte sich auch die parlamentarische Diskussion über die Folgen der europäischen Integration für die eigene nationale Identität. Entsprechend ließ Felipe González’ Rede keinen Zweifel an dem notwendigen Fortschritt zur europäischen Einheit sowie an der spanischen Bereitschaft, dabei tatkräftig mitzuwirken. Die möglichen Konsequenzen einer intensivierten europäischen Einheit gegenüber der eigenen nationalen Identität wurden jedoch weder in González’ Rede noch in den parlamentarischen Debatten vor 1985 angesprochen. Im Rahmen der emphatischen Proklamation der als großes Ideal bezeichneten europäischen Einheit versäumten es die Parlamentarier, die möglichen Transformationseffekte auf die nationale und politische Identität zu bedenken. Die Debatte ging vielmehr durchgängig von einer überzeitlich stabilen Identität aus und wurde so als eine Identität gedacht, die im Zuge des Kompetenztransfers an die Institutionen der EG als immun anzusehen sei. Trotz der großen Bedeutung, die dem Wandel zu einer europäischen Einheit zugesprochen wurde, war man sich also nicht über die Wechselwirkung der europäischen Integration mit den jeweils beteiligten Nationalstaaten im Klaren. Der überzeitlich gedachte Charakter der nationalen spanischen Identität verhinderte damit allerdings prinzipiell auch die Frage nach dem eigentlichen Kernpotential einer Europäischen Union. Insofern stand das Bekenntnis zur europäischen Einheit in Spanien in einem scharfen Gegensatz zu den fehlenden Überlegungen zur künftigen nationalen Souveränität sowie zu ebenso wenig vorhandenen Reflexionen über die Grundlagen nationaler Identität. Der politische Diskurs in Spanien bewegte sich folglich auch hier erneut auf einer durchaus rhetorischen Ebene. Diese war unfähig, politische Debatten anzuregen sowie politisch klar Position zu beziehen. Interessant ist es in diesem Zusammenhang abschließend auch zu sehen, wie die spanische Öffentlichkeit den Beitritt zur EG diskutierte. Hier war klar zu erkennen, dass viele die europäische Integration Spaniens als eine Frage nationaler Ehre erlebten. Verbunden damit verbreitete sich in der Hauptphase des EG-Beitritts ein alter Nationalstolz erneut wieder aus. Hinzu kam eine große Begeisterung darüber, nun den alten „angestammten Platz“ in Europa wieder mit Leben füllen zu können. Dieser neue und zugleich alte Nationalstolz sollte den voraus-

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gegangenen ausgeprägten kollektiven Minderwertigkeitskomplex der Franco-Ära überwinden helfen. Für die Spanier schlossen somit der Wille zur europäischen Integration sowie ein ausgeprägter Nationalstolz einander nicht aus. Dass beides möglicherweise einmal miteinander in Konflikt geraten könne, stand in der spanischen Öffentlichkeit ebenso wenig wie im Parlament zur Debatte. Literaturhinweise Alvarez-Miranda, Berta, El sur de Europa y la adhesión a la Comunidad. Los debates políticos, Madrid 1996. Barbé, Esther, La política europea de España, Barcelona 1999. Helmerich, Antje, Die Außenpolitik Spaniens. Vom Konsens zum Bruch – und wieder zurück, in: FES International 4 (2004), URL: (16.11.2015). Niehus, Gerlinde Freia, Die Außenpolitik Spaniens nach Franco, in: Bernecker, Walther L.; Oehrlein, Josef (Hgg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 1991, S. 225–264. Powell, Charles, Cambio de régimen y política exterior, 1975–1989, in: Tusell, Javier; Avilés, Juan; Pardo, Rosa (Hgg.), La política exterior de España en el siglo XX, Madrid 2000, S. 413–454.

Quelle Rede des Regierungspräsidenten Felipe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (12. Juni 1985) 3 [...] Der heutige Tag ist ein historischer Schritt für Spanien und für Europa. Denn mit den Unterschriften im Beitrittsvertrag zur Europäischen Gemeinschaft haben wir nicht nur die politische Isolierung Spaniens überwunden, sondern auch einen Meilenstein in der Vollendung der Einheit unseres alten Kontinents gesetzt. Nun trägt auch Spanien dazu bei, die Ziele aus der Präambel der Römischen Verträge Wirklichkeit werden zu lassen. Ideale, unter denen die Gründer der Gemeinschaft damals alle Völker Europas einluden, an der Festigung des Friedens und der Freiheit teilzunehmen. [...] Heute können wir mit Genugtuung sagen, dass es die richtige Entscheidung war, jene demokratisch gewählten Vertreter des spanischen Volkes in ihrem Schritt zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft uneingeschränkt zu unterstützen und der Regierung besonders zu Beginn der Verhandlungen den Rücken zu stärken. Damit haben wir von Anfang an klar gemacht, dass unser Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft eine parteiübergreifende Staatsangelegenheit ist, dessen Ursprung in der überwältigenden Mehrheit der Bürger, ihrem Wunsch nach Integration Spaniens in Europa und der Teilnahme an den Idealen der Freiheit, des Fortschritts und der Demokratie lag. [...] Durch die Verbindung der alten Selbstverständlichkeit, Teil von Europa zu sein, mit der wiedergewonnenen Möglichkeit, erneut an Europa teilzuhaben – zunächst durch die Vertretung im Europäischen Rat und nun in der Europäischen Gemeinschaft –, durch dieses Wiederan3

Die Quelle sowie das spanische Original sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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knüpfen an das Vermächtnis der Vergangenheit gewinnt eine ganze Nation ihr eigentliches Geschichtsbewusstsein wieder. [...] Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft ist ein ehrgeiziges und weitreichendes Projekt, das wesentlich über den reinen Wortlaut der nun unterzeichneten Vertragsklauseln hinausgeht. Für Spanien bedeutet der Beitritt zugleich die endgültige Überwindung der politischen Isolation und die Chance auf Teilnahme am gemeinsamen Schicksal der westeuropäischen Länder. Zweifelsohne impliziert der Beitritt für unser wirtschaftliches und soziales Leben eine Herausforderung zu mehr Modernität, die einen Mentalitäts- und Strukturwandel nach sich ziehen muss. Schwieriger noch als für die damaligen Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wird diese Angleichung deshalb ausfallen, weil wir uns mit Verspätung in einen bereits laufenden Prozess eingliedern. Dennoch bin ich sehr zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft (Arbeiter und Unternehmer, Selbstständige, Techniker und Forscher, Männer und Frauen aller Völker Spaniens) auf diese Herausforderung deutlich reagieren wird. Durch die Anstrengungen aller und mit der Hoffnung eines ganzen, dynamischen und jungen Volkes werden wir die Aufgabe der wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Modernisierung meistern, die einen selbstbewussten und sicheren Übergang an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert gewährleistet. Für Europa als Ganzes darf die Erweiterung der Gemeinschaft durch den Beitritt Spaniens und Portugals keine reine Rechenoperation sein, sondern sollte als besondere Gelegenheit für einen qualitativen Sprung in seiner politischen Entwicklung gewertet werden. [...] Was Spanien betrifft, lassen Sie mich eine Sache ganz klarmachen: Wir werden weder eine Last für die Gemeinschaft, noch ein Hindernis auf ihrem Weg zu mehr politischer und wirtschaftlicher Integration sein. Ganz im Gegenteil: Innerhalb der Vertretung unserer Kerninteressen werden wir mit allen Kräften am Voranschreiten der europäischen Einheit mitarbeiten. [...] Dafür steuert Spanien das Wissen einer alten Nation und den Enthusiasmus eines jungen Volkes bei, überzeugt davon, dass die Einheit in der Zukunft die einzig mögliche Zukunft für Europa ist. Das Ideal dieser europäischen Entwicklung ist bedeutender denn je, gerade weil die Welt von heute und von morgen uns dazu auffordert. [...] Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Arbeit zwar der Verbesserung der Gegenwart gilt, aber vor allem auch den nachfolgenden Generationen ein Vermächtnis des Friedens, der Gerechtigkeit und des Fortschritts hinterlassen soll. Diese Einstellung bedeutet, an Europa zu glauben, und so hoffen wir auf ein gerechteres, solidarischeres und gemeinsameres Europa der Zukunft. [...]

DAS EUROPA DER BÜRGERRECHTLER. DIE OST-WEST-FRIEDENSBEWEGUNG ENGAGIERTE SICH FÜR EINE FRIEDENSVERFASSUNG IM RAHMEN DER KSZE 1 Christian Domnitz Zur Mitte der 1980er-Jahre verständigten sich die Friedensbewegungen in Ost und West unter dem Zeichen von Europa. Ausgehend von der Idee, dass die Blocktrennung und der Systemkonflikt die gesellschaftliche Entwicklung in beiden Teilen des Kontinents behinderten, entwickelten sie Konzepte einer Annäherung. Die Vernetzung der zu dieser Zeit populären und stark in den Gesellschaften verankerten Friedensbewegungen sollte zum Pilotprojekt einer blockübergreifenden Einigung werden. Unter den Leitbegriffen des Friedens und der Bürgerrechte wurde eine Europavorstellung formuliert, der eine Brückenfunktion zwischen den Gesellschaften Ost- und Westeuropas zukam. Die Blocktrennung sollte durch innere Reformen der Gesellschaften überwunden werden, und ein idealisiertes Europa sollte in das kritische Bewusstsein seiner Bewohner eintreten. Die Friedensbewegung wählte dabei die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) als Appellationsinstanz. Sie wurde zur Projektionsfläche für die Idealvorstellungen ihrer Protagonisten. Ausgangspunkt der Bestrebungen, die politische Ordnung des Kontinents neu zu denken, war das Gefühl einer Bedrohung durch die wachsenden Waffenarsenale auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“. Beispielsweise in den Protesten gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik wurde ein Bewusstsein geformt, nach dem man sich nicht damit zufrieden gab, dass die europäische Entspannung allein zwischen den Regierungen ausgehandelt werden sollte. Die offensichtliche Bedrohung des Friedens durch das Wettrüsten löste in den Friedensbewegungen eine Suche nach den Hintergründen der europäischen Blocktrennung und nach Wegen ihrer Beseitigung aus. Der ostdeutsche Pfarrer Edelbert Richter brachte dies auf den Punkt mit der Feststellung, „auf beiden Seiten müssen innere Veränderungen erfolgen, soll

1

Essay zur Quelle: Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog: Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen (3. November 1986). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Der Essay nimmt in kompakter Form Hauptthesen eines im DeutschlandArchiv erschienenen Beitrags auf, welcher umfassender auf den Kontext des Dokuments eingeht, siehe Domnitz, Christian, Der Traum von Helsinki. Bürgerrechtler entwickeln Ideen einer neuen europäischen Ordnung, in: DeutschlandArchiv 40 (2007), H. 1, S. 76–86.

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es zum äußeren Frieden kommen“ 2 Die Bürgerbewegungen reagierten auf die zweiseitige Konflikteskalation mit einer doppelten Gesellschaftskritik und kritisierten Wachstumsdogmen im Westen und politische Knechtschaft im Osten: „Indem der Götzendienst der Produktion Demokratie an Kapitalismus und Sozialismus an Despotie kettet, reißt er zugleich den Graben zwischen den Systemen auf.“3

In gemeinschaftlichen Initiativen wie beispielsweise dem informellen Treffen der Bürgerrechtler am Rande des KSZE-Kulturforums in Budapest im Oktober 1985 wurden Wege aus dem Dilemma der Systemkonfrontation gesucht. Auf Ost-WestKongressen der Friedensbewegungen in Warschau (Seminar der Bewegung Freiheit und Frieden, Mai 1986), in Budapest (Seminar der Initiative Ost-West-Dialog, November 1987) und in Prag (Seminar der Charta 77 und der Unabhängigen Friedensinitiative, Juni 1988) berieten Bürgerrechtler aus Ost und West, wie sich Friedensfragen mit Menschenrechtsgarantien koppeln lassen. Diese Verbindung erschien ihnen attraktiv, denn sie zielte insgesamt auf Defizite beiderseits der europäischen Trennungslinie. Ein bekannter Essay Václav Havels untermauerte unter dem Titel „Euer Frieden und unserer“ die so genannte „Unteilbarkeit des Friedens“. 4 So wurde die KSZE für die Bürgerrechtler interessant, denn mit den Vereinbarungen zur Friedenssicherung (im „ersten Korb“ der im August 1975 unterzeichneten Helsinki-Schlussakte) und zu den Menschenrechtsgarantien (im Prinzip VII und im „dritten Korb“) hatte auch sie diesen Nexus international fixiert. 5 In den staatssozialistischen Diktaturen östlich des Eisernen Vorhangs war der Rahmen des Sagbaren eng. Die Apparate von Staat und Partei suchten nicht nur die offiziellen Medien, sondern jedwede öffentliche Äußerung zu kontrollieren und missliebige Aussagen zu unterbinden. Obwohl die KSZE in der staatsoffiziellen Friedenspropaganda stark instrumentalisiert wurde, hatte die Berufung auf „Helsinki“ so einen Vorteil gegenüber der zu dieser Zeit in den Oppositionen ebenso populären, jedoch offiziell als germanozentrisch verteufelten Debatte um „Mitteleuropa“. Mit der Unterschrift der Regierungen unter die Schlussakte von Helsinki wurde auch hier das Plädoyer der Bürgerrechtler für eine neue Europaidee im Rahmen der KSZE legal und legitim. Der Appell an die KSZE bewegte sich gleichzeitig innerhalb der Möglichkeiten des im Staatssozialismus Sagbaren. Durch die Selbstverpflichtung der Staaten zur Einhaltung der in der Schlussakte festgehaltenen Bürgerrechte waren zudem der Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender in den Staatssozialismen erste Grenzen gesetzt. So entschieden 2 3 4 5

Richter, Edelbert, Der Götzendienst der Produktion reißt die Gräben auf. Zu den inneren Ursachen der Blockkonfrontation in Europa, in: Kirche im Sozialismus 6 (1985), H. 11, S. 247– 249. Ebd. Havel, Václav, Euer Frieden und unserer – Anatomie einer Zurückhaltung, in: Kursbuch (1985), H. 81., S. 35–53. Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Schlussakte, Helsinki 1975, in: OSCE, URL: (16.11.2015).

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sich viele Bürgerrechtler Ostmitteleuropas und der DDR, sich auf „Helsinki“ zu berufen. 6 Der Appell an „Helsinki“ und das Konzept der „Unteilbarkeit des Friedens“ ermöglichte gar, mit dem „Prager Aufruf“ der Charta 77 eine deutsch-deutsche Vereinigung als „Instrument eines positiven Wandels in Europa“ zu fordern 7, ohne vor dem Hintergrund des offiziellen antideutschen Diskurses in den Verdacht zu geraten, westlichen „Revanchisten“ nach dem Munde zu reden. Jedoch gab es auch oppositionelles Unbehagen an der KSZE und Misstrauen gegenüber den Regierungen, deren Verhandeln oftmals als intransparent angesehen wurde. Angezweifelt wurde, ob deren Interessen mit denen der Bürger identisch seien. Die polnische Bewegung zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte bemängelte 1977, in der KSZE würde der „freie Willen der Völker“ zu wenig berücksichtigt: Wenn auf der KSZE-Folgekonferenz in Belgrad die Menschenrechtsfrage und die Selbstbestimmung der Völker „nur halbherzig gelöst“ würden, drohe die KSZE in eine Kontinuität mit den Konferenzen von München 1938 und Jalta 1945 zu geraten. 8 Ostdeutsche Bürgerrechtler kritisierten noch 1985, im KSZE-Prozess sei weder Osteuropa demokratisiert, noch das Wettrüsten beendet worden. Deshalb schlugen sie vor, an den KSZE-Folgekonferenzen zukünftig Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Bürgerrechtler zu beteiligen. 9 Der tschechische Reformkommunist und Dissident Jiří Hájek forderte, dass im KSZE-Prozess die Geopolitik allmählich hinter das Ringen um die Einhaltung der Bürgerrechte treten solle. 10 Den Kritiken an der KSZE war gemeinsam, dass die Bürgerferne dieses OstWest-Forums bemängelt wurde. Hier setzte die breiteste Initiative der gesamteuropäisch vernetzten Friedensbewegung an. Das Memorandum „Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen“ wurde am 3. November 1986 zur Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz in Wien vorgestellt. 11 Erarbeitet wurde es unter Federführung des Europäischen Netzwerks für den Ost-West-Dialog, das im Juli 1984 auf der Abrüstungskonferenz der Friedensbewegungen in Perugia begründet wurde. Nach der Veröffentlichung des Prager Aufrufs durch die Charta 77 im 6

Vgl. Dienstbier, Jiří, Träumen von Europa, Berlin 1991, S. 118f. Auch war die Berufung auf die KSZE-Schlussakte das Gründungsmoment der Charta 77. 7 Dienstbier, Jiří; Kantůrková, Eva; Šustrová, Petruška, Prager Aufruf, in: International. Die Zeitschrift für internationale Politik (1985), H. 3/4. 8 Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela w Polsce, Oświadczenie w związku ze spotkaniem przedstawicieli państw sygnatariuszy Aktu Końcowego KBWE [Erklärung zum Treffen der Vertreter der Signatarstaaten der KSZE-Schlussakte], in: Kultura 11 (1977), S. 154–157. 9 Poppe, Gerd et al., An die Unterzeichner des Prager Aufrufs, maschinenschriftliche Kopie (08.06.1985), Havemann-Gesellschaft, Bestand DDR-Friedensbewegung 1984–89, TH 01c. 10 Hájek, Jiří, Helsinky a perspektivy vývoje k celoevropskému společenství [Helsinki und die Perspektiven zur Entwicklung einer gesamteuropäischen Gesellschaft], in: Diskuse. Teoreticko-politický občasník 40 (1986), S. 1–11. 11 Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog (Hg.), Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen. Ein Memorandum, gemeinsam erarbeitet von unabhängigen Gruppen und Personen in Ost- und Westeuropa, Berlin 1987. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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Folgejahr hatten Friedensaktivisten und Bürgerrechtler aus Ost und West etwa ein weiteres Jahr lang miteinander auf verschiedenen Foren und mit zahlreichen Positionspapieren um ein gemeinsames Verständnis darüber gerungen, wie eine europäische Annäherung „von unten“ erreicht werden könne. Schließlich fand das Memorandum mehrere hundert Erstunterzeichner. Es wurde in die europäischen Sprachen übersetzt und in den Medien der unabhängigen Friedensbewegungen vielfach nachgedruckt, unter anderem auch im ostmitteleuropäischen Samizdat. 12 Es wirkte in die national, regional und weltanschaulich differenzierten Foren und Arenen der Friedensbewegung hinein. In Ost- und Ostmitteleuropa war zwar keine offene mediale Debatte wie in Westeuropa möglich, dennoch diente das endliche Zustandekommen des Memorandums dort der Anerkennung und Selbstbestätigung der Friedensinitiativen, und selbst kleine Magazine druckten es gekürzt nach. Inhaltlich verlieh das Dokument der Debatte um Frieden und Menschenrechte auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ eine breitere Präsenz. Es ist die intensivste Bezugnahme der europäisch vernetzten Friedensbewegung auf den KSZE-Prozess, die auf dem Höhepunkt ihrer Ost-West-Kooperation veröffentlicht wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten aus der Bundesrepublik Gerd Bastian und Petra Kelly, Rainer Eppelmann und Markus Meckel aus der DDR, Władysław Bartoszewski und Jan Józef Lipski aus Polen, aus der ČSSR Václav Havel, Jiří Hájek und Jiří Dienstbier sowie aus Ungarn György Dalos und György Konrád. Aus den USA unterschrieben die Liedermacherin Joan Baez und der Beatnik-Schriftsteller Allen Ginsberg. Neben Friedensaktivisten, Bürgerrechtlern und Politikern unterzeichneten auch zahlreiche Wissenschaftler. In der Bundesrepublik waren dies beispielsweise der Historiker Wilfried Loth, der Soziologe Oskar Negt und der konstruktivistische Politologe Peter Schlotter. Das Dokument ist eine Synthese des von der Friedensbewegung Erreichten. Es stellte heraus, dass die dauerhafte Aufrechterhaltung der europäischen Sicherheit untrennbar mit der Einhaltung der Bürgerrechte verbunden sei. In seiner Sprache tritt eine deutliche Europarhetorik hervor, für die Forderungen der Unterzeichner war Europa Bezugsrahmen und Appellationsinstanz. Am bisherigen Verlauf des KSZE-Prozesses wurden vor allem die Fixiertheit auf die Großmächte und die nationalen Regierungen kritisiert sowie der Ansatz, Menschenrechtsgarantien und Freiheitsrechte allein „von oben“ und ohne gesellschaftliche Beteiligung zu implementieren. Deshalb fordert das Dokument auf zur Erarbeitung eines „demokratischen Programms zur Überwindung der Blockstrukturen in Europa“. Die Menschen sollten am KSZE-Prozess beteiligt sein. Weiterhin wurde gefor12 Siehe beispielsweise Uvést Helsinské dohody v život. Memorandum určené občanům, skupinám a vládám všech zemí KBSE, vypracováno u příležitosti vídeňského následného jednání KBSE [Die Helsinki-Verträge zu Leben bringen. Ein Memorandum für die Bürger, Initiativgruppen und Regierungen aller Länder der KSZE, ausgearbeitet anlässlich der Wiener KSZE-Folgekonferenz], in: Informace o Chartě 77 [Informationen über die Charta 77] Nr. 9, Prag 1986; Tchnąć prawdziwe życie w porozumienie helsińskie [Dem Helsinki-Abkommen wahres Leben einhauchen], in: Ruch „Wolność i Pokój”: Biuletyn WiP [Bulletin der Bewegung „Freiheit und Frieden“] Nr. 2, Warschau 1986.

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dert, mit dem Warschauer Pakt und der Nato diejenigen Militärbündnisse aufzulösen, welche Europa teilten. Gestoppt werden sollten die Militarisierung der Gesellschaften und Geheimdienstaktivitäten gegen die Bevölkerungen. Schließlich wurde „eine Friedensverfassung für Europa“ gefordert, „welche die zehn in Helsinki verkündeten Grundprinzipien in politische Realität verwandeln würde“. Der in dem Memorandum fixierte Traum von Europa – der hier ein „Traum von Helsinki“ war – schloss vielerlei Themen ein, die nicht unbedingt zum zentralen Kanon der Friedensbewegung gehörten: Das Memorandum bezog Position zur weiblichen Emanzipation, es widmete sich den Beziehungen zur Dritten Welt, und es mahnte zu ökologischer Nachhaltigkeit. Die hier festgehaltene Europavorstellung war damit ein breites Deutungsangebot für eine europäische Kultur und Lebensweise. Bevor die Blocktrennung Europas im Fall der Berliner Mauer ihr Ende fand, hatten Friedensaktivisten und Bürgerrechtler das Ende des Systemkonflikts in ihrem Denken und ihrer Ost-West-Vernetzung vorweggenommen. Sie formulierten ein eigenes Verständnis von „Helsinki“, das sich mit der Auslegung der Regierungen fortan in einem Deutungskonflikt befand. Die von Konrad Jarausch beschriebene Wende der Bürgerbewegungen hin zu einem gesamteuropäischen Denken setzte somit bereits vor dem Umbruchjahr 1989 ein, auch wenn ihnen Gedanken zu einer supranationalen Integration von Politik und Wirtschaft – wie sie beispielsweise in der EG erfolgte – fern lagen. 13 An deren Stelle befand sich eine weitgehend zukunftsoffene Europavorstellung, wonach ein Europa „von unten“, von politisch aktiven Bürgern gestaltet werden würde. Vorreiter waren hierbei die – wenn auch im Detail unterschiedlich gelagerten – Vorstellungen von Dissidenten in der ČSSR, in Polen und in Ungarn. In Ostmitteleuropa und auch der DDR gewann dabei die Interpretation der KSZE als Garantin von Bürgerfreiheiten und Menschenrechten allmählich an Gewicht gegenüber der offiziell propagierten „Koexistenz der Gesellschaftssysteme“ in Europa. Dennoch erfolgte die Einigung Ostmittel- und Westeuropas nicht unter dem Zeichen der KSZE. In dem Maße, wie die Legitimität der staatssozialistischen Führungen schwand und sich die Möglichkeiten des Sagbaren weiteten, wurden zum Ende der 1980er-Jahre mit der Debatte um „Mitteleuropa“ und der „Rückkehr nach Europa“ andere Europavorstellungen populär. Die Abkehr von einem Helsinki-Europa war im schleppenden Fortgang des Wiener KSZE-Folgetreffens begründet, das für viele Beobachter – und nicht nur jene der Bürgerbewegung – enttäuschend verlief. Sogar offizielle östliche Berichterstatter sahen dessen Bedeutung zuletzt mehr im diplomatischen Schaulaufen als in der vereinbarten Annäherung von Ost und West, die sich in haarspalterischen Wortklaubereien um die

13 Jarausch, Konrad H., Der andere Blick. Europavorstellungen der ostdeutschen Bürgerbewegung, in: Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hgg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 456–459, URL: (16.11.2015).

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Dokumenttexte verloren hatte. 14 Später schwand auch durch zahlreiche Enthüllungen politisch motivierten Unrechts seitens der Staatsparteien die Bereitschaft, in so genannten „dritten Wegen“ Kapitalismus und Sozialismus zusammenzudenken und eine gesellschaftliche Entwicklung unter der Beteiligung von Reformkommunisten zu beschreiten. Auch die quasi-militärischen Aktionen in der Sowjetunion, die unmittelbar nach 1989 ihren Zerfall aufhalten sollten und die für sicherheitspolitische Verunsicherung sorgten, schwächten die Rolle der KSZE, an der die Sowjetunion entscheidend beteiligt war. Die Pariser Charta für ein neues Europa des Jahres 1990 wurde so zum letzten bedeutenden Dokument einer Einigung Europas im Rahmen der KSZE. 15 Ostmitteleuropäische und ostdeutsche Zukunftsvisionen für Europa bewegten sich hin zur schnellen Integration in transatlantische, westeuropäische und westdeutsche Strukturen, ohne dass für diese Integration zuvor eine nachhaltige Bewusstseinsgrundlage bestanden hatte. Sie basierten nicht mehr auf einer symmetrischen Einigung von Ost und West auf gleicher Augenhöhe, sondern standen für einen Transfer europäischer Institutionen und Werte aus dem Westteil des Kontinents. Träger dieser Vorstellungen waren wiederum viele derjenigen Bürgerrechtler, die sich Mitte der 1980er-Jahre auf „Helsinki“ berufen hatten. In Polen, der Tschechoslowakei und der DDR kamen sie in den Jahren 1989 und 1990 an die Regierung und bestimmten die außenpolitischen Leitlinien nach dem Wegfall der Blockbindung. Dabei spielten ihre vorangegangene Erfahrung des „Geists von Helsinki“ und der mit der Berufung auf die KSZE früh geschaffenen Perspektive einer blockübergreifenden Einigung eine Rolle. Diese hatten eine Dynamik im Denken und in der Vernetzung der Oppositionen in Ostmitteleuropa und der DDR ausgelöst, die der Einigung Europas den Weg bereitete. Literaturhinweise Bickhardt, Stephan, Entspannungspolitik von unten. Aktivitäten von nichtstaatlichen Gruppen und ihre Nachwirkungen, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. VIII/1, Baden-Baden 1999, S. 753–775. Mehlhorn, Ludwig, Der politische Umbruch in Ost- und Mitteleuropa und seine Bedeutung für die Bürgerbewegung in der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der EnqueteKommission, Bd. VII/2, Frankfurt am Main 1995, S. 1409–1436. Neubert, Ehrhart, Der KSZE-Prozeß und die Bürgerrechtsbewegung in der DDR, in: Henke, Klaus-Dietmar; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hgg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln 1999, S. 295–308. Risse, Thomas; Ropp, Steve C.; Sikkink, Kathryn (Hgg.), The Power of Human Rights. International Norms and Domestic Change, New York 1999.

14 Vgl. ein tschechoslowakisches Beispiel: Syruček, Milan, Nový evropský horizont [Ein neuer europäischer Horizont], in: Tvorba 5 (1989), S. 18–19. 15 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Charta von Paris für ein Neues Europa, Paris 1990, in: OSCE, URL: (16.11.2015).

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Thomas, Daniel Charles, The Helsinki Effect. International Norms, Human Rights, and the Demise of Communism, Princeton 2001.

Quelle Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog: Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen (3. November 1986) 16 Vor elf Jahren wurde in Helsinki die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet, doch heute gibt es auf unserem Kontinent nicht mehr Sicherheit als 1975 und die Zusammenarbeit ist noch immer durch eine Politik der Konfrontation gefährdet. Viele der Absichtserklärungen, die die Regierungen in Helsinki abgegeben haben, sind toter Buchstabe geblieben. Die Militarisierung der Gesellschaften dauert an. Die Kommunikation zwischen Ost und West wird nach wie vor durch viele Barrieren behindert. Beide Seiten produzieren weiterhin Feindbilder, die eine Bedrohung des Friedens darstellen. In vielen KSZE-Staaten sind die bürgerlichen Grundrechte faktisch nicht existent. Die Menschen im geteilten Europa haben ein vitales Interesse daran, daß der HelsinkiProzeß greifbare Resultate bringt. In diesem Memorandum unterbreiten wir, Bürgerinnen und Bürger von KSZE-Staaten in Ost und West, der Öffentlichkeit wie auch den Vertretern der Regierungen, die im November 1986 in Wien zur Helsinki-Nachfolgekonferenz zusammentreten, einige unserer eigenen Ideen und Vorschläge. Wir tun dies als legitime Akteure im Rahmen der KSZE-Vereinbarungen, die die Zusammenarbeit zwischen Individuen, Gruppen und Gesellschaften als einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der in Helsinki proklamierten Ziele ausdrücklich betonen. Für uns besteht zwischen den drei „Körben“ der Helsinki-Schlußakte ein enger innerer Zusammenhang. Wir weisen mit Entschiedenheit alle Versuche zurück, den Frieden gegen die Freiheit auszuspielen oder umgekehrt. Dauerhafte Entspannung kann nicht durch ein Herunterspielen der Frage politischer und sozialer Menschenrechte erkauft werden. Frieden und Sicherheit, Entspannung und Zusammenarbeit, Grundrechte und die Selbstbestimmung der Völker müssen gemeinsam verwirklicht werden. Rückschläge in jedem dieser Bereiche haben negative Auswirkungen auf alle anderen. Wir sind uns bewußt, daß das Abkommen von Helsinki keine befriedigenden Antworten auf einige der drückendsten Probleme der Gegenwart gibt So vor allem die beständig sich vergrößernde Kluft zwischen reichen Industriestaaten und den meisten Ländern der Dritten Welt, die drohende Zerstörung unserer natürlichen Umwelt und die destruktiven Auswirkungen bestimmter Formen des industriellen und technischen Fortschritts. Auch wenn wir hier auf diese Fragen nicht im Detail eingehen können, bilden sie für uns einen notwendigen Hintergrund für unsere Überlegungen und für politisches Handeln auch im Rahmen des KSZE-Prozesses.

16 Europäisches Netzwerk für den Ost-West-Dialog (Hg.), Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen. Ein Memorandum, gemeinsam erarbeitet von unabhängigen Gruppen und Personen in Ost- und Westeuropa, Berlin 1987.Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Die während der letzten Jahre intensivierten Kontakte zwischen unabhängigen Gruppen und Personen in Ost und West sowie unsere gemeinsamen Erfahrungen bei der Entwicklung eines Dialoges von unten haben uns in der Überzeugung bestärkt, daß mehr Initiativen, Vorschläge und Druck von seiten der Bürgerinnen und Bürger und von nicht-staatlichen Organisationen erforderlich sind, um den KSZE-Prozeß mit neuem Leben zu erfüllen. […] Entspannung von unten Gegenseitiges Vertrauen ist durch politisches Handeln von Regierungen allein nicht herzustellen. Es muß auch und gerade zwischen den Bürgerinnen und Bürgern in beiden Teilen Europas aufgebaut werden. Deshalb sollten alle, die die Verwirklichung der in Helsinki verkündeten Prinzipien anstreben, nicht nur versuchen, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, um Druck auf die Regierungen auszuüben; sie sollten vor allem überlegen, was sie selbst tun können, um die Entspannung von unten weiterzuentwickeln und Brücken über die Kluft zu bauen, die unseren Kontinent teilt. Vierzig Jahre Trennung und das Leben in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten haben zu einer gegenseitigen Entfremdung zwischen den Europäern auf beiden Seiten dieser Kluft geführt. Sogar geographische Begriffe scheinen ihre Bedeutung verändert zu haben. Im Westen sprechen Menschen häufig von „Europa“, wenn sie in Wahrheit lediglich die Mitgliedsstaaten der EG meinen. Zum anderen werden Begriffe wie „Ost“ und „West“ oft leichthin und in einem rein politisch-ideologischen Sinne benutzt. Länder, die aufgrund ihrer geographischen Lage ebenso wie aufgrund ihrer sozio-kulturellen Traditionen zu Mittelund nicht zu Osteuropa gehören, finden sich demgemäß als Teil des „Ostens“ eingeordnet. Um wieder zusammenzufinden und um einen gesamteuropäischen Horizont von Erfahrungen und Perspektiven zurückzugewinnen, sollten Menschen aller Teile dieses Kontinents, wo immer möglich, die direkte Begegnung und das Gespräch suchen. […] Europäische Sicherheit Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ein dauerhafter Frieden kann nur erreicht werden durch die Überwindung der verschiedenen politischen, ökonomischen und sozialen Ursachen von Aggression und Gewalt sowohl in den internationalen Beziehungen wie auch im Inneren der Staaten. Eine umfassende Demokratisierung von Staaten und Gesellschaften würde Bedingungen schaffen, die diesem Ziel förderlich sind. Dazu gehört die Existenz einer kritischen Öffentlichkeit, die imstande ist, eine wirksame Kontrolle über alle Bereiche der Militär- und Sicherheitspolitik auszuüben. […] Menschenrechte Bürgerliche Freiheiten und politische Grundrechte wie Gedanken- und Gewissensfreiheit, Versammlungs-, Organisations- und Informationsfreiheit sind in den Verfassungen aller KSZE-Staaten garantiert und wurden durch das Abkommen von Helsinki bestätigt. Was ihre Verwirklichung in der Praxis angeht, sind diese Rechte jedoch in vielen KSZE-Staaten stark eingeschränkt oder nicht existent. […] Aus unserer Sicht ist das Eintreten für bürgerliche Freiheiten wie auch für soziale Rechte nicht nur eine moralische Verpflichtung im Sinne der Menschenwürde und demokratischer

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Ideale, sondern zugleich eine politische Notwendigkeit, wenn wir die Voraussetzungen für einen stabilen, dauerhaften und demokratischen Frieden schaffen wollen. Wir weisen alle Tendenzen zurück, im Hinblick auf die Geltung der Grundrechte zweierlei Maß für Ost und West anzuwenden. Und wir fordern, daß der gesamte Katalog der Menschenrechte, wie sie in der Schlußakte von Helsinki und in den „Internationalen Konventionen über politische und Bürgerrechte sowie über kulturelle; wirtschaftliche und soziale Rechte“ aufgelistet sind, in allen KSZE-Staaten voll verwirklicht wird. […] Das Europa, das wir anstreben Obwohl oft als Bestätigung des Status quo in Europa dargestellt, ist das Abkommen von Helsinki weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach eine Festschreibung des bipolaren Modells oder der Struktur von Machtblöcken. Dieses Abkommen bestätigt den territorialen Status quo auf diesem Kontinent und verwirft die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Es läßt jedoch die Tür offen für einen friedlichen und schrittweisen Veränderungsprozeß hin zu einem pluralistischen Europa und zu einer Überwindung der Blockstrukturen. Auf dem Wege heraus aus den Beschränkungen der Bipolarität können die neutralen und blockfreien Länder Europas, deren Vorschläge und Initiativen den bisherigen KSZE-Prozeß wesentlich befördert haben, auch weiterhin eine wichtige positive Rolle spielen. Ob Europa auch in Zukunft eingeschnürt bleibt in die bipolare Zwangsjacke oder ob dieser Kontinent imstande sein wird, sich aus dieser Zwangslage zu befreien, hängt in hohem Maße vom Willen und der Fähigkeit der Europäer ab, ihre eigenen Interessen gegenüber den Supermächten klar zum Ausdruck zu bringen. Zugleich hängt es aber auch ab von politischen und sozialen Veränderungen bei den Supermächten selbst. Wir sind uns bewußt, daß das Europa, das wir anstreben, weder in Konfrontation mit den Supermächten, noch unter Ausschluß der USA oder der Sowjetunion verwirklicht werden kann, sondern nur in einer gemeinsamen Anstrengung aller KSZE-Staaten. Die Völker und Regierungen dieses Kontinents müssen deshalb nach tragfähigen Kompromissen mit beiden Führungsmächten suchen. Wenn ein solches langfristiges Projekt zu einer realistischen Alternative zum Status quo werden soll, das heißt, wenn wir den Helsinki-Prozeß radikalisieren und zum Bestandteil eines umfassenden demokratischen Programms machen wollen, sind wir verpflichtet, uns insbesondere all jenen Elementen in der Politik der Supermächte zu widersetzen, die dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung zuwiderlaufen. Alle demokratischen Organisationen, unabhängigen Bewegungen, Bürgerinitiativen und Gruppen in Ost und West sollten gemeinsam Druck auf die Supermächte ausüben, damit diese ihr hegemonistisches Verhalten aufgeben und als demokratische Partner zu handeln beginnen. Das Europa, das wir uns vorstellen, würde aus Völkern und Nationen bestehen, die bereit sind, als gute Nachbarn zusammenzuleben. Ein Europa, in dem alle Völker die Möglichkeit haben, ihre gegenseitigen Beziehungen ebenso wie ihre inneren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Angelegenheiten demokratisch und selbstbestimmt zu regeln. Im Rahmen einer solchen Perspektive sollten die beiden deutschen Staaten Initiativen entwickeln, die sowohl dem allgemeinen Entspannungsprozeß als auch einer Verbesserung ihrer gegenseitigen Beziehungen förderlich sind. Es sollte klar sein, daß die deutsche Frage

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eine europäische Frage ist, und daß demgemäß alle Bemühungen um ihre Lösung Teil eines demokratischen Programms zur Überwindung der Blockstrukturen in Europa sein müssen. Das Europa, das wir anstreben, würde Kraft und Gewicht aus seiner inneren demokratischen Verfaßtheit gewinnen. Es sollte imstande sein, eine wichtige Rolle in der internationalen Politik zu spielen. Insbesondere müßte dieses Europa neue Wege gehen, um zu einer Transformation der Nord-Süd-Beziehungen beizutragen und zu einem Schrittmacher für politische Gleichberechtigung und wirtschaftliche Gerechtigkeit im Verhältnis zur Dritten Welt zu werden. Ein solches Europa würde allen Formen von militärischer Interventionspolitik wie den Aktionen der USA in Mittelamerika oder der sowjetischen Invasion in Afghanistan entschieden entgegentreten. Wir appellieren an die Öffentlichkeit wie auch an die Politiker aller KSZE-Länder, über Möglichkeiten und Wege nachzudenken, die hinführen zu dem Ziel einer pluralistischen, demokratischen und friedlichen Gemeinschaft, in der alle Völker Europas als gleichberechtigte Partner agieren. Dabei sollten die folgenden Schritte und Ideen in Betracht gezogen werden: – Erleichterung und Förderung eines kontinuierlichen und umfassenden Dialoges zwischen Ost und West auf allen Ebenen. Eines der vorrangigen Ziele dieses Dialoges müßte es sein, die Krise im KSZE-Prozeß zu überwinden und ihn mit neuem Leben erfüllen. – Volle Unterstützung für alle Initiativen und Maßnahmen, die darauf abzielen, die Konfrontation zwischen den Supermächten abzubauen sowie Entspannung und gegenseitiges Vertrauen zwischen ihnen zu fördern. Darüberhinaus sollte alles getan werden, um die Supermächte zu einer Demokratisierung ihrer Politik – wo immer sie erforderlich ist – zu ermutigen. – Schaffung eines Systems politischer, wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit zwischen allen KSZE-Staaten, das entschieden hinausreicht über die gegenwärtigen ökonomisch-politischen Gemeinschaften in Ost und West. – Eine wesentliche Verminderung und schließlich ein völliger Abzug aller fremden Waffen und Truppen aus allen europäischen Ländern, einschließlich der Auflösung aller ausländischen Militärbasen und sonstigen militärischen Einrichtungen. – Die Auflösung der NATO und des Warschauer Paktes sowie aller anderen bilateralen und multilateralen Militärverträge zwischen KSZE-Staaten. Dies könnte ein wichtiger Schritt in Richtung auf ein gemeinsames Sicherheitssystem sein und würde zugleich zur Überwindung der Teilung Europas beitragen. – Eine Friedensverfassung für Europa, die auf der vollen Respektierung des Selbstbestimmungsrechts für alle Völker beruht und die die zehn in Helsinki verkündeten Grundprinzipien in politische Realität verwandeln würde, abgesichert durch einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.

DIE ENTWICKLUNG DES EUROPÄISCHEN BINNENMARKTES UND DIE EINHEITLICHE EUROPÄISCHE AKTE VON 1986 1 Christopher Kopper Während der Vertrag von Maastricht und die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung umfassende Aufmerksamkeit in der historischen Forschung erfahren haben, wurden die dafür notwendigen institutionelle Voraussetzungen in Gestalt des europäischen Binnenmarktes für Waren und Dienstleistungen bislang nur wenig beachtet. In den Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Europäischen Union werden der politischen Grundlagenentscheidung, der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 2, und der Implementierung des Binnenmarktes nur einige Seiten gewidmet. 3 Die relative Vernachlässigung der Einheitlichen Europäischen Akte steht in einem Missverhältnis zu ihren weitreichenden Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik und auf die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedsstaaten. Die Einheitliche Europäische Akte stand am Anfang eines wirtschaftlichen Liberalisierungs- und Deregulierungsprozesses, der einer ökonomischen Epochenwende gleichzusetzen ist. 4 In den Römischen Verträgen von 1957 setzten sich die sechs Gründungsnationen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) das Ziel, innerhalb von 12 Jahren einen offenen europäischen Binnenmarkt für den zollfreien Handel mit Waren aller Art zu schaffen. Das Ziel eines zollfreien Wirtschaftsraums mit einheitlichen Außenzöllen und ohne quantitative Importkontingente wurde bereits zum 1. Juli 1968 und damit ein Jahr vor dem gesetzten Zeitziel erreicht. Während die Zollbarrieren schneller als geplant fielen, war der Gemeinsame Markt für öffentliche und private Dienstleistungen in den 1970er-Jahren noch unvollendet. Fast alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) schützten die Lieferanten der öffentlichen Körperschaften mitsamt der Bahn- und Postverwaltungen durch formelle und informelle Schranken vor der Konkurrenz aus1 2

3 4

Essay zur Quelle: Auszüge aus der Einheitlichen Europäischen Akte (1987). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Einheitliche Europäische Akte, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 169, 29. Juni 1987, in: Eur-Lex, URL: (16.11.2015). Die folgenden Quellenzitate stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus den hier mit abgedruckten Quellenausschnitten. Clemens, Gabriele, Geschichte der Europäischen Integration. Ein Lehrbuch, Paderborn 2008; Mittag, Jürgen, Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008; Thiemeyer, Guido, Europäische Integration, Köln 2010. Gillingham, John, European Integration 1950–2003. Superstate or New Market Economy?, Cambridge 2003, S. 165.

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ländischer Anbieter. Bauleistungen für öffentliche Großbauten mussten ebenso wenig international ausgeschrieben werden wie die Beschaffung von Investitionsgütern für die öffentliche Hand. Trotz der Zoll- und Kontingentfreiheit für innereuropäische Warenlieferungen war der freie Handel mit Agrarprodukten, Lebensmitteln und Industriegütern durch nationale Qualitätsnormen mit teils absichtlichen, teils unintendierten Diskriminierungen für ausländische Produkte noch immer partiell eingeschränkt. Die Bundesrepublik Deutschland, deren Wirtschaft vom zollfreien Warenhandel wegen ihrer hohen Exportquote und ihres hohen Handelsüberschusses mehr als die anderen großen Nationen profitierte, nahm bei der Verwirklichung eines diskriminierungsfreien Gemeinsamen Marktes keineswegs eine Vorreiterrolle ein. Ein scheinbar nebensächlicher, ja kurioser Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg zwang die Organe der EG zum Handeln. 1979 klagte die deutsche REWE-Einzelhandelsgruppe gegen die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, welche die Einfuhr des französischen Likörs Cassis de Dijon auf der Grundlage eines nationalen Gesetzes untersagt hatte: Nach dem deutschen Branntweingesetz mussten auch Liköre einen Alkoholgehalt von mindestens 25 Prozent besitzen, den der Cassis de Dijon unterschritt. 5 Der Cassis de Dijon war nicht das einzige europäische Lebensmittel, bei dem die Traditionen eigensinniger nationaler Regulierungen und kulturell vermittelter Geschmackskonventionen mit dem Grundsatz des freien Handels kollidierten. Das deutsche Reinheitsgebot für Bier, der Stolz deutscher Bierbrauer und Biertrinker, behinderte die Freiheit des Handels für ausländische Biere, die mit Maismalz oder Gerstenmalz gebraut wurden. Umgekehrt litten italienische Teigwarenhersteller unter den lockeren deutschen Normen für Teigwaren mit italienischen Gattungsbezeichnungen, die mit Weichweizen statt mit Hartweizen hergestellt waren. Das Urteil in der Sache Cassis de Dijon zugunsten des Klägers und gegen die Bundesmonopolverwaltung besaß eine Präzedenzfunktion für die Aufhebung nationaler Hemmnisse im freien Warenverkehr. Die europäische Judikative zwang die nationalen Regierungen zur Rechtsanpassung. Eine vollständige Harmonisierung des nationalen Rechts per EG-Verordnungen hätte die Kapazität der europäischen Exekutive – des EG-Rats und der Kommission – jedoch überfordert. Daher stimmten die Organe der EG dem Grundsatz zu, die Rechtsnormen der anderen Mitgliedsstaaten künftig anzuerkennen, sofern keine europäischen Normen existierten. Der Verkehrssektor, der den grenzüberschreitenden Transport materieller Güter bewältigte, war bei der Verwirklichung eines offenen Binnenmarktes weit hinter dem produzierenden Sektor zurückgeblieben. Der Wettbewerb im LKWVerkehr, der seit den 1960er-Jahren die Mehrzahl der internationalen Transporte bewältigte, war durch bilaterale Kontingente für Transportkonzessionen signifikant eingeschränkt. Die nationalen Märkte für Straßen- und Schienentransporte waren vor ausländischen Konkurrenten abgeschottet. Während sich der Bau 5

Siehe das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, in: Eur-Lex, URL: (16.11.2015).

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grenzüberschreitender Verkehrswege zunehmend ausweitete, scheiterte die Öffnung der nationalen Verkehrsmärkte an nationalen Differenzen über die Wettbewerbsregulierung. Länder mit einer international orientierten Straßenverkehrswirtschaft wie die Niederlande hatten seit den frühen 1960er-Jahren für weitreichende Deregulierungen des Wettbewerbs plädiert und den LKW-Verkehr steuerlich entlastet. Staaten mit großen Staatsbahnbetrieben wie die Bundesrepublik und Frankreich besteuerten ihre LKW-Spediteure höher und lehnten mit Rücksicht auf ihre Eisenbahnverwaltungen und ihre LKW-Transporteure einen intensiveren Wettbewerb ab. Der Konflikt zwischen den Wettbewerbsliberalisierern, die eine Wettbewerbsöffnung forderten, und den Wettbewerbsharmonisierern, die als Vorbedingung auf eine Harmonisierung von Steuern und Abgaben drängten, war bis in die 1980er-Jahre auf europäischer Ebene nicht lösbar. 6 Ähnliche Hindernisse im internationalen Wettbewerb bestanden auch im Bankenwesen und in der Versicherungswirtschaft. In EG-Ländern wie Italien, Spanien, Frankreich und Großbritannien beschränkten die nationalen Aufsichtsbehörden die Anteile, die ausländische Banken an einheimischen Kreditinstituten erwerben konnten. Die Gründung von Bankenfilialen war ausländischen Banken zwar in der Regel möglich, doch blieben deren Geschäfte vielfach auf den Wertpapierhandel beschränkt. Eine Kreditvergabe an inländische Kunden und das Geschäft mit Girokonten und Sparkonten war ihnen teilweise aus protektionistischen Gründen, teilweise wegen des geringen Vertrauens in die Wirksamkeit der Bankenaufsicht in ihren Heimatländern untersagt. Zum Schutz ihrer nationalen Geldsysteme vor Kapitalabzügen hielten die neuen südeuropäischen EG-Mitglieder Spanien, Portugal und Griechenland an Beschränkungen des Geld- und Kapitaltransfers fest, die eine vollständige Öffnung des Geld- und Kreditwesens blockierten. Im Inlandsgeschäft der Banken war die Konkurrenz ausländischer Kreditinstitute nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Nicht die europäische Exekutive (die Kommission und der Rat der EG), sondern das Europaparlament entwickelte sich in der Stagnationsphase der europäischen Integration zu Beginn der 1980er-Jahre zur treibenden Kraft des Binnenmarktes. Die fehlenden Fortschritte in der Öffnung der Verkehrsmärkte und die hinhaltende Position des EG-Rats gegenüber den Reforminitiativen der Kommission veranlassten das Europaparlament, den Rat der EG am 22. Januar 1983 vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Untätigkeit bei der Wettbewerbsliberalisierung zu verklagen. 7 Die EG-Kommission schloss sich aus Verärgerung über die fehlenden Fortschritte des Rats bei der Verwirklichung des Binnenmarktes der Klage als Nebenklägerin an. 8 Es läge nahe, die fraktionsübergreifende Klage des Europaparlaments als einen Durchbruch neoliberaler Marktkonzepte zu sehen. 6 7 8

Frerich, Johannes; Müller, Gernot, Europäische Verkehrspolitik. Von den Anfängen bis zur Osterweiterung der EU, 2 Bde., München 2004. Ebert, Volker; Harter, Philipp-Alexander, Europa ohne Fahrplan? Anfänge und Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957–1985), Stuttgart 2010, S. 234ff. Ebd., S. 241.

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Tatsächlich betrachteten auch die sozialistische Fraktion und der spätere sozialistische EU-Kommissionspräsident Jacques Delors die Vollendung des Binnenmarktes als eine konsequente Vollendung der wirtschaftlichen Integration, deren Nutzen für Konsumenten und Produzenten die Nachteile erheblich überstieg. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs war für das Europaparlament und die Kommission zunächst eine Enttäuschung. Die Entscheidung vom 22. Mai 1985 stellte die Versäumnisse des Rats bei der Herstellung der Dienstleistungsfreiheit explizit fest, aber wies die Klage des Parlaments ab, die Vorschläge der Kommission für die Liberalisierung des Verkehrsmarktes unmittelbar umzusetzen. 9 Dieser Teilerfolg des Europaparlaments und andere erfolgreiche Klagen gegen die Behinderung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs ermutigten die Befürworter einer Liberalisierungspolitik. Die Initiative zur Verwirklichung des Binnenmarktes ging primär von der neuen EG-Kommission unter dem Vorsitz des französischen Sozialisten Jacques Delors aus, die mit der Konzipierung eines Weißbuchs über den Binnenmarkt bereits weit fortgeschritten war. Delors konnte dabei auf Vorarbeiten des früheren EG-Industriekommissars Karl-Heinz Narjes (CDU) aufbauen, der bis 1982 einen Zeitplan für die Deregulierung des Dienstleistungssektors und des Verkehrswesens erarbeitet hatte. 10 Im Weißbuch formulierte die Kommission unter der Federführung des neuen EG-Binnenmarktkommissars Sir Arthur Cockfield das Ziel, bis 1992 den europäischen Binnenmarkt zu vollenden. 11 Die Komplexität dieses politischen Projekts wird an der Tatsache deutlich, dass die Kommission im Weißbuch insgesamt 282 Vorschläge für europäische Harmonisierungsakte vorlegte, die für die Implementierung des Binnenmarktes erforderlich waren. 12 Die Delors-Initiative profitierte von den Bemühungen der französischen Regierung, die sich während Frankreichs Ratspräsidentschaft 1984 erfolgreich für eine Wiederbelebung des europäischen Integrationsprozesses eingesetzt hatte. Auf der Ratssitzung im französischen Fontainebleau im Juni 1984 beauftragte der Rat eine Kommission unter dem irischen Senator James Dooge, Vorschläge für eine institutionelle Reform der EG zu erarbeiten. 13 Dank dieser Gleichzeitigkeit wurde das Binnenmarkt-Weißbuch der Kommission zu einem Element der politischen Integration Europas aufgewertet. Für die Durchsetzung seiner Inhalte war es durchaus hilfreich, dass der konservative Binnenmarktkommissar Sir Arthur Cockfield von 1982 bis 1984 der Regierung Thatcher angehört hatte und zu den engsten wirtschaftspolitischen Beratern der Premierministerin gezählt wurde. 14 Da die Inhalte und Ziele des Binnenmarkt-Weißbuchs ganz mit den marktliberalen 9 Ebd., S. 252. 10 Gillingham, European Integration, S. 232. 11 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat (Mailand, 28./29. Juni 1985), KOM(85) 310, Brüssel, 14. Juni 1985, in: Europa.eu, URL: (16.11.2015). 12 Mittag, Kleine Geschichte, S. 197. 13 Ebd., S. 200. 14 Gillingham, European Integration, S. 165.

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Paradigmen der konservativen britischen Regierung Thatcher übereinstimmten, erwies sich das Weißbuch als nützlich, um britische Bedenken gegen eine Vertiefung der politischen Integration zu überwinden. Großbritannien stellte seine Bedenken gegen die Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung wegen seines besonderen Interesses an der Vollendung des freien Binnenmarkts zurück. Es spricht viel für John Gillinghams Hypothese, dass die marktliberale Binnenmarkt-Agenda Margaret Thatcher für die wenig geliebte Stärkung der Kommission und des Europaparlaments entschädigte, zumal sie Delors Konzept eines europäischen Neokorporatismus nach französischem und deutschem Vorbild unterminierte. 15 Margaret Thatchers Behauptung, Großbritannien sei „the originator of and the driving force behind the Single European Act“ gewesen 16, fordert jedoch die Kritik des Historikers heraus. Cockfield konnte bei seinem Amtsantritt am 14. Januar 1985 auf fortgeschrittene Vorarbeiten der Kommission aufbauen, da die Erstellung des Weißbuchs innerhalb von nur fünf Monaten gar nicht möglich gewesen wäre. 17 Auf der Luxemburger Ratssitzung am 2. und 3. Dezember 1985 verständigten sich die Regierungschefs und Präsidenten der Mitgliedsstaaten auf ein Reformpaket, das sowohl die politische Reform der EG als auch die Vollendung des Binnenmarktes bis Ende 1992 umfasste. Bereits am 17. und am 28. Februar 1986 konnte die Einheitliche Europäische Akte paraphiert werden. Diese Einheitliche Europäische Akte bedeutete die umfassendste Weiterentwicklung der Römischen Verträge seit 1957. Der weitreichendste Reformschritt auf der politischen Ebene war zweifellos die Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat. Entsprechend den Vorschlägen der Kommission sollten qualifizierte Mehrheitsentscheidungen für die Annahme der Kommissionsvorschläge über die Verwirklichung des Binnenmarktes genügen (Unterabschnitt I, Art. 14 der EEA). Eine Verzögerung des Binnenmarktes durch Vetos einzelner Ratsmitglieder, die in der Vergangenheit den Fortschritt der wirtschaftlichen Integration behindert hatten, wurde auf diesem Weg verhindert. Bei der Einführung des qualitativen Mehrheitsprinzips in der Wirtschafts- und Marktordnungspolitik gab es dennoch Einschränkungen von teilweise erheblicher Tragweite. Der Fortbestand des Einstimmigkeitsprinzips bei Berufs- und Ausbildungsordnungen trug den historisch gewachsenen nationalen Unterschieden bei betrieblichen und schulischen Ausbildungen Rechnung, die sich nicht vereinheitlichen ließen. Da die berufliche Freizügigkeit und der diskriminierungsfreie Zugang zum Arbeitsmarkt anderer Staaten zu den Grundprinzipien der neuen Binnenmarktordnung gehörten, standen jedoch nationale Besonderheiten wie die verpflichtende Meisterprüfung für die Führung von Handwerksbetrieben zur Disposition. Eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über Umsatzsteuern und andere indirekte Steuern wie die Mineralölsteuer unterlag auch weiterhin dem 15 Ebd., S. 230. 16 Thatcher, Margaret, Statecraft. Strategies for a Changing World, London 2002, S. 372f., zit. nach Gillingham, European Integration, S. 233. 17 Die EG-Kommission legte das Weißbuch am 14. Juni 1985 vor.

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Einstimmigkeitsprinzip. Eine europäische Fiskalunion mit einer auch nur teilweisen Aufhebung der nationalen Steuerhoheit lag außerhalb des politisch Möglichen – und wurde von den Mitgliedsstaaten auch nicht angestrebt. Der Artikel 18 der Einheitlichen Europäischen Akte schloss durch das Einstimmigkeitsprinzip eine Steuerharmonisierung gegen den Willen auch nur eines Mitgliedsstaates kategorisch aus. Diese Einschränkung galt in noch stärkerem Maß für europäische Verordnungen über die Höhe der direkten Steuern. Die Einführung einer europäischen Fiskalpolitik mit Mehrheitsentscheidungen hätte nicht nur das Budgetrecht der nationalen Parlamente eingeschränkt und damit gegen die nationalen Verfassungen verstoßen. Staaten mit sehr niedrigen Körperschaftssteuersätzen (wie Irland) und Steueroasen ohne Zinsbesteuerung (wie Luxemburg) hätten ihre Angebotsvorteile bei der Anwerbung von ausländischen Direktinvestitionen (in Irland) und von ausländischen Geldanlegern (in Luxemburg) niemals freiwillig aufgegeben. Die Wettbewerbsliberalisierer hatten sich gegenüber den Wettbewerbsharmonisierern vollständig durchgesetzt. Der Verzicht auf eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen schlug sich auch in den sozialpolitischen Passagen der EEA nieder. So unterlagen europäische Verordnungen über die Rechte der Arbeitnehmer wegen der unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Nationalstaaten auch künftig dem Einstimmigkeitsprinzip und waren damit de facto einer Harmonisierung entzogen (Unterabschnitt I, Art. 18 der EEA). Während die deutsche Bundesregierung eine Einschränkung der betrieblichen Mitbestimmung bei Großunternehmen niemals zur Disposition stellen konnte, lehnte die marktliberale britische Regierung Beschränkungen der unternehmerischen Freiheiten durch erweiterte Arbeitnehmerrechte grundsätzlich ab. Die EEA beschränkte sich nicht auf das Ziel eines offenen Binnenmarkts. Die Kommission beanspruchte für die europäischen Institutionen neue Handlungsfelder, die den politischen Herausforderungen der Gegenwart Rechnung trugen. Der EWG-Vertrag von 1957 wurde im Unterabschnitt VI der EEA um das Ziel einer gemeinsamen europäischen Umweltpolitik ergänzt. Die Kommission erhielt damit ein neues Handlungsfeld, zu denen beispielsweise die Erarbeitung von Emissionsgrenzen für Kraftfahrzeuge und (Groß)feuerungsanlagen gehörte. Diese Entscheidung basierte auf genuin umweltpolitischen Interessen, diente aber auch dem Ziel, die Wettbewerbsbedingungen der Industrie einander anzugleichen. Zu den neuen Handlungsfeldern der EG gehörte auch die Forschungspolitik, die durch Forschungsförderung die „wissenschaftlich-technischen Grundlagen der europäischen Industrie“ stärken sollte. Der Rat der EG trug mit dem Unterabschnittt V der EEA der Tatsache Rechnung, dass die EG kurz zuvor die Forschungsförderung als Handlungsfeld entwickelt hatte. Die Kommission der EG hatte im Juli 1985 auf französische Initiative mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten die supranationale Organisation EUREKA gegründet, um die internationale Kooperation in der anwendungsorientierten Industrieforschung zu fördern. Die Kommission und die europäischen Regierungen wollten damit der erfolgreichen For-

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schungsförderung durch das japanische Wirtschafts- und Technologieministerium MITI ein europäisches Pendant entgegensetzen. 18 Ein neuer Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (Unterabschnitt IV der EEA) sollte die Instrumente der EG bei der „Verringerung des wirtschaftlichen Abstands zwischen den Regionen“ erweitern. Die Erweiterung des regionalpolitischen Instrumentariums trug der Tatsache Rechnung, dass 1983 mit Griechenland und 1986 mit Portugal und Spanien drei neue Länder in die EG aufgenommen wurden, in denen nach den regionalwirtschaftlichen Kriterien der EG größere Teile oder sogar das ganze Territorium als wirtschaftlich unterentwickelt eingestuft wurden. Die Einrichtung des Fonds für regionale Entwicklung diente auch dem politischen Ziel, die erwarteten Bedenken der drei ärmsten EG-Länder gegen den europäischen Binnenmarkt zu entkräften. Spanien und Portugal hatten aufgrund ihres noch nicht überwundenen protektionistischen Erbes und der geringeren Wettbewerbsfähigkeit einzelner Wirtschaftssektoren erhebliche Bedenken gegen eine vollständige Freiheit des Kapitalverkehrs. Der Europäische Binnenmarkt begann als ein Projekt der politischen und administrativen Elite in der Europäischen Gemeinschaft, dessen erwartete Folgen in der breiteren Öffentlichkeit zunächst kaum Aufmerksamkeit fanden. Die EGKommission gab zur Legitimierung der weitreichenden Eingriffe in die wirtschaftspolitische Souveränität der Mitgliedsstaaten einen wissenschaftlichen Bericht in Auftrag, der nach dem Vorsitzenden der Wissenschaftlerkommission Paolo Cecchini als Cecchini-Bericht bekannt und durch Berichte in europäischen Printmedien einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt wurde. 19 Die europapolitischen Akteure teilten die optimistische Prognose des Cecchini-Berichts, dass sich das Wirtschaftswachstum der EG-Staaten infolge der Binnenmarktöffnung signifikant um 4,3 bis 6,4 Prozent erhöhen werde. Die positiven wirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte des Binnenmarktes ließen sich plausibel mit dem intensivierten Wettbewerb begründen, der die Leistungsanbieter zum Vorteil ihrer Kunden zu größeren Leistungen anspornen würde. Der europäische Markt für materielle Güter sollte vor allem von niedrigeren Transaktionskosten durch kürzere Grenzübergangszeiten, vereinfachte Umsatzsteuerverfahren, niedrigere Transportkosten und geringeren Produktionskosten dank europa-einheitlicher oder gegenseitig anerkannter technischer Normen profitieren. Der Cecchini-Bericht suggerierte eine exakte Prognostizierbarkeit der wirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte, die sich in der Retrospektive als unangemessen erwies. Ökonomen kamen in empirischen ex-post-Untersuchungen in einer kurzfristigen Betrachtung zu erheblich niedrigeren Wachstumsraten von 0,5 bis 1,5 Prozent, die durch den Binnenmarkt induziert wurden. 20 So ging der Cecchini18 Gillingham, European Integration, S. 242f. 19 Emerson, Michael et al., The Economics of 1992. The E.C. Commission’s Assessment of the Economic Effects of Completing the Internal Market, Oxford 1988. Der Bericht wurde in Deutsch unter folgendem Titel veröffentlicht: Cecchini, Paolo, Europa ‘92. Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden 1988. 20 Gillingham, European Integration, S. 256.

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Bericht von einer vollständigen Preisanpassung der nationalen Dienstleistungsmärkte mit einem hohen Preisniveau an das niedrigere Niveau der anderen Staaten an. Der Bericht berücksichtigte dabei nicht, dass höhere Preisniveaus einzelner Staaten nicht allein durch eine niedrige Wettbewerbsintensität, sondern auch durch höhere Produktionskosten infolge eines höheren Lohnniveaus bedingt waren. Während die wirtschaftlichen Wachstumseffekte des Binnenmarkts nur in ihrer Höhe, aber nicht im Grundsatz umstritten sind, wurden mögliche negative sozioökonomische Wohlfahrtseffekte in den Elitediskursen der Europapolitiker und der Wirtschaftswissenschaft ausgeblendet oder ex ante ausgeschlossen. Die Steigerung des Wirtschaftswachstums durch intensivere Marktintegration erbrachte nach Untersuchungen im Auftrag der EG-Kommission in der Summe einen positiven Effekt für das europäische Beschäftigungsniveau, auch wenn sich negative Effekte für einzelne Staaten oder Regionen nicht ausschließen ließen. Das Eliteprojekt des europäischen Binnenmarktes gewann eine erhebliche Bedeutung für die Lebenswirklichkeit der Europäer, die sich erst nach der Umsetzung des Binnenmarktes manifestierte. So implizierte die vollständige Öffnung der nationalen Märkte für ausländische Konkurrenten auch das Ende monopolistischer Marktstrukturen und damit eine ungewohnte Vielfalt von Anbietern und Angebotsoptionen. Hiervon waren vor allem der Telekommunikations- und Postsektor sowie die Stromversorgung betroffen, die mit Ausnahme des Liberalisierungsvorreiters Großbritannien am Ende der 1980er-Jahre noch von Staatsmonopolen oder privatwirtschaftlichen Gebietsmonopolen dominiert wurden. Der Verlust der Monopolstellung für öffentliche Versorgungsdienste implizierte und beschleunigte in Staaten mit einer zunächst privatisierungsskeptischen politischen Elite die Entscheidung, Staatsbetriebe in wettbewerbsorientierte Aktiengesellschaften umzuwandeln und ihr Kapital teilweise oder vollständig zu privatisieren. Auch in Wirtschaftssektoren mit überwiegend privaten Unternehmen hatte die europaweite Niederlassungs- und Angebotsfreiheit weitreichende Folgen. Während die Liberalisierung des größten europäischen Finanzplatzes London und der Ausbau Luxemburgs zum steuerbegünstigten offshore-Finanzmarkt eine teilweise Verlagerung von Bankgeschäften auf internationale Märkte förderte und unabhängig von der Einheitlichen Europäischen Akte geschah, sollte sich die europaweite Niederlassungsfreiheit für Banken und andere Finanzdienstleister zum Motor eines europaweit verflochtenen Bankwesens entwickeln. Der Wegfall von Niederlassungs- und Tätigkeitsbeschränkungen und die Öffnung der nationalen Kapitalmärkte für ausländische Banken führten dazu, dass sich die Handlungsfelder großer europäischer Banken auf ganz Europa ausdehnten. Die vollständige Freiheit des Kapitalverkehrs stimulierte das Wachstum von Banken („Investment Banks“), die sich auf den gewinnträchtigen Handel mit Kapitalbeteiligungen („mergers and acquisitions“) konzentrierten. Die stark erweiterten Tätigkeitsfelder und Gewinnchancen auf ausländischen Märkten führten in den kontinentaleuropäischen Ländern zu einer schrittweisen Kapitalentflechtung zwischen Banken und Industrieunternehmen. Das Modell der „Deutschland AG“ mit engen und langfristig stabilen Kapitalverflechtungen zwischen den Großbanken und der Industrie lockerte sich durch den Verkauf von größeren Bankbeteiligungen an In-

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dustrieunternehmen in den 1990er-Jahren. Investitionen in ausländische Banken erwiesen sich als renditeträchtiger. Die Öffnung der Kapitalmärkte stimulierte eine Reorientierung unternehmerischer Strategien hin zum „shareholder Value“ mit einer Maximierung der Kapitalrendite. Bis 1985 scheiterte die Liberalisierung des EG-Binnenmarktes für Dienstleistungen an den erheblichen nationalen Unterschieden bei gesetzlichen Normen und Marktordnungen. Der jahrzehntelange Konflikt zwischen den wettbewerbsoptimistischen Anhängern einer Liberalisierung ohne Vorbedingungen und den wettbewerbsskeptischen Anhängern einer Marktöffnung nach einer Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen war zugunsten der Wettbewerbsoptimisten entschieden. So verzichtete die Kommission beispielsweise darauf, die unterschiedlichen steuerlichen Wettbewerbsbedingungen (wie die Höhe der Mineralölsteuer und der KfZ-Steuer) und technischen Normen für den LKW-Fernverkehr vor der Liberalisierung des europäischen Verkehrsmarktes anzugleichen. Die rechtlichen Normen des Bank- und Kreditwesens in den europäischen Staaten unterschieden sich wegen der erheblichen strukturellen Unterschiede der Banken und des Bankgeschäfts erheblich. Während es in Großbritannien nur eine informelle Bankenaufsicht durch die Bank of England gab, besaß Deutschland eine staatliche Bankenaufsichtsbehörde mit umfassenden Regulierungs- und Eingriffskompetenzen in allen Feldern des inländischen Bankgeschäfts. 21 Die Kommission und der Rat der EG verständigten sich wegen der Unmöglichkeit einer materiellen Angleichung auf die gegenseitige Anerkennung des nationalen Bankenrechts. Banken, die in einem Mitgliedsland eine Geschäftszulassung erhalten hatten, konnten nunmehr in allen EG-Ländern tätig sein. Auf der europäischen Ebene wurden lediglich die grundlegenden Rahmenbedingungen wie die Höhe des Eigenkapitals, die Definition des Eigenkapitalbegriffs und die Rechtsgrundlagen für Unternehmensbilanzen normiert. Im europäischen Bankwesen wurde das Regulierungsgefälle zwischen Staaten mit enger (Deutschland) und lockerer Regulierung (Großbritannien, Irland, Luxemburg) nicht signifikant verringert. Während Banken in Deutschland weiterhin unverzinsliche Mindestreserven bei der Bundesbank unterhalten mussten, blieben ihre Konkurrenten in London von diesen renditesenkenden Pflichten befreit. Auf Drängen der britischen Regierung genossen die Londoner Investmentbanken weiterhin das Privileg, als reine Wertpapier-Handelsbanken keinen kostspieligen Regulierungsauflagen zu unterliegen. Die Entstehung des europäischen Binnenmarkts erhöhte in den späten 1980er-Jahren den Druck auf Staaten mit strengeren Regulierungsstandards. So mussten die Frankfurter Börse, die Bundesregierung und der Bundestag der europäischen Standortkonkurrenz Tribut zollen. Sie hatten keine Alternative, als der Liberalisierung von Termingeschäften und der Aufhebung der Börsen-Transaktionssteuer in London zu folgen. Die Aufhebung der Transaktionssteuern für Kapitalmarktgeschäfte förderte das starke Wachstum des Handels mit verbrieften Krediten, Kreditversicherungen und Finanzderivaten, das 21 Busch, Andreas, Staat und Globalisierung. Das Politikfeld Bankenregulierung im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2003.

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2008 zu einer schweren Finanzkrise führen sollte. Dennoch wäre es eine unzulässige Verkürzung, die Finanzblase des nächsten Jahrtausends als eine zwangsläufige Folge dieser Politik zu sehen. Der Aufbau eines europäischen Binnenmarktes von 1986 bis 1992 erwies sich als entscheidender politischer Motor der Wettbewerbsliberalisierung, die in den 1990er-Jahren ihren europaweiten Durchbruch erzielte. Bei der Durchsetzung einer liberalen gesamteuropäischen Wettbewerbsordnung übernahmen die Organe der EG und vor allem die EG-Kommission eine Führungsrolle, während die Regierungen und Parlamente der Nationalstaaten vielfach in die Position der Liberalisierungsvollstrecker gedrängt wurden. Das Projekt der Währungsunion, das 1988 in der Kommission konzipiert wurde, setzte den Aufbau eines europäischen Binnenmarkts mit offenen Märkten, Investitionsfreiheit und freiem Kapitalverkehr zwingend voraus. Die Folgen waren daher ambivalent. Literaturhinweise Gillingham, John, European Integration 1950–2003, Cambridge 2003. Knipping, Franz; Schönwald, Matthias (Hgg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969–1984, Trier 2004. Loth, Wilfried (Hg.), Experiencing Europe. 50 years of European Construction 1957–2007, Baden-Baden 2010. Mittag, Jürgen, Kleine Geschichte der Europäischen Union, Münster 2008. Thiemeyer, Guido, Europäische Integration, Köln 2010.

Quelle Auszüge aus der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) 22 BGBl. 1986, II, S. 1104 TITEL I Gemeinsame Bestimmungen Artikel 1 Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Politische Zusammenarbeit verfolgen das Ziel, gemeinsam zu konkreten Fortschritten auf dem Wege zur Europäischen Union beizutragen. Die Europäischen Gemeinschaften beruhen auf den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft sowie auf den nachfolgenden Verträgen und Akten zur Änderung oder Ergänzung dieser Verträge. […] 22 Einheitliche Europäische Akte, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, L 169, 29. Juni 1987, in: Eur-Lex, URL: (16.11.2015). Ein längerer Quellenauszug ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Abschnitt II Bestimmungen über die Grundlagen und die Politik der Gemeinschaft Unterabschnitt 1 Binnenmarkt Artikel 13 Der EWG-Vertrag wird durch folgende Bestimmung ergänzt: ,,Artikel 8 a Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen. Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist.“ Artikel 14 Der EWG-Vertrag wird durch folgende Bestimmung ergänzt: „Artikel 8 b Die Kommission berichtet dem Rat vor dem 31. Dezember 1988 und vor dem 31 Dezember 1990 über den Stand der Arbeiten im Hinblick auf die Verwirklichung des Binnenmarktes innerhalb der in Artikel 8 a gesetzten Frist. Der Rat legt mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission die Leitlinien und Bedingungen fest, die erforderlich sind, um in allen betroffenen Sektoren einen ausgewogenen Fortschritt zu gewährleisten.“ Artikel 18 Der EWG-Vertrag wird durch folgende Bestimmungen ergänzt: „Artikel 100 a (1) Soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt ist, gilt in Abweichung von Artikel 100 für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 8 a die nachstehende Regelung. Der Rat erläßt auf Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses mit qualifizierter Mehrheit die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. (2) Absatz 1 gilt nicht für die Bestimmungen über die Steuern, die Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Bestimmungen über die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer. (3) Die Kommission geht in ihren Vorschlägen nach Absatz 1 in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau aus. (4) Hält es ein Mitgliedstaat wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat, für erforderlich, einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt sind, so teilt er diese Bestimmungen der Kommission mit. Die Kommission bestätigt die betreffenden Bestimmungen, nachdem sie sich vergewissert hat, daß sie kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und keine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.“ […] Unterabschnitt II Währungspolitische Befugnisse Artikel 20

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1. Im Dritten Teil Titel II des EWG-Vertrages wird das folgende neue Kapitel 1 eingefügt: „Kapitel 1 Die Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik (Wirtschafts- und Währungsunion) Artikel 102 a (1) Um die für die Weiterentwicklung der Gemeinschaft erforderliche Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitiken zu sichern, arbeiten die Mitgliedstaaten gemäß den Zielen des Artikels 104 zusammen. Sie berücksichtigen dabei die Erfahrungen, die bei der Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) und bei der Entwicklung der ECU gesammelt worden sind und respektieren die bestehenden Zuständigkeiten.“ […] Unterabschnitt IV Wirtschaftlicher und Sozialer Zusammenarbeit Artikel 23 Dem Dritten Teil des EWG-Vertrages wird folgender Titel V hinzugefügt: „Titel V Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt Artikel 130 a Die Gemeinschaft entwickelt und verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes zu fördern. Die Gemeinschaft setzt sich insbesondere zum Ziel, den Abstand zwischen den verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern. Artikel 130 b Die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, daß auch die in Artikel 130 a genannten Ziele erreicht werden. Die Durchführung der gemeinsamen Politiken und die Errichtung des Binnenmarktes berücksichtigen die Ziele der Artikel 130 a und 130 c und tragen zu deren Verwirklichung bei. Die Gemeinschaft unterstützt diese Bemühungen durch die Politik, welche sie mit Hilfe der Strukturfonds (Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft - Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente führt. Artikel 130 c Aufgabe des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung ist es, durch Beteiligung an der Entwicklung und an der strukturellen Anpassung der rückständigen Gebiete und an der Umstellung der Industriegebiete mit rückläufiger Entwicklung zum Ausgleich der wichtigsten regionalen Ungleichgewichte in der Gemeinschaft beizutragen.“ […] Unterabschnitt V Forschung und technologische Entwicklung Artikel 24 Dem Dritten Teil des EWG-Vertrages wird folgender Titel VI hinzugefügt: „Titel VI Forschung und technologische Entwicklung Artikel 130 f

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(1) Die Gemeinschaft setzt sich zum Ziel, die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der europäischen Industrie zu stärken und die Entwicklung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. (2) In diesem Sinne unterstützt sie die Unternehmen - einschließlich der Klein- und Mittelbetriebe -, die Forschungszentren und die Hochschulen bei ihren Bemühungen auf dem Gebiet der Forschung und der technologischen Entwicklung; sie fördert ihre Zusammenarbeitsbestrebungen, damit die Unternehmen vor allem die Möglichkeiten des Binnenmarktes der Gemeinschaft voll nutzen können, und zwar insbesondere durch die Öffnung der einzelstaatlichen öffentlichen Beschaffungsmärkte, die Festlegung gemeinsamer Normen und die Beseitigung der dieser Zusammenarbeit entgegenstehenden rechtlichen und steuerlichen Hindernisse. (3) Bei der Verwirklichung dieser Ziele wird dem Verhältnis zwischen der gemeinsamen Anstrengung auf dem Gebiet von Forschung und technologischer Entwicklung, der Errichtung des Binnenmarktes und der Durchführung gemeinsamer Politiken, insbesondere im Bereich von Wettbewerb und Handelsverkehr, besonders Rechnung getragen.“ […] Unterabschnitt VI Umwelt Artikel 25 Dem Dritten Teil des EWG-Vertrages wird folgender Titel VII hinzugefügt: „Titel VII Umwelt Artikel 130 r (1) Die Umweltpolitik der Gemeinschaft hat zum Ziel, - die Umwelt zu erhalten, zu schützen und ihre Qualität zu verbessern, - zum Schutz der menschlichen Gesundheit beizutragen, - eine umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten. (2) Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Umwelt unterliegt dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen vorzubeugen und sie nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie dem Verursacherprinzip. Die Erfordernisse des Umweltschutzes sind Bestandteile der anderen Politiken der Gemeinschaft. (3) Bei der Erarbeitung ihrer Maßnahmen im Bereich der Umwelt berücksichtigt die Gemeinschaft - die verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Daten, - die Umweltbedingungen in den einzelnen Regionen der Gemeinschaft, - die Vorteile und die Belastung aufgrund der Maßnahmen bzw. ihrer Unterlassung, - die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gemeinschaft insgesamt sowie die ausgewogene Entwicklung ihrer Regionen. (4) Die Gemeinschaft wird im Bereich der Umwelt insoweit tätig, als die in Absatz 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten. Unbeschadet einiger Maßnahmen gemeinschaftlicher Art tragen die Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der anderen Maßnahmen Sorge.“ [….]

VOM WECHSELKURSVERBUND ZUR GEMEINSAMEN WÄHRUNG. STUFEN UND PROBLEME DER EUROPÄISCHEN WÄHRUNGSINTEGRATION SEIT DEM ZERFALL DES BRETTON WOODS-SYSTEMS FESTER WECHSELKURSE ANFANG DER 1970ER-JAHRE 1 Dieter Lindenlaub Am 1. Januar 1999 startete – in Verfolg des am 7. Februar in Maastricht vom EURat unterzeichneten Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 2 – die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (im Folgenden: EWU = Europäische Währungsunion). 3 Elf Mitgliedsstaaten der Europäischen Union führten – zunächst nur als Buchgeld, am 1. Januar 2002 auch als Bargeld – den Euro als gemeinsame Währung ein, ohne gleichzeitig andere Politikbereiche, wie z.B. die Finanz- und Wirtschaftspolitik, zu vergemeinschaften; bis 2013 folgten sechs weitere Länder. Die nationalen Zentralbanken dieser Länder und die Europäische Zentralbank (EZB) bilden das Eurosystem, das für eine einheitliche Geldpolitik im Euroraum zu sorgen hat. Die Einführung einer gemeinsamen Währung war das herausragende europäische Integrationsereignis nach den Römischen Verträgen von 1957. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt nach dem Start indessen macht die Gefahr Schlagzeilen, dass das Eurosystem wieder auseinanderbricht. Die Staatsschulden- und Wirtschaftskrise seit 2009 hat Misstrauen in die Leistungsfähigkeit des Eurosystems zur Krisenbewältigung erzeugt. In den Jahren 2011 und 2012 löste in acht der 17 1

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Essay zur Quelle: Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Der Essay wurde bereits im Sommer 2013 fertiggestellt. Darstellung und Urteilsbildung schließen daher jüngere Entwicklungen nicht mehr ein. Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992), in: Khan, Daniel – Erasmus (Hg), Vertrag über die Europäische Union mit sämtlichen Protokollen und Erklärungen. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) in den Fassungen von Maastricht und Amsterdam. Textausgabe. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stand: Januar 1998, München 1998, S. 68–70, 106– 110, 112, 114, 117–120. Die folgenden Quellenzitate stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. In der ersten Stufe (1. Juli 1990) war der Kapitalverkehr in der EG vollständig liberalisiert worden, in der am 1. Januar 1994 beginnenden zweiten Stufe hatte ein Europäisches Währungsinstitut technisch-organisatorische Vorbereitungen für die Endstufe getroffen.

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Euroländer Uneinigkeit über zweckdienliche Reform- und Sparmaßnahmen vorgezogene Regierungswechsel aus; 4 in Deutschland wurde eine Partei (Alternative für Deutschland) pro Auflösung der Eurozone gegründet. Wie konnte es zu dem nahen Beieinander von Start und Überlebensdiskussion kommen? Der Schlüssel zur Erklärung liegt in der Unvollkommenheit der institutionellen Ausgestaltung der EWU. Sie ist ein Kompromiss unterschiedlicher Zielvorstellungen, Lagebeurteilungen und Einflussmöglichkeiten, welche die Geschichte der europäischen Währungsintegration von den frühen Währungsunionsplänen in den 1960er-Jahren über zwei Jahrzehnte Festkursvereinbarungen bis zur Errichtung der EWU durchziehen. Diese Geschichte erhellt daher auch die gegenwärtige Krisendiskussion. Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftspolitik und Politikwissenschaft verwenden zur Erklärung von Problemen und Entwicklung der europäischen Währungsintegration unterschiedliche theoretische Konzepte, die (zumindest implizit) auch der Tagesdiskussion unterlegt sind. Ich möchte sie kurz vorstellen, weil sie notwendige Ordnungsgesichtspunkte für die nachfolgende Darstellung liefern, und um (am Ende) ein Urteil über ihre gegenseitige Abgrenzung und ihre Erklärungskraft zu ermöglichen. Die Wirtschaftswissenschaft stellt Nutzen und Kosten einer Währungsunion (und fester Wechselkurse zwischen verschiedenen Währungen) gegenüber. Der wohlfahrtssteigernde Nutzen liegt darin, dass im zwischenstaatlichen Güter- und Kapitalverkehr Verlustrisiken aus Wechselkursschwankungen verschwinden und (bei gemeinsamer Währung) Umtauschkosten entfallen und – wettbewerbsfördernd – Kosten und Preise transparent werden. Die Kosten liegen darin, dass ein Land z.B. einem „asymmetrischen“ Wirtschaftseinbruch nicht mehr mit expansiver Geldpolitik und Abwertung der eigenen Währung begegnen kann. Diese „Schwäche“ kann nur, sollen Arbeitslosigkeit und soziale Probleme vermieden werden, durch andere Anpassungsinstrumente (einzeln oder in Kombination) wettgemacht werden, vor allem: hohe Mobilität der Arbeitskräfte, flexible Löhne und Preise und finanzielle Hilfen von außen. Fehlen sie, ist die Produktionsstruktur der Länder wenig diversifiziert und fehlen generell gemeinsame geld-, wirtschafts- und sozialpolitische Leitvorstellungen, sind feste Wechselkurse bzw. Währungsunionen in ihrem Bestand gefährdet. Das sagt die seit Anfang der 1960er-Jahre entwickelte Theorie des optimalen Währungsraums (OWR). 5 Parallel zur OWR-Theorie entstand eine wirtschaftspolitische Debatte über den zweckmäßigen Weg der Währungsintegration. Hier stehen sich Monetarismus (Vehikeltheorie) und Ökonomismus (Krönungstheorie) gegenüber. Die Monetaristen treten dafür ein, mit währungspolitischen Festlegungen (feste Wechselkurse bzw. gemeinsamem Geld) zu beginnen und die Vereinheitlichung der Geldpolitik bzw. der wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingen der weiteren Ent4 5

Vgl. Staatsschuldenkrise im Euroraum, in: Wikipedia, URL: , S.13f. (16.11.2015). Ein jüngerer Überblick über die Theorie des optimalen Währungsraums ist: Mongelli, Francesco Paolo, European Economic and Monetary Integration, and the Optimum Currency Area Theory (European Economy, Economic Papers 302), Brüssel 2008.

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wicklung zu überlassen. Die Ökonomisten denken von der „Finalität“ der Integration her und wollen vor währungspolitischen Festlegungen deren Funktionsbedingungen sicherstellen. Der Monetarismus wurde bis zum Start der EWU z.B. von Frankreich, der Ökonomismus vor allem von Deutschland (und dort von der Geldund Finanz-, weniger von der Außenpolitik) vertreten. Der deutschen Seite kam es darauf an, die Bedingungen, unter denen Festkurssysteme bzw. Währungsunion arbeiteten, von vornherein auf das – von der Deutschen Bundesbank traditionell verfolgte – Ziel stabiler Preise auszurichten; vom monetaristischen Vorgehen befürchtete man dagegen eine Entwicklung hin zu höheren, den Durchschnitt der Teilnehmerländer spiegelnden Inflationsraten. Während Wirtschaftswissenschaft und -politik Leitvorstellungen über die zweckmäßige Währungsintegration entwarfen, entwickelte die Politikwissenschaft – vor allem zwei – Konzepte zur Erklärung der tatsächlichen europäischen (Währungs-)Integrationsvorgänge: Der Neofunktionalismus sagt, dass Sachzwänge einen integrierten Handel quasi automatisch in immer höhere, mit nationalem Souveränitätsverzicht verbundene Integrationsstufen (Systeme fester Wechselkurse/Währungsunion, dann Fiskal-, Wirtschafts- und politische Union) treiben; er erklärt – ähnlich wie der oben beschriebene Monetarismus, dem er verwandt ist – indessen nicht die stabilitätspoltische Ausgestaltung dieser Integrationsstufen. Als Mitte der 1960er-Jahre der europäische Integrationsprozess stockte, trat dem Neofunktionalismus der Intergouvernementalismus entgegen. Er erklärte die Integrationsvorgänge aus der Auseinandersetzung nationalstaatlicher Interessen; anders als eine spätere Ausformung des Neofunktionalismus misst er der Einflussnahme supranationaler Organisationen (z.B. der EU-Kommission) auf die Integration kaum Bedeutung bei. In seiner „liberalen“ Variante führt er die nationalen Interessen auf die Präferenzen der Wirtschaftsakteure zurück; (nur) in seiner „realistischen“ Variante räumt er auch politischen Faktoren (z.B. dem Widerstand einiger Länder gegen die deutsche Währungsdominanz) Bedeutung ein. 6 Verfolgen wir die europäische Währungsintegration seit den 1960er-Jahren im Lichte der genannten Konzepte. Sie vollzog sich in drei Etappen: Auf das Scheitern eines frühen Währungsunionsplans und die Errichtung des Europäischen Wechselkursverbundes (EWV) Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre folgte 1978 das Europäische Währungssystem (EWS), auf dieses 1992/99 die Wirtschafts- und Währungsunion. Schon in der ersten Etappe wird das Grundmuster auch der kommenden Integrationsvorgänge deutlich: die Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Integrationsmotiven; die unterschiedlichen Integrationspositionen Deutschlands und Frankreichs, in denen die größere Wirt6

Eine Einführung in die politikwissenschaftlichen Integrationstheorien geben z.B.: Bieling, Hans-Jürgen; Lerch, Marika (Hgg.), Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 32012 (dort vor allem die Beiträge über Neo-Funktionalismus, Supranationalismus und Liberalen Intergouvernementalismus); Rittberger, Berthold; Schimmelfing, Frank, Integrationstheorien. Entstehung und Entwicklung der EU, in: Holzinger, Katharina et al. (Hgg), Die Europäische Union. Theorien und Analysekonzepte, Paderborn 2005, S. 19–80; Polster, Werner, Europäische Währungsintegration. Von der Zahlungsunion zur Währungsunion, Marburg 2002, vor allem S. 444–464.

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schaftskraft Deutschlands zum Ausdruck kam; die Bedeutung der internationalen Währungsentwicklung als Integrationsmotiv (jeder Dollarpreisverfall trieb das Anlage suchende Kapital in die starke D-Mark und schwächte damit den Kurs der anderen europäischen Währungen); Deutschland (meist z.B. mit den Niederlanden als Partner) und Frankreich (mit den romanischen Ländern im Gefolge) als Hauptakteure der Integrationsdiplomatie; als Ergebnis ein währungspolitischer Kompromiss, dessen Erfolgsbedingungen nur unzureichend erfüllt waren. Das wirtschaftliche Motiv in der ersten Integrationsetappe lieferte der zum 1. Januar 1958 errichtete Gemeinsame Markt – aber nicht „zwangsläufig“. Ein Ausbau der multilateralen Kredite und Ausgleichzahlungen, mit denen das große währungspolitische Kooperationsunterfangen der 1950er-Jahre, die Europäische Zahlungsunion, zum 1. Januar 1959 die kommerzielle Konvertibilität ihrer Mitgliedswährungen hergestellt hatte, schien nicht notwendig. 7 Währungspolitische Kooperation wurde vor allem erst dann dringlich, nachdem 1962 die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Kraft getreten war. Sie gewährte den Landwirten – marktwidrig – einheitliche, in Dollar festgelegte Mindestpreise, die dann in die nationalen Währungen umgerechnet wurden. Schwankten die europäischen Wechselkurse zum Dollar uneinheitlich, so erlitten die Landwirte der Aufwertungsländer Einkommenseinbußen; in den Abwertungsländern stiegen die Lebenshaltungskosten. Die Gemeinsame Agrarpolitik war daher (bis 1973, als zur Kompensation dieser Schwankungen Grenzausgleichsabgaben eingeführt wurden) an festen Wechselkursen interessiert. Und für feste Wechselkurse suchte man eine innereuropäische Lösung, als das weltweite Bretton Woods-System fester Wechselkurse gegen Ende der 1960er-Jahre zu zerbröckeln begann. Die nationalen Inflationsraten liefen auseinander, Deutschland löste sich vom internationalen Inflationsgeleitzug; im August 1969 wertete der französische Franc ab, im Oktober die D-Mark auf. Zu den wirtschaftlichen traten politische Integrationsmotive: Frankreich wollte der Dominanz des Dollars (z.B. als Reservewährung) in der Welt, der D-Mark in Europa begegnen; Deutschland wollte sich in Europa einbinden, um Zustimmung zu seiner Ostpolitik zu gewinnen. Am 1./2. Dezember 1969 setzten die Staats- und Regierungschefs der EWGStaaten auf ihrer Gipfelkonferenz in Den Haag eine Kommission unter dem luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner ein, welche die stufenweise Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion prüfen sollte. In der WernerKommission prallten indessen die unterschiedlichen Grundpositionen aufeinander: Frankreich war vor allem an der raschen Festigung der Wechselkurse und der Bereitstellung von Finanzhilfen für Interventionen gelegen; Deutschland wollte währungspolitische Bindungen erst nach Harmonisierung der Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken (letztlich im Rahmen einer politischen Union) eingehen. Der Werner-Bericht (8. Oktober 1970) schlug als Kompromiss eine in drei Stufen zu verfolgende „effektive Parallelität“ von monetären, wirtschaftlichen und politischen Integrationsfortschritten vor. Der Ministerrat legte sich (am 22. März 1971) 7

Vgl. dazu: ebd., S. 95–132.

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jedoch nur – ganz „monetaristisch“ – auf die erste Stufe fest, die Verringerung der zulässigen Wechselkursschwankungen; auf mehr Souveränitätsverzicht wollte sich vor allem Frankreich nicht einlassen. 8 Am 24. April 1972 trat der Europäische Wechselkursverbund (EWV), zunächst mit sechs Mitgliedern, in Kraft. In ihm sollten die (anpassungsfähigen) Wechselkurse nach Möglichkeit nur um ±2,25 Prozent schwanken, bis zum endgültigen Zerfall des Bretton Woods-Systems innerhalb eines etwas breiteren Bandbreitentunnels („Schlange im Tunnel“). Die geldpolitische Disziplinierungswirkung der Wechselkursbindung erwies sich jedoch als zu schwach, die Inflationsraten gingen zu sehr auseinander und Währungsreserven und Finanzierungshilfen für Deviseninterventionen waren zu gering, als dass laufende Auf- und Abwertungen und Austritte vermieden worden wären. Ab März 1976 war auch Frankreich nicht mehr dabei; der EWV schrumpfte zu einer D-Mark-Zone. 9 Auch das EWS, die zweite Etappe der Währungsintegration, scheiterte an der Unvollkommenheit seiner Voraussetzungen; aber dieses Scheitern gab die Anstöße zur späteren Währungsunion. Wie schon 1969 (Pompidou/Brandt) ging auch die zweite Integrationsinitiative von den französischen und deutschen Staatsspitzen aus: Staatspräsident Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Schmidt (dem vorrangig an einer Einbindung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft gelegen war 10) verabredeten zunächst im Frühjahr 1978 ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse, das – anders als der EWV – den schwächeren Währungen, also auch dem französischen Franc, feste Wechselkurse auch ohne die Preisdisziplin der währungsstärkeren Länder ermöglichte. Zu diesem Zweck sollten die Währungsreserven umgehend vergemeinschaftet werden. Die Wechselkurse sollten stabilisiert werden, indem diejenige Währung intervenierte, die sich über die zugelassene Bandbreite hinaus vom Durchschnitt der Marktbewertungen aller Teilnehmerwährungen (der Korbwährung ECU) entfernte. Das EWS, wie es am 13. März 1979 in Kraft trat, war jedoch – auf Grund der massiven Einwände der Deutschen Bundesbank, denen sich Schmidt schließlich 8

Zu Motiven, Beratungen und Folgen des Werner-Plans vgl. Hoffmeyer, Erik, Decisionmaking for Economic and Monetary Union (Occasional Papers/Group of Thirty, 62), Washington 2000, S. 8–27; Polster, Währungsintegration, S. 296–313, 327–334, 401–409; Tietmeyer, Hans, Herausforderung Euro: Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München 2005, Kapitel 4 und 5; Marsh, David, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009, S. 82–-85, 105–107; James, Harold, Making the European Monetary Union. The Role of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank, Cambridge. 2012, S. 63–96. 9 Zur Schlange vgl. etwa Bernholz, Peter, Die Bundesbank und die Währungsintegration in Europa, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 773–833, hier S. 793–797; Marsh, Euro, S. 125–129; James, Making, S. 143–145. 10 Für Schmidt war diese Einbindung ein unerlässlicher Pfeiler der deutschen Außenpolitik: als Rückendeckung für die Ost- und Berlinpolitik, und um die Erinnerung an Auschwitz in den Hintergrund treten zu lassen. Vgl. die Ausführungen Schmidts im Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank am 30. November 1978, Historisches Archiv der Deutschen Bundesbank N2/269; auch im Auszug abgedruckt in: Marsh, Euro, S.68f.

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anschloss – ganz anders, nämlich stabilitätsorientierter, ausgestaltet: Wie im EWV wurden die zulässigen Bandbreiten zwischen den einzelnen Mitgliedswährungen festgelegt („bilaterales Paritätengitter“). Erreichte eine Währung gegenüber einer anderen die Bandbreitengrenze (wie bisher ± 2,25 Prozent), hatten beide Seiten, die Stark- und die Schwachwährungszentralbank, zu intervenieren. Die stärkste Währung, nicht eine Durchschnittswährung, blieb der Bezugspunkt für Interventionen. Ein gemeinsamer Europäischer Reservefonds wurde zurückgestellt, die Verpflichtung zu Währungsbeistandskrediten blieb begrenzt. Und die Bundesbank erhielt die mündliche Zusage des Bundeskanzlers, bei Gefährdung der Preisstabilität den (die Geldmenge erhöhenden) Ankauf anderer Währungen aussetzen zu können. Das so konstruierte EWS hat im Zusammenspiel mit der fortgesetzten Stabilitätspolitik der Bundesbank den Schritt in die dritte Etappe der Währungsintegration, die Entstehung der EWU, in doppelter Weise beeinflusst: Es hat einerseits – anders als sein Vorgänger, der EWV – in Europa eine allgemeine Stabilitätsorientierung der Wirtschafts- und Währungspolitik befördert. Und es hat andererseits bei den Schwachwährungsländern das dringende Verlangen entstehen lassen, durch Errichtung eines Gemeinschaftsorgans dem Diktat der Geldpolitik der Bundesbank zu entkommen. Wie das? In den ersten Jahren des EWS (sie fielen in die zweite Hälfte der sogenannten Großen Inflation in Europa und der Welt) taten sich im EWS deutliche Inflationsunterschiede auf. So stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 1979–1982 um 5,3 Prozent, in Frankreich z.B. aber um 12,4 Prozent. Die Inflationsunterschiede schlugen sich in mehrfachen Neufestsetzungen der Wechselkurse nieder. Der französische Franc z.B. verlor 1979–1983 gegenüber der D-Mark ein Viertel seines Wertes. Wollten die währungsschwachen Länder nicht ihre Währungsreserven verlieren oder prestigemindernd ihre Währung abwerten, so mussten sie ihre Inflationsraten in die Nähe der deutschen hinunterbringen. Den dazu notwendigen (wenn auch nicht hinreichend nachhaltigen) Wechsel von einer expansiven zu einer restriktiven Haushalts- und Geldpolitik (einer Politik des „Franc fort“) vollzog Frankreich ab 1982; der politische Rang Frankreichs sollte durch wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gestützt werden. Andere Länder taten ein Gleiches. Und tatsächlich gingen die Inflationsunterschiede zurück, die zwischen Deutschland und Frankreich 1983–1988 von 6,2 Prozent auf 1,6 Prozent. Die Neufestsetzungen der Wechselkurse innerhalb des EWS wurden dementsprechend seltener; 1988–1991 gab es gar keine mehr. Die D-Mark war im EWS ungeplant zu einer „Ankerwährung“ geworden, deren Stabilitätswirkungen die Konstruktion der EWU erheblich erleichtern sollten. Die Disinflation musste allerdings mit hohen Zinssätzen bezahlt werden, die im Falle Frankreichs z.B. immer deutlich über den deutschen lagen; nur so war der Wechselkurs zur D-Mark zu halten. Politikwechsel, wie der 1982/83 vollzogene, benötigen offenbar lange Zeit, bis sie die Finanzmärkte von ihrer Nachhaltigkeit überzeugen. Die hohen Zinsen belasteten aber Wachstum, Konjunktur und Beschäftigung. Die Wechselkursstabilisierung war daher eine schwer erträgliche Bürde für die Schwachwährungsländer – sofern nicht die Starkwährungsländer

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durch ausgedehnte Währungsbeistandskredite und Niedrigzinspolitik zu ihr beitrugen; und dazu war die Bundesbank im Interesse einer preisstabilen D-Mark nicht bereit. Diese faktische „Asymmetrie“ in der Verteilung der Anpassungslasten sorgte für eine fortdauernde Labilität des Systems und Unzufriedenheit bei den Schwachwährungsländern. Labil zeigt sich das System, als 1986 ein Dollarkursverfall zu einer rasanten Nachfrage nach D-Mark führte und der Franc von April 1986 bis Januar 1987 in zwei „Realignments“ gegen die D-Mark erneut acht Prozent an Wert verlor. Und eine schwere Währungskrise entstand, als die Bundesbank 1991/92 zur Durchbrechung des durch Wiedervereinigungsboom und expansive Haushaltspolitik entstandenen Preisauftriebs ihren Leitzins bis auf 8,75 Prozent erhöhte: Währungen, die höhere Inflationsraten aufwiesen (wie 1992 Pfund, Lira, Escudo, Peseta) oder zumindest weniger Vertrauen als die D-Mark aufwiesen (wie 1993 der französische Franc), konnten den Wechselkurs zur DMark nicht halten; im September 1992 schieden Großbritannien und Italien aus dem Wechselkursmechanismus aus, im Juli 1993 wurden die Bandbreiten, innerhalb deren die Kurse schwanken durften, auf ±15 Prozent ausgeweitet. 11 Die Wechselkursverschiebungen 1986/87 zeigten Frankreich, dass das deutsche „Währungsdiktat“ nicht zu mildern war, indem man die auf Preisstabilität bedachte Bundesbank um – hinreichende – wechselkursstützende Währungsbeistandskredite und Zinssenkungen anging. Trotz traditionell großer Vorbehalte gegen nationalen Souveränitätsverzicht gewann – langsam – die Überzeugung Oberhand, dass die deutsche Währungshegemonie nur gebrochen werden könne, wenn der Wechselkursmechanismus des EWS durch eine Währungsunion abgelöst würde, in der alle Länder an den geldpolitischen Entscheidungen beteiligt wären. 12 Zusätzlich motiviert wurde die Währungsunion dadurch, dass die Einheitliche Europäische Akte (in Kraft seit dem 1. Januar 1987) nationale geldpolitische Alleingänge im Festkurssystem unmöglich machten; Kapitalverkehrsbeschränkungen gegen Devisenabzug waren nicht mehr erlaubt. So begann – unter Rückgriff auf Überlegungen des Werner-Plans von 1969 – der Einstieg in die dritte Etappe der europäischen Währungsintegration; für Deutschland war dabei (wiederum auch) eine außenpolitische Erwägung wichtig, nämlich Europa im Verhältnis zur Sowjetunion zu stärken. Die gemeinsamen Beratungen über die stufenweise Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion begannen in einer Expertengruppe (das heißt der Zentralbankgouverneure) unter dem EG-Kommissionspräsidenten Delors, die der Europäische Rat am 27./28. Juni 1988 einsetzte und die ihren Bericht (mit einem Drei Stufen-Plan) am 17. April 1989 vorlegte; 11 Zum EWS vgl. – ausführlich (und zum Teil auf früherem Schrifttum aufbauend), aber mit Unterschieden in Schwerpunktsetzung und Beurteilung – Bernholz, Bundesbank, S.797–815; Hoffmeyer, Decisionmaking, S.43–64; Tietmeyer, Herausforderung, S.66–109, 173–196; Marsh, Euro, S.130–175, 195–241; James, Making, S. 146–210, 324–381. 12 Exemplarisch das Urteil des französischen Premierministers Beregovoy über die Zinserhöhung der Deutschen Bundesbank am 17. Juli 1992 (auf 8,75 Prozent), die zur nachfolgenden Währungskrise mit beitrug: „Gäbe es schon eine gemeinsame Zentralbank für die zwölf Länder der Gemeinschaft, wäre eine Entscheidung, wie sie die Bundesbank gerade getroffen hat, nicht möglich.“ Zitiert nach Marsh, Euro, S. 213.

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sie setzten sich fort in einer Reihe von Gipfeltreffen und zwei (im Gouverneursausschuss und im Währungsausschuss der EG vorbereiteten) Regierungskonferenzen auf Ministerebene, und sie gipfelten im Maastricht-Vertrag der Staats- und Regierungschefs am 9./10. Dezember 1991. 13 In den Beratungen trafen die – bekannten – unterschiedlichen Auffassungen vor allem Frankreichs und Deutschlands aufeinander, was die Ausgestaltung der Geldpolitik und die Harmonisierungssequenz der verschiedenen Politikbereiche anging. Der Maastricht-Kompromiss folgte im ersten Regelungsbereich deutschen, in Grundelementen des zweiten dagegen eher „monetaristischen“ Vorstellungen. Inwiefern? Der Maastricht-Vertrag lehnte die Verfassung der EZB eng an das „Modell Bundesbank“ an: Er setzte der EZB als vorrangiges Ziel die Gewährleistung der Preisstabilität, machte sie unabhängig von Weisungen politischer Stellen, strukturierte sie dezentral, verbot ihr Kredite an öffentliche Haushalte (Artikel 104, 105– 109a) und setzte ihre Deviseninterventionen lediglich „allgemeinen Orientierungen“ des Ministerrates aus, die aber die Sicherung der Preisstabilität nicht beeinträchtigen durften; die Unabhängigkeit sollte vor wahltaktisch und konjunkturpolitisch motivierter Einflussnahme der Politik auf die Zinspolitik der Zentralbank, das Verbot monetärer Staatsfinanzierung vor dem direkten, inflationswirksamen staatlichen Zugriff auf die Geldemission schützen. Später erhielt die EZB ein weiteres „deutsches“ Element, als sie die Geldmengenentwicklung zu einer der beiden Orientierungssäulen ihrer geldpolitischen Strategie machte. 14 Darüber hinaus setzte Bundeskanzler Kohl 1993 Frankfurt als Sitz der EZB durch; und 1995 beschloss der EU-Rat auf deutschen Vorschlag, der neuen Währung den Namen „Euro“ und nicht den der inflationären Korbwährung „ECU“ zu geben. Der französischen Regierung widerstrebte die Orientierung am Modell der unpolitischen Bundesbank; sie hätte sich die Kontrolle der EZB durch eine demokratisch gewählte Wirtschaftsregierung und die Ergänzung des Preisstabilitätsziels durch ein gleichgewichtiges Wachstums- und Beschäftigungsziel gewünscht. Aber Deutschland hätte ohne Übertragung des Bundesbankmodells der Währungsunion nicht zugestimmt. Überdies hatte man sich in Europa – nach der Stagflation der 1970erJahre – mit der wirtschaftspolitischen Wende ab 1982 vom Glauben an positive realwirtschaftliche Inflationswirkungen zunächst einmal gelöst; und das Bundes13 Die Beratungen im Vor- und Umfeld des Maastricht-Vertrages sind – wiederum mit Unterschieden in Gewichtung und Urteil – ausführlich dargestellt in: Köhler, Horst; Kees, Andreas, Die Verhandlungen zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Waigel, Theo, Unsere Zukunft heißt Europa. Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, Düsseldorf 1996, S. 145–174; Polster, Währungsunion, S. 334–401; Hoffmeyer, Decisionmaking, S. 65– 101; Tietmeyer, Herausforderung, S. 116–171; Marsh, Euro, S. 175–211; James, Making, S. 210–323. 14 Zu den Elementen des Bundesbankmodells vgl. zuletzt: Lindenlaub, Dieter, Die Errichtung der Bank deutscher Länder und die Währungsreform von 1948. Die Begründung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, in: ders.; Burhop, Carsten; Scholtyseck, Joachim (Hgg.), Schlüsselereignisse der deutschen Bankengeschichte, Stuttgart 2013, S. 297–319. Zur Entwicklung von Strategie und Instrumentarium der EZB-Geldpolitik vgl. Issing, Otmar, Der Euro. Geburt–Erfolg–Zukunft, München 2008.

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bankmodell hatte durch den relativen Stabilitätserfolg der Bundesbank in den Nachkriegsjahrzehnten zumindest in Zentralbankkreisen Überzeugungskraft erworben. Anders als für die institutionelle Fundierung sorgte der Maastricht-Vertrag nicht im notwendigen Ausmaß für die Rahmenbedingungen einer erfolgreichen gemeinsamen Geldpolitik. Weder etablierte er einen optimalen Währungsraum mit Arbeitsmobilität, Lohnflexibilität und zwischenstaatlichen Finanztransfers. Noch traf er Vorkehrungen für eine politische Union, die z.B. die Deutsche Bundesbank zur Sicherung von Arbeitsmarktflexibilität und Budgetdisziplin damals letztlich für notwendig hielt. Die Vorstellungen waren zu unterschiedlich und unscharf, der notwendige nationale Souveränitätsverzicht wog zu schwer. Vor allem die Schwierigkeit, unionstaugliche Rahmenbedingungen herzustellen, waren es auch, die in Deutschland, besonders in der Bundesbank, immer wieder vor einem zu raschen Start der Währungsunion warnen ließen. Die Beschleunigung des Unionsprozesses 1989/90 war ein Zugeständnis der „ökonomistischen“ deutschen an die französische Seite; sie (wenn auch nicht der – frühere – Beginn dieses Prozesses) war der Preis, den Deutschland für die Zustimmung Frankreichs zur deutschen Einheit zahlte. Und Bundeskanzler Kohl wollte in den gesamten 1990er-Jahren Verzögerungen des Unionsprojekts vermeiden, um sein vorrangiges Ziel, die Aussöhnung und Friedenssicherung in Europa, nicht zu gefährden. Der Maastricht-Vertrag beließ die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der ausdrücklichen Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten. Dabei war in den Beratungen die OWR-Debatte durchaus stets gegenwärtig. Man fand aber zwei andere Problemlösungen. Einerseits, so verbreitet auch in Deutschland, setzte man darauf, dass die Währungsunion das Verhalten der Wirtschaftsakteure ändere: Preistransparenz sorge zwischenstaatlich für Wettbewerb und Anpassung der Arbeitskosten an die Produktivität; und der Verlust der Möglichkeit nationaler Inflationserzeugung, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und der gegenseitige Haftungsausschluss (Artikel 104b) stabilisiere die Staatsfinanzen, sodass ausländische Finanzhilfen nicht benötigt würden. Andererseits erlegte der Vertrag den Staaten auf, zum (unwiderruflich auf den 1. Januar 1999 festgelegten) Eintritt in die dritte Stufe der EWU niedrige Inflationsraten, Zinsen, Wechselkursschwankungen, Haushaltsdefizite (maximal drei Prozent des BIP) und Schuldenstände (maximal 60 Prozent des BIP) nachzuweisen. Diese „Konvergenzkriterien“ (Artikel 104c, 109j) sollten das Fehlen der politischen Union ausgleichen und die Währungsunion möglichst nahe an einen optimalen Währungsraum heranbringen: die Verschuldungsgrenzen sollten den Staaten ein Motiv nehmen, die EZB zu einer inflationären Geldpolitik zu drängen, und einen zwischenstaatlichen Finanztransfer von vornherein unnötig machen; die anderen Kriterien sollten die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Staaten dokumentieren. Diese Konvergenzsicherung war jedoch lückenhaft. Die Kriterien mussten nur vor (!) Eintritt in die dritte Stufe erfüllt sein. Ihre Erfüllung, welche der EU-Rat am 2. Mai 1998 (nicht ganz konsequent) für elf EU-Staaten feststellte (außerdem für Großbritannien und Dänemark, die aber die ihnen im Vertrag eingeräumte Möglichkeit der Nichtteilnahme am Eurosystem nutzten), wurde durch besondere

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Umstände begünstigt: steigende Dollarkurse und sinkende Ölpreise, außergewöhnliche Anstrengungen (auch Einmalmaßnahmen) zur Beitrittserreichung und Vorabrückgang der Zinsen (und damit des staatlichen Schuldendienstes) in Erwartung der Währungsunion. 15 Nur für einen Bereich, den der Verschuldungsgrenzen, wurden (auf deutsches Drängen) die Konvergenzkriterien für die Zeit nach Eintritt fortgeschrieben: im 1997 (17. Juni) vom EU-Rat beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Der SWP ließ zwar den Ruf nach einer politischen Union zum guten Teil verstummen (eine wichtige offene Flanke der Währungsunion schien nun geschlossen); aber seine Sanktionsmöglichkeiten waren unzureichend (Sünder richteten über Sünder), und nach mehrjähriger Übertretung durch Deutschland und Frankreich wurde er 2005 weiter gelockert. Eine im Jahre 2000 zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer beschlossene Initiative (Lissabon-Agenda) verpuffte ohne Wirkung. Und schließlich spielte die (nicht zu den OWR-Bedingungen zählende!) Stabilität des Bankensystems, welche die Zentralbank zur Übertragung ihrer geldpolitischen Impulse benötigt, in den Maastricht-Planungen nur eine ganz untergeordnete Rolle; die Übertragung bankaufsichtlicher Aufgaben auf die EZB erschien im Vertrag nur als Möglichkeit, in Anlehnung an traditionelles Bundesbank-Denken befürchtete man davon einen Konflikt mit der Verfolgung des Preisstabilitätsziels.16 Wie hat sich die EWU bisher bewährt? Die Bilanz ist gemischt. Das Eurosystem war in mehrfacher Hinsicht erfolgreich: Das vorrangige Ziel, die Preise stabil zu halten, wurde erreicht; die Zielgröße, eine mittelfristige Inflationsrate von unter zwei Prozent (ab Mai 2003 unter, aber nahe zwei Prozent) wurde im Jahresdurchschnitt nur geringfügig verfehlt. Die Reputation des Euro zeigt sich unter anderem darin, dass 27 Prozent der Weltwährungsreserven in Euro gehalten werden; nur der Dollar hat einen (allerdings weit) größeren Anteil. Auch hat der Handel zwischen den Ländern des Euroraums nach dem Wegfall der Wechselkurse noch einmal zugelegt. Dieser handelsfördernde Einfluss des Euro wird auch nicht dadurch widerlegt, dass z.B. der Anteil des Euroraums an den deutschen Exporten 1999 bis 2011 von 46 auf knapp 40 Prozent zurück ging; der deutsche Export profitierte von der explodierenden Nachfrage der außereuropäische Wachstumsregionen, wobei ihm auch hier der Euro mit seinen moderaten Wechselkursschwankungen half. 17 Es trat jedoch ein Problem auf, das die EZB einer ernsten Belastungsprobe aussetzte und die Unvollkommenheiten der 1991/97 festgelegten Rahmenbedingungen offenlegte. Die Wirtschaftsleistung der Eurostaaten entwickelte sich in den ersten zehn Jahren entgegen den „monetaristischen“ Erwartungen eher (weiter) auseinander als dass sie „konvergierte“. Die Divergenz war das Ergebnis zweier unterschiedlicher Nutzungsvarianten des Handlungsspielraums, den die 15 Zum Konvergenzprozess vgl. etwa Issing, Euro, S. 10–17; Marsh, Euro, S. 250–262; Sinn, Hans-Werner, Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, S. 75–103. 16 Vgl. Marsh, Euro, S.18–20, 313–317, 393–396. 17 Vgl. Euro im Faktenscheck, in: Wirtschaftswoche (2012) H. 22, S. 20–27.

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Währungsunion bot. Als Exponent der einen Seite kann Deutschland gelten. Auf eine ausgesprochene Wachstums-, Investitions- und Beschäftigungsschwäche in den ersten Jahren nach der Euroeinführung reagierte Deutschland schließlich mit einer Politik der Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktflexibilisierung (Agenda 2010). Mit der – eurogetriebenen – Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit nahmen Leistungsbilanzüberschüsse, Wachstum und Beschäftigung ab 2006 wieder Fahrt auf; das war ein Anpassungsvorgang entsprechend den Spielregeln des optimalen Währungsraums. Im Gegensatz dazu wiesen Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland permanent (ab 2005 auch Frankreich) – zum Teil hohe – Leistungsbilanzdefizite auf: Diese Länder hatten mit der Euroeinführung billigen Kredit erhalten – billig, weil Wechselkurs- und Inflationsrisiko nun entfielen und der gegenseitige Haftungsausschluss offenbar nicht ernst genommen wurde. Dieser Kredit ging allerdings nicht in den Aufbau wettbewerbsfähiger Produktionsstrukturen, sondern in den privaten und staatlichen Konsum und (im Falle Spaniens und Irlands) in den Immobiliensektor; außerdem eilten die Löhne der Produktivitätsentwicklung voraus, sodass die Lohnstückkosten – anders als in Deutschland – deutlich anstiegen. Parallel zum Leistungsbilanzdefizit – und zum Teil als dessen Verursacher (im Jahre 2008 waren in einigen Ländern mehr als die Hälfte der Staatsanleihen im Auslandsbesitz) – blieb die Staatsverschuldung jenseits der vom SWP gesetzten Grenzen oder stieg über diese hinaus an. Sie hatte ihre Ursachen in staatlicher Ineffizienz und Wachstumsschwäche, in Spanien und Irland in den Aufwendungen zur Bankenrettung im Gefolge von (den USA herüberschwappender) Finanzkrise und geplatzter Immobilienblase ab 2007. Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizite erschütterten das Vertrauen der Anleger. Der Kreditstrom in die Peripherieländer versiegte. Ab 2007 wurden die Leistungsbilanzdefizite zunehmend durch die EZB (statt über den Kapitalmarkt) finanziert; daraus entstanden dort die sogenannten Target-Salden. Die Renditen auf zehnjährige Staatsanleihen stiegen ab 2008 wieder drastisch an, in Italien und Spanien 2011/12 zeitweise über sieben Prozent, in Irland, Portugal und Griechenland weit darüber. Die hohen Schuldenstände schienen bei dieser Verzinsung nicht mehr finanzierbar. Ab 2009 sprach man daher von einer Staatschuldenkrise. Gleichzeitig minderte der Wertverlust der Staatsanleihen in den Bankbilanzen die Kreditfähigkeit und die Stabilität des Finanzsystems. Leistungsbilanz-, Staatsschulden- und Finanzkrise gefährdeten den Zusammenhalt des Eurosystems. 18 Die zur Bewältigung der Krise ergriffenen Maßnahmen zeigen einmal, wie wenig die Kernfrage der 1970er- und 1980er-Jahre, wer die Anpassungslasten zu tragen habe, mit der Einführung der gemeinsamen Währung erledigt war, und zum anderen, wie löchrig die 1991/97 gelegten Fundamente der Währungsunion waren. Die Maßnahmen sind ein Kompromiss zwischen den Wünschen der Defizit- und der Überschussländer, zwischen Finanztransfers und wirtschaftspoliti18 Datenreihen zu den verschiedenen ökonomischen Größen bis zum aktuellen Rand bei Eurostat, Statistik nach Themen, URL: (16.11.2015).

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schen Reformen. Die Eurostaaten gewähr(t)en über die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF; errichtet am 7. Juni 2010) und den diese ablösenden Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM; in Kraft getreten am 27. September 2012) nachsuchenden Krisenstaaten umfangreiche Kredite und Bürgschaften; im Gegenzug müssen sich diese „Programmländer“ (bisher Griechenland, Portugal, Irland, Zypern) zu Sparmaßnahmen und Strukturreformen verpflichten. Zur Förderung der Haushaltsdisziplin wurden der SWP gestärkt und schließlich ein Fiskalpakt geschlossen (in Kraft getreten am 1. Januar 2013), der feste „Schuldenbremsen“ im jeweils nationalen Recht verankern soll, allerdings ohne Durchgriffsrechte der Staatengemeinschaft bei deren Nichtbeachtung. Die (reaktionsschnelle) EZB führte den Banken – unter Absenkung der geforderten Sicherheiten – üppig Liquidität zu und kaufte ab Mai 2010 auch Staatsanleihen einzelner Krisenstaaten an. Schließlich entsteht seit 2013 zur Stabilisierung des Finanzsystems eine Europäische Bankenunion mit einer bei der EZB angesiedelten zentralen Bankenaufsicht, einer gemeinsamen Einlagensicherung und einem Abwicklungsmechanismus für insolvente Banken, in dem die Gemeinschaft nur an letzter Stelle Haftungsanteile übernimmt. Tatsächlich hat die Mischung aus Finanzhilfen und Reformauflagen bis zur Stunde in Ansätzen in die gewünschte Richtung gewirkt. Die Renditen auf Staatsanleihen gingen im Laufe des Jahres 2012 – die Schuldenfinanzierung erleichternd – zurück. Und in den unter Auflagendruck stehenden Programmländern stieg die Wettbewerbsfähigkeit; Lohnstückkosten und Leistungsbilanzdefizite gingen wohl auch strukturell, nicht nur konjunkturell bedingt zurück. 19 Aber die Spar- und Reformmaßnahmen hatten auch – konfliktträchtig, wenn auch kurzfristig unvermeidlich – einen Rückgang des Sozialprodukts und eine (weiter) steigende Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit zur Folge. Und was das institutionelle Fundament betrifft: Die EFSF/ESM-Kredite und –Bürgschaften bedeuteten, auch wenn noch keine „Eurobonds“ (welche alle Staatsschulden auf einem durchschnittlichen Zinsniveau vergemeinschaften würden) eingeführt wurden, eine Durchbrechung des in Maastricht verabschiedeten Haftungsausschlusses; und die EZB setzte sich mit dem Ankauf von Staatsanleihen (wenn dessen bisheriges Volumen auch geldpolitisch beherrschbar war) über das Verbot monetärer Staatsfinanzierung hinweg. Inwieweit erfassen die anfangs vorgestellten theoretischen Konzepte Funktionsbedingungen und Entwicklung der europäischen Währungsintegration? Fügt man für die gegenwärtige Krise Vorkehrungen zur Stabilisierung des Finanzsystems hinzu, so lassen sich die Krisen in EWV, EWS und (ab 2009) Eurosystem gut daraus erklären, dass die von OWR-Theorie und Ökonomismus geforderten Rahmenbedingungen nicht im notwendigen Umfang vorlagen. 20 Wirtschaft und 19 Vgl. Zum Abbau der Leistungsbilanzdefizite in den Peripherieländern des Euro-Raums, in: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht November 2012, S. 22–27; Stand der Anpassungen in den Ländern des Euro-Währungsgebietes, in: EZB, Monatsbericht Mai 2013, S. 93–111. 20 Vgl. auch Eichengreen, Barry, European Monetary Integration with Benefit of Hindsight, in: Journal of Common Market Studies 50 (2012) H. S1, S. 123–136.

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Wirtschaftspolitik der Teilnehmerländer konvergierten eben nicht, wie Monetarismus und Neofunktionalismus (und eine neuere, nämlich die endogen/exogene Version der OWR-Theorie) annehmen, automatisch Sachzwängen folgend, die sich aus institutionellen Festlegungen bzw. der Handelsintegration ergaben. Und wenn sich solche Konvergenzen doch entwickel(te)n, dann bleibt offen, unter welchen Umständen und in welcher Richtung. Hier liegen die Stärken des Intergouvernementalismus, für den die nationalstaatlichen Interessen den Integrationsfortgang maßgeblich bestimmen; als supranationale Organisation spielte die EUKommission dabei eher „nur“ eine koordinierende Rolle, erst die politisch unabhängige EZB setzte auch inhaltlich eigene Vorstellungen durch. Der Intergouvernementalismus hat jedoch Erklärungskraft nur in seiner realistischen Variante, die auch den – in den anderen Theorien vernachlässigten – politischen Motiven Einfluss einräumt: Für Frankreich z.B. war die Überwindung der deutschen geldpolitischen und wirtschaftlichen Dominanz ein zentraler Gesichtspunkt bei allen Integrationsinitiativen; für die deutschen Bundeskanzler Brandt, Schmidt, Kohl und Merkel (wenn der Euro fällt, fällt Europa) war der Aufbau Europas für sich genommen verschiedentlich ein Beweggrund, ökonomische Schwachstellen des Währungsarrangements zu akzeptieren. Wie soll – nach den bisherigen Erfahrungen – die europäische Währungsintegration ausgestaltet werden und unter welchen Umständen kann sie voranschreiten? Diese Fragen werden weder durch das augenblickliche Arrangement noch durch die genannten Konzepte hinreichend beantwortet, beherrschen aber die höchst kontroverse öffentliche, politische und wissenschaftliche Debatte im Grunde seit den 1960er-Jahren. Die Ausgangsfrage in den letzten zwei Jahrzehnten lautet: Sollen die Teilnehmerländer, indem sie ihre Konsumansprüche nach ihrer Produktionsleistung (z.B. die Lohn- nach der Produktivitätsentwicklung) ausrichten, mittelfristig für stabile Beschäftigung, Leistungsbilanzen und Haushalte sorgen? Oder sollen Verletzungen dieses Prinzips permanent geduldet und durch finanzielle Transferleistungen (im EWV/EWS waren das Devisenkredite) von außen ausgeglichen werden (die OWR-Theorie lässt beide Optionen zu)? Und: Soll die EZB beim Vorrang für Preisstabilität bleiben oder amerikanischem Beispiel folgend – gegebenenfalls inflationsträchtig – auch kurzfristige Wachstums- und Beschäftigungsziele verfolgen und außerdem eventuell, dazu demokratisch nicht legitimiert, fiskalische Umverteilungsaufgaben wahrnehmen? Deutschland hat die vorrangige Betonung der jeweils ersten Position der permanente Vorwurf mangelnder europäischer Solidarität eingetragen. Diese Position beruht aber eher auf einem Grundsatz mit durchaus übernationaler Gültigkeit, nämlich dem der Solidität; es ist schwer vorstellbar, dass ein Einvernehmen auf Dauer ohne überwiegende Verfolgung des Leistungsgerechtigkeits- und Preisstabilitätsziels erreicht werden kann. Auf der anderen Seite kennt die Geschichte keine stabilen Währungsunionen (auch nicht die oft als Gegenbeispiel zitierten USA), die nicht in der einen oder anderen Form finanzielle Ausgleichsmechanismen zur Überwindung zeitweiser regionaler Schwächeperioden besessen hätten. Die gegenwärtige Krise hat die Frage wieder aktuell werden lassen, ob zur Herstellung einer solchen Ordnung eine politische Union notwendig ist; die Ge-

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schichte kennt bisher keine stabile Währungsunion ohne politische Union. In Deutschland war die politische Union als Forderung in den späteren 1990er-Jahren zurückgetreten, als man sich klar machte, dass sie nicht zwangsläufig eine Verkörperung liberaler Ordnungspolitik und solider Staatsfinanzen sein würde, sondern eine Transferunion zur ständigen Kompensation beträchtlicher Leistungsdifferenzen (und zur Kontrolle der bislang unabhängigen EZB) werden könne. Aber die Euro-Länder haben in der Eigenverantwortung, in welcher der Maastricht-Vertrag ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik beließ, die schwere Systemkrise ab 2009 nicht verhindert. So ist auch in Deutschland die politische Union wieder in den Zielekanon der Europapolitik gerückt – z.B. mit einer nun demokratisch legitimierten Vergemeinschaftung der Staatsschulden, aber mit scharfen Durchgriffsrechten in die jeweilige nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Kann das notwendige dauerhafte Einvernehmen über die Rahmenbedingungen der Währungsunion (aber auch über die Ausgestaltung der EZB-Politik), mit oder ohne politische Union, nach den bisherigen Erfahrungen zustande kommen? Für den Zusammenhalt der Währungsunion ist wichtig, dass die Teilnehmerländer Ähnlichkeit zwar nicht unbedingt in der Wirtschaftskraft, aber doch im Anspruchsverhalten der Akteure aufweisen. Viele Stimmen in Wissenschaft und Öffentlichkeit halten es für unmöglich, dass solche Ähnlichkeiten unter den augenblicklichen Euro-Ländern erzeugt werden können; die gewachsenen nationalen Lebensformen und wirtschaftlichen Präferenzen seien zu unterschiedlich. Dem steht neben allgemeinen Einsichten in die Wandelbarkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen die Beobachtung entgegen, dass sich im Laufe der europäischen Währungsintegration das wirtschaftspolitische Verhalten etwa der Defizitländer durchaus, wenn auch nur langsam und partiell, geändert hat. Dies allerdings nur, wie beschrieben, unter besonderem – meist krisenbedingtem – Druck, so 1982ff. zur Vermeidung der misslichen Abwertungen, 1995ff. zum Erreichen der Maastricht-Kriterien und 2009ff. zur Krisenbewältigung im Eurosystem; die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit mancher Defizitstaaten in den letzten Jahren ist eine Leistung der viel kritisierten „Konditionalität“, mit der die Gemeinschaft ihre Finanzhilfen versah. Die Gläubigerländer hat die Krise bewogen, gegen den Maastricht-Grundsatz des Haftungsausschlusses die Risiken aus den Finanzhilfen für ihre Steuerzahler zu akzeptieren. Wachsende Neigung zu weiterer Schuldenentlastung der Defizitländer ist zu erwarten; für Deutschland könnte dabei die Erinnerung an das Londoner Schuldenabkommen von 1952 hilfreich sein, das die deutschen Auslandschulden der Vor- und Nachkriegszeit halbierte und im Verbund unter anderem mit einer disziplinierten Haushalts- und Tarifpolitik zum wirtschaftlichen Wiederaufschwung beitrug. Der Zusammenhalt des Eurosystems gewinnt mit der mangelnden Attraktivität der Alternativen. So wäre z.B. die viel empfohlene Rückkehr zum stufenflexiblen EWS-System nur eine Rückkehr in die zur EWU führenden Konfliktlagen; und ein Ausstieg der Defizitländer unterläge unter anderem der Illusion, als ließe sich nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit ausschließlich durch kurzfristig wirksame Abwertungen, ohne harte Strukturreformen, erzielen. Der Zusammenhalt hängt aber ganz wesentlich von der Änderung der wirtschaftspolitischen Präferenzen,

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nicht nur, aber vor allem der augenblicklichen Defizitländer, ab. Die Krise bietet die außergewöhnliche Chance, hier ein festeres Fundament zu legen. Literaturhinweise Hoffmeyer, Erik, Decisionmaking for European Economic and Monetary Union (Occasional Papers/Group of Thirty, 62), Washington 2000. James, Harold, Making the European Monetary Union. The Role of the Committee of Central Bank Governors and the Origins of the European Central Bank, Cambridge 2012. Marsh, David, Der Euro. Die geheime Geschichte der neuen Weltwährung, Hamburg 2009. Sinn, Hans Werner, Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012. Tietmeyer, Hans, Herausforderung Euro: Wie es zum Euro kam und was er für Deutschlands Zukunft bedeutet, München 2005.

Quelle Die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion. Auszüge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – Maastrichter Fassung (7. Februar 1992) 21 Art. 2 [Aufgabe der Gemeinschaft]: Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3a genannten gemeinsamen Politiken oder Maßnahmen eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Art. 3a [Tätigkeit der Gemeinschaft in der Wirtschafts- und Währungsunion]: (1) Die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrages und der darin vorgesehenen Zeitfolge die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. (2) Parallel dazu umfasst diese Tätigkeit nach Maßgabe dieses Vertrages und der darin vorgesehenen Zeitfolge und Verfahren die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse im Hinblick auf die Einführung einer einheitlichen Währung, der ECU, sowie die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspo21 Khan, Daniel-Erasmus (Hg), Vertrag über die Europäische Union mit sämtlichen Protokollen und Erklärungen. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) in den Fassungen von Maastricht und Amsterdam. Textausgabe. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stand: Januar 1998, München 1998, S. 68–70, 106–110, 112, 114, 117–120. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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litik der Gemeinschaft unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen. (3) Diese Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft setzt die Einhaltung der folgenden richtungsweisenden Grundsätze voraus: stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz. Art. 4a [Europäische Zentralbank]: Nach den in diesem Vertrag vorgesehenen Verfahren werden ein Europäisches System der Zentralbanken (im folgenden als „ESZB“ bezeichnet) und eine Europäische Zentralbank (im folgenden als „EZB“ bezeichnet) geschaffen. […] Art. 104 [Verbot von Kreditfazilitäten für öffentliche Einrichtungen]: Überziehungsoder andere Kreditfazilitäten bei der EZB oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im folgenden als „nationale Zentralbanken“ bezeichnet) für Organe oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die EZB oder die nationalen Zentralbanken. Art. 104b [Haftungsausschluss für Verbindlichkeiten untergeordneter Körperschaften]: Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Art. 104c [Haushaltsdisziplin]: (1) Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite. Art. 105 [Ziele und Aufgaben des ESZB]: (1) Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne die Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft. […] (2) Die grundlegenden Aufgaben des ESZB bestehen darin, - die Geldpolitik der Gemeinschaft festzulegen und auszuführen; - Devisengeschäfte im Einklang mit Artikel 109 durchzuführen; - die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten; - das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern. (5) Das ESZB trägt zur reibungslosen Durchführung der von den zuständigen Behörden auf dem Gebiet der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems ergriffenen Maßnahmen bei. (6) Der [Europäische] Rat kann durch einstimmigen Beschluss auf Vorschlag der Kommission nach Anhörung der EZB und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments der EZB besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitut mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen übertragen. Art. 106 [Struktur der EZB und des ESZB]: (1) das ESZB besteht aus der EZB und den nationalen Zentralbanken. (3) Das ESZB wird von den Beschlussorganen der EZB, nämlich dem EZB-Rat und dem Direktorium, geleitet.

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Art. 107 [Unabhängigkeit der EZB]: Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlußorgane der EZB oder der nationalen Zentralbankenbei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen. Art. 109a [Struktur der EZB]: (1) Der EZB – Rat besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken. Art. 109e [Zweite Stufe der WWU]: (1) Die zweite Stufe für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion beginnt am 1. Januar 1994. Art. 109f. [Europäisches Währungsinstitut]: (1) Zu Beginn der zweiten Stufe wird ein Europäisches Währungsinstitut (im folgenden als „EWI“ bezeichnet) errichtet und nimmt seine Tätigkeit auf. […] Art. 109j [Konvergenzkriterien; Eintritt in die 3. Stufe]: (1) Die [Europäische] Kommission und das EWI berichten dem Rat, inwieweit die Mitgliedstaaten bei der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ihren Verpflichtungen bereits nachgekommen sind. In ihren Berichten wird auch die Frage geprüft, inwieweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten einschließlich der Satzung der jeweiligen nationalen Zentralbank mit Artikel 107 und Artikel 108 dieses Vertrags sowie der Satzung des ESZB vereinbar ist. Ferner wird darin geprüft, ob ein hoher Grad an dauerhafter Konvergenz erreicht ist. Maßstab hierfür ist, ob die einzelnen Mitgliedstaaten folgende Kriterien erfüllen; Erreichung eines hohen Grades an Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate, die der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten nahe kommt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben; eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit im Sinne des Artikels 104 c Absatz 6; Erhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems seit mindestens zwei Jahren ohne Abwertung gegenüber der Währung eines anderen Mitgliedstaats; Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedstaat erreichten Konvergenz und seiner Teilnahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems, die im Niveau der langfristigen Zinssätze zum Ausdruck kommt. […] (2) Der Rat beurteilt auf der Grundlage dieser Berichte auf Empfehlung der Kommission mit qualifizierter Mehrheit, - ob die einzelnen Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen, - ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllt, und empfiehlt seine Feststellungen dem Rat, der in der Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs tagt. Das Europäische Parlament wird angehört und leitet seine Stellungnahme dem Rat in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs zu. (3) Unter gebührender Berücksichtigung der Berichte nach Absatz 1 sowie der Stellungnahme des Europäischen Parlaments nach Absatz 2 verfährt der Rat, der in der Zusammen-

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setzung der Staats- und Regierungschefs tagt, spätestens am 31. Dezember 1996 mit qualifizierter Mehrheit wie folgt: - er entscheidet auf der Grundlage der in Absatz 2 genannten Empfehlungen des Rats, ob eine Mehrheit der Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllt; - er entscheidet, ob es für die Gemeinschaft zweckmäßig ist, in die dritte Stufe einzutreten; Sofern dies der Fall ist, - bestimmt er den Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe. (4) Ist bis Ende 1997 der Zeitpunkt für den Beginn der dritten Stufe nicht festgelegt worden, so beginnt die dritte Stufe am 1. Januar 1999. Art. 109 l [Errichtung von ESZB und EZB; Festlegung der Wechselkurse]: (2) Unmittelbar nach Errichtung der EZB [am 1. Juli 1998] übernimmt diese erforderlichenfalls die Aufgaben des EWI. Dieses wird nach Errichtung der EZB liquidiert. […] (4) Am ersten Tag der dritten Stufe nimmt der Rat aufgrund eines einstimmigen Beschlusses der Mitgliedstaaten, für die keine Ausnahmeregelung gilt, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB die Umrechnungskurse, auf die ihre Währungen unwiderruflich festgelegt werden, sowie die unwiderruflich festen Kurse, zu denen diese Währungen durch die ECU ersetzt werden, an und wird die ECU zu einer eigenständigen Währung.

AUTORINNEN UND AUTOREN Joaquín Abellán Prof. Dr., Departamento de Ciencia Política, Universidad Complutense de Madrid Gerhard Altmann Dr., im baden-württembergischen Schuldienst Volker Berghahn Seth Low Emeritus Professor of History, Columbia University, New York Christian Domnitz Dr., Deutsches Historisches Institut Warschau Christian Henrich-Franke PD Dr., Historisches Seminar, Universität Siegen Rüdiger Hohls Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Katrin Jordan M.A., Humboldt-Universität zu Berlin / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Hartmut Kaelble Prof. i.R. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Wolfram Kaiser Prof. Dr., School of Social, Historical and Literary Studies, University of Portsmouth, UK Friedrich Kießling Prof. Dr., Fakultät für Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Christopher Kopper Apl. Prof. Dr., Abteilung Geschichtswissenschaften – Wirtschaftsgeschichte, Universität Bielefeld Anne Lammers M.A., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

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Autorinnen und Autoren

Ernst Langthaler Priv.-Doz. Dr., Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten Dieter Lindenlaub Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Veronika Lipphardt Prof. Dr., University College, Universität Freiburg Wilfried Loth Prof. i.R. Dr. Dr. h.c., Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen Steffi Marung Dr., SFB 1199 "Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen", Universität Leipzig Jan-Henrik Meyer Dr., Associate Professor, Department of Historical Studies, Norwegian University of Science and Technology Manuel Müller M.A., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Kiran Klaus Patel Prof. Dr., Department of History, Maastricht University Axel Schildt Prof. Dr., Historisches Seminar, Universität Hamburg Daniel Speich Chassé Prof. Dr., Historisches Seminar, Universität Luzern Guido Thiemeyer Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Michael Wildt Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Clemens A. Wurm Prof. i.R. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die europäische Integrationsgeschichte ist vielfältiger geworden und hat ihre normative Prägung verloren. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Auswahl von Essays und Quellen für diesen Band wider, in dem klassische wie neue Themen behandelt werden. Durch die Kombination von historischer Quelle und einleitendem Essay erhalten die Leser einen Einblick in den jeweiligen historischen Kontext, die Handlungsoptionen sowie die Motive der beteiligten Akteure. Die Texte bieten zahlreiche Anregungen für Lehre und Studium.

isbn 978-3-515-11303-8

Die Gliederung folgt den Epochen der Integrationsgeschichte im 20. Jahrhundert: Auf die Anläufe der Zwischenkriegszeit bis zur Montanunion von 1951 folgt eine Konsolidierung der europäischen Integration bis zum Gipfel von Den Haag 1969. Die letzte Phase reicht von der Krise der 1970er-Jahre bis zur Rückkehr der Dynamik in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre. Den inhaltlichen Schlusspunkt dieses Bandes markiert der Fall der Berliner Mauer: Ein Ereignis, das den Integrationsprozess grundlegend veränderte.

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