Georg Büchner Jahrbuch: Band 8 1990-1994 9783110242416


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German Pages [450] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
Abkürzungen und Siglen
Aufsätze
Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese
Quellenmaterialien und »reproduktive Phantasie« Untersuchungen zur Schreibmethode Georg Büchners: Seine Verwertung von Paul Merlins Trivialisierung des Lenz-Stoffs und von anderen Vorlagen
Die »idealistische Periode« in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz
Ein antiabsolutistisches Programm in Versen Friedrich Ludwig Weidigs Lie der buch lein aller Teutschen (1815)
Debatten
Wer war »Mr. Lucius«?
Thesen und Fragen zur Konstituierung des Woyzeck -Textes
Kleinere Beiträge und Glossen
Die »Absolutesten« in der Revolution
Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck unter besonderer Berücksichtigung von H2,6
»Sa! sä!«, »Sa! ra!« und »Qaira!« oder: Warum singt Marie angesichts großherzoglicher Soldaten französische Revolutionslieder ?
»Wie ein blutig Eisen« Eine Miszelle
Büchner-Übersetzungen und -Rezeption in Ungarn
Dokumente und Materialien
Georg Büchner: Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau
Ernst Dieffenbach: Briefe aus dem Straßburger und Zürcher Exil 1833-1836 Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Georg Büchners (Teil 1)
Anschriften der Mitarbeiter
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Redaktionsadresse : Georg Büchnerjahrbuch c/o Philipps-Universität Marburg. Fachbereich 09. Forschungsstelle Georg Büchner D-35032 Marburg/L. (Tel.: 06421/284182) oder über Georg Büchner Gesellschaft. Am Grün 1. D-35037 Marburg/L. Redaktion: Thomas Michael Mayer und Sebastian Wohlfeil Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band. Abdruck des Liederbüchleins aller Teutschen (1815) mit freundlicher Genehmigung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Sign. DL 1939 415)

Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Georg-B üchner-Jakrbuch l für die Georg-Büchner-Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und der Philipps-Universität Marburg hrsg. -Tübingen: Niemeyer. [Bd.] 8. 1990-94 (1995) © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Umschlagmotiv: Georg Büchner Holzschnitt von Helmut Lortz, 1963 Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 3-484-60385-2 ISSN 0722-3420

Inhalt Abkürzungen undSiglen

VII

Aufsätze Burghard Dedner: Büchners Lenz\ Rekonstruktion der Textgenese . 3 Hubert Gersch in Zusammenarbeit mit Stefan Schmalhaus: Quellenmaterialien und »reproduktive Phantasie«. Untersuchungen zur Schreibmethode Georg Büchners: Seine Verwertung von Paul Merlins Trivialisierung des Lenz-Stoffs und von anderen Vorlagen 69 Andreas Pilger: Die »idealistische Periode« in ihren Konsequenzen. Georg Büchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erzählung Lenz 104 Ernst Weber: Ein antiabsolutistisches Programm in Versen. Friedrich Ludwig Weidigs Liederbüchlein allerTeutschen (l 815) 126 Debatten Reinhard Pabst: Wer war »Mr. Lucius«? Thomas Michael Mayer: Thesen und Fragen zur Konstituierung des Woyzeck-Textes Kleinere Beiträge und Glossen Terence M. Holmes: Die» Absolutisten« in der Revolution Udo Roth: Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck unter besonderer Berücksichtigung von H2,6 Christian Schmidt: »Sa! sä!«, »Sa! ra!« und »Qaira!« oder: Warum singt Marie angesichts großherzoglicher Soldaten französische Revolutionslieder? Hans-Wolf Jäger: »Wie ein blutig Eisen«. Eine Miszelle Antal Mädl: Büchner-Übersetzungen und -Rezeption in Ungarn. . .

213 217

241 254 279 291 294

Dokumente und Materialien Georg Büchner: Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau. Übersetzung von Otto Döhner mit Anmerkungen von Otto Döhner und Udo Roth Ernst Dieffenbach: Briefe aus dem Straßburger und Zürcher Exil 1833-1836. Eine Flüchtlingskorrespondenz aus dem Umkreis Georg Büchners (Teil 1). Mitgeteilt von Peter Mesenhöller

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Anschriften der Mitarbeiter

444

371

V

Abkürzungen und Siglen B (1922); (1958)

Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Leipzig 1922; bzw. Georg Büchner: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Wiesbaden 1958 [oder andere Auflagen] Benn Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u.a.] 1976 [21979] DT Georg Büchner: Danton's Tod. Entwurf einer Studienausgabe. [Hrsg.] von Thomas Michael Mayer. - In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Büchner: Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufsätzen und Materialien. - Frankfurt a. M.21985, S. 7-74 F Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel. u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879 Fischer Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. - München 1987 GB I/II Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982] (Sonderband aus der Reihe text H- kritik) GBIII Georg Büchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik) GBJh Georg Büchnerjahrbuch GW Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - Frankfurt a. M. 1987 HA Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. - Hamburg [dann München] 1967ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Hauschild Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen 1985 zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten BüchnerBriefen. - Königstein/Ts. 1985 (Büchner-Studien, Bd. 2) Hauschild Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. - Stuttgart, 1993 Weimar 1993 Hinderer Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977 HL Gerhard Schaub: Georg Büchner/Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. - München 1976 (Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Katalog Georg Büchner 1813-1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Darmstadt Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. - Basel, Frankfurt a. M. 1987

VII

Katalog Düsseldorf

Jan-Christoph Hauschild (Bearb.): Georg Büchner/Bilder zu Leben und Werk. [Katalog der] Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts zum 150. Todestag Georg Büchners am 19, Februar 1987. - Düsseldorf 1987 (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts) Katalog Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum Marburg 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. - Marburg 1985 [31987] Lenz Georg Büchner: Lenz, Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L « in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über J. M. R. Lenz. Hrsg. von Hubert Gersch. - Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek 8210) LL Georg Büchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. - In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. - Frankfurt a. M. 1987 (Büchner-Studien, Bd. 3), S. 7-87 MA Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. - München, Wien [desgl. München: dtv] 1988 Marburger Marburger Denkschrift über Voraussetzungen und Prinzipien einer Denkschrift Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Büchner Literatur und Geschichte des Vormärz - im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und [der] Georg Büchner Gesellschaft. Erste Fassung. - Marburg/L. 1984 (Als Manuskript gedruckt) Mrdra:iib Ott>rg 2>&t;/?»er. Ti*trsg. von ^Wdngang Martens. - T>armstaät TVbb [31973] (Wege der Forschung, Bd. LIII) H. Mayer Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 [41980] (suhrkamp taschenbuch 58) N Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 Nö Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [...]·- Darmstadt 1844 P Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann. Bd. l: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 84) Poschmann Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. - Berlin u. Weimar 1983 [31988] Victor Karl Victor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949

VIII

WA Weidig

Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileauusgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. - Leipzig [ddesgl. Wiesbaden] 1981 (Manu scripta, Bd. 1) Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelute Schriften. Hrsg. von HansJoachim Müller. - Darmstadt 1987 (FHessische Beiträge zur Deutschen Literatur)

IX

AUFSÄTZE

Büchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese Von Burghard Dedner (Marburg)

Einleitung 1. Zeitgenössische Äußerungen zu den Handschriften; Thesen und Gang der Untersuchung 2. Teile des Drucktextes 2.1. Erstes Kriterium-.Grade von Quellenabhängigkeit 2.2. Zweites Kriterium: Die Zeitverhältnisse bei Oberlin und Büchner . . 2.3. Erzählstruktur: Chronik versus Erzählung 2.3.1. Chronikalstil 2.3.2. Illustrationsstil 2.3.3. Erzählphasen Exkurs: Kindeserweckung 2.3.4. Ergebnis: Textgenetische Schichten 2.3.5. Nachträge, Arbeitsnotizen 3. Arbeitsphasen vom April bis November 1835 4. Erste Arbeitsstufe 4.1. Erweiternde Quellenbearbeitung 4.2. Komisch-skurrile Charakterzeichnung 5. Zweite Arbeitsstufe: Pathetische Elemente, Auseinandersetzung mit Dichtung und'Wahrheit-, psychologische Theorie

5 10 10 14 17 17 17 19 22 25 28 30 34 34 36

7. 8.

55 63

£».

BÄÜ^^ru^kritik auf den verschiedenen Arbeitsstufen

Dritte Arbeitsstufe Wiederkehrende Textelemente; zum Status der Berichtpassage . . . .

3

41

46

Einleitung In seiner Studienausgabe präsentiert Hubert Gersch Büchners Lenz-Erzählung so, daß »die innere Widersprüchlichkeit, die Lückenhaftigkeit, die Skizzenhaftigkeit, die stilistische und darstellerische Unfertigkeit« des Textes, alle Züge also, die mit dem »Entwurfcharakter des Werkes« zusammenhängen, »für den Leser einsehbar« bleiben, denn »Büchners LenzProjekt ist weitaus konzeptartiger, elliptischer und bruchstückhafter, als man bislang dachte«.1 Was sich nach Gerschs begründeten Darlegungen l Hubert Gersch in: Georg Büchner: Lenz, Studienauisgabe, hrsg. von H. G. - Stuttgart 1984, S. 61 (im folgenden: Gersch, Studienausgabe). - Zur Zitierweise: In den fortlaufenden Text (ohne O in Klammern) eingefügte Zahlen verweisen stets auf die Seiten- und Zeilenzählung von Gersch, Studienausgabe·, der Worclaut wird aber zitiert nach Gersch:

als editorischer Konsens abzuzeichnen schien, wurde kürzlich von Henri Poschmann mit Berufung auf »künstlerische Gültigkeit« dezidiert bestritten. Er urteilte, Gersch betreibe »im Gegenzug zu der >Vereinnahmung des Textes durch die Literaturgeschichte^ die mit der Einführung der literarischen Gattungsbezeichnung Novelle< begonnen habe, erneut eine Abwertung der künstlerischen Gültigkeit der (wie Gersch annimmt, korrekt) überlieferten Arbeitsfassung«.2 Auch Poschmann konzediert, daß der uns überlieferte Text Lücken aufweist. Um sie zu erklären, vermutet Poschmann eine »stellenweise Textauslassung«3 seitens der Abschreiberin Wilhelmine Jaegle, statt denjenigen Indizien zu vertrauen, die dafür sprechen, daß Büchner die Arbeit am Text vor der Fertigstellung abgebrochen hat. Mir scheint, daß Poschmanns Vermutung und die aus ihr abgeleitete editorische Einschätzung einen erheblichen Rückschritt für die LenzEdition bedeutet, und ich werde in meiner Argumentation die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Im Anschluß an das von Gersch bereits Geleistete werde ich im folgenden den Stand der Manuskripte zu rekonstruieren versuchen, die Bücher hinterlassen hatte und die Wilhelmine Jaegle zur Abschrift vorlagen. Dabei wird sich die Text-Einheit, die die Editionen nach Gutzkow trotz der Hinweise auf die Lückenhaftigkeit unvermeidlich suggerieren, vor allem als Produkt der Abschreiberin Wilhelmine Jaegle und des Herausgebers Gutzkow erweisen. Was uns heute als die eine Erzählung Lenz vorliegt, ist in Wahrheit zusammengesetzt aus drei Entwürfen, die Büchner auf verschiedenen Arbeitsstufen niederschrieb. Meine Untersuchung steht im Zusammenhang der Arbeiten zum Lewz-Band der Marburger historisch-kritischen Büchner-Ausgabe, den ich zusammen mit Hubert Gersch vorbereite. Die Lenz-Edition im Rahmen dieser Ausgabe erfordert Entscheidungen, die ohne eine vorangehenAt;, «rö^ntim brtrrt, tAien tma kontrovers zu i'tfnrenae "Diskussion nicht getroffen werden sollten. Man verstehe diesen Beitrag ganz besonders als Anstoß und Einladung zu einer solchen Diskussion.

Georg Büchner: Lenz. Textkritik, Editionskritik, Kritische Edition. Diskussionsvorlagefür das »Internationale Georg Büchner Symposium« Darmstadt 2.5.-28. Juni 1981, Teil II, S. 1-28 (im folgenden: Gersch, Diskussionsvorlage); Zahlen in Klammern nach O verweisen auf die Zeilenzählung in Hartmut Dedert/Hubert Gersch [u.a.]: J.-F. Oberlin: Herr L Edition des bisher unveröffentlichten Manuskripts. Ein Beitrag zur Lenz- und Büchner-Forschung. - In: Revue des langues vivantes. Tijdschrift voor levende taten XLII (1976), S. 357-385 (im folgenden Dedert/Gersch). - Ausdrücklich und mit Dank sei hier vermerkt, daß meine derzeitige enge Zusammenarbeit mit Hubert Gersch zur Folge hat, daß ich in diesem Aufsatz mehr auf Gersch zurückgehende Gedanken undinformationen vortrage, als aus den Nachweisen ersichtlich ist. 2 Georg Büchner: Dichtungen. Hrsg. v. Henri Poschmann unter Mitarb. v. Rosemarie Poschmann. - Frankfurt/M. 1992, S. 794. 3 Ebd., S. 795.

1. Zeitgenössische Äußerungen zu den Handschriften; Thesen und Gang der Untersuchung In dem Nekrolog für seinen Freund und Untermieter Büchner, den Wilhelm Schulz wenige Tage nach dessen Tod veröffentlichte, teilte er über die Nachlaßsituation mit: »Außerdem findet sich unter seinen hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama, sowie das Fragment einer Novelle, welche die letzten Lebenstage des so bedeutenden als unglücklichen Dichters Lenz zum Gegenstande hat.«4 Das »beinahe vollendete Drama«, Büchners Woyzeck also, erwies sich aber als so bruchstückhaft und schwer lesbar, daß erst 45 Jahre später eine unzuverlässige und 85 Jahre später eine halbwegs zuverlässige Ausgabe zustandekam. Auch »das Fragment einer Novelle« war in Form des Singulars allzu hoffnungsvoll beschrieben. Dies geht jedenfalls aus dem Briefwechsel zwischen Gutzkow und Wilhelmine Jaegle hervor, von dem uns freilich nur Gutzkows Part überliefert ist. Am 30. August 1837- im Zusammenhang seiner Bemühung um Büchners Nachlaß - fragte Gutzkow: »Sind wirklich noch Produktionen, fertige und Fragmente, vorhanden [?]«5 Im Dankschreiben vom H.September 1837 für das inzwischen zugegangene Paket notierte er: »Lenz ist ein außerordentlich wichtiger Beitrag zur Literaturgeschichte, den ich vollständig abdrucken lasse; denn von dieser Berührung mit Oberlin hat man bisher nichts gewußt.«6 Im weiteren verwendete Gutzkow schwankend den Singular »Fragment« und den Plural »Bruchstücke«. Er notierte in der Aufsatzsammlung Götter, Heiden, Don-Quixote zu Büchner »das Fragment des Lenz«7, doch in dem etwa gleichzeitigen Brief an Wilhelmine Jaegle vom 26. Juni 1838 brauchte er wiederholt die Pluralform: »So denk* ich auch noch mit den Bruchstükvom Lenz«.8 In der Öffentlichkeit blieb Gutzkow bei dem die Einheit akzentuierenden Singular. Im Vorwort der im Januar 1839 erschienenen Erstveröffentlichung hieß es: »Leider ist die Novelle Fragment geblieben. Wir würden Anstand nehmen, sie in dieser Gestalt mitzutheilen, wenn sie nicht Berichte über Lenz enthielte, die für viele unsrer Leser überraschend seyn werden.«9 Von einem »Fragment«10 spricht dann wie selbstverständ-

4 [Wilhelm Schulz:] Nekrolog. - In: GW, Bd. 9, S. [5]. 5 Charles Andler: Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. - In: Euphorion 4 (1897), S. 181-193, hier S. 190; Auszug in: Hauschild 1985, S. 64. 6 Andler (s. Anm. 5), S. 192. 7 Karl Gutzkow: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtbeilung der literarischen Epoche. - Hamburg 1838, S. 49. 8 Zit. n. Andler (s. Anm. 5), S. 193; Auszug in HauschikI 1985, S. 72. 9 GW, Bd. 8, S. 34. 10 »Die Novelle ist [...] leider Fragment geblieben« (N, S. 31).

lieh auch Ludwig Büchner, dem allerdings — den Untersuchungen von Hubert Gersch zufolge11 - keine Manuskripte mehr vorgelegen haben. Aufgrund dieser Äußerungen ist zu vermuten, daß Wilhelmine Jaegle an Gutzkow »Bruchstücke des Lenz« geschickt hat, daß dieser daher ihr gegenüber bei dem Namen blieb, aber seinerseits Veränderungen im Sinn der Verknüpfung der Bruchstücke vornahm.12 Gutzkow unterscheidet sich durch die Wahrung der sprachlichen Einzelheiten zu seinem Vorteil von späteren Bearbeitern von Ludwig Büchner bis Werner R. Lehmann. Für die Problematik ist gleichwohl besonders illustrativ, wie später Franzos ein von ihm sogenanntes Fragment herrichtete als »Wozzeck. Ein Trauerspiel-Fragment von Georg Büchner«.13 In der Vorrede beschreibt Franzos im ganzen zutreffend den Zustand der verschiedenen Handschriften und seine editorische Arbeit, die außer in dem Geschäft der Entzifferung eben auch darin bestand, aus verschiedenartigen Notizen (Hl, H2, H3) und der letzten Ausführung (H4) ein »Trauerspiel-Fragment« zu machen. Franzos3 - in vieler Hinsicht verfälschende — Leistung war immerhin so wirksam, daß sein Wozzeck als Opernlibretto auf den internationalen Bühnen nicht weniger bekannt ist als Büchners Woyzeck und daß sich bis heute die Philologen und Interpreten noch nicht von dem WozzeckSchema gelöst haben.14 Man stelle sich vor, Franzos hätte nach der Veröffentlichung des Wozzeck-Fragments die Woyzeck-Rruchstücke vernichtet. Wahrscheinlich wäre es unmöglich, aus seiner geglätteten und stark bearbeiteten Fragment-Fassung den handschriftlichen Bestand zu rekonstruieren. Man stelle sich umgekehrt vor, Wilhelmine Jaegle hätte die »Bruchstücke« zu Lenz aufbewahrt und wir könnten sie edieren. Es ist zu vermuten, daß dann der von Gutzkow edierte und uns einzig vorliegende Lenz einen ähnlichen ^narccfe triWittat: -wit: ¥rarir,ty5»' Wt/zxtxfe·; vi -w'ia t: ?Jrs ÜVcAtamtm trmtri Wigrn und erfolgreichen Wirkungsgeschichte noch immer interessant, für historisch-kritische Editionen jedoch belanglos. Freilich mögen derartige Überlegungen mangels auffindbarer Handschriften ihrerseits als belanglos erscheinen, so daß man sich wie Hauschild zu dem Schluß bekennen müßte: »Solange sich keine Originalhandschriften des Lenz finden, müssen dies Vermutungen bleiben.«15 Vermutungen 11 Gersch, Studienausgabe (s. Anm. 1), S. 59. 12 Ludwig Büchner verstärkte dann in seiner Neuedition diese Tendenz. Vgl. Gersch, Diskussionsvorlage (s. Anm. 1), S. 29. 13 In: Mehr Licht f, 5., 12. u. 19. Oktober 1878; Faksimile als GW, Bd. 10. 14 Vgl. meinen Aufsatz Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte - »geschlossene Form«.-In: GBJb 7(1988/89),S. 144-170. 15 Dies bei Hauschild 1985, S. 65 als Summe aus Überlegungen, die den hier angestellten sehr nahekommen. Hauschild meint, »möglicherweise« habe »eine Kontamination von mehreren, sich überlagernden Handschriften, die auf verschiedenen Stufen der Werkentwicklung standen; beispielsweise nach dem Modell Hl, H2 (Entwürfe), H3 (vorläufige Reinschrift)« vorgelegen.

scheiden sich in gegründete und ungegründete, und im folgenden soll es um gegründete Hypothesen zum Zustand der Lewz-Manuskripte gehen. Daß sie im Falle des Lenz eher möglich sind als im Falle des Wozzeck, beruht auf drei Faktoren. Aus Hubert Gerschs Untersuchungen wissen wir (erstens), daß Gutzkow die Textgestalt des Lenz in den Einzelheiten16 sehr viel stärker respektierte als der im Umgang mit Woyzeck geradezu bedenkenlose Franzos. Der uns überlieferte Text ist (zweitens) an vielen Punkten sehr viel stärker quellenabhängig als die Wb^/zec^-Handschriften. Die Entstehungsgeschichte des Textes läßt sich (drittens) aus textexternen Daten etwas genauer rekonstruieren als die des Woyzeck. Weitere Grundlage aller folgenden Hypothesen ist darüber hinaus die Beobachtung, daß die Schreib verfahren jedes Autors relativ konstant bleiben und daß, da Danton' s Tod, Lenz und Woyzeck in einem Zeitraum von nur knapp über zwei Jahren entstanden sind und da Lenz mit Danton3s Tod in der extensiven Quellenabhängigkeit, mit Woyzeck in seinem »work in progress«Charakter17 übereinstimmt, damit zu rechnen ist, daß sich Beobachtungen zum Schreibverfahren, die an den beiden anderen Texten gewonnen wurden, auf Lenz übertragen lassen. Wir können anhand von Danton3s Tod Büchners Schreibverfahren in Hinsicht auf die Aneignung und Einarbeitung von Quellentexten, auf Sofortkorrekturen und spätere Texteinschübe rekonstruieren, und wir können anhand der Woj/zec^-Manuskripte, aber auch der Leonce und Lena-Bruchstücke nachvollziehen, wie Büchner sich durch Notate von szenischen Einfallen und Dialogpartien oder auch durch Entwürfe von Kurzszenen an einen Stoff herantastete, wie er verschiedene Möglichkeiten für dieselbe Szene nacheinander niederschrieb oder wie er alternative Handlungsverläufe auf Extrablättern (Woyzeck H3) notierte. Aus diesen Vermutungen, die dann im einzelnen zu begründen sind: Erstens: Es ist sehr wahrscheinlich, daß Büchner seine frühesten Notate zu Danton3s Tod mit Quellenexzerpten aus Thiers' Histoire de la Revolution franqaise begann,18 die er im Zuge des Exzerpierens schon leicht bearbeitet haben mag. Wer das letzte Drittel von Büchners Lenz, die Partien also, die von den vier Tagen zwischen Oberlins Rückkehr von seiner Reise und Lenz' Abtransport nach Straßburg erzählen, parallel liest mit den entsprechenden Partien von Oberlins Bericht »Herr L ...... «, wird schnell feststellen, daß weite Teile der Schlußpartien - beginnend mit dem Bericht von Oberlins Rückkehr von seiner Reise - eine Abschrift von 16 Vgl. Hubert Gersch: Georg Büchners Lenz-Entwurf: Textkritik, Edition und ErkenntnisPerspektiven. Ein Zwischenbericht. - In: GBJb 3 (1983), S. 16; sowie Gerschs »Fazit« (Diskussionsvorlage, s. Anm. l, S. 45): Gutzkow scheine »die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten bis in Einzelheiten bewahrt zu haben.« 17 Gersch, Studienausgabe (s. Anm. 1), S. 61. 18 Vgl. meinen Aufsatz in GBJb 6 (1986/87), S. 106-131.

Oberlins Text mit leichter redaktioneller und erzähltechnischer Bearbeitung darstellen. Dagegen handelt es sich bei den davorliegenden Textteilen um überwiegend büchnereigenen Text, der nur gelegentlich durch eingefügten Oberlin-Text unterbrochen wird.19 Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß ein Autor, nachdem er im Schreiben seines eigenen Textes bereits eine eigene Themen- und Erzählkonzeption entwickelt hat, sich gegen Schluß wieder auf die Ebene des Abschreibens von Fremdtext begibt. Wer die Textgenese des Lenz rekonstruieren will, darf also vermuten, daß die Schlußpartien vor den uns vorliegenden Anfangspartien niedergeschrieben wurden und daß sich die Bruchstelle in der Nähe der Erzählung von Oberlins Rückkehr (23.5) befindet. Für diese These spricht weiterhin, daß die Schlußpartien in höherem und gravierenderem Maße erkennbare Textlücken aufweisen als die Anfangspartien. Zweitens: Diese Beobachtung gilt nicht für den letzten Absatz der Erzählung, der relativ quellenunabhängig ist und im Erzählverfahren und motivisch den Anfangspartien nahesteht. Drittens: Es gibt in den Schlußpartien eine längere Passage (27.8-29.32), die inhaltlich und erzähltechnisch von den anderen Partien abweicht. Ich vermute, daß Büchner mit dieser Passage ein anderes Erzählverfahren ausprobierte, sich also von seiner Vorlage zu lösen begann. In Woyzeck begegnet uns ein ähnlicher Fall bekanntlich in der Szene »Hof des Professors« (H3,l), die sich ebenfalls in den übrigen Text nicht widerspruchsfrei einordnen läßt, da sie einen später konzeptionell überholten Parallelentwurf darstellt.20 Viertens: Mindestens eine kurze Passage in den Anfangspartien der Erzählung (10.4-10. 14)21 ist eine spätere und nur oberflächlich integrierte Einfügung in einen schon fertig geschriebenen Text. Schreibprozeß. Sie lauten: 1. Erste Arbeitsstufe: Büchner orientierte sich eng an Oberlins Bericht in einem Schreibverfahren, in dem er die Quelle teils bearbeitete, teils erweiterte. Von dieser Arbeitsstufe zeugen weite Partien im zweiten Teil des Lenz-Textes. Als Büchner diese Arbeitsstufe abbrach, war der Text noch immer lückenhaft und wies mindestens eine Arbeitsnotiz auf (27.7). 19 Vgl. auch Fritz Bergemanns Urteil (B 1922, S. 783), »daß nur dem ersten Teil von Büchners Fragment der Wert eines dichterischen Originales beigemessen werden kann, im weiteren Verlauf hingegen die Erzählung sich immer mehr in einen den Oberlinschen Bericht referierenden Ton verliert, ja zuweilen sogar diese Quelle geradezu ausschreibt: offenbar handelt es sich nur um einen ersten Entwurf des Dichters«. 20 Vgl. Gerhard Schmid, WA, Kommentar, S. 35; demnach läßt sich die Niederschrift von H3,l in dem »Zeitraum zwischen dem Abschluß von Hl und der Ausarbeitung von H2,6 eingrenzen«. Poschmanns (s. Anm.2, S. 688-696) Gegenthese, H3 sei späterer »Ergänzungsentwurf« und hätte möglicherweise als Druckvorlage dienen sollen, wird durch den schwer entzifferbaren Zustand des Manuskripts widerlegt. 21 Vgl. Gersch, Diskussionsvorlage (s. Anm. 1), S. 91 f.

2. Zweite Arbeitsstufe: Nach Abbruch der ersten Arbeitsstufe experimentierte Büchner, inhaltlich noch immer auf den zweiten Teil des Textes konzentriert, mit einer referierend-erklärenden Erzählform. Von dieser Arbeitsstufe zeugt eine in den zweiten Teil des Lenz -Textes eingeschobene längere Passage (27.8-29.32); ich nenne sie Berichtpassage.22 3. Dritte Arbeitsstufe: Für die Abfassung der Anfangspartien der Erzählung und des letzten Absatzes diente Oberlins Bericht nur noch als grobes Orientierungsmuster. Büchner übernahm für seinen Text eine größere Reihe von Elementen aus den zuvor geschriebenen Schlußpartien, vor allem aus der Berichtpassage. 4. Erweiterung: In knappen Eintragungen wohl am Rand und vermutlich aufgrund der Lektüre einer weiteren Quelle notierte Büchner Material für künftige Texterweiterungen. 5. Abschrift: Wilhelmine Jaegle lagen Manuskriptteile vor, von denen die ersten zwei Drittel als fertiger Text gelten konnten, der jedoch an ein oder zwei Stellen Zusätze aufwies, möglicherweise als Randnotizen mit Einweisungszeichen. Im Rest des Textes waren ausgearbeitete Textteile durch längere Lücken im Manuskript sowie durch mindestens eine Arbeitsnotiz unterbrochen. Ein längerer Entwurf (Berichtpassage) war möglicherweise auf einem Extrabogen notiert. Aus dieser Sammlung von Manuskripten stellte Wilhelmine Jaegle Abschriften her, die Gutzkow so wenig zusammenhängend schienen, daß er gegenüber der Zusenderin noch zehn Monate später von »den Bruchstücken des Lenz« sprechen konnte. 6. Edition: Für den Erstdruck des Lenz hat Gutzkow die verschiedenen Textteile durchweg als im gleichen Maße gültigen Text behandelt und miteinander verbunden.23 Diese Thesen sollen nur vorab verdeutlichen, was im folgenden aus einer VieVxaVA -vori iTidixicTi TIC». ra^cWu.tfet,Ti 'Uftd •eiTiX^WiC.Ti -z» «glöutexn. l&n.. Ick beginne meine Untersuchung mit Beobachtungen zu den Quellenabhängigkeiten, den Zeitverhältnissen und unterschiedlichen Formen der Erzähltechnik. Erwägungen der zu vermutenden Entstehungsgeschichte leiten über zu dem Versuch, die textintern gewonnenen Schlüsse mit den textexternen Daten über mögliche Arbeitsphasen und deren Datierung zu verknüpfen (3.). In einem zweiten Teil (4.-8.) rekonstruiere ich mit der 22 Den Begriff Bericht gebrauche ich, um nach Möglichkeit an die erzähltechnische Terminologie anzuknüpfen: im Unterschied zu der szenischen Darstellung bestimmt den Bericht die »hohe Raffungsintensität« mit der Tendenz zur zeitlosen Verallgemeinerung; der Bericht wird »in der Regel bei kurzer Erzählzeit eine große Spanne der erzählten Zeit umgreifen«, vgl. Eberhard Lammen: Bauformen des Erzählens. - Stuttgart 1955, S. 87, 91 f.- Die besonderen Merkmale der Berichtpassage im Lenz bestehen in der Exemplifikation bzw. Illustration; vgl. im folgenden die Abschnitte »Illustrationsstil« (2.3.2.) und »Wiederkehrende Textelemente« (8.). 23 Dies als Korrektur zu Hauschilds (1985, S. 65) Vermutung, »daß erst Minna [Jaegle] im Zuge ihrer Abschrift aus dem Vorhandenen [...] einem fortlaufend lesbaren Text geschaffen hat«.

impliziten Voraussetzung, meine textgenetischen Argumente seien akzeptiert, und aufgrund textinterner Beobachtungen die wechselnden Schreibverfahren und Intentionen Büchners bei den verschiedenen Arbeitsphasen.

2. Teile des Drucktextes 2.1. Erstes Kriterium: Grade von Quellenabhängigkeit Ich unterscheide für die Quellenforschung zu Büchners Werken zwischen Struktur-, Stoff- und Zusatzquellen. Zusatzquellen geben Anregungen zu Erweiterungen eines schon geschriebenen Textes, Stoff quellen liefern dem Autor Informationen, die er an geeigneten Stellen des gesamten Textes verarbeitet, die Strukturquelle wirkt auf den gesamten Text z.B. dadurch, daß sie den Ablauf der Handlung oder die Anordnung des Materials bestimmt. Stoffquelle für Lenz ist neben Goethes Dichtung und Wahrheit vor allem Daniel Ehrenfried Stoebers Oberlin-Biographie.24 Vorrangige und im strikten Sinne bisher einzig sichere Strukturquelle ist die von August Stöber hergestellte Abschrift von Oberlins Rechtfertigungsbericht »Herr L «, die Büchner vermutlich im Frühjahr 1835 von August Stöber erhielt.25 Von dieser Strukturquelle sind die verschiedenen Teile der Erzählung jedoch in sehr unterschiedlichem Maße abhängig, und diese Unterschiede erlauben erste Vermutungen zur Entstehungsgeschichte nach der einfachen Regel: Je höher der Grad der Abhängigkeit von einer Strukturquelle, umso früher ist der Text entstanden. Es versteht sich, daß diese Regel nur für Strukturquellen gilt und nicht etwa für Zusatzquellen, deren Material der Autor in einer späteren Phase der Schreibarbeit in einen schon bestehenden Text einfügt. Der unterschiedliche Grad der Quellenabhängigkeit erlaubt die Aufteilung der Textüberlieferung zunächst in zwei Teile, deren Schnittstelle wir bei dem Satz »Lenz erhob das Haupt, rang die Hände« (23.22) ansetzen wollen. Vor dieser Schnittstelle, im ersten Teil also, orientiert sich die Erzählung nur in wenigen markanten Einzelheiten an Oberlins Bericht. Zu den inhaltlichen Anregungen oder Übernahmen gehören die Erzählung von Lenz" Ankunft am 20., Oberlins erster Eindruck, Vorfälle der ersten Nacht, der Ritt nach Belmont am 21., die Predigt am Sonntag, den 25., Kaufmanns Ankunft, Oberlins Aufbruch zur Reise in die Schweiz am 26., Lenz' Versuch einer Totenerweckung am 3. Februar und schließlich Ober24 Stoeber, D[aniel] E[hrenfried]: Vie de]. F. Oberlin. - Paris, Strasbourg et Londres 1831; Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit, deren Bedeutung für Lenz Gersch dezidiert hervorgehoben hat, wäre als »Anstoß und Bezugspunkt für die darstellerische Reflexion des Falles« (Studienausgabe > s. Anm. l, S. 73) einerseits Konzeptionsquelle, andererseits ist sie auch Stoffquelle für Einzelheiten der Erzählung. 25 Gersch, Studienausgabe (s. Anm. 1), S. 65. 10

lins Rückkehr. Oberlin bietet gelegentlich kurze Dialogpartien, die Büchner übernimmt, und auch die übrigen mitgeteilten Einzelheiten wertet er, soweit sie Lenz betreffen, aus. In diesem ersten Teil enthält die Erzählung etwa zu 5% Text, der unmittelbar von der Strukturquelle abhängig ist. Ist der erste Teil der Erzählung demnach Büchner-Text mit wenigen Einsprengseln von Oberlin, so gleicht ihr zweiter Teil einem Mischtext zweier Autoren. Von den 303 Zeilen,26 die den Tagen nach Oberlins Rückkehr gewidmet sind, folgen etwa 165, also mehr als 50%, dem Oberlin-Text. In diesem Textkorpus von 303 Zeilen fällt aus vielen noch zu erläuternden Gründen eine längere Passage von 101 Zeilen als Fremdkörper auf. Sie beginnt mit dem Satz »Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden« und endet mit der Wendung »oder versetzte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz« (27.8-29.32). Zu den Charakteristika gehört u. a. ein auffällig geringer Grad von Quellenabhängigkeit. Im gleichen Maße als Fremdkörper wirkt der letzte Absatz, der von Lenz* Transport nach Straßburg erzählt. Er nimmt zwar einzelne Informationen der Strukturquelle auf, integriert diese jedoch in einen im ganzen nicht mehr quellenbestimmten Text. Wenn wir diese zwei Passagen von 127Zeilen aus der Berechnung aussondern, so wird der Grad der Quellenabhängigkeit für den Rest überwältigend. Von den verbleibenden 176 Zeilen sind etwa 47 nicht von Oberlin abhängig. Oberlinabhängig sind demnach hier ca. 70% des Textes. Dabei fällt auf, daß diese quellenunabhängigen Zeilen nicht etwa über den Gesamttext verteilt sind, sondern daß sie sich auf vier deutlich abgetrennte Textabschnitte, auf vier Erzählepisoden, konzentrieren. Ich gebe im folgenden diesen von der Strukturquelle unmittelbar abhängigen Teil im Zusammenhang, wobei ich die mit der Quelle identischen, also übernommenen Wörter27 mit Fettdruck bezeichne. Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück, viel früher als man es erwartet hatte. Lenz war darüber betroffen. Doch wurde er heiter, als Oberlin ihm von seinen Freunden in Elsaß erzählte. Oberlin ging dabei im Zimmer hin und her, und packte aus, legte hin. Dabei erzählte er von Pfeffel, das Leben eines Landgeistlichen glücklich preisend. Dabei er mahnte er ihn, sich in den Wunsch seines Vaters zu fügen, seinem Berufe gemäß zu leben, heimzukehren. Er sagte ihm: Ehre Vater und Mutter u. dgl. m. Über dem Gespräch gerieth Lenz in heftige Unruhe; er stieß tiefe Seufzer aus, Thränen drangen ihm aus den Augen, er sprach abgebrochen. Ja, ich halt' es aber nicht aus; wollen Sie mich verstoßen? Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist's aus! Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der 26 Die Umfangsbemessung beruht auf der Zeilenzählung in: Gersch, Diskussionsvorlage, Teilll(s.Anm.l). 27 Zum Begriff der Übernahme vgl. meinen Aufsatz Quellendokumentation und Kommentar zu Büchners Geschichtsdrama »Danton's Tod«. - In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 7 (1993), S. 194-210, bes. 196-198.

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ewige Jude. Oberlin sagte ihm, dafür sey Jesus gestorben, er möge sich brünstig an ihn wenden, und er würde Theil haben an seiner Gnade. Lenz erhob das Haupt, rang die Hände, und sagte: Ach! ach! göttlicher Trost. Dann frug er plötzlich freundlich, was das Frauenzimmer mache. Oberlin sagte, er wisse von nichts, er wolle ihm aber in Allem helfen und rathen, er müsse ihm aber Ort, Umstände und Person angeben. Er antwortete nichts, wie gebrochne Worte: ach sie ist todt! Lebt sie noch? du Engel, sie liebte mich - ich liebte sie, sie war's würdig, o du Engel. Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert - sie liebte noch einen ändern - ich liebte sie, sie war's würdig - o gute Mutter, auch die liebte mich. Ich bin ein Mörder. Oberlin versetzte: vielleicht lebten alle diese Personen noch, vielleicht vergnügt; es möge seyn, wie es wolle, so könne und werde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben würde, diesen Personen auf sein Gebet und Thränen soviel Gutes erweisen, daß der Nutzen, den sie alsdann von ihm hätten, den Schaden, den er ihnen zugefügt, vielleicht weit überwiegen würde. Er wurde darauf nach und nach ruhiger und ging wieder an sein Malen. Den Nachmittag kam er wieder, auf der linken Schulter hatte er ein Stück Pelz und in der Hand ein Bündel Gerten, die man Oberlin nebst einem Briefe für Lenz mitgegeben hatte. Er reichte Oberlin die Gerten mit dem Begehren, er sollte ihn damit schlagen. Oberlin nahm die Gerten aus seiner Hand, drückte ihm einige Küsse auf den Mund und sagte: dies wären die Streiche, die er ihm zu geben hätte, er möchte ruhig seyn, seine Sache mit Gott allein ausmachen, alle möglichen Schläge würden keine einzige seiner Sünden tilgen; dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem möchte er sich wenden. Er ging. Beim Nachtessen war er wie gewöhnlich etwas tiefsinnig. Doch sprach er von allerlei, aber mit ängstlicher Hast. Um Mitternacht wurde Oberlin durch ein Geräusch geweckt. Lenz rannte durch den Hof, rief mit hohler, harter Stimme den Namen Friederike mit äußerster Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen, er stürzte sich dann in den Brunnentrog, patschte darin, wieder heraus und herauf in sein Zimmer, wieder herunter in den 'Trog, und so einigemal, enflfich wurde er stTfl. üie TVlägde, ale in der Kinderstube unter ihm schliefen, sagten, sie hätten oft, insonderheit aber in selbiger Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone einer Haberpfeife zu vergleichen wußten. Vielleicht war es sein "winseln, mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme. Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Oberlin hinauf in sein Zimmer, er lag im Bett ruhig und unbeweglich. Oberlin mußte lange fragen, ehe er Antwort bekam; endlich sagte er: Ja Herr Pfarrer, sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Figuren an die Wand gezeichnet. Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott wenden; da lachte er und sagte: ja wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müssiggang. Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Ändern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig: O Gott in Deines Lichtes Welle, In Deines glüh'nden Mittags Zelle 12

Sind meine Augen wund gewacht, Wird es denn niemals wieder Nacht? Oberlin blickte ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz huschte ihm nach und indem er ihn mit unheimlichen Augen ansah: sehn Sie, jetzt kommt mir doch was ein, wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache: sehn Sie, das ist sehr richtig, wir wollen es untersuchen; er huschte dann wieder ins Bett. Den Nachmittag wollte Oberlin in der Nähe einen Besuch machen; seine Frau war schon fort; er war im Begriff, wegzugehen, als es an seine Thür klopfte und Lenz hereintrat mit vorwärtsgebogenem Leib, niederwärts hängendem Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hie und da mit Asche bestreut, mit der rechten Hand den linken Arm haltend. Er bat Oberlin, ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn verrenkt, er hätte sich zum Fenster heruntergestürzt, weil es aber Niemand gesehen, wollte er es auch Niemand sagen. Oberlin erschrack heftig, doch sagte er nichts, er that was Lenz begehrte, zugleich schrieb er an den Schulmeister in Bellefosse, er möge herunterkommen und gab ihm Instruktionen. Dann ritt er weg. Der Mann kam. Lenz hatte ihn schon oft gesehen und hatte sich an ihn attachirt. Er that als hätte er mit Oberlin etwas reden wollen, wollte dann wieder weg. Lenz bat ihn, zu bleiben und so blieben sie beisammen. Lenz schlug noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er besuchte das Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen Malen nieder, küßte die Erde des Grabes, schien betend, doch mit großer Verwirrung, riß Etwas von der auf dem Grab stehenden Blume ab, als ein Andenken, ging wieder zurück nach Waldbach, kehrte wieder um und Sebastian mit. Bald ging er langsam und klagte über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er mit verzweifelnder Schnelligkeit, die Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete. Ein unbeschreibliches Gefühl des Mißbehagens befiel ihn, sein Begleiter ward ihm endlich lästig, auch mochte er seine Absicht errathen und suchte Mittel ihn zu entfernen. Sebastian schien ihm nachzugeben, fand aber heimlich Mittelv seine Brüder von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Lenz zwei Aufseher statt einen. Er zog sie weiter herum, endlich ging er nach Waldbach zurück und da sie nahe an dem Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder um und sprang wie ein Hirsch gen Fouday zurück. Die Männer setzten ihm nach. Indem sie ihn in Fouday suchten, kamen zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte in einem Hause einen Fremden gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe, aber gewiß kein Mörder seyn könne. Sie liefen in dies Haus und fanden es so. Ein junger Mensch hatte ihn auf sein ungestümes Dringen in der Angst gebunden. Sie banden ihn los und brachten ihn glücklich nach Waldbach, wohin Oberlin indessen mit seiner Frau zurückgekommen war. Er sah verwirrt aus, da er aber merkte, daß er liebreich und freundlich empfangen wurde, bekam er wieder Muth, sein Gesicht veränderte sich vortheilhaft, er dankte seinen beiden Begleitern freundlich und zärtlich und der Abend ging ruhig herum. Oberlin bat ihn inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben und wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu unterhalten. Er versprachs und that es so die folgende Nacht, die Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hindurch beten. - Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer. Nachdem sie Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er 13

mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher wissen Sie das? - Hieroglyphen, Hieroglyphen - und dann zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben - Hieroglyphen. Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen, (x - x)

[···]

Den S.Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast nackt auf dem Bette und war heftig. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber sehr, wie schwer Alles sey, so schwer, er glaube gar nicht, daß er gehen könne, jetzt endlich empfände er die ungeheure Schwere der Luft. Oberlin sprach ihm Muth zu. Er blieb aber in seiner frühern Lage und blieb den größten Theil des Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu sich. Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Bellefosse gerufen. Es war gelindes Wetter und Mondschein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz. Er schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu (weit) zu gehen, er verspräche; im Weggehen wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nah zu Oberlin und sagte rasch: sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte mir wäre geholfen. »Was denn, meiner Lieber?« Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt, seit ich in dem stillen Thal bin, hör' ich's immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen könnte. Er ging dann kopfschüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und wollte ihm Jemand nachschicken, als er ihn die Stiege herauf in sein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf platzte etwas im Hof mit so starkem Schall, daß es Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menschen herkommen zu können schien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz zitternd, (x-x) Man tut dem Autor nicht unrecht, wenn man diese Partien als bearbeiteten Oberlintext mit Erweiterungen durch Büchner beschreibt. Die Erweiterungen sind blockweise und durchaus noch mechanisch in den quellenabhängigen Text eingefügt. Oberlin berichtet über ein längeres Gespräch mit Lenz am Morgen des 7. Februar. Büchner fügt zwei Gespräche am vorangegangenen und folgenden Morgen hinzu und erweitert außerdem schon bestehende Gesprächssituationen im Freien durch spezifische Symptomklagen des Helden. Diese Erweiterungen konnte Büchner ebenso wie die Textbearbeitung auf der ersten Arbeitsstufe vornehmen. 2.2. Zweites Kriterium: Die Zeitverhältnisse bei Oberlin und Büchner Oberlin berichtet als Chronist. Er übergeht ereignislose Tage, nennt aber, wenn er etwas zu berichten hat, die kalendarischen Daten und womöglich die Tageszeiten der Ereignisse. Auch Büchner beginnt im Chronistenstil mit dem berühmten Satz »Den 20. ging Lenz durch's Gebirg«, und er greift noch an drei weiteren Stellen zu kalendarischen Angaben: zweimal im Zusammenhang mit dem Erweckungsversuch, den Lenz an einem gestor-

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benen Kind unternimmt - »Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben [...]. Am vierten trat er plötzlich in's Zimmer zu Mad. Oberlin« (21.25ff.) -, und gegen Ende mit dem Satz: »Den 8. Morgens blieb er im Bette« (29.33). Wer als Autor so genaue Angaben macht, der kann nichts dagegen haben, wenn sein Leser gelegentlich mitrechnet. Gewiß würde nur ein Pedant wissen wollen, ob bei einem langen Zeitraum, also bei den fünfzehn Tagen zwischen dem 20. des einen und dem 4. des nächsten Monats, die Zeitverhältnisse genau stimmen; aber bei kürzeren Zeiträumen wie zwischen dem vierten und dem achten desselben Monats ist das Zeitgefühl zu präsent, um sich nicht gestört zu fühlen, wenn der Erzähler mehr Tage angibt, als der Kalender aufweist. Ebendies geschieht in Büchners Erzählung an dieser Stelle, und zwar nicht nur mehrmals, sondern auch noch überflüssigerweise. Diese Überfüllung des Zeitrahmens wird vor allem klar, wenn man die an diesen Stellen sehr quellennahe Erzählung an der Quelle selbst mißt. Am 3. Hornung, so die Quelle, versuchte Lenz ein gestorbenes Kind zu erwecken (O 112f.); »In der Nacht [...] zwischen dem 4ten u. S.Horn, sprang er wieder in den Brunnen Trog« (O 122 ff.), am 5. Hornung kam Oberlin von seiner Reise zurück (O 132), am Abend des 7. stürzte sich Lenz zum zweiten Male und mit solcher Gewalt aus dem Fenster (O 289 ff.) und wurde so unbeherrschbar, daß Oberlin ihn am 8. nach Straßburg schaffen ließ. Büchners Text sagt nichts über die Wiederaufnahme des nächtlichen Badens am 4. Hornung, übernimmt aber sonst alle von Oberlin in diesem Zusammenhang mitgeteilten Ereignisse, doch mit einer Verschiebung um einen Tag. Büchners Lenz unternimmt den Erweckungsversuch »[a]m vierten« (21.28), den zweiten Fenstersturz am 8. Hornung '(^O.lt^.lNaJii acrri 4. YiuiTiuTigirugt aietrzaWraTrg trmtTi-wtrntnt,TiT&g trm — »Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen« (22.35) -, von dem Oberlin in dieser Form nichts sagt, und stellt dann den Anschluß zu Oberlins Rückkehr her mit der Zeitangabe: »Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück.« (23.5) Diese Rückkehr fällt also frühestens auf den 7. Hornung. Hätte Büchner statt »Einige Tage darauf« eine Wendung wie >am Nachmittag< geschrieben, so hätte er der historischen Abfolge Rechnung tragen können. Offenbar wollte er sich an dieser Stelle nicht an die Angaben der Quelle halten, sondern wählte in bewußter Loslösung von der Vorlage eine im Verhältnis zum Vorangegangenen unbestimmte Angabe. Wir hören von Einzelereignissen dieses und der zwei folgenden Tage - »Am folgenden Morgen« (24.29), »Den folgenden Morgen« (26.34) - und verlieren dann in der nicht quellenabhängigen Passage die bestimmte Orientierung durch den Anschluß: »Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden« (27.8). Die damit eingeleitete Passage - die Berichtpassage - enthält zwei spezifische, aber im Unterschied zum bisherigen Erzählverfahren zeitlich wie15

derum nicht fixierte Anekdoten - »Einst saß er neben Oberlin« (28.3); »Oberlin sprach ihm von Gott. Lenz wand sich ruhig los« (29.12) -, die man nicht als Ereigniszentren bezeichnen kann und die wiederum zu iterativen Erzählsätzen - »Die halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte« (29.20) - überleiten. Doch nach dieser Passage befinden wir uns wieder auf festem Boden mit der eindeutigen kalendarischen Bestimmung: »Den 8. Morgens blieb er im Bette« (29.33). Warum aber spricht der Erzähler jetzt vom 8. ? In der internen Logik ist, wenn wir das zuletzt genannte Datum des 4. Hornung ernst nehmen, mindestens schon der 12. Von Oberlin übernommen ist die Zeitangabe jedoch auch nicht, denn die in der Erzählung auf den 8. fallenden Ereignisse geschahen laut Quelle am 7. Der Widerspruch entfällt, wenn wir zwei Operationen vornehmen. Wir denken uns die Berichtpassage aus dem Text fort, und wir legen Oberlins Rückkehr in Übereinstimmung mit der Quelle auf den 5. Hornung, nehmen also an, daß Büchner auf der ersten Arbeitsstufe auch hier der Quelle gefolgt war. Wir erhalten dann für die Schlußpartien nach Oberlins Rückkehr vier deutlich distinkte Tage: »[...] kam Oberlin aus der Schweiz zurück« (23.5 = 5. Hornung); »Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht« (24.29 = 6. Hornung); »Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins Zimmer« (26.34 = 7. Hornung); »Den 8. Morgens blieb er im Bette« (29.33). Die Unterscheidbarkeit der Tage wird durch die der Tageszeiten unterstützt: die Begebenheiten ereignen sich »Den Nachmittag« (24.4), »Beim Nachtessen« (24.15), »Um Mitternacht« (24.16), »die folgende Nacht« (26.32), »Den folgenden Morgen« (26.34), »Den 8. Morgens« (29.33). Daß der zweite Fenstersturz in der Erzählung anders als in der Quelle auf den 8. fällt, liegt demnach daran, daß Büchner von "Mndtfis mti/gerttiri «ruf* ScWeJi&it'roTt:« '(2 ; zum ottenen Widerspruch, da wir zuvor ja schon über die letzten zwei Nächte, die einzig hier als Berichtszeitraum in Frage kommen, Einzelheiten gehört haben. Auffällig ist an dieser Stelle auch ein Wechsel in der Erzählperspektive. Die auf der ersten Arbeitsstufe mitgeteilten Einzelheiten nächtlicher Unruhe beruhten der Vorlage gemäß auf Wahrnehmungen der Mägde (24.23 ff.; 26.33), während in der Berichtpassage ein besser informierter, für die Zwecke dieses Berichts allwissender Erzähler spricht. Es ist nicht zu übersehen, daß Büchner sich mit der Abfassung der Berichtpassage von seiner Vorlage entschieden zu lösen begann und daß er hier ein Erzählverfahren ausprobierte, dem der Anfangsteil des Textes teilweise entspricht. Hier wie dort wechseln iterativ-referierende Sätze mit Episoden, die zeitlich als einmalig gekennzeichnet sind. Diese relative Ähnlichkeit läßt andererseits einen gewichtigen erzähltechnischen Unterschied in der Funktion und der Technik der Einfügung der szenischen Anekdoten um so deutlicher hervortreten. Diese sind im ersten Teil der Erzählung jeweils syntagmatisch nach dem Prinzip zeitlicher Abfolge 18

eingefügt, bleiben dem chronikalischen Erzählverfahren also noch immer verhaftet. In der Berichtpassage dominiert dagegen eine paradigmatische Struktur. Hier wird etwas Allgemeines erzählt, und die spezifischen Anekdoten haben die Funktion, dieses Allgemeine beispielhaft zu illustrieren, wobei ihre zeitliche Plazierung keine Rolle spielt. Die erste der beiden Anekdoten, Lenz' Kampf mit einer Katze, ist ein Beleg für die vorangehende allgemeine Feststellung: »Manchmal fühlte er einen unwidestehlichen Drang, das Ding auszuführen« (28.1 ff.). Die zweite Anekdote, Lenz' Zweifel an der Allgüte Gottes in dem Satz »ich könnte das Leiden nicht ertragen« (29.16), bildet einen zeitspezifischen Kulminationspunkt einer Erzählung, in der zunächst iterative Merkmale dominiert hatten: »Allmählig brachten ihn Oberlins Worte denn zu sich [...]. Und wenn er ruhiger wurde« (29.3 ff.; Hervorh. B. D.). In beiden Fällen ist eine genauere zeitliche Plazierung des Geschehens vom Erzähler nicht beabsichtigt. 2.3.3. Erzählphasen28 Die Erzählung scheint zunächst am Chronikalstil festhalten zu wollen. Lenz' Aufnahme in Oberlins Haus, die nächtliche Unruhe, der Ausritt am folgenden Tag, die Unruhe der zweiten Nacht, all diese Ereignisse des 20. und 21. sind zeitlich eindeutig fixiert. Am Ende der Erzählung von Lenz' Zustand in der zweiten Nacht sind einzelne Zeitangaben - »Er mußte dann hinaus ins Freie« (9.29) »wenn seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren« (9.31) »er verrichtete sein Bad jetzt mit weniger Geräusch« (9.35) bereits merkwürdig ambivalent, wenn man zu bestimmen sucht, ob sie ein einmaliges fixiertes oder aber unbestimmte, sich wiederholende Ereignisse ausdrücken sollen. Der folgende Satz »Doch jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger« (9.36) bricht dann endgültig mit dem Chronikalstil; er faßt sich wiederholende, zeitlich unbestimmte Abläufe zusammen, er hat - in erzähltechnischer Terminologie - iterativen Charakter. Was im chronikähnlichen Erzählstil angefangen hatte, erweist sich nachträglich als Teil einer Erzählphase. Phasen dieser Art haben feste, wenn auch nicht kalendarisch fixierte Ereigniszentren, an deren Peripherie sich zeitlich nicht bestimmte Abläufe anlagern, über die in raffend-iterativer Form berichtet wird. Die Phasen bilden formal nach, was die Erzählung inhaltlich bestimmt: die Erzählung verläuft in Schüben von psychischer Störung und psychischer Beruhigung. Die Ereigniszentren können entweder - wie die zwei Tage dauernde Eingangsphase - wiederum einen längeren Zeitraum oder aber - wie die fünfte Phase, die vom Lied der Magd und einem daran anknüpfenden Gespräch mit Frau Oberlin, das Lenz am Abend desselben Tages fortsetzt, berichtet - Ereignisse nur eines Tages umfassen. Entscheidend ist also nicht die Lange des Zeitraums, sondern 28 Zu diesem Begriff E. Lämmert (s. Anm. 22), S. 73-82.

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entscheidend ist, daß die in ihn fallenden Ereignisse untereinander durch feste zeitliche Beziehungen definiert sind. Bis zum Bericht von Oberlins Rückkehr besteht Büchners Erzählung aus sechs solchen Phasen, und die Ereigniszentren fußen in fast jedem Falle auf Mitteilungen in Oberlins Bericht. Die zweite Phase - auf die dabei auftretende Textstörung werde ich noch eingehen - setzt ein mit der Schilderung eines Spaziergangs in eine Gebirgslandschaft im Neuschnee (10.14ff.). Der Spaziergang ist von so wohltuender Wirkung, daß Lenz den Wunsch äußert, »wohl einmal predigen« zu dürfen, was für »nächsten Sonntag« verabredet wird (10.36). Wie viele Tage bis zur Predigt, also bis zur dritten Phase vergehen, ist wiederum unbestimmt. Daß es weniger als sieben sind, macht die Wendung »nächsten Sonntag« klar; daß es mehr als einer sein muß, zeigt die folgende Mitteilung: »Lenz [...] dachte auf einen Text zum Predigen und verfiel in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig.« (11.1) Auf die Predigt - das Zentrum der dritten Phase - folgt eine in ihrem Zeitrahmen merkwürdig unbestimmte Ereignisfolge bis zur folgenden Nacht - »der Mond schien die ganze Nacht« (12.15) - und ein Bericht über ein Gespräch mit Oberlin, das Lenz am nächsten Tag - »Am folgenden Morgen kam er herunter« (12.17) - führt. Damit kommen wir an die Peripherie der dritten Phase. Deren vorletzter Satz beginnt mit der Bestimmung »Ein andermal« (13.18), was sich notfalls noch auf den Tag nach der Predigt beziehen läßt. Die letzten zwei Teilsätze - »Lenz [...] fing an wie Stilling die Apocalypse zu lesen, und las viel in der Bibel« (13.22) - erwecken den Eindruck, hier sei von einem längeren Zeitraum die Rede. Die vierte Phase beginnt wie die zweite mit einem einmaligen, aber im Verhältnis zu dem Vorhergehenden unbestimmten Ereignis. Oberlin hatte -casmi^wviicftüitdtL WmJrAta \O l*t\ iafo "Iforcnmarm sdnon bei aer ^red'igt in Waldersbach war. Büchner läßt zwischen Predigt und Kaufmanns Ankunft einige Zeit verstreichen und setzt dann ein mit der unbestimmten Formulierung: »Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut in's Steinthal.« (13.25) Es folgen die ausführliche Erzählung von einem Tischgespräch und eine kurze Auseinandersetzung zwischen Lenz und Kaufmann »Nach dem Essen« (16.20). Die folgenden Ereignisse der Phase - Oberlins Abreise, auf der ihn Lenz ein Stück Weges begleitet, und seine Rückwanderung mit einem nächtlichen Aufenthalt in einer Hütte - sind in ihrer Abfolge genau fixiert. Danach greift der Erzähler wiederum zu iterativen Formulierungen: »halbe Nächte im Gebet« (19.34); »seine Thränen waren ihm dann wie Eis« (20.2); »Des Tags saß er gewöhnlich« (20.7). In diese Unbestimmtheiten hinein fällt als Beginn der fünften Phase ein wiederum bestimmtes, aber nicht zeitlich fixiertes Ereignis: das Liebeslied einer Magd und Lenz' Gespräch mit Frau Oberlin über ein »Frauenzimmer«, ein Gespräch, das Lenz »Gegen Abend« (20.30) fortsetzt und - wir sind damit wieder an der Peripherie - »später noch oft« (21.13) wiederholt. Es 20

folgen weitere iterative Sätze - »Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien« (21.17) - und schließlich kalendarisch fixierte Ereignisse als Zentren der sechsten Phase: »Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben [...]. Am vierten trat er plötzlich in's Zimmer [...].« (21.25 ff.) Vor der Heimkehr von Fouday am Abend erleidet Lenz eine schwere psychisch-religiöse Krise, deren Nachwirkungen »Am folgenden Tag« (22.35) noch spürbar sind. Zwischen dieser Phase und der nächsten, die mit Oberlins Rückkehr einsetzt, liegt wieder eine unbestimmte Zeitspanne (23.5): »Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück.« Freunde formaler Symmetrie werden bemerken, daß die Phasen eins bis drei und vier bis sechs Konfigurationen gleicher Art bilden. Die Phasen eins und vier führen Zustandsveränderungen herbei und sind deshalb zweigliedrig - auf den unruhigen Gang »durch's Gebirg« folgt als Anlaß zur Beruhigung der Ritt durch das Tal; auf das Kunstgespräch die den neuerlichen Umschlag herbeiführende Nacht in der Hütte -; die Phasen zwei - Predigtwunsch - und fünf - Gespräch über »das Frauenzimmer« sind jeweils zeitlich kurz und mit der jeweils folgenden Phase, der Predigt bzw. dem Erweckungsversuch an dem Kind in Fouday, inhaltlich verbunden. Wie verhält sich dieses schubweise Erzählen zum Chronikalstil und den kalendarischen Angaben, mit denen die Erzählung ja einsetzt und zu denen sie gelegentlich zurückkehrt? Historisch gilt: am Mittwoch, den 21. Januar, begleitete Lenz Oberlin zu einer Beerdigung im benachbarten Belmont, kritisierte danach Oberlins Predigt, besuchte mit ihm »die Schuhlen der Conductrices« und »äuserte mir seinen Wunsch für mich zu predig.« (O 65 ff.) Dies tat er vier Tage später, am Sonntag, den 25. Für die Erzählung -gilv. £ . -. «yr»£in. _ ! k/ei Qb/wrlis·. *w?A, -ZOT* {«^^«ZR^dettiT?^, «1& > lra?plvzi*i TÄO. 21., begleitet er ihn auf einem Ritt durch das Gebirgstal, wobei er auch »die Schule besucht« (9.5). Es folgt eine unruhige Nacht, dann ein unbestimmter Zeitraum der psychischen Beruhigung - »Doch jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger« (9.36) -, dann der Tag des Predigtwunsches, wiederum ein unbestimmter Zeitraum - »und seine Nächte wurden ruhig« (11.2) - und schließlich der Predigtsonntag. Es scheint unmöglich, diesen Erzählstoff in den durch Oberlins Bericht abgesteckten Zeitrahmen hineinzupressen. Denkbar und angesichts der Tatsache, daß ein Teil der Schlußpartien der Erzählung die chronikalischen Verhältnisse respektiert, sogar wahrscheinlich ist, daß der Autor zunächst glaubte, sich im Rahmen von Oberlins Zeitangaben bewegen zu können, dann jedoch beim Schreiben diese Orientierung aufgab und dafür das Gefühl längerer Zeiträume zu erwecken suchte. Auch deutet sich der Grund für diese Verfahrensänderung an dieser Stelle schon an. Sehr viel stärker als Oberlin akzentuiert Büchner die psychischen Störungen, unter denen Lenz in seiner Erzählung von Beginn an leidet. Dementsprechend muß er die 21

Beruhigung, die zum Predigtwunsch führt, genauer darstellen. Er leistet dies durch Einfügung einer eigenen Erzählphase, in der Lenz den Predigtwunsch äußert. Die unbestimmten Zeiträume zwischen den Phasenzentren geben ihm zugleich Gelegenheit, das in anekdotischer Präzision Erzählte breiter zu entfalten und vor allem die Nachwirkungen der Ereignisse zu zeigen. Spätestens bei der Niederschrift der dritten Phase muß Büchner auf jeden Fall den etwaigen Vorsatz, die chronikalische Zeitstruktur beizubehalten, aufgegeben haben. Da er Lenz offenbar im Zustand psychischer Beruhigung zeigen wollte, fügte er nach dem Predigtsonntag einen weiteren Tag und einen unbestimmten Zeitraum ein und ließ darum Kaufmann, der in Wirklichkeit am Predigtsonntag in Waldersbach eingetroffen war, erst später zu einem unbestimmten Zeitpunkt - »Um diese Zeit« - ins Steintal kommen. Wie zu Beginn der zweiten Phase verteilt er also auch hier historisch zeitgleiche Ereignisse auf verschiedene Tage, die durch unbestimmte Zwischenräume voneinander getrennt sind. Freilich führen diese Einfügungen - sowenig wie die folgenden Erfindungen des Autors - nicht zu textiriternen Widersprüchen, denn auch ein pedantischer Leser wird nicht nachrechnen wollen, ob zwischen dem 20., dem Tag der Ankunft, und dem 3. Februar, dem Tag, da Lenz von dem verstorbenen Kind hört, genügend Tage im Kalender sind, um die Ereignisse aufzunehmen. Büchner mag also, als er die kalendarischen Daten der sechsten Phase niederschrieb, angenommen haben, er bewege sich noch immer im vorgegebenen kalendarischen Rahmen. Die mit Oberlins Wiederkehr beginnende - in der Zählung also: siebte - Phase beginnt nach demselben Muster wie die vorangegangenen mit der unbestimmten Angabe: »Einige Tage darauf« (23.5). Dies bekräftigt noch einmal die Vermugang herzustellen. Es ist klar, daß diese Form des Übergangs Büchner gezwungen hätte, das zunächst fixierte Enddatum des 8. mit Abreise am 9. und Ankunft in Straßburg am 10. entweder ganz fallenzulassen oder nach Maßgabe der tatsächlich erzählten Ereignisse zu verändern. Die Berichtpassage, so nehme ich aus einer Reihe von noch auszuführenden Gründen an, hätte der Autor dabei höchstens in einzelnen Elementen, aber nicht im ganzen verwertet. Exkurs: Kindeserweckung Erklärungsbedürftig ist, warum Büchner bei Lenz' Versuch der Kindeserweckung von Oberlins Zeitangaben um einen Tag abweicht. Hierzu habe ich nur Vermutungen anzubieten. Sie betreffen die komplizierten Kongruenzen und Widersprüche zwischen Oberlins und Büchners Text und dabei vor allem die Frage, was der historische Lenz in Fouday zu erreichen 22

suchte, was der historische Oberlin und nach ihm August Stöber davon mitzuteilen oder zu verbergen für gut hielten und in welchem Sinne Büchner von demselben Ereignis erzählt. Es wird sich zeigen, daß bei dieser Differenzbestimmung die Daten eine Rolle spielen. Über die hier fraglichen Handlungen des historischen Lenz gibt neben Oberlins Bericht auch ein Brief Pfeffels an Sarasin vom 25.2. 1778 Auskunft.29 Von unwichtigen oder auf Mißverständnissen beruhenden Angaben des ferneren Zeugnisses sehe ich hier ab. Demnach besuchte Lenz »ein todtkrankes Kind« und, »[ujngeachet keine Hoffnung zum Aufkommen war, weissagte doch Lenz in einer Art von Begeisterung, das Kind würde nicht sterben. Des ändern Tags« ging er wieder zu dem Kind, auf dem Weg »gerieth er in eine heftige Gemüthsbewegung, verdoppelte seine Schritte und kam wenige Augenblicke nach dem Hinschiede des Kindes bei der Mutter an«. Er schickte dann alle aus der Kammer hinaus, betete, »warf sich auf den Leichnam und versuchte es eine ganze Stunde lang, ihn von denTodten aufzuwecken«. Gegenüber dieser eindeutig einem einzigen Zeitabschnitt angehörenden Ereignisfolge ist Oberlins Bericht in gewisser Weise mehrdeutig. Er notiert (O 110ff.), »daß HE. L— nach vorhergegangenen Eintägigem Fasten, Bestreichen des Gesichtes mit Asche, Begehrung eines alten Sackes den 3ten Hornung ein zu Foudaj verstorbenes Kind, so eben Friderika hieß, auf weken wolte. Welches ihm aber fehl geschlagen.« Der Text läßt sich auf zwei Arten verstehen, nämlich erstens in dem von Pfeffel überlieferten Sinne derart, daß Lenz am 2. Hornung in Gedanken an das kranke Kind zu fasten begann und sich am 3. nach Fouday begab, wo er jedoch nicht mehr ein todkrankes, sondern ein gerade gestorbenes Kind vorfand. Oberlins Auskunft läßt sich zweitens zur Not auch in dem Sinne verstehen, daß das Kind schon am 2. Hornung gestorben war, daß Lenz - ebenfalls am 2. Hornung - vom Tod des Kindes hörte, den Tag fastete und dann am 3. Hornung die Tote aufwecken wollte. Im ersten Falle hatte Lenz die Absicht, eine Todkranke mit magisch-religiösen Mitteln zu heilen. Da die Kranke »wenige Augenblicke« vor seinem Eintreffen gestorben war, wurde aus diesem Heilungsversuch eher zufällig der Versuch, eine Tote »aufzuwecken« (Pfeffel und Oberlin), der jedoch zu einer Zeit, da die Grenze zwischen Leben und Tod ohnehin für medizinische Laien schwer bestimmbar war, noch im Bereich des Rationalen lag. Oberlins lapidarer Kommentar »Welches ihm aber fehl geschlagen« läßt darauf schließen, daß auch er einen solchen Versuch zur Not noch billigen konnte.30 Im zweiten Falle dagegen beabsichtigte Lenz vorsätzlich und planmäßig die Erwek29 Vgl. Dedert/Gersch (s. Anm. 1), S.380f. zu 110-114. Der Brief Pfeffels ist das einzige Zeugnis, das auch ein von Büchner erzähltes Detail der Kindeserweckung überliefert: »warf sich auf den Leichnam« (ebd. S. 381); »er warf sich über die Leiche nieder« (22.4). 30 Vgl. Vie de]. F. Oberlin (s. Anm. 24), S. 159 zu Oberlins Bericht über »Les trois pretendus morts ressuscites.«

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kung einer bereits Toten und ließ deshalb einen Tag mit Fasten und Gebet verstreichen, ehe er sich nach Fouday begab. In seinem Morgenblatt-Artikel berichtet August Stöber das Ereignis in einem zwischen beiden Varianten schwankenden Sinne. Einerseits verschweigt er das durch den rituellen Charakter und die Zeitverlängerung anstößige Ereignis des eintägigen Fastens; andererseits begibt sich Lenz hier eindeutig mit der Absicht einer To tenerweckung nach Fouday. Stöber berichtet: Lenz habe erfahren, »daß in Bondaj [sie], bei Waldbach, ein Mädchen, Namens Friederike, gestorben war; sogleich suchte er einen alten Sack hervor, bestrich Gesicht und Haare mit Asche und machte sich auf, das Kind ins Leben zu rufen.«31 Büchner erzählt das Ereignis eindeutig im zweitgenannten Sinne, verstärkt aber die Problematik. Lenz hört von dem Todesfall in Fouday, verbringt einen Tag mit rituellen Handlungen und geht dann zum Zwecke der Erweckung einer am Vortag Gestorbenen nach Fouday. In seiner später edierten Fassung von Oberlins Bericht überliefert August Stöber den heiklen Satz abweichend von Oberlin mit der Wendung, daß Lenz »den 3. Hornung ein zu Fouday so eben verstorbenes Kind, das Friederike hieß, aufwecken wollte«.32 Die von Oberlin auf den Namen des Mädchens bezogene Gleichsetzung (O 113: »so eben Friderika hieß«) deutet Stöber also zu einer Verringerung der Zeit seit dem Todeseintritt um. Es ist denkbar, daß Stöber damit bereits auf das reagierte, was ihm Büchner über seine Erzählung mitgeteilt haben mag, denn in der Tat stand an dieser Stelle einiges, auch das Oberlin-Vermächtnis Betreffende auf dem Spiel. Büchners Erzählung, Lenz habe wie Jesus eine des längeren Tote erwecken wollen, hätte Oberlins billigenden Kommentar als obskurant erscheinen lassen und zeigte zugleich Lenz als Opfer sehr heftiger religiöser Wahnvorstellung^ eine Tendenzv die die letzte Arbeimtu£e von. Büchners Erzählung insgesamt aufweist und die der von Daniel Ehrenfried Stoeber und August Stöber gegebenen Erklärung des Wahnsinns aus Liebeskummer zuwiderläuft.33 Büchners inhaltliche Abweichung führte zugleich zu einer Veränderung der in der Quelle überlieferten Chronologie. Bei Oberlin heißt es, Lenz habe sich am 3. nach Fouday begeben; Büchner erzählt, Lenz habe am 3. vom Tod des Kindes gehört und sich am 4. nach Fouday begeben. Wenn Büchner den Text im erstgenannten Sinne verstand, aber verändern wollte, so konnte er das Todesdatum beibehalten, mußte dann aber einen Tag 31 August Stöber: Der Dichter Lenz. — In: Morgenblatt für gebildete Stände. Nr. 251, Oktober 1831, S. 1002. 32 Der Dichter Lenz, im Steinthale. — In: Erwinia. Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung. Nr. l, 5. Januar 1839, S. 8. 33 Vie de J. F. Oberlin (s. Anm. 24), S. 215: »une passion malheureuse pour une jeune Allemande le jeta dans une melancolie profonde«; im gleichen Sinne August Stöber (s. Anm. 31), S. 998. 24

hinzuerfinden, den Gang nach Fouday also auf den 4. legen. Denkbar ist wie gesagt jedoch auch, daß er die Wendung »den 3ten Hornung ein zu Foudaj verstorbenes Kind« mißverstand im Sinne von >ein zu Foudaj den 3ten Hornung verstorbenes KindTextrettung< bemühte Herausgeber auch dort, wo sie dramaturgischen Platz entdeckt zu haben glauben, noch Entwurfsszenen ein, die sie nicht gerne opfern wollen.36 Der Lews-Text steht über Franzos' WozzeckFragment, insofern Gutzkow, Hubert Gerschs Nachweisen zufolge, die Einzelheiten ungleich sorgfältiger wahrte als Franzos. Grundsätzlich ist jedoch der von und nach Gutzkow herausgegebene Text nicht höher einzustufen als Lehmanns »Lese- und Bühnenfassung« des Woyzeck. Die Editoren haben zu erwägen und zu entscheiden, ob sie besser daran tun, den Lenz-Text in der überlieferten Form zu bewahren oder durch eine andere Präsentation als eine vom Autor nicht intendierte >Lesefassung< kenntlich zu machen. 2.3.5. Nachträge, Arbeitsnotizen Einer kurzen Erwägung bedarf an dieser Stelle noch der auffällige Beginn der zweiten Phase. Die schon genannte iterative Auskunft »Doch jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger« (9.36) leitet die zweite Erzählphase ein, deren Merkmal die Beruhigung ist. Dem Teilsatz »das neue Testament trat ihm hier so entgegen, und eines Morgens ging er hinaus« (10.2 ff.) folgt eine Reihe von Wie-Sätzen, darin nach einem Gedankenstrich die fragwürdige Wiederholung »Er ging des Morgens hinaus« (10.14). Zur Erklärung des seltsamen Befundes sucht Poschmann den Wendungen »eines Morgens ging er hinaus«, »Er ging des Morgens hinaus« verschiedene Bedeutungen zu geben: »Jetzt in der Wiederholung liegt die Betonung auf dem bestimmten Morgen, nämlich an dem er eingedenk des eben Erinnerten hinausging.«37 Jedoch bezeichnet gerade auch schon in der Wendung »eines Morgens« das Wort »eines« als Zahlwort oder zahlwortartig einen bestimmten Morgen unter der vielfachen Menge, analog den Formen (Danton9s Tod Repl. 18,117, 528): Sokrates fragt den Alkibiades, »als er ihn eines Tages finster und niedergeschlagen fand«; Marion erzählt: »Er kam eines Morgens und küßte mich [...]«; Danton prophezeit: »Eines Tages wird man die Wahrheit erkennen.« Auch Poschmanns Erklärungsversuch der Wie-Sätze ist so wenig überzeugend, daß ich der Einschätzung Gerschs folge, die Wie-Anreihung sei eine »Gedächtnisstütze für den Autor selbst, ein Notat zur späteren Ausführung«.38 Für diese Deutung spricht außerdem, daß die in den Wie-Sätzen enthaltenen Elemente im wesentlichen auf Informationen einer Stoffquelle beruhen, auf 36 Zur Kritik dieses Verfahrens ebd., sowie die Studienausgabe des Woyzeck, die Thomas Michael Mayer und ich demnächst vorlegen werden. 37 Poschmann (s. Anm. 2), S. 824. 38 Vgl. Gersch, Diskussionsvorlage (s. Anm. 1), S. 9.

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Daniel Ehrenfried Stoebers Oberlin-Biographie.39 Offenbar wollte Büchner weiteres aus der Vie dej. F. Ob erlin geschöpftes Material über Oberlins religiöse Erfahrungen einfügen und wählte dazu als passenden Ort den Übergang von der ersten Phase, die von Lenz' Panikanfällen erzählt, zur zweiten Phase, die den Helden im Zustand zunehmender Beruhigung zeigt. Das eingeschobene Material hätte an dieser Stelle Lenz' psychische Stabilisierung mitbegründen können. Verschiedene Indizien, darunter auch die Herkunft des Materials aus dieser Quelle, lassen vermuten, daß Büchner zunächst den Erzählzusammenhang >[...] und eines Morgens ging er hinaus. Die Nacht war Schnee gefallen [...]< niedergeschrieben hatte und dann zu einem späteren Zeitpunkt, vermutlich am Rand, den seit Gutzkow dazwischen überlieferten Text notierte. Für späteren Einschub spricht vor allem, daß die Wie-Sätze deutlich den Charakter von Arbeitsnotizen haben. Wie die Abschreiberin Wilhelmine Jaegle oder der Herausgeber Karl Gutzkow diese Arbeitsnotiz einschätzten, ist schwer zu entscheiden. Die offensichtliche Arbeitsnotiz »Siehe die Briefe« (27.7) hat Gutzkow bewahrt und zugleich durch den Asteriskus-Kommentar »Büchner scheint hier ächte, nicht gedichtete, zu verstehen« als Arbeitsnotiz kenntlich gemacht.40 Eine derartige Kenntlichmachung fehlt bei den Wie-Sätzen. Ersatzweise ist z.B. denkbar, daß Wilhelmine Jaegle nach einem von ihr gesetzten oder mißverstandenen Gedankenstrich eine Glättung versuchte, indem sie die Arbeitsnotizen in den Text einfließen ließ und dann den zweiten Einleitungssatz »Er ging des Morgens hinaus« einfügte; denkbar ist auch, daß erst Gutzkow versuchte, einen Erzählzusammenhang zu schaffen. Die Formulierung »des Morgens« statt des näherliegenden »eines Morgens« klingt dabei wie eine bewußte Notlösung mit dem Ziel, eine komplette Textwiederholung zu vermeiden. Die andere Möglichkeit, daß Büchner a'ie Arbeitsnotizen iortlauiena in aer "Zeüe nouene und dann die erste, jetzt überflüssige Wendung »und eines Morgens ging er hinaus« zu tilgen vergaß, halte ich angesichts von Büchners Gewohnheit, Erweiterungen am Rand vorzunehmen, für unwahrscheinlicher. Was für den Anfang der zweiten Phase mit einiger Sicherheit gilt, läßt sich für eine frühere Stelle ähnlicher Art wenigstens vermuten. Auf eine Erzählung von Interaktionen zwischen Oberlin und den Talbewohnern »überall zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnungen.« - folgt der Satz: »Dann rasch in's praktische Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht.« (9.4) Auch Oberlin berichtet (O 65), daß er mit Lenz die Schule besichtigt habe. Auch Daniel Ehrenfried Stoeber berichtet von Oberlins Verbesserungen in Kanalisation und Wegebau.41 Büchners Formulierungen legen in ihrer Unmittelbarkeit 39 D. E. Stoeber (s. Anm. 24), S. 182,223, 547 und VI. 40 Gutzkow (s. Anm. 9), S. 102; vgl. Gersch, Diskussionsvorlage (s. Anm. 1), S. 14f. 41 D. E. Stoeber (s. Anm. 24), S. 133 f., 145.

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die Frage nahe, ob Oberlin habe zaubern können und wieviele Wege und Kanäle denn unter seiner Anweisung an diesem einen Tage angelegt bzw. gegraben wurden. Zu erwägen ist hier ebenfalls die Möglichkeit einer Arbeitsnotiz für eine Texterweiterung, die durch die Stoff quelle der Oberlin-Biographie angeregt wurde. Zudem wäre eine Illustration des Merkmals anzunehmen, daß Oberlin »unermüdlich« wirkte.

3. Arbeitsphasen vom April bis November 1835 Daß Büchner das Lenz-Projekt abbrach, hängt mit Veränderungen der politischen Lage im Deutschen Bund zusammen. In den ersten fünf Jahren nach der Julirevolution bestand aus der Sicht der Herrschenden eine instabile, wenn nicht gar potentiell revolutionäre Situation; ab dem Sommer 1835 waren die Kräfteverhältnisse wieder so eindeutig, daß die inzwischen im Publikationsbereich zugestandenen Freiheiten widerrufen werden konnten. Auf sie hatte Büchners publizistischer Förderer Karl Gutzkow gesetzt, als er gemeinsam mit dem jungdeutschen Literaten Ludolf Wienbarg die Gründung einer neuen Zeitung, der Deutschen Revue, in einem badischen Verlagsort und mit einem jüdischen Verleger plante. Das Projekt wurde bekanntlich polizeilich verboten, da Gutzkow seit dem September 1835 in den Mittelpunkt einer breit angelegten Presse- und Justizkampagne geriet, in deren Verlauf er selbst verhaftet und verurteilt wurde, während etwa gleichzeitig ein Bundestagsbeschluß die Publikation und Verbreitung seiner und der übrigen Schriften der oppositionellen Literaten verbot. Die Lenz-Erzählung war zur Publikation in der Deutschen Revue bestimmt; mit dem Verbot entfiel der Zeitdruck zur FertigsteYiung aesüextes. I*'üc1hner mufete um so geneigter sein, aenText vorerst liegen zu lassen, als die Abfassung der Dissertation bis zum Frühjahr 1836 und die Bemühungen um eine Stelle an der Universität Zürich jedenfalls Vorrang hatten. Außerdem dürfte er, der sich als Dichter offenbar an Shakespeare maß, Erzählungen ohnehin keinen zentralen Platz in seinem OEuvre eingeräumt haben. In dem Brief vom I.Januar 1836, in dem er seinen Eltern die Komplikation des Publikations-Projekts mitteilte, schrieb er (HA II452): »Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Dramas [...]«. Über die Gründung der Deutschen Revue hatte Gutzkow Büchner am 28. August 1835 informiert und dabei zugleich versucht, ihn als ständigen Mitarbeiter anzuwerben (HA II 480): »Schreiben Sie mir [...], ob ich, monatlich wenigstens l Artikel (spekulativ, poetisch, kritisch, quidquid fert animus) von Ihnen erwarten darf?« Er sei, so berichtet Büchner in einem Brief an die Eltern vom 20. September 1835, auf diese Anwerbung nicht eingegangen, sondern habe »meiner Studien halber die Verpflichtung zu regelmäßigen Beiträgen abgelehnt.« (HA II448) »Vielleicht«, so läßt er 30

immerhin offen, »daß Ende des Jahres noch etwas von mir erscheint.« (Ebd.) Gutzkow gegenüber scheint Büchner eine dezidiertere Ablehnung ausgesprochen zu haben; denn dieser reagierte auf eine Absage in seinem Brief vom 28. September damit, daß er den unwilligen Mitarbeiter wenigstens zu einem einmaligen und unverbindlichen Beitrag zu überreden suchte (HA II 481): »Ich hatte sicher auf Sie gerechnet, ich spekulirte auf lauter Jungfernerzeugnisse, Gedankenblitze aus erster Hand, Lenziana, subjektiv & objektiv: Sie können auch Ihre abschlägige Antwort nicht so rund gemeint haben«. Er wies dann Büchner auf die nötigen Strategien zur Etablierung auf dem literarischen Markt hin und schlug schließlich vor: »In der That, lieber Büchner, häuten Sie sich zum 2ten Male: geben Sie uns, wenn weiter nichts im Anfang, Erinnerungen an Lenz: da scheinen Sie Thatsachen zu haben, die leicht aufgezeichnet sind. Ihr Name ist einmal heraus, jetzt fangen Sie an, geniale Beweise für denselben zu führen.« Gutzkow forderte also Büchner auf, eben das zu tun, was dieser dem Brief an die Eltern zufolge ohnehin vorhatte, nämlich zu einer der ersten Nummern der Zeitschrift einen Text beizusteuern, und er nannte Lenz als für ihn naheliegenden, da schon in früherer Korrespondenz erwähnten Gegenstand. Im folgenden Brief an die Eltern vom »October 1835« teilte Büchner ihnen jetzt Genaueres über seine nächsten Schreib- und Publikationspläne mit (HA II 448): »Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde. Ich denke darüber einen Aufsatz in der deutschen Revue erscheinen zu lassen. Auch sehe ich mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über einen philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um.« Zwei Projekte standen also nebeneinander: der »Aufsatz« über Lenz und die Suche nach einem Dissertationsthema. Das zweite Tro'jeKt, due Dissertation über das Nervensystem der Barbe, hat Büchner im Mai 1836 abgeschlossen, das erste nach dem Verbot der Deutschen Revue fallengelassen. Daß die Zeitschrift Zielscheibe politischer Angriffe wurde, wußte er bereits Anfang November (Brief an die Eltern vom 2. November, HA II 449); daß ihn die Folgen des polizeilichen Verbots der Zeitschrift nicht schädigten, schrieb er den Eltern, wohl als Antwort auf deren Nachfrage, im Brief vom I.Januar 1836 (HA II451): »Einige Artikel, die für sie bereit lagen, kann ich an den Phönix schicken.« Zu dem, was da »bereit« lag, gehörte vermutlich auch das Lenz -Manuskript in der später von Gutzkow veröffentlichten und das heißt jedenfalls: in einer noch nicht endgültig publikationsfähigen Form. Mit genügender Sicherheit läßt sich demnach sagen, daß Büchner im Herbst 1835 an dem Lenz-Projekt gearbeitet hat, denn wenn Lenz im September schon in der heute bekannten Form vorgelegen hätte, so hätte Büchner auf Gutzkows Aufforderung zur Mitarbeit nicht eine »abschlägige Antwort« geschickt, sondern mit Dank eimen schon weitgehend fertigen 31

Artikel angeboten. Ebenso hätte er seinen Eltern am 20. September nicht nur vage »etwas von mir« angekündigt, sondern er hätte, wie er es dann im Oktober tut, gleich auf sein Lenz-Projekt hinweisen können. Nehmen wir an, Lenz hätte zur Zeit des Oktoberbriefs an die Eltern »bereit« gelegen, dann hätte Büchner entweder dies mitgeteilt oder seine Mitteilung doch anders und bestimmter formuliert. Aus den Briefen läßt sich also schließen, (erstens) daß Büchner zwar am 20. September schon Publikationspläne hatte, daß sie ihm aber doch noch zu unsicher schienen, als daß er Gutzkow hätte zusagen und seinen Eltern etwas Genaueres hätte mitteilen wollen, und (zweitens) daß sich diese Pläne bis zum Oktoberbrief an die Eltern so weit konkretisiert hatten, daß er dezidiert über eine Publikation sprechen konnte, ohne aber schon einen annähernd publikationsfähigen Text vorliegen zu haben. Demnach hat Büchner ab Ende September an dem Lenz-Projekt gearbeitet und bis spätestens Ende November, der Eröffnung des Prozesses gegen Gutzkow, eine Niederschrift angefertigt. Daß dies die erste Niederschrift zu dem gesamten Projekt war, ist nicht wahrscheinlich. Zwar trauen viele dem Genie Büchner genialische Würfe eher zu als langwierige Konzeptarbeiten, und der Autor hat im Brief an Gutzkow vom [21.] Februar 1835 mit der Rede von »höchstens fünf Wochen« Entstehungszeit für Danton's Tod den Mythos als erster gefördert, den Gutzkow dann verbreiten half, indem er auf die »Hast« der Arbeit an dem Revolutionsdrama hinwies.42 Jedoch ist für Danton's Tod mit großer Sicherheit nicht nur mit einer Entstehungszeit von viereinhalb Monaten zu rechnen,43 sondern vor allem auch mit der wiederholten Niederschrift einzelner Szenen und des gesamten Dramas, mit einem Entstehungsprozeß also, wie er für die Entstehungsgeschichte des Woyzeck mit der Abfolge der einzelnen Handschriften dokumentiert ist. Wir WDCTI aVitrri , YCIT Le^z einem ätarindnen üntstdnungsprozeft zu rechnen, also ebenfalls mit Notizen, Entwürfen und Konzepten, die der Niederschrift vorausgingen, und wir sollten in diesem Sinne auch August Stöbers Mitteilung verstehen, Büchner trug sich »lange Zeit mit dem Gedanken Lenz zum Helden einer Novelle zu machen«.44 42 K[arl] G[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit Quni 1837). - In: GW, Bd. 9, S. 332. 43 Vgl. meinen Aufsatz Zur Rekonstruktion (s. Anm. 18), S. 107. 44 August Stöber (Hrsg.): Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim. [...].- Basel 1842, S. 11. - Hauschild schreibt mit nachfolgendem Zitat Stöbers (Hauschild 1993, S. 501): »Zwar konnte Büchner das Lenz-Projekt erst als Exulant ernsthaft in Angriff nehmen, doch trug er sich [...]«, und vermutet eine längere, auf den Aufenthalt in Gießen zurückgehende Schreibabsicht; jedoch fehlt eine ausreichende Begründung. Hauschild konstruiert nur als »das Grunderlebnis für die Identifizierung mit Lenz: die unerträgliche Trennung von der Verlobten in Straßburg, die Büchners Aufenthalt in Gießen 1833/34 so problematisch machte«. Als Beleg dient die Tatsache, daß Büchner in einem Brief an Wilhelmine Jaegle im März 1834 aus Lenz* Gedicht »Die Liebe auf dem Lande« zitierte. Es ist bedauerlich, daß Hauschild die Leistung seiner Büchner-Biographie unter anderem und immer wieder durch derartige trivialpsychologische Antäuschungen schmälert. Ge-

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Die externen Zeugnisse ergeben eine frühe Phase der Beschäftigung mit dem Projekt im Frühjahr 1835. Im März und April hatte Gutzkow in mehreren Briefen versucht, Büchner als Mitarbeiter für das Literaturblatt des Phönix zu gewinnen, und ihm zugleich zu weiteren literarischen Arbeiten, vor allem zur Abfassung von Novellen, geraten. In einem verlorenen Brief wohl von Ende April oder Anfang Mai 1835 teilte Büchner Gutzkow daraufhin etwas von literarischen Plänen, Lenz betreffend, mit, und zwar offenbar in so allgemein gehaltenen Worten, daß Gutzkow sich in einem Brief vom 12. Mai zu der Nachfrage genötigt sah, ob er dabei an den Sturm und Drang-Dichter denken solle (HA II 479): »Ihre Novelle Lenz soll jedenfalls, weil Straßburg dazu anregt, den gestrandeten Poeten zum Vorwurf haben? Ich freue mich, wenn Sie schaffen.« Wie vage Büchners Mitteilung auch gewesen sein mag, sie zeigt an, daß er zuvor, also zwischen Mitte März und Anfang Mai, bereits Zugang zur Quelle und Grundlage seines Projekts, also zu der von August Stöber hergestellten Abschrift von Oberlins Bericht »Herr L «, erhalten hatte und daß er bei der Lektüre dieses Textes und mit Gutzkows Anmahnungen im Ohr die Niederschrift eines Textes zu planen begann. Gutzkows Folgesatz, »Ich freue mich, wenn Sie schaffen«, läßt darüberhinaus vermuten, daß Büchner von mehr sprach als von bloßem Denken oder Planen. Der Nachlaß von Georg Fein, den Hauschild erstmals in seiner Biographie ausgewertet hat, bestätigt diese Vermutungen. Fein berichtet für den 2. Mai 1835 über ein Mittagessen bei Wilhelm Schulz und notiert: »Hernach kommt der Flüchtling Büchner aus Darmstadt, mit dem wir über Göthe sprechen.« Er habe dann am 10. Mai - so ein weiterer Eintrag »Morgens bei Büchner das interessante Aktenstück Oberlins über Lenz gelesen. [...] Abends spreche ich auf dem Kasino mit Dürrbach und ändern Üuei Gc/iVie, Lemz, Oberiin - .^. *.« am \\.\f&CL ^cVAk&ladri «i·. »Morgens bei Büchner die Briefe von Lenz an Salzmann im Morgenblatt und das Protokoll der deutschen Gesellschaft in Straßburg, bei welcher Lenz Sekretair war, gelesen; darüber ganz melancholisch und nichts gethan. Abends mit Willigens, Schlund, Braun und Dietz in der Axt zusammen, und mich etwas angetrunken.«45 Auch läßt sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bestimmen, was Büchner in dieser Zeit Lenz betreffend >geschafft< oder auch >geschaffen< haben mag. Büchner mußte sich in die Abschrift von Oberlins Bericht »Herr L «, die er von August Stöber erhalten hatte,46 hineinfinden und aus ihr einen eigenen Text herstellen. Dieser Text war weniger selbständig als die uns vorliegende Erzählung, ja über seine wirkliche literariwiß litt Büchner unter der Trennung von Wilhelmine Jaegle; aber wie konnte ihn das zur »Identifizierung mit Lenz«, noch dazu dem Lenz des genannten Gedichts, veranlassen? 45 Überlieferung: Handschriftliches Aufzeichnungsheft, NStA Wolfenbüttel, Nachlaß Fein,Nr.42,fol.l9v,20v. 46 Vgl.Anm.25. 33

sehe Verwertbarkeit ließ sich offenbar in dieser Phase noch kein Urteil fällen, denn seiner Pläne sicher wurde sich der Autor erst im Zuge der zweiten Arbeitsphase im Herbst 1835. Büchner dürfte um diese Zeit, also im Mai 1835, einen an Oberlins Bericht orientierten, geringfügig erweiterten Text verfaßt haben, von dem uns der zweite Teil als chronikalisch verfahrender Schlußteil des Drucks durch Gutzkow überliefert ist.

4. Erste Arbeitsstufe 4.1. Erweiternde Quellenbearbeitung Auf der ersten Arbeitsstufe mußte es Büchner darum gehen, die verwendbaren Informationen der Quelle festzuhalten und die Brauchbarkeit des Stoffes für eine Erzählung auszuprobieren. Es ging also um die Bearbeitung von Oberlins Text und gelegentliche eigene Erfindung. Wie Büchner dabei mit dem ersten Teil von Oberlins Bericht verfuhr, wissen wir nicht, da mit der Überarbeitung auf der dritten Stufe dieser Textteil überflüssig und möglicherweise noch von Büchner selbst beseitigt wurde. Wie er mit Oberlins zweitem Berichtsteil verfuhr, ist aus dem uns vorliegenden chronikalischen Textteil ersichtlich. Als Textbearbeiter änderte er die Personalpronomina (»ich« zu »er« und »Oberlin«) sowie die Tempora und Modi der Verben, und er glättete oder kontrahierte die wenigen Stellen, wo Oberlin nicht chronologisch erzählte. Wo Oberlin, wie z.B. bei der Erinnerung an die Laute, die der zum Brunnen rennende Lenz ausstieß, angab, er vermute jetzt aufgrund späterer Informationen, Lenz habe »Friedrika« geruien\O'Y%N/), setzte^üdnner ^leidn aiesentarnen em.l^dben a'iese im einfachen Abschreiben leicht zu leistende quasi-redaktionelle Bearbeitung traten auf der gleichen Arbeitsstufe vorzunehmende punktuelle Textverkürzungen und Texterweiterungen. Diese reichen von einzelnen Wörtern bis hin zu ganzen Sätzen und - in den eben genannten Beispielen - zu ganzen Dialogpartien oder ganzen Szenen. Beispiele von Erweiterungen sind die Einfügung eines ganzen Tages und die Einfügung von vier bei Oberlin nicht einmal angedeuteten Passagen, in denen Lenz jeweils über ein einzelnes Krankheitssymptom klagt. Diese Erweiterungen sind formal dem Chronikalstil von Oberlins Bericht genauestens angepaßt und örtlich und zeitlich - durch Angabe des Tages und der Tageszeit - genau bestimmt. Sie sind also - im Unterschied zu der Berichtpassage - fest in den Text integriert, und ich verstehe sie deshalb als Teilergebnis des ersten Annäherungsschrittes. Im einzelnen handelt es sich um folgende Passagen: 1. Am Tag nach seiner Rückkehr - »[a]m folgenden Morgen« (24.29) findet Oberlin Lenz »im Bett ruhig und unbeweglich« und hört auf eindringliches Befragen die Klagen über die Langeweile, die ihn schließlich 34

»unwillig« stimmen (25.12). Für diese gesamte Passage gibt es in Oberlins Text keinen Anhaltspunkt. Oberlin teilt über Lenz' Befinden vor dem Fenstersturz nichts mit. 2. Für den Nachmittag desselben Tages berichtet Oberlin, Lenz sei mit seinem Aufseher, dem Schulmeister Sebastian Scheidecker, von Waldersbach nach Fouday, dann zurück nach Waldersbach und schließlich wiederum nach Fouday gelaufen. Büchner übernimmt diese Mitteilung und fügt hinzu (26.4ff.), Lenz gehe teils »langsam«, teils »mit verzweifelnder Schnelligkeit« und klage teils über »große Schwäche in den Gliedern«, teils über seine Angst angesichts der Landschaft, die »so eng« sei, »daß er an Alles zu stoßen fürchtete.« 3. Vor dem Ereignis des zweiten Fenstersturzes am 7. Februar hält Oberlin als Auffälligkeit einen abendlichen Spaziergang von Lenz in Richtung Bellefosse fest. Büchner verlegt den Fenstersturz auf den folgenden Tag und berichtet einleitend: »Den 8. Morgens blieb er im Bette« (29.33). Diesmal gibt Lenz als Grund an, »er glaube gar nicht, daß er gehen könne, jetzt endlich empfände er die ungeheure Schwere der Luft.« (29.36f.) 4. Für den Abend berichtet Büchners Erzählung in Anknüpfung an die von Oberlin berichtete Begegnung auf dem Wege nach Bellefosse von Lenz' Klage über akustische Halluzinationen: »Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt« (30.12 ff.). Zwei dieser Erweiterungen beginnen mit demselben Erzähleingang »Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Oberlin hinauf in sein Zimmer, er lag im Bett ruhig und unbeweglich« (24.29ff.), »Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast nackt auf dem Bette« (29.33) - und sind auch in der Dialogführung - »Oberlin sagte Vrini, er mögt Ot/tl TVerra^ri« '(2A3Si.Ny, X^c/wlrm ^•pi^tdri ;iWrA Muth zu« (30.l f.) - im wesentlichen identisch. Inhaltlich gilt: Den Symptomen, von denen Oberlins Text schon berichtet, fügt Büchner noch vier weitere, zwei morgendliche und zwei abendliche, Symptomklagen hinzu. Nicht nur also in der Zeitstruktur, sondern auch in der Erzähltechnik merkt man diesen Passagen an, daß sich ihr Autor noch kaum von seinem Basistext zu entfernen wagt, daß er sich diesem vielmehr anzuschmiegen sucht. Auch in Oberlins Bericht wechseln - um noch eine weitere Beobachtung anzufügen - erzählende und dialogische Passagen. Für die Redeteile sind drei Varianten nachweisbar. Das Gespräch mit Lenz über dessen Wunsch, mit den mitgebrachten Gerten geschlagen zu werden, gibt Oberlin in indirekter Rede wieder, und Büchner folgt ihm: »dieß wären die Streiche [...]« (O 186ff.; 24.10ff.). Ebenfalls in Übereinstimmung mit Oberlin gibt Büchner in direkter Rede Lenz' morgendliche Phantasien vom Tod des »Frauenzimmers« wieder (O 266; 27.l ff.). Doch bei den ersten Dialogen nach Oberlins Rückkehr hat Büchner Veränderungen vorgenommen. 35

Oberlin überliefert in direkter Rede Lenz' Frage, »was das Frauenzimmer macht« (O 159), Büchner in indirekter Rede: »was das Frauenzimmer mache« (23.23). Dabei fällt weiterhin auf - und ich werde darauf noch eingehen -, daß Oberlin der Chronistenperspektive entsprechend Lenz' Worte und Lenz' äußeres Verhalten wie Gestik und Miene als zwei getrennte Phänomene wiedergibt. Oberlin berichtet (O 157), Lenz habe »mit freundlicher Mine« nach dem »Frauenzimmer« gefragt. Da er als Chronist keinen objektiv verläßlichen Einblick in die Psyche seines Gegenüber hat, kann er nicht anders vorgehen. Auch Büchner bedient sich im letzten Teil der Erzählung der Außenperspektive des Chronisten. In den später geschriebenen Anfangsteilen der Erzählung wird er - wie ich noch zeigen werde - das Verfahren wechseln. Büchner- so ergibt sich aus alledem - suchte einen Zugang zu einem ihm noch unvertrauten Gegenstand, indem er zunächst Oberlins Text auf eine Art umschrieb, die sich von redaktioneller Bearbeitung nicht wesentlich unterscheidet. Zugleich erweiterte er den Text durch Einfügung von Symptomklagen über Störungen des Zeit-, des Raum-, des Gehörsinns und der Druckempfindung. Auch diese Erweiterungen waren jedoch noch im Zuge einer exzerpierenden Textaneignung zu leisten, da sie ja den Ereignisablauf selbst nicht veränderten. Wahrscheinlich ist demnach, daß Büchner hier absichtlich einen Entwurfstext verfaßte, daß er noch auf Lücke arbeitete und daß er sich über die Art, wie er sich bestimmte Teile von Oberlins Bericht aneignen wollte, noch nicht im klaren war. Am einfachsten muß ihm auf dieser Stufe eine Darstellung von Lenz' Anfällen erschienen sein, die auf der komischen oder komisch-skurrilen Ebene verblieb. 4.2. Komisch-skurrile Charakterzeichnun^ Über die komische oder pathetische Wirkung eines Motivs, auch eines dem Wahnsinn zugehörigen Motivs, entscheidet weniger dessen Inhalt als vielmehr die An der Darbietung. Lears Wahnsinn ist frei von jeglicher Komik. Wo im Lustspiel Wahnsinn dargestellt wird, muß der Effekt, wie sich vor allem an Shakespeares Komödien zeigen läßt, keineswegs immer ein komischer sein. Andererseits weiß jeder, der sogenannte Irrenwitze über sich hat ergehen lassen, daß Erzählungen von psychischen und geistigen Störungen Lachen hervorrufen können. Auch die Bedingungen, unter denen solche Störungen komisch wirken, sind in hinreichend allgemeiner Form angebbar: der Gestörte muß von außen ohne jede Identifikationsmöglichkeit gezeichnet sein, er muß als frei von Leiden, als im Grunde glücklich erscheinen, die Störung muß als in sich konsequent und logisch erscheinen und - was zu der Außensicht beiträgt - ein Überraschungsmoment enthalten. Als artifizielle, der Wirklichkeit enthobene Form der Erzählung kann der Irrenwitz diese Bedingungen in Reinform schaffen. Eine Erzählung 36

von realen psychischen Störungen kann noch immer einzelne der eben genannten Bedingungen erfüllen; in der Regel wird sie jedoch den komischen Effekt mit dem Eindruck des Unheimlichen verbinden und eine schauerliche oder skurrile Wirkung entstehen lassen. Sie unterscheidet sich von dem Entsetzen, das den Menschen dann ergreift, wenn die psychischgeistige Zerrüttung eines anderen Menschen zugleich mit dem Ausdruck intensiven Leidens verbunden ist. Oberlin beschreibt in seinem Bericht sowohl pathetische wie auch skurrile Formen von Lenz' Störung. Die erste Variante dominiert überall dort, wo Oberlin an Lenz das wahrnimmt, was er als Qual des Herzens, als Schuldgefühl, als Verzweiflung an Gott, als suizidnahe Unruhe, als »Winseln mit holer fürchter licher, Verzweiflender Stimme« (O 205) oder auch als frustrierten Sexualwunsch - »Ausflüße« seiner »unbefriedigten Sehnsucht« (O 408) - interpretiert. Für die zweite Variante überliefert er zwei Beispiele, die beide im Zusammenhang mit »Friederike« stehen. Von ihnen ist das zweite das deutlichere. Am Tag nach Oberlins Rückkehr stürzte sich Lenz zum ersten Mal aus dem Fenster, gab sich dann öffentlich als Mörder aus, und - so fährt Oberlins Bericht fort (O 259 ff.) - »unsere Mägde hörten ihn fast die ganze nacht hindurch beten. / Den folgenden Morgen, [...] den 7. Kam er mit vergnügter Mine auf mein Zimmer. [...] Nachdem wir verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit >liebster HE. Pf. das Frauenzimmer von dem ich Ihnen sagte, ist gestorben, - ja gestorben - o du Engel [,..]. Woher wissen Sie das? - >Hieroglyphen Hieroglyphen - u. dann gen Himmel geschaut u. wieder -, >ja - gestorbem [sie] - Hieroglyphen, -«. Der Gestörte zeigt eine »vergnügte Mine«, scheint also frei von Leiden; . . VethaltßCL wird VQCL ajißetx mit bloßer Amgihe d/*c (gduifiettftCL Worte., des Gesichtsausdrucks und der Gestik geschildert; ihm scheint eine - uns freilich verborgene - Stringenz und Logik anzuhaften, während es zugleich auch - Lenz spricht »mit ausnehmender Freundlichkeit« - Momente des Übertriebenen und Überraschenden enthält. Das andere - wie gesagt: weniger deutliche - Beispiel skurriler Störung fällt auf den Tag von Oberlins Rückkehr, wo Lenz zunächst (O 146ff.) »abgebrochene oft Schwer zu verstehende Worte [...] in großer Beklemmung seines Herzens ausstieß«, sich dann jedoch etwas beruhigte. Oberlin berichtet weiter (O 156ff.): »Ich gieng im Zimmer hin u her, packte aus, legte in Ordnung, stehe stehe [sie] mich zu ihm hin, er sachte mit freundlicher Mine: bester HE. Pf. Können sie mir doch nicht, sagen, was das Frauenzimmer macht, deßen Schiksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt?« Als Indiz von Störung ist diese Szene zunächst nur durch ihren unvermittelten Charakter - Oberlin kann ja nicht wissen, wovon Lenz redet - und durch die unerklärliche Stimmungsveränderung - »mit freundlicher Mine« - auffällig. Das zweite Merkmal verstärkt seine Wirkung 37

noch durch die spätere Wiederaufnahme in der schon besprochenen Parallelszene. Die Elemente von Skurrilität, die sich in dem Bericht nur andeuten, scheinen Büchner für die Erzählung nicht ausgereicht zu haben. Während er die spätere Szene mit ihren gehäuften skurrilen Elementen fast ohne jede Veränderung in seinen Text übernimmt, verleiht er der ersten, unauffälligeren, eine schärfere Kontur durch die Einfügungen des Adverbs »plötzlich« und den Fortfall der näheren attributiven Bestimmungen zu dem »Frauenzimmer« (23.22ff.): »Lenz erhob das Haupt, rang die Hände, und sagte: Ach! ach! göttlicher Trost. Dann frug er plötzlich freundlich, was das Frauenzimmer mache. Oberlin sagte, er wisse von nichts [...].« Der Erzähler, der diese Veränderungen in den Text einführte, wollte offenbar nicht nur pathetische, sondern vor allem auch skurrile Störungen darstellen, und in der Tat ergibt sich, wenn man die Quellenerweiterungen auf dieses Merkmal hin untersucht, daß Büchner auf der ersten Arbeitsstufe vor allem Störungen dieser Art hinzuerfunden hat. Das gilt zunächst für das Motiv der »Langeweile«, eine Störung des Zeitsinns, die als Jahrhundertkrankheit der Restaurationsperiode bekanntlich zu den am weitesten verbreiteten Motiven der zeitgenössischen Literatur und zu den Konstanten in Büchners Werk gehört. Daß auch Lenz von Büchner auf der frühen Arbeitsstufe als Opfer dieser Epidemie gezeichnet wird, ist dennoch überraschend, denn Oberlin und nach ihm Büchner zeichnen Lenz insgesamt als einen von äußerster Unruhe Getriebenen. Daß er plötzlich zum Lethargiker werden könne, deutet keiner der beiden Autoren sonst an, und unklar bleibt auch, warum ihn diese Krankheit gerade am Ende einer Nacht überfällt, in deren Verlauf er »mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme« >gewinselt< hatte (24.27). Auch ist Obetlins Hat., Lenz tnö^/s sich an Gott wenden,, m dieser Stelle insofern erstaunlich, als Langeweile - im Unterschied zu Melancholie und taedium vitae - im Bewußtsein der Zeitgenossen ein Zustand ist, dem der Geruch der Frivolität und des Luxurierenden anhaftet, so daß Oberlin sie sicher nicht auf derselben Ebene seelsorgerisch betreut hätte wie die zuvor geäußerten Zweifel an Gottes Vergebung. So erscheint mir das erzähltechnisch nur mechanisch eingefügte Motiv hier inhaltlich deplaziert und jedenfalls im Lustspiel Leonce und Lena, wohin Büchner es später verschoben hat, wesentlich besser aufgehoben. Im einzelnen handelt es sich um folgende wörtliche Übereinstimmungen zwischen Erzählung und Lustspiel: Lenz (24.32ff.): »Ja Herr Pfarrer, sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Figuren an die Wand gezeichnet. [...] ja wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müssiggang. Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Ändern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten 38

lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig«. Leonce und Lena I/l: »Dann, sehen Sie diese Hand voll Sand? [...] Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile

Auch Elemente aus Lenz' Nachsatz - »sehn Sie, jetzt kommt mir doch was ein, wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ich träume oder wache: sehn Sie, das ist sehr richtig [sie], wir wollen es untersuchen« (25.15) - finden sich in dem Lustspiel ( /2): »wir müssen was treiben [...], wir wollen untersuchen wie es kommt, daß der Stuhl auf drei Beinen steht und nicht auf zwei [. . .]«. Die Anekdote wird durch eine Art Regieanweisung eingerahmt (25.12): »Lenz huschte ihm nach und indem er ihn mit unheimlichen Augen ansah«, sagte er etwas, und »er huschte dann wieder ins Bett.« Auch diese von Büchner erfundene Gestik läßt weniger den Gedanken an Leiden, als vielmehr den an Skurrilität aufkommen. Eingeschoben in Lenz' Langeweile-Tirade ist ein Lied, das inhaltlich Sehnsucht nach der Nacht - zum übrigen Befinden des Helden wenig paßt. Es erinnert dagegen in seinem Hauptmotiv an die 3. Strophe des Liedes, das in Leonce und Lena (1/3) Rosetta singt, während der zugleich anwesende Prinz über Langeweile phantasiert. Im Lustspiel sind beide Parteien auf zwei Personen verteilt, hier im Erzähltext wenig überzeugend auf eine. Der Interpret hat an dieser Stelle zwei Möglichkeiten : er kann eine Begründung für diesen inhaltlichen Bruch suchen, oder er kann vermuten, der Text habe hier noch denselben Entwurfstatus wie in Woyzeck Hl, 11, wo der Autor offenbar auf einem Blatt verschiedene Szenenkerne ausprobiert und nacheinander notiert 'hat. Diese Möglichkeit soYite der Interpret zumindest nicht ausschließen und also damit rechnen, daß es sich bei dem Lied um einen Parallelentwurf zum Langeweiledialog handelt. Nachdem Lenz am Morgen eine Störung des Zeitsinns erlitten hatte, folgt im Laufe des Tages eine Störung des Raumsinns (26.4ff.): »Bald ging er langsam und klagte über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er mit verzweifelnder Schnelligkeit, die Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete.« Diese Klage ist inhaltlich ambivalent, und Büchner hat, wie ich noch zeigen werde, in der Weiterarbeit am Text die pathetischen Möglichkeiten dieser Störung deutlich gemacht. In der hier vorliegenden Form - unvermittelter Einschub und unvermittelter Wechsel von langsamem und schnellem Gehen - scheint mir der komische Effekt deutlicher, was auch der Herkunft dieser Motivgruppe aus Lustspielen wie Brentanos Ponce de Leon und Shakespeares Wie es euch gefällt entspricht.47 Dort ist die zweifache Wahrnehmungsstö47 Vgl. meinen Aufsatz Bildsysteme und Gattungsunterzchiede [. . .]. - In: LL, S. 167f.

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rung auf zwei verschiedene Personen aufgeteilt, und in dieser Form hat Büchner das Motiv auch in eine später geschriebene Stelle der Erzählung,48 vor allem aber nach Leonce und Lena (II/l) übernommen. Der dritte Einschub in dieser Reihe, Lenz' Klage über die Schwere der Luft, gleicht in der Erzählform aufs Haar dem ersten: in beiden Fällen bleibt Lenz morgens im Bett liegen und klagt Oberlin sein Leid, der ihm Mut zuredet. Die Partikel »endlich« in Lenz' Äußerung (29.36), »jetzt endlich empfände er die ungeheure Schwere der Luft«, klingt, als habe Lenz diese Wahrnehmung schon immer herbeigesehnt, sie läßt auch deshalb den Gedanken an wirkliches Leiden nicht aufkommen. Die Szene ist knapp skizziert und nicht ausgeführt; die genannte Wahrnehmungsstörung taucht in Büchners Texten sonst nicht wieder auf. Ich vermute, daß sie belletristischen Ursprungs ist. Dies vermute ich auch für das letzte Beispiel in dieser Reihe, für Lenz' Klage über die »entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt« (30.13 ff.). Akustische Halluzinationen sind mit Sicherheit in der psychiatrischen Literatur häufiger überliefert; daß sie qualvolle Befindlichkeitsstörungen mit sich führen können, ist klar. Dennoch mangelt es auch dieser Szene wiederum an Ernst. Die Wahrnehmung widerspricht wie schon die vorangegangenen der Störung, die für den Lews-Text zentral wird, der Wahrnehmung der Leere, und daß Lenz akustische Halluzinationen habe, ist auf dieser Arbeitsstufe ein unerwartetes Ereignis. Büchner greift wieder zur Technik der Regieanweisung, der in Erzählungen immer ein Moment von Außensicht und potentieller Komik anhaftet. Lenz handelt »plötzlich« und »rasch« und verläßt die Szene nicht etwa mit Leidensmiene, sondern »kopfschüttelnd« (30.17). Auf der dritten Arbeitsstufe hat Büchner das Motiv der akustischen Halluzin^riata/taL wißH/ymosL, iio/i T,W*E ^Ui/db. tro/dkt:t3ädÄ ^ /&. ^SrJajMpr/üPi itfi ' Felsen«, 5.23 f.; »das Biegen seines Fußes tönte wie Donner«, 6.25; »wie er eine Stimme gehört hätte«, 10.6f.; »als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredete[n]«, 10.27) aufgegriffen, jetzt jedoch in großer Differenziertheit und z.T. in Anlehnung an die mystisch-visionären Vorstellungen, die er Lenz und Oberlin zuschreibt.

48 Vgl. Lenz 21.2 ff., wo das »Frauenzimmer«, dem »die Welt zu weit« scheint, »das engste Plätzchen im ganzen Haus« sucht, während Lenz über seine derzeitigen Engegefühle (21.7) klagt.

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5. Zweite Arbeitsstufe: Pathetische Elemente, Auseinandersetzung mit Dichtung und Wahrheit, psychologische Theorie Büchners Erweiterungen der Quelle bestanden auf der ersten Arbeitsstufe vor allem in szenischen Anekdoten komisch-skurriler Art. Von dieser Tonlage sind auf der dritten Arbeitsstufe nicht einmal mehr Ansätze zu finden; der Text versucht hier durchweg, dem Leiden des Helden gerecht zu werden. Die Textgenese ist also beschreibbar als Weg von einer skurrilen zu einer pathetischen Charakterzeichnung, und auf diesem Weg nimmt die auf der zweiten Arbeitsstufe entstandene Berichtpassage eine Zwischenstellung ein. Neben die neu erfundene Katzenanekdote, eine »Posse« bereits ernsthafterer Art, treten Beschreibungen von Qual und Angst, die von jeder Skurrilität weit entfernen. So gilt als Faustregel: was Büchner zunächst niedergeschrieben hatte, konnte er später in dem Lustspiel Leonce und Lena verwenden; was er jetzt hinzufügte, erinnert gelegentlich an das Revolutionsdrama. Unter den Übernahmen aus Danton's Tod fällt die Schilderung von Lenz' Alpträumen am meisten auf. In dem Drama finden sich zwei für diese Situation einschlägige Szenen. Vor der Verhaftung berichtet Danton (II/5) von dem Traum, aus dem er schreiend aufwacht und erst langsam wieder in die ihn umgebende Realität zurückfindet. Das gleiche geschieht Camille Desmoulins in der letzten Nacht vor seinem Tod (IV/3): »Garn i lie. Das bist du, das ich, so! Das ist meine Hand! ja, jezt besinn' ich mich. O Danton, das war entsezlich. [...] Ich lag so zwischen Traum und Wachen. [...] Die Himmelsdecke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran [...]. Das war entsetzlich Danton [...]. Der Wahnsinn faßte rmcn'oey aenYiaaren.«Y^ie entsprechende Massage m aei Lerf/z-Y/i^aVilraTig klingt wie eine erzählerische Umformung (28.15ff.): »Dann gerieth er zwischen Schlaf und Wachen in einen entsetzlichen Zustand; er stieß an etwas Grauenhaftes, Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn, er fuhr mit fürchterlichem Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erst nach und nach fand er sich wieder. Er mußte dann mit den einfachsten Dingen anfangen, um wieder zu sich zu kommen.«49 Eine zweite Übernahme aus Dantons Tod präsentiert sich als Erzählerkommentar. Oberlin interpretierte verständlicherweise eine ganze Reihe von Lenz' Handlungen, das nächtliche Baden, die Fensterstürze, das Hantieren mit einer Schere, die Bitte um ein Messer, als fortgesetzte Suizidversuche, als Ausdruck von »Entleibbungssucht« (O 349). Büchners Erzähler widerspricht dieser Deutung explizit mit dem Satz »Die halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst« (29.20 f.) und deutet seinerseits diese Handlungen als Reaktion auf den 49 Entsprechend Leonce und Lena 1/3: »mit dem Einfachsten anfangen«.

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horror vacui, als »Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz.« (29.25)50 Dabei führt er ein überraschendes zusätzliches Argument ein: »es war weniger der Wunsch des Todes, für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tod«. Das ist unüberhörbar ein Echo der ersten Conciergerieszene in Danton' s Tod (III/7): »Was willst du denn? [...] Ruhe. [...] Oh nicht sterben können, nicht sterben können [...]. Da ist keine Hoffnung im Tod [...]«. Dieser hoffnungslose Blick auf den Tod bedeutet in Danton' s Tod einerseits einen Ausdruck von Schuldgefühlen, andererseits eine Absage an Vorstellungen von Transzendenz, sei es eines jenseitigen Lebenszustandes, sei es eines jenseitigen Gottes; mit der Übernahme derselben Wendung sucht die Erzählung offenbar diese Ebene pathetischer Darstellung und Religionskritik zu erreichen. Die neue Konzeption zeigt sich außerdem in Büchners Veränderung von Goethes Urteilen über Lenz, die Gersch erschlossen hat.51 Goethe verweigerte seinem früheren Weggefährten in der Autobiographie jegliche Sympathie; er sah ihn von außen, weder als Genie noch als Kranken, sondern als lästigen Narren. Lenz war, so Goethe, ein »Schelm in der Einbildung«; »mit seinen Vorstellungen und Gefühlen verfuhr er willkürlich«; er habe zu den »albernsten und barockesten Fratzen« geneigt.52 Von dieser Charakterisierung offenbar angeregt ist Büchners eigene Darstellung von Lenz' possenhaftem Verhalten. Lenz - so die Berichtpassage (27.33ff.) »hatte einen unendlichen Trieb, mit Allem um ihn im Geist willkürlich umzugehen [. . .], die Menschen an und auszukleiden, die wahnwitzigsten Possen auszusinnen. Manchmal fühlte er einen unwiderstehlichen Drang, das Ding auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen.« Die Anekdote, die der Erzähler dann zur Illustration des eben Gesagten zum Besten gibt, ist freilich nicht von Goethe beeinflußt. Als Beispiel für eine "

ren«, wird erzählt, wie Lenz »[ejinst« so täuschend Katze spielte, daß Oberlins Katze sich bedroht fühlte. Frau Oberlin bereitet dieser Szene ein Ende. Nicht nur hat sich damit gegenüber den Erfindungen auf der ersten Arbeitsstufe das Spektrum der Phänomene extrem erweitert; der Erzähler versucht zugleich, die Person aus deren Innensicht verständlich zu machen und damit die Handlungen zu motivieren. Wo Goethe sich mit einer angewiderten Außenperspektive begnügte, liefert Büchners Erzähler eine Erklärung: Lenz spüre einen »unwiderstehlichen Drang«. Ohnehin dürfte die Suche nach Erklärungen das entscheidende Merkmal dieser zweiten Arbeitsstufe sein. War der Text auf der ersten Stufe vom chronikalischen 50 Vgl. auch Hubert Gersch/Stefan Schmalhaus: Die Bedeutung des Details: J. M. R. Lenz, Abbadona und der »Abschied«. - In: GRM NF 41,1991, S. 395. 51 Gersch, Studienausabe (s. Anm. 1), S. 74-76 u. Lenz-Entwurf (s. Anm. 16), S. 22-24. 52 DuW XI in: Goethe's Werke, Vollständige Ausgabe letzter Hand, 26. Bd. - Stuttgart u. Tübingen 1829, S. 249. 42

Prinzip bestimmt, so ist er auf der zweiten theorieförmig. Der Autor, der hier schreibt, versucht, eine zusammenhängende Erklärung für die von Oberlin beschriebenen oder für weitere noch zu erzählende Störungen zu finden, und er bemüht sich, auch die komisch-skurrilen Züge, die in der Erzählung zu dominieren drohten, zurückzudrängen und sie in ein Gesamtbild einzuordnen, das eher pathetisch als komisch wirken sollte. Die Berichtpassage unterscheidet deshalb vier Zustandstypen, die Lenz durchlebt: (erstens) die »seligsten Augenblicke« des Selbstmitleids (29.12), (zweitens) Zustände »in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder [drittens] der dumpfen an's Nichtseyn gränzenden Ruhe« (29.23), (viertens) »Augenblicke, wenn sein Geist sonst auf irgend einer wahnwitzigen Idee zu reiten schien« als »die glücklichsten« (29.26). Der erste und der letzte Zustandstyp entlasten momentan und wirken potentiell skurril. Stärker affiziert das Leiden an einer Angst, die aus der Wahrnehmung von Leere resultiert (27.12ff.): »[...] eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen.« Deshalb redet Lenz laut mit sich selbst und steht unter Sprechzwang auch im Beisein anderer (27.16, 28.32); deshalb klammert er sich an andere oder an einmal gefaßte Ideen; deshalb denkt oder führt er »die wahnwitzigsten Possen« (28.1) aus; deshalb leidet er unter nächtlicher Dunkelheit, sagt nachts »in der heftigsten Angst Gedichte her« (28.24); deshalb zweifelt er an der Realität und hält sich für »das ewig Verdammte« (28.29); deshalb »klammerte« er sich an Oberlin (28.36); deshalb, nämlich um sich von der »fürchterlichsten Angst oder der dumpfen an's Nichtseyn gränzenden Ruhe« (29.23) zu bewahren, fügt er sich in Handlungen, die wie Suizidversuche aussehen, »einen heftigen physischen Schmerz« (29.31) zu. Unsicher ist, aus welchem Fundus von Erfahrungen oder Lektüre diese 5y mptcmmoWgifc, dut; ; ^^ /^ / Y^T^Jb^uAc^U^u?^ summiert, herleitbar ist. Denkbar ist (erstens), daß schon hier der Versuch einer epochenspezifischen Einfärbung eine Rolle gespielt hat.53 Von einer »Pause, die zunächst an das Nichtseyn gränzt«, spricht in Schillers Räubern (V/l)54 Franz Moor, der als von Gott Verworfener auf die Vernichtung seines Ich im Tode hofft; Lenz selbst hatte in einer fragmentarischen Notiz - sprachlich ferner, aber inhaltlich näher - als das »allergrößte Unglück« die » U n e m p f i n d l i c h k e i t « bezeichnet, die »Stumpfheit der Seele«,55 und in der Schrift »Über die Natur unsers Geistes« den Selbstbetrug getadelt, der die Menschen glauben lasse, »an Wen gewonnen zu haben, wenn sie ihre Seele stumpf machen und einschläfern, anstatt durch innere Stärke den äußern unangenehmen Eindrücken das Gegengewicht 53 Vgl. Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 395. 54 Friedrichs von Schiller sämmtliche Werke. 3. Bd. - Stuttgart und Tübingen 1822, S. 198. (Freundlicher Hinweis von Barbara Schmidt und Werner de Boer, Marburg.) 55 Jak[ob] Michfael] Reinhfold] Lenz: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Franz Blei, 4. Bd. München und Leipzig 1910, S. 285. 43

zu halten. Das Gefühl von Leere in ihrer Seele das daher entsteht, straft sie genug [...]. Sie fühlen es daß sie sich ihren unangenehmen Empfindungen nicht entziehen können ohne Wüste und Leere in der Seele zu haben und der Zustand der Streit [sie] ist marterhafter als die unangenehmen Empfindungen selbst.«56 Zu denken ist (zweitens) an eine Art Introspektion des Autors. Büchners Briefe lassen vermuten, daß er unter einer ähnlichen psychischen Störung in seiner Gießener Zeit entweder selbst gelitten hat oder daß er sie jedenfalls gut genug kannte, um mit ihrer Hilfe seine Trennungs- und Verbannungsschmerzen in Gießen beschreiben zu können. Das Schlimmste, so heißt es in dem ersten Gießener Brief an Wilhelmine Jaegle gegen Ende Januar 1834 nach dem Darmstädter Rekonvaleszenzaufenthalt,57 das Schlimmste sei eine Form der »Gesundheit«, die aus dem Menschen einen Automaten mache: »Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen.« Als weitaus weniger schrecklich habe er die vorangegangenen Fieberzustände in Erinnerung. »Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsterniß wogte über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht einmal die Wollust des Schmerzes und des Sehnens.« (Ebd.) Das eindrucksvolle Bild des erotischen Fiebertraums hat Büchner - in religiös veränderter Form - auf der dritten Arbeitsstufe des Lenz übernommen. In der Berichtpassage orientiert er sich, was charakteristisch ist, stärker theorieförmig an der »Wollust des Schmerzes« (joy of grief). Lenz, so erfahren wir (29.10ff.), spürt den »Jammer eines Kindes, er schluchzte, er empfand ein blicke.« Denkbar ist (drittens), daß Büchner sich an dieser Stelle an psychiatrischen Darstellungen der Zeit orientiert. An folgenden Wendungen vom Beginn der Berichtpassage sei dies kurz demonstriert (27.11 ff.): »er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte Nichts. Was er that, that er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt.« Das letztgenannte Motiv wird in der Berichtpassage noch einmal aufgegriffen (28.21 ff.): »Eigentlich nicht er selbst that es, sondern ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sey er doppelt und der eine Theil suchte den ändern zu retten«. Der französische Psychiater Esquirol schreibt in einer 56 In: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, 2. Bd. - Leipzig 1987, S. 619-24, hier S. 621. 57 HA II426, Datierung nach: Georg Büchner an »Hund« und »Kater«. Unbekannte Briefe des Exils. Hrsg. von Erika Gillmann, Thomas Michael Mayer, Reinhard Pabst und Dieter Wolf. -Marburg 1993, S. 134,148.

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Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Pinel über den von »manie sans delire« Befallenen: »Phomme n'aplus lafaculte de diriger ses actions, parce qu'il a perdu l'unite du moi, c'est l'homo duplex de saint Paul et de Buffon pousse au mal par un motif, retenu par un autre.«58 Der mit der »ennui«Diskussion gut vertraute Pinel hatte zuvor in einem Lexikonartikel über den Selbstmord auf die Verbindung von Langeweile (»ennui«), Empfindungslosigkeit und schrecklicher Leere< hingewiesen: »Ceux ä qui ne suppose aucun motif, ne sentent plus le bien de vivre, tantöt n'ont plus de desirs, eprouvent un vide affreux, sont dans un isolement complet au milieu du monde«,59 und er hatte an anderer Stelle den dementen Endzustand des nicht behandelten Geisteskranken so dargestellt: »II traine stupidement un reste de vie materiel, sans desirs comme sans regrets [...].« Auch das Leben >im Nichts< ist dieser Psychiatrie wohl bekannt: »les alienes ne peuvent plus vouloir; ils sont pire que neant, ils sont le neant en vie.«60 Auf der dritten Arbeitsstufe hat Büchner das Erklärungsmuster >Angst vor der Leere< in die erste Erzählphase übernommen, doch ohne die Funktion als dominierende Ursache aller weiteren Handlungen. Unter den Entlastungszuständen taucht die der christlichen Tradition und dem Sturm und Drang gemäße »joy of grief« in der Predigtphase wiederum auf; den alternativen Zustand einer Vertreibung von Leere durch >possenhaftes< Verhalten, den im eigentlichen Sinne komisch-skurrilen Zustand also, hat Büchner dagegen endgültig aufgegeben. In der Berichtpassage stehen beide noch wie gleichberechtigt nebeneinander, und gegen Ende dieses Textteils verbindet der Erzähler das Possenreißen mit dem Theoriekonzept der idee fixe. Das Ergreifen einer fixen Idee, so führt er nochmals, aber in größerer Präzision aus, steht in Analogie zur bewußten Zufügung von Schmerz, indem es die Angst beruhigt oder aus der ans »Nichtseyn gränzenden "Kurie« vorübergeVieni ernösi. ttatte es xwoi •gtkitrj&en, tLafe ^ seligsten Augenblicke« erlebt, wenn er »ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst« empfand (29.11 ff.), so werden jetzt die Zeiten der fixen Idee als die »glücklichsten« bezeichnet (29.26ff.): »Augenblicke, wenn sein Geist sonst auf irgend einer wahnwitzigen Idee zu reiten schien, waren noch die glücklichsten.« Das Motiv der fixen Idee und des >Reitens< auf ihr ist bei Büchner verschiedentlich belegt, so im Brief an August Stöber vom 9. Dezember 1833 (HA II 422), in einer Rede der Dramenfigur Camille Desmoulins (Danton's Tod IV/5) und schließlich im Gebet des Prinzen (Leonce und Lena II/2). Die Mängel der ersten Arbeitsstufe, der unzusammenhängend-episodi58 Dictionaire des sciences medicates, par une societe de medecins et de chirurgiens, 60 Bände. - Paris 1812-1822, hier Bd. 30, S. 454. - Ich folge hier einer Darstellung von Carolin Seling, Marburg, die eine Arbeit über den Einfluß der französischen Psychiatrie auf Büchners Lenz vorbereitet. 59 Ebd., Bd. 52, S. 252. 60 Ebd., S. 230.

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sehe Charakter der einzelnen Störungen und die distanzierte Außensicht auf den Helden, wurden auf der zweiten Stufe beseitigt. Als Schwierigkeit dürfte dem Autor nun jedoch der abstrakt-theoretisierende Charakter des neuen Erzählansatzes erschienen sein, und zugleich dürfte er als Mangel empfunden haben, daß der Neuansatz noch immer keine wirkliche Verbindung herstellte zu den in Oberlins Bericht agierenden Personen. Daß Lenz sich in das Glück der fixen Idee hineinrettet, war aus Goethes Autobiographie ableitbar, doch nicht aus Oberlins Bericht. Lenz' Versuch der Kindeserweckung war als »fixe Idee« beschreibbar, und der Erzähler der dritten Stufe verwendet den Begriff von neuem (21.27). Jedoch ist diese finster-entschlossene Inszenierung einer religiösen Wahnidee nicht possenhaft. Auch die allgemeine psychologische Erklärung >Angst vor der Leere< hatte bei aller Prägnanz den Nachteil, Lenz' spezifischen und weitgehend religiös geprägten Angstvorstellungen gegenüber abstrakt zu bleiben. Der Lenz, der sich Oberlins pastoralen Bemühungen mit unverhüllter »Profanation« (29.19) widersetzt, hat weder mit dem historischen Jakob Lenz noch mit dem bei Oberlin beschriebenen das geringste zu tun. So mußte der Erzähler aus der aktualisierenden, auf die 1830er Jahre bezogenen und zugleich theoretisch-abstrakten Beschreibungsform wieder zurückfinden zur historischen Konkretion und zur religiösen Atmosphäre der 1770er Jahre.

6. Religionskritik auf den verschiedenen Arbeitsstufen Von den in den fünfziger Jahren einsetzenden und bis in die siebziger Jahre reichenden christianisierenden Deutungen Büchners blieb auch Lenz nicht verschont.61 Ludwig Büttner urteilte, Lenz werde »durch den Verlust des ^cAc/talatfitrri/CTi Qiarcfoens atrn^Walmrarrm getnA>en«/vl- lirwm ^oWi enuastete Lenz nur insofern, als er dessen »Schuldgefühle [...] auf das prinzipielle Schuldigsein des Menschen« ausrichtete,63 und ihm schloß sich Wolfgang Wittkowski an, indem er Lenz' Geschick auf »den Menschen überhaupt« bezog64 und Lenz als »Bruder des Menschensohnes«65 deutete. Es gehört - bezogen auf Büchner - zu den Verdiensten von Friedrich Sengles Biedermeierzeit, dieser angestrengten Christianisierung zu widersprechen. Sengle vermutete, daß Büchners Lenz das jungdeutsche Programm der Religionskritik fortführe: »Von der Zensur her gesehen [...] 61 Vgl. die Hinweise auf einschlägige Deutungsansätze bei Walter Hinderer: Lenz. »Sein Dasein war ihm eine notwendige Last«. - In: Interpretationen. Georg Büchner. - Stuttgart 1990, S. 76-79. 62 Ludwig Büttner: Büchners Bild vom Menschen. - Nürnberg 1967, S. 50. 63 Erwin Kobel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin, New York 1974, S. 144. 64 Wolf gang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit. Weltbild. Werk. - Heidelberg 1978,5.357. 65 Ebd. S. 366.

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benützt der Dichter die Rolle des wahnsinnigen Lenz, um dem Zweifel an Gott so kräftig Ausdruck zu verleihen, wie dies auf dem direkten Wege damals kein Schriftsteller durfte, ohne ins Gefängnis zu kommen.«66 Sengles Vermutung sei hier in folgender Weise differenziert: daß Büchner seine Erzählung nebenher auch als Medium atheistischer oder religionsskeptischer Äußerungen nutzte, ist sicher richtig; allerdings stellt sich diese Religionskritik auf jeder Arbeitsstufe anders dar. Auf der ersten Stufe steht einem zwar freundlichen, aber in seiner Einfühlungs- und Mitleidsfähigkeit deutlich eingeschränkten Pfarrer Oberlin ein Kranker gegenüber, der sich - und zwar meist in närrischer Form - dezidiert religions- und kirchenkritisch äußert. Auf der zweiten Arbeitsstufe gewinnt diese Konfrontation einen größeren Ernst. Oberlin wird in seinem Mitleid gezeigt und ernst genommen; zugleich aber heben die Übernahmen aus Danton's Tod das religionskritische Niveau. Auf der dritten Arbeitsstufe schließlich behandelt die Erzählung den praktischen Philanthropen Oberlin mit großem Respekt. Auch in Hinsicht auf mystische Neigungen wird Oberlin hier positiver gesehen. Oberlin zieht eine Grenze zwischen schlichtem und übersteigertem Mystizismus, für ihn gilt (13.17): »Oberlin brach es ab, es führte ihn zu weit von seiner einfachen Art ab.« Lenz überschreitet diese Grenze. Oberlin wird in seinen praktischen Bemühungen um das Elendsgebiet des Steintals gezeigt; für Lenz ist es »ein Trost, wenn er [...] diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.« (11.27ff.) Es ist auffällig, daß die erste Arbeitstufe von diesem Respekt für Oberlin noch nichts spüren läßt. Als handele es sich um Verhältnisse von 1835, stellt sie einem eher beschränkten Seelsorger einen zynischen Religionsskeptiker gegenüber. Büchner verwendet hier zur Charakterisierung Cfoenms im Grimae karikierende Yornrcintrcm-gtri. ^tritrix-b :m itn ^-at^At, finden sich die Wendungen: »er möchte ruhig seyn, seine Sachen mit Gott allein aus machen« (O 187f.; 24.10); »bat ihn inständig [...] sich mit Gott zu unterhalten« (O 256ff.; 26.29ff.). Büchner fügte dem die Wendungen hinzu: »Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott wenden« (24.35); »Oberlin sprach ihm Muth zu« (30.1) und in der Berichtpassage: »Oberlin sprach ihm von Gott« (29.12). Das sind stereotype Wendungen, wie man sie von einer Pfarrersatire erwarten könnte, und zu ihnen paßt die erzählte Reaktion von Lenz (24.36): »da lachte er und sagte: ja wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden«. Es folgt die schon genannte, von Büchner später in das Lustspiel verschobene Tirade, daß auch »beten« und tugendhaftes Leben nichts seien als Äußerungen von 66 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit, 3. Bd. - Stuttgart 1980, S. 321 f. - Meinen Ergebnissen teilweise entgegenkommend urteilt Jan Thorn-Prikker (Revolutionär ohne Revolution. Interpretation der Werke Georg Büchners. - Stuttgart 1978, S. 65), im Fortgang »verschiebt Büchner das Schwergewicht von einer religiösen Problematik auf eine religionskritische Problematik«. Vgl. Gersch, Lenz-Entwurf (s. Anm. 16), S. 25. 47

Langeweile, ein Zynismus, der der oppositionellen Literatur der 1830er Jahre ebenso nahelag, wie er in einer Unterhaltung zwischen Lenz und Oberlin undenkbar gewesen wäre. Im Grunde ist erklärungsbedürftig, warum der Autor auf der frühen Arbeitsstufe so leichtfertig einerseits den Sturm und Drang-Autor Lenz auf das Niveau eines Religionszynikers, andererseits Oberlin auf das Niveau des beschränkten Seelsorgers reduzierte. Möglicherweise haben ihn dabei ähnliche Affekte gesteuert, wie sie noch heute - oder gerade heute wieder - gängige Lenz- und Oberlin-Bilder bestimmen. Oberlin war bereits um 1778 auf dem besten Wege, aus der ihm anvertrauten, durch ihre Abgelegenheit und Armut im Elsaß berüchtigten Pfarre eine ökonomisch lebensfähige Kommune zu machen, auf diese Weise eine Vielzahl von Menschen vor dem Elend des Hungers und dem drohenden Schicksal der Auswanderung zu bewahren und derart zu einer der hervorragendsten Persönlichkeiten praktisch-sozial gewendeter Aufklärung zu werden. Noch Honore de Balzac gestaltete nach Oberlins Vorbild den Helden seines Romans Le Medecin de campagne, ein leuchtendes Beispiel des erfolgreichen Kampfes gegen das Elend der Randgebiete der europäischen Kultur. Heutigen Diskurstheoretikern, die von Hunger wenig und vom Reden viel wissen, gerät das Elendsgebiet zur »stillen Lebenswelt« und Oberlin, wenn schon nicht zum »Herrn der Ringe«, so doch zum »Herrn des Diskurses«, einer Art Monstrum, das »überhaupt nichts unthematisiert ließ«, alles »katalogisiert«, »das Gesetz, wonach etwas nicht nicht bedeutsam sein kann [...], im Steintal zu universaler Geltung gebracht« hat, das sorgte, »daß den Steintälern alle Wildheit und Wüstheit ausgetrieben wurde« un4 so weiter. Aus der schlichten Tatsache, daß Oberlin Lenz bei dessen Ankunft fragt, ob er mit dem ihm bekannten Dramenautor %W/drÄffi ^torÄTÄ yitTniß^Jn -3>ti, 'wird aarjrr. »Htxiri Wvor Lenz Obenan eigentlich bekannt wird, ist er ihm schon bekannt. In den Registern des Bedeutenden ist er bereits verzeichnet und gar an exklusiver Stelle«.67 Weniger bombastisch, aber doch noch immer empört urteilt die verdiente Lenz-Forscherin und -Editorin Sigrid Damm über Oberlin: »Gleich nach seiner Rückkehr beginnt Oberlin mit den Vorhaltungen. Er bestätigt Lenz seine Sündhaftigkeit. / Fest steht, das steigert Jakobs Konfliktsituation, ist der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch seiner Wahnsinnsanfälle.«68 Mag sein, daß Büchner im ersten Zugriff die Begegnung Lenz' mit Oberlin ähnlich parteilich und mit ähnlicher Empörung gedeutet hat und daß er deshalb möglicherweise gerade in Opposition zu den Stöbers zunächst den Modus der Pfarrer- und Religionssatire ausprobierte. Auch ist einzuräumen, daß die gegen Oberlin erhobenen Vorwürfe auf den ersten 67 So Jochen Hörisch: Oberlin oder die Verbesserung von Mitteleuropa. - In: Katalog Darmstadt, S. 263 ft. 68 Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. - Berlin und Weimar 1985, S. 287.

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Blick oder doch teilweise berechtigt sind. Am 20. Januar 1778 nahm Oberlin den ihm persönlich unbekannten Lenz als einen Freund seines Freundes Kaufmann bei sich auf. Lenz' auffälliges Verhalten, das den Pfarrer und die Nachbarschaft in der ersten Nacht um den Schlaf brachte, versuchte Oberlin mit dem Gedanken daran hinwegzuerklären, daß ja auch Lenz' exzentrischer Freund Kaufmann zu den Kaltwasserverehrern gehöre. Außerdem verhielt sich Lenz in den folgenden Tagen weniger auffällig (O 41): »Verrichteten er auch [für: »auf«] mein Bitten sein Baden mit mehrerer Stille«, ja nach Ankunft seines Freundes Kaufmann am 25. Januar hatte Lenz »[a]uf unsere [...] häufige Vorstellungen« hin »sein Baden eingestellt« (O 120). Im übrigen begleitete er Oberlin in den ersten Tagen bei dessen Pfarrgeschäften und nahm ihm am ersten Sonntag deren lästigen Teil, die Predigt, mit so gutem Erfolg ab, daß Oberlin keine Bedenken hatte, ihm »die Kanzel« (O 93) auch während seiner Abwesenheit anzuvertrauen. Oberlin glaubte also bei Antritt seiner Reise, in Lenz nicht nur einen »liebenswürdigen Jüngling«, sondern auch einen brauchbaren Pfarradjunkt gewonnen zu haben, und in der Tat hat Lenz, der sich in der Woche von Oberlins Abwesenheit in dessen Stube u. a. »mit Predigtschreiben [...] beschäftigte« (O 130), im Steintal wohl am Sonntag, den 1.2., wiederum erfolgreich gepredigt.69 Gewisse Merkwürdigkeiten in Kaufmanns Verhalten, dessen geheimnis- und bedeutungsvolle Art, Fragen zu stellen, hatten Oberlins Vertrauen freilich beeinträchtigt. »Es ka[m] mir dieß alles«, so bemerkt er in seinem Bericht (O 79), »etwas bede[n]klich vor wollte da nicht fragen wo ich sähe das man geheimniß voll wäre, nahm mir aber vor meinen Unterricht weiter zu suchen.« Wohl am 2. Februar dürfte Oberlin durch Schlosser im badischen Emmendingen den »hinlänglichen Unterricht in AnseVrüTig HE,.



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haben, daß sein Hausgast und Pfarradjunkt seit einigen Monaten unberechenbaren und kaum kontrollierbaren psychischen Störungen unterworfen war und daß man Lenz wohl auch deshalb ins Steintal geschickt hatte, weil man hoffte, Oberlin würde Lenz helfen können. Auf diese schockierende Nachricht, welch unheimlichen Gast er seiner Frau, seinem Haus und seiner Pfarre aufgebürdet hatte, brach Oberlin die Reise ab und wendete sich über Breisach zurück nach Kolmar, wo er »HE Pfeffel u. Lerse Kennen ler[n]te« (O 99). Don wird man wie schon zuvor in Emmendingen des weiteren beraten haben, wie der Fall Lenz zu behandeln sei, und zwar vermutlich mit folgendem Ergebnis: Lenz hatte sich durch Fehlverhalten am Weimarer Hof die Unterstützung Goethes und damit mögliche Berufsperspektiven verscherzt; er hatte am 12.Januar 1778 bereits das 69 So Gottlieb Konrad Pfeffel in einem Brief an Jakob Sarasin vom 25.2. 1778: »Lenz, der sich durch zwo Predigten und durch seinen liebreichen Umgang alle Herzen gewonnen hatte [...]«. Zit. n. Dedert/Gersch (s. Anm. 1), S. 380ff.

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27. Lebensjahr vollendet, und er drohte als psychisch Kranker mit Ungewissen Heilungschancen zum Pflegefall und zur Last für jeden Hilfsbereiten zu werden. Lenz' Familie war in Livland ansässig, Lenz hatte ein Theologiestudium begonnen und hatte dies gegen den dezidierten Willen des Vaters abgebrochen. Lenz handelte also nicht nur im Interesse der belasteten elsässisch-badischen Freunde, sondern auch im eigenen Interesse sowie in Übereinstimmung mit Gottes Geboten, wenn er endlich Vernunft annahm, sich dem väterlichen Willen beugte und nach Hause zurückkehrte, um dort - soweit noch möglich - als kirchlicher Beamter eine Versorgung zu finden. Oberlin hatte keinen Grund, diesem Konsens zu widersprechen. Er stand selbst dem Pietismus nahe und war als Theologe und Philanthrop von den Geboten der Arbeitsethik überzeugt. Ihm anzukreiden, daß er sich nicht ebenso intensiv wie ein heutiger sensibler und zu praktischer caritas ja nicht verpflichteter Leser in die Psyche des kranken Lenz hineinzufühlen wußte, zeugt von viel Gefühl und wenig Sinn für Realität und Geschichte. In Kolmar erhielt Oberlin dann vermutlich die Nachricht von Lenz' Versuch, eine Tote auf zuerwecken,70 so daß er am Donnerstag, »den 5ten Hörn.«, zurückkehrte. Seine Unruhe und Eile waren begründet genug. Wenn unter den heutigen Kritikern manche dem Pfarrer Verständnislosigkeit und Hartherzigkeit im Umgang mit dem Kranken ankreiden,71 so dürfte in Oberlins Bekanntenkreis jedenfalls der entgegengesetzte Vorwurf der Leichtfertigkeit gewichtiger gewesen sein.72 In der Tat konnte man sich ja fragen, ob Oberlin nicht unbedacht handelte, als er zum Zwecke einer Reise seiner schwangeren Frau und seinem Haus einen unberechenbaren Kranken überließ. Und man konnte vor allem fragen, ob Oberlin es billigte, wenn sein Pfarradjunkt in ritueller Kleidung Leichen trwecktttL verdcat:. ! ^wdidriti AmpHrnTaTig Obtnfei rciriatkWnrte, sieht man dem Bericht noch daran an, daß er hier ausnahmsweise von der chronologischen Folge abweicht (O 104ff.). Er berichtet zunächst von der Art, wie seine Frau und Lenz auf seine Rückkehr reagierten, notiert dann mehrere Vorfälle aus der Zeit seiner Abwesenheit und spricht neuerlich von seiner Rückkehr. 70 Oberlins Aufenthalt in Kolmar ist mit Pfeffels Fremdenbuch unter dem 4. Februar belegt (ebd. S. 380 zu 99); Daniel Ehrenfried Stoeber (s. Anm. 24, S. 218) zufolge waren es »des nouvelles qu'il avait re9ues de son epouse«, die ihn zur Rückreise veranlaßten. 71 So spricht zuletzt Sabine Kubik (Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. - Stuttgart 1991, S. 57) über die »eindeutige Verschlechterung« von Lenz' Zustand, »an der Kaufmann und Oberlin maßgeblichen Anteil tragen.« 72 Ein spätes Zeugnis dafür ist Daniel Ehrenfried Stoebers Darstellung (s. Anm. 24, S. 215 f.), die zunächst Lenz' »melancolie profonde«, »derangement mental« und »acces de fureur« behandelt, anschließend aber zur Begründung der Tatsache, daß Oberlin Lenz die Erlaubnis zum Predigen erteilte, von Lenz' gleichzeitigen »jours lucides« spricht. Daß die Predigterlaubnis Anstoß erregen konnte, zeigt sich in Oberlins Bericht in der ausführlichen Darstellung der »Mühe«, die ihm das Predigen bereite (O 51 ff.).

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Im Gespräch mit Lenz versuchte Oberlin, ihn auf den Weg zu bringen, den er und andere für den richtigen, auch für Lenz einzig richtigen Weg hielten. Vielleicht kann man mit Oberlins Spannung und Nervosität erklären, daß er sich der ihm jetzt bevorstehenden Aufgabe mit allzu viel Eile und ohne Fingerspitzengefühl unterzog und daß ihm jetzt möglicherweise ein fataler Fehler unterlief. Oberlin sah einen von Unruhe Gequälten vor sich,73 und bevor er auch nur versucht hätte, sich über Lenz' Verhalten ein eigenes Bild zu machen, deutete er diese Unruhe als Stimme des Gewissens und als günstige Gelegenheit, schnell zum Ziel zu kommen. So überfiel er ihn mit der Ermahnung (O 143 ff.), er »würde so dann wieder zu Ruhe Kommen u. schwerlich ehender, Gott wüßte Seinem worte >Ehre Vater u. Mutter, Nachdruck zu geben«. Jedoch war das, was Oberlin als Schwanken und günstige Gelegenheit interpretierte, ein neuer schwerer Störungsschub, der einige Tage zuvor eingesetzt und sich im Wiedererweckungsversuch und in der Wiederaufnahme der nächtlichen Bäder auch äußerlich manifestiert hatte. Diesem so Gestörten das Leiden als Schuld darzustellen und ihn so nachdrücklich auf die Instrumente der Allmacht aufmerksam zu machen, war zwar gewiß nicht - wie Sigrid Damm meint - »der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch seiner Wahnsinnsanfälle«, mag aber die katastrophale Entwicklung der folgenden Tage beschleunigt und die Krankheitssymptome verstärkt haben, die sich mit der Wiederaufnahme des Badens schon angekündigt hatten. In der Nacht zum 6. Februar gesellten sich zum nächtlichen Baden »mit äusserster Schnelle, Verwirrung u Verzweiflung« (O 198) ausgestoßene Schreie und andere schwer beschreibbare Laute; am folgenden Tag, also am 6., wurde Oberlin nach einem ersten Fenstersturz zur Bestellung eines Aufsehers genötigt, der seinerseits einen zweiten bestellen mußte, denen beiden aber Lenz entfloh, vitVi , üÄitrAladci «iVs ViöidtT : WxkKtvg^sv. Jtarcv £Ja*sfci dei 7.Februar kam es schließlich zu einem mit großer Selbstaggression ausgeführten zweiten Fenstersturz, den Oberlin als offensichtlichstes Beispiel einer ganzen Reihe von Suizidversuchen deutete. Nachdem er in der Nacht vom 7. zum 8. Februar drei Waldersbacher Bürger hatte einsetzen müssen, um Lenz ruhigzuhalten, und da Lenz vor allem in Anwesenheit von Frauen, darunter der schwangeren Frau Oberlin, »in grössere Wuth gerieth« (O 477), sah sich Oberlin in der Nacht zum 8. Februar genötigt, den Kranken nach Straßburg bringen zu lassen, »damit er besere Verpflegung nach seinen Umständen haben könte« (O 465). Für Lenz5 ja schon länger andauernde Erkrankung ist Oberlin sicher nicht verantwortlich; wohl aber hat er selbst durch die Rechtfertigungsstrategie seines Berichts zu dem Eindruck beigetragen, Lenz sei beim Eintreffen in Waldersbach gesund gewesen, indem er sich nämlich gegen den Vorwurf des leichtfertigen Verhaltens dadurch zu schützen suchte, 73 Vgl. Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 401.

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daß er dessen Zustand in den ersten Tagen als möglichst unauffällig darstellte. So wirkt der Bericht bei der ersten Lektüre tatsächlich fast, als habe erst Oberlin Lenz krank gemacht. Daß Oberlin Lenz am Tag der Rückkehr so rigide behandelte, war weder Zufall noch individuelles Versagen, sondern Teil eines Denksystems, das psychische Störungen theologisch als Strafe Gottes, im Kausalnexus als Folge eigenen schuldhaften Verhaltens interpretierte. Indem Oberlin den von Unruhe Gemarterten auf Gottes Instrumente zur Durchsetzung des vierten Gebotes hinwies, führte er ihm diesen theologischen Nexus vor Augen. Auch in seiner abschließenden Gesamtbeurteilung des Falles Lenz betonte er diese Verkettung von Ursachen und Wirkungen und zeichnete Lenz als Beispiel und Opfer einer allgemeinen kulturellen Fehlentwicklung (O 395 ff.): »Dann fürchterlich u höllisch war es was er ausstund, u. es durchbohrte u. zerschnitte mir das Herz, wan ich an seiner Seite, die Folgen der Principien / die so manche heutige Mode bücher einflößen, die Folgen seines Umgehorsam gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzwekmäsigen Beschäftigungen, seines häufigem Umgang mit Frauenzimmern - durch empfinden müßte.« Oberlin ist von dem, was Schopenhauer »wässerichte Sentimentalität« genannt hat,74 weit entfernt. Die Tatsache, daß er mit dem Leidenden leidet, hindert ihn nicht daran, das, was er für die Ursache dieses Leidens hält, klar zu benennen. Nicht Gott hat Lenz' Nöte verursacht, die Schuld liegt bei Lenz selbst, der den fünf Verursachern seines Leidens - falsche Lebensprinzipien, »Ungehorsam gegen seinen Vater«, unstetes Leben, »unzwekmäßige Beschäftigungen«, sexuelle Stimulanz - hätte ausweichen können. Man kann Oberlin wegen dieses Urteils schelten, sollte aber gerechterweise hinzufügen, daß ihn das harte Urteil an einem maßvoll Trjrtrrj^xiitTnttrciTiiVitJritTi VtrAraVum gt^trrrölDer seinem Oast nicht ninaerce und daß Jakob Michael Reinhold Lenz auf Befragen dem Pfarrer sicher zugestimmt hätte.75 Gastgeber und Gast dachten im wesentlichen in denselben Moralkategorien und waren selbstverständlich geneigt, spätere psychische Zusammenbrüche auf frühere Verstöße gegen Prinzipien einer vernünftigen Lebensführung zurückzuführen. Während somatische Krankheiten in dem religiösen System immerhin noch als Prüfungen und also als eine Art von Auszeichnung interpretierbar waren, galt für psychisch Kranke dasselbe wie heute noch in vielen Köpfen für die Opfer von Geschlechtskrankheiten oder Alkoholismus. Im irdischen Kausalnexus betrachtet war von ihnen zu vermuten, daß sie sich die Krankheit durch 74 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1/2. - In: A. Seh.: Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, 2. Bd. - Zürich 1977, S. 490. 75 Vgl. Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 400f. — Vgl. auch Lenz' Erzählung »Zerbin«. - In: J.M.R. Lenz: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Ludwig Tieck, 3. Bd. Berlin 1828, S. 145-170; vor allem die Anfang der 1770er Jahre geschriebenen »Lebensregeln« in: Lenz, Werke (s. Anm. 56) Bd. 2, S. 487-499.

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eigenes Verhalten zugezogen hatten; im theologischen Nexus betrachtet, war die Krankheit nicht etwa Gottes Schatzanweisung, sondern Gottes Strafe, und dem derart Bestraften wurde anheimges teilt, an der Intensität seines Leidens Gottes Allmacht zu ermessen. Diesen skandalösen Umgang der Theologen mit dem Schmerz hatte Büchner bereits im Religionsgespräch von Danton' s Tod (III/l) angegriffen, indem er die im Luxembourg- Gefängnis Versammelten die Nichtexistenz Gottes hatte beweisen lassen. Zu vermuten ist, daß dieses Kabinettstück sophistischer Philosophie seine Entstehung einem eher abseitigen Anlaß, Büchners Auseinandersetzung mit der Schrift seines theologischen Freundes Adolph Stöber, verdankte, in der dieser die Existenz Gottes wenn schon nicht demonstriert, so doch als sehr wahrscheinlich und denknotwendig dargestellt hatte.76 Von Adolphs Bruder August hatte Büchner Oberlins Bericht erhalten, Diskussionen dürften der Lektüre gefolgt sein, und so ist wahrscheinlich, daß Büchner auch hier wieder eine implizite Diskussion mit diesem und anderen Theologen führte, als er Lenz sagen ließ, das Leiden erwecke ihm Zweifel an der Existenz Gottes (29.15ff.): »aber ich, war' ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten«. Diese religionskritische Wendung ist gut aus Büchners Werk ableitbar, aber schlecht für Jakob Lenz wahrscheinlich zu machen. An ihn knüpft Büchner mit einem zweiten theologisch einschlägigen Motiv der Berichtpassage an. Oberlin berichtet (O 141), er habe — und zwar schon vor seiner Abreise - »bey manchen Gelegenheiten Wahrgenommen, daß sein [Lenz'] Herz von fürchterlicher Unruhe gemartert würde«, und gleich nach seiner Rückkehr sei ihm aufgefallen, daß Lenz »bey Erinnerung gethaner, mir unbekannter Sünde schauderte, an der Möglichkeit der Vergebung verGedanken an »seine Geliebte Friedrika« (O 196) schwere Schuldgefühle empfinde und sich für deren Mörder halte. Es war Oberlin nicht entgangen, daß mit diesem Schuldgefühl auch Lenz' besonderes Interesse an dem Kind in Fouday, »so eben Friderika hieß« (O 113), zusammenhing, und dem so geschärften Blick des Pfarrers war natürlich auch bei nur flüchtiger Durchsicht der von Lenz am 7. Februar geschriebenen Briefe aufgefallen, daß dieser sich mit dem gefallenen Engel Abbadona aus Klopstocks Messiade verglich.77 Offenbar also sah sich Jakob Lenz als einen in schwere, möglicherweise untilgbare Schuld Verstrickten, als einen Menschen, dem die Versöhnung mit dem christlichen Gott nicht mehr offenstand. Jeder Christ bekennt im dritten Teil des Credo, daß er an die »Vergebung der Sünden« (Luther) glaube; wer an ihr zweifelt, sündigt, begeht »die Sünde 76 Vgl. Friedrich Vollhardt: Straßburger Gottesbeweise. Adolph Stoebers Idees sur les rapports de Dieu ä la Nature [...]. - In: GBJb 7,1988/89, S. 46-82. 77 Vgl. Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 393.

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wider den Heiligen Geist«, die in einer »Verwerfung aller Gnadenmittel zur Seligkeit«78 besteht, und stellt sich außerhalb der christlichen Gemeinschaft. Büchner knüpfte auf der dritten Arbeitsstufe an diese Vorstellung an, wenn er Lenz nach dem Wiedererweckungsversuch zunächst gegen Gott rebellieren und dann in die Angst fallen ließ, er könne »die Sünde [in den] Heiligefn] Geist« (23.3) begangen haben.79 Ebenfalls wohl auf der letzten Arbeitsstufe formte Büchner Oberlins Bericht über Lenz' Zweifel »an der Möglichkeit der Vergebung« (O 149) um in wörtliche Rede, verknüpfte sie mit dem zeitgenössisch geläufigen Mythologem des Ewigen Juden (23. 16 ff.) und lieferte, wie Gersch erläuterte, mit diesem »Motivwechsel von Abbadona zum Ewigen Juden [. . .] eines der Elemente kritisch produktiver Verständigung, die zwischen der dargestellten Geniezeit und der eigenen Epoche des Autors vermittelt«.80 Auf der zweiten Arbeitsstufe hatte Büchner in versteckter Weise das Mythologem vom Ewigen Juden in einer Form genutzt, die auf die Intention expliziter Religionskritik schließen läßt. In Danton' s Tod deutet der dezidierte »Atheist« Danton die gesamte Welt als unfähig, sich durch den Übergang in die Ruhe des Nichts selbst zu erlösen und sagt über sich selbst (III/7): »Ich kann nicht sterben, nein, ich kann nicht sterben. [. . .] Da ist keine Hoffnung im Tod.« Sein Freund Camille Desmoulins sekundiert ihm mit den Worten: »Oh nicht sterben können, nicht sterben können, wie es im Lied heißt.« Die Ausrufe »Ich kann nicht sterben« und »nicht sterben können! nicht sterben können« stammen aus Christian Friedrich Daniel Schubarts Gedicht »Der ewige Jude« von 1783.81 Im Lichte dieser Repliken legt der Erzählerkommentar in der Berichtpassage, »für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tod« (29.22), geradezu die Frage nahe, ob denn Lenz mit der Jenseitsvorstellung gebrochen habe. Falles Lenz unternahm, mögen zwei weitere Beispiele illustrieren. Oberlins Mägde geben an, sie hätten Lenz »fast die ganze nacht hindurch beten« (O 259) hören, und Büchner übernahm diese Information (26.33). Doch in der Berichtpassage wird Lenz nicht mehr als Betender gezeigt; über ihn heißt es jetzt nur: Lenz »sagte in der heftigsten Angst Gedichte her« (28.24). Auf einer späteren Stufe in der ersten Erzählphase ist diese Dechristianisierung zurückgenommen. Hier läßt Büchner Lenz zunächst »Vater unser« sagen (8.5), später erst »Stellen aus Shakespeare« rezitieren (9.27). Ebenso greift Büchner, um ein weiteres Beispiel zu geben, zwar Oberlins Beschreibung auf, wie der von Angstanfällen geschüttelte Lenz, »am gan78 Gottfried Büchner: Verbal-Hand-Condordanz, 5. Aufl. -Jena 1776, S. 1067f. 79 Zur Diskussion dieser Stelle vgl. Gersch, Diskussionsvorlage (s. Anm. 1), S. 43 und 77 sowie Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 398 f. 80 Ebd., S. 399. 81 Vgl. Reinhard Pabst: Zwei Miszellen zu den Quellen von Dantons Tod. - In: GBJb 6, 1986/87,5.266. 54

zen Leib bebend u zitierend«, vor dem Pfarrer kniete (O 404ff.; 28.36). Aber die Berichtpassage vernachlässigt die pastorale Deutung, daß der Gefolterte »die Ausflüße seines gemarterten Gewißens [...] nicht zu rück halten Konnte«. Die kritische Sicht bringt den Autor jedoch unübersehbar in drei Schwierigkeiten. Sie führt zu Ungereimtheiten im Bild Oberlins, der einerseits zur Pfarrerkarikatur gerinnt, andererseits aber auch der sein soll, aus dessen »Nähe« Lenz »Ruhe [...] geschöpft« hatte (27.8). Sie macht Lenz zu einem von Langeweile geplagten und Gotteswiderlegungen formulierenden Zeitgenossen der 1830er Jahre und nimmt ihm die Charakteristika der Sturm und Drang-Zeit. Und sie unterschlägt schließlich Lenz' eigene extreme Religiosität, die Tatsache vor allem, daß religiöse Vorstellungen von Sünde, väterlicher Autorität, Strafen Gottes an ihn nicht nur von außen herangetragen wurden, sondern daß sie nur als vollkommen internalisierte Vorstellungen ihre zerstörerische Wirkung entfalten konnten. So hätte sich die Lewz-Erzählung, wenn Büchner die auf den ersten Arbeitsstufen verfolgten Prinzipien beibehalten hätte, vielleicht als projet ideologique geeignet; Büchners von Gutzkow später gerühmte Fähigkeit der »reprodiiktive[n] Phantasie«*2 hätte sie gerade vermissen lassen. Auf der letzten Arbeitsstufe hat die Hauptfigur deshalb wiederum die dem historischen Lenz entsprechenden religiösen Vorstellungen und wird - z.T. in romantischer Weiterentwicklung - den wundergläubig-mystischen Präferenzen Oberlins angenähert.

7. Dritte Arbeitsstufe In einer Hinsicht blieb sich Büchners Aufgabe auf jeder der Arbeitsstufen •gWicVi. ti TTfofett. ivt L/üdkäftt, ivt svdb* xwvs/db&B«. AWL Lt?j£oct!a^rjLataÄO. Oberlins Bericht verbergen, durch eigene >Erfindungen< auffüllen. Im ersten Zugriff nutzte Büchner für diesen Zweck zunächst nur die wenigen berichtsoffenen Zeiträume oder im Bericht angelegten Gesprächssituationen; inhaltlich griff er auf skurrile Symptomklagen teils der literarischen Tradition, teils der eigenen Erfindung zurück. Im Fortgang, auf der letzten Arbeitsstufe, ließ sich dieses Verfahren, das auf eine bloße Bearbeitung und punktuelle Erweiterung der Quelle hinauslief, nicht mehr beibehalten. Oberlin hatte über die verschiedenen Zeitabschnitte von Lenz' Aufenthalt in Waldersbach mit völlig unterschiedlicher Extensität berichtet. 70% von Oberlins Gesamttext behandeln die zweieinhalb Tage zwischen seiner Rückkehr nach Waldersbach am Nachmittag des 5. Februar und Lenz' Abreise nach Straßburg am Morgen des 8. Februar. Knapp 20% des Textes verwendet Oberlin, um über die sechs Tage zwischen Lenz' Ankunft am Abend des 20. Januar und dem Aufbruch zur eigenen Reise am Vormittag 82 GW, Bd. 8, S. 111.

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des 26. Januar zu berichten; weniger als 10% des Gesamttextes gelten den elf Tagen zwischen Oberlins Abreise und Rückkehr. Diese Informationsverteilung hat ihren objektiven Grund darin, daß Lenz' Verhalten vor allem in den letzten Tagen des Aufenthalts in Waldersbach durch eine Vielzahl unübersehbarer Krankheitssymptome geprägt war, sie hat ihren subjektiven Grund darin, daß sich einerseits Oberlins Wahrnehmung geändert hatte, daß er andererseits durchaus aus eigenem Legitimationsbedürfnis Akzente in seinem Bericht setzte. Nach der Rückkehr beobachtete der jetzt informierte Pfarrer seinen Gast auf Krankheitsmomente; er ließ sich von seiner Frau, dem Schulmeister und den Mägden über dessen Verhalten berichten und verhielt sich selbst jetzt so absichtsvoll vorsichtig, wie ihm dies einem Kranken gegenüber angebracht erschien. Zum schon genannten Charakter der Rechtfertigungsschrift gehört schließlich, daß Oberlin, um seine eigene Abreise zu begründen, alle Auffälligkeiten der ersten Tage möglichst harmlos und zugleich, um Lenz' Versendung nach Straßburg zu begründen, alle späteren Auffälligkeiten möglichst detailliert darstellen mußte. Gegenläufig zu diesen wie auch immer begründeten Verzerrungen versuchte Büchner, was bis heute an der Erzählung fasziniert. Er suchte auf der Grundlage der von Oberlin gegebenen und von ihm gelegentlich fehlinterpretierten Beobachtungen den wahrscheinlichen Krankheitsverlauf soweit wie möglich zu rekonstruieren und erzählerisch von innen her, jedoch ohne Preisgabe objektivierender Distanz, verständlich zu machen, d. h. also, ein Erzählverfahren zu finden, das der Held der Erzählung selbst mit den Worten bezeichnet (15.16): »man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu kopiren«. Büchner dürfte ebenso wie seine Zeitgenossen gewußt oder wenigstens Waldersbach auffälliges Verhalten gezeigt hatte,83 und er konnte Oberlins Bericht auf jeden Fall entnehmen, daß Lenz zwischen dem 20. Januar und dem S.Februar verschiedene Krankheitsphasen durchlaufen hatte. Lenz war offenbar, wie Oberlins Schilderung der ersten Nacht zeigte, bei seiner Ankunft wesentlich stärker gestört, als Oberlin zunächst wahrhaben wollte. Lenz' Zustand mußte sich dann gleich zu Beginn des Aufenthalts in Waldersbach normalisiert haben, was an der Formulierung des Predigtwunsches und der Predigt selbst ebenso ablesbar war wie an der Tatsache, 83 Im späteren Oberlinkreis wurde Lenz' schon früher »oft in dumpfes Hinbrüten, in bange Schwermuth versunkenes Gemüth« argumentationsstrategisch auch deshalb hervorgehoben, weil es Oberlins Ruf liebevoller Menschlichkeit stützte, so bei August Stöber (s. Anm. 31, S. 1002) und vor allem bei D. E. Stoeber (s. Anm. 24, S. 215 f.), der seinen Lesern berichtet, Oberlin habe Lenz >mehrere Wochen lang mit engelhafter Güte< gepflegt (»pendant plusieurs semaines, avec une bonte angelique«). D. E. Stoeber erwähnt weder Lenz' zweite Predigt noch läßt er im folgenden Kapitel »Voyage en Allemagne« erkennen, daß Oberlins Reise ins Badische Land zeitlich mit Lenz* Aufenthalt in Waldersbach zusammenfiel, ja durch diesen erst ermöglicht wurde.

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daß Oberlin ihn für seine Abwesenheit als seinen Predigtstellvertreter einsetzte. Aus dem Versuch der Kindeserweckung und der folgenden Wiederaufnahme des nächtlichen Badens ließ sich außerdem schließen, daß Lenz kurz vor Oberlins Rückkehr einen neuerlichen Krankheitsschub erlitt, der sich dann - sicher z.T. auch aufgrund von Oberlins Verhalten zu einer Krise zuspitzte, die Oberlin mit seinen Mitteln nicht mehr beherrschen konnte. All dies war aus Oberlins Darstellung erschließbar, und es ist heute umso evidenter, als uns Büchners Text dafür die Augen geöffnet hat. Was mußte ein Autor tun, der diesen erschließbaren Krankheitsverlauf erzählerisch vergegenwärtigen wollte ? Er mußte überall dort Abläufe rekonstruierend erfinden, wo Oberlin aus den genannten Gründen nichts zu berichten wußte. Er mußte also die anfängliche Störung ausführlich darstellen, und zwar gerade mit dem auch von Oberlin wahrgenommenen Mißverhältnis von Normalverhalten bei Tage und in Gesellschaft und Störungsanfälligkeit bei Nacht und in Einsamkeit. Büchner zeigt Lenz deshalb zunächst als Einsamen, Gestörten und von Schreckensphantasien Heimgesuchten auf der Gebirgswanderung, als Beruhigten bei Oberlin und als neuerlich Gestörten und Beruhigten am nächsten Tag und in den nächsten Nächten. Als nächstes stellte sich die Aufgabe, eine längere Beruhigungsphase so zu motivieren, daß deren äußeres, auch von Oberlin festgehaltenes Ergebnis, der Predigtwunsch und die Predigt, plausibel werden konnten. Aus der kurzen Zeitspanne zwischen dem Mittwoch, an dem Lenz von seinem Predigtwunsch spricht, und dem Montag, an dem Oberlin seine Reise in die Schweiz antritt, wird ein längerer, in seiner Länge unbestimmter Zeitraum, aus dem der Erzähler mindestens folgende Einzelheiten mitteilt (10.3-13.24): morgendlicher Schneespaziergang, Vision der Mutter una StraWieriKranz-üriebn'is, Preaigtwunsch, Preaigtvorbereitung und ruhigere Nächte, Predigtsonntag, nächtliche Vision, Gespräche mit Oberlin am folgenden Tag, »ängstliche Träume« und folgende Lektüre der Apokalypse. Büchner ließ dem eine Diskussion über Kunst folgen, die u. a. den epochenspezifischen Charakter dieser Erzählung akzentuiert, und er motivierte dann das Einsetzen des neuerlichen Krankheitsschubes, wobei es ihm darauf ankam, auch inhaltlich die Entstehung der Wahnvorstellungen zu erklären, die Oberlin an Lenz festgestellt hatte. Der von Oberlin geschilderte Lenz glaubte offenbar, er habe sich an seiner »Geliebte[n] Friedrika« (O 196) schuldig gemacht, er sei für deren Tod und den Tod seiner Mutter verantwortlich und vielleicht auch der Mörder des Mädchens, das er in Fouday hatte auferwecken wollen. Zugleich hielt sich Lenz für einen auf ewig Verdammten, dem Gott nicht vergeben könne, und verglich sich mit dem abgefallenen Engel Abbadona.84 Schließlich hatte er anscheinend - wie sich aus dem rituell vorbereiteten Auferweckungsver84 Vgl. Gersch/Schmalhaus, Abbadona (s. Anm. 50), S. 3:85-87. 57

such schließen läßt - Elemente von Volksglauben übernommen, wie er in Gebirgsgegenden von der Art des Steintals fortlebte. Um die Entstehung dieser Wahnvorstellungen plausibel zu machen, erfand Büchner einen nächtlichen Aufenthalt in einer Gebirgshütte in einer gespenstischen und dabei auch religiös gespenstischen Atmosphäre, die den Helden in seinen religiösen Phantasien bestärkt. Er rekonstruierte den möglichen Inhalt der Gespräche zwischen Lenz und Frau Oberlin, indem er ein bei Oberlin für den Tag von dessen Rückkehr überliefertes Gespräch über die Geliebte, das »Frauenzimmer [...], deßen Schiksal mir so zentnerschwer auf dem Herzen liegt« (O 159), mit weiteren Einzelheiten anreicherte und es als Gespräch zwischen Lenz und Frau Oberlin auf die Zeit vor dem Wiedererweckungsversuch verlegte (20.22 ff.). Er ließ diesem schließlich eine Zeit der »religiösen Quälereien« (21.17) vorausgehen und die Nacht einer tiefen religiösen Krise folgen, in deren Folge Lenz sich als »abgefallen, verdammt in Ewigkeit«, als »der ewige Jude« (23.18) deutet. Hatte Büchner in den ersten Textkonzeptionen zu einer Dechristianisierung seines Helden geneigt, so läßt die weitere Ausarbeitung demnach umgekehrt eine Rückkehr zu der historisch überlieferten Religiosität erkennen. Der Text zeigt jetzt, wie stark Lenz vom pietistischen Glauben geprägt und wie stark auch seine Erkrankung davon beeinflußt war. Die vermuteten religionskritischen Absichten mußte Büchner deshalb nicht fallen lassen; im Gegenteil. Alfons Glücks Wbjzec/fe-Deutung zufolge konnte Büchner ideologiekritische Absichten dort am besten verwirklichen, wo er zeigte, daß Ideologeme als verinnerlichte Kräfte zerstörerisch wirken.85 Wie im Woyzeck der gepeinigte Held seine Waffe auch deshalb nicht gegen seine Peiniger, sondern gegen ein anderes Opfer richtet, weil er den Moral- und Rechtsvorsttümngen aes Kusfoeutungssystems aurc1naus anhangt und sicJti 'leicht in den Wahn hineinsteigern kann, er vollziehe im Mord eine gerechte Strafe an seiner Geliebten, so gehörte die fundamentale Übereinstimmung zwischen der seelsorgerischen und väterlichen Autorität Oberlin und dem abtrünnigen Sohn, abgebrochenen Studenten und »gestrandeten Poeten«86 Jakob Michael Reinhold Lenz vermutlich zu den verstärkenden Momenten von dessen Erkrankung. Alle Vorhaltungen über das vierte Gebot, Gottes Strafen, über die schädlichen Folgen des Umgangs mit Frauenzimmern oder der falschen Lektüre, die Oberlin und andere als Ermahnungen vorbrachten, kannte Lenz natürlich längst, und er dürfte sie weitgehend auch als richtig anerkannt haben. Auf der dritten Arbeitsstufe akzentuierte Büchner dieses fundamentale Einverständnis zwischen Oberlin und Lenz, und er verstärkte den Eindruck des personenübergreifenden religiösen 85 Alfons Glück: »Herrschende Ideen« [...]; ders.: Der Menschenversuch [...]. - In GBJb 5, 1985, S. 52-182, zur Verinnerlichung religiöser Schuldvorstellungen bes. S. 73-91. 86 Gutzkow über Lenz an Büchner am 12. Mai 1835 (HA II, 479).

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Machtsystems sogar noch dadurch, daß er Oberlin eher als einen Pragmatiker, Lenz dagegen als einen religiösen Schwärmer und daher für Schuldtraumata wesentlich anfälliger darstellte. Daß die Suche nach der Gefühlsekstase in mancher Hinsicht einer Suchtkrankheit gleicht und zu einem quasi selbstinduzierten Zyklus führt, in dem >Aufrisse< und >Abstürze< einander bedingen: diesen Schluß konnte Büchner dem Werther entnehmen. Er verschärfte diese Zustandsbeschreibung, indem er den Psychozyklus an jene christliche Welt zurückband, aus der Goethe sie - im Zuge der Säkularisierung - gerade entlassen hatte. Diese Rückbindung ist in der erste Phase der Erzählung noch kaum merklich. Lenz zieht hier seine Ekstasen wie Werther aus Natur- und AllErfahrungen, die mit der christlichen Tradition nur in mittelbarem Zusammenhang stehen. Auch die Tatsache, daß Büchner hier aus seiner Berichtpassage die in der Beziehung zur Religion relativ neutralen Beschreibungsmuster der Angst vor der Leere aufgreift,87 wirkt sich noch wie eine Dechristianisierung aus. Das ändert sich in der zweiten Erzählphase, die zunächst die beruhigende Wirkung religiöser Erfahrungen demonstrieren soll. Diesem Zweck dienen die Arbeitsnotizen zu Oberlins religiösen Erfahrungen, daneben die Erzählzüge zu Lenz' derartigen Erfahrungen auf dem Schneespaziergang (10.14ff.): ein Strahlenkranzerlebnis und das »Weihnachtsgefühl«, das mit der Vision der Mutter verbunden ist. Visionen dieser Art, Visionen von Geistern oder von Gestorbenen, bekommen im folgenden leitmotivische Funktion. Oberlin war nicht nur praktischer Philanthrop, sondern auch Visionär, der Visionären wie Lavater, dem Verfasser der Aussichten in die Ewigkeit, oder Jung-Stilling, dem Autor der Theorie der Geisterkunde , nahestand, der selbst ein Tagebuch über seine Visionen führte und der auch die Bewohner des Steintals zu MitteiPredigt »göttliche, zuckende Lippen« (12. 3 ff.) und berichtet er am folgenden Morgen über eine Erscheinung seiner gestorbenen Mutter. In dieser Welt wird ihm ein Bild von der Begegnung der Emmausjünger mit dem gestorbenen Jesus zum beispielhaften Kunstwerk (15.30ff.), in dieser Welt sind auch Gedanken an Totenerweckung möglich. Die Kategorien, die Andreas Pilger verwendet,88 um Büchners Idealismuskritik darzustellen, lassen sich auch auf das Thema der Religionskritik anwenden. Wie sich idyllisierte und erhabene Welt gegenüberstehen, so auch einerseits eine Form von Religiosität, die der Erzähler als »Seyn in Gott« und als einen Umgang mit »himmlischen Mysterien« beschreibt, der »nicht gewaltsam majestätisch, sondern noch vertraut« war (10.11 ff.), andererseits ein Schwanken zwischen der Erfahrung von Gottesferne und dem Versuch, Gottesnähe so zu erzwingen, wie der von Leere Bedrohte die Leere auszu87 S. unten den Abschnitt »Wiederkehrende Textelemenite«. 88 In diesem Jahrbuch S. 104 ff.

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füllen sucht oder wie der von Apathie Bedrohte Gefühle herbeizwingt. Damit gibt Büchner dem abstrakten Erklärungsmuster der Berichtpassage einen ideologisch spezifischen Inhalt; aus Angst vor der Leere wird religiös konkret die Angst vor der Ferne Gottes, aus dem Schrecken der Fühllosigkeit der Schrecken ewiger Verdammnis. Zusätzlich pathogen wirkt Religiosität dadurch, daß sie Krankheitsabläufe und Leidenserfahrungen in Kategorien von Schuld und Strafe zu deuten veranlaßt. Sucht der Religionskritiker, der Lenz der Berichtpassage, die Schuld für sein Leiden bei Gott, so sucht der religiöse, also der Lenz der zuletzt geschriebenen Erzählteile, die Schuld für sein Leiden bei sich selbst. Deshalb deutet er die derzeit erfahrene >Gottesferne< als Indiz seines Abfalls und seiner endgültigen Verdammung. Diese Form von Religionskritik, die Demonstration der pathogenen Wirkung bestimmter Formen von Religiosität, kommt zu ihrem Höhepunkt am Ende des ersten Abschnitts, der von Oberlins Rückkehr berichtet. Der Erzähler arbeitet auf diesen Höhepunkt hin, indem er von Lenz' Angst vor der »Sünde [in den] Heilige[n] Geist« berichtet (23.3), womit wohl gemeint ist, daß Lenz nicht jenen Glauben an die >Vergebung der Sünden< hat, den zu haben jeder Christ im dritten Teil des Credo bekennt. Der Erzähler stützt sich im ersten Teil des folgenden Abschnitts noch weitgehend auf Oberlins Bericht, löst sich dann aber von seiner Vorlage. Mit Lenz' Satz (23.17): »Doch mit mir ist's aus!« spielt Büchner wohl auf den von Werther gegen Ende wiederholt ausgesprochenen Satz an;89 Lenz' Selbstverständnis als der »ewige Jude« (23.19) variiert den Abbadona-Vergleich, den Jakob Lenz Oberlins Bericht zufolge verwandt hatte;90 mit den Begriffen »abgefallen, verdammt in Ewigkeit«, spricht Lenz das Urteil über sich selbst und stellt die Verbindung von Wahnsinn, Schuld und Strafe her, die der Text u.a. usakfWjKtfi. lidbi kaswri tppA«r Widm ^waiLtSAtri, aafe GleichgültigkeitBeste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so centnerschwer auf dem Herzen liegt ?< >Aber Herr Lenz, ich weiß von nichts.< Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer auf und ab

[···]·* Die Skurrilität, die der Adaptation im Schlußteil aufgrund ihrer Plötz-

lichkeit und des Verzichts auf Innenperspektive anhaftet, fehlt hier vollständig. Zwar ist die Frage inhaltlich immer noch >unvernünftigGlücks der fixen Idee< hat Büchner in die Anfangsphasen seiner Erzählung nicht oder doch nur in deutlicher Abwandlung übernommen. Lenz' Kampf mit einer Katze, der sich im Sinne der >fixen Idee< deuten ließe, gehört zu den »wahnwitzigsten Possen« (28.1). Der Erzählung, Lenz habe von dem in Fouday gestorbenen Kind gehört, »er faßte es auf, wie eine fixe Idee« (21.27), und dem folgenden Bericht, wie Lenz mit bitterem Ernst eine religiöse Auferweckungshandlung vorbereitet und ausführt, all dem sind die Züge des Komödienhaften, das dem >Reiten auf einer Idee< anhaftet, völlig fremd. Ich nehme an, daß Büchner diese Zustandsvariante nicht wieder aufzugreifen beabsichtigte. Die anderen drei Zustandsvarianten hingegen tauchen in den Anfangsteilen der Erzählung wieder auf. Ein eindeutiges Beispiel für die »seligsten Augenblicke« wird in der dritten Erzählphase geboten. Sie orientiert sich inhaltlich an Oberlins Bericht, Lenz habe am Sonntag, den 25. Januar, in Waldersbach »auf der Kanzel einen Schöne Predigt, nur mit etwas zu 65

Vieler Erschrokenheit« (O 72) gehalten. Über die Nachwirkung der Predigt auf Lenz heißt es in der Erzählung (12.1 ff.): »Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren Schmerz davon. [...] er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in sich, [...] er empfand ein leises tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust, er schlief ein [...].« Damit übernimmt Büchner die Charakterisierung der »seligsten Augenblicke« bis in sprachliche Einzelheiten hinein aus der Berichtpassage (29.9ff.): »Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er schluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst; das waren auch seine seligsten Augenblicke.« Gehören die seligen Augenblicke zu den punktuellen Beruhigungen, so die Angstzustände zu den dauerhaften Störungen, von denen der historische Lenz vermutlich sowohl in den ersten als auch in den letzten Nächten seines Aufenthalts befallen wurde. Sie versetzten ihn in äußerste Unruhe, von der er sich nur durch Gewaltakte wie seine Stürze in den Brunnentrog zu befreien wußte, durch ein Verhalten also, das Oberlin im Zusammenhang mit anderen Auffälligkeiten als Suizidversuche zu deuten begann. Im expliziten Widerspruch zu dieser Deutung erklärt der Erzähler der Berichtpassage dieses Verhalten als Versuch, »in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen an's Nichtseyn gränzenden Ruhe [...] sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz.« (29.23ff.) Damit greift er auf Begriffe und Deutungsmuster zurück, die er schon zu Beginn der Berichtpassage verwendet hatte. Zentral ist der Begriff »Angst« in Wendungen wie »eine unbeschreibliche Angst befiel ihn« (27.19), »und eine unaussprechliche Angst sich in seinen Zügen malte« (27.25) und der l&^griK vzjci vrdpi ktyrMPftfcri^ < -itri ^WtTiicirrgtTi »^cmi trat Tiadn * raidri wieder zu sich kam« (27.27), »um wieder zu sich zu kommen« (28.21), »bis er wieder zu sich kam« (28.25). Zu den angsterregenden Vorstellungen gehört die Wahrnehmung des Nichts - »Er hatte Nichts.« (27.13) - und der horror vacui, die Wahrnehmung der Welt als »leer« und der Versuch sie wieder zu füllen - »eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen« (27.12); »während er zuvor die noch schreckliche Leere zu füllen versucht hatte« (28.14). Lenz erlebt die Leere auch als Einsamkeit, der er durch laute Selbstgespräche zu entkommen sucht, wobei er dann wiederum vor vermeintlich fremden Stimmen erschrickt (27.15 ff.): »war es ihm so entsetzlich einsam, daß er beständig laut mit sich redete, rief, und dann erschrak er wieder und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen.« Er versucht der Angst zu entkommen, indem er sich an Personen oder Gedanken klammert: »Personen, die ihm zunächst saßen krampfhaft am Arm faßte« (27.26); »er klammerte sich an« Oberlin (28.36); »au' seine geistige Thätigkeit blieb manchmal in einem Gedanken hängen« (27.29). 66

Sämtliche eben genannten Abläufe einschließlich der dabei implizierten Deutungsmuster verwendet der Erzähler bei der Darstellung der ersten beiden Nächte in Oberlins Haus und - andeutend - auch schon beim Gang durchs Gebirge. Hierzu gehören: Angst (»die Finsterniß verschlang Alles; eine unnennbare Angst erfaßte ihn«, 7.36; »gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst«, 9.17); Angst - Nichts - Leere (»es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren«, 6.26), Leere ausfüllen (»es wurde ihm leer, [...] aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen«, 7.34), Einsamkeit (»es wurde ihm entsetzlich einsam«, 6.23), zwanghaftes Sprechen (»es war ihm als müsse er immer >Vater unser< sagen«, 8.4f.; »Er sprach, er sang, er recitirte Stellen aus Shakespeare« 9.27), sich klammern (»er klammerte sich an alle Gegenstände«, 9.24), zu sich kommen (»Oberlin kam gelaufen; Lenz war wieder zu sich gekommen«, 8.11), Wiedergewinnung von Bewußtsein durch Schmerzzufügung (»der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben«, 8.7), der zum Bewußtsein Gelangte beginnt sich zu schämen (»Dann war er wieder tief beschämt«, 28.12; »jetzt schämte er sich und war betrübt«, 8.13), nicht er selbst handelt, sondern ein Instinkt treibt ihn (»und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt«, 27.14f.; »ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten«, 8.5). Viele Teile der Berichtpassage erweisen sich damit als übertragen in Züge der Gebirgswanderung und die Beschreibung der ersten zwei Nächte. Als weiteres häufiges Motiv der ersten zwei Nächte ist die Wahrnehmung der Welt als Traum (»kam ihm Alles so traumartig, so zuwider vor«, 9.19f.; »der rettungslose Gedanke, als sey Alles nur sein Traum«, 9.23) in der Berichtpassage angelegt (»Alles traumartig, kalt«, 27.35), - außerdem außerhalb der Berichtpassage in der morgendlichen Klage über Langeweile, wo es bemerkenswerterweise heißt (25.14): »wenn ich nur unterscheiden könnte, ob ic?n träume oder wac1ne {.. ?$ ei Vrcföcfau: daxm -wit^itn Bett.« Die erste dieser Aussagen übernimmt Büchner für das Motiv der Welt als Traum. Daß er aber auch das Prädikat »huschte« im Ohr gehabt haben dürfte, läßt die folgende Formulierung zu der ersten Nacht vermuten (8.3): »er war sich selbst ein Traum, einzelne Gedanken huschten auf«. Der Vollständigkeit halber sei schließlich noch die Übernahme der räumlichen Wahrnehmungsstörung aus einer der Schlußphasen - Gänge nach Fouday: »die Landschaft beängstigte ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete« (26.6 ff.) - in die Erzählung über den Gang »durch's Gebirg« erwähnt, wo es heißt (5.17ff.): »alles so klein, so nahe, so naß [...], er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen«. Durch die Vielzahl dieser Übernahmen hat sich dasjenige, was an der Berichtpassage neu und wegweisend war, im Grunde erledigt. Büchner hatte in dieser Passage versucht, über die chronikalischen Einzelheiten hinaus ein zusammenhängendes Bild von Lenz' Krankheitszustand zu entwerfen. Den dominierenden Zug dieses Bildes - Angst vor der Leere 67

mit den dazu passenden gegensteuernden Reaktionen - hat er in den Anfangsteil übernommen und damit auch die Beobachtung, daß zumindest Lenz' nächtliches Baden der Angst entgegensteuerte und nicht etwa Suizidindiz war. Auch einen weiteren wichtigen Zug, die Seligkeit der empfindsamen Momente, hatte er eingearbeitet. Was blieb, war entweder Oberlins Bericht entnommen und konnte an chronologisch passender Stelle verwertet werden, oder es war konzeptionell überholt. Das gilt sowohl für die Lust an Possen, die Büchner Goethes Lenz-Porträt entliehen hatte, als auch für die an Danton3s Tod erinnernden Gesprächsteile, die Oberlin als Profanation bezeichnet und die zum Charakter des historischen Lenz auch wenig passen wollen. Die Berichtpassage, so ist aus alledem nur zu folgern, hat eben den Status, den m. E. auch die Szene »Hof des Professors« in Woyzeck H3 hat. Sie war ein Orientierungsentwurf, aus dem Büchner einige Elemente unmittelbar in den dann gültigen Text übernahm; andere mochte er für die Weiterarbeit vorgesehen haben; wiederum andere waren unbrauchbar geworden, und zwar in beiden Fällen in dem Maße, wie sie allzusehr von Komik zeugten. Mit anderen Worten: man sollte überlegen, ob dieser Textteil nicht eher unter die Paralipomena als in den Haupttext gehört.

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Quellenmaterialien und »reproduktive Phantasie« Untersuchungen zur Schreibmethode Georg Büchners: Seine Verwertung von Paul Merlins Trivialisierung des Lenz-Stoffs und von anderen Vorlagen Von Hubert Gersch (Münster) in Zusammenarbeit mit Stefan Schmalhaus (Wiesbaden)

»Das Was des Kunstwerks interessirt die Menschen mehr als das Wie; jenes können sie einzeln ergreifen, dieses im Ganzen nicht fassen.

[...]

Die Frage: w o h e r h a t ' s der D i c h t e r ? geht auch nur auf's Was, vom Wie erfährt dabei niemand etwas.« Goethe: Betrachtungen im Sinne der Wande-

Historisch-kritische Studien zeigen: Georg Büchner verfaßte keine Seite, wahrscheinlich keine Zeile, ohne sich von Quellen inspirieren zu lassen. Vom Hessischen Landboten bis zum Woyzeck gründete er seine literarische Arbeit ganz wesentlich auf die Verwertung von Fremdtexten. Er war schreibender Leser wie lesender Autor; er machte sich jede Lektüre zum Material für seine »reproduktive Phantasie«,2 für sein nachschaffendes und umschaffendes Gestalten. 1 Goethe: Werke. [Weimarer Ausgabe.] Abt. I. Bd. 42.2. 1907, S. 174f. 2 So Karl Gutzkow (im Telegraph für Deutschland 1839, S. 111) anläßlich von Büchners Lenz — in unübersehbarer begrifflicher Anknüpfung an den philosophischen und ästhetischen Diskurs des Deutschen Idealismus über Einbildungskraft resp. Phantasie. Dabei wurde seit Kants Kritik der reinen Vernunft durchweg die »reproduktive« Einbildungskraft dahingehend bestimmt, daß sie zwar empirische Anschauung als Voraussetzung hat, aber die Vorstellungen neu verknüpft und in Bedeutung verwandelt (siehe Karl Homann: Zum Begriff der Einbildungskraft nach Kant. - In: Archiv für Begriffsgeschichte 14 [1970],

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Das hat Methode: Büchners quellenorientiertes Schreiben ist kein Plagiieren, sondern ästhetisch-kritische Reflexion von Tradition. Seine Darstellungsweise verändert den Lesestoff so sehr, daß seine Übernahmen einen Gestaltungskontrast und Sinnwiderspruch zu den Vorlagen bilden. Büchner schreibt gegen seine Lektüre an, verfaßt Gegenentwürfe. Er verfolgt eine traditionsprüfende und -revolutionierende Methode, bei der er sich an den Quellenmaterialien kritisch abarbeitet, darstellerisch Widerstand gegen die Fremdtexte leistet und durch Umwandlung, ja Negation des Gelesenen das Eigene, das literarisch Neue hervorbringt. So auch im Fall des Lenz-Entwurfs. Büchners Schreibprinzipien beim Umschaffen seiner Hauptvorlage, des Rechtfertigungsberichts Herr L von Johann Friedrich Oberlin, und bei seiner Gegenkonzeption zu Goethes Erinnerungen an Jakob Michael Reinhold Lenz sind schon andernorts charakterisiert.3 Die Verwendung weiterer Quellen wird künftig noch zu belegen und deren darstellerische Integration zu analysieren sein. Jetzt soll das für Büchners Verwertung einer ungewöhnlichen Lektüre geschehen, für seinen Griff in die erbauliche Trivialliteratur. Bei der Beantwortung der Frage »woher hat's der Dichter?« sollen das »Was« und das »Wie« der Verarbeitung interessieren; neben den notwendigen philologischen Nachweisen der verwickelten textlichen Zusammenhänge werden auch detaillierte Einblicke in Büchners Schreibmethodik unternommen und Überlegungen dazu angestellt, wie beziehungsreich und assimilierend seine »reproduktive Phantasie« arbeitet. Alles in allem handelt es sich um einen Versuch, den Autor beim Lesen, den Leser beim Schreiben zu beobachten: Als Georg Büchner im Jahr 1835, an seinem >work in progress< arbeitend, Quellenmaterialien zu Lenz, Oberlin und dem Steintal sichtete, da £ii£( er sicta aus dtm. Stapti dt* Manuskripte, Artikel nana IMacVier, aie ihm von Freunden, vor allem von August Stöber, zur Verwertung überlassen worden waren, auch zwei Schriften4 von Paul Merlin...

S. 266-302, v. a. S. 279-282). - Philologische, formgeschichtliche und hermeneutische Fragestellungen zu Büchners Schreibmethode akzentuieren Burghard Dedner: Georg Büchner: Dantons Tod. Zur Rekonstruktion der Entstehung anhand der Quellenverarbeitung. - In: GBJb 6 (1986/87), S. 106-131, v.a. S. 130f.; Thomas Michael Mayer: »An die Laterne!«. Eine unbekannte Quellenmontage in Dantons Tod (7, 2). - In: GBJb 6 (1986/ 87), S. 132-158, v.a. S. 132 u. 158; Hubert Gersch: Georg Büchners Lenz-Entwurf: Textkritik, Edition und Erkenntnisperspektiven. Ein Zwischenbericht. - In: GBJb 3 (1983), S. 14-25, v. a. S. 21 f. 3 Vgl. ebd. S. 22-24. 4 Diese beiden Veröffentlichungen Paul Merlins, Promenades Alsaciennes (Paris 1824) und Le Pasteur Oberlin. Nouvelle Alsacienne (Paris u. Straßburg 1833), waren für Büchner auch in der Bibliothek Johann Jakob Jaegles, seines Schwiegervaters in spe, verfügbar siehe Catalogue des Livres Provenant de la Bibliotheque de feu M. Jaegle. - Straßburg 1837/38, S. 16, Nr. 474 u. S. 30, Nr. 971.

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Dieser Autor französischer Sprache hat keinen Eingang in die Annalen der Literaturgeschichte gefunden, und nur wenige Spuren seines Lebens und seines Werks5 sind heute noch zu ermitteln. Paul Christophe Elisabeth Merlin wurde am 18. Dezember 1788 im lothringischen Thionville (Diedenhofen) als Sohn des Konventmitglieds Antoine Merlin, genannt: de Thionville, geboren. Er war mathematisch-naturwissenschaftlich begabt, konnte 1807-1808 an der Ecole polytechnique in Paris, der Eliteanstalt für den militärisch-technischen Dienst, studieren und schlug die Laufbahn eines Artillerieoffiziers ein, in der er es schon 1813 zum Hauptmann brachte, nachdem er an den Napoleonischen Feldzügen in Österreich und Preußen teilgenommen hatte. Auf ein Leben als »officier superieur d'artillerie«6 verpflichtet, verstand er sein Schriftstellertum lediglich als Liebhaberei. Das Elsaß hat ihn zum Autor werden lassen. Vogesenwanderungen, Aufenthalte in Straßburg, Kontakte im Freundeskreis Ehrenfried Stöbers und in den Jahren 1819 und 1822 Besuche im Steintal (Ban de la Roche), auch beim greisen Pastor und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin, haben ihn zum schreibenden Verehrer der Region, insbesondere jenes Tals und seines geistlichen Patriarchen gemacht. Er wurde dann auch als einer der Autoren gelobt, »qui ont le mieux saisi l'esprit dOberlin et du Ban-de-la-Roche«.7 Merlins Verehrung für Oberlin drängte noch über sein Leben und literarisches Werk hinaus. Er verlieh ihr postumen Ausdruck, indem er testamentarisch verfügte, er möge ins Steintal überführt und auf dem Friedhof von Fouday beerdigt werden, nahe dem Grabmal Oberlins, das zu einem Wallfahrtsziel8 geworden war. Dort, rechts von der Ruhestätte Oberlins und unmit5 Außer den in der Untersuchung berücksichtigten Schriften Promenades Alsaciennes und Le Pasteur Oberlin publizierte Merlin (um 1840) noch einen loseitigen Aufsatz über Oberlin: Notice sur le Ban de la Röche et le Pasteur Oberlin, der (nach einem Hinweis von Reinhard Pabst, Frankfurt a. M.) als Separatum in der Bibliotheque Nationale, Paris, vorhanden ist. - Ein Roman Merlins, Le Chateau de Carqueranne. Singulier romanpar un officier superieur d'artillerie (Paris u. Straßburg 1839), ist auch in deutscher Übersetzung erschienen: Das Schloß von Carqueranne. Aus dem Französischen des Paul Merlin. - In: Pantheon auserlesener Erzählungen des Auslandes. Mit einem Vorworte von Albert Knapp. 2. Ausgabe. T. 9, S. 3-191 u. T. 10, S. 3-184. - Stuttgart 1850. - Eine weitere »Nouvelle« Merlins, Alsace et Lusitanie, vermutlich um 1851 veröffentlicht, ist (nach einem Hinweis von Harry Fröhlich, Augsburg) als Separatum in der Bibliotheque Nationale et Universitaire, Straßburg, vorhanden. 6 So die Verfasserangabe zum Roman Le Chateau de Carqueranne', siehe in Anm. 5. 7 Ehrenfried Stöber: Vie deJ.F. Oberlin, Pasteur a Waldbach au Ban-de-la-Roche. - Paris, Straßburg u. London 1831, S. 112, vgl. auch S. 502 u. 585. 8 Ebd. S. 589: »Le tombeau d'Oberlin est devenu un pelerinage. De pres et de loin des voyageurs [...] viennent visiter ce saint lieu.« —Vermutlich hatte Merlin zu jenen Artillerieoffizieren gehört, von denen E. Stöber, ebd., berichtet: »Peu de jours apres la mort du bon pasteur quelques officiers d'artillerie sont arrives au Ban-de-la-Roche, ils ont voulu presenter leurs hommages ä Oberlin, ils n'ont trouve qiae sä tombe.«

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Paul Merlin9 telbar an der Kirchenmauer* hat das Grab mit der Kreuzesinschrift »P. C. E. Merlin« das Werk dieses Autors überdauert, der am 9. September 1864 im etwa 60 km südwestlich des Steintals gelegenen Bruyeres starb. Seine erste ermittelte Schrift war bereits zu Oberlins Lebzeiten erschienen. Die 1824 in Paris unter den Initialen »P. M.« veröffentlichten Reiseberichte Promenades Alsaciennes Merlins brachten als zweiten Teil eine Promenade au Ban de la Roche. Dieser Bericht schildert vordergründig eine Exkursion von Straßburg zu Sehenswürdigkeiten der Natur, der Geschichte und der Oberlinschen Reformarbeit im Steintal. Doch nach dem Muster empfindsamer Reiseerzählung spiegelt sich darin das seelische Erleben des Autors, seine Melancholie, seine Jugenderinnerungen und Lebensreflexionen. (Siehe den Textauszug im Anhang der Untersuchung.) So ist diese Promenade die Darstellung einer sehr persönlichen Pilgerfahrt Merlins zu der »habitation de l'ange« (S. 134), zu dem »bon pasteur« (S. 126), der schließlich als der »venerable Oberlin« angerufen und zum 9 Abb. des Porträts (von Reinhard Pabst, Frankfurt a. M., ermittelt) nach der Revue Alsacienne Illustree 12 (1910), S. 80. 72

Leitstern der Lebensorientierung des Autors erhoben wird: »l'impression que tes discours et tes vertus ont f aite dans mon äme est ineff aqable, et quels que soient les orages qui menacent encore ma tete, eile dirigera le cours de mavie!« (S. 134) Das Hauptwerk seiner Verehrung veröffentlichte Merlin 1833 in Paris und Straßburg, sieben Jahre nachdem sein »bon pasteur« gestorben war. Unter dem Titel Le Pasteur Oberlin legte er eine »Nouvelle Alsacienne« vor,10 ein religiöses Zweckprodukt der literarischen Biedermeierzeit, in dem Merlin die Novellenform als bloßes Hilfsmittel handhabt, um seinen Erzählstoff Oberlin und das Steintal möglichst anschaulich und erbaulich vergegenwärtigen zu können. (Siehe den Textauszug im Anhang der Untersuchung.) Er siedelt die novellistische Handlung im Jahr 1817 an, also im letzten Lebensjahrzehnt Oberlins, und kann so durch erinnernde Gespräche der Steintalbewohner und ihres Patriarchen dessen Lebenswerk fünfzigjähriger Reformarbeit und Seelsorge in rückblickender Zusammenschau darstellen. Merlin will seine »Nouvelle« letztlich als Faktizitätsdarstellung verstanden wissen, der er mit der Integration von dokumentarischen Materialien, der Schilderung tatsächlicher Geschehnisse und der Anführung authentischer Zitate zu entsprechen sucht: »Tout ce qu'on a place dans la bouche dOberlin, dans cette Nouvelle a ete prononce ou ecrit par lui, a peu pres comme on l'a rapporte.« (S. 39) Dafür hat der Autor teilweise auf seine eigenen, in der Promenade au Ban de la Roche geschilderten Erkundungen zurückgegriffen, zumeist aber hat er sein Erzählmaterial en gros und en detail der 1831 erschienenen, voluminösen Biographie Vie de J.F. Oberlin von Ehrenfried Stöber11 entnommen.12 Nicht selten herrschen nahezu wörtliche Übereinstimmungen zwischen Merlins Novelle und dieser Vorlage.13 10 Das Buch wurde wenig später ins Deutsche übersetzt: Der Pastor Oberlin. Elsassische Novelle, nach dem Französischen des Paul Merlin von Moritz Wilhelm Gotthard Müller. Blankenhain u. Leipzig 1836, und (wie von Reinhard F. Spieß, Münster, ermittelt) in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung (Juli 1837, Nr. 134, Sp.464) wohlwollend rezensiert (vgl. dazu im folgenden S. 75). Von dieser Ausgabe ist derzeit kein Exemplar in deutschen Bibliotheken aufzufinden. Ein Wiederabdruck scheint vorzuliegen in der Ausgabe Das Pfarrhaus im Steinthale. Aus dem Französischen des Paul Merlin. - In: Pantheon auserlesener Erzählungen des Auslandes. Mit einem Vorworte von Albert Knapp. 2. Ausgabe. T. 5. - Stuttgart 1850, S. 5-158. 11 Siehe die bibliographische Angabe in Anm. 7. - Zu den doppelt und dreifach verwickelten Quellenzusammenhängen: E. Stöber seinerseits hatte in seiner O^er/m-Biographie (S. 112 f.) eine Gottesdienstschilderung aus Merlins Promenade (S. 109 f.) zitiert, die dieser selbst dann in seiner O&er/zw-Novelle (S. 20 f.) ebenfalls verarbeitete. 12 Beide Schriften werden am Schluß der O&er/m-NovelLe (S. 138 f.) zur ergänzenden Lektüre empfohlen. 13 Dazu nur ein Beispiel: In Merlins Novelle (S. 95) erzählt die Pfarrhelferin Louise Scheppler über den Tod von Madame Oberlin: »nous PentendJmes s'ecrier: >O Seigneur! tire-moi de cette cruelle situation!... < Monsieur [= Oberlin] avait passe son bras autour d'elle pour la soutenir; il dit Pavoir sentie agitee par un tremblennent convulsif, et avoir entendu un craquement dans sä poitrine«. Diese Szene ist E. Stsöbers O^er/m-Biographie (S. 221) 73

Bei aller materialen Nähe zu E. Stöbers Biographie akzentuiert Merlin die übernommenen Informationen oft abweichend. Er modelt Oberlin zu einem Charismatiker und entrückt ihn der politischen Wirklichkeit so weit, daß der Pastor in einem friedvollen Idyll abseits der großen Welt zu leben scheint. Bezeichnend ist es, wie weit in dem heiklen Punkt der Einstellung des Republikaners Oberlin zur Französischen Revolution Vorlage und Novelle auseinandergehen. E. Stöbers Biographie, auch wenn sie den Geistlichen als »homme presque divin« (S. 74), als »heros chretien« (S. 565) zeigen möchte und nicht ohne historische Verkürzungen auskommt, weiß dennoch einiges von dem »pasteur-citoyen« und seiner »conduite politique« zu berichten (S. 235-339), die immerhin zur Ehrung seines »civisme« durch den Nationalkonvent führte (S. 311-317). Die Biographie referiert durchaus: »Oberlin applaudit avec transport au nouvel ordre des choses; mais il eut constamment en horreur les exces de tous les genres« (S. 235). Dagegen läßt Merlins Novelle ihren Pastor dann die Revolution in Bausch und Bogen als »gouvernement sanguinaire« oder als »jours de folie sanguinaire« denunzieren. Von der historischen Wahrheit weit entfernt, behauptet dieser Oberlin: »ici, je n'ai pas vu de pres les nombreuses revolutions de la France« (S. 63 f.). Der schriftstellernde Offizier entpolitisiert den revolutionsbejahenden »pasteur-citoyen« - ganz im politischen Einklang mit den ängstlichen, restaurativen Tendenzen nach der Juli-Revolution. Sein Umgang mit dem Fakten- und Quellenmaterial arbeitet darauf hin, Oberlin zu einem »saint pasteur« (S. 102), zu einem Heiligen zu verklären: »un de ces prophetes charges d'une mission divine« (S. 128). Kurzum: Merlins Novelle versteht sich uneingeschränkt als Hagiographie. Diese Darstellungsintention herrscht vom Anfang (S. 3-5), der Oberlin als einen vom »grand spectacle« eines Gewitters ehrfurchtsvoll btrwtrgitri, abtrr ciTitrrsdnmTeriidnen Ootiesmann 'neraussteYrt, Vis 'tun zur Schlußapotheose (S. 138), wo er zum Engel erhoben wird: »L'ange qui, sous la forme humaine, avait dote ce canton de la fertilite et du bonheur, venait de depouiller son enveloppe terrestre, et, deployant ses ailes d'or, il avait regagne les regions etherees.« Als Kontrast jedoch zu der Geschichte des beständig gottgefälligen Lebens und mit ihr absichtsschwer verknotet erzählt Merlins Novelle auch die Geschichte einer Lebensumkehr, ja einer seelischen Wiedergeburt eines ganz andersartigen Menschen. Es ist die fiktive Lebensgeschichte14 entlehnt, in der allerdings der Pastor selbst berichtet: »En entrant dans la chambre, je lui entendis dire ces paroles: Seigneur Jesus! tire-moi de cette affreuse extremite. Je m'approchai et je passai le bras autour de son corps pour la soutenir. Dans ce moment je sentis un mouvement convulsif dans son bras et j'entendis un craquement dans sa poitrine«. 14 Vgl. S. 66-84 die Lebensbeichte des Rodolphe de Harr: Er entstammt einer am Stockholmer Königshof hochangesehenen Adelsfamilie. Schon als Kind durch den Haß seiner Stiefmutter unglücklich, lernt er während seiner Universitätszeit Niedertracht und Verstellung kennen und verfällt in Menschenverachtung, die sich noch vermehrt, als er erfährt, daß sein Vater durch eine Intrige unschuldig in Ungnade bei Hofe gefallen ist. Ein

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des schwedischen Adeligen Rodolphe de Harr, der aus Liebesleid und -schuld zum Melancholiker, zum Selbsthasser und Menschenfeind wurde, als einsamer, ruhelos in den Vogesen umherirrender Fremder zufällig ins Steintal gerät und bei Oberlin gastfreundliche Aufnahme und geistige Neuorientierung, religiöse Bekehrung und Versöhnung mit seinem Schicksal erfährt. Das Kalkül der novellistischen Konstruktion ist klar. Schon für die Jenaer Allgemeine Literaturz eitung (Juli 1837, Nr. 134, Sp.464) war Merlins »Gedanke« einleuchtend, Oberlins Wohltätigkeit »auf einen mit der Welt zerfallenen Mann [...], dem nichts mehr heilig schien, mit voller Kraft einwirken zu lassen. Man wird das Buch mit Vergnügen lesen«. Bietet also das erbaulich stilisierte Leben des »saint pasteur« keine Spannungsmomente, so soll die melodramatisch geschürzte Liebes- und Leidensgeschichte Rodolphes als erzählerisches Vehikel helfen, um einem Lesevergnügen an Unerhörtem, an Konflikt und Krise, an Geistes- und Schicksalswende entgegenzukommen. Wo die Handlungsstränge Rodolphes und Oberlins zusammengebracht sind, ist offensichtlich, daß die Geschichte des verzweifelten Melancholikers nur erzählt wird, um der Verklärung des Pastors Kontrast- wie Anschauungsmaterial zuzuspielen und die Hagiographie auch noch mit fiktionalen Mitteln zu fördern.15 Merlins Oberlin lebt ein Exempel vor, an dem sich der Unglückliche sittlich und religiös aufrichtet. Das Vorbild, die pastoralen Ermahnungen und ein Neues Testament der »Societe Biblique« (S. 38) haben den Erfolg, daß Rodolphe sich zu Gott und dem Leben bekehrt; zur Ehe entschlossen, macht er sich auf die Suche nach seiner Geliebten und kommt mit ihr vereint ins Steintal zurück. Er ist unter dem Einfluß Oberlins zu armer Jude kann schließlich den ganzen Vorfall aufklären, und aus Dankbarkeit nimmt ^Ä/d/aL-pb/tt VriÄE awm. TodbiÄT Elise in iein Haus auf Rodolphe verliebt sich in das jüdische Mädchen und beschließt in seiner Leidenschaft, sich über alle Vorurteile und Standesgrenzen hinwegzusetzen und filise zu heiraten. Während beide noch an der Zustimmung von Rodolphes Vater zweifeln, stirbt dieser plötzlich. Der Heirat scheint nun nichts mehr im Wege zu stehen, doch dann folgt der nächste Schicksalsschlag: filises Vater kommt unschuldig ins Zuchthaus. Um Rodolphes gesellschaftlichem Ansehen nicht zu schaden, verläßt filise ihn heimlich. Später läßt sie ihn wissen, daß sie ihm kürzlich einen unehelichen Sohn geboren hat. Rodolphe verfolgt in verzweifelter Liebe ihre Spur nach Wien, doch sie hält sich vor ihm verborgen. Das unglückliche Schicksal stürzt ihn in tiefe Schwermut; er flieht die Menschen und durchstreift die einsamsten und wildesten Gebirge... 15 Bis in einzelne Episoden hinein zeigt sich der Vehikelcharakter der Geschichte Rodolphes. Beispielsweise: Dessen Vorurteile gegenüber Juden dienen dazu, die tolerante Haltung Oberlins kontrastierend herauszustellen, der das Beispiel tätiger, alle Religionsunterschiede ignorierender Nächstenliebe vorlebt, indem er Juden des Steintals aus seinen persönlichen, bescheidenen Mitteln unterstützt (vgl. S. 57-60 u. 87f.). Oder: Nachdem Rodolphe seine unglückliche Liebesgeschichte berichtet hat, streicht der Geistliche, eigene Erfahrungen schildernd, die Vorzüge des Ehestandes heraus; die uneheliche und ungeordnete Beziehung zwischen Rodolphe und filise ist nur ein willkommener Kontrastfall, um vor dessen Hintergrund Oberlins gottgewollte Ehe und gottergebene Liebe um so vollkommener abzuheben (vgl. S. 85-87 u. 90—97). 75

einem »homme tout nouveau« (S. 119 u. 124) geworden - nun befähigt, ein glückliches und philanthropisches Leben in seiner schwedischen Heimat zu führen. Darin liegt der Wende- und eigentliche Zielpunkt der Novelle und zugleich der pastoraltherapeutische Triumph über Leidenschaft und Glaubenszweifel, Lebenskrise und Leid, Sünde und Melancholie. Waren Paul Merlins Erzählabsicht wie -Strategie darauf ausgerichtet, an der Unsterblichkeit seines »saint pasteur« zu meißeln und ihm ein erbauliches Bücherdenkmal zu errichten, so sollte es jedoch dem völlig anders interessierten Autor Georg Büchner vorbehalten bleiben, das literarische Weiterleben Oberlins zu bewirken, als er von ihm als menschenfreundlich scheiterndem Gastgeber und therapeutisch hilflosem Seelsorger des psychisch kranken Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz erzählte...

Man kann es sich so vorstellen: Als Georg Büchner bei der Arbeit an seinem Lenz-Entwurf auch die beiden Schriften Paul Merlins aufschlug, mußte ihn das poetologische »Avant-propos« (S. l f.) der Novelle Le Pasteur Oberlin aufmerken lassen. Da begegnete ihm das Erzählprogramm, den Menschen Oberlin als lebendige Gestalt, als »Phomme anime du souffle divin« zu vergegenwärtigen und mit novellistischer Darstellung sich von jenen Lebensbeschreibungen abzusetzen, die ihn nur als leblose Statue, als ein »marbre froid«, präsentiert hätten. Da war also von einer Erzählintention zu lesen, die Büchner an seine eigene Darstellungsprogrammatik denken lassen konnte, wie er sie im Lenz16 (S. 14), mit der Polemik gegen die toten »Holzpuppen« des »Idealismus« und mit der Forderung nach einer Kunst, die »Leben habe«, thematisierte und zugleich mit seiner GestaJjami^v^^^^in«,. XJJÄ a^assaii&i&M&Aßi. O^^^lb&HgS'Wtziat in Goethes Erinnerungen an Jakob Lenz erzählerisch verwirklichte.17 Doch wie weit Merlins Darstellungspraxis hinter allen Vorsätzen und Erwartungen zurückblieb, mußte für Büchner schon auf den ersten Seiten der O&er/w-Novelle (vgl. S. 3-9) ersichtlich sein. Der Auftakt mit dem »grand spectacle« des Gewitters konnte ihm nur wie Theaterdonner vorkommen, der den ersten Auftritt effekthascherisch eröffnet. Oberlin erscheint da keinesfalls in lebendiger Darstellung, sondern als ein geistlichheroisches Standbild; die schablonenhafte Naturszenerie soll nur als Hintergrund dienen, um pastorale Tugenden aufleuchten zu lassen. Und in plakativem Kontrast tritt prompt und spektakulär der melancholisch ver16 Zitate und Nachweise nach Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L «in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über J.M.R. Lenz. Hg. v. Hüben Gersch. - Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek 8210), S. 3-31. 17 Vgl. dazu ebd. S. 51-57 u. 72-77.

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zweifelte Rodolphe auf, um - eben noch mit der »grande question du suicide« beschäftigt - im Pfarrhausidyll mit dem Glockenschlag elf seinen Lebenskummer zu vergessen und friedvoll schlafen zu gehen. Bei aller Enttäuschung, daß er mit dieser Novelle nur erbauliche Dutzendware in Händen hielt, dürfte dem Leser Büchner jedoch nicht entgangen sein, daß in Merlins Trivialisierung gewisse historische Ereignisse durchschienen, die ihm selbst nicht unbekannt waren. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte vom psychisch kranken Fremden, der durchs Gebirge ging, zum Pastor Oberlin kam, gastfreundlich aufgenommen und seelsorgerisch betreut wurde, dies war im stofflichen Kern die Geschichte des Jakob Lenz vom Anfang des Jahres 1778, wie sie Büchner gerade mit vielfältigen Quellenstudien rekonstruierte und erzählerisch gestaltete. Die historischen Geschehnisse waren 1831 erstmals von Ehrenfried Stöber in seiner Oberlin -Biographie, im Kapitel »Hospitalite genereuse envers le poete Lenz« (S. 215 f.), bekannt gemacht und noch im selben Jahr von seinem Sohn August Stöber in dem Fortsetzungsaufsatz Der Dichter Lenz. Mittkeilungen im Cottaschen Morgenblatt für gebildete Stände (Jg. 25, Nr. 250-295, S. 997-1080) weitläufiger geschildert worden. (Beide, Vater wie Sohn, verdankten ihre Kenntnisse Oberlins eigenem Bericht Herr L ,18 den der Biograph als unveröffentlichtes Rechtfertigungsschreiben im Nachlaß des Geistlichen entdeckt hatte.19) Die nachfolgende Untersuchung wird zeigen, daß Ehrenfried und August Stöbers Publikationen, die auch zu Büchners Arbeitsmaterialien gehörten,20 wenige Jahre vor ihm schon von Merlin als Stoff quellen für den Rodolphe-Plot seiner O^er/m-Novelle benutzt wurden. Das bedeutet: Dieser französische Gelegenheitsschriftsteller war es, der als erster eine, wenn auch noch so triviale Fiktionalisierung jenes historischen SteintalaufernWas des D^ciA-ws J-akcfo LtTiX ^ ^ / kiA., ÄAXL dann, ducck Büchner in die Weltliteratur eingeschrieben werden sollte. Auf den Grundeinfall zu seinem Plot war Merlin wohl durch seine ständige Vorlage, die O&er/w-Biographie E. Stöbers, gekommen, wo (S. 215 f.) knapp skizziert ist, daß Lenz aus Liebesunglück, durch eine »passion malheureuse«, in eine »melancolie profonde« gestürzt sei und in 18 Zitate und Nachweise nach ebd. S. 35-50. - Siehe demnächst in den Büchner-Studien den Band von Hubert Gersch (in Zusammenarbeit mit Mitgliedern Münsteraner Forschungsseminare): Der Text, der produktive Unverstand des Abschreibers und die Literaturgeschichte. ]. F. Oberlins Bericht Herr L und die Überlieferung. Kritische Ausgabe. Dokumentation der Textüberlieferung. Kritik der Textüberlieferung. Interpretationsbeispiel. 19 Vgl. Gersch: Nachwon. —In: Büchner: Lenz, S. 64—72. 20 Zur Quellenrelevanz von E. Stöbers O£er//w-Biographie vgl. schon Kurt Voss: Georg Büchners Lenz. Eine Untersuchung nach Gehalt und Formgebung. — Diss. masch. Bonn 1922. S. 66-72. Zu Büchners Benutzung des Z,ewz-Auifsatzes von A. Stöber vgl. fürs erste die Bemerkungen von Richard Thieberger: Situation de la Buechner-Forschung (II). - In: Etudes Germaniques 23 (1968), S. 405-413, v. a. S. 406f. 77

diesem Zustand »de derangement mental« seinen Seelenfrieden bei Oberlin gesucht habe, der ihn »avec une bonte angelique« betreute. Einzelheiten dieser Geschichte hatte Merlin dann dem Lenz -Aufsatz A. Stöbers entnommen,21 in dem (S. 1002) vermittels romantisierender Topik22 ausgesponnen ist, der Dichter sei liebeskrank und im ganzen »Wesen verwildert«, wie »von einem unvermeidlichen Schicksale erfaßt«, ins Elsaß und im Januar 1778 ins Steintal gekommen: »Er irrte [...] in den Vogesen umher« und gelangte »in seinem Aeußern auf's Höchste vernachläßigt« zu Oberlin, der dem ihm »unbekannten kranken Jünglinge einige Wochen lang die liebevollste, ängstlichste Pflege angedeihen« ließ und für Lenz zum »theuersten Freund und Wohlthäter« wurde. Zwar ist - des Kontrastes zum schlichten Oberlin wegen - der bürgerliche Livländer aus A. Stöbers Aufsatz in Merlins Novelle zum adeligen Schweden verändert. Doch lassen dort wie hier schon die Willkommensszenen in Oberlins Pfarrhaus, in der Grundmotivik des spektakulären Auftritts und in charakteristischen Beschreibungsdetails, erkennen, daß A. Stöbers (S. 1002) Angaben über Lenzens befremdende Erscheinung die Vorlage dafür abgegeben haben, wie Merlin (S. 4 f.) seinen Rodolphe darstellt. Wird der erste Eindruck des Gastgebers, bei Lenz handele es sich dem äußeren Erscheinungsbild nach um einen »Schreinergesellen«, wenig später durch die »freimüthige Manier« des Besuchers widerlegt, so zeigen analog Rodolphes »paroles« entgegen dem ersten Anschein von Unordentlichkeit dann »un homme bien eleve«. Ist Stöbers Lenz »in seinem Aeußern aufs Höchste vernachläßigt«, so heißt es über Rodolphe entsprechend: »ses cheveux, ses habits sont en desordre«. Und die »hängenden Locken« Lenzens sind das Vorbild für die als »naturellement Boucles« beschriebenen Haare Rodolphes. Die pbJJ^k^w/daÄ A^itnß^kfc^mküA iwt dit Vtarw^rccnog ^on A. Stöbers Der Dichter Lenz in Merlins Novelle Le Pasteur Oberlin wäre nicht sonderlich lohnend, wenn nicht auch zu entdecken wäre, daß Georg 21 Es ist kein Indiz, weder ein textliches noch ein entstehungsgeschichtliches, dafür zu ermitteln, daß Merlin etwa Oberlins Bericht Herr L gekannt hätte, den A. Stöber seinem Ereund Büchner in Form einer Abschrift als Quelle für das Lercz-Projekt zur Verfügung stellte. 22 Stereotypie und Variationsenge lassen sich in Gegenüberstellung mit Wilhelm Waiblingers schauerromantischer Anekdote in Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn (1831) ablesen: »Auf eine unerklärbare Weise, plötzlich und unerwartet, ohne Geld und Habseligkeiten, erschien er in seinem Vaterlande. Herr von Matthisson erzählte mir einmal, daß er ruhig in seinem Zimmer gesessen, als sich dieThüre geöffnet, und ein Mann hereingetreten, den er nicht gekannt. Er war leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler. Erschrocken hebt sich Herr von Matthisson auf, das schreckliche Bild anstarrend, das eine Zeitlang verweilt, ohne zu sprechen, sich ihm sodann nähert, über den Tisch hinüberneigt, häßliche ungeschnittene Nägel an den Fingern zeigt, und mit dumpfer geisterhafter Stimme murmelt: Hölderlin.« (Nach: Hölderlin: Sämtliche Werke. - Stuttgarter Ausgabe. Hg. v. Friedrich Beissner. BcL 7. T. 3.1974, S. 60.) 78

Büchner als materiale Anregung für sein eigenes Lewz-Projekt auch die O^er/m-Novelle Merlins und dazu noch dessen Promenade an Ban de la Röche in einigen Motiven und Passagen benutzt hat. Dieser Zusammenhang des Lenz mit den beiden Schriften Merlins wird im folgenden näher untersucht. (Dabei sind keineswegs auch nur annähernd vollständige Nachweise der Vorlagenverwertung angestrebt. Das ist Sache des Kommentars der historisch-kritischen Lewz-Ausgabe und wird derzeit erarbeitet.) Hier soll, wenn auch nur beispielhaft, Büchners erzählerische Integration der Vorlagenmaterialien und damit ein Charakteristikum seiner Schaf fens weise erhellt werden. Denn die vielfachen, verzweigten Vorlagenzusammenhänge des Lenz-Entwurfs können bei quellenkritischer Zusammenschau Einsichten bieten in Büchners von Lektüreimpulsen geleitete Schreibmethode und Erkenntnisse ermöglichen über seine auf Reflexion und Verarbeitung disparatester Quellenmaterialien aufbauende Gestaltungsweise. Ein Abriß der Beziehungen derjenigen Werke, mit denen sich die Untersuchung im engeren Sinne beschäftigt, kann vielleicht helfen, den Überblick zu wahren, wenn es in das Studium der Einzelheiten der Vorlagenbenutzung geht. Hier das Stemma der verwickelten Quellenverhältnisse: 1778

Oberlin: Herr L

Merlin: Promenade au Ban de la Roche

1824

1831

E. Stöber: Vie de J. R Oberlid

A. Stöber: Der Dichter Lenz

Merlin: Le Pasteur Oberlin

1833

1835

Büchner: Lenz

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Die Spuren der Quellenbeziehungen, gewissermaßen die Fingerabdrücke bei der Vorlagenbenutzung, zeigen sich in textlichen Details, vor allem in den Motivelementen. Die mikrologische Betrachtung der Motivik und ihrer Filiationen ermöglicht den philologischen Nachweis der Verwertung von Merlins Novelle Le Pasteur Oberlin in der Lenz-Erzählung.23 Das soll am Beispiel der Darstellung des äußeren Erscheinungsbildes geschehen, das Büchners Lenz bei seinem Auftritt im Pfarrhaus bietet. In der Erzählung (S. 7) heißt es ganz lakonisch: »die blonden Locken hingen ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen.« Diese Zeilen, das Kurzporträt eines Verstörten, hat Büchner nicht etwa nur nach seiner Hauptvorlage, Oberlins Bericht Herr L , konzipiert, wo (S. 35) lediglich von »Haaren und hängenden Locken« die Rede ist. Vielmehr hat er die konkreten Züge des Porträts aus Kleinmotiven zweier sehr verschiedenartiger Quellen zusammengesetzt und gestaltet. Daß Lenz »blonde Haare« besaß, hat Büchner Goethes Dichtung und Wahrheit entnommen.24 Andere Darstellungsdetails hat er der Oberlin-Novelle Paul Merlins entliehen. Daß diese Novelle in ihrer Beschreibung des Rodolphe de Harr sich auf die Lenz-Charakterisierung in Stöbers Aufsatz gründet, konnte oben schon nachgewiesen werden. Es ist jedoch nötig, das Augenmerk nochmals auf die Motivfiliationen von Stöber zu Merlin zu richten, um in dessen Beschreibung solche Darstellungszüge herauszuarbeiten, die über die Entlehnungen aus der Stöberschen Vorlage hinausgehen und die motivische Anregungen für Büchners Lenz-Porträt abgegeben haben. ¥A WA WjfficpÄärt,·. wiTi-em AjcÄ&tfix^S. YSß/l^Viane A. Sröber die "N adtinc'nt Oberlins von Lenzens nicht den sozialen Konventionen entsprechenden »Haaren und hängenden Locken« überliefert. Dazu hatte Stöber, seine

23 Eine kleine Beobachtung zur Textgenese: Spuren der Verwertung von Merlins Schriften finden sich anscheinend nur in den Partien des Lewz-Entwurfs, die bereits eine relativ große Selbständigkeit erreicht haben (gegenüber Oberlins Bericht Herr L , der Hauptquelle, von der Büchner in mehreren Arbeitsstufen sozusagen sich wegschreibt) und die schon weitgehend ausgearbeitet sind, also einer letzten Arbeitsstufe angehören dürften (zu dem Nachweis der Arbeitsstufen vgl. Burghard Dedner: Büchners Lenz: Versuch einer Rekonstruktion der Textgenese, im vorliegenden Band, oben S. 3-68). Diese Umstände lassen auf eine späte Lektüre und Einarbeitung Merlins bei der Ausgestaltung des Lewz-Entwurfs im Herbst 1835 schließen. 24 Vgl. Gersch: Nachwort. - In: Büchner: Lenz, S. 75. - A. Stöbers Lenz-Aufsatz wie der ihm zurundeliegende Bericht Herr L von Oberlin enthalten keinen Hinweis auf Lenzens Haarfarbe.

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historische Quelle mißverstehend,25 ersonnen: der seelisch kranke Lenz sei »in seinem Aeußern aufs Höchste vernachläßigt« im Pfarrhaus angelangt. Die Stöbersche Charakterisierung übernehmend und ins Körperliche ausphantasierend, hatte Merlin in seiner Novelle (S. 4) Rodolphe de Harr mit unordentlichen, regendurchnäßten Haaren und Kleidern in Szene gesetzt: »II est trempe par la pluie; ses cheveux, ses habits sont en desordre«. Des weiteren (S. 5 f.) hatte er eine einläßliche Personenbeschreibung verfaßt, deren einzelne Elemente sowohl auf die adelige Abstammung als auch auf die seelische Niedergeschlagenheit des fremden Ankömmlings sehr ausdrücklich verweisen: »La partie de ses vetemens qu'il a conservee annonce Paisance et meme le luxe. [...] Des cheveux d'un blond cendre,26 naturellement Boucles, ombragent un front eleve, oü quelques rides fugitives paraissent Peffet des chagrins plutot que celui des annees. Son visage pale est plein de noblesse; ses yeux noirs expriment un triste decouragement; mais il est facile de deviner, sous l'abattement qui les appesantit, les feux qu'ils pourraient lancer dans l'occasion. [...] et Pon put remarquer un sourire ironique qui parcourait ses traits.« Und an Merlins Beschreibung knüpft Büchners Lenz-Porträt an, nicht in seiner Struktur der wortkargen Bestandsaufnahme, sondern in den motivischen Elementen der losen Haare, die das bleiche Gesicht umrahmen, des Gefühlsaussdrucks der Augen wie des Mundes und im Motiv des derangierten Zustands der Kleidung: »die blonden Locken hingen ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen.« Doch bei aller Quellenabhängigkeit und Stereotypie in den Details - welch darstellerischer Unterschied im ganzen durch Variation und Steigerung, Komprimierung und Reduktion der entlehnten Motive. Während Merlin in epischer Häufung Rodolphe mit gemeinplätzig metaphomieneri Attributen -ata VidiaticVioliikci AÜJ> aimokiZerrissenheit< zu lesen ist. Der Quellenbefund besagt, daß Büchner sogar kleinste Einzelheiten nicht erfindet, sondern übernimmt - auch von einem Trivialautor wie Paul Merlin. Darüber hinaus kann der Vergleich aber auch erkennen lassen, wie seine »reproduktive Phantasie«, seine nachschaffende, wiederhervorbringende Erfindungskraft, das entlehnte Quellenmaterial gestalterisch verändert und in der Bedeutung verwandelt, so daß aus Merlins klischeehafter Beschreibung des melancholischen Habitus die Darstellung von Seelenleid erwächst.29 Diese Schaffensmethode wird besonders sinnfällig in einem nächtlich einsamen Gefühlsausbruch: »die Locken fielen ihm über die Schläfe und das Gesicht«. 28 Ein Motivkeim für Büchners Natureingang seiner Lewz-Erzählung (S. 5 f.) entstammt A. Stöbers Aufsatz (S. 1002), wo dem kranken Jakob Lenz ein einsames Umherschweifen zugeschrieben ist: »Er irrte im tiefen Winter durch Schnee und Wind in den Vogesen umher und kam so, im Jänner 1778, [. . .] zu [. . .] Oberlin nach Waldbach«. Dabei handelt es sich um ein Phantasieprodukt Stöbers, mit dem er seine Wissenslücke über die Vorgeschichte des Lenzschen Steintalaufenthalts überspielte. Die tatsächliche Reise zu Oberlin stellt sich als weitgehend geplant und gesellig dar: Lenz war am S.Januar von Winterthur aus, wo er sich seit vergangenem November psychisch krank bei Christoph Kaufmann aufgehalten hatte, zusammen mit diesem, mit Johann Ehrmann und Heinrich Bosshard zu einer im Stil der Geniereisen unternommenen Einladungstour für Kaufmanns Schweizer dingen und Straßburg und dann ins Steintal zu Oberlin führen sollte. Auf dieser Reise ^erlitt Lenz Mitte Januar in Emmendingen bei Johann Georg Schlosser einen psychischen Zusammenbruch; Kaufmann »ließ Lenzen zur Ader und schaffte ihn fort, zu einem Prediger im Elsaß«, zu Oberlin - so ein Emmendinger Zeuge, Friedrich Freiherr von Zinck in einem Brief vom 4. April 1778 an Christian Friedrich Eberhard (Original in der Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 0349, Bl. 55r-56v·). 29 Um den Gestaltungsunterschied weiter auszuführen: Rodolphes Melancholie ist ein der Figur aufgeklebtes Etikett, ein Leiden, das die Novelle nirgends erzählerisch darstellt, sondern lediglich als Attribut formuliert, z. B. als »une tristesse profonde« (S. 5), »son ame abattue et souffrante« (S. 54), »des regards sombres et melancoliques« (S. 65). Merlin führt Rodolphes Seelenkrankheit auf dessen tragische Liebesgeschichte zurück und wiederholt damit ein traditionelles Erklärungsmuster, das Melancholie und Wahnsinn von jeher als Folge unglücklicher Liebe verstand und das er auch in seinen Quellen vorfand. Hatte doch bereits E. Stöbers O^er/m-Biographie (S. 2 1 5), auf einen klassischen Präzedenzfall anspielend, die Krankheit des Jakob Lenz als Folge von Liebesunglück gedeutet: »L'infortune Lenz cut le sort du Tasse: une passion malheureuse pour une jeune Allemande le jeta dans une melancolie profonde, qui eclatait souvent en acces de fureur.« Und auch in A. Stöbers Lews-Aufsatz (S. 998) war der Fall klar - die verzweifelte Liebe zu Friederike Brion hatte den Dichter in den Wahnsinn getrieben: »Heiße, ewige Liebe schworen sich beide. Lenz trank einen vollen Kelch der süßesten Wonne, die sich leider in der Folge in 82

Erzählzusammenhang, in dem Büchner (S. 7f.) die erste Übernachtung des fremden Lenz in Waldersbach darstellt. Dabei entwickelt er die knappen Angaben seiner Hauptquelle, Oberlins Bericht Herr L (S. 35), daß Jakob Lenz im »Besuchzimmer im Schulhause« untergebracht wurde und »die ganze Nacht nicht geschlafen« hat, zu einer anschaulichen Szene, indem er spezifische Einfalle aus der Lektüre Merlins gewinnt. Doch in der eigenen Darstellung formt er den ganzen Zusammenhang in nahezu allen Zügen dem Gelesenen entgegengesetzt. Die Gestaltungs- und Bedeutungsunterschiede könnten kaum größer sein: Während Merlins besinnlich-biedermeierliche Episoden episch-erbauliche Ruhepunkte markieren, macht der Autor des Lenz daraus eine Szene der Unruhe, Irritation und Verstömng: Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß Büchner für seine Erzählung (S. 6-8) sowohl die Promenade au Ban de la Roche benutzt,30 wo (S. 88-96) Merlin seine Wagenfahrt nach Fouday und seine dortige Übernachtung im Hause des Fabrikanten Jean Luc Legrand schildert, als auch die Novelle Le Pasteur Oberlin verwertet, in der (S. 8 f.) jene Schilderung aus der Promenade dann von Merlin zur Episode der ersten Nacht Rodolphes in Oberlins Pfarrhaus umgeschrieben ist. Wegen dieser engen motivischen Verwandtschaft der Quellenepisoden ist nicht immer zu unterscheiden, welche der beiden Vorlagen Büchner für seine Motiventlehnungen und -Umgestaltungen im einzelnen verwendet. Doch setzt seine Übernahme eindeutig bei der Promenade an. Merlin berichtet dort, wie er und sein Diener hinter Rothau von der nächtlichen Dunkelheit überrascht werden: »La nuit est devenue tres-obscure; mon domestique est oblige de conduire le cheval par la bride et d'arreter de temps en temps pour reconnaitre la route qui, souvent fort etroite, s'eleve quelquefois ä une assez grande hauteur au-aessus ae \a prairie, , , que\q-ues VarrAfexea quc ncra* «t den bittersten Schmerz auflöste und seinem ganzen Leben jene traurige Wendung gab, welche ihn verzehrte. Der Gedanke an seine Geliebte absorbirte ihn ganz; in ihm gingen alle ändern Gedanken unter.« Dagegen läßt sich Büchners Lenz als eine »Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung« (so Karl Gutzkow im Telegraph für Deutschland 1839, S. 111) verstehen, die seelisches Leid erzählerisch darstellt und Kausalerklärungen verweigert. Das Leiden an unglücklicher Liebe ist lediglich eines von vielen Symptomen der Seelenkrankheit Lenzens. Seine Liebesgeschichte, soweit sie in der Erzählung nachklingt, bleibt unaufgelöst. Büchner widersetzte sich den Erklärungsversuchen zu Lenzens Liebesunglück und Melancholie, die er aus den Schriften der Stöbers kannte, wie er auch mit seiner DarsteDung gegen Publikumserwartungen Widerstand leistete, die ihm Karl Gutzkow nahebringen wollte: »Schrieben Sie mir nicht, daß Lenz Göthes Stelle bei Friederiken vertrat. Was Göthe von ihm in Straßburg erzählt, die Art, wie er eine ihm in Kommission gegebene Geliebte zu schützen suchte, ist an sich schon ein sehr geeigneter Stoff.« (Brief vom o.Februar 1836 in: Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. München 1988, S. 346.) 30 Den ersten Leserinnen der Untersuchung, Dorit Ehllers (Marburg) und Frauke Kuhrbacher (Münster), sei gedankt für Kritik und Anreg^in-.gen bei der Quellenauswertung der Promenade und bei dem interpretatorischen Vergleich.

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vons, nous indiquent que nous touchons au hameau qui precede le village de Foudai.« Von einem Einwohner auf den Weg ins Dorf verwiesen, kommt Merlin »bientot ä Foudai«, wo er von Frau Legrand gastfreundlich aufgenommen wird. Aus der Kutschfahrt nach Fouday macht Büchner die panische Flucht Lenzens aus dem Gebirge nach Waldersbach zum Pfarrer Oberlin. Dabei benutzt er nicht nur die Kernmotive der hereingebrochenen Nacht, des unsicheren Wegs durch die Dunkelheit sowie der erleichternden Entdeckung von Lichtern einer Ansiedlung, sondern baut die Entlehnungen noch aus zum Angsterlebnis von Natureinsamkeit und zur Beruhigung in menschlicher Gesellschaft. Über das Stoffliche hinaus greift er anscheinend auch sprachliche Winzigkeiten auf — Formulierungen wie »Enfin« und »bientot« in Form von »Endlich« und »bald« - als zusätzliche Impulse für seinen >miterlebenden< Erzählstil. So heißt es dann im Lenz: »Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins«, und nach Lenzens Flucht vom Berg: »Endlich hörte er Stimmen, er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde nach Waldbach.« Durch »Lichter« und »stille Gesichter« beruhigt, macht sich Lenz auf den Weg, »es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause.« In der Promenade berichtet Merlin nach dem »souper« und der »conversation [...] tres-animee« von seiner Beherbergung: »L'heure de se retirer ayant sonne, un des fils de M. Legrand me conduisit dans la chambre qui m'etait destinee«. Im Lenz wird die Beruhigung des Gastes und »sein lebendiges Erzählen« im Kreis der Familie Oberlins dargestellt und weiter mitgeteilt: »Endlich war es Zeit zum Gehen, man führte ihn über die Straße, das Pfarrhaus war zu eng, man gab ihm ein Zimmer im Schulhause.«31 In Merlins Oberlin -Novelle wird Rodolphe zur Nacht im Pfarrhaus in OTicm^drindntenXimmer untergebracht,1* »qui etait petite, rnais ae'iaplus grande proprete«; für den Fremden ist ein Bett, »blanc comme neige«, bereitet, ja gastfreundlich schon aufgedeckt. Solche akkurate Gemütlichkeit findet Büchners Lenz bei seiner Übernachtung nicht vor, im Gegenteil: »es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hintergrund«; die Aufzählung evoziert den Eindruck eines deprimierend kahlen Raums, der in seiner Weite und Leere dem heimelig-engen Pfarrhaus kontrastiert, das Lenz zuvor verlassen mußte. In der Promenade öffnet 31 Büchner verdankt sein pragmatisches Erklärungswissen um die Kleinheit des damaligen Pfarrhauses und die unmittelbare Nachbarschaft der Schule der O&er/w-Biographie E. Stöbers (S. 78-81), wo referiert ist: »Miserablement löge lui-meme, dans une hutte« ließ der Pfarrer »en face de cette chetive maison curiale« in den Jahren 1769 bis 1771 »une belle maison d'ecole« errichten. Festzuhalten ist allerdings auch, daß Büchner das Informationsdetail von der Armseligkeit der Behausung Oberlins umgewandelt hat in Lenzens Wahrnehmung von Intimität und Heimeligkeit eines empfindsam-biedermeierlichen Pfarrhausidylls (vgl. S. 7). 32 Die Aufenthalte im Gastzimmer und die jeweilige Seelenarbeit Rodolphes markieren die Stationen seiner Bekehrung und Schicksalsversöhnung - so S. 58, 65 f. u. 116-119. 84

Merlin eilig das Fenster, um in Richtung Waldersbach, den Wohnsitz Oberlins, zu schauen,33 und in der Novelle nimmt Rodolphe am geöffneten Fenster Platz, um den Blick weit in die friedliche, mondbeschienene Natur schweifen zu lassen. Büchner freilich widersetzt sich dem romantisierenden Motiv des kontemplativen Fensterausblicks mit einer demonstrativen Leerstelle seiner Darstellung, durch die Lenzens Wahrnehmung eines gleichsam fensterlosen Raumes ohne befreienden Ausblick, das Gefühl von Gefangenschaft, gespiegelt wird. Merlin wie auch sein Rodolphe werden durch den nächtlichen Frieden und den Ausblick in die Natur so sehr beruhigt, daß sie sich in der geläufigen Melancholikerpose, den Kopf auf die Hand gestützt, schließlich ihren Träumereien überlassen. Büchners Lenz dagegen kommt nicht zur Ruhe, er geht im Gastzimmer, auf sich geworfen wie ein Eingekerkerter, »auf und ab«.34 Wenn Merlin den schwermütigen Rodolphe, der durch Oberlins Zuversicht (vgl. S. 7f.) bereits positiv beeinflußt erscheint, sich gar in Gedanken an die Zukunft versenken läßt (vgl. S. 9), dann ist diese nach vorne gerichtete (und erzählerisch auf die glückliche Wende des Schicksals vorausdeutende) Perspektive in Büchners Darstellung völlig vermieden; für Lenz gibt es keine Zukunft.35 In der Promenade vergegenwärtigt sich Merlin das Hier und Jetzt: >»Me voici done au ban de la Roche, m'ecriai-je, avec transport en me retrouvant seul ^Ä-c/Jrt &vt, G^fe/üÄ 'jÄ/i WÄftT: Ojyjy&JfJjfyQ- £JJQÄ Ajarengitug, ria&it ^*we«w».n . ., daß Büchner (S. 8) von dem Zwangsgefühl Lenzens erzählt: »es war ihm als müsse er immer >Vater unser< sagen«. In der O&er/m-Novelle (S. 117), beim Finale des Steintalaufenthalts, findet Rodolphe beim nächtlichen Fensterausblick zum Gebet, zum Vaterunser: »il se prosterna, et pronon9a ä la face des etoiles cette priere que le Fils de l'Honune enseigne ä ses disciples: >Notre Pere qui etes aux cieuxAdieu done! mes enfans [...]. Adieu!< Rodolphe et £lise voulaient parier, mais leur bouche contracted ne pouvait articuler une parole; ils ne savaient que pleurer. Enfin, s'arrachant ä ces douloureux adieux, ils s'elancerent sur la voiture [...] et s'eloignerent rapidement. Oberlin resta quelque terns immobile ou ils 1'avaient laisse; mais sa vue fatiguee par tant de travaux et troublee par les larmes ne lui permettant plus d'apercevoir ses chers voyageurs, il poussa un profond soupir et s'en retourna lentement au presbytere«. Dagegen der Schluß des Lenz: Nichts deutet auf einen empfindsamen Abschied. Im Gegenteil, scheinbar emotionslos schildert die Erzählung den Zwangsabtransport eines innerlich leeren, apathisch gewordenen Menschen, dem es in »kalter Resignation« ganz »einerlei« ist, »wohin man ihn führte«, der »vollkommen gleichgültig« ist - sogar angesichts des Abendrots über den Vogesen und des Vollmondglanzes auf der Rheinebene; er ist blicklos und gefühllos geworden für die Natur.41

Wenn noch weitere Passagen der O^er/m-Novelle Merlins den Eindruck erwecken, Büchner habe sie in seinem Lenz-Entwurf verwertet, so ist allerdings quellenkritische Vorsicht geboten. Etliche Parallelen zwischen Merlins und Büchners Darstellung bilden nämlich keinen so direkten und ausschließlichen Quellenzusammenhang, wie es den Anschein hat, sondern gehen auf Topoi der Erzähltradition oder auf die gemeinsame Vorlage, die O^er/jw-Biographie E. Stöbers, zurück. So ist Merlins »tableau« der zum sonntäglichen Gottesdienst in Fouday zusammenströmenden Gläubigen (S. 97f.) nur eine bestenfalls sekundäre Quelle42 für Büchners Szene 41 Es scheint denkbar, daß die Darstellung von Lenzens endgültiger Gefühllosigkeit sogar angesichts der Natur auch durch eine Anfangspassage der O&er/m-Novelle provoziert worden ist. Dort (S. 7) wird Rodolphes »contemplation de la nature«, sein Blick für die »merveilles qu'elle presente«, vom zuversichtlichen Oberlin als »remede«, als Heilmittel gegen die Seelenkrankheit veranschlagt: »L'ame que touche le spectacle de la nature, n'est pas entierement depourvue de sentimens vertueux, et tant qu'elle en possede, le bonheur peut encore la visiter.« Andererseits, mit aller Vorsicht: Das Gefühlsmuster in Rodolphes Reaktion auf die Gebirgsnatur, die Alternanz, daß er emotional auflebt oder in Träumereien versinkt (»Au milieu des merveilles qu'elle presente ä ma vue [...], j'eprouve une emotion qui me ranime un peu, ou je tombe dans une reverie«), könnte Büchners Darstellung mit beeinflußt haben, daß Lenz anfänglich (S. 5 f.) auf die wechselnden Naturerscheinungen mit der Alternation von ekstatischem oder introvertiertem Erleben reagiert (»er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebo-gen, Augen und Mund weit offen [...] oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb«). 42 Doch könnte Büchner solche kleinsten Einzelheiten wie Merlins Formulierungen »un air de fete« sowie »en harmonic« aufgegriffen und, die semantische Mehrdeutigkeit des Wortes »air« nutzend, dahingehend umgestaltet habeia, daß er Lenz eine Frühlingsillusion, »laue Luft« und die Landschaft »im Duft«, sowie (den Schein der Auflösung »in eine harmonische Welle« erleben läßt.

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der Kirchgänger und der Leidensgemeinschaft in Gesang und Predigt (S. 11). Denn beide Autoren, der Schriftsteller mit der Erbauungsabsicht wie der Erzähler der »Anatomie der Lebens- und Gemüthsstörung«,43 haben sich jeweils von E. Stöbers Genreschilderung des Kirchgangs44 nach Waldersbach und des Steintaler Gottesdienstes (S. 103-108) anregen lassen; der eine zum Registrieren reinlichster Kleidung, Seelenfriedens und größter Gemeindeandacht, der andere zur Schilderung des Blicks für das Morbid-Schöne, zur Gestaltung der Wollust des Schmerzes und zur Darstellung des Trosts durch den Kirchenschlaf.45 Ein Textvergleich kann vor Augen führen, wie weit trotz der gemeinsamen Herkunft des Motivmaterials aus E. Stöbers Biographie schließlich Trivialnovelle und dichterische Erzählung auseinandergehen. Zumindest soll die Synopse die Quellensituation offenlegen: E. Stöber: Vie de]. F. Oberlin (S. 103-106). »C'est dimanche, le soleil se leve, il parait plus rayonnant que les jours de la semaine, le silence regne partout, les champs n'appellent point le cultivateur pour y travailler ä la sueur de son front, ce jour est consacre au repos et ä Pedification. Preparons nous ä la parole de Dieu en contemplant quelques instans ses oeuvres si pleines de charme: ces montagnes qui s'elevent comme les colonnes 43 So Karl Gutzkow (im Telegraph für Deutschland 1839, S. 111) über Büchners Lenz. 44 Der Prospekt auf Gruppen ländlicher Kirchgänger gehört zur Tradition von Genremalerei und -Schilderung. Hier sei nur beispielsweise die einschlägige Szenerie aus den Wahlverwandtschaften angeführt, um im Vergleich die motivischen Filiationen bei Stöber, Merlin und Büchner sich abheben zu lassen: »Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck versammelt antraf. Nach dem Gottesdienste zogen Knaben, Jxmgloxtgtt -cma Müamer, *mt. ta> «ftgeoitkita war, Türaav; aarm kam aie Yierrsc/riaii mit ihrem Besuch und Gefolge; Mädchen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluß. Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet; dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen. Hier übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männerschaar, die nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen. Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick.« (Goethe: Werke. [Weimarer Ausgabe.] Abt. I. Bd. 20.1892, S. 95 f.) 45 Büchners Darstellung (S. 11) des Trosts, den Lenz darin empfindet, daß er mit seiner einfachen und schüchternen Predigt »über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen« kann, bedeutet eine so ironische wie humane Umwertung des homiletischen Ideals eines eindringlichen, aufrüttelnden Kanzelappells, wie dies noch im Aufruhr in den Cevennen anklingt, wenn der Pfarrer eines Gebirgsdorfs sich über seine Gottesdienstbesucher beklagt: »soviel ich auch in der Kirche schrie und tobte, [...] sie [haben] unter meiner Predigt meist immer geschlafen« (LudwigTieck: Schriften. Bd. 26. Berlin 1854, S. 95). Büchners Transformation dürfte unmittelbar durch E. Stöbers Formulierung (S. 105) herausgefordert sein, daß die Steintaler Kirchenlieder die Seele aus ihrem Sündenschlaf erwecken (»reveillent l'ame endormie du pecheur«). Des weiteren könnte sie durch die Schilderung in Merlins Promenade (S. 109f.) beeinflußt sein, daß Oberlin, Prediger neuen Typs, sich an dem Aufnahmevermögen seiner bäuerlichen Zuhörer orientierte und sie nach halbstündiger Bibelauslegung fragte: »Mes chers enfans, n'etes-vous pas fatigues?«

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d'un temple, ces vallons qui paraissent etre autant de sanctuaires. Le service divin se fait ä Waldbach; la cloche sonne une premiere fois, c'est un avertissement pour les fideles. Dejä je vois des grouppes de villageois et de villageoises descendre les hauteurs escarpees de Belmont et de Bellefosse, d'autres traverser la vallee de Fouday, d'autres sortir des bocages de Sollbach; des etrangers venant de Rothau descendent la Basrhoeh. Tout ce peuple de chretiens s'achemine vers la maison de Dieu: 1'eglise est remplie. Le luxe corrupteur est banni de ces lieux, on n'apergoit que des costumes simples et decens. L'on remarque un grand nombre de vieillards et de matrones, leur air a quelque chose de patriarchal; les hommes, les femmes d'un äge moindre ont de la fraicheur; les jeunes gens de la candeur; les enfans se distinguent par une aimable ingenuite. Un saint recueillement est peint dans les traits et dans la tenue de tous. Oberlin entre, tout le monde se leve avec respect devant le digne pasteur: le ciel semble rejaillir des ses yeux, son regard est une benediction. Le service divin commence, il se compose du chant, de la predication et de h friere. [...] Un des maitres d'ecole annonce ä haute voix le cantique qu'on va chanter, les chanteuses les plus exercees commencent, les maitres d'ecoles les accompagnent en chantant la basse, et bientot toute l'assemblee ne forme plus qu'un choeur melodieux. [...] on rencontre des morceaux de poesie qui, portant l'empreinte d'une piete vraiment evangelique, tantöt reveillent l'ame endormie du pecheur, tantöt animent le coeur du chretien devoue, des plus douces emotions; plusieurs de ces airs sont d'une composition fort agreable. [...] Oberlin parlait-il ä ses auditeurs des mysteres de notre sainte religion, son regard d'inspiration faisait eclatre le feu celeste dont son ame etait enflammee, il semblait penetrer, vous entrainer dans ces demeures des bienheureux, promises aux enfans de Dieu. Sion, la cite sainte, les anges se rapprochaient de la terre.« Merlin: Le Pasteur Oberlin (S. 97f.). *C'etait un dimanche., le Ban de k Roche avait un air de fete. Des villages, des hameaux, des maisons isolees qui peuplent sa montueuse surface, des habitans dans leurs habits les plus propres se rendaient ä Foudai, et animaient ce tranquille tableau avec lequel alors l'ame de Rodolphe etait en harmonic... A mesure que des sentiers aboutissaient sur la route, ils y amenaient de nouveaux groupes. [...] Quand la congregation fut rassemblee dans le temple de Foudai, le ministre monta dans sa modeste chaire, et commen9a le service qui eut lieu avec le plus grand recueillement de la part de l'assemblee. Les dernieres prieres terminees, le bon pasteur s'occupa d'un interet temporel [...].« Büchner: Lenz (S. 11). »Der Sonntagmorgen kam, es war Tauwetter eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau dazwischen, die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vorsprung, der Kirchhof drum herum. Lenz stand oben, wie die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuche und den Rosmarinzweig von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf und herab kamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Tal,

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die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Geläute, es war als löste sich alles in eine harmonische Welle auf. Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter den schwarzen Kreuzen, ein verspäteter Rosenstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos hervor, manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als schaue man in reines durchsichtiges Bergwasser. Der Gesang verhallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer Schmerz wachte jetzt auf, und legte sich in sein Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden, wie er schloß, da fingen die Stimmen wieder an [...].«

Seine Beobachtung der Kirchgangsszenerie vergegenwärtigt sich Lenz am nächsten Tag im kunsttheoretischen Monolog. Er reflektiert (S. 14f.) den Anblick zweier Mädchen als Ästhetik des Alltäglichen: »Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen. Sie standen auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen, zwischen den Felsen war es wieder ein anderes Bild.« Es ist denkbar, daß sich Büchner beim Niederschreiben dieser Passage, die die sitzenden Bauernmädchen mit dem Kunstterminus »schöne Gruppe« begreift, wie sie die gehenden als ein »Bild« versteht, an seine Lektüre der Oberlin-Novelle Merlins erinnert hat. Dort (in Anlehnung an E. Stöbers Schilderung des sonntäglichen Steintals; siehe oben) wird ja die Kirchgangsszenerie als ein »tableau« mit »groupes« von Kirchgängern bezeichnet; Rodolphe erblickt: »des habitans [...] se rendaient ä Foudai, et animaient ce tranquille tableau [...] des senders [...] y amenaient de nouveaux groupes«. Wenn jedoch diese bis in die Terminologie künstlerisch gedachte Beobachtungsdarstellung46 sich als Anregung für die Passage über Lenzens ästhetisierenden Blick ausgewirkt haben sollte, so allenfalls als ein Anstoß unter mehreren. Es scheint, daß Büchners »reproduktive Phantasie« viel beziehungsreicher arbeitete und noch andere, bedeutendere Lektüre- und Bildungsreminiszenzen verschmolz. 46 Ähnlich betrachtet Rodolphe (S. 9) die nächtliche Landschaft des Steintals als »doux tableau«.

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Die Untersuchung kann sich nicht versagen, einigen der Quellenspuren zur Ästhetik des Alltäglichen im Lenz nachzugehen und dazu den bisherigen, abgegrenzten Textebereich zu verlassen. Sie möchte mit diesem Exkurs Büchner folgen, der früher oder später Merlins Schriften ein für allemal beiseite gelegt hat und sich lesend oder auch nur erinnernd mehrversprechenden Vorlagenmaterialien für sein >work in progress< zuwandte. Bei der Erkundung seines materialorientierten Schreibens müssen auch diffuse, vielverzweigte Spuren verfolgt werden, die zunächst aus dem sicheren Terrain eindeutiger Quellenbeziehungen hinausführen - in die abgründigen Arsenale kulturellen Allgemeinguts, topischer Motivbestände und zeittypischen Gedankeninventars. Die vorsichtigen Schritte in diese nur wenig kartierten Traditionsräume seien im folgenden methodisch stets bewußt gehalten, um nicht einem Beziehungswahn zu verfallen, der in allem und jedem Anklang einen Einfluß und Quellenzusammenhang sehen möchte. Jedoch, am Ende der Exkursion in das Bücher- und Bilderlabyrinth in puncto Ästhetik des Alltäglichen soll das philologische Ziel der Quellengewißheit zumindest für den einen Gedanken des Büchnerschen Lenz erreicht werden, als »Medusenhaupt« Alltagsschönes zur Statue fixieren zu wollen. Verbürgt ist: Die ästhetisierende Sichtweise, in Erscheinungen des Alltags sozusagen Kunst-Bilder wahrzunehmen, war seit mehr als einem halben Jahrhundert ein geläufiges Betrachtungsmuster. Das bezeugt Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit, die Büchner zur Rekonstruktion der vorklassischen Denkwelt des Lenz nachweislich47 studiert hat. Goethe berichtet, daß er im März 1768 nach dem Besuch der Dresdner Gemäldegalerie an sich »die Gabe gewahr wurde«, die er »nachher mit mehrerem Bewußtsein übte, die Natur nämlich mit den Augen dieses odct )ei\es K\msxlers zu seHetv«. So kourvte er eine reale Sckusterwohnung als »ein Bild von Ostade [...] sehen, so vollkommen, daß man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. Stellung der Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles was man in jenen Bildern bewundert, sah ich hier in der Wirklichkeit.« Oder er erschaute nachts den »enghäuslichen Zustand« der Wohnung als das »schönste Bild von Schalken« und nahm in späteren Jahren den Anblick des Sesenheimer Pfarrhofs als »mahlerisch« im Sinne der »niederländischen Kunst« wahr.48 Diese Goetheschen Erinnerungen könnten Büchner nicht nur bei seiner Gestaltung der malerischen Erzählszenen inspiriert haben, in denen er Lenz nächtliche, lampenerhellte Interieurs mit Gruppen 47 Vgl. Gersch: Nachwort. — In: Büchner: Lenz, S. 72-77. 48 Goethe: Werke. [Weimarer Ausgabe.] Abt.I. Bd. 27, 1889, S. 171 f., 174 u. 349. Für die Wahrscheinlichkeit, daß diese Erinnerungen Goethes tatsächlich eine Anregung für die Reflexion im Lenz waren, spricht der motivische Anklang in Büchners Erzählung (S. 15), die Schönheit des Lebens nicht »in Museen stellen« zu können, an Goethes Gedanken, daß man das in der Realität geschaute >Bild< hätte »au£ die Galerie [...] hängen« können.

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wie Genrebilder im Licht-Schatten-Stil der niederländischen Gemälde49 erleben läßt. Goethes Bericht über seine Fähigkeit, in der Wirklichkeit Kunst-Bilder wahrzunehmen, könnte sich auch als eine Anregung für die Konzeption jener Lercz-Passage vom ästhetisierenden Blick ausgewirkt haben. Doch scheint die Quellenlage noch verwickelter. Bei der Verbreitung von erzählerischen Darstellungen pittoresker Realitätswahrnehmungen in der Spätromantik und Biedermeierzeit ist noch an weitere Lektürereminiszenzen zu denken, die der Leser und Autor Büchner für Lenzens ästhetisierenden Blick assoziieren konnte. Hier sei nur beispielsweise auf entsprechende Schilderungen in einem Roman und einer Erzählung von Honore de Balzac hingewiesen. Im Roman Le Medecin de campagne50 aus dem Jahr 1833 wird eine nächtliche Bauernversammlung als ein »tableau« von »groupes« mit »pittoresques effets de clair-obscur« beobachtet und beschrieben.51 Und in der Erzählung La Maison du Chat-qui-pelote von 1830 wird detailliert der abendliche Beobachterblick eines jungen Künst49 Siehe Lenzens Einblicke in die Fenster der Dorfhäuser (S. 6f.) und seinen Anblick der Pfarrfamilie (S. 7) wie der Hüttenbewohner (S. 18f.). - Vgl. Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung: Das »Niederländische« und das Groteske, Jean Paul und Victor Hugo. - In: Ders.: Bildlichkeit der Dichtung. Aufsätze zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. - München 1974, S. 106-138 u. 263-266; Eva Borst: Der Einfluß der niederländischen Genre-Malerei auf Georg Büchners Erzählung Lenz. - In: literatur für leser (1988), S. 98-106. 50 Le Medecin de campagne konnte für Büchner auch deshalb von Interesse sein, weil Balzac in diesem sozialpolitisch konzipierten Roman (wie auch in seiner mystischen Erzählung Seraphha) Textmaterialien aus E. Stöbers Vie de J. F. Oberlin verarbeitet hat. Vgl. Georges Gugenheim: Balzac et Oberlin. - In: Etudes alsatiques. Bd. 1. - Paris 1947, S. 121-125; Ciaire Richardot: Oberlin, Balzac et Swedenborg. - In: Evangile et Liberte. SLJuli 1971, S. U—VU·,M/OWÄ.LAYWOAZSÄ/. MofcogYd^feie «U i'foiimanite i>aizcienne. — P^itt 1959, S. 332-387. 51 Honore de Balzac: La Comedie humaine IX. Etudes de Mceurs: Scenes de la Vie campagne. Hg. v. Pierre-Georges Castex. - Paris 1978, S. 516: »Tous deux monterent ä Pechelle et se blottirent dans le foin, sans avoir ete entendus par les gens de la veillee, au-dessus desquels ils se trouverent assis de maniere ä les bien voir. Groupees par masses autour de trois ou quatre chandelles, quelques femmes cousaient, d'autres filaient, plusieurs restaient oisives, le cou tendu, la tete et les yeux tournes vers un vieux paysan qui racontait une histoire. La plupart des hommes se tenaient debout ou couches sur des bottes de foin. Ces groupes profondement silencieux etaient ä peine eclaires par les reflets vacillants des chandelles entourees de globes de verre pleins d'eau qui concentraient la lumiere en rayons, dans la clarte desquels se tenaient les travailleuses. L'etendue de la grange, dont le haut restait sombre et noir, affaiblissait encore ces lueurs qui coloraient inegalement les tetes en produisant de pittoresques effets de clair-obscur. Ici brillait le front brun et les yeux clairs d'une petite pay sänne curieuse; lä, des bandes lumineuses decoupaient les rüdes fronts de quelques vieux hommes, et dessinaient fantasquement leurs vetements uses ou decolores. Tous ces gens attentifs, et divers dans leurs poses, exprimaient sur leurs physionomies immobiles Pentier abandon qu'ils faisaient de leur intelligence au conteur. C'etait un tableau curieux ou eclatait la prodigieuse influence exercee sur tous les esprits par la poesie. En exigeant de son narrateur un merveilleux toujours simple ou de l'impossible presque croyable, le paysan ne se montre-t-il pas ami de la plus pure poesie?«

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lers für ein »tableau naturel«, für einen »groupe« und dessen »figure principale« eines Mädchens geschildert und eine Interieurszene in der Art niederländischer Genremalerei dargestellt,52 aber auch ein ausdrückliches Räsonnement über Naturwirklichkeit, Kunstempfinden und holländische versus italienische Malerei formuliert, wie es ähnlich Lenz (S. 14f.) in seinem Kunstmonolog betreibt. Einmal begonnen, droht die Quellenrecherche bei Büchners Motiv des ästhetisierenden Blicks und den damit zusammenhängenden pittoresken Schilderungen des Lenz ins Ungewiß-Weite zu führen. Da wird künftig wie für andere Erzählzusammenhänge - noch quellenkritische Arbeit zu leisten sein, um den tatsächlichen Lektürehorizont Büchners einzugrenzen. Im Rahmen der jetzigen Untersuchung bleibt jedoch, am Beispiel jener kleinen Textpassage von der Beobachtung zweier Mädchen, in der Lenz seinen ästhetisierenden Blick für die Schönheit des Alltäglichen erläutert, zu erhellen, wie komplex, zusammenlesend und integrierend Büchner in seiner Erzählung arbeitete. Innerhalb jener wenigen Zeilen fallen nämlich noch weitere, deutliche Spuren seiner materialorientierten Schreibmethode ins Auge, Anhaltspunkte für die Assoziation und Umwandlung von Vorlagen aus verschiedenartigen Lektüre- und Bildungsbereichen. Die Reminiszenzen betreffen zunächst das Motiv der von Lenz 52 Ders.: La Comedie bumaine L Etudes de Moeurs: Scenes de la Vie privee. Hg. v. PierreGeorges Castex. - Paris 1976, S. 52f.: »A la nuit tombante, un jeune homme passant devant l'obscure boutique du Chat-qui-pelote y etait reste un moment en contemplation ä l'aspect d'un tableau qui aurait arrete tous les peintres du monde. Le magasin, n'etant pas encore eclaire, formait un plan noir au fond duquel se voyait la salle a manger du marchand. Une lampe astrale y repandait ce jour jaune qui donne tant de grace aux tableaux, de l'ecoic üo!Unid&U&. Le iio^e blmc, l'argienserue., U« crUtaux CormAwmt aft brillants accessoires qu'embellissaient encore de vives oppositions entre l'ombre et la lumiere. La figure du pere de famille et celle de sä femme, les visages des commis et les formes pures d'Augustine, ä deux pas de laquelle se tenait une grosse fille joufflue, composaient un groupe si curieux; ces tetes etaient si originales, et chaque caractere avait une expression si franche; on devinait si bien la paix, le silence et la modeste vie de cette famille, que, pour un artiste accoutume ä exprimer la nature, il y avait quelque chose de desesperant ä vouloir rendre cette scene fortuite. Ce passant etait un jeune peintre, qui, sept ans auparavant, avait remporte le grand prix de peinture. II revenait de Rome. Son äme nourrie de poesie, ses yeux rassasies de Raphael et de Michel-Ange, avaient soif de la nature vraie, apres une longue habitation du pays pompeux oü Part a jete partout son grandiose. Faux on juste, tel etait son sentiment personnel. [...] De Tenthousiasme imprime ä son äme exaltee par le tableau naturel qu'il contemplait, il passa naturellement ä une profonde admiration pour la figure principale: Augustine paraissant pensive et ne mangeait point; par une disposition de la lampe dont la lumiere tombait entierement sur son visage, son buste semblait se mouvoir dans un cercle de feu qui detachait plus vivement les contours de sä tete et 1'illuminait d'une maniere quasi surnaturelle. L'artiste la compara involontairement ä un ange exile qui se souvient du del.« - Als Analogon zum Engelvergleich im letzten zitierten Satz und damit als quelknkundliches Indiz für Büchners Verwertung der Balzacschen Passage käme in Betracht, daß es in der >niederländischen< Pfarrfamilienszene im Lenz (S. 7) heißt, daß die »Mutter [...] engelgleich stille saß.«

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beim Frisieren beobachteten Mädchengruppe und dann seinen Gedanken, diese am liebsten zur Statue zu versteinern. Zunächst: Das Motiv des Mädchens, das sich von einer Vertrauten unbefangen und hingegeben, weil scheinbar unbeobachtet, frisieren läßt, ist aus der Kunstgeschichte bekannt und kennzeichnet einen vom 16. bis 19. Jahrhundert ikonologisch beständigen Typus voyeuristisch idolisierender Frauendarstellung. Unter Titeln wie >Toilette der VenusToilette der Bathseba< oder >Interieur du Harem< bieten Bilder u.a. von Lotto, Vasari, Albani, Rembrandt, Rubens, Ingres erotisch intime Anblicke einer Schönen mit gelöstem Haar, die von den Grazien oder einer liebevollen Freundin oder einer beflissenen Dienerin frisiert und geschmückt wird.53 In Büchners Lenz wird das Bildmotiv zitiert und variiert: »Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemüht.« Das Motiv ist dem Idealen der Antikisierung ebenso wie den Phantasien outrierter Erotik entrissen und in die Volkssphäre verlegt; es erscheint als melancholischinnig angeschautes Kunst-Bild der Alltagswirklichkeit. Damit stellt die Variation Büchners einen Gegenentwurf dar zu Realitätsansicht und Kunstauffassung jenes »die Wirklichkeit verklären« wollenden »Idealismus«, den er durch Lenz (S. 14) bekämpfen läßt. Dann: Lenzens Gedankenspiel, einen Anblick wie den der schönen Mädchengruppe zu Statuen fixieren zu wollen: »Man möchte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können«, dieses Gedankenbild dürfte Büchner als vorgeprägtes Motiv dem Kunstgespräch Die Gemähide von August Wilhelm und Caroline SchleÜberlegungen - ästhetisch geringschätzige Ansichten über Lebenserscheinungen und über wirklichkeitsnahe Darstellungen mit dem boshaft mythologisierenden Einfall veranschaulicht: »ich habe mir oft das Unheil gedacht, wenn plötzlich ein Perseus mit dem versteinernden Medusen53 Zum Darstellungstypus, dessen Sujet auf Ovids Metamorphosen X, 533 f. bzw. auf 2. Samuel 11, 2 Bezug nimmt, vgl. Michaela Herrmann: Vom Schauen als Metapher des Begehrens. Die venezianischen Darstellungen der Susanna im Bade im Cinquecento. Marburg 1990, S. 31—38 u. 90; Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in BadenWürttemberg 5 (1968), S. 202-204; Andor Pigler: Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18.Jahrhunderts. 2., erw. Aufl. Bd. 2. Budapest 1974, S. 246-248 u. 567f.; Le Miroir des Miroirs. Editions Leon Ullmann. Paris 1961, S. 44; Thomas B. Hess u. Linda Nochlin (Hg.): Woman as Sex Object. Studies in Erotic Art 1730-1970. - London 1972, S. 66f.; Ingres. Catalogue. Exposition du Petit Palais.-Paris 1967, S. 214f. 54 In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Zweiter Band. Erstes Stück. - Berlin 1799, S. 39-151, hier S. 39f.

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haupte in unsre Schauspielhäuser oder Tanzsäle träte.«55 Wenn Büchner dieses Gedankenbild übernommen hat, so aber in der Aussagerichtung völlig verändert, so daß es im genau entgegengesetzten Kritikzusammenhang des Lenz wirksam ist. Die Erzählung (S. 14f.) läßt ja Lenz gerade gegen den künstlerischen »Idealismus« als »die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur« polemisieren und die Frage, ob etwas »schön, ob es häßlich ist«, entschieden zurückweisen. Büchners Verwertung des Schlegelschen Motivs bedeutet dessen Umwertung: Der geringschätzigen Realitätsansicht widerspricht der mit dem Alltäglichen sympathisierende ästhetische Blick, der Befürchtung von künstlerischem »Unheil« opponiert nun das Wunschbild einer lebensnahen Kunst, dem idealistischen Anspruch widersetzt sich jetzt die Kritik an eben dem Idealismus. Es mag befremden; einmal mehr hat der Autor des Lenz - sogar im kleinsten Konzeptionszusammenhang - Fremdmaterial auf Fremdmaterial assoziiert und verwertet. Er hat jedoch die Materialien radikal umgestaltet, die >Entlehnungen< zur eigenen Synthese zusammen- und ineinandergefügt, einen konsequenten Gegenentwurf geschaffen. Nichts spiegelt mehr alten Glanz und Schein, alles erstrahlt in einem ganz anderen, in einem neuen Licht. Georg Büchner scheint Vorlagen zu brauchen, um sich zu Widerspruch, Umbildung und Neugestaltung anregen zu lassen. Er verfolgt keinen voraussetzungslosen Neubeginn, vielmehr bedient er sich zielbewußt aus dem Arsenal der herkömmlichen Motive, Bilder, Modelle. Es ist Büchners Darstellungsweise, die mit der Konventionalität bricht und die literarische Innovation hervorbringt. Seine Schreibmethode offenbart ein Traditionsverständnis, das Hergebrachtes weder in dem einen noch in dem anderen Sinne abschreibt, sondern revolutioniert.

Anhang: Textauszüge Paul Merlin: Promenade au Ban de la Roche (S. 88-96). II est tard, je commence ä regretter une partie du temps que j'ai donne aux excursions qui m'ont detourne de mon chemin. La nuit est devenue tresobscure; mon domestique est oblige de conduire le cheval par la bride et 55 Ebd. In Anspielung auf Ovids Metamorphosen V, 177-235, wo Perseus beim Hochzeitsmahl mit Hilfe des Kopfs der Gorgo Medusa den angreifenden Phineus und dessen Gefährten in ihren Kampfbewegungen und Entsetzeinsmienen zu Marmorstatuen versteinert, konstatiert der Schlegelsche Dialog dagegen diDeutscher Idealismus< bekannte Periode wurde nicht nur von der Philosophiegeschichtsschreibung als Einheit unter der Ägide des Idealismus betrachtet. Auch Gottfried Semper läßt 1834 in einem Abriß der Kunstgeschichte auf Winckelmann 1 Hubert Gersch danke ich dafür, daß er diesen Aufsatz angeregt und mit zahlreichen Hinweisen gefördert hat. 2 Lenz wird zitiert nach der Ausgabe: Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L «in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August Stöber und Auszüge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« über}. M. R. Lenz. Hrsg. v. Hubert Gersch. - Stuttgart 1984. Zitatnachweise erfolgen mit Angabe der Seitenzahl im fortlauf enden Text des Aufsatzes. 3 Friedrich Vollhardt: »Unmittelbare Wahrheit«. Zum literarischen und ästhetischen Kontext von Georg Büchners Descartes-Studien. - In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 196-211, hier S. 199-204. 4 Johannes J^uhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit. Ein Versuch, das wissenschaftliche Fundament der Philosophie historisch zu erörtern. — Mainz 1834, S. 523. 5 Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie von Kant bis Hegel. Erster Theil - Berlin 1837, S. 10. 104

und Lessing »die idealisierende Schule« folgen, »die nur den Ausdruck des wirklich Schönen in der Kunst gestattete.«6 In der gleichen Zeit, so kann man bei Ludwig Wachler lesen, sei unter dem Einfluß der kritischen Philosophie im Bereich der Literatur »die Herrschaft der Idee [. . .] entschieden«7 worden. An dieser Entwicklung seien vor allem Schiller, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm und Friedrich Schlegel beteiligt gewesen. Der von Büchner verwendete Begriff »idealistische Periode« scheint demnach über den engeren Bereich der Philosophie hinauszuweisen und der Bezeichnung eines die Künste und Wissenschaften gleichermaßen umfassenden Epochenzusammenhangs zu dienen. Bereits etwa 30 Jahre nach Büchners Lenz spricht Wilhelm Dilthey in seiner Baseler Antrittsvorlesung von 1867 über eine »dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland«,8 die »von Lessing bis zu dem Tode Schleiermachers und Hegels ein Ganzes« bildet. Er betont so die Homogenität einer Epoche, innerhalb derer die großen philosophischen Systementwürfe nur die »logisch und metaphysisch begründete Durchführung« der »von Lessing, Schiller und Goethe ausgebildeten Lebens- und Weltansicht«9 dargestellt hätten. Auch Lenz schafft im Kunstgespräch derartige Verbindungen. Er polemisiert gegen den Idealismus in der Literatur, wobei ihm die bildende Kunst als Paradigma dient. Gegen die von Kaufmann angeführten, in der Tradition Winckelmanns als Muster idealischer Schönheit bekannten Raffaelischen Madonnen und den Apoll von Belvedere10 führt Lenz die »hol6 Gottfried Semper: Geschichte der Baukunst. Dresdner Antrittsvorlesung (1834). - Erstmals veröffentlicht in: Heidrun Laudel: Gottfried Semper. Architektur und Stil. - Dresden 1991, S. 221-234, hier S. 225. 7 Ludwig Wachler: Handbuch der Geschichte der Literatur. Dritter Theil. - Leipzig 8 Wilhelm Dilthey: Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770-1800. - In: W. D.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. - Leipzig / Berlin 1924, S. 12-27, hier S. 12. 9 Ebd., S. 13. 10 Winckelmann stellt Raffael den griechischen Künstlern zur Seite, die nicht bei der Beobachtung der Natur stehengeblieben seien, sondern »sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Theile als ganzer Verhältnisse der Körper« gebildet hätten. Winckelmann fährt fort: »ihr Urbild war eine blos im Verstande entworfene geistige Natur. So bildete Raphael seine Galathea. Man sehe seinen Brief an den Grafen Balthasar Castiglione: >Da die Schönheiteni!ia!iitjnkek wahrgenommen wird. Auf aem ''Weg durch das Tal eröffnet sich für Lenz die Aussicht auf die »Bergkette, [...] deren Gipfel gewaltig, ernsthaft oder schweigend still, wie ein dämmernder Traum standen.« Wahrgenommen werden: »Gewaltige Lichtmassen, die manchmal aus den Tälern, wie ein goldner Strom schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchsten Gipfel lag, und dann langsam den Wald herab in das Tal klomm, oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegendes silbernes Gesp{i)nst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung, kein Vogel, nichts als 46 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. - In: I. K.: Werke (s. Anm. 31), Bd. 6. - Berlin 1914, S. 50. 47 Grosse (s. Anm. 35), S. 9. 48 Monika Steinhauser: Im Bild des Erhabenen. - In: Merkur 43 (1989), Heft9/10, S. 815-832, hier S. 827f. - Dieter Arendt: Johann Wolfgang Goethe und Jakob Michael Reinhold Lenz oder »Ich flog empor wie die Rakete«. - In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 43 (1993), Heft l, S. 36-62, hier S. 53. 49 Vgl. Raymond (s. Anm. 32), S. 297-330. 50 Ludwig Tieck: Franz Sternbald's Wanderungen. - In: L. T.: Schriften. Bd. 16. - Berlin 1843,5.273.

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das bald nahe, bald ferne Wehn des Windes.« (S. 8) Schopenhauer hatte in seiner Welt als Wille und Vorstellung geschrieben, daß »eine sehr einsame Gegend, mit unbeschränktem Horizont, unter völlig wolkenlosem Himmel, Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Thiere, keine Menschen, keine bewegte Gewässer, die tiefste Stille« bereits »ein Beispiel des Erhabenen in niedrigem Grad« abgibt. Diese Landschaft »auch der Pflanzen entblößt«, so daß sie nur noch »nackte Felsen« zeigt, läßt bei Schopenhauer »das Gefühl des Erhabenen« bereits »deutlich« hervortreten.51 Für Lenz jedoch gibt es keine erhabene Reaktion. Je länger er sich im Hause Oberlin einlebt, desto mehr verliert die Gebirgslandschaft ihre erhabene Wirkung. Auf seinem Morgenspaziergang erlebt Lenz die Gebirgswelt schließlich nicht mehr nur als kahl und unbelebt, sondern registriert auch »hie und da Spur von Wild leicht auf dem Schnee« sowie »das Rauschen eines Vogels, der die Flocken leicht vom Schwänze stäubte.« (S. 10) Die erhabenen Berge, »die einförmigen gewaltigen Flächen und Linien, vor denen es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredete (n), waren verhüllt.« Folgerichtig wird die Natur nicht zum Auslöser ideeller Überhebung, sondern gestaltet sich in Lenzens Vorstellung als Ort harmonischer Eintracht. Lenz fühlt sich in ihr geborgen, »heimlich«, wie es heißt. Schließlich beschleicht ihn gar »ein heimliches Weihnachtsgefühl«. Die Harmonie ist nicht von Dauer. Als mit Kaufmann die problematische Realität über Lenz hereinbricht, beginnt sich die Welt abermals zum Negativbild zu entwickeln. Mit dieser Wendung tritt auch das Erhabene erneut auf den Plan. Von Lenz heißt es jetzt: »manche Gedanken, mächtige Gefühle wurde er nur mit der größten Angst los, da trieb es ihn wieder mit unendlicher Gewalt darauf« (S. 17). Die Ambivalenz dieser Gefühle verweist aui aas "Erhabene. £s ist schrecklich und anziehend zugleich. Lenz heißt das: Die kurzfristige Erhebung über die Realität muß um den Preis erkauft werden, mit der Realität zugleich Halt, Schutz und Trost zu verlieren. Als Lenz nach der Abreise Oberlins durch die Berge streift, erfährt er in der kontemplativen Betrachtung der Gebirgslandschaft noch nichts von der schrecklichen Seite des Erhabenheitserlebnisses. Für ihn verschwimmt die Außenwelt, ähnlich wie am Anfang der Erzählung, ohne daß diese Erfahrung von einem Gefühl der Furcht begleitet ist: »Er wurde still, vielleicht fast träumend, es verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das leise auf- und ab wogte.« Eine tiefgreifende Veränderung bewirkt der nächtliche Aufenthalt in der Hütte, die in ihrer Unheimlichkeit der Geborgenheit im Hause Oberlin kontrapunktisch gegenübersteht. Die Hüttenszene markiert das durch die Abrei5l Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. - In: A. S.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Arthur Hübscher. Bd. 2. -Wiesbaden 1949, S. 240f.

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se Oberlins verursachte Ende der für Lenz so wertvollen Familienidylle. Den »gewaltigen Eindruck« (S. 19), den die nächtliche Szenerie auf ihn macht, erlebt Lenz nicht als positiven Eindruck. Am Morgen empfindet er die Gesellschaft des obskuren Heiligen, »von dem es ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen«, als »unheimlich«. Der »gewaltige Mensch« erscheint aus Lenzens Sicht mit den gleichen Attributen versehen wie »die einförmigen gewaltigen Flächen und Linien«, die sich von den Bergen ins Tal hinunterziehen. Deutlich wird jetzt die negative, bedrohliche Seite des Erhabenen akzentuiert. So auch bei Lenzens Erlebnissen des Nachts. Er »lag in den heißesten Tränen, und dann bekam er plötzlich eine Stärke, und erhob sich kalt und gleichgültig, seine Tränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen.« (S. 19f.) Auf der Höhe der zur Groteske gesteigerten ideellen Aufschwünge schlägt die Stimmung um und macht der Ernüchterung Platz. Mit einprägsamer Deutlichkeit rekapituliert der Erzähler: »Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter.« Das gleiche Bild nach der mißglückten Totenerweckung. Lenz flieht aus der Kammer in die nächtliche Gebirgslandschaft: »Wolken zogen rasch über den Mond; bald alles im Finstern, bald zeigten sie die nebelhaft verschwindende Landschaft im Mondschein.« (S. 22) Hier wirkt nicht nur die Finsternis, wie Schiller sagt, »schrecklich und eben darum zum Erhabenen tauglich«,52 sondern vor allem das Wechselspiel von Dunkelheit und dämmerndem Zwielicht. Wenn der Nebel »nur theilweise verdunkelt, wenn er nur den Fuß des Gebürges verhüllet, und an der Spitze zergehet, wenn er entfernte Gegenstände dem Auge, wie ein Schleyer entziehet; dann würkt diese Verworrenheit des Schauspieles in der Seele ein liebliches Staunen.«53 Lenz verfällt angesichts des nächtlichen Schauspiels in promethische Selbstüberschätzung: »es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinaui in aen VÜLimme1! baVien und Gott herbe'ireiften und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien«. Auf dem Gipfel kulminiert dieses Gefühl schließlich in allumfassender Welt- und Gottesverachtung. Der Himmel erscheint als »dummes blaues Äug«, in dem der Mond »ganz lächerlich« steht. Lenz lacht über die Schöpfung, und »mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn«. Für Kant stand fest, »daß wir Gott im Ungewitter, im Sturm, im Erdbeben u. d. gl. [...] auch in seiner Erhabenheit sich darstellend vorstellig zu machen pflegen«.54 Dabei diskutierte Kant auch das Problem, daß »die Einbildung einer Überlegenheit unseres Gemüths über die Wirkungen und, wie es scheint, gar über die Absichten« der göttlichen Macht »Thorheit und Frevel zugleich sein würde«, wenn der Mensch sich nicht in der richtigen »Gemüthsfassung« befindet, »um die 52 Friedrich Schiller: Vom Erhabenen (s. Anm. 30), S. 190. 53 Grosse (s. Anm. 35), S. 42. 54 Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft (s. Anm. 32), S. 263f.

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göttliche Größe zu bewundern«. »Nur alsdann«, so resümiert der Philosoph, »wenn er sich seiner aufrichtigen gottgefälligen Gesinnung bewußt ist, dienen jene Wirkungen der Macht, in ihm die Idee der Erhabenheit dieses Wesens zu erwecken, sofern er eine dessen Willen gemäße Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst erkennt«. Lenzens Größenvision läuft der kantischen Idee entgegen. Auch bleibt die Erhebung erneut nur von punktueller Wirkung. Wie schon zu Beginn der Erzählung gerät der jetzige Gefühlsaufruhr alsbald in Vergessenheit: »Er wußte nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt hatte«. Übrig bleibt nur die Gleichgültigkeit; »kalt und unerschütterlich« geht Lenz »durch das unheimliche Dunkel - es war ihm alles leer und hohl«. Den neuerlichen Aufschwungsversuchen korrespondiert das intensive Bemühen, ideelle Gegenbilder zur Wirklichkeit zu entwerfen. »Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es in ihn, eine Glut in sich zu wecken« (S. 21). Die Erinnerung an vergangene Zeiten, »wo er unter all seinen Empfindungen keuchte«, lassen die katastrophale Lebenslage noch deutlicher vor Augen treten. »Er verzweifelte an sich selbst, dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er rührte alles in sich auf; aber tot! tot!« In dieser Situation kommt Lenz die Erinnerung an das »Frauenzimmer«, dem es gelang, sich aus der realen Welt in die eigene Innerlichkeit zurückzuziehen. Von ihr berichtet er: »es war, als war ihr die Welt zu weit, sie zog sich so in sich zurück, sie suchte das engste Plätzchen im ganzen Haus, und da saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen Punkt«. Die Möglichkeit eines solchen Rückzugs bleibt Lenz verwehrt. Zum Ende der Erzählung hin gelingt es ihm immer seltener, die innere Leere ideell auszufüllen: »er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufü'nen. Er halle ni eins.« (S. 17) Die lAotiviW ttiiwicn an Gedfenkcsv, wie sie Fichte in seiner Wissenschaftslehre vorgetragen hatte. Dort charakterisiert er das Sehnen als eine »Thätigkeit des Ich«, die auf ein Objekt gerichtet ist, »welches dasselbe nicht realisiren kann, als Ding, noch auch darstellen, durch ideale Thätigkeit. Es ist demnach eine Thätigkeit, die gar kein Objekt hat, aber dennoch unwiderstehlich getrieben auf eins ausgeht, und die bloß gefühlt wird.« Das Sehnen sei ein »Trieb nach etwas völlig unbekannten, das sich bloß durch ein Bedürfniß, durch ein Misbehagen, durch eine Leere, die Ausfüllung sucht, und nicht andeutet, woher? offenbart.«55 Dieses Ungewisse Sehnen wird für Lenz zum bestimmenden Gefühl. »Nur mit der größten Mühe schlief er ein, während er zuvor die noch schreckliche Leere zu füllen versucht hatte.« (S. 28) 55 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. Hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob unter Mitwirkung von Manfred Zahn. - In:/. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Jacob. Werke Bd. 2. - Stuttgart / Bad Cannstatt 1965, S. 431.

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Im Schlußteil der Erzählung enden auch die letzten Versuche Lenzens, sich ideell gegen die innere Leere aufzuschwingen. Während er im Wagen nach Straßburg sitzt, berichtet die Erzählung noch einmal von dem erhabenen »Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in das Abendrot hob [...]. Es wurde finster, je mehr sie sich Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie, die Erde war wie ein goldner Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Monds liefen.« (S. 30f.) Das ist längst nicht mehr Lenzens Wahrnehmung. Der nämlich »starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang«.

III. Solipsistische Konsequenzen Büchners Rückgriff auf Theoreme der idealistischen Philosophie kulminiert in der Darstellung eines von Lenz emotional durchlebten Solipsismus: Die Außenwelt wird nicht als selbständige Realität, sondern als eine Vorstellung des Ich wahrgenommen. Kurz bevor Lenz Waldbach verlassen muß, wird er auch bei Tage von schrecklichen Anfällen heimgesucht. »Es war ihm dann, als existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts, als er« (S. 28). Lenzens leidvolle Erfahrung entspricht dem Standpunkt des subjektiven Idealismus,56 den Fichte als Quintessenz seiner Ausführung wie folgt resümiert: »Es wird [...] hier gelehrt, daß alle Realität - es versteht sich für uns, wie es denn in einem System der Transcendental-Philosophic nicht anders verstanden werden soll - bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde.«57 Fichte, der nach eigener Auffassung lediglich die Philosophie Kants konsequent fortführte, indem er mit dem >Ding an sich< die letzten Reste einer vom Ich unabhängigen Aufeenwek beseitigte, übte bekannüich neben Scheming großen Einfluß auf die Literatur der Romantik aus. Büchner brauchte Fichte also nicht im Original zu lesen,58 um mit den Vorstellungen des subjektiven Idealismus vertraut zu werden. Schon Ludwig Tieck, aus dessen Werken Büchner auch für seine Erzählung Lenz Anregungen entnimmt,59 gestaltete den philosophischen Idealismus als konkrete Erfahrung. In Tiecks Arabeske Leben des berühmten Kaisers Abraham Tonelli konnte Büchner lesen: »Ich verfiel oft auf den Idealismus und stellte mir 56 Mark W. Röche: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Büchners »Lenz«. — In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107(1988), S. 136-147, bes. S. 144. 57 Fichte (s. Anm. 55), S. 368. 58 Nachweislich kannte Büchner Fichtes Reden an die deutsche Nation. Vgl. Werner R. Lehmann: Robespierre - >ein impotenter Mahomet