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Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012)
Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012) Für die Georg Büchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Büchner – Literatur und Geschichte des Vormärz – am Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Burghard Dedner, Matthias Gröbel und Eva-Maria Vering
De Gruyter
5HGDNWLRQVDGUHVVH Georg Büchner Jahrbuch c/o Philipps-Universität Marburg Fachbereich 09 – Forschungsstelle Georg Büchner D-35032 Marburg oder: Georg Büchner Gesellschaft e. V. Biegenstr. 36 D-35037 Marburg Redaktion dieses Bandes: Eva-Maria Vering, Nadine Köhler 'LH(LQVHQGXQJYRQ3XEOLNDWLRQHQLVWIUHXQGOLFKHUEHWHQYRQ%HLWUlJHQ jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und ZitatAuszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band. Fordern Sie bitte unser stylesheet an.
ISBN 978-3-11-028044-9 e-ISBN 978-3-11-028059-3 ISSN 0722-3420 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. %LEOLRJUDÀVFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUDÀHGHWDLOOLHUWHELEOLRJUDÀVFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Siglen und abgekürzt zitierte Literatur ............................................................... VII Aufsätze Dietmar Till: »Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.« Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten................................................................................. 3 Joachim Franz: Ein Programmzettel zum Theater der Mächtigen. Zur Kritik an herrschaftstragenden Inszenierungen im Hessischen Landboten............................................................................... 25 Alfons Glück: Über politische »Grundsätze« Georg Büchners. Der Hessische Landbote und Sätze axiomatischen Charakters in den Briefen ............................................................................................. 45 Burghard Dedner: Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im Hessischen Landboten .................................................................................... 77 Raphael Hörmann: »Zum sogenannten, so gescholtenen Pöbel«. Die radikale Aufwertung der sozialen Unterschichten bei Börne und Büchner ............................................................................................. 143 Ariane Martin: Im Dialog mit dem Jungen Deutschland: Büchners Briefe an Gutzkow................................................................................... 165 Doerte Bischoff: Büchners Kleider. Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen .................................................................. 179 Nora Eckert: Büchners Ankunft im Theater. Eine Rekonstruktion ..... 205 Michael Niehaus: Gegen Gutachten. Büchners Woyzeck......................... 219 Carolina Kapraun, Per Röcken: Weltanschauung und Interpretation – Versuch einer systematischen Rekonstruktion mit Blick auf Deutungen der Woyzeck-Entwürfe Georg Büchners ....................................................................................... 239
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Sabine Schu: »Der Schriftsteller hat sich den Schriftsteller einverleibt« – Georg Büchner als literarisches Alter Ego in Friedrich Dürrenmatts Endspiel Achterloo ............................................................. 275 Marion Brandt: Stanisâawa Przybyszewskas Drama Sache Danton im intertextuellen Dialog mit Georg Büchners Dantons Tod ................... 303 Andrea Geier: Umstrittene Eigentumsverhältnisse. Die Rezeption Büchners im Werk von Volker Braun .................................................. 319 Gábor Kerekes: Die Rezeption Georg Büchners in ungarischen Literaturgeschichten bis ins Jahr 2009.................................................. 337 Dokumente und Materialien Ariane Martin: Eine Kinderschreckgestalt? Nochmals Bemerkungen zur ›Habergeise‹ und Büchners Lenz anlässlich der Veröffentlichung der volkskundlichen Habilitationsschrift Untersuchungen zur Mythologie des Kindes (Berlin 1933) von Richard Beitl .................... 361 Matthias Gröbel: Die Geschwister Georg Büchners in der Revolution von 1848/49......................................................................... 371 Anschriften der Autoren und Autorinnen ........................................................... 407
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Siglen und abgekürzt zitierte Literatur Briefwechsel
Georg Büchner: Briefwechsel. Kritische Studienausgabe von JanChristoph Hauschild. Basel, Frankfurt a. M. 1994
Büchner-Handbuch
Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Roland Borgards u. Harald Neumeyer. Stuttgart u. Weimar 2009
Dedner: Einleitungen
Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd. 5)
DHA
Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamthausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1973ff.
GB I/II
Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1979, 21982 (Sonderband aus der Reihe text + kritik)
GBJb
Georg Büchner Jahrbuch
GW
Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. Frankfurt a. M. 1987
HA
Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. Hamburg (dann München) 1967 ff. (Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe)
Hauschild 1993, 1997
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Stuttgart, Weimar 1993, Berlin 21997
Katalog Darmstadt
Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. Basel, Frankfurt a. M. 1987
Katalog Marburg
Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. Marburg 1985, 31987
Knapp
Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2000 (Sammlung Metzler, Bd. 159)
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MA
Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. München, Wien (desgl. München: dtv) 1988
MBA
Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000 ff.
MEW
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hrsg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 26 Bde. Berlin 1956–68.
P
Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarb. von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169)
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AUFSÄTZE
»Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.« Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten Dietmar Till (Berlin)
1. Rhetorik und Revolution – Rhetorik der Revolution Revolutionen zielen auf Veränderung der staatlichen Ordnung und Etablierung eines alternativen politischen Systems, auf Bruch mit der Vergangenheit. Als »Wandel schlechthin«, so Dieter Langewiesche, sind Revolutionen eine Art »Zukunftssprung«.1 Sie setzen langsame Entwicklungen aus und verändern gesellschaftlich-politische Strukturen und Konstellationen radikal und in kurzer Zeit. Damit Revolutionen gelingen können, muss die Zustimmung größerer Teile der Bevölkerung für die eigene Position gewonnen und eine öffentliche Meinung etabliert werden, welche die herrschenden Institutionen und Ideologen durch Aufweis einer Alternative infrage stellt. Revolutionäre Kommunikation ist durch Widerstände unterschiedlicher Art gekennzeichnet: Sie ist prinzipiell asymmetrisch, weil Obrigkeit und Opposition unterschiedliche Zugänge zu Medien haben. Öffentliche Rede kann juristisch verboten oder faktisch erschwert sein. Sie ist zugleich prinzipiell schwierig, weil nicht nur Einstellungen grundlegender Natur verändert werden müssen (und die zu überwindenden Widerstände immens sind), sondern aus der Einstellungsänderung auch noch die Verhal-
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Dieter Langewiesche: Revolution. In: Das Fischer Lexikon: Geschichte. Hrsg. v. Richard van Dülmen. Frankfurt a. M. 1991, S. 250–270, hier S. 251. – Begriffsgeschichtliches findet sich bei Reinhart Koselleck, Jörg Fisch, Neithard Bulst: Revolution. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 653–788.
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tensänderung folgen muss, die Partizipation am revolutionären Geschehen, ohne die der Umsturz nicht erfolgreich sein kann.2 Revolutionen sind also Urszenen der Rhetorik. Geradezu mustergültig führen sie die drei Grundelemente einer rhetorischen Situation vor Augen, die Lloyd Bitzer 1968 unterschieden hat:3 1. Die gesellschaftliche Notlage (exigence) als ihr Ausgangspunkt, die Veränderung unabdingbar und zeitlich drängend macht und die als temporaler Rahmen fungiert, innerhalb dessen der kairós angesiedelt ist, also der richtige Zeitpunkt rhetorischen Sprachhandelns; 2. das Publikum (audience) als ›mediator of change‹, das in prinzipieller Weise betroffen sein muss, damit es angesprochen werden kann; 3. schließlich die unterschiedlichen Einschränkungen und Widerstände (constraints) rhetorischer Kommunikation, also Glaubenssätze, Einstellungen, Traditionen usw., die kommunikativ überwunden werden müssen.4
2. Revolutionsrhetorik im Vormärz Einige historische Rahmendaten, die für das Verständnis des Hessischen Landboten unverzichtbar sind:5 Im Juli 1830 wird in Paris der Bourbonenkönig Karl X. gestürzt (der zuvor die Pressefreiheit aufgehoben, die eben gewählte Abgeordnetenkammer aufgelöst und das Zensuswahlrecht ver––––––––– 2
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Der Begriff der ›Einstellung‹ (attitude) bzw. ›Einstellungsänderung‹ stammt aus der psychologischen Persuasionsforschung, die sich seit den 1940er Jahren auch als »new rhetoric« bezeichnet hat (vgl. hierzu Hermann Holocher: Anfänge der ›New Rhetoric‹. Tübingen 1996). Einstellungen umfassen affektive, behaviorale und kognitive Komponenten (sog. ABC-Modell). Einstellungen prädisponieren also zu Verhalten bzw. machen in Experimenten Verhalten vorhersagbar. Zur psychologischen Persuasionsforschung insgesamt vgl. Richard M. Perloff: The Dynamics of Persuasion. Communication and Attitudes in the 21st Century. 3. Aufl. New York u. a. 2008. Lloyd F. Bitzer: The Rhetorical Situation. In: Philosophy and Rhetoric 1 (1968), S. 1–14. Die neuere Diskussion um diese Zentralkategorie fasst zusammen James Jasinski: Sourcebook on Rhetoric. Key Concepts in Contemporary Rhetorical Studies. Thousand Oakes u. a. 2001, S. 514–524. Dass man im Historischen Wörterbuch der Rhetorik zu diesem wichtigen Begriff der Rhetorik keinen Eintrag findet, verwundert. Zur Kategorie des Widerstands vgl. Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 58ff. Zitiert wird der Hessische Landbote unter der Sigle HLSt nach folgender Ausgabe: Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996. Bis zum Erscheinen des Bandes der Marburger Büchner-Ausgabe ist diese Edition autoritativ.
schärft hatte) und durch den Bürgerkönig Louis-Philippe ersetzt. Diese Vorgänge sind heute als Julirevolution von 1830 bekannt. Sie hatte in ganz Europa heftige Nachwirkungen, die im Kontext des repressiven politischen Klimas der Restaurationszeit gesehen werden müssen: Es gab Aufstände, unter anderem in Polen, aber auch im Großherzogtum Hessen-Darmstadt, wo sie im März 1833 im sog. ›Frankfurter Wachensturm‹ kulminierten.6 Vor diesem politischen Hintergrund entwickelte sich im Vormärz eine revolutionäre Rhetorik, die sich angesichts repressiver Rahmenbedingungen – Zensur, Unterdrückung auch garantierter Rechte und Überwachung durch Spitzel – nicht im Medium einer freien Presse und schon gar nicht der öffentlichen Rede und moderner demokratischer Institutionen äußern konnte. Neben konspirativen Treffen und Versammlungen, in denen politische und verfassungsrechtliche Fragestellungen diskutiert wurden, ist es vor allem eine reiche Produktion an Flugschriften, mit denen oppositionelle Gruppierungen ihren Forderungen Ausdruck verleihen wollten. Flugschriften sind gedruckte, mehrseitige Dokumente von geringem Umfang, die sich durch Aktualität, eine verständliche Sprache und konsequenten Wirkungsbezug auszeichnen.7 Ihre konkrete Rezeption ist schwer zu rekonstruieren und hängt von den Adressaten ab. Bei illiteraten Rezipienten wurden sie häufig an ›öffentlichen‹ Orten vorgelesen; auch im Falle des Hessischen Landboten haben wir Dokumente, die ein solches mündliches ›Aufführen‹ der Flugschrift belegen.8 ––––––––– 6
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Historischer Überblick bei Dieter Langewiesche: Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849. München 52007 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 13), S. 45ff. Zur Flugschrift als Hybridform zwischen Textsorte und Medium vgl. Johannes Schwitalla: Flugschrift. Tübingen 1999 (= Grundlagen der Medienkommunikation, Bd. 7), S. 4ff. (definitorische Aspekte), S. 15ff. (Produktion und Rezeption), S. 35ff. (sprachliche Formen, Stil). – Nicht recht überzeugt hat mich die in der Flugschriftenforschung verbreitete Differenzierung von ›Agitation‹ (Handlungsbeeinflussung) und ›Propaganda‹ (Überzeugungsbeeinflussung), die auf Hans-Joachim Köhler zurückgeht. Mit der Persuasionsforschung und dem psychologischen Konzept der ›Einstellung‹ (attitude) wäre vielmehr immer auf die Übergängigkeit von Einstellung in Handlung auszugehen. Zudem scheint der Begriff der ›Propaganda‹ historisch so belastet, dass er neutral kaum mehr verwendet werden kann. Thomas Michael Mayer: Die Verbreitung und Wirkung des »Hessischen Landboten«. In: GBJb 1 (1981), S. 68–111.
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Flugschriften sind im Vormärz also das zentrale Substitut einer öffentlich-politischen Rede. Dennoch sind sie bis heute ein kaum beachtetes Kapitel der Rhetorikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die historische Forschung konzentriert sich weitgehend auf die reformatorische Flugschriftenproduktion, Untersuchungen aus der Perspektive der Rhetorik gibt es kaum. Das betrifft auch den Hessischen Landboten, die bei weitem bekannteste und radikalste Flugschrift des Vormärz, die 1834 von Georg Büchner und dem Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig in einem kollaborativen Verfahren verfasst wurde. In den gängigen rhetorikhistorischen Darstellungen etwa von Karl-Heinz Göttert, Gert Ueding oder im Grundriss der Rhetorik von Gert Ueding und Bernd Steinbrink findet man zum Landboten nicht einmal einen knappen Hinweis,9 auch im Artikel Vormärz des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik werden die Flugschriften nicht thematisiert.10 Auch für die Büchner-Forschung ist der Hessische Landbote kein zentrales Werk. Die Zahl einschlägiger Arbeiten ist überschaubar und überwiegend auf die Hochzeit der Sozialgeschichte in den späten 1970er Jahren beschränkt. Nach der Re-Autonomisierung des Literaturbegriffs seit den 80ern hat man sich mit der Flugschrift als einem pragmatischen, auf konkrete Wirkung ausgerichteten Text schwer getan.11 Häufig ist die ––––––––– Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart, Weimar 42005; Gert Ueding: Moderne Rhetorik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. München 2000; Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption. München 42009. 10 Claude D. Conter: Art. Vormärz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. 9 Bde. Tübingen 1992–2009, Bd. 9 (2009), Sp. 1204–1219. Der Artikel bietet einen sehr soliden Überblick über die Rolle der Literatur im Vormärz und die damit verbundenen ästhetischen Implikationen. Dass Flugschriften allerdings ausgeblendet werden (lediglich das ›Flugblatt‹ wird genannt, aber nicht diskutiert, ebd., Sp. 1212), zeugt von einer verbreiteten Blindheit der Literaturwissenschaft gegenüber solchen pragmatischen Texten. Kurze Erwähnung findet der Hessische Landbote in FranzHubert Robling: Art. Revolutionsrhetorik IV. Deutschland. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. o.), Bd. 7 (2005), Sp. 1338–1349. Nicht dem Forschungsstand entsprechen allerdings die Aussagen Roblings zu den Adressaten und zur Wirkung (ebd., Sp. 1340). 11 Paradigmatisch hierfür die Ansammlung von Gemeinplätzen in dem Artikel von Michael Hofmann: Der Hessische Landbote. In: Büchner-Handbuch, S. 7–18, hier S. 7: »Die von Georg Büchner und von Friedrich Ludwig Weidig verfasste Flugschrift stellt den in der deutschen Literaturgeschichte recht einmaligen Fall dar, dass ein herausragen9
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Flugschrift lediglich als biografisches Dokument einer Station im Leben Büchners oder als ›Vorstufe‹ zu den später entstandenen literarischen Werken gesehen worden. Ausnahmen sind die ausführlichen Analysen von Volker Klotz und Gerhard Schaub.12 Unverzichtbar zum Verständnis des ideengeschichtlichen Kontextes des Hessischen Landboten, zu Fragen der Textverteilung, der Distribution und Rezeption der Flugschrift sind schließlich die Arbeiten Thomas Michael Mayers.13
3. Büchner und die Schulrhetorik Büchner genoss am Darmstädter Gymnasium intensiven RhetorikUnterricht, über den wir durch die Arbeiten von Schaub und Susanne Lehmann gut informiert sind:14 Rhetorik wird am Pädagogium in jener ––––––––– der Literat und Schriftsteller gleichzeitig der Autor einer politischen Kampfschrift war, die anonym und illegal erschien und die ihrem Urheber die Androhung einer schweren Gefängnisstrafe (und dem Koautor den Tod in Polizeihaft) einbrachte. Wenn für die deutsche Literatur spätestens seit der Weimarer Klassik gewissermaßen apriori die Abkehr vom politischen Tagesgeschäft als Voraussetzung für die Erlangung literarischer und künstlerischer Autonomie angesehen wurde, wenn Literatur der Moderne von Schiller bis Adorno nur in der Abkehr von den entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen ihren Zweck erfüllen können sollte, so musste Georg Büchner als Provokation wirken«. Damit wird nicht nur das Autorschaftsproblem des Hessischen Landboten grammatisch elegant gelöst, auch wird ein arhetorischer Literaturbegriff hypostasiert, der für die Vormärzzeit gänzlich ungeeignet scheint. 12 Volker Klotz: Agitationsvorgang und Wirkprozedur in Büchners »Hessischem Landboten«. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. FS Wilhelm Emrich. Hrsg. v. Helmut Arntzen u. a. Berlin, New York 1975, S. 388–405; Gerhard Schaub: »Anleitung zu einer inhaltlichen und rhetorischen Analyse des HL [= Hessischen Landboten]«. In: Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. Hrsg. v. G. S. München 1976 (= Reihe Hanser. Literatur-Kommentare, Bd. 1), S. 151– 161. Heranzuziehen für viele Einzelaspekte schließlich die Ausführungen in Katalog Marburg. – Nicht überzeugt hat mich die dekonstruktive Lektüre von Daniel Müller Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel. Überlegungen zu einer Rhetorik des Bildbruchs im »Hessischen Landboten«. In: Colloquia Germanica 27 (1994), S. 123–140. In der vom Verfasser zitierten Stelle (HLSt, S. 18) vermag ich nicht zu erkennen, wie der Text den »Fürstenmantel« »durch ein Loch in diesem selbst verschwinden läßt« (ebd., S. 132). 13 Thomas Michael Mayer: Umschlagporträt. Statt eines Vorworts. In: GB I/II, S. 5–15; ders.: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298; ders.: Verbreitung (s. Anm. 8). 14 Vgl. die umfassende und quellennah argumentierende Studie von Susanne Lehmann: Georg Büchners Schulzeit. Ausgewählte Schülerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005 (= Büchner-Studien, Bd. 10) sowie die Arbeiten von Gerhard Schaub: Georg Büchner: Poeta rhetor. Eine Forschungsperspektive. In: GBJb 2 (1982), S. 170–195; ders.: Georg Büch-
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transformierten Gestalt gelehrt, die sie in der Spätaufklärung angenommen hatte.15 Der Übergang vom Rhetorik- zum Stil- und Deutschunterricht war bereits weitgehend vollzogen, auch wenn sich die Bezeichnung Rhetorik vielerorts noch hielt. Lehrbücher, die ausweislich der Bibliotheksverzeichnisse und der Lektionskataloge benutzt wurden, waren Georg Gustav Fülleborns Rhetorik von 1802, Andreas Mühlichs Leitfaden bei dem Unterrichte in der Rhetorik von 1825 und Christian Friedrich Falkmanns Methodik der Stylübungen von 1818.16 Diese weitverbreiteten Anleitungsbücher lehrten neben der mündlichen Rede – hier ausschließlich Formen des génos epideiktikón – vor allem das Abfassen von Briefen und ›Geschäftsaufsätzen‹, also Berichten, Rechnungen, Vollmachten, Schuldverschreibungen – und damit nicht das Verfassen von Flugschriften, das liegt auf der Hand, aber man muss sich vergegenwärtigen, dass der Anteil mündlicher Redegattungen insgesamt gering war. Die öffentlich-politische Rede wird in diesen Lehrbüchern nicht behandelt, was innerhalb ––––––––– ner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. Bern, Frankfurt a. M. 1975 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Bd. 3). – Leider unpubliziert geblieben ist Schaubs umfangreiche Habilitationsschrift: Die schriftstellerischen Anfänge Georg Büchners unter dem Einfluß der Schulrhetorik. 2 Bde. Habil.-Schrift [masch.] Trier 1980. 15 Vgl. zum Rhetorikunterricht im 19. Jahrhundert den wichtigen Aufsatz von Dieter Breuer: Schulrhetorik im 19. Jahrhundert. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Hrsg. v. Helmut Schanze. Frankfurt a. M. 1974, S. 145– 179. Mir scheint Breuer allerdings die Kontinuität zu überschätzen. Was im 19. Jahrhundert als ›Rhetorik‹ bezeichnet wird, unterscheidet sich mit Blick auf das Unterrichtsziel (Stichworte: Neuhumanismus, ›Geschmackserziehung‹, Volkssprachlichkeit) vielfach vom frühneuzeitlichen Rhetorikunterricht. Vgl. hierzu Georg Jäger: Der Deutschunterricht auf Gymnasien 1780 bis 1850. In: DVjs 47 (1973), S. 120–147; ders.: Schule und literarische Kultur. Bd. 1 [mehr nicht ersch.]: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart 1981; Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland. Berlin, New York 1988, S. 123ff. Weitergehende Studien müssten allerdings territorial differenzieren. – Zum Begriff der Transformation vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; vgl. insgesamt ders.: Art. Schulrhetorik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. Anm. 10), Bd. 8 (2007), Sp. 672–679. 16 Durchaus typisch ist, dass die antiken Klassiker Cicero (mit De oratore) und Quintilian (Institutio oratoria) keine Rolle spielen; sie befanden sich, wie der von Lehmann (s. Anm. 14) ausgewertete Bibliothekskatalog zeigt, auch nicht in der Bibliothek des Pädagogiums.
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der restaurativen politischen Rahmenbedingungen auch nicht denkbar gewesen wäre.17 Büchner war also rhetorisch präpariert. Ideologisch ohnehin: Quellen zeigen, dass sich der Schüler intensiv für die Französische Revolution und deren ›frühkommunistische‹ Theoretiker interessierte18 und die Tagespolitik im Gefolge der Julirevolution genau verfolgte.19 Das setzte sich im Medizinstudium in Straßburg und Gießen fort. In der Studienzeit pflegt Büchner intensive Kontakte zu revolutionären Gruppierungen. An dem Frankfurter Wachensturm sind ehemalige Darmstädter Klassenkameraden und Weidig beteiligt. Büchner lernt letzteren vermutlich im Januar 1834 kennen, als er längst an vorderster Front der hessischen Oppositionsbewegung steht. In einem Brief an die Eltern vom Juni 1833 schreibt Büchner, er habe »in n e u e r e r Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der E i n z e l n e n vergebliches Thorenwerk ist. Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht.«20 Büchner wird zum Revolutionär. Im März 1834 stellt er eine erste Fassung des Hessischen Landboten fertig. Er übergibt den Text Weidig, der dessen rhetorische Qualitäten sofort erkennt, aber ›ideologische‹ Vorbehalte hat und die Flugschrift umarbeitet: Büchner ist ihm politisch zu radikal. Wir sind darüber durch ein Verhör-Protokoll eines Mitrevolutionärs, August Becker, informiert. Danach stammt der Titel der Flugschrift von Weidig, ebenso die Bibelstellen am Schluss und einige begriffliche Korrekturen, etwa die Erset––––––––– 17 Charakteristisch hierfür etwa Christian Friedrich Falkmann: Stylistisches Elementarbuch
oder Erster Cursus der Stylübungen. Hannover 1825. In der Vorrede hebt der Verfasser die »praktische Tendenz« seines Lehrbuchs hervor, das 300 Aufgaben enthalte, »110 davon Briefe und 30 andere Geschäftsaufsätze betreffen[d]« (S. III). Für die Buchproduktion der Zeit ist dies durchaus normal: Die Stillehrbücher stehen in einer Entwicklung hin zur schriftsprachlichen Pragmatik, die bereits in der Aufklärung beginnt. 18 Hierzu ausführlich Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13), S. 19ff. 19 Vgl. die Zusammenfassung der Biografie (mit Hinweisen auf Quellen, auf die ich hier pauschal verweise, um den Anmerkungsapparat zu entlasten) bei Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart 2007, S. 27ff. 20 Briefwechsel, S. 23.
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zung von »die Reichen« durch »die Vornehmen«.21 Weidig wollte dadurch die radikal sozialrevolutionären Ansichten, die man in der Büchner-Forschung in eine Linie mit frühkommunistischen Ansichten gestellt hat, abmildern.22 Weidig organisiert den Druck – die Auflagenhöhe betrug, wie Thomas Michael Mayer plausibel hochgerechnet hat, immerhin zwischen 1200 und 1500 Exemplaren – und die Distribution der achtseitigen, im Hochoktavformat und auf schlechtem Papier gedruckten Flugschrift.23
4. Die rhetorische Strategie des Hessischen Landboten Damit zum Text der Flugschrift selbst: Die rhetorische Situation – Hessen-Darmstadt 1834, staatliche Oppression, notleidende Landbevölkerung, gescheiterte Aufstände – ist der Ausgangspunkt des rednerischen Handelns. Der Redner muss eine kommunikative Strategie finden, also einen Globalplan, der die Anlage seines auf rednerischen Erfolg zielenden Textes unter Berücksichtigung der Kategorien von Mittel, Ziel, Publikum und unterschiedlichen Widerständen steuert.24 Im Falle des Hessischen Landboten haben wir es mit zwei Autoren zu tun, die tendenziell unterschiedliche politisch-gesellschaftliche Fernziele hatten. Weidig appellierte, wie seine Flugschrift Leuchter und Beleuchter für Hessen zeigt, an die Einlösung der Versprechen der konstitutionellen Monarchie durch Appell an die Rechtsinstitution der Verfassung, um damit mittelbar die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch der Landbevölkerung zu verändern. Sein Leuchter und Beleuchter richtete sich ––––––––– 21 HLSt, S. 108–110; erschöpfend Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13), S. 183ff. 22 Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13), S. 181 betont, dass sich Weidig unter dem
Einfluss Büchners politisch von seinen ursprünglichen Positionen wegbewegt habe: »›Der Hessische Landbote‹ hat schließlich in der bei Preller gedruckten Form zuletzt Weidigs Hand verlassen; und genau in dieser allein überlieferten Fassung hat er zuallererst dem feudalbürokratischen Staatsapparat wie den liberalen Oppositionellen gleichermaßen die Sprache verschlagen«. 23 Mayer: Verbreitung (s. Anm. 8), S. 88. Mayer revidiert damit seine früheren Angaben, die Auflagenhöhe habe etwa 1000 Exemplare betragen, deutlich nach oben. 24 Zur rhetoriktheoretischen Bedeutung der Kategorie ›Strategie‹ vgl. Joachim Knape, Niels Becker, Katie Böhme: Art. Strategie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. Anm. 10), Bd. 9 (2009), Sp. 152–172.
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an das lesekundige liberale Bürgertum.25 Büchner, und das ist ebenso radikal wie neu, setzt unmittelbar bei den notleidenden Bauern selbst an. Seine Überlegungen fanden in den Diskussionen auf der Badenburg offensichtlich die Zustimmung der Mitrevolutionäre. Die Bauern selbst sind der primäre Adressat der Flugschrift. Das Verhörprotokoll August Becker gibt Aufschluss über Büchners rhetorische Strategie: Revolutionen könnten, so gibt der Studienfreund Gespräche wieder, »bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen«. Es geht also um Massenkommunikation, die nur durch Flugschriften bewerkstelligt werden kann. Frühere Flugschriften verfolgten eine wirkungslose Strategie, weil sie verfassungsrechtliche Fragen erörterten, anstatt sich den drängenden Problemen der Bauern zuzuwenden – kurzum: die früheren Flugschriften zielten an den eigentlichen Adressaten vorbei und konnten deshalb keine Wirksamkeit entfalten: »[E]s war darin die Rede vom Wiener Congreß, Preßfreiheit, Bundestagsordonanzen u. dgl., lauter Dinge, um welche sich die Bauern […] nicht kümmern, so lange sie noch mit ihrer materiellen Not beschäftigt sind; denn diese Leute haben aus sehr nahe liegenden Ursachen durchaus keinen Sinn für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des Menschen usw.«26
Die soziale Notlage der Bauern wird funktionalisiert für Zwecke der Revolution, für den Kampf Arm gegen Reich: »Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!« lautet folgerichtig die Schlagzeile, mit der Nicolas Chamfort (1741–1794), ein Schriftsteller der Französischen Revolution, zitiert wird.27 Wie manifestiert sich die rhetorische Strategie nun im Text? Gerhard Schaub ging in seinen Analysen von der Schulrhetorik aus, also von ––––––––– 25 Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge (s. Anm. 14), S. 253f. – Der Text der Zeitschrift
in Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Hans-Joachim Müller. Darmstadt 1987, S. 85–104. Deutlich zeigt sich, dass Weidig im Leuchter und Beleuchter für Hessen den Dialog mit der Obrigkeit sucht und die Regeln des kommunikativen ›Anstands‹ (das decorum der Rhetorik) nicht verletzen möchte: Die Zeitschrift will »eine freie Sprache reden, zugleich aber nach den Gesetzen der guten Sitte und Treue leidenschaftliche Persönlichkeiten [= Invektiven] vermeiden.« (Ebd., S. 85.) 26 HLSt, S. 105. 27 Vgl. den Kommentar in HLSt, S. 48.
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Büchners bildungsgeschichtlichen Hintergründen. Die Kategorien der (in den 1960er und 70er Jahren in der Barockforschung eben erst entdeckten) Rhetorik galt es auf den Text des Hessischen Landboten zu übertragen: »[U]nverkennbar«, schreibt Schaub, weise die Flugschrift »die Struktur einer Rede« auf. Es sei die »Gliederung der rhetorischen Disposition der antiken Parteirede«,28 worunter konkret dann aber die partes orationis der antiken Gerichtsrede verstanden werden. Dass in Schaubs Analyse des Landboten dieses Gliederungsschema nicht aufgeht, hat prinzipielle Gründe. Zunächst ist die Flugschrift sicherlich nicht (was Schaub im übrigen klar erkennt) dem genus iudiciale zuzuordnen, sondern, folgt man Aristoteles’ Überlegungen zur Zeitstruktur der Redegattungen am Beginn der Rhetorik,29 dem genus deliberativum, in dem der Redner von einer in der Zukunft liegenden Sache zuoder abrät (im Gegensatz zur Gerichtsrede, die über einen in der Vergangenheit liegenden Fall ein Urteil fällt). Während Gerichtsreden den Tatbestand nach dem Prinzip des iustum, also der Frage der Gerechtigkeit, beurteilen, geht es in der Entscheidungsrede um das utile, also die Frage der Nützlichkeit, sekundär aber auch, wie Quintilian in der Institutio oratoria ausführt, um das honestum und sogar das necessarium:30 Nützlich ist der Umsturz für die Bauern, weil sich dadurch ihre Lebensbedingungen verbessern; notwendig erscheint er vor dem Hintergrund einer moralischen Dekadenz der Herrschenden, die durch das 7-mal wiederholte Stigmawort der »Tyrannen« charakterisiert werden. Zentral ist dabei, dass Worte wie ›Aufstand‹, ›Erhebung‹ oder ›Revolution‹ im Text des Hessischen Landboten nicht fallen. Die Strategie des Textes zielt vielmehr darauf, diesen Schluss, der mittelbar in revolutionäre Handlung überleitet, am Ende alternativlos erscheinen zu lassen und damit die Entscheidung zur Tat den Rezipienten zu überlassen. Ohnehin muss man sich vergegen––––––––– 28 Schaub: »Anleitung« (s. Anm. 12), S. 154f. 29 Aristoteles: Rhetorik I,2. 30 Quintilian: Institutio oratoria III,8,1–3; III,8,44. Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der
literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960, §§ 234f. – Analoge Argumente finden sich bereits in der griechischen Rhetorik an Alexander und der Rhetorik des Aristoteles. Letzterer betont (Rhetorik I,3) gerade die ›Nützlichkeit‹ als zentrale Zielsetzung der Beratungsrede. Einen Überblick vermitteln Brigitte Wilke, Thomas Zinsmaier: Art. Honestum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (s. Anm. 10), Bd. 3 (1996), Sp. 1546–1555.
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wärtigen, dass Büchner und Weidig mit dem Landboten eine ganze Serie von Flugschriften starten wollten, deren Distribution sich auf ganz Deutschland erstrecken sollte. Wir müssen also von einem graduellen Persuasionsprozess ausgehen, der mit der ersten Nummer des Hessischen Landboten erst beginnen sollte. Gerichts- und politische Entscheidungsrede unterscheiden sich auch in den verwendeten Argumentationsformen: Während die Gerichtsrede nach Aristoteles primär enthymematisch argumentiert, setzt die Beratungsrede auf das paradeigma, verfährt also exemplarisch.31 Daraus resultiert nach Quintilian eine dispositio, die von der strengen Dialektik von accusatio und defensio, wie sie die Gerichtsrede beherrscht, abweicht – zugunsten lockerer angelegter Aufbauschemata. Quintilian verweist an mehreren Stellen des einschlägigen Kapitels im dritten Buch der Institutio oratoria auf die Rolle von Beispielen:32 Sie seien in keinem anderen Genus mehr angebracht als in der Entscheidungsrede, vor allem, wenn sie von Personen großer Autorität und für ein geeignetes Publikum dargebracht werden. Damit aber sind keine öden Beispielreihen gemeint. Vielmehr ist das genus deliberativum der eigentliche Ort emotionaler Rede: »Ausdruck der Affekte verlangt die Beratungsrede ganz besonders; denn häufig gilt es Zorn zu erregen oder zu besänftigen und das Gemüt in Angst, Begierde, Haß oder Nachgiebigkeit zu versetzen.«33 Weil der Hessische Landbote keine Gerichtsrede ist, passt auch das Schema von exordium, narratio, argumentatio und peroratio nicht, das Schaub seiner Analyse zugrunde legt. Prinzipiell wäre darauf hinzuweisen, dass Texte natürlich ganz häufig von solchen Strukturvorgaben der Schulrhetorik abweichen.34 Insofern scheint der Erkenntniswert solcher Ansätze einer rhetorischen Textanalyse, die von der bruchlosen Übersetzbarkeit der praecepta in den Redetext ausgehen, prinzipiell problematisch. Immer nämlich ist mit Abweichungen zu rechnen; mit Quintilian wäre ––––––––– 31 Vgl. das Kapitel »Logik und Rhetorik der Beispiele« in Gottfried Gabriel: Logik und
Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn u. a. 1997 (= Explicatio), S. 126ff. 32 Quintilian: Institutio oratoria III,8,36 und III,8,66. (Übers. Helmut Rahn.) 33 Ebd., III,8,12. 34 Zum Verhältnis von Normentwurf und textlicher Realisation solcher Vorgaben vgl. Dietmar Till: Rhetorik und Poetik. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007, Bd. 1, S. 435–465.
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auf die fundamentale Bedeutung des consilium des Redners als entscheidende Instanz zu verweisen.35
5. »Materielles Elend« und »religiöser Fanatismus« Damit komme ich zu einer detaillierten Strukturanalyse: Büchner spricht in einem Brief an Karl Gutzkow aus dem Straßburger Exil 1836 davon, dass »materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s« die »zwei Hebel« seien, die man einsetzen müsse, um das Volk zur Revolution zu bewegen.36 Diese beiden »Hebel« sind für den Hessischen Landboten nicht nur die zwei entscheidenden argumentativen und affekterzeugenden Topoi; sie bilden in der Abfolge von Elend und Religion auch die Struktur der Argumentation ab.37 In Übereinstimmung mit Quintilians Charakterisierung des genus deliberativum kann man dem Hessischen Landboten eine locker gestaltete, vierteilige Struktur unterlegen: Der Text beginnt – erstens – nach dem Vorbericht und dem kämpferischen Motto »Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!« mit einer Zustandsdiagnose: »Im Jahr 1834«, so scheine es, werde die »Bibel Lügen gestraft«: »Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am 6ten gemacht«.38 Der Bauernstand wird unter Bezug auf das Sechstagewerk des biblischen Schöpfungsberichtes abgewertet, die Ungleichheit zwischen »Vornehmen« und »Bauern« vor dem Hintergrund ursprünglicher Gleichheit im Paradies zur Perversion göttlicher Ordnung erklärt. Daraus leitet der Text die Recht- und Machtlosigkeit der Bauern ab, deren Erniedrigung ihnen vor Augen gestellt wird, indem die Ver––––––––– 35 Vgl. Lausberg (s. Anm. 30), § 225. 36 Briefwechsel, S. 103. 37 Hans-Joachim Ruckhäberle weist in seiner wichtigen (gleichwohl ohne Nachfolger
gebliebenen) Arbeit darauf hin, dass Büchner und Weidig in der Topik des Hessischen Landboten auf Vorläufer rekurrieren (Hans-Joachim Ruckhäberle: Flugschriftenliteratur im historischen Umkreis Georg Büchners. Kronberg/Ts. 1975, S. 207ff.). – Erstaunlicherweise wurde bislang kaum diskutiert, inwieweit Büchner und Weidig explizit auf Argumentationsmuster und Textstrategien aus dem Kontext der Französischen Revolution und des Jakobinismus in Deutschland zurückgreifen. Vgl. zu letzterem Inge Stephan: Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1806). Stuttgart 1976 (= Sammlung Metzler, Bd. 150). 38 HLSt, S. 6.
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gleiche, Metaphern und andere Tropen konsequent auf das Bildfeld bäuerlicher Landwirtschaft zurückgreifen. Wenn es im Text heißt, dass der »Schweiß« des Bauern »das Salz auf dem Tische des Vornehmen«39 ist, dann ist dies eine ebenso anschauliche wie eindrückliche Metonymie, die auch für ungebildete Adressaten unmittelbar verständlich ist.40 Auf diese evidente Zustandsbeschreibung folgen in einer Reihungstechnik verschiedene größere Argumentationseinheiten: Zweitens die Darstellung der Problematik des Gottesgnadentums, also die theologische Fundierung politischer Herrschaft,41 die widerlegt wird. Drittens wird die Utopie der Freiheit, die das Volk »erringen« müsse,42 mit Blick auf die Französische Revolution und ihre Pervertierung diesseits und jenseits des Rheins legitimiert und an die Einhaltung elementarer verfassungsmäßiger Grundsätze gekoppelt. Abschließend folgt – viertens – der Aufruf zur revolutionären Tat als eine innerweltliche Apokalypse, die Umsturz mit Reinigung verbindet. Dieser Bezug legitimiert die revolutionäre Handlung durch Rekurs auf theologische Kategorien, genauer: ein biblisch fundiertes Widerstandsrecht, das durch den sich in der Heilsgeschichte abbildenden Willen Gottes, der als Akteur gerade im Schlussteil häufig auftritt,43 zusätzlich abgesichert wird. Entscheidend für die persuasive Strategie, also die Mittel-ZielRelation, ist die Frage nach Autorität und Publikumsausgerichtetheit der Argumente. In der Forschung hat man auf die zwei wichtigsten Quellen hingewiesen, die Statistik und die Bibel. Sie stellen dasjenige topischargumentative Material bereit, auf deren Grundlage die beiden Hebel erst funktionieren, eben die in dem Brief an Gutzkow genannten: »materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s«. Bereits Hans Mayer spricht in seiner Büchner-Biografie von 1946 von der »neue[n] Waffe, die Büchner ––––––––– 39 Ebd., S. 8. 40 Vgl. die detaillierte sprachlich-rhetorische Analyse, die hier aus Platzgründen entfal-
len muss, bei Klotz (s. Anm. 12), S. 393f. und vor allem Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge (s. Anm. 14), S. 434ff. 41 Vgl. zum zeitgenössischen Kontext solcher Topoi Ruckhäberle (s. Anm. 37), S. 209213. 42 HLSt, S. 28. 43 HLSt, S. 28/30ff.; vgl. zur zeitgenössischen Parallelisierung von Luther und Weidig Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13), S. 189f. Mayer weist zudem auf das Frag- und Antwortbüchlein (1819) von Wilhelm Schulz hin, dessen katechetische Argumentation die Flugschrift ebenfalls beeinflusst haben dürfte (ebd., S. 191f.).
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bewußt und zum erstenmal im politischen Kampf Deutschlands handhabt: die Statistik.«44 Zwar hat man zwischenzeitlich Vorläufer ausgemacht,45 die Qualität und Aggressivität von Büchners Argumentation allerdings bleibt solitär. Statistisches Material prägt in einer Leitmotivtechnik in der Abfolge von Zahlen und wertendem Kommentar die erste Hälfte des Textes. Büchner hatte sie Georg Wilhelm Justin Wagners Statistisch-topographische[r] Beschreibung des Großherzogthums Hessen von 1831 entnommen.46 Es ist die offizielle und aktuellste Statistik des Großherzogtums, deren Zahlen nun gegen die Obrigkeit eingesetzt werden. Büchner zitiert einerseits recht präzise, verändert lediglich die Reihenfolge der Zahlen geringfügig, indem er mit den direkten und indirekten Steuern beginnt, deren Auswirkungen bei den Adressaten am größten gewesen sein dürften, wählt andererseits aber natürlich gerade jene Posten aus, die für die Lebensumstände der Adressaten unmittelbar relevant sind: Die Auswahl erfolgt also nach jenem rhetorischen Generalgrundsatz, dass die inventio ein parteiischer Vorgang ist, welcher dem Grundsatz der utilitas causae folgt.47 Neben der Statistik durchziehen Bibelzitate den gesamten Text, treten aber in den die revolutionäre Handlung vorbereitenden Schlusspassagen des Hessischen Landboten signifikant häufiger auf. Hier sind es vor allem Stellen aus dem Matthäus-Evangelium, der Apokalypse, den Briefen des Paulus an die Römer und die Korinther und aus den ›großen‹ Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel, die in diesem Teil den Aufruf zur Tat argumentativ unterstützen sollen. Die Büchner-Forschung hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, welche Passagen von Büchner und welche von Weidig stammen.48 Ein Großteil der Arbeiten zum Landboten widmet sich dieser Fra––––––––– 44 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1972, S. 183f. 45 Gerhard Schaub: Statistik und Agitation. Eine neue Quelle zu Büchners »Hessischem Land-
boten«. In: Geist und Zeichen. FS Arthur Henkel. Hrsg. v. Herbert Anton u. a. Heidelberg 1977, S. 351–375. 46 Dies ist eine Entdeckung Schaubs: Statistik und Agitation (s. Anm. 45). 47 Vgl. Lausberg (s. Anm. 30), § 260. 48 Entsprechendes findet sich bereits in dem Verhörprotokoll Becker (HLSt, S. 108– 110). Am ausführlichsten und mit umfangreicher Argumentation Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13). Mayers dezidierte Argumentation zeigt allerdings auch, dass sich das Problem der Autorschaft niemals letztgültig lösen lässt. Vorliegender Beitrag behandelt den Text des Hessischen Landboten primär von der Rezeption ausgehend. Be-
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ge, die, weil ein Manuskript Büchners (oder Weidigs) nicht überliefert ist, schlussendlich doch nur approximativ zu klären ist. Danach stammen die Statistik-Teile in der ersten Hälfte eher von Büchner, die Bibel-Stellen der zweiten Hälfte eher von Weidig. Auch wenn sich eine solche Aufteilung im einzelnen, wenn auch nicht mit letzter Gewissheit, etwa anhand von Briefen und Verhörprotokollen legitimieren lässt, ist dadurch die Frage, ob die Flugschrift als Ganzes einer erfolgversprechenden rhetorischen Strategie folgt, noch nicht geklärt. Hat man in der BüchnerForschung den bibellastigen zweiten Teil als ›traditionell‹ und sprachlich ›weniger kühn‹ als den ersten abgewertet, so möchte ich im Folgenden zeigen, dass Weidigs Hinzufügungen tatsächlich essentiell sind, wenn der Text seine revolutionäre Wirkabsicht in die Tat umsetzen möchte: Es ist die Abfolge von Einstellungsänderung und Verhaltensänderung, der die beiden Teile funktional zugeordnet sind. Die Flugschrift als Ganzes verfolgt insofern – so meine These – konsequent eine revolutionäre rhetorische Strategie. Geht man hiervon aus, dann verwundert es nicht, dass der Bezug auf diese beiden sedes argumentorum im Text ungleich verteilt ist. Denn Statistik und Bibelzitate haben unterschiedliche Funktionen im Text. Die Statistik wird in einer Leitmotivtechnik eingesetzt, deren amtlich festgesetzte Einnahme- und Ausgaben-Posten zugleich die Struktur staatlichhöfischer Organe abbilden. Die für die Argumentation zentrale Diskrepanz von ökonomischem Aufwand (sehr hoch) und Nutzen für das Landvolk (niedrig bzw. kontraproduktiv) ist strukturbildend und umfasst alle höfischen Gesellschaftsbereiche, die im Verhältnis zum ökonomischen Normalmaß der Landbevölkerung eine ›verkehrte Welt‹ darstellen.49 Es bleibt die Frage, wie angemessen die ›nackten Zahlen‹ sind. Hier ist es gerade der Verstoß gegen das Prinzip der Angemessenheit, der Überzeugung erzeugt. Denn man darf sich wohl keine Illusion darüber machen, dass die Summen, die für Einnahmen wie Ausgaben des Staates in den Statistiken verzeichnet werden, insgesamt so hoch sind, dass sie in ––––––––– rücksichtigt man, dass der Hessische Landbote ohne Verfasserangabe gedruckt und verbreitet wurde, dann erübrigt sich eine tiefergehende Diskussion. 49 Zum Argument der höfischen Verschwendungssucht im Kontext der Adelskritik vgl. Ruckhäberle (s. Anm. 37), S. 221f. Büchner und Weidig allerdings gehen durch die dissonanzerzeugende Kontrastierung über ihre Vorläufer weit hinaus.
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keinem Verhältnis zur Lebenswirklichkeit der Bauern stehen – und damit schlechterdings nicht verstanden werden können. Die Nennung präziser Summen – für den »Hofstaat 827,772 Gulden«, für das Ministerium des Inneren »1,110,607 Gulden«50 etc. – verstärkt diesen Effekt noch. Aus der Diskrepanz von ›nacktem‹, kalt-präzise zitiertem Zahlenmaterial und einer bildlich eindrücklich gestalteten Schilderung des depravierten Zustands der Bauern, aus dieser durch eine Kontrasttechnik hergestellten Diagnose der Ungerechtigkeit entstehen Affekte der Indignation, die – so schon Cicero in De inventione – Negativemotionen der Adressaten gegenüber der gegnerischen Partei aufbauen.51 Es ist also nicht bloß »Staunen«,52 wie Volker Klotz meint, auch nicht das »docere«,53 wie Gerhard Schaub schreibt, sondern heftige Empörung, die sich aus dem Vergleich, ja dem gegenseitigen Aufrechnen der beiden Welten ableitet. Die Reihung des Zahlenmaterials ist also nicht, wie in einer Gerichtsrede, auf eine einzige Konklusion ausgerichtet, mithin nicht streng final angelegt: Der Teil argumentiert vielmehr in Art eines sittlichen Panoramas, also induktiv, und basiert auf der Wiederholung ähnlich empörender Szenarien. Deshalb liefert die Reihe der Zahlen letztlich auch keine neue Erkenntnis: Nicht die Information über staatliche Verschwendung ist Ziel der Argumentation, sondern die Veranschaulichung der Schere zwischen Reich und Arm aus der Perspektive der Bauern. Es ist also eine auf dem Prinzip der Evidenz gegründete Argumentation,54 die sich entsprechender Textverfahren bedient: Deshalb wird immer wieder an die Imagination der Adressaten appelliert, etwa durch Anreden und Aufrufe: »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen«.55 Immer wieder schließlich wird an die gescheiterten Aufstände erinnert: Die Dörfer »Ro[c]kenburg«56 ––––––––– HLSt, S. 16 und 10. Cicero: De inventione I,53,100. Klotz (s. Anm. 12), S. 398. Schaub: »Anleitung« (s. Anm. 12), S. 161. Zur evidenzerzeugenden Funktion von Statistiken vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 222. 55 HLSt, S. 18. 56 Ebd., S. 12. In Rockenberg bei Friedberg lag die Landesstrafanstalt Marienschloss, in die offenbar viele an dem oberhessischen Bauernaufstand vom Herbst 1830 beteiligte Bauern verbracht wurden (vgl. ebd., S. 51). 50 51 52 53 54
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und »Södel«57 etwa thematisieren den Bauernaufstand von 1830, an dessen Opfer in den eigenen Reihen der Text eindringlich mahnt: »Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und Vatermörder«.58 Zusammen mit der drückenden Abgabenlast und der ungerechten Justiz, der »Hure der deutschen Fürsten«,59 koppeln diese Argumente die staatliche Verschwendung an eine als in jeder Hinsicht bedrückend implizierte, emotional negativ gefärbte Erfahrungswelt der bäuerlichen Rezipienten. Dies ist unmittelbare Voraussetzung für die Wirkstrategie des zweiten Teils der Flugschrift.
6. Vorbereitung der Tat – Rhetorik des Umsturzes Im Gegensatz zur Statistik stehen die längeren Bibelzitate im konkret den politischen Umsturz legitimierenden und vorbereitenden Schlussteil. Nach dem Satz »Das ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit erringen«,60 der sich mit der unbefriedigenden Verfassungswirklichkeit nach der Julirevolution von 1830 auseinandersetzt, folgt der für die Flugschrift im Grunde schwierigste Teil: der langsame Übergang von der Meinungsbildung zur revolutionären Praxis.61 Er wird in zwei Schritten legitimiert, die extensiv auf die Bibel zurückgreifen: Zunächst wird geklärt, ob man Widerstand leisten darf (es geht also um ein theologisch fundiertes Widerstandsrecht gegen die Ob––––––––– 57 Ebd., S. 14. 58 Ebd.; vgl. den Kommentar von Schaub: »Während der oberhessischen Bauernun-
ruhen war es am 30. September 1830 in dem Dorf Södel aufgrund eines Mißverständnisses – Regierungssoldaten hielten unbeteiligte Dorfbewohner für versprengte Insurgenten und schossen in die Menge – zu einem bewaffneten Zwischenfall gekommen, bei dem es nicht nur Verwundete, sondern auch einige Tote gab.« (Ebd., S. 52.) 59 Ebd., S. 12. 60 Ebd., S. 28. 61 Mit Blick auf die Verhöraussage von Gustav Clemm bestimmt Schaub das Ziel des Hessischen Landboten darin, »das Volk zu einer Revolution vorzubereiten und zu bringen«. Er betont die »Langzeitwirkung« und »Bewußtseinsänderung«, auf die die Flugschrift angelegt sei (Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge [s. Anm. 14], S. 268). Schaub betont den instrumentellen Charakter des Landboten: Büchner wollte nicht die Revolution selbst herbeiführen, zentrales Ziel sei vielmehr die ideologisch-moralische Vorbereitung zu einer Revolution. Ähnlich betont Mayer, dass natürlich keine Flugschrift allein unmittelbar eine revolutionäre Situation herbeiführen könne (Mayer: Büchner und Weidig [s. Anm. 13], S. 106f. sowie ders.: Verbreitung [s. Anm. 8], S. 95).
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rigkeit), anschließend, ob und wie man die Revolution betreiben kann.62 Es ist also konsequent, dass die Bibel als topischer Fundus extensiv zum Einsatz kommt und die innerweltlichen Bezüge auf den Finanzhaushalt des Großherzogtums zurücktreten.63 Ähnlich wie die Statistik ist auch die Bibel eine Autorität ersten Ranges, in der stark religiös geprägten ländlichen Lebenswelt sogar das denkbar stärkste Persuasionsinstrument, weil es – anders als die von außen an die Lebenswelt herangetragene Statistik – auf verinnerlichten religiösen Glaubenssätzen beruht.64 Von Büchner selbst gibt es die Aussage, man müsse die »Ueberzeugungsgründe aus der Religion des Volks hernehmen« und daraus »die heiligen Rechte der Menschen erklären.«65 Die Argumentationsstrategie folgt deshalb – und das ist sehr konsequent – nicht mehr dem Prinzip der Affekterregung durch empörungserzeugende Dissonanz, sondern verfährt, bei allem pathetisch-prophetischen Sprachgestus, der den zweiten Teil mit seinen zahlreichen und längeren Zitaten aus der Bibel in Luthers Übersetzung prägt,66 stärker argumentativ rechtfertigend, indem sie den Prozess der Revolution mit dem der Heilsgeschichte parallelisiert: Der apokalyptische »Tag der Auferstehung«,67 der am Schluss der Flugschrift genannt wird, ist eben nicht nur ein theologisches, sondern soll vor allem ein politisches Ereignis ––––––––– 62 HLSt, S. 28–36. 63 Zu den verwendeten Bibelstellen detaillierte Ausführungen bei Schaub: Die schriftstel-
lerischen Anfänge (s. Anm. 14), S. 288–308.
64 Schaub weist auf eine Aussage des Kommissars bei der Frankfurter Bundeszentralbe-
hörde und preußischen Regierungsrats Ludwig Emil Mathis hin: Der Hessische Landbote habe »Aufruhr in einer Weise gepredigt, als ob er ein heiliges Werk sey.« (Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge [s. Anm. 14], S. 374). In rhetorischen Termini gesprochen: Die Obrigkeit hat die Verwendung der Bibel als topische wie sprachliche Quelle als Verstoß gegen die ›Angemessenheit‹, das rhetorische Generalprinzip des aptum, empfunden. Zu ähnlich ablehnenden Reaktionen in liberalen Kreisen vgl. die Dokumente bei Mayer: Verbreitung (s. Anm. 8), S. 104f. 65 Überliefert im Bericht über die Darmstädter Sektion der »Gesellschaft der Menschenrechte«, HLSt, S. 125. 66 Vgl. die Analyse der Zitate und Allusionen bei Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge (s. Anm. 14), S. 288ff., zur Adressatenspezifik ebd., S. 265ff. und vor allem Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 13), insgesamt S. 192ff., zum Einfluss von Lamennais ebd., S. 199ff.; vgl. daneben Schaub: Die schriftstellerischen Anfänge, S. 654f. Die Stellen sind im einzelnen nachgewiesen im Kommentar der HLSt. – Zur Bibelrhetorik insgesamt Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000. 67 HLSt, S. 34.
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sein. Die religiöse Lebenswelt der Bauern und die, wenn man so will, revolutionäre Eschatologie werden parallel geführt. Die Bauern sind Werkzeuge Gottes in dem Prozess der Heilsgeschichte, sie werden aufgefordert, sich am ohnehin Unumgänglichen zu beteiligen, weil der Umsturz prinzipiell und zwingend ist: Implizit wird dabei auf das Motto der Offenbarung angespielt: »Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.« (Offb. 1,3.) Das theologische Deutungsmuster der Apokalypse soll eine innerweltlich-politische Tat legitimieren, die als ohnehin unumgängliches heilsgeschichtliches Faktum dargestellt wird.68 Zugleich wird dadurch, nach den negativen Emotionen des ersten Teils, positiv Hoffnung auf Besserung eröffnet, eine Besserung allerdings, die nicht durch Reformen, sondern nur durch revolutionäre Reinigung stattfinden kann: »Aber wie der Prophet [Hesekiel] schreibet, so wird es bald stehen in Deutschland: der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfelde wird sichs regen und wird rauschen und der Neubelebten wird ein großes Heer sein.«69
7. Schluss Die Büchner-Forschung hat sich mit dem rhetorischen Argumentationsverfahren des Hessischen Landboten schwer getan. Volker Klotz spricht von dem »doppelten Antrieb«, den das Volk gewinnen soll: »soziale[] Not« und das »Geheiß Gottes«,70 ohne aber beide Argumentationen näher aufeinander zu beziehen. Für Ariane Martin zielt die Statistik auf die »materiellen Interessen der Adressaten«, während die »bibelsprachliche Vermittlung für die emotionale Verankerung der Information zuständig«71 sei: Der Text zerfällt hier in zwei Teile. Gerhard Schaub versteht die Bibelstellen nur als »rhetorische[] Gegensteuerung« gegen das Zahlenmaterial, »bei dem die Gefahr bestand, daß es von den angesprochenen Bauern als zu wissenschaftlich-rational und ungewohnt empfunden ––––––––– 68 Zum Deutungsmuster der Apokalypse vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutsch-
land. München 1988.
69 HLSt, S. 34. 70 Klotz (s. Anm. 12), S. 403. 71 Martin (s. Anm. 19), S. 133.
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wurde«.72 Michael Hofmann schließlich sieht in dem »apokalyptischen Endkampf[]« der Schlusspassage sogar einen »nicht zu verkennenden Widerspruch zu den nüchternen, auf die finanziellen Details der Ausbeutung bezogenen Argumenten der Flugschrift«. Er erklärt sie »eindeutig« durch die »Differenz zwischen den Denk- und Argumentationsweisen der beiden Autoren«.73 Literaturwissenschaftler kommen offensichtlich mit Texten, die – wie Martin explizit erwähnt – nicht der Gattungstrias entstammen oder – so Hofmann – »sich bewusst den Normen eines autonomen sprachlichen Kunstwerks«74 entziehen, nicht gut zurecht. Was allen diesen Analysen fehlt, ist ein Konzept rhetorischer Textanalyse, das nicht auf Figurenund Tropenanalyse – wie die in den 1970er und 80er Jahren weit verbreiteten Werke von Heinrich F. Plett, die auch Schaub verwendet – eingeschränkt ist.75 Die Entwicklung eines solchen Modells ist eine dringliche Aufgabe der Rhetorikforschung. Ich hatte meiner Argumentation ein vierstufiges Modell zugrundegelegt, das (1) von der rhetorischen Situation mit ihren drei Konstituenten (Notlage, Publikum, Bedingungen) ausgeht. Daraus leitet sich die Wahl von Medium und Gattung ab.76 Auf Grundlage einer Situations-Analyse formuliert der Redner (2) eine erfolgversprechende rhetorische Strategie, welche Ziele, Mittel und zu überwindenden Widerstand einbezieht. Zentrale Aufgabe jeder Analyse ist die Rekonstruktion dieser Strategie auf Grundlage der Analyse von Text und (historischem, biografischen) Kontext. Der Text der Rede selbst lässt sich (3) vor dem Hintergrund der Redegattung analysieren. Eine scharfe Trennung der Analyseschritte in inventio, dispositio und elocutio ist dabei künstlich und führt oft zur Entfunktionalisierung sprachlicher Strukturen als bloßem ›Schmuck‹. Für meine Analyse war leitend, dass im genus deliberativum die partes orationis-Struktur der Gerichtsrede nicht zwingend ist: Die dispositio folgt dem Grundsatz der utilitas und nicht normativen Schemata. Der Text lässt sich in argumentative Einheiten unterteilen, ––––––––– Schaub: Statistik und Agitation (s. Anm. 45), S. 374. Hofmann (s. Anm. 11), S. 15. Ebd. Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. Hamburg 1971; ders.: Textwissenschaft und Textanalyse. Semiotik, Linguistik, Rhetorik. Heidelberg 1975; vgl. auch Dieter Breuer: Einführung in die pragmatische Texttheorie. München 1974. 76 Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen bei Breuer (s. Anm. 75), S. 217. 72 73 74 75
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wobei durch Rückgriff auf die beiden Inventionsquellen Statistik und Bibel eine inhaltliche Opposition gebildet wird, die unter Bezug auf die Strategie zu klären ist. Damit ist (4) zu beurteilen, ob die Rede im Zusammenwirken der einzelnen Teile auf unterschiedlichen Ebenen als Realisierung der Strategie auch ›gelungen‹ ist. Ich hatte das bejaht, während der überwiegende Teil der Büchner-Forschung ratlos ist. Im Statistik-Teil des Hessischen Landboten wird durch Affekterregung eine Argumentation vorbereitet, die zum eigentlichen Ziel der Flugschrift hinführt: der Aufruf zum Umsturz, legitimiert durch die theologische Argumentationsfigur einer unumgänglichen innerweltlichen Apokalypse. Der Text verfolgt damit eine klar erkennbare Strategie – mit der Pointe allerdings, dass genau jene theologisch argumentierenden Teile, die Wiedig in seiner Schlussredaktion vermutlich hinzugefügt hat, die Wirksamkeit der Flugschrift erst begründen.
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Ein Programmzettel zum Theater der Mächtigen Zur Kritik an herrschaftstragenden Inszenierungen im Hessischen Landboten Von Joachim Franz (Mannheim)
1. Die Wirkungsstrategie des Hessischen Landboten – nicht nur »zwei Hebel« »Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s. Jede Parthei, welche dieße Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein K r e u z oder sonst so was. Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten R e c h t s grundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im V o l k suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.« (Briefwechsel, S. 103.)
Diese oft zitierten Worte finden sich in Büchners letztem Brief an Karl Gutzkow vom Juni 1836. Obwohl zwischen der Abfassung des Hessischen Landboten im Jahr 1834 und der zitierten Äußerung mehr als zwei Jahre liegen, wird die Briefstelle häufig auf die zentralen Strategien der Flugschrift bezogen.1 Für Gerhard P. Knapp etwa bestehen diese »im zweifachen ›Hebel‹ der statistisch nachgewiesenen, gewaltsamen fiskalischen Ausbeutung der Landbevölkerung und in dem im Eingangssatz [...] konjunktivisch ins Bild gebrachten ›idealen‹ Bezugsrahmen biblischer Autorität«.2 Indem man die appellative Gestalt des Landboten in dem Ansetzen ––––––––– 1 Die Kontinuität von Büchners Denken in diesem Punkt ist freilich durch die Verhöraussagen seiner Mitstreiter beim Landboten-Projekt und in der Gesellschaft für Menschenrechte hinreichend gesichert, insbesondere durch die Aussage von Adam Koch, Büchner sei der Ansicht gewesen, »das materielle Elend des Volkes sey es, wo man den revolutionären Hebel der geheimen Presse ansetzen müsse; die aus ihr hervorgegangenen Flugschriften müßten ihre Überzeugungsgründe aus der Religion des Volks hernehmen, in den einfachen Bildern und Wendungen des neuen Testaments müsse man die heiligen Rechte der Menschen erklären« (zit. n. P II, S. 688f.). 2 Knapp, S. 77. Vgl. auch Volker Klotz: Agitationsvorgang und Wirkprozedur in Büchners »Hessischem Landboten«. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wil-
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dieses zweifachen Hebels beschreibt, kann man durchaus vieles von seiner besonderen Eindringlichkeit erfassen. In der intensiven Verflechtung der beiden persuasiven Methoden – die Statistik in der einen und die Bibel in der anderen Hand – liegt ohne Zweifel ein wesentlicher Grund, warum Friedrich Ludwig Weidig dem Textentwurf Büchners nach der bekannten Verhöraussage August Beckers »einen gewissen Grad von Beifall nicht versagen« konnte und schnell zur Einsicht kam, »sie müsse vortreffliche Dienste thun, wenn sie verändert werde«.3 Betrachtet man den Text des Hessischen Landboten allerdings ausschließlich aus einem solchen, gewissermaßen ›binär‹ vorgeformten Blickwinkel, entgeht ein Aspekt der Aufmerksamkeit, der eine Reihe von Passagen der Flugschrift prägt und ebenfalls nicht unerheblich zu ihrem speziellen Wirkcharakter beiträgt. Dieser Aspekt verknüpft die Flugschrift eng mit dem weiteren Werk Büchners, denn er entspricht einem für den Autor ganz typischen Erkenntnis- und Aufklärungsinteresse. Prägnant zusammengefasst hat Büchner diese Thematik in einem zwischen Anrede und Datum gekritzelten Zusatz4 zu einem Brief an seinen Straßburger Freund August Stoeber vom 9. Dezember 1833: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.« (Briefwechsel, S. 33.)
2. Der Hessische Landbote als ›Programmzettel‹ Der vorliegende Beitrag wird sich bei der Lektüre des Hessischen Landboten somit auf die Elemente der Flugschrift konzentrieren, die sich ausdrücklich gegen die Inszenierungspraktiken der Herrschenden richten, mit deren Hilfe sie ihre Macht stabilisieren, und die einen theaterhaften Zug der Gesellschaft thematisieren, der fatalerweise von den Teilen der Bevölkerung mitbefördert wird, deren Benachteiligung er zementiert. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Büchner die Flugschrift immer wieder zum ›Theater-‹ oder ›Programmzettel‹ umfunktioniert, der einen Kommentar –––––––––
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helm Emrich. Hrsg. v. Helmut Arntzen, Bernd Balzer u. a. Berlin, New York 1975, S. 388–405, hier v. a. S. 405. Zit. n. P II, S. 662. Vgl. das Faksimile des Briefes in Briefwechsel, S. 142f.
zum alltäglichen Theater (nicht nur) der Mächtigen liefert und auf diese Weise dazu beiträgt, dass es sich selbst unweigerlich als »Affenkomödie« entlarvt. Richtet man den Fokus auf diese Thematik und ihre Ausgestaltung, lässt sich der innovative Beitrag genauer bestimmen, den Büchner über seine virtuose Handhabung des in der Flugschriftenliteratur der Zeit durchaus geläufigen5 ›Doppelhebels‹ von Statistik und Religion hinaus der revolutionären Propaganda der Zeit hinzufügt. Und es lässt sich zeigen, dass, obwohl unzweifelhaft einiges von Büchners ›Theaterkritik‹ den strategischen Streichungen Weidigs zum Opfer gefallen sein muss, offensichtlich gerade auch dieser Ansatz, die Leser der Flugschrift anhand plastisch vor Augen geführter Schauspiele über ihre Verstrickung in ein Geflecht aus Inszenierungen aufzuklären, den »Beifall« des erfahrenen Oppositionellen gefunden haben muss.6
2.1 Das Militär: Trommeln und bunte Röcke Der Absatz des Hessischen Landboten, der die skizzierte Stoßrichtung vielleicht am deutlichsten vertritt, ist derjenige zum Militär des Großherzogtums. Nachdem der Leser erfahren hat, dass er zusammen mit den anderen abgabenpflichtigen Untertanen zur Unterhaltung des Heeres gute 900.000 Gulden bezahlt, werden Aufgabe und Funktion der Soldaten folgendermaßen beschrieben: »Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen, und erzählen, wie die Herren vom Hof, und die ungerathenen Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen, und mit ihnen in den breiten Straßen der Städte herumziehen mit Trommlen und Trompeten. Für jene 900,000 Gulden müssen eure Söhne den Tyrannen schwören und Wache halten an ihren Palästen. Mit ihren Trommeln übertäuben sie eure Seufzer, mit ihren Kolben zerschmettern sie euch den Schädel, wenn ihr zu denken wagt, daß ihr freie Menschen seyd. Sie sind die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen, denkt an Södel! Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und Vatermörder.« (HLSt, S. 14.) ––––––––– 5 Vgl. Hauschild 1993, S. 287–295, sowie Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996, S. 76– 104 (im Folgenden zitiert als HLSt). 6 Vgl. unten Kap. 2.4.
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Der Abschnitt endet blutig – mit zerschmetterten Schädeln und einem Hinweis auf das sogenannte »Blutbad von Södel«. In dieser oberhessischen Ortschaft hatten großherzoglich-hessische Soldaten im Herbst des Jahres 1830 in einer aus dem Ruder gelaufenen Aktion mehrere Unbeteiligte schwer, einige davon tödlich, verletzt.7 Von seinem Ende her betrachtet scheint der Abschnitt somit das Bild einer gewalttätigen Soldateska zu zeichnen, die von dem großherzoglichen Tyrannen genutzt wird, das eigene Volk mit roher, nötigenfalls blutiger Gewalt niederzuhalten. Doch bevor es zum Bruder- und Vatermord kommt, führt der Text andere Aspekte des Militärs vor Augen: den schmucken bunten Rock, mit dem die Soldaten ausstaffiert werden, den aufregenden Trubel des alljährlichen Manövers, das Paradieren durch breite Prachtstraßen. Das markanteste Attribut dieser Soldaten, das gleich dreimal Erwähnung findet, ist nicht das Gewehr, sondern die Trommel. Und selbst das Schießen ist zunächst alles andere als ernste Berufsausübung, sondern vielmehr eine Attraktion, die die Rekruten bei ihrer Übung einmal erleben »dürfen«. Im Anschluss haben sie daheim dann etwas zu »erzählen«, nämlich von einer ausgesprochen festlichen Veranstaltung mit Gewehrsalven, lautstarker Trompetenmusik und bunten Uniformröcken. Und das alles unter den anerkennenden Blicken der Zuschauer und auf den schönsten Straßen und Plätzen im Land, die sicher in starkem Kontrast stehen zu den Gassen in den ländlichen Heimatorten der Soldaten. Wie es klingt, wenn einer voller Stolz von seiner Rolle bei den Spektakeln des Militärs berichtet, dafür hat Büchner im Woyzeck in den Reden des Tambourmajors ein anschauliches Beispiel geliefert: »Wenn ich am Sonntag erst den großen Federbusch hab’ und die weißen Handschuh, Donnerwetter, Marie, der Prinz sagt immer: Mensch, er ist ein Kerl.« (H4,6; MBA 7.2, S. 26.)
Es fällt insofern nicht schwer sich vorzustellen, dass die mitreißenden Trommeln die Seufzer der verarmten Bevölkerung tatsächlich betäuben können. Das gilt zunächst für diejenigen, die an solchen Spektakeln als Mitwirkende oder Zuschauer teilhaben und darüber ihren mühseligen und glanzlosen Alltag vergessen. Aber auch auf die daheim Gebliebenen, ––––––––– 7 Vgl. zu den Ereignissen während der Revolte 1830 und zu den Vorfällen in Södel die in P II, S. 627–638, abgedruckten zeitgenössischen Zeitungsberichte sowie Hauschild 1993, S. 43–47.
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die immerhin noch die spannenden Erzählungen von den Auftritten des großherzoglichen Heeres geliefert bekommen, dürften die Demonstrationen fürstlicher Machtentfaltung ihre Wirkung nicht verfehlen. Der kurze Abschnitt im Hessischen Landboten legt somit eine zentrale Funktion des auch von den kleinsten Duodezfürsten so aufwändig gepflegten Militärs offen: nämlich die, glanzvolle Inszenierungen zu liefern, deren Aufgabe es ist, das staunende Volk zu beeindrucken. Soldaten sind eben »schmucke Bursch« (Woyzeck, H2,2; MBA 7.2, S. 13). Als öffentlichkeitswirksamer und in seiner Reichweite beachtenswerter Teil der Selbstdarstellung der Herrschaft trägt das Heerwesen so mehr zur Stabilisierung der Verhältnisse bei als durch die vergleichsweise wenigen Akte repressiver Gewalt gegen Aufrührer. Die Schädel-zertrümmernden Kolbenschläge am Ende der Passage sind in dieser Hinsicht nur eine besonders drastische (und selten benötigte) Fortsetzung der Trommelschläge und zugleich ein eindringliches Bild für ihre durchschlagende Wirkung: Die Trommeln und die weiteren mit dem Auftreten des Militärs verbundenen inszenatorischen Maßnahmen reichen in der Regel völlig aus, die freiheitlichen Gedanken aus den Köpfen fernzuhalten. Zu diesem Zweck ist es nur in den seltensten Fällen nötig, die betreffenden Köpfe tatsächlich einzuschlagen. An dieser Stelle kann die Untersuchung des Hessischen Landboten aus dem Blickwinkel einer Kritik an kollektiv wirksamen Inszenierungen auch einen kleinen Hinweis zur Frage der Textverteilung liefern. Das Bild, das hier von dem Heer des Großherzogtums gezeichnet wird, ist mit der Parallelisierung von Trommel- und Kolbenschlägen gegen demokratische Gedanken zu einem wirkungsvollen Abschluss gelangt. Der daran anschließende Satz, der »die gesetzlichen Mörder« und »die gesetzlichen Räuber« betrifft, verbindet diese Ausführungen mit dem Diskurs über den »Kausalzusammenhang von Gesetz und Gewalt« und »die Legalität brutaler Ausbeutung im Rahmen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse«,8 der ebenfalls als typisch für Büchners Anteile am Text gelten darf. Die weiteren Zusätze sind dagegen am wahrscheinlichsten als Hinzufügungen Weidigs zu betrachten. Das gilt für die Mahnung »denkt an Södel!«, die ohnehin mit guten Gründen9 meist Weidig zugeordnet ––––––––– 8 Knapp, S. 83. 9 Weidig befand sich während der blutigen Ausschreitungen des Militärs in Södel am 1. Oktober 1830 zumindest in nächster Nähe – die beteiligten Dragoner waren zuvor
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wird,10 ebenso wie für das abschließende »Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und Vatermörder!«. Dieser Ausruf ist umso mehr Weidig zuzuschreiben, als sich die pathetische Beschwörung des Ur-Verbrechens gegen heilige Familienbande weder an die Beschreibung der militärischen Aktivitäten als inszenierte Schauspiele noch an den unpersönliche, strukturelle Gewalt thematisierenden Gesetzesdiskurs anschließen lässt. Büchners Beschreibung der großherzoglich-hessischen Armee weist den militärischen Manövern und Paraden somit eine ganz ähnliche Funktion im Herrschaftssystem eines deutschen Vormärz-Fürsten zu, wie sie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung für die »Kulturindustrie« des 20. Jahrhunderts bestimmen. Diese Funktion erschöpft sich nicht allein darin, die »Apologie der Gesellschaft« an den Mann und die Frau zu bringen, indem man vergnügte Zuschauer und auf diese Weise »Einverstandensein« mit den sozialen Zuständen produziert.11 Das Entscheidende dieser Form von öffentlichen Spektakeln liegt darin, dass sie in einem genau vorgegebenen Rahmen die Mitwirkung von Vertretern des einfachen Volkes vorsehen. Zugeteilt werden ihnen in den herrschaftlichen Schauspielen genau diejenigen Statisten-Rollen, die ihnen auch im sozialen Alltag zukommen. Analog der Diagnose Horkheimers und Adornos, dass beim Konsum der kulturindustriell zugerichteten »Amüsierwaren« dem »Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro [...] nur in der Angleichung an ihn in der Muße« auszuweichen ist,12 gilt auch für die Adressaten des Hessischen Landboten, dass die Teilnahme an öffentlichen Masseninszenierungen und die damit verbundene ––––––––– in seinem Wohnort Butzbach stationiert gewesen –, musste sie möglicherweise sogar »miterleben« (vgl. Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. HansJoachim Müller. Darmstadt 1987, S. 13 u. S. 579–591). Die Ereignisse beschäftigten ihn so sehr, dass er im folgenden Jahr ein Teutsches Gesangbuch »zum Beßten der am 1ten October 1830 unglücklich gewordenen Familien in Wölfersheim und Södel« (ebd., S. 20) herausgab. 10 Vgl. etwa die der Ausgabe von Fritz Bergemann folgende Kursivsetzung des Textes in Georg Büchner, Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte Briefe, Prozeßakten. Kommentiert von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1974, S. 9. Dort wird allerdings auch der Vordersatz über »die gesetzlichen Mörder« Weidig zugeschrieben. 11 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2003, S. 166f. 12 Ebd., S. 159.
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Zerstreuung nur um den Preis der abermaligen, symbolisch verdoppelten Einordnung in die gesellschaftliche Hierarchie zu haben sind. Dass im Rahmen der Paraden und Manöver »die Herren vom Hof, und die ungeratenen Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen« (HLSt, S. 14), ist eine ausgezeichnete Übung für den alltäglichen Umgang der Bevölkerungsschichten miteinander. Im Kontext einer stramm durchinszenierten Veranstaltung kann dieses problematische Missverhältnis sogar als ganz natürlich erscheinen. Die Mitwirkenden, die das paradierende Fußvolk der Umzüge bilden, nehmen ihre Rolle darin als naturgegeben wahr und sind noch stolz, überhaupt mittun zu dürfen. Stolz darauf, nicht nur – sozusagen als Bühnenarbeiter – den in Büchners Brief erwähnten Thespis-Karren für die »Affenkomödie« der berufenen Darsteller aus den höheren Schichten ziehen zu dürfen, sondern auch einmal eine kleine Nebenrolle abzubekommen. Und indem sie daheim begeistert von ihren Erlebnissen erzählen, vervielfältigen sie diese Haltung noch und tragen sie in ihren Alltag. Dass die Rangfolge bei den Militärparaden, die sich nicht zuletzt an der Pracht der jeweiligen Uniform ablesen lässt, wie etwa am Federbusch des Tambourmajors, ebenso wie die soziale Hierarchie der gesamten Gemeinschaft ein fait social ist, das sich auch anders einrichten, zumindest aber doch anders denken ließe, dass diese Ordnung keine naturnotwendige ist, dieser Gedanke hat es in den Köpfen der Adressaten des Hessischen Landboten sicher nicht nur, aber eben auch wegen der überzeugenden und attraktiven herrschaftlichen Inszenierungen schwer.
2.2 Höfische Prachtentfaltung in Festen und im fürstlichen Alltag als herrschaftstragende Inszenierung Zu den Inszenierungen, die die Verhältnisse stabilisieren, gehört auch der Teil des Lebens von Fürstenfamilie und Hofstaat, der sich in der Öffentlichkeit abspielt oder bewusst öffentlich gemacht wird. »Geht einmal nach Darmstadt«, fordert Der Hessische Landbote seine Leser auf, »und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sey, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind; und dann kriecht in eure rau-
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chigen Hütten und bückt euch auf euren steinichten Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rat schaffen will, und durch die geöffneten Glasthüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminirt.« (HLSt, S. 18 u. 20.)
Das Leben der Fürstenfamilie und der Privilegierten im Umfeld des Hofes wird hier erneut, wie ganz zu Beginn der Flugschrift, als »langer Sonntag« (HLSt, S. 6) geschildert. Es zeichnet sich durch eine Reihe von unübersehbaren äußeren Merkmalen ab, die es vom Alltag der Bevölkerungsmehrheit absetzen. Dazu zählen die dicken Bäuche und feisten Gesichter, die stattlichen Häuser, die schönen Kleider mit ihren zierlichen Bändern und – darauf wird in der Passage am Anfang des Hessischen Landboten verwiesen – die »eigne Sprache« (HLSt, S. 8). Der Autor der Flugschrift unternimmt es nun, Schritt für Schritt den in Darmstadt zu beobachtenden Luxus als Produkt der Ausbeutung der Landbevölkerung vorzuführen, die in diesem Prozess als bloßes Material für die Herstellung von Luxusgütern erscheint. Der frappierendste Effekt gelingt dabei allein schon durch die unmittelbare Gegenüberstellung der Lebensverhältnisse der armen Landbevölkerung mit denen der privilegierten Oberschicht, »in der abrupten Umblende von der parasitären Existenz der Müßiggänger zum unwürdigen Dasein und der Sklavenarbeit der Bauern«.13 Die engen Hütten, in die ihre Bewohner – folgt man dem Wortlaut des Landboten – mühsam kriechen müssen, und die steinigen Felder, die nur unter größten Mühen den Lebensunterhalt für die Bauernfamilien herausgeben, müssen vor dem Hintergrund der höfischen Verschwendungssucht auch dann als unerträglicher Skandal erscheinen, wenn man von dem kausalen Zusammenhang zwischen beiden absieht. Hier muss man sich aber eines deutlich vor Augen halten: Was Der Hessische Landbote in der oben zitierten Passage und an vielen weiteren Stellen mit Verve vor Augen führt, dieses immense Gefälle der Lebensumstände, ist keineswegs ein Geheimnis. Wo die Flugschrift fiskalische Daten nennt, die zwar prinzipiell in veröffentlichten Statistiken zugänglich sind, aber kaum jemals auf anderem Wege in die Aufmerksamkeit der illiteraten Adressaten gelangen könnten,14 oder wo sie der sozialen ––––––––– 13 Knapp, S. 80. 14 Vgl. Klotz (s. Anm. 2), S. 398f.
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Realität Bibelzitate entgegenhält, die in den Sonntagspredigten der obrigkeitstreuen Pfarrer eher verschwiegen oder umgehend in unbedenkliche Auslegungen verpackt werden,15 da vermag sie tatsächlich Neues, Unerhörtes unter das Volk zu bringen. In den Schilderungen des ›langen Sonntags‹ der Privilegierten aber benennt sie im Grunde nur Dinge, die die Untertanen im Großherzogtum zwar aufgrund ihrer Arbeitsbelastung vielleicht nicht alltäglich, aber doch oft genug mit eigenen Augen sehen können. Der verschwenderische Lebensstil des Fürstenhauses und seines Umfelds wird offen zur Schau getragen und zeigt sich so als elementarer Teil der Selbstdarstellung der Mächtigen. Nicht zufällig endet die Beschreibung des opulenten Lebens in der Residenzstadt damit, dass eine ganz besonders auf Außendarstellung abgestellte Situation evoziert wird: die öffentlich zelebrierte Hochzeit eines Erbprinzen mit einer Erbprinzessin. Zu solchen Anlässen sind die Untertanen offiziell eingeladen, tatsächlich einmal nach Darmstadt zu gehen – oder zumindest zum Festumzug des Hochzeitspaares durch das Land – und der Hofgesellschaft »durch die geöffneten Glasthüren« beim Feiern zuzuschauen. Eine wohl überlegte Inszenierung solcher Staatsfeierlichkeiten wird die Untertanen freilich, ganz wie bei den Aktivitäten des Heeres, nicht nur als Zuschauer einplanen: Bei den Zeremonien anlässlich der Hochzeit des großherzoglichhessischen Erbprinzen Ludwig mit Prinzessin Mathilde von Bayern, die Büchner im Januar 1834 aus nächster Nähe miterleben konnte, wurden die in der Hauptstadt verfügbaren Untertanen mit Schärpen und Fähnchen in den Farben des Landeswappens ausgestattet und als Ehrenspalier für das Paar aufgestellt.16 Über die Verwendung als lebendes Bühnenbild und Statisterie hinaus kamen einige Untertanen sogar in den Genuss größerer Gnaden als nur der, »durch die geöffneten Glasthüren das Tischtuch [zu] sehen, wovon die Herren speisen, und die Lampen [oder ––––––––– 15 Anschauliche Beispiele für das Wirken der obrigkeitstreuen Geistlichkeit sowie für die gegenläufige Predigtpraxis Weidigs, die eben auch in der Auswahl sonst kaum thematisierter, subversiv auszudeutender Bibelstellen gründet, finden sich in Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298, hier v. a. S. 192–198. 16 Vgl. Chronik der Feierlichkeiten, welche auf Veranlassung der hohen Vermählung Seiner Hoheit des Erbgroßherzogs Ludwig von Hessen mit Ihrer Königl. Hoheit der Prinzessin Mathilde von Bayern in Bayern und Hessen Statt fanden. Darmstadt 1834 (zit. n. MBA 6, S. 401–424, hier S. 411).
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wahlweise – wie in Leonce und Lena – den Bratenduft] zu riechen«.17 So heißt es in der Chronik der Feierlichkeiten anlässlich dieser Hochzeit: »Ueber 100 Arme beiderlei Geschlechts, wozu man vorzugsweise die ältesten und würdigsten erwählt hatte, da der Raum nicht mehr fassen konnte, wurden in dem Saale des Rathhauses, der mit den Bildnissen des Durchlauchtigsten Erbgroßherzogl. Paares, mit Hessischen und Bayerischen Fahnen und Wappen und grünen Kränzen und Guirlanden decorirt war, auf Kosten der Stadt festlich bewirthet.«18
Auch hier gilt es festzuhalten: Ein solcher Text, der aus der Rückschau bereits für sich genommen den ganzen Zynismus des zu Grunde liegenden Staats- und Gesellschaftsgefüges bloßzustellen scheint, wurde mit der Unterstützung des Fürstenhauses veröffentlicht.19 Daran wird deutlich: Wird das Volk geschickt in staatstragende Feierlichkeiten wie beispielsweise die Hochzeit des Thronfolgers eingebunden, ist die erfolgreiche Verwirklichung der obrigkeitlichen Anordnung aus Leonce und Lena: »Alle Untertanen werden aufgefordert die Gefühle Ihrer Majestät zu theilen« (III/3, MBA 6, S. 121), weniger unwahrscheinlich, als es zunächst scheinen mag. Neben den eindrucksvollen, jedoch eher seltenen Massenveranstaltungen kommt aber auch der alltäglichen Selbstdarstellung der Mächtigen gegenüber den Benachteiligten eine mindestens ebenso große affirmative Wirkung zu. Die in Lebensgestaltung, Kleidung, Auftreten bis hin zur Sprache symbolisch nur allzu offensichtlich ausgestellten »feinen Unterschiede«,20 die die Oberschicht von der Bevölkerungsmehrheit abgrenzen, rufen nicht zwangsläufig Protest hervor. Oft bestärken sie vielmehr die Anerkennung der bestehenden Hierarchien. Der Dorfbewohner, der von einem seiner seltenen Gänge in die Residenzstadt nach Hause zurückkehrt und dort von dem Eindruck erzählt, den auf ihn die feinen Kleider und die stattlichen Häuser, die Menge schöner und reich gekleideter Menschen vor dem großherzoglichen Hoftheater oder die exakte Parade der fürstlichen Wachsoldaten vor dem Schloss gemacht haben, ist vermutlich nicht geneigt, all die gesehenen schönen Dinge gleich auf ihren Ausbeutungscharakter hin zu analysieren. Wenn er für sein ––––––––– 17 Vgl. HLSt, S. 20 u. Leonce und Lena III/2, MBA 6, S. 118. 18 Chronik der Feierlichkeiten (s. Anm. 16), S. 414. 19 Vgl. MBA 6, S. 403. 20 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 1997.
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weiteres Handeln einen Schluss aus dem Gesehenen zieht, muss das keineswegs der sein, auf die Abschaffung der strukturellen Ungerechtigkeiten zu dringen, die den einen auf Kosten anderer ein Leben im Luxus ermöglichen. Der Schluss kann auch darin bestehen, alles daran zu setzen, dass es die eigenen Kinder auch einmal zumindest in die Peripherie dieser schönen Gesellschaft schaffen, etwa als Soldat oder als Frau eines kleinen Darmstädter Bürgers. Auf diese Weise bleiben der Respekt und die Bewunderung, die die glanzvolle Selbstinszenierung der Mächtigen hervorruft, nicht unbedingt ein flüchtiger Eindruck. In vielen Fällen werden die Lehren daraus als selbstverständlich in die eigene Lebensgestaltung übernommen und bringen Mitwirkung in einem System hervor, das letztlich nur zum eigenen Schaden ausschlägt. Noch die vollkommen entkräfteten Bauern, die in Leonce und Lena am Wegesrand auf das vorbeifahrende Prinzenpaar warten müssen, wollen nach Beendigung ihres wenig attraktiven Einsatzes als Jubelvolk nicht einfach, wie man erwarten könnte, müde und frustriert nach Hause gehen. Sie werden stattdessen den offensichtlich auch von ihnen als besonders empfundenen Tag durch einen »transparenten Ball mittelst der Löcher in unseren Jacken und Hosen« (III/2, MBA 6, S. 119) im Wirtshaus in einer eigenen Feier ausklingen lassen. Wer sich so verhält, wird kaum in absehbarer Zeit zum Sturz der Monarchie blasen. Für eine Flugschrift wie den Hessischen Landboten ergibt sich aus diesen Beobachtungen die Forderung, die Selbstdarstellung der Herrschenden aus dem vermeintlich rechten Licht in ein anderes zu rücken. Die Misstöne müssen laut werden, die diese Art von Schauspiel eigentlich ganz von selbst produziert, wenn man es nur vor dem dazugehörigen Hintergrund betrachtet, nämlich vor dem der elenden Lebensverhältnisse der großen Bevölkerungsmehrheit. Es gilt also, die Geschlossenheit der Inszenierung der Macht durch desillusionierende Elemente zu stören. Die benachteiligten Beobachter dieser Aufführungen sollen daheim »ihren hungernden Weibern und Kindern« durchaus von ihnen erzählen. Der Hessische Landbote fordert sie ausdrücklich dazu auf. Aber eben nicht von dem überwältigenden Glanz der Inszenierung, sondern von den Diskrepanzen zum eigenen Leben. Diesem Ziel dient das Vorführen von Elementen der staatlich-herrschaftlichen Selbstinszenierung, die allein schon dadurch, dass sie noch einmal in einem ganz anderen Kontext gezeigt werden, ihre Wirkung einbüßen, albern und lächerlich und eben als 35
inhaltsleeres Theater erscheinen. Das gilt für das stolz umher paradierende Militär ebenso wie für den Prunk der Hofgesellschaft.
2.3 Der symbolische Monarch Die im Hessischen Landboten thematisierten Kollektivinszenierungen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt haben, wie es einer Monarchie gemäß ist, ihr Zentrum in der Institution des von Gottes Gnaden herrschenden Fürsten. Mit diesem Zentrum aller symbolischen Machtdarstellung setzt sich die Flugschrift folgendermaßen auseinander: »Die Anstalten, die Leute, von denen ich bis jetzt gesprochen, sind nur Werkzeuge, sind nur Diener. Sie thun nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem Amt, steht ein L. das bedeutet L u d w i g von Gottes Gnaden und sie sprechen mit Ehrfurcht: ›im Namen des Großherzogs.‹ Dies ist ihr Feldgeschrei, wenn sie euer Geräth versteigern, euer Vieh wegtreiben, euch in den Kerker werfen. Im Namen des Großherzogs sagen sie, und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverain, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel.« (HLSt, S. 16 u. 18.)
Büchner geht es hier ganz offensichtlich nicht um die Person des seinerzeit regierenden Großherzogs Ludwig II., sondern vielmehr um die Insignien und Machtsymbole, die den Herrscher umgeben und die allein ihn aus der Masse der übrigen Menschen herausheben. Zu diesen Symbolen zählt etwa das »L.« unter den offiziellen Dokumenten, das als fein geschwungenes Fürstenmonogramm auch im öffentlichen Raum an Gebäuden und Denkmälern weitreichende Präsenz entfaltet. Es zählen dazu überhaupt der Name des Großherzogs und die stehende Formel »im Namen des Großherzogs« sowie die Titelbestandteile und Rechtsattribute »von Gottes Gnaden«, »unverletzlich, heilig, souverain« und »königliche Hoheit«, die ebenfalls in der öffentlichen Repräsentation des Fürstenhauses, etwa in Inschriften und Proklamationen, eine gewichtige Rolle spielen. Diese überwiegend sprachlichen Elemente fürstlicher Machtdarstellung sind in der Realität des Jahres 1834 durchaus in der Lage, den Bauern ihr Vieh zu nehmen oder sie einkerkern zu lassen. Sie sind, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, »Zeichen der Autorität, denen geglaubt und
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gehorcht werden soll«21 und mit denen durch Anwendung einer »performativen Magie«22 tatsächlich Handlungen vollzogen werden können – etwa wenn sie in fürstlichen Erlassen auftauchen oder bei Verhaftungen und Beschlagnahmen ausgesprochen werden. Zugleich – und dies ins Bewusstsein zu rufen, ist hier Ziel der Aufklärungsstrategie des Hessischen Landboten – sind die aufgeführten sprachlichen Machtsymbole willkürlich einem Menschen beigelegte Attribute, deren greifbare Materialität nicht über den flüchtigen Klang der sprachlichen Äußerungen, über die fein geschwungenen Linien der niedergeschriebenen Texte oder über das Blattgold der Inschriften, in denen sie auftauchen, hinausgeht. Ihre ›magische‹ Wirkung beruht allein auf ihrer Anerkennung durch die Bevölkerung.23 Aus solchem eindrucksvollen, aber letztlich substanzlosen symbolischen Material wird gewissermaßen der Fürstenmantel gewoben, der die ganz gewöhnliche nackte Menschlichkeit seines Trägers vor den Blicken der Betrachter verbirgt. Der Mensch, der auf solche Weise durch »Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien« (Leonce und Lena, I/2, MBA 6, S. 102) zum legitimierten Herrscher wird, kann nun auch seinerseits äußerliche Abzeichen verteilen, die den Personen in seinem Umfeld einen besonderen Nimbus verleihen und so ihre Privilegien rechtfertigen: »Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber.« (HLSt, S. 18.)
Gleichsam wie von selbst bleiben »Orden und Bänder« und »kostbare [...] Gewänder [...]« an den Körpern der Höflinge hängen, sobald sie bei ihrem unmoralischen Treiben mit dem Fürstenmantel in Berührung kommen, und sorgen dafür, dass ihre ganz gewöhnliche – in dieser Passage eher tierische als menschliche – Kreatürlichkeit aus dem Blick gerät. Der ––––––––– 21 Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien 1990, S. 45. 22 Ebd., S. 72. 23 Vgl. ebd., S. 83: »Die symbolische Wirkung der Wörter kommt immer nur in dem Maße zustande, wie derjenige, der ihr unterliegt, denjenigen, der sie ausübt, als den zur Ausübung Berechtigten anerkennt beziehungsweise, was auf dasselbe hinausläuft, wie er sich selbst in der Unterwerfung als denjenigen vergißt und nicht wiedererkennt, der durch seine Anerkennung dazu beiträgt, dieser Wirkung eine Grundlage zu geben.«
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Fürstenmantel, der eben noch als Quintessenz des gesamten herrschaftlichen Symbolinventars den einfachen Menschen erst zum Fürsten gemacht hatte, ist dabei unversehens zum »Teppich« geworden, auf dem die Höflinge auch wieder ein Schauspiel aufführen – allerdings ein ausgesprochen unwürdiges. Am Schicksal des Fürstenmantels wird somit das ›theaterkritische‹ Verfahren des Hessischen Landboten im Kleinen deutlich: Die glanzvollen und respekteinflößenden Elemente der herrschaftlichen Selbstinszenierung werden vor Augen geführt, um sie im nächsten Moment durch die Konfrontation mit ihren Hintergründen, mit den »destruktiven Informationen«,24 die die Inszenierung überspielen soll, bloßzustellen und als erbärmliches Schmierentheater zu entlarven.25 Geht man wie Büchner davon aus, dass »es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen« (Briefwechsel, S. 35), wird unmittelbar einsichtig, warum die meisten Bewohner des Großherzogtums von allein kaum die Fähigkeit aufbringen, hinter den beinahe undurchdringlichen Wust von Herrschaftssymbolen und Machtinsignien zu sehen, der den Fürsten und sein Umfeld umgibt. All ihre Erfahrungen prädisponieren sie dazu, nur diese Insignien zu sehen und ihnen ebenso wie der Prachtentfaltung der Oberschicht und der mit Trommelmusik und Umzügen bezeugten Wichtigkeit des fürstlichen Heeres eine quasi-natürliche Selbstverständlichkeit zuzubilligen. Für den Gedanken, dass auch eine andere Einrichtung der Dinge möglich und besser als die angestammte sein könnte, müssen vor diesem Hintergrund erst einmal Freiräume in den Köpfen geschaffen werden. Gelingen kann dies nur durch die Entzauberung der für sich genommen durchaus überzeugenden Selbstdarstellung der Macht und ihrer Symbole.
––––––––– 24 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 8. Aufl. München, Zürich 2000, S. 129. 25 Vgl. auch Daniel Müller Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel. Überlegungen zu einer Rhetorik des Bildbruchs im »Hessischen Landboten«. In: Colloquia Germanica 27 (1994), S. 123–140. Dort wird ein analoges ›dekonstruktives‹ Verfahren auf der Ebene der im Hessischen Landboten verwendeten Bilder und Metaphern untersucht, das »in der Zerstörung zitierter Sinnbilder aus dem Diskursbereich herrschaftlicher Selbstaffirmation« (ebd., S. 124) besteht.
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2.4 Zum Anteil der Liberalen an der »Affenkomödie« »Unsere Landstände sind eine Satyre auf die gesunde Vernunft, wir können noch ein Säculum damit herumziehen, und wenn wir die Resultate dann zusammennehmen, so hat das Volk die schönen Reden seiner Vertreter noch immer theurer bezahlt, als der römische Kaiser, der seinem Hofpoeten für zwei gebrochene Verse 20,000 Gulden geben ließ.« (Briefwechsel, S. 20.)
Aus zahlreichen brieflich überlieferten Äußerungen sowie aus den Zeugenaussagen im Rahmen der behördlichen Untersuchungen des Landboten-Projekts ist hinlänglich bekannt, wie Büchner zu den Teilen der zeitgenössischen Opposition stand, die sich auf politisch-parlamentarischem Wege um gesellschaftliche Reformen bemühten. Die Rolle der Liberalen, ihr öffentliches Wirken und ihre »schönen Reden« versteht er als Teil der fatalen »Affenkomödie«, mit der die macht- und besitzlose Bevölkerungsmehrheit getäuscht wird. Ihre politische Tätigkeit passt ausgezeichnet in ein System, in dem sich die Machthaber nicht zuletzt durch glanzvolle öffentliche Auftritte und symbolisch und rhetorisch deutlich inszenierte Differenz zum Durchschnittsbürger legitimieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich mutmaßen, in welche Richtung die scharfe Kritik an der bürgerlich-liberalen Opposition, die Büchners ursprünglicher Flugschriftenentwurf enthalten haben muss,26 gezielt haben wird. Gerade in dem so offensichtlich von Weidig zusammengestrichenen27 Abschnitt über die Landstände des Großherzogtums dürfte Büchner ausgiebig auch auf die theaterhaften Züge eingegangen sein, die die Wahl, das regelmäßige Zusammenkommen und das öffentliche Wirken eines Parlaments und seiner Abgeordneten bei gleichzeitig praktisch nicht vorhandener realer Macht zwangsläufig annehmen. Nicht zuletzt die öffentlichen Zeremonien mit Festmählern, Nachtmusiken, Fackelzügen und der Überreichung zahlloser Urkunden, Gedenkmünzen, Ehrenbecher und sonstiger symbolträchtiger Geschenke, die das politisch interessierte hessische Bürgertum seinen liberalen Abgeordneten anlässlich der Auflösungen und Neuwahlen des großherzoglich-hessischen Landtags in den Jahren 1833 und 1834 entgegenbringt, könnten hier ein Ziel von Büchners Kritik gewesen sein. Ein Zitat aus der ersten Folge von ––––––––– 26 Vgl. die Aussage von August Becker, Weidig habe »das, was gegen die s. g. liberale Partei gesagt war, weggelassen und mit Anderem, was sich bloß auf die Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung bezieht, ersetzt« (zit. n. P II, S. 662). 27 Vgl. Mayer (s. Anm. 15), insbesondere S. 257–267.
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Weidigs Flugschriftenreihe Leuchter und Beleuchter für Hessen oder der Hessen Notwehr, in der derartige Ehrenbezeugungen umfassend als Ausdruck der wahren politischen Gesinnung des hessischen Volkes aufgelistet werden, lässt nämlich eines erkennen: Die oppositionellen Inszenierungen stehen denen der fürstlichen Machthaber von der Art der oben erörterten Prinzenhochzeit ausgesprochen nahe – einschließlich der wohlwollend-herablassenden Einbeziehung einzelner Angehöriger des einfachen Volkes: »Zu Ehren Bruncks wurde in dem größten Local des Wahlbezirks von und zu W ö l l s t e i n ein Mittagsmahl gegeben, wobei sich nebst den gewesenen Wahlmännern Staatsbürger jedes Standes einfanden. Eine große Anhänglichkeit an V e r f a s s u n g und G e s e t z gab sich dabei kund, wie es Toaste der einfachsten Landleute bewiesen. Dem Freiherrn v. Buseck wurde, nachdem er vom Bürgermeister K ü c h e l und einer Deputation von B u t z b a c h bewillkommnet worden war, von den jungen Bürgern dieser Stadt ein feierlicher Fackelzug gebracht. Die unter dem Rauschen der Musik und dem Klirren der Schwerter ausgebrachten Toaste galten dem V e r t r e t e r d e s B e z i r k s , dem G r o ß h e r z o g e , der a u f g e l ö s t e n W a h l k a m m e r , dem h e s s i s c h e n und d e u t s c h e n V a t e r l a n d e.«28
Büchner hat im Herbst 1833 in Gießen selbst ein solches Festbankett besucht. Sein Kommentar fällt erwartungsgemäß kritisch aus: »Einige loyale Toaste, bis man sich Courage getrunken, und dann das Polenlied, die Marseillaise gesungen und den in Friedberg Verhafteten ein Vivat gebracht! Die Leute gehen in’s Feuer, wenn’s von einer brennenden Punschbowle kommt!« (Briefwechsel, S. 31.)
Wie genau Büchner die Problematik solcher symbolischen Akte mit ihren Anlagen zu Täuschung und Selbsttäuschung eben auch dann erkannte, wenn es um das eigene politische Lager geht, belegen auch die Äußerungen in seinem Brief an die Familie von Anfang Dezember 1831. Dort kennzeichnet er den überschwänglichen Empfang, den Straßburger Studenten – unter ihnen Büchner selbst – Girolamo Ramorino, dem General der geschlagenen polnischen Armee in ihrem Aufstand gegen das zaristische Russland, bei seinem Einzug in die Stadt bereiten, als wohlfeile »Komödie« (Briefwechsel, S. 8). Die Mutmaßungen, was in Büchners Landboten-Entwurf zum Thema liberale Opposition und Landstände gestanden haben könnte, müssen aber vielleicht nicht völlig im Bereich des Spekulativen bleiben. Zumin––––––––– 28 Weidig (s. Anm. 9), S. 86.
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dest ein Zeugnis existiert, das davon einen etwas konkreteren Eindruck vermitteln könnte: »denn wenn Ihr Euch täuschen ließet, so würdet Ihr in Eurer Gesammtheit, als Volk, in Wahrheit einem, mit der Peitsche dressirten, Bären gleichen, auf dessen Rücken die Affen (d. h. die Volksvertreter, die nur der Regierung alles nachmachen und ihr alle Mienen, Sprünge und Tänze ablernen) hinaufklettern, um sich die fetten Pfründen, Ordensbänder, Titel und anderes aristokratisches Spielzeug auf Kosten des Bären von dem Christbaum der Staatsregierung herabzulangen!«29
Dieses Zitat findet sich ganz am Ende der fünften und letzten Ausgabe des Leuchter und Beleuchter für Hessen. Die Entstehungsgeschichte dieser Schrift, die sich mit der erneuten Auflösung des großherzoglich-hessischen Landtags am 24. Oktober 1834 auseinandersetzt, ist eng mit dem Zustandekommen der November-Fassung des Hessischen Landboten verknüpft.30 Es verwundert daher nicht, dass es zwischen dem Thema des fünften Leuchters und den Zusätzen, die Der Hessische Landbote in seiner zweiten Auflage erfährt, inhaltliche Überschneidungen gibt. Die hier zitierte Passage geht jedoch in eine ganz andere Richtung und sticht in Bildlichkeit und Stoßrichtung merklich sowohl vom Ton der fünften als auch der früheren Leuchter und Beleuchter-Ausgaben Weidigs ab.31 Die Art und Weise, wie hier das Treiben der Abgeordneten als billiges Jahrmarktsspektakel geschildert wird, das unter Einbeziehung eines dressierten Volkes zur Aufführung kommt, passt dagegen sehr gut zu den in diesem Beitrag behandelten Tendenzen des Hessischen Landboten. Und auch sprachlich und in der Wahl der Metaphern und Vergleiche zeigen sich nicht nur enge Berührungspunkte zu Büchners bereits mehrfach erwähnter Briefaussage vom Dezember 1833 – der Weg ist nicht weit von ––––––––– 29 Weidig (s. Anm. 9), S. 104. 30 Wie die November-Auflage des Hessischen Landboten entstand auch das fünfte Blatt des Leuchters und Beleuchters in Zusammenarbeit mit den kurhessischen Oppositionellen um Sylvester Jordan und Leopold Eichelberg. Anders als bei den vorherigen Leuchter-Ausgaben geht der Wortlaut der fünften Folge nicht allein auf Weidig zurück. Weidig griff auf einen vermutlich von Jordan verfassten Text zurück, den er überarbeitete (vgl. P II, S. 653f., S. 670 u. S. 852–859). 31 Thomas Michael Mayer (s. Anm. 15, S. 237) führt den Satz vom dressierten Bären als Beispiel für Weidigs oft unterschätzte stilistische Fähigkeiten auf. Dass Weidig zu originellen Wendungen in der Lage war, soll nicht in Frage gestellt werden. Allerdings wird bereits beim Vergleich mit den beiden weiteren Beispielen Mayers deutlich, dass Stil und Herkunftsbereich der Bilder und Metaphern bei Weidig üblicherweise andere sind.
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einem Volk, das bereitwillig den Bühnenkarren für die »Affenkomödie« schleppt, zu einem, das als abgerichteter Tanzbär diese direkt auf seinem Rücken über sich ergehen lässt –, sondern auch zu weiteren Stellen in Büchners Werk. Von diesen soll hier nur kurz auf zwei verwiesen werden. So heißt es in dem Brief vom April 1833, der sich mit den Landständen befasst und aus dem oben bereits zitiert wurde: »Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen, wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um dem ewigen Maulaffen V o l k seine zu eng geschnürte Wickelschnur vergessen zu machen. Es ist eine blecherne Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur ein Teutscher die Abgeschmacktheit begehen konnte, Soldatchens zu spielen.« (Briefwechsel, S. 20.)
Und auch in der für den gesamten Komplex von Büchners Kritik des Gesellschaftstheaters zentralen Jahrmarktszene aus den Woyzeck-Handschriften (H1,1; MBA 7.2, S. 3, sowie H2,3; MBA 7.2, S. 14) erscheint ein Affe auf der Bühne. Indem er dort ausgestattet mit einem Spielzeugsäbel als Soldat auftritt, repräsentiert er das Publikum vor der Bühne, das ja ebenfalls zu einem guten Teil dieser »unterst Stuf von menschliche Geschlecht« (H2,3; MBA 7.2, S. 14) angehören dürfte. Erneut finden sich die Angehörigen des einfachen Volkes – wie in den behandelten Stellen des Hessischen Landboten, aber eben auch in dem Passus aus dem fünften Leuchter – in einem menschenunwürdigen Theaterspektakel wieder, an dem sie als Zuschauer und als Mitwirkende zugleich teilhaben. Es erscheint mir daher plausibel, die Stelle vom dressierten Bären und den Affen auf seinem Rücken als zumindest in irgendeiner Form von Büchner inspiriert zu betrachten. Angesichts der aufgezeigten Parallelen wäre es durchaus denkbar, dass sich eine ähnlich lautende Passage in Büchners Flugschriftenentwurf befunden hat. Weidig, der ihr seinen »Beifall nicht versagen« konnte, sich aber dennoch gezwungen sah, sie zu streichen, hätte sie dann bei nächster Gelegenheit genutzt, um eine allzu zahm geratene Flugschrift ›aufzupeppen‹.32
––––––––– 32 Weidig war mit dem von Jordan gelieferten Text unzufrieden und äußerte, während er ihn überarbeitete »Worte der höchsten Indignation« (Leopold Eichelberg: Nachtrag zum Jordan’schen Criminalproceß, zugleich als Beitrag zur Zeitgeschichte. Frankfurt a. M. 1853, zit. n. P II, S. 855).
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3. Büchner als »Denunziant« Vom Hessischen Landboten bis zum Woyzeck bleibt es für Büchner eine zentrale Aufgabe, die vermeintlich natürliche Ordnung der Welt als eine sozial entstandene, oftmals als große Inszenierung kollektiv zur Aufführung gebrachte bloßzulegen. Im Kontext des eingangs zitierten Briefes an Karl Gutzkow hängt dieses Bestreben sicherlich mit einem der weiteren Elemente revolutionärer Strategie zusammen, die neben den scheinbar so ausschließlich postulierten Hebeln »materielles Elend und religiöser Fanatismus« auch zur Sprache kommen. Da ist davon die Rede, man müsse »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen«. Büchners Texte versuchen, die für diese neue Bildung unerlässliche Vorarbeit zu leisten, indem sie die Befähigung zum kritischen Hinterfragen des Alten, scheinbar Selbstverständlichen und Natürlichen befördern. In diesem Vorhaben liegt sicher auch ein Grund für Büchners entschiedenes Votum für die Gattung Drama: »Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s« (Brief an die Familie vom 1. Januar 1836, Briefwechsel, S. 87f.). Verknüpft ist diese Entscheidung mit der Ablehnung der so genannten »Tagesliteratur« (ebd.) des Jungen Deutschland, wie sie in Form von Romanen, Erzählungen und Novellen, von Essays, Abhandlungen und Rezensionen die liberalen Zeitschriften der Zeit prägt. Für das Projekt, den Inszenierungscharakter der sozialen Realität, wie er die Herrschaftsverhältnisse stabilisiert, in der gebotenen Anschaulichkeit bloßzustellen, bietet sich diese Art von erzählender und räsonierender Literatur für den heimischen Lesesessel – ganz abgesehen von ihrem begrenzten Rezipientenkreis – gewiss nicht an. Der Hessische Landbote als Flugschrift legt es dagegen auf die unmittelbare Begegnung mit den Manifestationen der alltäglichen TheaterGesellschaft an. Seine Leser sind ausdrücklich aufgefordert, hinzugehen nach Darmstadt und sich das Treiben der feinen Herren anzusehen. Sie sollen noch einmal genau hinhören, wenn Proklamationen im Namen des Großherzogs verlesen werden, und genau hinsehen, wenn die Militärparade vorüberzieht. Nur sollen sie sich dieses Mal nicht in das Schauspiel hineinziehen lassen, sondern es kritisch beobachten und mit ihrer eigenen Situation vergleichen. Der Hessische Landbote fungiert als Kommentarzettel zu der Tag für Tag von Herrschenden wie Beherrschten gemeinsam aufgeführten Komödie und ermöglicht eine neue Sichtweise darauf, die nicht mehr ihrem Illusionsangebot verfällt. Erst in dieser von 43
den Adressaten selbst vollzogenen Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftstheater wird der Text der Flugschrift letztlich vollständig. In solcher Funktion sind dem Medium einer Flugschrift natürlich gewisse Grenzen gesetzt. Die Dekonstruktion von Inszenierungen der Macht bezieht ihre schlagende Beweiskraft aus dem unmittelbaren, unverstellten Blick darauf und aus ihrer Konfrontation mit der Lebensrealität der Ärmsten. Letztlich verlangt dieses Vorgehen gegen das Gesellschaftstheater seinerseits nach Theaterkonzepten. Sei es in Form von Aktionen, die sich unmittelbar in den reibungslosen, geschlossenen Ablauf der öffentlichen Inszenierungen einschalten und so deren überzeugende Wirkung stören. Sei es seinerseits in Form von Theater, das diese Inszenierungen anschaulich nachstellt, sie zunächst einmal überhaupt als Theater kenntlich macht und dabei ihre strukturellen Hintergründe offen legt. Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman, der es in seiner Studie The Presentation of Self in Everyday Life – ihr deutscher Titel Wir alle spielen Theater ist fast ein Zitat aus Dantons Tod – unternommen hat, die zwischenmenschlichen Interaktionen in ihrer Gesamtheit als mit- und füreinander aufgeführte Inszenierungen zu beschreiben, hat darin auch einen Akteur beschrieben, der genau dieses Geschäft betreibt: nämlich das Schauspiel, seine Inszenierungspraktiken und seine Hintergründe an das Publikum zu verraten. Goffman bezeichnet ihn – wenig schmeichelhaft, aber ohne Wertung – als »informer«33 oder »Denunzianten«.34 Georg Büchner hat sich diese Form des Denunziantentums zu eigen gemacht und es in seinen Stücken wie bereits im Hessischen Landboten gegen die »Affenkomödie« der Mächtigen gerichtet.
––––––––– 33 Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959, S. 145. 34 Goffman (s. Anm. 24), S. 133.
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Über politische »Grundsätze« Georg Büchners. Der Hessische Landbote und Sätze axiomatischen Charakters in den Briefen In memoriam Walter Grab
Alfons Glück (Marburg) I. Der Hessische Landbote (46) Budget/Staatsapparat – Zur Logik der Argumentation – Wie Büchner methodisch verfährt – Die »Ermahnung des Volkes zur Knechtschaft« – Notiz zur wirtschaftlichen Lage und (vermutungsweise) zur Bewußtseins-Verfassung der Bauern II. Politische »Grundsätze« in den Briefen (51) Zum Begriff »Grundsatz« – Büchner über seine »Grundsätze« î 1. Materielle Bedürfnisse, Hunger als ›erster Beweger‹ 2. »religiöser Fanatismus«? 3. Der »Riß«: Arme – Reiche 4. Krieg zwischen Arm und Reich 5. Perspektive: soziale Revolution. – Der Verbund dieser Grundsätze hat Systemcharakter. III. Büchner kennt einen »absoluten Rechtsgrundsatz«. (62) Bezug zur Erklärung der Menschenrechte von 1793 – der durch Abstraktion verborgene Inhalt IV. »Gleichheit«, »Gütergemeinschaft«, Babeuf/Buonarroti (65) 1. Zeugnisse der Mitverschworenen – 2. Babeuf/Buonarroti, Gleichheitskommunismus – 3. Ein Brief vom Februar 1834 – 4. Ein BabeufNachhall im Lenz V. Der Satz über »ein neues geistiges Leben im Volk« (69) 1. Der Satz, seine Bestandteile – 2. »Vorschein« eines neuen Bewußtseins – 3. »Vorschein« in einer Szene des Woyzeck Nachbemerkung (73) 45
I. Der Hessische Landbote 1. Budget/Staatsapparat Zuerst das nüchterne Zahlenwerk des Budgets. Vom Staat werden jährlich 6.363.364 Gulden eingetrieben (»erpreßt«), davon werden finanziert: a) das Ministerium des Innern und der Justiz: 1.110.607 Gulden b) das Ministerium der Finanzen: 1.551.502 Gulden c) das Militär: 914.820 Gulden d) Pensionen: 480.000 Gulden e) Staatsministerium und Staatsrat: 174.600 Gulden f) der Hofstaat: 827.772 Gulden. Es stellen sich zwei Fragen: Woher kommt dieses Geld? Antwort: Es wird mittels Steuern und Abgaben aus den arbeitenden Massen herausgepreßt. Und wofür wird es aufgewendet? Antwort: zur Niederhaltung dieser menschlichen Zugtiere. Der Staat wird im Hessischen Landboten dargestellt als Instrument der Unterdrückung. Die Budgetposten weisen auf, welche Bestandteile des Staatsapparats mit welchen Summen finanziert werden. Der Zweck dieser Maschinerie ist es, die Bauern, überhaupt die arbeitenden Klassen abzuschöpfen. Der Staat sorgt dafür, daß die Ausbeutung reibungslos vonstatten geht – »damit man euch bequemer schinde« (HA II, S. 38), und »in [dieser] Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden« (HA II, S. 36). Das Ganze ist so eingerichtet, daß die Unterdrückten ihre Unterdrükkung selbst finanzieren. Es hat zyklischen Charakter, man könnte es mit einem Räderwerk vergleichen (ich denke an Chaplins Modern Times). Der Hessische Landbote hat Systemcharakter. Die Voraussetzung war, daß Büchner zum Fundament der Klassengesellschaft vorgedrungen ist, zur Ausbeutung. Sie ist der ›erste Beweger‹. Die Budgetposten bringt Büchner nicht als fragmentierte Befunde; durch ihre Zentrierung wird begreiflich, was allein der Zweck dieser Vorrichtung sein kann und wie das Ganze funktioniert. 2. Können die Bauern die Logik dieser Argumentation begreifen? Was die Bauern und Taglöhner lebenslang hinnehmen müssen, ohne es ganz begreifen zu können, wie ein ›Schicksal‹, das ist hier analysiert und bis auf den Grund durchleuchtet. Wir müssen nicht befürchten, sie seien unfähig, einer solchen Logik zu folgen. Dazu sind sie genügend moti46
viert. Denn wenn sie eines wissen wollen, dann woher das kommt, daß sie trotz schwerster Arbeit hungern müssen. Und das wird ihnen in dieser Flugschrift demonstriert, ja vorgerechnet. Sie sollen in Bewegung gebracht werden dadurch, daß an ihre Bedürfnisse angeknüpft wird. Wenn sie in naher Zukunft den Kampf aufnehmen und in lange andauernden Widerstandsaktionen standhalten sollen, dann kommt es auf völlige Gewißheit an und nichts darunter! Rhetorik, »Erregung der Affekte«, würde da nicht hinreichen. Und deshalb wird ihnen mit logischer Schärfe, ja rechnerisch demonstriert, was die Ursache ihres Elends ist. Hunger und logisch zwingende Schlüsse haben wahrscheinlich eine Beweiskraft, der wenig gleichkommt. 3. Wie Büchner methodisch verfährt a) Die Basis sind harte Fakten, Zahlenmaterial – und nicht etwa ›in den Raum gestellte‹ Behauptungen, die, rhetorisch aufbereitet, affektive Wirkungen hervorbringen sollen. b) Der Staatsapparat wird entlang der Budgetposten in seine Bestandteile zerlegt. Das kann uns an Büchners Spezialität, das Anatomieren, erinnern. Durch Analyse erscheint »der Staat« als Zusammengesetztes, d. h. gemacht, ein »Machwerk« (der Ausdruck fällt; HA II, S. 38) – also kein »Schicksal« und keine »gottgewollte Ordnung«, wie es den Bauern vorgepredigt wird. c) Und was gemacht, zusammengesetzt ist, das kann gesprengt werden. In diesen Vorgang des Zerlegens ist die Möglichkeit der Sprengung eingeschlossen, gerade so, wie in dem Wort »auseinandernehmen« ein aggressiver Sinn steckt. Auch wenn dem Leser dieser Hintergedanke nicht zum Bewußtsein kommt, unterschwellig erreicht er ihn doch. Und vielleicht ist die unterschwellige Wirkung, die von der nüchternen Analyse des Budgets ausgeht, noch effektiver als die direkten Angriffe auf das ›System‹ und aggressive Sprechakte wie etwa der über »die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen« (HA II, S. 40; gemeint sind die Soldaten im Dienst des Großherzogs). d) Charakteristisch für das logische Verfahren Büchners ist der finale Zug, die Energie, zu Resultaten zu kommen, die klar und eindeutig und völlig gesichert sind. Im Text trifft man auf Sätze, die wie »Summen« dastehen, so z. B. der über die »Ordnung«, für die dieser Staat sorge: »in Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden« (HA II, S. 36); 47
oder über die Justiz: »das Gesetz« sei das »Eigenthum« der herrschenden Klasse (der »Klasse [der] Vornehmen und Gelehrten« = der Reichen und Gebildeten), und »[d]iese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde« (HA II, S. 38) – klassische Definition von »Klassenjustiz«, und über das Militär als Waffe der herrschenden Klasse gegen das Volk: ihre Söhne und Brüder »sind [werden gemacht zu] die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen« (HA II, S. 40). Ein Satz wie »in Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden« wird den Bauern im Gedächtnis bleiben. Wir können uns gut vorstellen, daß sie den einen oder andern dieser Sätze für sich wiederholt und auch untereinander bestätigend zitiert haben. Solche Summen und Schlußbilanzen sind Elemente einer Methode der Mitteilung, die auf Praxis abzielt.1 e) Gerichtet auf einen Endpunkt: In diesem finalen Zug wird den Bauern vor Augen geführt, daß es für sie keinen anderen Weg aus dem Elend gibt als den einen: Widerstand zu leisten. Das ist der Endpunkt. Einen milden Ausweg gibt es nicht, niemand wird sie erlösen, sie müssen es selbst in die Hand nehmen und sich losschneiden. Das ist die Logik, von der gesagt wird, sie sei »unerbittlich«. Im Schlußabschnitt des Hessischen Landboten heißt es dann fordernd, aber auch ermutigend: »Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein Eurer Presser [...]. Ihrer sind vielleicht 10,000 im Großherzogthum und Eurer sind es 700,000« (HA II, S. 58). 4. Gegen die »Ermahnung des Volkes zur Knechtschaft«2 Eines der Ziele des Hessischen Landboten ist es, der herrschenden Indoktrination, der »Ermahnung des Volkes zur Knechtschaft«, entgegenzuwirken. Diese Ermahnungen werden dem Volk von Seiten der Staatsdiener, einer langen Reihe von Räten und Sekretären, von den Lehrern und vor allem von den Geistlichen zuteil. Von früher Kindheit an werden die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in das Bewußtsein der Untertanen eingesenkt, und lebenslang sind sie diesen Ermahnungen ausgesetzt. Zweck dieser Belehrungen ist es, den »Riß« zwischen Arm und Reich ––––––––– 1 2
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Niemand übersetzt Schriften in die Praxis, aber Sätze werden in Praxis umgesetzt, nämlich handhabbare. Das gilt vermutlich nicht nur für Flugschriften. HA II, S. 38: »ermahnen das Volk zur Knechtschaft«.
und eine Auspressung, die bis an die Hungergrenze geht, als »Ordnung« erscheinen zu lassen. Das ist die Fortsetzung der Knechtung im Medium Bewußtsein und eine unentbehrliche Stütze der Herrschaft, die wirkungsvollste Komplettierung jener massiven Bestandteile des Machtapparats, die Greifarmen gleichen. Die wichtigste der religiösen Unterweisungen ist die Predigt von der »Furcht des Herrn«, dem Gehorsam gegen die Obrigkeit. Zentral ist Römer 13,1: »Jeder sei den vorgesetzten Obrigkeiten untertan, denn [...] sie sind von Gott verordnet.« Der Staat ist diese gottgewollte Ordnung und der Fürst »von Gottes Gnaden«. Kassiert ist die Grundtatsache des Neuen Testaments: daß Jesus auf Seiten der Armen stand (denen er selbst angehörte) und gegen die Reichen predigte, siehe »Nadelöhr« (Mt 19,24).3 Und völlig übergangen wird, daß die »Obrigkeit« ihn kreuzigen ließ. Die ihr Leben lang schwer arbeiten und Not leiden, werden von den »feiste[n] Gesichter[n]« (HA II, S. 34) ermahnt, ihr Elend als gottgewolltes Schicksal zu tragen. Ihnen wird Passivität eingeimpft, um jeden Gedanken an Widerstand schon im Keim zu ersticken; Demut und die Furcht des Herrn seien die für sie passenden Tugenden. Zusätzlich werden sie auf ein Jenseits vertröstet, wo ihnen himmlischer Lohn zuteil werde. In Herrschaftsmythen erscheint der Staat wie ein geheimnisvolles ›Oben‹, fast eine mythische Figur – Analyse, Zerlegung in Bestandteile, käme einem gar nicht in den Sinn. Darauf gründe ich meine These, die Analyse des Staatsbudgets im Hessischen Landboten sei zugleich die kritische Zersetzung des herrschenden Staatsmythos. Nachdem ein Leser die Posten des Budgets durchgegangen ist, ist er sehr weit davon entfernt, noch an eine göttliche Einrichtung zu denken. Der Kontrast Römer 13/»Budget« ist ›schreiend‹. Wenn der Staat ist, was die Analyse des Budgets ergibt, kann er nicht das sein, was den Bauern vorgesagt wird. Dieser Schluß ist einfach und zwingend. Vielleicht erfaßt man das nicht auf den ersten Blick, lange übersehen kann man es hingegen nicht; und sobald man es erfaßt hat, ist diese Einsicht durchschlagend und von bewußtseinsverändernder Wirkung. ––––––––– 3
Oder die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel, Mk 11,15.
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5. Ein Wort zur wirtschaftlichen Lage der hessischen Bauern um 1834 und, vermutungsweise, zu ihrer Bewußtseinsverfassung Sie wirtschaften auf schlechten und erschöpften Böden, Mißernten sind häufig, ein Tiefpunkt um 1830. Sie können sich nur knapp durchbringen. Ihre Ernährung besteht hauptsächlich aus Kartoffeln, Brot, Mehlbrei, Wassersuppen, kaum je Fleisch (ein Arzt aus Laubach schreibt: vielleicht einmal im Jahr).4 (Ein direkter Reflex ist die Szene III/2 in Leonce und Lena). Noch tiefer stehen die Besitzlosen, Knechte, Mägde, Taglöhner. Und ganz unten: Arbeitslose, Vagabunden (Obdachlose), Alte, Kranke, verwaiste Kinder – die »Geringsten«, die in Büchners Dichtungen eine so auffallend große Rolle spielen. – Das ist die Wirklichkeit, die Büchner vor Augen stand. Und daran müssen auch wir denken, wenn wir den Hessischen Landboten und wenn wir seine Dichtung studieren: wenn wir Literaturwissenschaft als eine historische und kritische Wissenschaft betreiben wollen. Noch ein Wort, versuchsweise, zur Bewußtseinsverfassung dieser Bauern, Knechte und Taglöhner. Büchner hegt keine Illusionen über den Bewußtseinsstand derer, an die er sich mit seiner Flugschrift wendet. Nur der Hunger könne sie in Bewegung bringen (und eventuell noch »religiöser Fanatismus«, s. u. II.2.). Er appelliert nicht an ihr »Bewußtsein«, etwa an eine Empörung über die niederträchtige Behandlung, die ihnen zuteil wird. Es könnte so aussehen, als wären sie gelähmt und demoralisiert. – Und woher hätte ein anderes Bewußtsein kommen sollen? Das ihre ist durch das Elend eingedrückt. Sie können doch kaum an anderes denken, als sich und ihre Kinder durchzubringen. Überdies werden sie in Unwissenheit gehalten und noch desorientiert durch jene lebenslangen »Ermahnungen zur Knechtschaft«. Und doch! In Passivität versunken und erstarrt waren sie nicht; denn wie hätte sonst Weidig, der sie besser kannte als irgendwer, den Plan fassen können, mit einer Flugschrift auf sie einzuwirken! Und auch Büchners Fundamentalsatz, »das Verhältniß zwischen Armen und Reichen [sei] das einzige revolutionäre Element in der Welt«,5 hätte für ihn keinen Bestand haben können. ––––––––– 4 5
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Vgl. Nebel, Theodor: Land und Leute in der Herrschaft Laubach vor 90 Jahren. In: Hessische Blätter für Volkskunde 10 (1911), S. 87–101, hier S. 94f. Briefwechsel, S. 62 (an Gutzkow, Ende März/Anfang April oder Sept./Okt. 1835).
Selbstverständlich wird sich über die durchschnittliche Bewußtseinsverfassung der Bauern, Knechte und Taglöhner kaum etwas Gesichertes ermitteln lassen. Umso mehr lege ich Wert auf ein unscheinbares Zeugnis. Es hat den Charakter einer Momentaufnahme. Es wird berichtet, einer der Verteiler des Hessischen Landboten habe die Flugschrift einer Gruppe von Dreschern vorgelesen. »Von diesen Tagelöhnern wird berichtet, daß sie den Behörden ›nichts davon aussagen‹ wollten.«6 In dieser Weigerung der Taglöhner sehe ich einen Akt des Widerstands und ein Zeugnis von Bewußtsein. – Wieviele von denjenigen Intellektuellen, die in ihrem »Aristocratismus«7 auf solche Taglöhner herabsehen, dürften sich selbst einen solchen Akt von Standhaftigkeit zutrauen?
II. Politische Grundsätze in den Briefen Zuvor eine knappe Bemerkung zum Begriff »Grundsätze«. Darunter versteht man Axiome, Prinzipien, Voraus-Setzungen und, damit zusammenhängend, Kategorien, die Ähnlichkeit haben mit Koordinaten, durch die alles »seinen Ort« erhält. Sie kommen zum Ausdruck in Grundworten, etwa einer Philosophie: so »Substanz« bei Spinoza oder »existentiell« bei Kierkegaard. Ein solches Wort bei Büchner ist »Riß« (davon später). Es sind Begriffe und Sätze, in denen die Sicht, Optik und Perspektive eines Autors konzentriert sind, und nicht weniger seine Gesinnung (Ethos), enger gefaßt: sein Standort. Büchner selbst spricht mehrmals (und immer mit besonderer Betonung) von seinen »Grundsätzen«. In einem Brief Juni 1833 schreibt er, er werde »immer gemäß [s]einen Grundsätzen handeln«.8 – Ich vermute, auch 1833 wird es sehr ungewöhnlich gewesen sein, daß ein noch nicht Zwanzigjähriger von seinen »Grundsätzen« spricht. Nach dem Zeugnis Adam Kochs hat Büchner für die »Gesellschaft der Menschenrechte« in Darmstadt »Grundsätze« verfaßt.9 – »Grund––––––––– 6 7 8 9
Vgl. Thomas Michael Mayer: Die ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ und »Der Hessische Landbote«. In: Katalog Darmstadt, S. 168–186, hier S. 180. Briefwechsel, S. 36 (an die Eltern, Febr. 1834). Briefwechsel, S. 23. Vgl. Leopold Friedrich Ilse: Geschichte der politischen Untersuchungen. Hildesheim 1975 (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a. M. 1860), S. 427–429.
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sätze« sind für ihn eine feststehende politische Kategorie, und er hat ein ausgeprägtes Bewußtsein von der Bedeutung solcher Koordinaten für die politische Praxis. In dem Brief an Gutzkow vom Juni 1836 sagt er, man müsse »in socialen Dingen von einem absoluten R e c h t s grundsatz ausgehen«.10 – Man muß sich bewußt machen, was das besagt! Büchner handelt nicht nur nach »Grundsätzen«, er kennt eine absolute Orientierung für alle seine Gedanken und Entschlüsse »in socialen Dingen«. Wenn wir von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« bei Kant hörten, müßte uns das nicht verwundern, wir würden an den »kategorischen Imperativ« denken. Daß aber ein dreiundzwanzigjähriger Organisator einer Verschwörung sagt, er gehe von einem »absoluten Rechtsgrundsatz« aus, kann uns mehr als erstaunen. Von einer durchschnittlichen Bewußtseinsverfassung her könnte ein solcher Grundsatz in zweiter Potenz geradezu als jenseitig erscheinen. Was der konkrete Inhalt dieses »absoluten Rechtsgrundsatz[es]« sein könnte, werde ich später erörtern. Hier nur noch die Feststellung, daß es sich bei diesem späten Brief um die nachdrücklichste Betonung der Kategorie »politischer Grundsatz« handelt. Büchner ist am 19. Februar 1837 als Emigrant in Zürich gestorben. Ich bin überzeugt, auch im Februar 1837 hätte er wiederholen dürfen, was er im Juni 1833 geschrieben hatte: Er werde immer seinen »Grundsätzen gemäß« handeln. Fassen wir als nächstes fünf solche Sätze axiomatischen Charakters ins Auge! 1. Materielle Bedürfnisse, Hunger als ›erster Beweger‹ Das »materielle Elend« ist der »Hebel«, der die Massen in Bewegung bringen kann (eventuell noch ein zweiter Hebel: »religiöser Fanatismus«; Brief an Gutzkow, Juni 1836;11 vgl. auch den Brief an die Eltern, Juni 1833 über »das nothwendige Bedürfniß der großen Masse« und das vergebliche »Bewegen und Schreien der E i n z e l n e n«12). – Hunger ist der ›erste Beweger‹, »der Hunger allein« könne »die Freiheitsgöttin werden« ––––––––– 10 Briefwechsel, S. 103. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 23.
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(an Gutzkow, September/Oktober 1835).13 Die Geschichte wird nicht durch Ideen bewegt, sondern durch die materiellen Bedürfnisse der Massen. Das war die Schubkraft der Revolution in Frankreich 1789 bis Juli 1794. Die Unmöglichkeit, das Volk mit Brot zu versorgen, war die Ursache des Thermidors und dann der Militärdiktatur Bonapartes. Im Fatalismusbrief hatte Büchner in mystischem Ton gefragt: »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt«,14 und er hatte diese Frage leicht modifiziert in Dantons Tod (II/5) wiederholt. In mystischem Ton: Als könnte es sich um ein ewiges Schicksal ›des‹ Menschen handeln, vielleicht seine Trieb-Konstitution (die »Menschennatur«, ihre »entsetzliche Gleichheit«)? Oder Folge der »Erbsünde« (»Verdammungsworte», »Aergerniß«, das kommen »muß«)? Die »mystische« Frage hat ein Sansculotte mit einem Wort beantwortet: der Hunger ist es! (Dantons Tod, I/2) Von diesem Zuruf aus der Masse der Hungernden geht eine stark entmystifizierende Wirkung aus. – Ihr Hunger wird nicht zuletzt von jenen verschuldet, die hohe und undurchsichtige philosophische Reden führen, jedoch selbst nicht Hunger leiden, sondern, wie Danton, im Luxus leben. 2. Ein zweiter »Hebel«: »religiöser Fanatismus«? Für die »große Klasse« »giebt es nur zwei Hebel: materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s. Jede Parthei, welche dieße Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein K r e u z oder sonst so was.« (An Gutzkow, Anfang Juni 1836.15)
»[R]eligiöser Fanatismus« ist im Munde Büchners eine überraschende Wendung. Er setzt ihn, zwei Jahre nach dem Hessischen Landboten, als ein noch unerschlossenes Potential des subjektiven Faktors in das Kalkül eines Massenaufstands ein. Dieser Fanatismus wird veranschlagt als Mittel, rein instrumentell. Das »Kreuz« soll als »Hebel« »angesetzt« werden, und zwar von einer »Parthei« (die wahrscheinlich der Organisation um den Hessischen Landboten oder einer blanquistischen Organisation gleichen wird). ––––––––– 13 Ebd., S. 62. 14 Ebd., S. 34. 15 Ebd., S. 103.
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Offensichtlich hat Büchner sich den Sprung im Bewußtsein der »großen Klasse« etwa so vorgestellt: Der Leidensdruck, der Jahre um Jahre aus ihrem materiellen Elend aufsteigt, eskaliert bis zu einem Siedepunkt »Fanatismus«. Dort schlägt es um, die lang angestaute Wut bricht durch, die Niedergehaltenen erheben sich und gehen zum Angriff auf ihre Bedrücker über. Der Hebel »materielles Elend« ist unbestreitbar eine massive Realität. Aber »religiöser Fanatismus«? Die Wirksamkeit, ja Wirklichkeit dieses zweiten »Hebel[s]« scheint mir sehr zweifelhaft, mehr als das, ich halte diesen »religiöse[n] Fanatismus« für eine irreale Voraussetzung in Büchners Kalkül. Das muß ich natürlich begründen: a) Ein religiöser Wahn (wir wollen die Dinge beim Namen nennen) als Schubkraft der Revolution? Sollten also (wenn das möglich wäre) die Massen mit religiösem Fanatismus ›geimpft‹ werden? Benötigen sie stimulierende Illusionen, eine »Rauchsäule«, die ihnen in ein gelobtes Land voranzieht? – Was sie benötigen ist politisches Bewußtsein, und darin als das Erste und Grundlegende die reale Erkenntnis ihrer Lage – gerade so, wie es ihnen der Hessische Landbote vor die Augen stellte, der ihnen sagte, »was ist«, und nicht, was sie »glauben« sollen. b) Doch nehmen wir einmal an, ein mobilisierender Wahn könnte die Bauern tatsächlich dazu bringen, den Kampf aufzunehmen. Das würde bei weiten nicht genügen, denn sie müssen in verlustreichen Aktionen durchhalten (wie ich schon ausgeführt habe). Unter solchen Belastungen würde dieser »Hebel« bald knicken, und dieser Bruch im Bewußtsein schwerste Depression hinterlassen und den Zusammenbruch des Aufstands bewirken. c) »Religiöser Fanatismus« – wer hat davon etwas in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts gesehen? Spätestens seit 1789 ist das eine Illusion. Dieser zweite »Hebel« ist ›gesetzt‹ (eine nicht gedeckte Behauptung). Im Unterschied zur Jacquerie, zu den Aufständen der Lollarden und Hussiten, zum deutschen Bauernkrieg, zur niederländischen und zur englischen Revolution war der christliche Glaube in der Französischen Revolution kein Medium revolutionärer Bewußtwerdung mehr. Das historische Verfallsdatum für Büchners Kalkül war der 14. Juli 1789. – Anders stand es noch zur Zeit Cromwells, der, nach Niederlagen des Parlamentsheeres, dem General Fairfax erklärte: 54
»Wie sollen die undisziplinierten Londoner Lastträger und Ladengehilfen einem Adel Widerstand leisten, den das Phantom der Ehre begeistert? Wir wollen ihnen ein stärkeres Phantom, den Fanatismus, zeigen. Unsere Feinde kämpfen nur für den König, wir wollen unseren Leuten einreden, daß sie für Gott in den Krieg ziehen.«16
Und Cromwell hat es in die Tat umsetzen können. – Doch schon für die »Glorreiche« Revolution 1688 hat Marx festgestellt, »Locke [verdrängte] den Habakuk«,17 d. h. die nüchtern argumentierende bürgerliche Philosophie trat an die Stelle der feuerspeienden Predigten im Stil des Alten Testaments. Die hessischen Bauern von 1834 hätte man jedenfalls nicht mehr mit der Anklage agitieren können, schon Amos und Hosea bzw. Habakuk hätten gegen die Steuern und Abgaben gewettert und geweissagt, die aus dem Volk herausgepreßt werden. Büchner hat im Hessischen Landboten das Staatsbudget analysiert. Das ist die Methode »Locke«. Wo bleibt »Habakuk«? Die Vorhaltung, der Hof in Darmstadt führe kein gottgefälliges Leben, und die Predigt Weidigs im zweiten Teil können vielleicht Unwillen erregen, gewiß aber keinen »religiösen Fanatismus« anfachen. Die Methode »Habakuk« ist das nicht und kann es nicht sein. d) Und zuletzt: In seiner politischen Praxis hat Büchner nirgends auf einen »religiösen Fanatismus« gesetzt, was einfach unmöglich gewesen wäre. Umso erstaunlicher bleibt dann aber sein Satz, »religiöser Fanatismus« sei ein zweiter »Hebel«. Wie kann man das erklären? Fassen wir den Satz noch einmal ins Auge, »r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s« – »Hebel« – »ein K r e u z oder sonst so was«. Zuerst dieses lässig-überlegene »sonst so was«. Die Wendung scheint wenig zu besagen. Ich finde aber doch eine versteckte Schwierigkeit darin, einen logischen ›Haken‹. Der Ausdruck setzt nämlich den Wert des (angeblichen) Beschleunigers »Kreuz« herab durch die beliebige Alternativbildung: Falls es nicht das »Kreuz« sein sollte, dann eben etwas anderes. Scheint unfreiwillig durch, daß es überhaupt mit diesem zweiten »Hebel« wenig auf sich haben dürfte? Nie könnte doch in diesem Ton vom ersten »He––––––––– 16 Die Worte Cromwells zitiert Voltaire: Philosophisches Wörterbuch (Frankfurt a. M., 1985,
S. 207), Artikel »Fanatismus«.
17 MEW, Bd. 8, S. 116.
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bel«, dem »materielle[n] Elend«, gesprochen werden! Alles im Widerspruch zur Aussage-Intention auf der Textoberfläche. Es sieht wirklich so aus, als wüßte der Sprecher nicht so recht, in welche Richtung er seinen Blick, d. h. seine Hoffnung wenden soll. Der Text wird zwar anders gespielt – lässig, zuversichtlich – aber so steht es in den Noten: fragend und unsicher. »Kreuz« – »Hebel« – »sonst so was«, das sind rücksichtslos offene, kaltblütige, wenn nicht zynische Worte.18 Sie stellen den instrumentellen Charakter dieses ›Glaubens‹ geradezu zur Schau. Was mag Büchner bewogen haben, seine Gedanken in diese Richtung zu lenken und auf eine solche Sprache einzuschwenken? Meine Erklärung (ein Erklärungsversuch) ist eine psychologische. Wir müssen diese Wendung aus Büchners Situation begreifen. Der Brief wurde im Juni 1836, zwei Jahre nach dem Hessischen Landboten geschrieben. Die Organisation ist zerschlagen, die Mitverschworenen sind eingekerkert oder geflohen, Büchner selbst ist seit eineinviertel Jahren in der Emigration. Für einen Revolutionär wird es wenige Dinge geben, die so geeignet sind, Depression und Verzweiflung auszulösen, wie der tiefe Bewußtseinsstand der Objekte und Opfer der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Von daher, finde ich, kann man begreifen, wie er ein »Kreuz« als Erwecker und Beschleuniger herbeiwünschen konnte. Und diese Sprache? Die kaltblütigen Worte und gerade das nonchalante »sonst so was«19 halte ich für eine Fassade, hinter der sich Depression und Ratlosigkeit verbergen. 3. Der »Riß«: »Arme« – »Reiche«, das Faktum Klassengesellschaft Die Gesellschaft ist gespalten durch einen »Riß«: in »Arme« und »Reiche«. Auf der einen Seite »die gebildete und wohlhabende Minorität« – auf der anderen Seite »die große Klasse« (die arbeitenden Klassen), »das Volk«. (Aus
––––––––– 18 Den Ausdruck ›zynisch‹ vermeide ich. Einen solchen Zug habe ich nie an Büchner
bemerkt, er kommt auch nicht infrage für einen, der einen »absoluten Rechtsgrundsatz« kennt und, wie seine Mitverschworenen, für andere das Äußerste auf sich genommen hat. 19 Das Chargierte darin stimmt sehr gut zu »Fassade«. Der angeschlagene Ton konnte Gutzkow gefallen – Weidig hätte es nicht hören dürfen.
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den beiden Briefen an Gutzkow, September/Oktober 1835 und Juni 1836.20)
Dieser Gegensatz hängt aufs engste zusammen mit dem »nothwendige[n] Bedürfniß der großen Masse« (Juni 1833) und mit dem Axiom, was die Schubkraft der Revolution (einer sozialen Revolution) ist. Für »Hunger« benötigen wir keine Erklärung. Vielleicht aber doch für »Riß«? Bevor ich den politischen Sinn von »Riß« herauszuarbeiten suche, eine Vermutung, spekulativ. Dem Wort »Riß« ist etwas anzusehen, finde ich. Ganz sicher ist es eine anti-teleologische Kategorie und näher oder entfernter verwandt mit »Schmerz«, von dem Büchner gesagt hat, er sei »der Fels des Atheismus« (Dantons Tod, III/1). Womöglich hat das Wort – wie »Schmerz« – neben seiner direkten Bedeutung noch Zeichencharakter, deutet auf Unausgesprochenes? Vielleicht ist ein »Riß« die Grunderfahrung Büchners, wie die Parteinahme für die »Armen« seine Grundeinstellung? Zurück zu unserem Thema »politische Grundsätze«. »Riß« ist die Bild-Übersetzung der Kategorie Klassengesellschaft. In dem Wort ist etwas Gewaltsames – weit mehr als in ›Spaltung‹ oder ›Kluft‹, die Büchner ebenfalls für die Grundtatsache Klassengesellschaft hätte verwenden können. Man denkt an eine Verwundung, nicht etwa an den harmlosen Riß in einem Kleidungsstück, der leicht wieder vernäht (geheilt) werden könnte. Das bringt uns auf die richtige Spur. Es ist nicht nur etwas Gewaltsames, es ist etwas Katastrophisches in dem Wort. Dieser »Riß«, über den man durch Reformen nie »hinauskomm[t]« (an Gutzkow, Juni 183621), gleicht er nicht einer tiefen Wunde, die nicht mit sanften Mitteln (Reform) geheilt, sondern nur mit radikalen, chirurgischen Methoden geschlossen werden kann? Auch an einen Riß im Bewußtsein könnte man denken. Das mag weit hergeholt sein, abwegig ist es nicht. Doch bleiben wir bei den Wunden, die bluten. Bei Shakespeare werden tödliche Wunden »Risse« genannt. In Richard III. verflucht Anna den Mörder ihres Mannes: »Verflucht die Hand, die diese Risse machte« (I/2), und in Macbeth werden tödliche Wunden, die Macbeth dem schlafenden König Duncan beibringt, als »Riß in der Natur« bezeichnet (II/2). Dieses »in der Natur« deutet über ––––––––– 20 Briefwechsel, S. 62 u. S. 103. 21 Ebd., S. 103.
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den Leichnam hinweg: hinaus auf die Welt, auf einen katastrophalen Zustand, in den sie durch diesen Meuchelmord an einem Schlafenden versetzt ist – so, wie es auch heißt: »Macbeth mordet den Schlaf«, und nicht: ›Macbeth hat einen Schlafenden ermordet‹ (II/1). Die »Risse« in den Tragödien Shakespeares sind ein dunkler Grund dieses Wortes bei Büchner. Es gibt einen noch dunkleren Grund, und das in einer Szene, die Büchner wie auch uns vertraut ist wie keine andere: Golgatha. Nachdem Jesus am Kreuz verschieden ist – mit einem Schrei –, fährt der Text, Mt 27,51, fort: »und der Vorhang im Tempel zerriß von oben bis unten in zwei Stücke«. – Das trifft den Riß, der die Gesellschaft in zwei Stücke zerreißt, vollkommen! Der zerrissene Tempelvorhang stand Büchner auch im Dantons Tod vor Augen. In III/l läßt er den eingekerkerten Payne sagen, der Schmerz mache »einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten«. Das ist der Tempelvorhang, denn nur darauf paßt dieses »von oben bis unten«. So, wie der Tempelvorhang in zwei Bahnen zerrissen wurde, so ist eine Gesellschaft, in der Menschen von Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden, in zwei Klassen zerrissen. Was hat uns also das Begriffs-Bild »Riß« bei Büchner über die nüchterne Feststellung »Klassengesellschaft« hinaus noch mitzuteilen? Die klaffenden Wunden bei Shakespeare wie der zerrissene Tempelvorhang deuten auf einen tragischen Grund: Offensichtlich empfindet Büchner den Riß, der die Gesellschaft spaltet, wie eine tödliche Verletzung, eine Katastrophe, ja ein Verbrechen. 4. Krieg zwischen »Arm« und »Reich« Von dem »Riß« sagt Büchner in dem Brief an Gutzkow, Anfang Juni 1836: Nie werde man darüber »hinauskommen«, er könne nicht überbrückt, nicht durch »Reform« geschlossen werden. Die Gesellschaft »mittelst der I d e e« zu reformieren, sei unmöglich. In der Praxis (wenn man »directer politisch zu Werke« gehe), erfahre man, wie schnell man an einen Punkt komme, wo es mit dem Reformieren ein Ende habe.22
––––––––– 22 Ebd.
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Daraus folgt: ein permanenter Kampf zwischen »Armen« und »Reichen«. »Unsre Zeit braucht Eisen und Brod«. Was mit »Brod« gemeint ist, wissen wir. Mit »Eisen« kann nur revolutionäre Gewalt gemeint sein. Über dem Hessischen Landboten steht als Motto: »Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!« Das war die Parole der Armeen des revolutionären Frankreich.23 Aber schon in einem frühen Brief, April 1833, an die Eltern, hatte Büchner geschrieben: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es G e w a l t.«24 (Das bezieht sich auf den Frankfurter Wachensturm). 5. Perspektive: soziale Revolution Wenn es unmöglich ist, den »Riß« jemals durch Reformen zu schließen, dann folgt zwingend, daß Revolution die einzige Perspektive ist. Eine andere gibt es nicht. Und wenn »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen [...] das einzige revolutionäre Element in der Welt« ist (1835 an Gutzkow),25 dann ist klar, um welche Revolution es sich handeln muß: Die arbeitenden Klassen müssen ihre Herren abschütteln, die reale Gleichheit muß erreicht werden, eine Gesellschaft, die nicht länger gespalten ist in Arme und Reiche = die Aufhebung der Klassengesellschaft überhaupt. In dem Brief an Gutzkow vom September oder Oktober 1835 heißt es weiter, die »ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten getheilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden«.26 – Mit einer bürgerlichen Revolution (wie 1830 in Frank––––––––– 23 Ausgegeben von der Gironde, 1792. Die Parole stammt von Chamfort, der von
einem »ewigen Krieg Arm gegen Reich« geschrieben hatte. Der »Krieg zwischen Armen und Reichen« ist eine Grundkategorie Babeufs (siehe Joachim Höppner, Waltraud Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus vor Marx. 2 Bde. Leipzig 1975, Bd. 2: Texte, S. 50, 71, 548) und Jacques Roux’. Seit den Aufständen der Seidenweber in Lyon 1831 und 1834 (im Jahr des Hessischen Landboten) ist »Krieg Arm gegen Reich« eine stehende Wendung, die sich auch bei Heine und Börne findet. Über Lyon 1831 schrieb Börne in seinen Briefen aus Paris (1832; 60. Brief): »[D]er Krieg der Armen gegen die Reichen hat begonnen«. Als Büchner an Dantons Tod arbeitete, hat er die bürgerlichen Historiker der Französischen Revolution, Thiers und vielleicht auch Mignet, gelesen, die als ›Erfinder‹ des »Klassenkampfs« als einer Kategorie der Geschichtsschreibung gelten. 24 Briefwechsel, S. 20. 25 Ebd., S. 62. 26 Ebd.
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reich) können sich die hungernden Massen nicht begnügen; sie muß in eine soziale Revolution übergehen, durch die Ausbeutung und Hunger abgeschafft werden. Das ist der Sinn des kannibalischen Bildes (»auffressen«), in dem wieder der Hunger steckt. Und damit hängt aufs engste der Satz vom Hunger als »Freiheitsgöttin« zusammen, ebenso der Satz, unsere Zeit brauche »Eisen und Brot«, wie schon ausgeführt. Diese soziale Revolution ist schon die Perspektive am Schluß des Hessischen Landboten. Dort steht: »Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser [...]. Ihrer sind vielleicht 10,000 im Großherzogthum und Eurer sind es 700,000 [...]. [...] Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf, dann wühlt ihr euren Tyrannen ein Grab.« (HA II, S. 58, 60.)
In Dantons Tod läßt Büchner einen Sansculotten sagen: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden.« (I/2)
Das ist ein Satz, der den Charakter einer »Summe« hat. Diese Aussage überschreitet die Grenzen der aktuellen Szene und weist, wie ein Zeiger, auf den möglichen Gesamtsinn. Fassen wir den Satz näher ins Auge. Sich »losschneiden«: eigenhändig und gewaltsam, Revolution. Und nicht etwa ›losgeschnitten werden‹, ›erlöst‹ werden, von oben, aus Milde, Reform. »60 Jahre lang am Strick« hängen und zappeln: wie Zugtiere lebenslang im Geschirr. »Mord durch Arbeit«: ausgepowert werden durch Schwerarbeit. Der »Strick« ist ein Zugseil. Dazu paßt aber nicht »zapplen« und nur schlecht (am Strick) »hängen«. Der Strick wird zum Galgenstrick, der einen Gehenkten erwürgt, der im Todeskampf »zappelt«. Es ist ein Mischbild: Ein Zugseil erdrosselt einen lebenslang schwer Schuftenden, etwa so, wie der Galgenstrick einen Gehenkten: nur langsam, unauffällig – so daß Fernstehende gar nicht an »Mord« dächten, wäre da nicht das Gezappel. Zwei Bilder und ihr gemeinsamer Nenner: Im Hessischen Landboten wühlen sie lebenslang die Erde auf/ hier hängen sie sechzig Jahre lang am Strick. – Dort schaufeln sie ihren Tyrannen das Grab/ hier schneiden sie die Fesseln durch, gewaltsam, ein Akt der Rebellion; denn tatenlos werden ihre Herren nicht dabei zusehen und sie so einfach ziehen lassen. Es wird zu Kämpfen kommen. 60
Im ›Zähler‹ stehen die beiden Bilder, die Erdaufwühler und die Strikkedurchschneider; und darunter, im tiefliegenden ›Nenner‹, erkennen wir die Zentralvorstellung, den revolutionären Gewaltakt der Schwerarbeiter. 1835 (Juli?) schrieb Büchner an seinen Bruder Wilhelm, er glaube nicht »im Entferntesten jetzt an die Möglichkeit einer politischen Umwälzung [...]. Ich habe mich seit einem halben Jahre vollkommen überzeugt, daß Nichts zu thun ist, und daß Jeder, der i m A u g e n b l i c k e sich aufopfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte trägt.«27
Das bezieht sich auf die zweite Verteilung des Hessischen Landboten November 1834 und heißt: Büchner hat bis November/Dezember 1834 noch anders gedacht; aber dann, Ende 1834/Anfang 1835, eingesehen, daß gegenwärtig eine politische Umwälzung nicht möglich ist. Die Aussage, gegenwärtig bestehe keine Aussieht auf Realisierung, besagt nicht: »Es war eine Illusion, ich habe die Sache aufgegeben.«28 Es besagt das genaue Gegenteil: daß Büchner trotz der Niederlage an der revolutionären Perspektive festhält. Und erst nach diesem Brief an Wilhelm schreibt Büchner die beiden gewichtigen Briefe an Gutzkow von 1835 und 1836, und das sind gerade diejenigen Briefe, die am entschiedensten seine revolutionäre Position darlegen. Ich habe sie zu Beginn dieses Abschnitts zitiert und besprochen. Aus diesen Briefen an Gutzkow geht unwidersprechlich hervor, daß durch die Niederlage Hessischer Landbote Büchners politische Grundsätze und Koordinaten nicht verschoben wurden. Wer weiß und bedenkt, was überhaupt Grund-Satz besagt – als Wirklichkeit, in Tat und Wahrheit –, kommt mit dem Standhalten nach Niederlagen schon zurecht. Der Verbund dieser Grundsätze hat Systemcharakter. Diese Fundamentalsätze stammen aus der politischen Praxis und sind an der Praxis geprüft worden. Und darauf beruft Büchner sich auch ausdrücklich in dem Brief an Gutzkow 1836. Für einen der Grundsätze gilt das jedoch nicht, wie ich ausführlich begründet habe, den »religiöse[n] ––––––––– 27 Ebd., S. 60. 28 Wenn einer sagt, in naher Zukunft (Büchner sagt sogar »im Augenblicke«) sei nichts
zu machen, dann sagt er nicht, es sei nichts mehr zu machen, wenn das auch »so ähnlich« klingt und schwache Logiker das schwer begreifen.
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Fanatismus«. Er ist eine ›Setzung‹, herbeigewünscht und nicht in der Wirklichkeit angetroffen. Deshalb könnte das »Kreuz« auch nicht in den inneren Zusammenhang der »Grundsätze« integriert werden. In Leonce und Lena (I/2) hören wir, die Kategorien seien durcheinander. Für Büchner gilt das nicht. Ganz offensichtlich ist der Verbund solcher Grundsätze wieder und wieder durchdacht worden. Keiner steht isoliert für sich, sondern sie beziehen sich aufeinander. Wenn man den einen verstanden hat und in seinen Konsequenzen durchdenkt, tritt man unwillkürlich hinüber in den Bezirk des andern. Von den materiellen Bedürfnissen der Massen ist es kein weiter Schritt zu dem »Riß« – und von dem »Riß«, der nicht geschlossen werden könne, kein weiter Schritt zur Perspektive soziale Revolution. Dieses System ist vielleicht schmal, aber fest gegründet. Es ist an der Praxis geprüft, und es ist logisch durchgerechnet. Beim Studium des Hessischen Landboten habe ich allmählich bemerkt, wie logisch durchgearbeitet dieser Text ist. Darauf ist man bei einer Flugschrift am wenigsten gefaßt.29 Daß die großen Klartextschreiber der deutschen Literatur, wie z. B. Lessing oder Brecht, in ihren späten Schriften einen sehr hohen Grad logischer Organisation erreichen, kann man begreifen: Klarheit ist ein Produkt von Arbeit, mühevoller und langwieriger Arbeit. Daß aber ein Zwanzigjähriger den Hessischen Landboten schreiben konnte, ist schwer zu begreifen. Wenn man solche Autoren aufschlägt, hat man das sichere Empfinden: Hier steht man auf festem Grund.
III. Büchner kennt einen »absoluten Rechtsgrundsatz«. Ich komme jetzt zu der erstaunlichen Äußerung Büchners über einen »absoluten Rechtsgrundsatz«. In dem Brief an Gutzkow von Anfang Juni 1836 erklärt er, man müsse »in socialen Dingen von einem absoluten R e c h t sgrundsatz ausgehen«.30
»[A]bsolut« besagt: Ein solcher Satz bindet uns nicht lediglich kontraktmäßig, sondern unbedingt, ohne Einschränkung, ohne Vorbehalte, und ––––––––– 29 Inkongruenzen in zweiten Teil hat Weidig durch seine Eingriffe verursacht: eine wei-
tere, indirekte Bestätigung des logischen Charakters des Büchnerschen Textes.
30 Briefwechsel, S. 103.
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nicht: Heute können wir das nicht befolgen, morgen ist es dann eventuell wieder in Geltung. Ein Pfeiler im Strom. »[I]n socialen Dingen«: Es ist ein Recht, das denen, die schwer arbeiten und elend leben müssen, auch in der »modernen Gesellschaft« vorenthalten wird. Es soll noch verwirklicht werden, vielleicht erst in einer fernen Zukunft. Was mag der Inhalt dieses »absoluten Rechtsgrundsatz[es]« sein, was könnte Büchner sich konkret darunter vorgestellt haben? So gut wie sicher bezieht sich der Organisator einer »Gesellschaft der Menschenrechte« – ebenso wie die französische »Société des Droits de l’Homme et du Citoyen«, nach der er die von ihm gegründeten Sektionen einer Geheimgesellschaft benannt hatte – mit dieser Formel auf die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« der Französischen Revolution, und zwar auf die von 1793, die »in socialen Dingen« sehr viel weiter ging als die von 1789. In die Deklaration von 1793 wurden aufgenommen: das Recht auf Arbeit, Armenunterstützung, Volkserziehung, das Widerstandsrecht, das Asylrecht, jedoch nicht die sansculottische Forderung nach Gleichheit im sozialen Bereich.31 Jacques Roux, der Sprecher der Enragés, hat dem Konvent vorgehalten, die »Freiheit« sei nur ein leerer Wahn, solange eine Klasse die andere aushungern könne. Selbst Robespierre hatte im April 1793 verlangt, das Existenzrecht dem Recht auf Eigentum überzuordnen (Existenzminimum für Mittellose und Arbeitsunfähige). Doch konnte er sich damit im Konvent nicht durchsetzen.32 Als »das größte Wort, das in der ganzen Revoluzion gesprochen worden,« zitiert Heine das Wort Saint-Justs, »le pain est le droit du peuple« (das Brot ist das Recht des
––––––––– 31 Über die Erklärung der Menschenrechte in der Jakobinerverfassung (24. Juni 1793)
Walter Grab: Die Französische Revolution. Stuttgart 1989, S. 140ff. Die Jakobinerverfassung von 1793 blieb ein Vorbild und eine Parole (»Brot und die Verfassung von 1793«) demokratischer Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts, bis zur Commune 1871 und darüber hinaus. 32 Damit überschritt Robespierre die Grundposition der Jakobinerherrschaft und kam den Sansculotten weit entgegen, natürlich zu dem Zweck, sich ihre Unterstützung zu sichern und die Jakobinerdiktatur, die von außen und innen gefährdet war, zu stabilisieren. (Solche Zugeständnisse hätten später wieder kassiert werden können.)
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Volkes).33 Das erste aller Menschenrechte ist das Recht, nicht hungern zu müssen.34 Und dieser Satz ist identisch mit dem ersten der politischen Grundsätze Büchners (s. o. II.1.). Diese Menschenrechte stimmen mit Büchners Überzeugungen völlig überein: angefangen vom Recht auf »Brot« bis zum Widerstandsrecht, und nicht zuletzt das Asylrecht, das dem Emigranten das Überleben sicherte. Jedes dieser Menschenrechte könnten wir in seine »Grundsätze« einordnen; ihr Integral wird in seinem »absoluten Rechtsgrundsatz« enthalten sein. Gleichheit ist die Voraussetzung und das Fundament dieses »absoluten Rechtsgrundsatz[es]«,35 wie nicht hungern zu müssen das erste und vordringlichste der Rechte ist, die dieser absolute Grundsatz umfaßt. Gleichheit, und zwar reale, soziale Gleichheit, darum handelt es sich; nicht etwa nur um eine formale, wie die »vor dem Gesetz«, die Anatole France mit einem Satz entlarvte: »Das Gesetz verbietet mit gleicher Majestät den Armen wie den Reichen, unter den Brücken von Paris zu nächtigen«.36 Vgl. auch den Satz im Hessischen Landboten über »das Gesetz« als »Eigenthum« der herrschenden Klasse (HA II, S. 38). Soziale Gleichheit und ein absoluter Rechtsgrundsatz »in socialen Dingen« führen uns hinüber zur »Gütergemeinschaft«, von der wir hören, sie sei das Ziel des Politikers Büchner gewesen.
––––––––– 33 Vgl. DHA 10, S. 302. Ein anderer Satz Saint-Justs, der auch für Heine gilt, lautet:
»Das Glück ist eine neue Idee in Europa«. Man kann ihn als eine Variante des ersten auffassen. 34 Es ist sehr bezeichnend, daß gerade dieses Menschenrecht, das erste und für alle anderen grundlegende, in der Regel mit Stillschweigen übergangen wird, so oft »die Menschenrechte« propagandistisch eingesetzt werden. Das beweist, wie ›aufrichtig‹ es auch mit den anderen gemeint ist. 35 Voraussetzung sogar in einem logischen Sinn; denn in dem Begriff »Menschenrechte« ist die Gleichheit aller Menschen eingeschlossen. Es soll ein ungespaltenes Recht sein (»unteilbar«), für alle gleicherweise gelten und auch nicht eingeschränkt sein auf eng begrenzte Sektoren, z. B. die Rechtssprechung, wie das schon Roux und Babeuf gefordert hatten. 36 Vgl. Anatole France: Le lys rouge (1894). In: Ders.: Œuvres. II. Édition établie, présentée et annotée par Marie-Claire Bancquart. Paris 1987, S. 329–562, hier S. 399 (Kap. VII): »Ils [les pauvres] y doivent travailler devant la majestueuse égalité des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain.«.
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IV. »Gleichheit«, »Gütergemeinschaft«, Babeuf/Buonarroti 1. Zeugnisse Mitverschworener Es gibt Aussagen von Mitverschworenen, von August Becker, Carl Minnigerode, Adam Koch und Gustav Clemm, dem Politiker Büchner habe als Endziel eine Gesellschaft mit Gütergemeinschaft vorgeschwebt.37 Das hat Thomas Michael Mayer erforscht und belegt.38 Ich glaube, die historischen Befunde sind eindeutig. Es ist die Linie Babeuf – Blanqui (Gleichheitskommunismus).39 Gracchus Babeuf (1760–1797, hingerichtet) begriff die Revolution als den »Krieg der Armen und der Reichen«. Das Ziel müsse sein, die Ungleichheit abzuschaffen; nicht länger sollen sich Arme und Reiche wie feindliche Heerlager gegenüberstehen. Die Gesellschaft sei gespalten durch das Mein und Dein. Privateigentum (an gesellschaftlichen Produktionsmitteln) sei die Ursache der Ungleichheit, und Ungleichheit die Ursache eines allgemeinen Unglücks. Dieser unnatürliche Zustand müsse durch »Gütergemeinschaft« (gesellschaftliches Eigentum) behoben werden. Wenn alle gleicherweise arbeiten und keiner auf Kosten des andern leben wolle, dann werden sie gemeinsam genießen, was sie gemeinsam erwirtschaftet haben.40 Filippo Buonarroti (1761–1836), einer der Mitverschworenen Babeufs, veröffentlichte 1828 im Exil die Conspiration pour l’égalité, dite de Babeuf. Diese Schrift, die detailliert die Theorie Babeufs darstellte und den ––––––––– 37 August Becker (1845, in Freiheit): »Gütergemeinschaft«; Carl Minnigerode (in USA,
gegen Ende seines Lebens, in einer Situation, in der er nichts mehr verschleiern mußte): »rot wie die Commune« (Paris 1871); Adam Koch (im Verhör): »Gleichstellung aller«; Gustav Clemm (der Verräter, im Verhör): »Alles Vermögen ist Gemeingut« (habe Büchner »doziert«. Stünde Clemms Zeugnis für sich allein, würde ich es nicht anführen). Nach Th. M. Mayer: Die ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ und »Der Hessische Landbote« (s. Anm. 5), S. 173f. 38 Th. M. Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. In: GB I/II, S. 16–288; darin: Teil I »Spätjakobiner oder Frühkommunist?« 39 Meine Grundlage sind die Texte Babeufs und Buonarrotis, abgedruckt in: Von Babeuf bis Blanqui (s. Anm. 22), Bd. 2, S. 49–111; die Hauptstellen: S. 63, 71, 74f., 79, 97–l00. – Eine der theoretischen Quellen Babeufs war Rousseaus Abhandlung von 1754 über den Ursprung der Ungleichheit (siehe die berühmten Eingangssätze des 2. Teils über Zäune und Gräben), eine andere Quelle Morellys Code de la nature (1754/55) (kollektive Organisation der Arbeit). 40 Dann nähme das Wort Saint-Justs »Das Glück ist eine neue Idee in Europa« einen umfassenden Sinn an.
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Gleichheitskommunismus propagierte, wurde das Lehrbuch der revolutionären Geheimgesellschaften der 30iger und 40iger Jahre. Aus der Verbannung zurückgekehrt, lebte Buonarroti seit 1830 wieder in Paris. Eines der Zentren seiner Organisation war Straßburg, wo Büchner von 1831 bis 1833 studierte und 1835 und 1836 als Emigrant lebte. 2. »Gütergemeinschaft« im Hessischen Landboten? In Briefen? Mein Untersuchungsgegenstand sind hier jedoch nicht historische Dokumente, wie die Verhöraussagen, sondern der Hessische Landbote und die Briefe. Im Hessischen Landboten steht nichts von »Gütergemeinschaft«. Die Adressaten sind Bauern, die für ihren Besitzfanatismus berühmt sind. Mit einem Hinweis auf die Perspektive »Gütergemeinschaft« hätte man sie nur vertreiben können. Überdies würde Weidig einen solchen Zusatz sofort gestrichen haben. Auch in den Briefen, so kann es scheinen, findet sich nichts über »Gütergemeinschaft«, jedenfalls nichts Direktes. Das darf uns nicht wundern. Die vertraulichen Mitteilungen eines steckbrieflich Verfolgten werden nicht nur vom Empfänger gelesen. Überhaupt können Teilnehmer einer Verschwörung nicht offenherzig sein.41 Steht es mit »Gütergemeinschaft« dann etwa so: Die Perspektive auf eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung stützt sich auf Zeugnisse Mitverschworener; doch in Texten, die von Büchner selbst stammen, findet sich nichts davon? Nein, so stehen die Sachen nicht. Es ist einsichtig, warum wir auch in den Briefen keine offenen und eindeutigen Aussagen über »Gütergemeinschaft« erwarten dürfen – jedoch Andeutungen, kaschierte Mitteilungen finden sich. Sie sind so gut verdeckt und verschleiert, daß man sie bei erster oder flüchtiger Lektüre nicht erkennen wird. Ich nenne drei Fälle, zwei Briefe und zuletzt einen Satz in der Erzählung Lenz. Erinnern wir uns an den Brief an Gutzkow vom Juni 1836. Dort spricht Büchner über einen »absoluten Rechtsgrundsatz« und zwar »in socialen Dingen«. Ich habe dargelegt, und vielleicht darf ich sagen nach-
––––––––– 41 Leider sind Büchners Briefe nicht vollständig erhalten geblieben, und die erhalten
gebliebenen sind z. T. verstümmelt worden.
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gewiesen, was sich hinter diesem »absoluten Rechtsgrundsatz« verbirgt, wie hier der eigentliche Inhalt durch Abstraktion verschleiert ist.42 3. Der Brief vom Februar 1834 In einem Brief an die Eltern vom Februar 1834 steht eine merkwürdige Aussage über »Gleichheit«, die durch ihren dogmatischen Ton auffällt. Büchner vertritt die Ansieht, daß » wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden«.43
Das kann Helvétius sein, dessen Lehre von den »Umständen«. Es könnte aber auch Babeuf/Buonarroti sein. Babeuf hatte im Manifest der Plebejer (1795) geschrieben, wenn allen die gleichen Kenntnisse zuteil werden (in einer Gesellschaft mit Gütergemeinschaft), dann werden alle annähernd die gleiche Tüchtigkeit erlangen und annähernd gleiche Talente entwikkeln.44 Der Hauptakzent des Briefes liegt auf dem Schluß, der Verurteilung eines »Aristocratismus« (intellektueller Arroganz, Massenverachtung), dem Mitgefühl mit »leidenden, gedrückten Gestalten«, dem Blick auf einen »Stiefelputzer«.45 Das spricht für einen babouvistischen Hintergrund dieser Gleichheit. In jeder Hinsicht steht ja der 1797 hingerichtete Plebejer der Gleichheit näher als der Generalsteuerpächter und Schloßherr. Natürlich wollte Büchner in einem Brief an die Eltern Babeuf nicht allzu deutlich aus dem Hintergrund hervortreten lassen.46 Eine Ver––––––––– 42 Tarnung durch Abstraktion ist ein raffiniertes Verfahren. Um es sich klar zu machen,
43 44 45 46
könnten wir diese Konkretion probieren: »Babeuf ist übersetzt in die Sprache Fichtes«. Nur wer sich auf die ›Rückübersetzung‹ versteht, wird erfassen, was eigentlich gemeint ist. Briefwechsel, S. 35. Vgl. Von Babeuf bis Blanqui (s. Anm. 22), Bd. 2, S. 78 (Babeuf) und S. 89 (Buonarroti). Briefwechsel, S. 36. Genauer: vor dem strengen Blick des Vaters. Der Brief als Ganzes hat defensiven Charakter (Entkräftung einer Vorhaltung). Die meisten seiner Briefe an die Eltern sind von Taktik bestimmt und durchzogen. Gelegentlich übertreibt der Briefschreiber diese Adressatensteuerung. Ein Gipfel ist der Brief vom 5. August 1834. Wenige Tage nach der Verhaftung Minnigerodes schreibt Büchner so (muß er so schreiben), als habe er mit der Sache Hessischer Landbote nicht das Geringste zu tun. ›So weit, so gut.‹ Dann aber lädt er den Brief mit gespielter Entrüstung auf, und diese falsche Tonart übertreibt er dermaßen, daß es zu satirischen Umkippungen kommt. Ich habe wenig Zweifel, daß der Vater ihn durchschaute. Das hätte der Briefschreiber (vielleicht) vermeiden können, wenn er sich in einer so gefährlichen Situation auf die Kunst des Rückzugs beschränkt hätte (statt, nervenstark, noch ein wenig zu ›schrift-
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wechslung »Babeuf«/»Helvétius« durch den Adressaten käme dem Briefschreiber nur gelegen. Noch eine Bemerkung zu der vorsichtigen Einschränkung durch das Wörtchen »wohl«. Beunruhigt Büchner ein Verdacht, Gleichheitsforderungen, die über eine soziale Gleichheit (Abschaffung der Klassen) hinausgingen, könnten sich dem Absurden nähern? 4. Ein Grundsatz Babeufs und sein Nachhall im Lenz Im Lenz findet sich ein Satz über »Gleichheit«, der sich (so meine These) auf den Fundamentalsatz Babeufs bezieht: »Gütergemeinschaft« stehe auf physiologischem Grund. Den Gleichheitskommunismus begründet Babeuf (und, ihm folgend, Buonarroti) mit den gleichen Bedürfnissen und gleichartigen Empfindungen aller Menschen. Buonarroti berichtet, die Lehre Babeufs sei gewesen, die Menschen hätten alle die gleichen Organe, gleiche Bedürfnisse und gleichartige Empfindungen; und aus dieser elementaren Gleichheit leite sich ab: Es müsse die soziale Gleichheit hergestellt werden, und daraus ergebe sich die Forderung nach »Gleichheit der Güter« (»Gütergemeinschaft«, »communauté des biens«).47 Das ist die physische Begründung eines Rechtsanspruchs. Und auf diesem Fundament von Gleichheit kann und wird auch der »absolute Rechtsgrundsatz« Büchners stehen und, darin eingeschlossen, das erste aller Menschenrechte: nicht hungern zu müssen. Von dieser physischen Grundlegung der Gleichheit finde ich einen Nachhall im Kunstgespräch des Lenz, und zwar in dem Satz: »die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich« (Lenz zu Kaufmann)48
Das Wort »Ader« bedeutet hier nicht Blutgefäß, sondern Veranlagung, Begabung (wie ein Geschenk, das man von der Natur mitbekommen hat, z. B. eine musikalische Ader). Auf dieser Gleichheit der »Gefühlsader«, ––––––––– stellern‹). Siehe auch Thomas Michael Mayer: ›Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein ...‹. Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern. In: GBJb 2 (1982), S. 249– 280. 47 Von Babeuf bis Blanqui (s. Anm. 9), Bd. 2, S. 90, 92, 94. 48 MBA 5, S. 37. In dem einschränkenden »fast« sehe ich ein Indiz für den ZitatCharakter dieser Aussage.
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der physisch/psychischen Konstitution, gründet der Anspruch auf Gleichbehandlung überhaupt.49 Außerhalb der Theorie Babeufs dürfte dieser Satz über »Gleichheit« keinen Anklang finden, sogar paradox erscheinen. Wer in der Lektüre des Lenz zu diesem Punkt kommt und von dem theoretischen Hintergrund und Rückhalt einer solchen »Gleichheit« nichts ahnt, wird wohl denken, das sei (leider) ein sehr schwaches Argument in der Selbstverteidigung des Dichters gegen seinen Bedränger Kaufmann. Das genaue Gegenteil ist richtig: Es ist in den Augen Büchners ein besonders starker Punkt. Uns sollte noch die Frage kümmern, wie kommt der Frühkommunist Babeuf in eine Erzählung über den Stürmer und Dränger Lenz, die auf dem Bericht eines Pfarrers basiert? Doch nicht etwa aus assoziativer Zerstreuung des Dichters Büchner, der aneinander montiert bzw. miteinander vermischt, was ihm (hier zum Thema »Gleichheit«) in den Sinn kommt (und auch Anachronismen nicht scheut)? Ich vermute, der Eintrag dieses disparaten Zitats hat den Charakter eines bewußt gesetzten Zeichens.50 Die Montage in die Schutzrede des von Kaufmann attackierten Lenz signalisiert – als ein extremer Gegen-Satz – die radikale Ablehnung, die Büchner der Gesinnung und der ästhetischen Theorie (dem Klassizismus) dieses Verfolgers entgegenbringt.51
V. Der Satz über »ein neues geistiges Leben im Volk« 1. Der Satz Ich werde jetzt, als letztes, einen merkwürdigen Satz besprechen, der auf eine Zukunft ohne Ausbeutung und Unterdrückung hindeutet. Dieser Satz hat mich in der Arbeit an den »Grundsätzen« am meisten beschäftigt. Er steht in dem Brief an Gutzkow vom Juni 1836 und lautet: ––––––––– 49 Auf diese »Gefühlsader« berief sich auch der von ›vornehmen‹ jungen Venezianern
(»Aristokratismus«, jeunesse dorée) bespuckte Jude Shylock, der bei Shakespeare sagen darf (Shakespeare ist ihm nicht gut gesonnen, doch er »sieht« ihn): »ich bin ein Jude, hat nicht ein Jude Augen? [...] Sinne, Neigungen, Leidenschaften? [...] wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? [...] wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?« 50 Siehe die Nachbemerkung über eine Schicht latenter Bedeutungen im »Kunstgespräch« des Lenz. 51 Goethe nannte ihn »Spürhund Gottes«.
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Man müsse »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im V o l k suchen«.52
Der Satz ist ziemlich rätselhaft, jedenfalls schwer zu verstehen und, soviel ich weiß, noch unerklärt. Erklären werd’ ich ihn nicht können, aber ich hätte eine Idee, wie er aufzuhellen ist. Und das will ich jetzt versuchen. Der Satz hat eine leicht enthusiastische Färbung, scheint es. Er sticht in der Tonlage ab von der sachnahen Prosa des Klartextschreibers. Handelt es sich etwa um ein Element von Brief-Rhetorik, um eine eindrucksvolle Wortkombination, die man als Leser goutieren könnte, auch ohne das Nähere zu verstehen? – Das schließe ich völlig aus. Bestimmt hat der Satz nicht einen Sinn, den etwa Jakob Grimm mit einem solchen Ausdruck verbinden würde, einen romantisch-mystischen (»Volksgeist«). Ein »neues geistiges Leben im Volk« – was kann damit gemeint sein, was könnte man sich reell darunter vorstellen? Ein »neues geistiges Leben«: Es handelt sich um »Bewußtsein«, »geistig« hier nicht in der Bedeutung »intellektuelle Leistung«, sondern in der Bedeutung »Gesinnung«, »Bewußtsein« (in einem politischen Sinn des Wortes), »Bewußtheit« (verwandt mit französisch »le moral«: Mut; »les forces morales«: die inneren Kräfte; »remonter le moral«: den Mut neu beleben). »Bildung«: Es bildet sich erst heran (Tendenz ansteigend), noch im Entstehen begriffen, Anfänge von »Bewußtsein«, zumeist unscheinbar – aber da ist es, es existiert und regt sich (»Leben«). Der Satz richtet den Blick auf die Zukunft, wie auf einen Lichtstreifen am Horizont. Er steht in dem Brief wie das Fazit aller Perspektiven (was man in der Malerei den »Fluchtpunkt« nennt). Dieser Fluchtpunkt ist die Hoffnung auf einen Anstieg des Bewußtseins der Niedergehaltenen. 2. »Vorschein« eines neuen Bewußtseins Dieses »neue geistige Leben im Volk«, die Anzeichen eines neuen Bewußtseins, müssen »gesucht« werden: können also nicht offenkundig sein und nicht in die Augen springen. Sie sind schwer wahrzunehmen, (fast) verborgen, unscheinbar.53 – Doch »transzendent« sind sie nicht: Denn in ––––––––– 52 Briefwechsel, S. 103. 53 »Unscheinbar« natürlich nicht in dem Sinn: »Damit hat es wenig auf sich«. Im Gegen-
teil! In der Medizin oder in der Psychoanalyse wissen alle, die überhaupt etwas von
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einem Jenseits könnte nicht »gesucht« werden. Und was hier gesucht wird, muß zu finden sein, und zwar »im Volk«. Es muß also schon da sein, wenn auch erst in schwachen Spuren, kaum sichtbar, meist ungesehen, aber wirklich und nicht bloß erträumt. Solche fast unsichtbare Vorankündigungen des Kommenden benenne ich mit »Vorschein« im Sinne Blochs. Was »Vorschein« eines neuen Bewußtseins ist, kann man sich am besten per Kontrast klarmachen, indem man das Unscheinbare konfrontiert mit einem spektakulären Aufschwung eines kollektiven Bewußtseins, z. B. mit den grandes journées der Französischen Revolution oder mit dem September 1792 in Paris, als über 10.000 Freiwillige, viele ohne Gewehre, nur mit Piken bewaffnet, und viele barfuß, an die Front zogen, um die Revolution gegen die Interventionstruppen zu verteidigen. Die Waffenschmiede hatten Werkstätten auf offenen Plätzen aufgeschlagen, und vor diesen Werkstätten bildeten sich lange Schlangen. Einen solchen Sprung im Massenbewußtsein – oder ein solches »neues geistiges Leben im Volk« – könnte niemand übersehen. Den diskreten »Vorschein« dagegen übersieht man leichter als leicht. Seine Anzeichen, das liegt in der Natur der Sache, sind schwer aufzufinden. Man könnte sie mit Blinklichtern vergleichen: nur schwach leuchtend, flüchtig, schnell wieder verlöschend. Man muß einen »Blick« und Interesse dafür haben. Ein Bewußtsein, das an den Status quo angeschraubt ist, wird davon nie etwas bemerken. Aber auch ein antizipierendes Bewußtsein, das offen ist für das Mögliche, nicht Realisierte, wird vieles übersehen. Sogar ein guter Stern müßte uns leuchten, denn wie oft haben wir die endlich gefundene Stelle schon überlesen! Und wie viele dieser Textsignale werden einem nie aufgehen? Weitaus die meisten, das ist sicher.
––––––––– der Sache verstehen, wie unscheinbarste Symptome diagnostisch von größter Bedeutung sind. Ganz dasselbe gilt, wie ich überzeugt bin, in der Philologie (wenn das auch weniger bekannt ist).
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3. »Vorschein« in einer Szene des Woyzeck Um die eine oder andere Spur eines neuen Bewußtseins im Werk Büchners zu entdecken, müssen wir die Dichtungen nach Dantons Tod durchforschen. Im Unterschied zur frontalen, demonstrativen Darstellungstechnik des Danton ist für Lenz und mehr noch für Woyzeck eine Technik indirekter Mitteilung, der Winke und Textsignale kennzeichnend. Solche Sublimierung der Kunstmittel wird der inneren Logik, der Entwicklung einer dichterischen Arbeit entsprechen (und ist überhaupt für große Dichtung charakteristisch). Bei Büchner halte ich sie speziell für eine Frucht seines Shakespeare-Studiums. Weil »Vorschein« mystisch klingt, möchte ich den Vorschein eines neuen Bewußtseins bzw. »eines neuen geistigen Lebens im Volk« an einem Fall nachweisen, den wir uns alle gleicherweise vor Augen bringen können. Es ist die Szene H4,17 im Woyzeck. Das ist die Situation: Woyzeck wird von »Stimmen« (psychotischen Schüben) gejagt, die ihn auffordern, Marie zu erstechen. Er hat schon jetzt, vor der Tat, mit dem Leben abgeschlossen.54 »WOYZECK. Das Kamisolchen Andres, ist nit zur Montour, du kannst’s brauchen Andres.«55
Er vermacht dem Kameraden Andres seinen einzigen Besitz, ein »Kamisolchen«, das ist ein Unterhemd.56 – Ein armseligeres Testament wird man in der gesamten Literatur nicht auffinden. Und was hat das zu bedeuten? Einer, der dem Tod entgegengeht, ist noch im Stande, seine Gedanken auf einen Anderen zu richten.57 Armselig ist dieser Besitz, doch nicht armselig ist die Gesinnung, in der er
––––––––– 54 Im Bewußtsein dessen, was ihm bevorsteht, handelt er schon wie ein Sterbender.
Deshalb kann er schon vor der Tat seine Habe weggeben.
55 MBA 7.2, S. 32. 56 »Kamisol« = Unterjacke (mit Knöpfen), heute am ehesten ein warmes Unterhemd;
MBA 7.2, S. 528: »kurzes Unterkleid«, »Weste«. Dieses Kleidungsstück gehört nicht zu der vom Militär gestellten Uniform (Montur). Woyzeck hat es erworben (sich abgespart) für kalte Tage. Darauf bezieht sich auch das »brauchen können« für Andres. 57 Man muß sich besinnen, was es heißen mag, in einer solchen Situation die IchGrenze zu durchbrechen!
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hinterlassen wird.58 Es ist ein Akt der Solidarität und Brüderlichkeit,59 und in dieser Solidarität der »Vorschein« eines neuen Bewußtseins: so, als würde ein Bezirk betreten jenseits des Lebens, das Woyzeck und Andres führen mußten. Der »Vorschein« in dem ärmlichen Geschenk ist schwer wahrzunehmen, aber wenn man ihn gewahr wird, von tiefer Wirkung. Wenn ich mir die Testamentsszene im Woyzeck vor Augen halte, dann ahne ich doch, was der rätselhafte Satz über »ein neues geistiges Leben im Volk« bedeuten könnte. Blicken wir am Schluß noch einmal weit zurück: auf jene Taglöhner, die sich weigerten, über einen der Verteiler des Hessischen Landboten auszusagen. Auch in dieser Verweigerung werden wir den »Vorschein« eines »neuen geistigen Lebens im Volk« erkennen.
Nachbemerkung über eine Schicht latenter Bedeutungen im »Kunstgespräch« des Lenz Die ›Diskussion‹ über zwei Konzeptionen von Literatur und Kunst zwischen Lenz und Kaufmann hat einen Untergrund. Unter der Oberfläche kann man Kaufmanns Machtausübung und Aggression und die Abwehrversuche des bedrängten Lenz entdecken. Kaufmanns Konzept einer »idealen« Kunst richtet sich gegen eine Dichtung, wie Lenz sie hervorbringt und ist ein Angriff auf die Existenzberechtigung des Dichters Lenz überhaupt. Im Anschluß an seine Hinweise auf den Apoll von Belvedere und Raffaels Madonnen nimmt Kaufmann Lenz »beiseite« und eröffnet ihm: Vorgesehen sei eine Rückführung zum Vater (in den Bezirk äußerster Repression, dem Lenz entfliehen mußte, um überhaupt atmen zu können). Mit anderen Worten heißt das: Deine Existenz als Dichter mußt du aufgeben und dich in das fügen, was dein Vater über dich bestimmt hat (Pfarrgehilfe oder Kinderlehrer werden). Die Flucht zu ––––––––– 58 Wem etwa der geringe Geldwert dieses Nachlasses nicht aus dem Sinn kommt, der
sieht nichts. Der Wert haftet nicht am Stoff, an den Textilfasern, sondern erwächst aus der Gesinnung des Spenders (und auch der des Empfängers). 59 Es ist eine Fürsorge über das Grab hinaus, wie in dem noch größeren Fall, der Szene H3,2.
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Oberlin war der letzte Rettungsversuch dieses Verlorenen. Welche Folgen die drohende Vertreibung aus der Zufluchtsstätte hat, schildert der Text: Depression, Verzweiflung, Selbstmordversuche, Eintritt in das Endstadium einer Psychose. Wenn Lenz gegen Kaufmann von dem »Geringsten« und seinen »Zuckungen« spricht, dann hat das nicht nur einen theoretischen Sinn (welchen Sujets eine realistische Kunst sich zuwenden soll), es hat existentielle Bedeutung: Lenz selbst ist einer dieser »Geringsten«, mittellos, ein seelisch Schwerkranker, kaum überlebensfähig. Auch ihm sollte eine »Möglichkeit des Daseins« eingeräumt werden, auch sein »eigenthümliches Wesen« sollte erhalten bleiben dürfen (und nicht nach den Vorstellungen des Vaters, unter Beihilfe Kaufmanns, planiert werden). Man kann schon begreifen, wie dieser Verstoßene auf »Gleichheit« ›verfallen‹ konnte und woran »Gefühlsader« appelliert (vergeblich). Im Munde des schwer Bedrängten ist »Gleichheit« eine indirekte Bitte um Verschonung. – Das, vermute ich, ist der latente Sinn, den Lenz mit der merkwürdigen Aussage über eine »Gefühlsader«, die »in fast allen Menschen gleich« sei, verbindet. Aus der Situation, in der Lenz sich befindet, kann man sich erklären (psychologisch ableiten), wie er auf eine Gleichheit der Gefühlsader kommen konnte. Nimmt man jedoch den Satz so, wie er dasteht (der gemeinte Sinn aus der Perspektive der Leser), scheint er einfach unhaltbar: Von einer Gleichheit der Gefühlsader (der psychischen Konstitution) kann keine Rede sein; vielmehr bestehen die größten Unterschiede, wie tägliche Erfahrung lehrt und uns gerade wieder der Anblick Lenz/Kaufmann vor Augen führt. Und darin liegt ein Anstoß und ein Beweggrund, einen »verborgenen Sinn« in Erwägung zu ziehen. Wenn der direkte und am Tag liegende Sinn unhaltbar ist, worauf könnte sich dann die behauptete Gleichheit fast aller Menschen beziehten? Büchner kann in dem Satz einen Sinn hinterlegt haben, der das von Lenz Gemeinte noch überschreitet. Für Büchner hat »Gleichheit« ja unabweisbar eine soziale Perspektive. Auf sie beziehen sich seine politischen »Grundsätze« und der »absolute Rechtsgrundsatz«. Diese Gleichheit steht der Babeufs/Buonarrotis nahe (égalité de fait, réelle). Durch das Studium von Texten Babeufs/Buonarrotis kann man erkennen, daß eine enge Beziehung besteht zwischen (a) der bei fast allen 74
Menschen gleichen Gefühlsader im Lenz und (b) den gleichartigen Empfindungen aller Menschen bei Babeuf/Buonarroti (s. o. S. 68), dem Fundamentalsatz, der ihre Forderung sozialer Gleichheit begründet. Diese frappante Übereinstimmung kann ich nicht für einen »Zufall« halten. Nimmt man diese Beziehung wahr, dann wird der Blick über das von Lenz Gemeinte hinweg auf ein entferntes Ziel gelenkt, auf die tatsächliche, die soziale Gleichheit, die Büchner, nach dem Zeugnis Mitverschworener, als das Ziel vorgeschwebt hat (»Gütergemeinschaft« – das Kennwort der Babouvisten). Wir können davon ausgehen (ohne großes Risiko), daß auch dem Dichter Büchner das Ziel soziale Gleichheit (eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und Ausbeutung) immer vor Augen geblieben ist, gerade so, wie seine Parteinahme für die »Geringsten« für immer Bestand hatte. Und wenn er diese reale Gleichheit nicht gelöscht und ›vergessen‹ hat (das schließe ich aus), dann müssen sich in seinen Dichtungen Spuren einer solchen Perspektive finden (vermutlich schwer lesbare). Solche Zeichen oder Signale werden uns kaum auf den ersten Blick auffallen, und noch weniger kann das, worauf sie diskret hindeuten,60 offenkundig sein. Latente Bedeutungen können zwar aufgehellt, aber nur sehr selten zur »Evidenz« gebracht werden.61 Eines dieser Zeichen sehe ich in dem merkwürdigen Satz im Lenz, den ich nun schon so oft zitiert habe; ein anderes in dem ärmlichen Requisit in der Testamentsszene des Woyzeck.
––––––––– 60 Besonders Autoren, die unter konspirativen Bedingungen schreiben, bilden die
Techniken indirekter Mitteilung aus. Nicht nur Heine hat es darin zur Meisterschaft gebracht. 61 Und kann man sich denn auf »Evidenz« verlassen? Was uns als »evident« erscheint, ist subjektiv sehr verschieden und kein zuverlässiges Kriterium des Wahren und Richtigen. Deshalb hat der Abbé Galiani etwas übertreibend, aber doch wohl zu Recht gesagt: »Die Evidenz ist eine Betrügerin, die überall Schulden hat.« (Die französischen Moralisten. Übers. u. hrsg. v. Fritz Schalk. Bremen 1963. Bd. 2, S. 108.)
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Zu den Textanteilen Büchners und Weidigs im Hessischen Landboten von Burghard Dedner (Marburg) Vorbemerkung 1. Einleitung 2. Annahmen zur Textverteilung 2.1. Entstehungsgeschichte im Überblick 2.2. August Becker über Weidigs Eingriffe in den Landboten 2.3. Zu Büchners Landboten-Schluß 2.4. Aussagen und Annahmen zur Textverteilung im Überblick 3. Zur Delegitimierung der deutschen Fürsten 3.1. »Regierung […] von Gott« (Landbote 59,17f.) 3.2. Das Recht auf Kaiserwahl und der Hochverrat der Fürsten (Landbote 59,19–60,3) 3.3. Meineidige Könige (Landbote 60,23; 61,17f.) 4. Verfassungsfragen und »Menschenrechte« im historischen Exkurs (Landbote 60,5–32) 4.1. Ablehnung der Erblichkeit von Herrschaft oder Legitimität durch Konstitution 4.2. Zensusfreies Wahlrecht und Angst vor Pöbelherrschaft 4.3. Die Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution 5. Von den Revolutionskriegen 1792/93 zur Julirevolution (Landbote 60,33–61,21) 5.1. Die Revolutionskriege 1792/93 5.2. Von »dem Gotte […], der die Menschen frei und gleich geschaffen« (Landbote 61,15f.) 5.3. Geschichte als pädagogisches Handeln Gottes (Landbote 61,10–21) 6. Textkritische Wortschatzanalysen? Sprache aus der Tradition der »Gießener Schwarzen« 7. Versuch eines Fazits
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Vorbemerkung Am 16. Juni 2010 habe ich den vorliegenden Aufsatz Mitarbeitern der Forschungsstelle Georg Büchner und Arbeitsstelle Büchner-Ausgabe sowie den Mitgliedern des Vorstandes der Georg Büchner Gesellschaft mit der Bitte um Lektüre und kritische Kommentare zugeschickt. In der Weiterarbeit an dem Text habe ich auf diese punktuellen Kommentare reagiert, der Gang der Argumentation und deren Ergebnisse haben sich dadurch nicht verändert. Besonders heikel erschien mir die Frage, wie ich mich im Ton gegenüber Thomas Michael Mayer verhalten sollte, dessen Thesen zum Landboten ich hier vor allem überprüfe. Ich wußte, daß Herr Mayer schwer erkrankt, jedoch anscheinend auf dem Wege der Besserung war, und es war mir klar, daß dieser Aufsatz ihn beunruhigen könnte. Andererseits war der Aufsatz geradezu speziell an ihn gerichtet, denn ich konnte annehmen, daß er sich wie kein anderer bemühen würde, meine Argumente zu widerlegen und damit der LandbotenForschung voranzuhelfen. Deshalb schrieb ich in einem der Begleitbriefe zu meinem Aufsatz: »Im Augenblick geht es mir um die Konsistenz der Argumente und den Ton gegenüber Mayer (respektvoll, aber natürlich nicht nachgiebig).« Meine Sorgen waren überflüssig und meine Hoffnungen auf einen vielleicht gewinnbringenden Dialog vergeblich. Wie ich am 20. Juni erfuhr, starb Thomas Michael Mayer an eben dem Tag, an dem ich diesen Aufsatz verschickte. Es hätte nahegelegen, den Text der Tatsache anzupassen, daß ich mich in ihm mit einem Verstorbenen und nicht mehr mit einem potentiellen Dialogpartner oder einem Gegner auseinandersetze. Ich habe auf derartige Änderungen verzichtet, da ich diesen Aufsatz trotz aller kritischen Argumente tatsächlich als eine hommage an den Büchnerforscher und Editor Thomas Michael Mayer verstanden habe. Ich hoffe, auch die Leser verstehen ihn in diesem Sinne.
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1. Einleitung1 Die Forschungsstelle Georg Büchner hat für die Reihe der Marburger Büchner-Ausgabe die Arbeit an dem Band Der Hessische Landbote begonnen und muß in diesem Zusammenhang die Frage nach den »Textanteilen« Büchners und Weidigs wieder aufgreifen – eine Frage mit einer langen Geschichte. Sie beschäftigte schon die Richter im hessischen Hochverratsprozeß nach 1835, dann Friedrich Nöllner, den offiziösen Historiker der gegen Friedrich Ludwig Weidig geführten Untersuchung, der Auszüge aus dem Landboten zusammenstellte, die seines Erachtens Weidig zum Autor hatten;2 die Debatte wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fortgeführt von den Herausgebern Karl Emil Franzos,3 Eduard David4 und vor allem Fritz Bergemann,5 dessen textkrititische Überlegungen noch immer zu berücksichtigen sind. Eigentlicher Ausgangspunkt unserer Untersuchungen ist jedoch das Kapitel »Zu den ––––––––– 1
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Zur Zitierweise: Um die Fußnoten überschaubar zu halten, zitiere ich folgende Autoren mit Siglen unmittelbar im Text: unsigliert; bloße Seiten- und Zeilenangabe (normal und petit) = Der Hessische Landbote nach P II, S. 53–66; Mayer = Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298; Nöllner = Friedrich Nöllner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig. Darmstadt: Leske 1844. Martin Schäffer, Richter am Hofgericht zu Gießen und Hauptreferent im Hochverratsprozeß 1834–1839, veröffentlichte den von ihm verfaßten Hauptbericht, die Grundlage für die dann gefällten Urteile, als: Actenmäßige Darstellung der im Großherzogthum Hessen in den Jahren 1832 bis 1835 stattgehabten hochverrätherischen […] Unternehmungen«. Darmstadt: Heyer u. Jonghaus 1839. Er gab hier erstmals eine Blütenlese besonders bemerkenswerter Stellen aus dem Landboten. Friedrich Nöllner (s. Anm. 1), S. 106f. mit Anm. 26 erweiterte diese Liste und fügte u. a. die »darin vorkommenden Bibelstellen« hinzu, da diese »nach den Aussagen mehrerer Mitschuldigen« von Weidig stammen und da sie »zur Charakteristik dieses Mannes beitragen«. Karl Emil Franzos (Hrsg.): Georg Büchner's Sämmtliche Werke. Erste kritische GesammtAusgabe. Frankfurt a. M.: Sauerländer 1879, S. 285f. Eduard David (Hrsg.): Der hessische Landbote. Von Georg Büchner. 2. Aufl. München: Ernst 1896. David edierte erstmals die Textverteilung; er gab Büchners Textanteile in normaler, Weidigs in gotischer Frakturschrift; Grundlage der Unterscheidung sind im wesentlichen Beckers Aussagen in Nöllner (s. Anm. 1). Fritz Bergemann (Hrsg.): Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Leipzig: Insel 1922 (dies im folgenden der Referenztext). Bergemann gibt hier und in den folgenden Auflagen 1926, 1940, 1949 u. ff. Büchners Textanteile recte, Weidigs kursiv. Vgl. auch die Einzelausgabe Der Hessische Landbote. Mit einer historisch-biographischen Einführung. Leipzig: Volk und Buch 1947.
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Textanteilen Büchners und Weidigs am ›Hessischen Landboten‹« aus Thomas Michael Mayers Abhandlung Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie von 1979,6 die nicht nur die LandbotenForschung, sondern zum Teil die Büchner-Forschung überhaupt auf ein neues wissenschaftliches Fundament hob.7 Mayers Argumentation bestach seinerzeit auf zwei Ebenen. Ihm gelang aufgrund akribischer archivgestützter Recherchen zu den Schriften Weidigs und Büchners, zu den zeitgenössischen französischen Oppositionellen und zu den Untersuchungsakten im Hochverratsprozeß 1835– 1839 erstmals eine Detailanalyse wichtiger Elemente des Hessischen Landboten, und er zeichnete aufgrund dieser Analyse ein eindeutig konturiertes Bild von Büchner als einem materialistisch argumentierenden, frühkommunistischen Sozialrevolutionär. Die Detailanalysen und das Gesamtbild führten ihn zu der These, die Autorschaft Büchners ende und die Weidigs beginne im Landboten an einem Punkt, wo man einen inhaltlichen Bruch in der Flugschrift wahrnehmen kann. Diese führt im ersten Teil am Leitfaden von G. W. J. Wagners Statistisch-topographisch-historischer Beschreibung des Großherzogthums Hessen8 und anhand der einzelnen Etatposten des Großherzogtums vor, wie das Geld der Bauern und ländlichen Handwerker in die Hauptstadt fließt, dort das Wohlleben der Reichen sichert und zugleich den Ausbeutungs- und Unterdrückungsapparat in Gang hält. Im zweiten Teil wird aus der potentiell sozialrevolutionären Argumentation eine politische: die Flugschrift erklärt das zugrundeliegende politische System für unrechtmäßig, erläutert am Beispiel der neueren französischen Geschichte Möglichkeiten politischen Handelns, ruft zum Widerstand auf und sagt das baldige Ende der deutschen Fürstenherrschaft voraus. Gegen Ende rekurriert sie in zunehmendem Maße auf Bibelstellen. Mayers Annahmen zufolge lag dem Offenbacher Setzer für den ersten Teil des Landboten ein Manuskript Büchners bzw. die von August Becker gefertigte Reinschrift mit punktuellen Zusätzen Weidigs ––––––––– 6
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Kurz zusammengefaßt hat Thomas Michael Mayer die Ergebnisse seiner großen Untersuchung im »Nachwort« zur Faksimile-Ausgabe des Hessischen Landboten (s. Anm. 1). So versicherte Hans Mayer einmal gesprächsweise, seine zuvor noch immer als Standard geltende Büchner-Darstellung sei mit Thomas Michael Mayers Forschungen natürlich obsolet geworden. 4 Bde. Darmstadt: Leske 1829–1831.
vor, für den zweiten Teil aber ein Manuskript Weidigs, in das dieser nur einzelne Sätze und Wendungen Büchners übernommen hatte (Mayer 256f.). Mayers textkritische Untersuchungen summierten sich zu einem bestimmten Bild des Revolutionärs Georg Büchner, das sich ebenfalls auf eine lange Tradition zurückführen läßt. Bereits Ludwig Büchner hatte 1850 in den Nachgelassenen Schriften9 die Frage nach dem »p o l i t i s c h e n Charakter« Büchners gestellt und geantwortet: Büchner war »noch mehr S o c i a l i s t, als R e p u b l i k a n e r«. Fritz Bergemann wendete diese Auskunft auf die Frage der Textverteilung an, indem er z. B. eine gegen »Tyrann[en]« (65,25) gerichtete Stelle Weidig zuwies mit der Begründung: »Gegen die Tyrannen kämpft Weidig, Büchner gegen den Mammon«.10 Mit anderen, sehr viel differenzierteren Argumenten kam Mayer zu einem ähnlichen Schluß. Diejenigen Textstellen im Landboten, in denen es um den politisch-revolutionären Kampf für eine Republik geht, stammen seinen Untersuchungen zufolge von Weidig, diejenigen, in denen es um die »materiellen Interessen« der Bauern geht, dagegen von Büchner. Der folgende Aufsatz – dies sei hier vorweggenommen – wird diese klare Trennung nicht bestätigen. Zu klären ist dies alles freilich nur, indem man sich durch die Details hindurcharbeitet, und da dies ein aufwendiges Verfahren ist, muß ich mich hier auf Beispiele aus dem Textzentrum beschränken. Der Gang und die Prinzipien dieser detaillierten Analyse seien kurz erläutert. Ich beginne in Kapitel 2 mit dem selbstverständlichen historischen Fundament, nämlich mit einer kurzen Rekapitulation der Entstehungsgeschichte des Hessischen Landboten im Mit- und Gegeneinander der Verfasser Büchner und Weidig und mit einer etwas ausführlicheren Analyse der Aussage August Beckers über Weidigs Beitrag zum Landboten. Becker ist unser einziger Augenzeuge; ich wüsste nicht, aus welchen taktischen Erwägungen er in seinen Aussagen zur Textverteilung von der Wahrheit hätte abweichen sollen, und deshalb muß man meines Erachtens philologisch zwingende Gründe vorweisen, will man Becker widersprechen. Um diese philologischen Gründe geht es in den folgenden Kapiteln. ––––––––– 9 Ludwig Büchner (Hrsg.): Georg Büchner. Nachgelassene Schriften. Frankfurt a. M.: Sauer-
länder 1850, S. 48.
10 Bergemann 1922 (s. Anm. 5), S. 738.
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Ich werde viele der von Mayer bereits genutzten Stellen aus Weidigs und Büchners Werk und aus den Prozeßpublikationen und -akten nochmals heranziehen, allerdings gelegentlich durch Kontextliteratur erweitern, wobei ich von jenem Zugewinn an Information profitiere, über den wir alle aufgrund der neuen elektronischen Informationsquellen verfügen. Auch methodisch folge ich dem von Mayer entwickelten und exzellent gehandhabten Verfahren. Ich will dieses Verfahren in aller Kürze systematisieren und dabei zugleich die für die Beurteilung der Textanteile geltenden Argumentationsregeln nennen. Die Textelemente unterscheide ich nach folgendem Raster: a) belegt bei/nicht belegt bei; b) topisch; c) konform mit; d) konträr zu. Das sei kurz so erklärt: a) Den Nachweis, daß ein bestimmter Begriff im Landboten auch sonst bei einem der beiden Autoren belegt ist, bei dem anderen nicht, sollten wir in jedem Falle festhalten; ob er argumentativ von Bedeutung ist, müssen wir jedoch von Fall zu Fall entscheiden (s. u. Kap. 5). b) Der Nachweis »belegt bei« ist von geringem argumentativen Gewicht, wenn der Begriff topischen Charakter hat, also häufig in der zeitgenössischen Literatur belegt ist (s. u. Kap. 3). c) Gegen Null tendiert das argumentative Gewicht von Begriffen, die im Landboten sowohl im ersten von Büchner als auch in den Weidig zugeschriebenen späteren Teilen auftauchen. Zum einen bewegt sich die Argumentation hier in einem besonders engen Zirkel, da sie das zu Bestimmende, die Textzuschreibung, schon als gewiß voraussetzen muß. Und zum andern gibt es für dieses mehrfache Auftauchen eines Begriffes drei mögliche Gründe: den Begriff haben entweder beide Autoren unabhängig voneinander gebraucht, oder Weidig hat ihn zunächst im zweiten Teil gebraucht und dann nachträglich in den ersten implantiert, oder aber Büchner hat ihn im ersten Teil gebraucht, und Weidig hat ihn in den zweiten Teil übernommen. d) Größeres argumentatives Gewicht als Begriffe haben Argumente, die einer der Autoren nachweislich teilt, die also »büchner- bzw. weidigkonform« sind, während sie der andere nachweislich ablehnt, so daß sie also zugleich »büchner- bzw. weidigkonträr« sind (s. u. Kap. 4). Daß diese abstrakten und zunächst vielleicht folgenlos scheinenden Unterscheidungen Auswirkungen auf die Textkritik haben, läßt sich kurz am Beispiel der Einschätzung biblischer Begriffe erläutern. Vor allem für 82
Bergemann galt Biblisches im Landboten für »weidigkonform« und »büchnerkonträr«. Nach meinem Schema sind Rekurse auf die Bibel in erster Linie »topisch«, also nicht aussagekräftig, und »büchnerkonträr« nur dann, wenn sich ein Gedanke mit ihnen verbindet, den Büchner nicht teilte.
2. Annahmen zur Textverteilung 2.1. Entstehungsgeschichte im Überblick Der Hessische Landbote ist – worauf Thomas Michael Mayer (Mayer 272) dezidiert hingewiesen hat – nicht in der Kooperation zweier gleichberechtigter Autoren entstanden: vielmehr fertigte Georg Büchner einen Entwurf, und der Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig machte daraus die endgültige Fassung. In groben Zügen läßt sich die Entstehungsgeschichte folgendermaßen zusammenfassen: Büchner verfaßte den Landboten im März 1834,11 nachdem er zuvor ein Flugschriftenprojekt mit Weidig vereinbart hatte. Eine der Hauptquellen, Wagners bereits genannte Statistische Beschreibung, lieh er zu diesem Zweck bei Weidig aus. Büchners Manuskript – genauer wohl: die von Büchners Freund August Becker hieraus abgeleitete Reinschrift – wurde in der von Büchner gegründeten Gießener Sektion der »Gesellschaft der Menschenrechte« vorgelesen und diskutiert. Ende April oder Anfang Mai gelangte die Reinschrift wie vereinbart zu Weidig,12 der über Beziehungen zu dem Offenbacher Drucker Carl Preller und den für die Verteilung nötigen Unterstützerkreis verfügte. Weidig erklärte, sie sei brauchbar, aber veränderungsbedürftig. Auf konspirativen Informationsreisen nach Gießen und Marburg sowie ins Rhein-Main-Gebiet besprach er zwischen Mitte Mai und Ende Juni das künftige Vorgehen mit be––––––––– 11 Hauschild 1993, S. 314, datiert die Entstehung – mit allerdings nicht zwingenden
Gründen – auf »Januar/Februar« 1834.
12 So August Becker (Nöllner [s. Anm. 1], S. 99): »Georg B ü c h n e r hatte nämlich um
die Zeit der Gründung jenes Vereines nach seinen oben angedeuteten Grundsätzen eine Flugschrift abgefaßt, welche wenigstens einem Theile der Gesellschaftsmitglieder schon im Entwurfe bekannt wurde und von B ü c h n e r selbst in Begleitung des A u g u s t B e c k e r, der das B ü c h n e r i s c h e Manuscript ins Reine geschrieben hatte, nach Butzbach zu Dr. W e i d i g gebracht worden war«. Dieselbe Information leicht gekürzt bereits in Martin Schäffer (s. Anm. 2), S. 50. Ich zitiere im folgenden in der Regel nach Nöllners Wiederabdruck.
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freundeten Oppositionellen und kündigte dabei auch das baldige Erscheinen einer Flugschrift, also des Landboten, als Beginn einer neuen Phase der oppositionellen Agitation an. Vermutlich nach dieser Reise, jedenfalls aber vor Ende Juni, veränderte er das ihm vorliegende Manuskript.13 Bei einem von Weidig einberufenen Treffen auf der Badenburg, einem bei Gießen und nahe der Grenze zu Kurhessen gelegenen Ausflugsort, besprach Weidig am 3. Juli 1834 mit Marburger und Gießener Oppositionellen die bevorstehenden Aktionen und informierte sie dabei auch über die Flugschrift. In den Tagen vom 5. bis 9. Juli 1834 brachten die Studenten Georg Büchner und Jakob Friedrich Schütz das von Weidig redigierte Manuskript von Butzbach zu dem Drucker Carl Preller nach Offenbach.
2.2. August Becker über Weidigs Eingriffe in den Landboten Es ist demnach klar, daß Büchner mit der Übergabe die Kontrolle über das Manuskript verlor, und denkbar – obwohl nicht überliefert – ist allenfalls, daß er vor der Überbringung nach Offenbach noch letzte Veränderungen vornahm (so Mayer 236f.). Durch August Becker, also den am besten informierten Zeugen, wissen wir, daß Weidig den Text weitgehend verändert hatte. Beckers wichtigste Aussagen sind in drei Formen überliefert: a) als Referat in Martin Schäffers Actenmäßiger Darstellung14 und von dort übernommen in Nöllner 99f.; b) als protokollierte Wiedergabe einer Aussage Beckers vom [4. Juli] 1837 in Nöllner 420–424;15 ––––––––– 13 Das Datum ergibt sich aus der Aussage von Karl Braubach (Verhörprotokoll; Darm-
stadt 30. November, 13. und 14. Dezember 1836; zit. n. Mayer 183), er habe »[z]u der Zeit, als bei dem Schreiner Kraus in Butzbach nach der Preße nachgesucht ward, also Ende Juni 1834,« noch einmal das bei ihm versteckte Manuskript der Flugschrift angesehen. 14 Siehe Anm. 2, S. 50. 15 Die entscheidende Aussage ist in Nöllner – im Widerspruch zum Inhalt – auf den 1. September datiert; Poschmanns Konjektur: »4. Juli« (P II, S. 659) scheint mir richtig.
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c) als nicht publizierte, protokollierte Wiedergabe einer Aussage Bekkers vom 24. Oktober 1837.16 Ad a) Schäffers Referat lautet: Die Flugschrift sei zu »Dr. W e i d i g gebracht worden […], welcher sie zwar in dieser ihrer ursprünglichen Gestalt nicht billigte, ihr jedoch, wie B e c k e r angibt, einen gewissen Grad von Beifall nicht versagte, indem er meinte, daß sie, wenn sie v e r ä n d e r t werde, vortreffliche Dienste thun müsse. D i e s e V e r ä n d e r u n g nahm n u n W e i d i g, wie gesagt wird, vor; er gab ihr den V o r b e r i c h t, […] f ü g t e m e i s t d i e B i b e l s t e l l e n b e i, modificirte einzelne Aeußerungen und Sätze, rundete die Schrift durch einen passenden Schluß ab und nannte sie ›H e s s i s c h e r L a n d b o t e‹« (Nöllner 99f.). Ad b) Im Protokoll von Beckers Aussage vom [4. Juli] 1837 heißt es: – Weidig habe »das, was gegen die s. g. l i b e r a l e Partei gesagt war, weggelassen und mit Anderem, was sich bloß auf die Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung bezieht, ersetzt« (Nöllner 423). – Weidig habe »an die Stelle der R e i c h e n, die V o r n e h m e n gesetzt« (ebd.).17 – »Di e b i b l i s c h e n S t e l l e n , s o w i e ü b e r h a u p t d e r S c h l u ß, sind von W e i d i g« (ebd.).18 Ad c) Im Protokoll der Aussage vom 24. Oktober schließlich heißt es: Als Weidig Büchners Entwurf »gelesen hatte, erklärte er, daß die constitutionellen Revolutionärs sich von uns trennen würden, wenn sie die heftigen Invektiven gegen die Reichen läsen, und daß daher diese, sowie auch die Ausfälle gegen die landständische Opposition ausgelassen und durch Anderes ersetzt werden müßten« (zit. n. Mayer 163).
––––––––– 16 Dieses Protokoll gehört zu den von Mayer entdeckten, zuvor unbekannten Archiva-
lien. Es wird im folgenden nach dem Abdruck in Mayer 163 zitiert.
17 Vgl. auch Beckers Aussage (Verhör vom 28. Juli 1837) über Weidigs »Haß gegen die
Vornehmen, den er auch in die Flugschrift Büchner’s hat übergehen lassen« (Nöllner [s. Anm. 1], S. 315). 18 Vgl. auch ebd., S. 423: »Das ursprüngliche Manuscript hätte man allenfalls als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde, betrachten können, nicht so das Letzte«. Wie sich die Aussage »allenfalls […] Predigt gegen den Mammon« mit der Druckfassung und Beckers sonstigen Aussagen verträgt, ist mir unklar.
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Die Zeugnisse stimmen in den wesentlichen Punkten überein; zu fragen ist, mit welcher Sicherheit sie sich auf präzise Stellen im Landboten beziehen lassen. Ich stelle die Frage in dieser Reihenfolge: 1. »modificirte einzelne Aeußerungen und Sätze«; 2. »Invektiven gegen die Reichen«; 3. »Ausfälle gegen die landständische Opposition«; 4. Einfügung der »biblischen Stellen«; 5. Anfügung eines Schlusses. 1. Die nur referierend überlieferte Äußerung: »modificirte einzelne Aeußerungen und Sätze« (Nöllner 99f.) ist in ihrer Reichweite schwer zu beurteilen. Bergemann und Mayer weisen verschiedene kürzere Passagen aus dem ersten Teil des Landboten Weidig zu.19 Ich will diese Zuweisungen hier nicht in Frage stellen, bin aber unsicher, ob die Mehrzahl von ihnen durch Beckers Aussage zu legitimieren ist. 2. Wenn man der Gleichung »vornehm« = ursprünglich »reich« folgt, dann fanden sich die »Invektiven gegen die Reichen« in geballter Menge im ersten Absatz (53,21–54,6) von Büchners Entwurf, unter anderem in Sätzen wie: »Das Leben der Reichen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; […] der Reiche aber geht hinter ihm [dem Bauern] und dem Pflug und treibt ih[n] mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. […] sein [des Bauern] Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Reichen«.
Danach begegneten sie anscheinend nur sporadisch (55,22f. »Reichen und Gelehrten«; 58,28f. »Die hungrigen Mägen aller reichen Herren«; 61,1f. »ein großer Theil der Adligen und Reichen im Lande«). Weidig mag zunächst geplant haben, den ersten Absatz umzuschreiben; wahrscheinlich aber erledigte er das Problem, indem er lediglich »an die Stelle der R e i c h e n, die V o r n e h m e n« setzte. 3. Was mit Ersatz der »Ausfälle gegen die landständische Opposition« (Becker am 24. Oktober) bzw. »gegen die s. g. l i b e r a l e Partei« (Becker vmtl. am 4. Juli) durch die Einfügung von »Anderem, was sich bloß auf die Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung bezieht«, genau gemeint ist, ist umstritten. Zu der genannten »Wirksamkeit« äußert sich der Landbote 62,9–34. Daß in diesem Paragraphen die dann folgenden Sätze 62,34–63,12 auch von Weidig stammen, läßt die Anrede 63,5 »geliebte ––––––––– 19 Siehe unten Anm. 27–30.
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Mitbürger« vermuten, die bei Weidig belegt und vermutlich konträr zu Büchner ist.20 Diese Sätze sowie die dazu passende Fortsetzung sind demnach Weidigs Ersatz für das Getilgte, ebenso entschied auch Bergemann. Dagegen hat Mayer (259) Weidigs ›Ersatz‹ auf den historischen Exkurs zur Französischen Geschichte von 1789 bis 1830 (Landbote 60,5– 61,33) ausgedehnt, und zwar mit folgender Entstehungshypothese: Büchner habe anschließend an 60,4 »Für die Landstände 16,000 Gulden« über die Französische Revolution geschrieben, um den Unterschied zwischen den bedeutenden Parlamenten der Revolutionsgeschichte und den nutzlosen Landständen im Großherzogtum zu demonstrieren. Weidig habe diesen Abschnitt wegen seiner »Ausfälle gegen die landständische Opposition« kassiert und jetzt seinerseits einen historischen Exkurs geschrieben. Diese recht umwegige Erklärung kann sich meines Erachtens nicht auf Beckers Aussage stützen. Dieser sagt nicht, Weidig habe einen historischen Exkurs durch einen anderen ausgetauscht, sondern er sagt, Weidig habe Angriffe auf »die s. g. l i b e r a l e Partei« durch Äußerungen zur »Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung [...] ersetzt«. 4. »Die biblischen Stellen«: von Nöllner bis Bergemann legte man »biblische Stellen« so weit aus, daß man bereits die Genesis-Anspielung in 53,22–26 Weidig zuschrieb. Nun ist spätestens seit Schaubs systematischer Auflistung biblischer Stellen klar,21 daß der Text durchweg so stark mit Bibelanspielungen durchsetzt ist, daß bei diesem Zuschreibungsradikalismus fast der gesamte Landbote von Weidig stammen müßte. Ich beziehe Beckers Aussage deshalb restriktiv auf Stellen, die der Verfasser – vermutlich also Weidig – nach Theologenart mit Verfasser- und Stellennachweis versehen hat. Von Weidig stammen also – in der ersten Hälfte das »Micha«-Zitat 57,29–32, – in der zweiten das »Epheser«-Zitat 64,8–15, das »Jesajas«-Zitat 64,31–33 und das »Ezechiel«-Zitat 65,4–16. Man mag versucht sein, Weidig noch mehr »biblische Stellen« zuzuordnen, sollte sich dabei aber nicht auf Becker berufen. ––––––––– 20 Leuchter und Beleuchter für Hessen oder der Hessen Nothwehr. 5. Blatt; zit. n. Hans-Joachim
Müller (Hrsg.): Friedrich Ludwig Weidig. Gesammelte Schriften. Darmstadt: Roether 1987, S. 103; dort neben »geliebte Freunde« (S. 104). 21 Gerhard Schaub (Hrsg.): Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig. Der Hessische Landbote, Texte Materialien, Kommentar. München, Wien: Hanser 1976, S. 49–64.
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Die Passage 64,16–24 mit einer Attacke auf den Bayernkönig Ludwig I. und einem Zitat von Gottfried August Bürger hat Bergemann schwanken lassen;22 Mayer (251 u. 254f.) weist sie mit überzeugenden Gründen Weidig zu. Von Weidig stammen demnach die Abschnitte 64,5–65,16. 5. »der Schluß«: dieser Begriff hat sich als besonders unpräzise erwiesen. Unter »Schluß« verstand Hans Mayer anscheinend die letzten zwei Absätze des Landboten (66,10–21), Thomas Michael Mayer (229) verstand darunter »fast exakt die ganze letzte Hälfte«, nämlich den Text ab 59,16f. »Das alles duldet ihr«.23 So unbestimmt allerdings scheint mir der Begriff »Schluß« weder im allgemeinen noch auch in Beckers besonderem Gebrauch. Dieser hatte ja Schäffers Referat zufolge gesagt: »rundete die Schrift durch einen passenden Schluß ab«, und die »ganze letzte Hälfte« ist sicher mehr als die Abrundung eines Textes. Außerdem hatte Becker neben Bibelstellen auch die Äußerungen zur »Wirksamkeit der constitutionellen Verfassung« Weidig zugeschrieben, was überflüssig wäre, wenn sie beide ohnehin dem so weit ausgelegten »Schluß« angehört hätten. Aus Beckers Formulierung: »Die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß, sind von Weidig« (Nöllner 423), höre ich – vielleicht wegen des »überhaupt« – heraus, daß »biblische Stellen« und »Schluß« annähernd gleichbedeutend sind bzw. daß die einen im andern enthalten sind. Tatsächlich erstrecken sich die »biblischen Stellen« auf die Zeilen 64,5– 65,16, daran fügt sich mit unmittelbarer Überleitung und Rückbezug der demnach von Weidig stammende Abschnitt 65,17–30 und daran wiederum der unbezweifelbare »Schluß« (65,31–66,21), bestehend aus den letzten drei Paragraphen, an.24 Man könnte also auch sagen: »überhaupt« beginnt der »Schluß« schon in 64,5.
2.3. Zu Büchners Landboten-Schluß Wir wissen, wie Weidigs »Schluß« aussieht; wir wissen jedoch nicht, wie Büchner die Flugschrift abgeschlossen hatte. Wir können nicht anneh––––––––– 22 Vgl. Bergemann (s. Anm. 5), S. 175,39–176,12 u. S. 738; s. auch u. S. 92. 23 Vgl. Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Berlin: Aufbau 1960, S. 168 sowie Mayer
(s. Anm. 1), S. 229.
24 Vgl. Mayer 200–236, der hier überzeugende inhaltliche Gründe für Weidigs Autor-
schaft vorträgt.
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men, daß Büchner auf einen Schluß verzichtet und damit Weidig geradezu zur Fertigstellung des Textes eingeladen hätte, und Becker hat auch nicht ausgesagt, daß Weidig Büchners Schluß gestrichen habe. Dieser Textteil muß also noch erhalten sein. Bergemann hat sich aus dieser Verlegenheit geholfen, indem er den drittletzten Paragraphen, also den Revolutionsaufruf (65,31–66,9), Büchner zuwies, und tatsächlich könnte dieser einen inhaltlich passenden Abschluß bilden. Jedoch hat Mayer (229–233) überzeugend dagegen argumentiert, daß dieser Paragraph in seinen Gedanken so sehr weidigkonform und so stark mit den vorangehenden und folgenden und dabei sämtlich Weidig zugeschriebenen Abschnitten verknüpft ist, daß Büchner ihn unmöglich verfaßt haben kann. Eine positive Antwort auf die Frage nach Büchners »Schluß« gibt Mayer freilich nicht. In dieser Situation schlage ich vor, Teile des von Becker nicht erwähnten Abschnitts »Der Herr, der den Stecken« bis »zerfleischten und schunden« (63,13–64,4) als Büchners Schluß zu betrachten. Der Abschnitt wurde meines Erachten bisher mißverstanden; deshalb ist sein Inhalt hier kurz zu referieren. Ich untergliedere ihn noch einmal in a) 63,13–31 und b) 63,32–64,4. Zu 63,13–31: die Stelle erinnert zunächst (63,13–18) an die Besiegung Napoleons in den Befreiungskriegen und sagt (63,15f.) den Fürsten dieselbe Niederlage »durch die Hände des Volks« voraus. Vorausetzung für den Erfolg der Revolution sei jedoch, daß das Volk die »Wahrheit erkennet« (63,20f.). Es folgen ein Doppelpunkt und eine längere Passage (63,21–64,4) in Zitatzeichen, von der wohl die meisten Büchnerforscher (mich selbst eingeschlossen) bisher angenommen haben, sie sei ein Fremdzitat, das nur noch, da es vor google letztlich keine Geheimnisse gibt, auf seine Enttarnung wartet. Auch auf die Gefahr hin, daß die Enttarnung gelingt, bevor dieser Aufsatz gedruckt wird, schlage ich vor, die Gänsefüßchen nicht als Zitatzeichen, sondern als Hervorhebungszeichen und die ganze Stelle nicht als Fremdzitat, sondern als zusammenfassendes Resümee der vom Landboten zuvor schon verkündeten »Wahrheit« zu verstehen. Meiner These zufolge erklärte Büchner den Lesern abschließend: Wenn sie sich einmal den Gedanken einprägten, daß sie ein Recht auf Widerstand gegen die unrechtmäßige Obrigkeit hätten und daß sie geradezu verpflichtet seien, sich von den Götzen der Fürstenherrschaft ab- und dem ›Gott der Menschenrechte‹ zuzuwenden, dann würden sie »die Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen zerbrechen« können. 89
Habe ich ein Recht, den Zitatzeichen in dieser Art ihre primäre Funktion abzusprechen? Die Interpunktion und ihre Bedeutung sind um 1830 noch nicht so reguliert wie heute, jedoch sind sich die Sprachlehrer in der Regel darin einig, daß Anführungszeichen der Markierung von Fremdtext dienen. Allerdings finde ich auch folgende etwas weitergehende Definition der »Gänsefüßchen«: »Bekanntlich schließt man in dieselben die eingeschlossenen oder angeführten Worte, Meinungen, Gedanken anderer ein, oder solche Theile der Perioden, auf die man besonders aufmerksam machen will; vorzugsweise aber die gerade fremde Rede«.25
Gänsefüßchen können demnach auch der ›Erregung von Aufmerksamkeit‹, also der Hervorhebung, dienen, und in eben diesem Sinne werden sie im Landboten auch in 60,12–22 nach dem einleitenden Satz: »Dann erklärten sie die Rechte der Menschen«, eingesetzt. Was darauf folgt, ist ebenfalls nicht als Fremdzitat nachzuweisen und wohl auch nicht so einzuschätzen, sondern anscheinend eine Zusammenfassung der wichtigsten Menschenrechte durch den Verfasser dieser Sätze. Auch im abschließenden Satz des Landboten haben die Zitatzeichen vermutlich diese Funktion. Zu 63,32–64,4: nach einem Gedankenstrich folgt als weitere durch Gänsefüßchen markierte »Lehre« eine Überlegung zu dem nationaltheologischen Argument, daß »ein Volk durch Eine Sprache zu Einem Leibe« vereinigt wird (63,32f.). Aus folgenden Gründen halte ich Weidig für den Verfasser dieser Stelle: – Die Stelle sprengt den resümierenden Charakter dieses Schlußabschnitts, denn der Text hatte dieses nationaltheologische Argument zuvor nicht einmal angedeutet. – Die Gleichung findet sich zwar in allgemeiner Form auch in christlicher Gebrauchsliteratur26 und ist insofern im Kern topisch. Nicht allgemein verbreitet ist jedoch die hier dominierende politische Implikation der nationalen Einheit derer, die Deutsch sprechen. Mit dieser Implikation ist die Gleichung weidigkonform, denn Weidig hatte die Gleichung ––––––––– 25 Max Wilhelm Götzinger: Die deutsche Sprache. Bd. 2. Stuttgart: Hoffmann 1839, S. 428. 26 Vgl. z. B. Magnus Friedrich Roos: Christliches Hausbuch. 1834. Bd. 1. Nürnberg: Raw,
S. 66: Die »Kinder Gottes« bilden »Eine Kirche, Eine Heerde, Ein Volk, Einen Leib, Eine Braut Jesu Christi«.
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bereits in seiner Predigt »Vom gemeinen Nutzen« (1819) so verwendet (vgl. Mayer 231). – Der Landbote rekurriert auf dieses Argument nochmals am Schluß (66,3f.) in einem Teilabschnitt (66,2–9), in dem das schon zuvor zweimal (65,2; 65,28f.) gebrauchte Bild von Deutschland als »Leichenfeld« auftaucht. Da das Bild an Hesekiel 37, also an eine der »Bibelstellen« anknüpft, gehört dieser Abschnitt zu denjenigen Teilen, die Becker zufolge von Weidig stammen (vgl. Mayer 231). Die hier vorgestellte These zum ursprünglichen Landboten-Schluß erlaubt es, Mayers Annahme, es habe ab einem bestimmten Punkt ein integrales Weidig-Manuskript vorgelegen, in folgender Form aufzugreifen: Ab 63,32 »daß der Gott, der ein Volk durch Eine Sprache […]« scheint der Text durchweg von Weidig verfaßt und basiert also auf einem durchgehenden Weidig-Manuskript. Hier liegt jener Teil vor, über den August Becker ausgesagt hatte: »Die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß, sind von Weidig«.
2.4. Aussagen und Annahmen zur Textverteilung im Überblick Die Tabelle auf der folgenden Seite stellt vereinfachend dar, was August Becker über die Textverteilung aussagte und wie sich Bergemanns, Mayers und mein Vorschlag dazu verhalten. Für meine Argumentation nehme ich Bergemanns Textverteilung als Ausgangspunkt. Sie schreibt 59% des Textes Büchner zu. Mit meinem Vorschlag erhöhe ich den Anteil Büchners und nähere mich zugleich weitgehend an Beckers Aussage an. Mayers Annahmen zur Textverteilung gehen in die andere Richtung. Indem Mayer den Schnitt bereits bei 59,16f. »Das alles duldet ihr« setzt, weist er Weidig mit 57% erheblich mehr Text zu als Bergemann und entfernt sich – wie mir scheint – dabei zugleich von Beckers Aussagen. Bezieht man die von Mayer 198727 vorgeschlagenen Detailzuweisungen in die Rechnung ein, so sinkt Büchners Anteil sogar auf 40% (bei Bergemann hingegen bliebe die prozentuale Verteilung nahezu gleich). Der Landbote ist also nach der einen Auffassung ein stellenweise überar––––––––– 27 Vgl. »Nachwort« zu Der Hessische Landbote. In: GW I, S. 9–11, hier S. 10.
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Anteile von Weidig (W) und Büchner (B) am Hessischen Landboten Angaben nach D1 Stellen Zeilenzahl
53,1–19 53,20– 59,16 59,16–60,3 60,4–62,9 62,10– 63,12
19 210
63,13–31 63,32–64,4 64,5–66,21
19 10 91
Zeilen pro Autor in % (gerundet)
494
25 80 40
100%
Autorschaft nach Beckers Aussage zu den Anteilen Weidigs Vorbericht
Bergemann
Mayer
W28
W B29
B30
B B B
W32
W W W
W W W
B
B
Bibelstellen sowie Schluß 344 150
290
204
210
70%
59%
41%
43% 57%
30%
W
W31 W W
W Wirksamkeit der Verfassung
hier vertretene Hypothese
284
W
W W 334
160
68%
32%
––––––––– 28 Mayer (S. 186) vermutet, sicher zu Recht, daß Weidig auch den Untertitel Erste Bot-
schaft eingefügt hat.
29 Bergemann weist hier die folgenden 22 Zeilen Weidig zu: 53,21–26; 56,18–22; 57,28–
33; 58,20–26.
30 Mayer (GW I; Nachwort) weist hier die folgenden 26 Zeilen Weidig zu: 54,21–28,
56,15–22; 57,19–33.
31 Mayer (GW I; Nachwort) betrachtet als vermutliche Büchner-Spuren im zweiten Teil
die folgenden 14 Zeilen: 60,4; 62,25f.; 65,19–25; 65,31–36.
32 Bergemann weist hier die folgenden 18 Zeilen Büchner zu: 65,19–25; 65,31–66,9; bei
64,16–28 ist er unschlüssig.
92
beiteter Text Büchners mit einem Schlußteil von Weidig, nach der anderen Auffassung ein Text Weidigs mit einem starken Büchner-Anteil in der ersten Hälfte. Becker zufolge war Büchner »über die Veränderungen, welche W e i d i g mit der Schrift vorgenommen hatte, außerordentlich aufgebracht, er wollte sie nicht mehr als die seinige anerkennen und sagte, daß er ihm gerade das, worauf er das meiste Gewicht gelegt habe und wodurch alles andere gleichsam legitimirt werde, durchgestrichen habe« (Nöllner 424).
Ich persönlich käme gar nicht auf die Idee, eine Schrift ›als die meinige anzuerkennen‹, zu der ich lediglich 40% beigetragen habe. Es spricht für die Überzeugungskraft von Mayers Untersuchung, daß seine Thesen trotz der genannten Einwände ein durchaus positives Echo gefunden haben. Nach meiner keineswegs erschöpfenden Durchsicht äußerte sich nur Gerhard P. Knapp 1984 durchweg negativ;33 seither liegen die Reaktionen auf der Skala zwischen Zustimmung und wohlwollender Skepsis. Von dem Landboten-Forscher Gerhard Schaub wurden Mayers Thesen mit Einschränkungen akzeptiert,34 Terence Holmes schlug – im ganzen einverstanden – einige Detail-Differenzierungen vor,35 Gerhard P. Knapp äußerte sich 2000 nun doch im ganzen zustimmend,36 und Henri Poschmann votierte eher für Bergemanns Einschätzung.37 In neuerer Zeit schlossen sich Ariane Martin38 und Christian ––––––––– 33 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler 1984, S. 37: »mit philo-
logischer Redlichkeit nichts zu tun.«
34 Gerhard Schaub: Editionsbericht zu Der Hessische Landbote in MA, S. 448–450.
Schaub nennt Mayers Untersuchung »insgesamt überzeugend, aufschlußreich, philologisch und interpretatorisch gut abgesichert und belegt«, meldet jedoch zwei Bedenken an, die auch im folgenden eine Rolle spielen werden: Mayers Verteilung der Anteile decke sich nicht mit den Angaben des Hauptaugenzeugen August Becker, und Mayer berücksichtige nicht hinreichend die »Adressatengebundenheit« des Landboten. 35 Terence M. Holmes: Druckfehler und Leidensmetaphern als Fingerzeige zur Autorschaft einer »Landboten«-Stelle. In: GBJb 5 (1985), S. 11–17. 36 Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 2000, S. 67–83. Knapp diskutiert die Textverteilung ausführlich und differenziert. Wie Bergemann und Mayer hält er die Passage 59,16ff. »Das alles duldet ihr« für einen Einschub Weidigs, während er den historischen Exkurs 60,5ff. eher für Büchner-Text hält. Jedoch läßt er offen, ob bereits mit dem historischen Exkurs oder erst gleich danach »die zweite, primär Weidig zuzuschreibende Textschicht einsetzt« (S. 77). 37 Poschmann (P II, S. 869) folgt Bergemann hinsichtlich 59,16–60,3 (»mit hoher Sicherheit als Einfügung Weidigs«) und bemerkt (ebd., S. 870) zu 60,5–61,33: »Der historische Exkurs, vermutlich teilweise in der Bearbeitung Weidigs«.
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Neuhuber39 Mayers Beurteilung im Prinzip an. Arnd Beise dagegen nimmt an, der historische Exkurs (60,5–61,33), »große Teile der Ausführungen zu den Landständen« und »auch der mit einer ›Warteklausel‹ versehene Handlungsappell gegen Ende« seien »mindestens strukturell von Büchner vorgegeben und stellenweise auch von ihm formuliert«. Auch scheint ihm »zweifelhaft«, ob man für die zweite Hälfte des Textes mit einem Weidig-Manuskript rechnen kann.40 Ich verweise auf Beise hier auch deshalb ausführlicher, da seine Äußerungen, die er mir freundlicherweise vor Erscheinen seines Buches zugänglich machte, mich wesentlich zum Schreiben dieses Aufsatzes motiviert haben, während ich zuvor eher Mayers Thesen für richtig hielt. Nun ist klar, daß August Becker, obwohl er der wichtigste Zeuge ist, nicht das letzte Wort in dieser Diskussion haben kann, sondern daß die Ergebnisse der Einzelstellendiskussion entscheiden müssen. Ihr wende ich mich jetzt zu und konzentriere mich dabei auf die zentralen Abschnitte 59,16–60,3 (zur Legitimation der Obrigkeit) und 60,33–61,33 (historischer Exkurs). Im quantitativen Sinne geht es demnach bei der folgenden Untersuchung um die Frage, ob wir 89 Zeilen des Landboten Büchner oder Weidig zuschreiben. Das mag als wenig erscheinen. Jedoch handelt es sich bei einer Textlänge von 425 Zeilen immerhin um über 20% des gesamten Textes. Im übrigen wirkt sich die Entscheidung über diese Textstellen auf den gesamten übrigen Text aus, so unter anderem auch auf die oben nur kurz behandelte Frage nach dem vermutlichen Schlußabschnitt in Büchners Handschrift.
––––––––– 38 Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart: Reclam 2007, S. 134. Sie sieht, Mayer folgend,
im Landboten ab 59,16f. »Das alles duldet ihr« ein »integrales Manuskript Weidigs«.
39 Christian Neuhuber: Georg Büchner. Das literarische Werk. Berlin: Erich Schmidt 2009,
S. 36f.; zu 59,16–60,3: »mit hoher Wahrscheinlichkeit von Weidig«; zum historischen Exkurs nach 60,5: Weidigs »Handschrift [...] nicht zu übersehen«. 40 Arnd Beise: Einführung in das Werk Georg Büchners. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 52f. – Erwähnt sei hier schließlich Michael Hofmann: Der Hessische Landbote. In: Büchner-Handbuch, S. 7-18, hier S. 8. Um Weidigs Textveränderungen zu benennen, zitiert Hofmann vor allem die einschlägige Aussage des Hauptzeugen August Becker. Leider vergißt er deren zweite Hälfte. Daß Becker sagte: »Die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß sind von Weidig« (Nöllner, S. 423), erfährt der Leser bei ihm nicht.
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3. Zur Delegitimierung der deutschen Fürsten Seinen Eindruck von der Textstelle, die mit 59,16f. »Das alles duldet ihr« einsetzt und mit 60,3 »Das Teil von Judas!« endet, faßte Bergemann so zusammen: »dann aber setzt, fast unverkennbar, Weidigs pastörlicher Ton ein (›Vater der Lügen‹, ›unser liebes Vaterland‹ usw.), und auch die Propagierung der deutschen Reichsidee stimmt mehr zu Weidig als zu Büchner.«41 Wie man sich doch im »Ton« verhören kann! Der einleitende Satz: »Das alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen: ›diese Regierung sei von Gott‹«, spricht von »Schurken«, und gemeint sind damit, für jedermann offensichtlich, protestantische Pfarrer mit ihrer servilen Auslegung von Römer 13. Noch krasser ist die abschließende Satzfolge. Sie wünscht den »Fürsten«, diesen »Verräter[n]«, »[d]as Teil von Judas«, also den Strick, an den Hals. Auch das ist im »Ton« alles andere als »pastörlich«. Lassen wir also den »Ton«; wie steht es mit dem Inhalt, also mit dem, was Bergemann »Propagierung der deutschen Reichsidee« nennt? Immerhin soll »Deutschland, unser liebes Vaterland«, ein »Freistaat«, also eine Republik, werden, und natürlich setzte die Republikanisierung auch die Beseitigung der Kleinstaaterei voraus, da man nicht gut aus »Hessen-Waldeck«, »Schwarzburg-Sondershausen« u. dgl. autonome Republiken hätte machen können. Bergemann räumt selbst ein, daß die entsprechende Forderung zwar »mehr zu Weidig« »stimmt«, aber natürlich auch von Büchner stammen konnte. Tatsächlich geht es in dem Abschnitt vor allem um eine republikanische Verfassung, die wiederum die Delegitimation jener post-napoleonischen deutschen Fürsten voraussetzt, die von sich behaupteten, sie seien »von Gott«. Mayer weiß das, glaubt aber dennoch bei einer Reihe von Begriffen und Gedanken klar zu erkennen, daß sie nur von Weidig stammen konnten. Meines Erachtens sind sie allesamt so weit verbreitet (topisch), daß sie nicht als Entscheidungshilfe für unsere Frage taugen. Hierfür ausführlichere Nachweise zu geben scheint mir auch insofern lohnend, als sich damit zeigen läßt, in welchen Argumentationszusammenhängen die Partie 59,16–60,3 sich bewegt. ––––––––– 41 Bergemann 1922 (s. Anm. 5), S. 737.
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3.1. »Regierung […] von Gott« (Landbote 4,38–40) Die Flugschrift rekurriert zunächst auf eine besonders für Lutheraner wichtige Grundlage der fürstlichen Legitimation, nämlich den Satz: »Es ist keine Obrigkeit außer von Gott« aus dem Brief des Paulus an die Römer (Römer 13,1). Der Landbote wiederholt die Kritik an diesem Satz später (63,27–31) noch einmal in der Variante: »daß […] die Obrigkeit, die Gewalt, aber kein Recht über ein Volk hat, nur also von Gott ist, wie der Teufel auch von Gott ist, und daß der Gehorsam gegen eine solche Teufels-Obrigkeit nur so lange gilt, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen werden kann«.
Mayer weist nach, daß Römer 13,1 auch im Kreis von Weidig diskutiert wurde (Mayer 252). Dessen Butzbacher Schüler hatten dem Rektor diese Stelle als Einwand gegen seine obrigkeitsfeindlichen Ansichten vorgetragen, worauf dieser nach einer Aussage Karl Braubachs vom 15. August 1837 erwidert habe, daß der Satz des Paulus nur für die rechtmäßige Obrigkeit gelte, nicht aber für die unrechtmäßige, denn diese sei nur ebenso »von Gott« wie die Naturgewalten Feuer und Überschwemmungen, denen sich der Christ ja auch widersetzen dürfe. »Das, was P a u l u s in seinen Briefen sagt hinsichtlich des Gehorsams gegen die Obrigkeit, das wußte W e i d i g immer anders auszulegen. P a u l u s sagt: ›Seid unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat.‹ Darüber sagte W e i d i g zu mir: ›Ob die Obrigkeit auch R e c h t hat, das ist eine andere Frage, davon spricht P a u l u s nichts.‹ Auf die Stelle, wo P a u l u s sagt: ›Es ist keine Obrigkeit, außer von Gott,‹ sagte W e i d i g: ›Ja, wenn man die Obrigkeit fortjagt und setzt eine andere ein, so ist die ja auch von Gott. Feuersbrunst und Wassersnoth ist ja auch von Gott, soll man denen keine Dämme entgegen setzen?‹« (Nöllner 326f.)
Weidig – so Mayer – verwende in diesen Diskussionen und dann im Landboten ein Argument, mit dem ihm als lutherischem Theologen ein besonders »pfiffiger« und »origineller Ausweg« aus der für ihn eigentlich verpflichtenden Zweiweltenlehre Luthers gelungen sei (vgl. Mayer 252). Weiter schreibt er: »Selbst wenn man unterstellen wollte […], Büchner habe sich etwa im Entwurf des ›Landboten‹ gerade an diesem Punkt dem ›Verständnishorizont‹ jener Bauern, Tagelöhner, Handwerker und Dienstboten ›anpassen‹ wollen […], selbst dann wären ihm die intern theologischen und ihrerseits keineswegs ›volkstümlich eingängigen‹ Feinheiten speziell dieser lutherisch-anti-
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lutherisch konzipierten Begründung gar nicht zugänglich gewesen«. (Mayer 254.)
Und um die Stelle Büchner zuzuschreiben, »müßte man jetzt geradezu den zwingenden Schluß ziehen, daß sich Büchner ein detailliertes politisch theologisches Kolleg Weidigs eingeprägt und dieses referierend oder als reguläres Zitat wiedergegeben hätte.« (Ebd.) Mayer hält die Stelle demnach für weidigkonform in einem Büchner »zwingend« ausschließenden Sinne. Seine Annahmen und Schlußfolgerungen scheinen mir allerdings nicht stichhaltig. Zwar ist richtig, daß Römer 13,1 zum wiederkehrenden Programm protestantischer Pfarrer gehörte und pflichtgemäß vor den Gläubigen so ausgelegt wurde, als sei nach Paulus jeder Ungehorsam gegen jede Obrigkeit ein Ungehorsam gegen Gott. Jedoch war die differenzierende Unterscheidung zwischen einer rechtmäßigen Obrigkeit und einer unrechtmäßigen, die zwar Gewalt, aber kein Recht über uns hat, nicht ein »pfiffige[r]« Einfall Weidigs, sondern sie gehörte zum professionell-theologischen Standard. Spätestens seit der napoleonischen Herrschaft konnte nämlich unter Theologen nicht zweifelhaft sein, daß sich der Satz des Paulus nicht umstandslos auf jede Obrigkeit anwenden ließ. So hob die kommentierende Bibelausgabe des konservativen Otto von Gerlach zwar warnend hervor, daß nicht jeder hergelaufene Untertan befugt sei, über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit seiner Obrigkeit nachzudenken. Er widmete aber der »Entscheidung dieser Frage, ob man der rechtmäßigen, oder der bloß im Besitze befindlichen Obrigkeit gehorchen solle«, dennoch ein ganzes Kapitel. Darin heißt es: »Die Behauptung, man solle jeder, auch der unrechtmäßigsten Obrigkeit nicht nur weichen, sondern mit Vernachlässigung der Treue gegen die rechtmäßige, ihr als ›einer von Gott geordneten‹ gehorchen, würde in schneidenden Widerspruch treten mit dem Gebote: ›Du sollst nicht stehlen!‹ und alle Achtung vor dem Rechte, als Gottes ausgesprochenem Willen, untergraben.« Auch dürfe man nicht sagen, »es sey jeder unrechtmäßige Thronräuber in dem selben Sinne von Gott geordnet, wie der rechtmäßige Herr. […] Ist also das Amt auch göttlich, so kann der Inhaber es doch unrechtmäßig besitzen und mißbrauchen.«42 ––––––––– 42 Otto von Gerlach: Die Heilige Schrift nach Dr. Martin Luthers Uebersetzung mit Einleitungen
und erklärenden Anmerkungen. 2. Aufl. Bd. 6. Berlin: Thomé 1840, S. 106f.
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Bereits 1809, also drei Jahre nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon, hatte Friedrich Schleiermacher dies in einer bald danach gedruckten Predigt so ausgedrückt: »Denn freilich, wo ein Volk sich beuget unter einer nur durch die Macht der Waffen oder durch die Gewalt gebietender Umstände oder durch inneren Frevel aufgedrungenen Obrigkeit, vielleicht gar von fremdem Stamm und Geschlecht, die also auch nicht einerlei Sinn und Maaß und Einsicht haben kann mit ihrem Volke, da mag wohl mancher denken, daß freilich auch diese Obrigkeit von Gott geordnet ist wie alles, aber ob sie nicht vielleicht nur so geordnet sei, wie er auch schwere Uebel und Strafen verhängt über die Völker, unter denen sie sich zwar beugen und zur Erkenntniß ihrer Sünden gelangen, deren Dauer sie aber auch suchen sollen durch Anstrengung aller ihrer Kräfte zu verkürzen?«43
Schleiermacher pries selbstverständlich sich und seine Zuhörer glücklich, daß ihre angestammte Obrigkeit ihnen keinen Anhaltspunkt für solch verstörende Gedanken gebe. Dennoch ist festzuhalten, daß er aufgrund von Römer 13,1 geradezu eine Pflicht der Untertanen zum Widerstand gegen unrechtmäßige Obrigkeiten in Erwägung zog. Ebenso teilte er die im Landboten wiederholt vorgetragene Vorstellung (61,12f., 61,20f., 64,5– 15), unrechtmäßige Obrigkeiten seien eine Strafe Gottes. Und diese alttestamentlich gut belegbare Vorstellung war dann in den Diskussionen der Oppositionellen ebenso verbreitet wie der von Weidig im Gespräch mit Braubach vorgetragene Gedanke, unrechtmäßige Obrigkeiten seien wie Feuer und Überschwemmungen von Gott verhängte Übel, gegen die der Mensch sich dennoch wehren müsse.44 Weidig trug also gegenüber ––––––––– 43 Friedrich Schleiermacher: Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit. Ber-
lin: Realschulbuchhandlung 1809, S. 8.
44 So z. B. William Benecke: Der Brief Pauli an die Römer. Heidelberg: Winter 1831,
S. 292f.: »Offenbar ist das Verhältniß der Unterthanen zu ihrer rechtmäßigen Regierung ein ganz anderes als das zu einer widerrechtlich aufgedrungenen. […] Freilich gilt es, nach dem ganzen System des Apostels, nach welchem Alles nach dem Rathschluß Gottes sich entwickelt und auch die Tyrannen Werkzeuge in seiner Hand sind, daß auch feindselige Mächte, welche die wirklich von Gott verordneten Regierungen umstürzen und sich an ihre Stelle setzen, in einem gewissen Sinn von Gott verordnet sind. Aber sie sind es nur auf die Weise, wie zerstörende Fluthen, Landplagen, verheerende Seuchen, denen wir nichts desto weniger nach allen Kräften zu steuern suchen müssen.« – Ein Hinweis auf Katastrophen im Zusammenhang der Obrigkeitsdebatte findet sich bereits bei Calvin. V. Gerlach zitiert ihn mit der Aussage, »daß die Obrigkeit von Gott ist, nicht in dem Sinne wie Pestilenz, Hunger,
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Braubach keine aufrührerische Privatmeinung vor, sondern er hätte mit seiner Erläuterung von Römer 13,1 in einem theologischen Examen wahrscheinlich bestehen können. Empörend war freilich – und deshalb druckte Nöllner Carl Braubachs Aussage ab –, daß Weidig zum einen mit diesem nur für Fachleute bestimmten Wissen simple Pfarrkinder wie den Butzbacher Karl Braubach auf Abwege führte und daß er zum andern dem regierenden Fürsten die Rechtmäßigkeit absprach. Über den Verfasser der Stelle ist damit nichts entschieden; abgewiesen ist nur, daß eine Autorschaft Büchners zwingend auszuschließen sei. Sie scheint mir umso weniger auszuschließen, als Büchner die zentrale Unterscheidung zwischen einem Rechts- und einem Gewaltzustand seinen Eltern selbst im Wachensturm-Brief vom April 1833 sehr vehement – wenn auch natürlich ohne biblische Fundierung – vorgetragen hat. Dort heißt es: »Was nennt Ihr denn g e s e t z l i c h e n Z u s t a n d ? E i n G e s e t z, das die große Masse der Staatsbürger zum frohnenden Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Gesetz ist eine e w i g e, r o h e G e w a l t […].«
3.2. Das Recht auf Kaiserwahl und der Hochverrat der Fürsten (Landbote 59,19–60,3) Nach seiner Ausdeutung von Römer 13 im oppositionellen Sinne begründet der Landbote die Unrechtmäßigkeit der fürstlichen Gewalt mit folgender historischer Erzählung: »Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit, sondern die rechtmäßige Obrigkeit, den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke frei gewählt wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet und endlich gar verraten. Aus Verrat und Meineid, und nicht aus der Wahl des Volkes ist die Gewalt der deutschen Fürsten hervorgegangen, und darum ist ihr Wesen und Tun von Gott verflucht […]. Über ein Kleines und Deutschland, das ––––––––– Krieg und die andern Zuchtruthen der Sünden gleichfalls von Gott kommen; sondern weil er selbst zu rechtmäßiger und ordentlicher Regierung der Welt sie eingesetzt hat.« (Von Gerlach [s. Anm. 42], S. 107.)
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jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehn.«
Freie Wahlen, fürstliche Willkürherrschaft, ›Wiederauferstehung‹ als »Freistaat«: Mayer (230, ähnlich 255 u. ö.) hat angesichts dieses narrativen Musters zu Recht von einer »politisch-argumentativen Triade« gesprochen, die er dann als typisch für die »Revolutionäre der ›romantischen Generation‹« und damit als weidigkonform und büchnerkonträr beurteilte. Jedoch wird vermutlich jeder Oppositionelle, der seine politischen Forderungen historisch begründen will, eine Erzählung vortragen, in der vom einstigen Besitz, folgenden Raub und von der alsbaldigen Restitution angestammter Rechte die Rede ist. Dieses narrative Muster ist also topisch, und diesen topischen Charakter wird man auch der Rede vom »[A]uferstehn« zubilligen müssen, wenn man bedenkt, daß noch in der Frühzeit der DDR feierlich gesungen wurde, unser »einig Vaterland« sei »auferstanden aus Ruinen«. Freilich scheint heutigen Lesern die im Landboten vorgetragene Erzählung besonders abwegig, weil niemand zu sagen wüßte, wie und wann der »deutsche Kaiser […] vom Volke frei gewählt« (59,21) wurde. Mayer hat den Butzbacher Rektor von dem Ruf des bornierten Pastors, den manche ihm angehängt hatten, gründlich befreit und hat insgesamt von Weidig ein positives Bild gezeichnet. Wie wir Büchner-Forscher alle neigt er aber trotzdem dazu, gute Argumente Büchner, abwegige hingegen Weidig zuzuweisen, und deshalb bemerkt er zu der Erzählung von der Kaiserwahl ironisch: »wie immer Weidig sich das vorgestellt haben mag« (Mayer 257). Wenig später (Mayer 258) wirft er ihm aus gleichem Anlaß vor, »er ließ zum Zweck immer Fünf gerade« sein. Das ist nun doch eine unnötige Spitze, denn tatsächlich gehörte im frühen 19. Jahrhundert die Vorstellung der ›freien Kaiserwahl‹ zum Gemeinplatz vermutlich aller Historiker, denen aus aktuellen politischen Gründen an einem solchen Volksrecht gelegen war. Als historische Gesetzmäßigkeit galt, daß junge Staaten republikanisch verfaßt seien, was auch der Landbote in den Wendungen »als ein Freistaat […] wieder auferstehn« (59,37–60,1) oder »zu einem Freistaat zu verjüngen« (64,7f.) aufgreift. Diesem Gesetz entsprechend, so erklärte z. B. Görres zur mittelalterlichen Geschichte, sei noch die »Würde« der »starken schwäbischen Kayser […] an die Wahl geknüpft«, und erst nach ihrem Untergang, also nach 1250, »zerfiel das Reich in jenes Gewimmel kleiner und größerer Tyrannen, die nur den Schein eines Richters und 100
Oberhauptes über sich duldeten, aber niederwärts stets fortschreitend das demokratische Prinzip untergruben und bemeisterten.«45 Auch war es nicht schwer, in den mittelalterlichen Chroniken und Geschichtsdarstellungen Zeugnisse für die Königswahl zu finden. So hielt z. B. der Chronist Wittekind von Corvey für die Wahl Ottos I. im Jahr 936 fest: »Defuncto patre, omnis populus Francorum et Saxonum jam olim designatum a patre filium ejus, Oddonem, eligit«.46 (»Nach dem Tode des Vaters wählt das gesamte Volk der Franken und Sachsen den früher von seinem Vater designierten Sohn Otto.«) Nach einem ähnlichen Zeugnis schrieb Görres 1820 über Karl den Großen: »Er selbst, der erste Fürst von Gottes Gnaden und durch die Wahl des Volkes, capitulirte mit der Freyheit seiner Franken«.47 Schwerer mochte es sein, diese Wahl durch das Volk glaubwürdig zu veranschaulichen. Als Beispiele hierfür dienten die Wahl des ersten Karolingers Pipin (752) und Konrads I. aus der salischen Dynastie (1027). Über dessen Wahl berichtete C. A. Menzel, dessen Geschichtswerke in der Bibliothek von Büchners Gymnasium standen, folgendes: »alsdann zogen sie alle von allen Seiten nach dem Mittelpunkte und der eigentlichen Urstätte des Reichs, dem Rheinlande, wo sie sich zu Anfang September, in der Gegend zwischen Mainz und Worms, versammelten. Auf einer großen [...] Insel rathschlagten die Fürsten; an beiden Ufern waren die Völker gelagert.« Nach längeren Beratungen über zwei mögliche Kandidaten kam es zum Wahlakt: »Aribo, Erzbischof von Mainz, stimmte zuerst, dann die übrigen Erzbischöfe und Geistlichen [...]. Nach diesem gaben ihm alle Großen der einzelnen Völkerschaften ihre Stimmen, von dem umstehenden Volke aber erscholl einmüthiges Geschrei.«48 ––––––––– 45 Joseph Görres: Teutschland und die Revolution. 2. Auflage. O. O. 1819, S. 155f. In der
Terminologie der politischen Romantik begründet Görres (ebd., S. 152) dieses allgemeine historische Gesetz so: »Darum weil jeder keimende Staat zuerst im Naturgebiet sich befestigen und bewurzeln muß, darum ist […] das demokratische Element vorherrschend«. 46 Zit. n. Friedrich Wilhelm August Murhard: Die Volkssouverainität im Gegensatz der sogenannten Legitimität. Kassel: Bohné 1832, S. 290. 47 Görres (s. Anm. 45), S. 153. 48 C. A. Menzel: Die Geschichten der Deutschen. 3. Bd. Breslau: Graß u. Barth 1818, S. 711f.; vermutlich wurde der Vorgang auch von Büchners Lehrer Lauteschläger im Geschichtsunterricht so oder so ähnlich erzählt. Die entsprechende Periode – »vom Anfang des 9. bis Ende des 15. Jahrhunderts« – wurde im Herbst 1829 behandelt. Vgl. Susanne Lehmann: Georg Büchners Schulzeit. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 407.
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Dasselbe berichtete auch Wolfgang Menzel in einem ebenfalls zur Gymnasialbibliothek gehörigen Schulbuch, wobei er hervorhob: »das weite Gefilde faßte kaum die Zahl der edlen deutschen Männer, die ihren König sich wählen wollten«, und über die Wahl Pipins heißt es bei ihm: »Darauf berief Pipin eine große Reichsversammlung zu Soissons, und das ganze Volk […] stieß Childerich, den letzten Merowinger, vom Throne seiner Väter, schor ihm das Haar ab und steckte ihn in ein Kloster, den Pipin aber wählte es einstimmig zum König«. 49
Ganz aktuell nutzte dann Johann Georg August Wirth, einer der Initiatoren des Hambacher Festes, diese Erzählungen von der Kaiserwahl, als er sich 1833 – und zwar erfolgreich – vor einem Schwurgericht in Landau gegen den Vorwurf des Hochverrats verteidigte. Die Rede wurde erstmals 1833 publiziert, sie war demnach in oppositionellen Kreisen vermutlich bekannt. Auf sie sei hier kurz hingewiesen, weil sie die Verratsgeschichte ähnlich erzählt wie der Landbote. Im Mittelalter, so Wirth, war aufgrund von Gewaltenteilung die »republikanische Natur der Staatsverfassung« durchweg gesichert. Die »vollziehende Gewalt« nämlich wurde »von den gesammten verschiedenen Stämmen des deutschen Volkes nun in die Hand eines einzigen Fürsten oder Königs gelegt […], der von dem gesammten Volke der Deutschen gewählt wurde, und dessen a m t l i c h e s Oberhaupt darstellte.« Die Könige bzw. Kaiser und ihre »Unterbeamte«, Grafen, Herzöge u. dgl. standen »nicht über – sondern unter dem Gesetz« und wurden bei Amtsvergehen abgesetzt und bestraft. 50 Als Beispiele für solche Volkswahlen nannte Wirth wiederum die Wahl Pipins 752 und Konrads 1027: »[N]ach dem Tode Heinrichs II. […] erfolgte die Wahl in einer unermeßlichen Urversammlung des Volkes auf der Ebene zwischen Mainz und Worms«. 51 Wirth zitierte weiterhin eine Quelle aus dem 13. Jahrhundert, in der festgelegt wurde, »daß der Sohn des Königs selbst dann, wenn er in jeder Beziehung der Krone würdig wäre, gleichwohl nur ––––––––– 49 Wolfgang Menzel: Die Geschichte der Deutschen. Zürich: Geßner 1825, Bd. 2, S. 131 u.
Bd. 1, S. 271; ebenso auch in einbändigen 2. Aufl. Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1834, S. 222 u. 134. 50 Ich zitiere nach Johann Georg August Wirth: Die Rechte des deutschen Volkes: eine Vertheidigungsrede vor den Assisen zu Landau. Paris: Tétot 1837, S. 89 f. – Die 1. Aufl. 1833 ist mir z. Zt. nicht zugänglich. 51 Ebd., S. 92.
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durch freiwillige Wahl des Volkes und niemals durch ein Recht der Erbfolge […] zum Throne gelangen kann«. – Dieses »republikanische« System sei unterhöhlt worden durch die Usurpationen der Unterbeamten, »von welchen die heutigen Fürsten abstammen«.52 »[N]icht auf dem Wege des Rechts und Gesetzes, sondern durch gewaltthätige Widersetzung gegen den Kaiser« setzten sie »die Erblichkeit ihrer Aemter allmählig durch« und reduzierten gleichzeitig die Einwohner auf den Status von »Unterthanen«.53 Behilflich war ihnen dabei die Einführung des römischen Rechts, die zur »Ausbildung einer privilegirten Rechtsgelehrtenkaste«54 und zur Abschaffung der öffentlichen und mündlichen Rechtspflege führte55 – auch dies ein Vorwurf, den der Hessische Landbote (55,21– 24) mit dem Satz anspricht: »Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht.« Der Begrenzung der fürstlichen Gewalt – so Wirth weiter – dienten jedoch noch immer die Landstände und die Reichsverfassung. Wer als »Landesherr« gegen die Verfassung verstieß, beging Hochverrat, und Wirth sagte über dieses »Rechtsverhältniß«: »rechtlich besteht es heute noch«.56 Die deutschen Fürsten hätten diesen Hochverrat offen begangen, indem sie dem napoleonischen Rheinbund beitraten. Nun will ich nicht behaupten, das deutsche Volk habe seinerzeit durch sein »Geschrei« seine Könige so frei und allgemein gewählt wie etwa heute seine Abgeordneten, aber ich will doch daran erinnern, daß a) die deutsche Königswürde auch nach heutiger Sicht formaljuristisch nicht durch Erbrecht, sondern durch Wahl erworben wurde, daß b) manche Quellen hier tatsächlich dem »populus« das Wahlrecht zusprechen und daß c) die Erzählung von einem einstigen Volksrecht auf Kaiserwahl, der Usurpation dieses Rechts durch die Kurfürsten und seiner späteren Abschaffung zu den wiederkehrenden Elementen konstitutioneller und republikanischer Agitation im Vormärz gehörte. War dies ›angestammte‹ Volksrecht einmal anerkannt, so konnte man dessen Restitution bedingungslos fordern und konnte es ablehnen, Konstitutionen ––––––––– 52 53 54 55 56
Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 101.
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als »erbettelte Gnade« (Büchner, Wachensturm-Brief vom 5. April 1833) entgegenzunehmen. Und vor allem konnte man mit dem Hinweis auf das alte Recht einerseits, den Rheinbund andererseits gegen die ›Meineide‹ und Rechtsbrüche »dieser Fürsten, der Verräter« (60,2f.) agitieren. Die Erzählung vom Hochverrat durch den Beitritt zum Rheinbund gehörte zu den wiederkehrenden Elementen in den oppositionellen Schriften um und nach dem Wiener Kongreß. Auch Weidig griff hierauf noch einmal 1834 in einem Artikel über den früheren hessischen Großherzog Ludewig I. in seiner Flugschriftenserie Leuchter und Beleuchter zurück: »Sein Leben fiel in eine harte Zeit: er nahm g e z w u n g e n Theil an dem großen Hochverrathe, den Deutschlands Fürsten am deutschen Reich und Volk begingen, als sie den Rheinbund schlossen«.57 Dieses gleichzeitige Auftreten eines Motivs im Landboten und im Leuchter ist natürlich als Argument in der Zuschreibungsdiskussion festzuhalten; die Kraft des Arguments ist jedoch nicht stark, da es sich um ein topisches Motiv handelt, das Büchner ebenso verwenden konnte wie Weidig. Wichtiger in der Zuschreibungsdiskussion ist vielmehr, wie Weidig einerseits, der Landbote andererseits dieses Motiv verwenden, und hier scheint die Art der Verwendung eher für Büchners als für Weidigs Autorschaft zu sprechen (s. u. 4.1.).
3.3. Meineidige Könige (Landbote 60,24; 61,17) Im systematischen Zusammenhang sowohl mit dem Thema »Verrat« als auch mit der Unterscheidung »weidigkonform« versus »topisch« steht auch der Begriff »meineidig«. Er taucht im Landboten erst in den nächsten Abschnitten auf, sei aber hier – quasi im Vorgriff – doch schon behandelt. Im Exkurs über die französische Geschichte seit 1789 nennt der Text zunächst Ludwig XVI. »meineidig« und spricht später von dem »meineidigen König Karl X.«. Mayer spricht beide Textteile Weidig zu. Ihm gebe hier der historische Rückblick die »Gelegenheit zum Absprung auf eines seiner Lieblingsthemen […], das des ›Verrats‹ und der ›meineidigen Obrigkeit‹« (Mayer 261). Worauf bezieht sich das? Weidig hatte in seiner Flugschriftenserie Leuchter und Beleuchter von »meineidige[n] Minister[n]« gesprochen, die die französischen Revolutio––––––––– 57 Leuchter. 2. Blatt; zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 91.
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näre von 1830 inhaftiert hätten.58 Außerdem war nach dem mißlungenen Sturm auf die Frankfurter Hauptwache am 3. April 1833 der Meineid häufigeres Gesprächsthema im Weidigkreis. Weidig sah sich nämlich mehrfach genötigt, seine Anhänger zu instruieren, sie sollten einem Verhafteten zu einem Alibi, und zwar notfalls durch einen Meineid, verhelfen. Die Strenggläubigen unter seinen Anhängern hielten den Meineid unter allen Umständen für sündhaft, und Weidig suchte ihnen diese Überzeugung mit dem Argument zu nehmen, daß es keine Sünde sei, einen Meineid vor den Behörden eines Staates zu schwören, dessen Fürst die von ihm beschworene Verfassung selbst schon gebrochen habe und also selbst meineidig sei. In diesem Zusammenhang, so sagte der Weidigschüler Carl Flach aus, sei auch der derzeitige französische König LouisPhilippe genannt worden, weil dieser »die Charte beschworen habe und demohngeachtet die Freiheit unterdrücke, woraus man dann den Schluß zog, die Regenten selbst hielten ihre Eide nicht, weßhalb man ihnen auch nicht die Eide gewissenhaft zu schwören brauche« (Nöllner 327; vgl. Mayer 261). Die Rede vom Meineid – auch eines französischen Königs – ist demnach im Weidigkreis belegt. Ein starkes Argument in der Autorschaftsdebatte läßt sich daraus nicht ableiten; denn die Anwendung des Begriff »roi parjure« war ein stehendes Epitheton sowohl für Ludwig XVI. als auch für Karl X., also für die auch im Landboten so bezeichneten Könige. Ich finde die Kennzeichnung zuerst in Jakobinersitzungen nach dem Fluchtversuch des Königs im Juni 1791,59 und Büchner kannte sie z. B. aus einer Rede des Jakobiners Charles Nicolas Beauvais de Préau vom 25. Dezember 1792, für den Ludwig XVI. »[e]in meineidiger König« war, »der wieder auf den Thron gesetzt worden war, zu einer Zeit, da er vielleicht das Blutgerüst hätte besteigen sollen«.60 Als Karl X. im Juli 1830 durch die sogenannten Juliordonnanzen das Wahlrecht und die Pressefreiheit einschränkte, übertrug die französische Publizistik den Begriff ––––––––– 58 Leuchter. 3. Blatt; zit. n. ebd., S. 95. 59 Vgl. Philippe-Joseph Benjamin Buchez: Histoire parlementaire de la Révolution française.
Histoire de l’Assemblée constituante [...]. Deuxième Édition. Bd. 5. Paris: Hetzel 1846, S. 342: »votre défense en serait-elle plus sûre pour avoir à votre tête un roi parjure, […] songez ensuite à ce que vous pourrez pour votre roi parjure.« 60 Referiert in der Hauptquelle von Danton’s Tod, in Carl Strahlheim [d. i. Johann Konrad Friederich]: Die Geschichte unserer Zeit. Bd. 8. Stuttgart: E. F. Wolters 1827, S. 145f.
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auf ihn und warf ihm vor, den Eid auf die von ihm beschworene Charte verletzt zu haben. Diese Zuschreibung prägte sich offenbar so vollständig ein, daß Louis-Philippe seinen Vorsatz der Verfassungstreue angeblich mit dem Satz ausdrückte: »on ne fera jamais de moi un roi parjure«.61 Die deutschen Berichterstatter griffen das auf in Sätzen wie: »Laut wurde Carl X. ein meineidiger König gescholten«,62 und diskutierten sogar – fast schon wie der Landbote – die moralische Belastung von Untertanen, die in der mißlichen Lage waren, einen meineidigen König unterstützen zu müssen. So schrieb der aus Schleswig stammende liberale, aber keineswegs radikale Franz Hermann Hegewisch: »wenn die Regierenden ein gutes Gewissen haben, dann dürfen und müssen sie nöthigenfalls zu den äußersten Gewaltmitteln greifen gegen die blinde Zerstörungswuth des Pöbels. […] Haben aber die Regierenden und die für die Regierenden kämpfenden Soldaten kein gutes Gewissen, haben die Regierenden die Constitution offenbar verletzt, sollen die braven Soldaten für einen meineidigen Fürsten kämpfen, dann ist die Tapferkeit schwankend, dann können die Pflastersteine siegen, und es erfolgt die jämmerliche Niederlage und Flucht der Bourbons. Wer für eine meineidige Regierung kämpft und auf die Patrioten schießt, die nichts als ihr gutes Recht, als die Rechte des Landes wollen, der ist Knecht des Henkers.«63
Ich fasse zusammen: Die Beispiele haben gezeigt, daß der Schluß vom Vorkommen eines Motivs in Weidigs politischen Schriften auf Weidigs Autorschaft im Hessischen Landboten immer dann nur schwach begründbar ist, wenn das Motiv gängige Münze im politischen Diskurs war. Das ist bei der Rede von der ›freien Wahl des Kaisers‹, vom ›Verrat der Fürsten am Kaiser‹ und den ›meineidigen‹ Königen Ludwig und Karl zweifellos der Fall. Auch mußte man nicht Phantasien von Kaiser und Reich anhängen, um in einer Flugschrift gängige, die derzeitigen Fürsten delegitimierende Hinweise auf deren Hochverrat am »deutschen Kaiser« zu verbreiten. Ich sehe also keinen Grund, Büchner die Autorschaft an den Adjektiven »meineidig« oder an der Geschichtserzählung 59,16–34 sowie ––––––––– 61 André-Marie-Jean-Jacques Dupin: Réquisitoires, plaidoyers et discours de rentrée. Paris:
Joubert 1836. Bd. 3, S. 505 (Register, mit Verweisung auf Bd. 1, S. 21).
62 [o. V. :] Die neue Zeit von einem alten Constitutionellen. Bd. 1. Stuttgart: Franckh 1830,
S. 34.
63 Franz Baltisch [d. i. Franz Hermann Hegewisch]: Politische Freiheit. Leipzig: Brockhaus
1832, S. 306f.
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an deren Fortsetzung bis 60,3 »Das Teil von Judas!« abzusprechen. Für Büchners Autorschaft sprechen positiv die Forderung nach einem »Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit«, die Schärfe des Tons im ersten und im letzten Satz und schließlich noch der merkwürdige Satz in 59,27f. »Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden«. Dies ist ein Bibelzitat, das ein früheres Zitat in 55,7f. aus einem sicher Büchner zugeordneten Textteil unmittelbar fortsetzt. Dort hieß es: »der Raub der Armen ist in ihrem Hause«. Die beiden Stellen folgen Jesaja 3,14f.: »Und der Herr geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volkes und mit seinen Fürsten: Denn ihr habt den Weinberg verderbt, und der Raub von den Armen ist in eurem Hause. Warum zertretet ihr mein Volk und zerschlaget die Person der Elenden?«
4. Verfassungsfragen und »Menschenrechte« im historischen Exkurs (Landbote 60,4–32) Büchner, so hat Leopold Eichelberg, der Marburger Mitherausgeber der Novemberauflage des Landboten, sich später erinnert, »schien mir die mit aller Vehemenz übersprudelnde jugendliche Kraft, welche sich hier im Zerstören gefiel, während sie sonst eben so leicht die ganze Welt liebend zu umarmen sucht« (zit. n. Mayer 382). Offenbar wirkte Büchner auf andere ungewöhnlich ›radikal‹ und ›scharf‹ in seinen Äußerungen, und so liegt es nahe, »Schärfe« als mögliches Zuschreibungskriterium anzusehen. Ich habe dies ja auch soeben getan. Mayer hat dem widersprochen. Ihm zufolge spricht Schärfe nur dann für Büchners Autorschaft, wenn sozialrevolutionäre Fragen verhandelt werden und sich die »›heftigen Invektiven‹ […] auch ›gegen die Reichen‹ richten« (Mayer 262).64 In politischen ––––––––– 64 Damit fällt das Kriterium aus, denn in dem von Weidig überarbeiteten Text finden
sich keine Invektiven gegen die »Reichen« im engeren Sinne. Angegriffen werden die staatlichen Funktionsträger, also die Angehörigen der fürstlichen Familie, des Hofstaats, des Adels, der Regierung oder der Beamtenschaft, denn der Diebstahl, von dem in der Flugschrift gesprochen wird, ist durchweg ein »Diebstahl […] von Staatswegen« (56,7f.). Mayer 245 sagt über »Büchners Manuskript«, daß es »den Angriff gegen feudalen u n d bürgerlichen Reichtum als dem Volk abgepreßten Mammon durchgehend enthielt«, was sich »auch in der Druckfassung noch gewissermaßen ›strukturell‹ erkennen läßt«. Ich wünsche mir, daß beides – der im Originalmanuskript durchgehend enthaltene und der in der Druckfassung »strukturell« bewahrte »Angriff gegen [...] bürgerlichen Reichtum« – einmal detailliert nachgewiesen würde.
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Fragen seien Weidig und die »oberhessischen Demokraten« dagegen »antifürstliche, antiaristokratische Revolutionäre comme il faut« gewesen, und Weidig und Büchner hätten sich in der »Schärfe« nicht unterschieden, wenn »sich ein Angriff […] eindeutig gegen den Adel, die Könige und Fürsten richtet« (ebd.). Ich schlage vor, nicht Grade von Schärfe, sondern eher Grade von Kompromißlosigkeit oder -fähigkeit zu unterscheiden, und hier scheint mir, daß Büchner nicht nur in seinem Kampf gegen die Reichen, sondern auch in seiner republikanischen Überzeugung ungleich kompromißloser war als Weidig. Dies hat zur Folge, daß sich in den Themen Republikanismus versus Konstitutionalismus und gleiches Wahlrecht versus Angst vor Pöbelherrschaft, aber auch in dem Beharren auf »Menschenrechten« prinzipielle Unterschiede zwischen Weidig und Büchner erkennen lassen, die durchaus als Unterscheidungsmerkmal dienen können. Dies sei, bevor wir Stellen aus dem Landboten heranziehen, kurz erläutert: 1. Republikanismus versus Konstitutionalismus: In wiederkehrender Beständigkeit ist »republikanische« Gesinnung der erste Begriff, den die Umgebung zur Charakterisierung Büchners heranzog. Beispiele hierfür liefern: – Das Protokoll der Straßburger Studentenverbindung »Eugenia«: »Freund Bügner [sic] der so feurige u so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot, schleudert einmal wieder, alle mögliche Blitze u Donnerkeule, gegen alles was sich Fürst u König nennt«.65 – August Becker: Dieser bezeichnete Büchner als »entschiedenen und heftigen Republikaner […], deßen politische Gesinnungen theils auf einem gewißen geistigen Stolz, theils auf einem unbegränzten Mitleiden mit den niederen Volksklaßen und ihrer Noth beruht hätten«.66 – Theodor Sartorius (ein in den Landboten-Prozeß verwickelter Gießener Student): »Dieser Becker sowohl, wie jener Büchner huldigten den republikanischen Grundsätzen. […] Sie haben immer davon gesprochen, ––––––––– 65 Protokoll vom 5. Juli 1832; zit. n. Thomas Michael Mayer: Das Protokoll der Straßburger
Studentenverbindung ›Eugenia‹. In: GBJb 6 (1986/87), S. 324–392, hier S. 368.
66 [Martin Schäffer:] Vortrag in Untersuchungs-Sachen wider die Teilnehmer an revolutionären
Umtrieben in der Provinz Oberhessen; zit. n. Reinhard Görisch u. Thomas Michael Mayer (Hrsgg.): Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831–1834. Frankfurt: Insel 1982, S. 332.
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daß die einfachste und dem Naturgesetz angemessenste Staaten- und Regierungsform die wünschenswertheste sei und als Ideal für diese erkannten sie die Republik und sie erklärten, man müsse darauf hin auch in Deutschland wirken«.67 – Adam Koch (Mitglied der Darmstädter Sektion der »Gesellschaft der Menschenrechte«): Büchner »betrachtete eine republikanische Verfassung als die einzige, der Würde des Menschen angemessene, und stiftete deßhalb eine Verbindung, welche mit der Zeit die Herstellung einer Republik herbeiführen sollte«.68 Koch sagte aus, »daß die Republikanisirung Deutschlands der letzte Zweck der Verbündeten war, welche durch einen Massenaufstand herbeigeführt werden sollte«.69 – Wilhelm Büchner: »Es wurde darüber debattirt, ob es wünschenswerther sei und Erfolgversprechender, gleich eine einheitliche Republick zu proclamiren oder ob man nicht zuerst dahin streben müsse, zu Gunsten der Krone Preussens die anderen Dynastien zu beseitigen; Mein Bruder meinte damals ›das gäbe doppelte Arbeit‹ und wollte von dem Stationsweisen Vorgehen nichts wissen«.70 Zentraler Ausdruck von Büchners repulikanischer Gesinnung ist schließlich auch der Satz in dem Brief an seine Eltern von Ende März 1834: »[...] ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden StaatsdienerAristokratismus zu Gefallen.« In der Republik lebten freie und gleiche Menschen, in der Monarchie (auch konstitutioneller Prägung) seien die Menschen Untertanen bzw. Knechte. Die Aussagen über Weidig sind in dieser Hinsicht weniger eindeutig. Zu den Zielen, die er durchweg verfolgte, gehörte die Herstellung eines einheitlichen deutschen Staates, und so kann man, wie gesagt, den am Ende des Landboten stehenden Satz: »Das deutsche Volk ist Ein Leib, ––––––––– 67 Verhör vom 1. Juni 1835; zit. n. Katalog Marburg, S. 156. 68 Leopold Friedrich Ilse: Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der
Bundesversammlung errichteten Commissionen, der Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind. Frankfurt a. M.: Meidinger 1860, S. 427f. 69 Bundeszentralbehörde »Bericht an den preußischen Justizminister […]«; ich zitiere nach einem Typoskript aus der von Thomas Michael Mayer und der Forschungsstelle Georg Büchner erstellten Sammlung der Lebenszeugnisse. 70 Wilhelm Büchner an Karl Emil Franzos, 9. Sept. 1878; GSA Weimar.
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und ihr seid ein Glied dieses Leibes«, Weidig zuschreiben.71 Ob dieser Vaterlandsleib monarchisch oder republikanisch organisiert sei, galt ihm prinzipiell als weniger entscheidend, wenn er sich auch nach dem ›Verfassungsbruch‹ durch die »Juniordonnanzen« von 1832 zum Republikaner entwickelte.72 Hier sind einige Einschätzungen seiner Haltung: – Valentin Kalbfleisch (Färber in Butzbach; Angehöriger des WeidigKreises): Weidig habe sich stets bemüht, »in uns die Ueberzeugung zu erregen und zu kräftigen, daß es für Deutschland besser sei, wenn es ein einziges Reich und zwar eine R e p u b l i k bilde« (Nöllner 294). – Ernst Fröhlich (Apothekergehilfe in Friedberg): »Er sagte übrigens öfter, er sei vor der Hand durchaus n i c h t dafür, in Deutschland ein r e p u b l i k a n i s c h e s Princip einzuführen, sondern mehr für die M o n a r c h i e, woraus dann später, wenn das deutsche Volk dafür empfänglich wäre, eine deutsche R e p u b l i k entstehen solle.« Im privaten Gespräch »machte er mir die oben angeführte[n] Eröffnungen, für eine deutsche R e p u b l i k mitzuwirken.« (Nöllner 304.) – Carl Zeuner (Spritzenmacher; Angehöriger des Weidigkreises): »Seine Gesinnungen für eine in Deutschland einzuführende Verfassung sind nur entschieden für die Freiheit gewesen; ob er unter der Form einer Republik oder Monarchie solche am sichersten zu finden geglaubt hat, darüber kann ich nichts Bestimmtes sagen« (Nöllner 321). – August Becker: »Man hat ihn oft für einen heftigen Republikaner gehalten. Er war es nicht. Wenn ich mit ihm über diesen Gegenstand sprach, führte er immer eine Stelle aus dem Xenophon an, wo Sokrates sagt, daß alle Staatsformen schlecht und gut sein könnten. Doch war W e i d i g von dem größten Eifer für die U m g e s t a l t u n g D e u t s c h l a n d s belebt.« (Nöllner 313.) ––––––––– 71 Ausführlich begründet in Mayer 196f. 72 Vgl. dazu die Aussage von Carl Zeuner (in Nöllner, S. 320f.): Weidig, der mit J. G. A.
Wirth vermutlich früher korrespondierte, habe ihn nach dem Hambacher Fest gebeten, eine Schrift zu unterzeichnen, in der Wirths Radikalität mißbilligt wurde. Zeuner verweigerte die »Unterschrift unter jene Schrift und nachher hat W e i d i g diese auch wirklich mißbilligt. N a c h dem Erscheinen der Bundestagsbeschlüsse im Juni 1832, hat W e i d i g a n d e m G e l i n g e n, d i e F r e i h e i t a u f g e s e t z l i c h e m W e g e z u e r l a n g e n, g e z w e i f e l t und sich mehr zu r e v o l u t i o n ä r e n Ansichten geneigt.«
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Unter diesen Äußerungen hat die von August Becker, der tatsächlich republikanisch gesinnt und in politischen Fragen wohlinformiert war, sicher das größte Gewicht. Man sollte Weidig demnach nicht für einen prinzipiellen Anhänger des Republikanismus halten. 2. Gleiches Wahlrecht versus Angst vor Pöbelherrschaft: Büchner, so sagte August Becker aus, äußerte sich einmal nach einer Diskussion zum Zensuswahlrecht empört über den »Aristokratismus des W e i d i g, wie er es nannte«. »Büchner meinte, in einer gerechten Republik, wie in den meisten nordamerikanischen Staaten, müsse jeder ohne Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben«, während Weidig »glaubte, daß dann eine Pöbelherrschaft, wie in Frankreich, entstehen werde« (Nöllner 425). Die kleine Anekdote beleuchtet Unterschiede in der historischen und der politisch-theoretischen Auffassung der Kontrahenten. Indem Weidig (erstens) zensusfreies Wahlrecht und »Pöbelherrschaft, wie in Frankreich,« gleichsetzte, verurteilte er die 1792 beginnende republikanische Periode der Französischen Revolution, in der 1793 das Zensuswahlrecht abgeschafft wurde. Büchner dagegen, als ein von sozialrevolutionären Vorstellungen geprägter »idolâtre de la Révolution française«,73 sah in dieser Periode vermutlich den Höhepunkt der Revolutionszeit. Weidig hielt (zweitens) die Menschen nicht für so »gleich«, daß er auf Zensusbeschränkungen beim Wahlrecht hätte verzichten wollen.74 Für Büchner hingegen war das zensusfreie Wahlrecht für alle vermutlich ein »Rechtsgrundsatz«, der keine Kompromisse zuließ. Außerdem wußte er, daß »die gebildete und wohlhabende Minorität, so viel Concessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, […] nie ihr spitzes Verhältniß zur großen Klasse aufgeben wollen« werde (Brief an Gutzkow, Anfang Juni 1836). Deshalb hielt er jede politische Veränderung, die die Privilegierung der Reichen und der Adligen fortschrieb, für nutzlos oder schädlich. In dem schon zitierten Protokoll der »Eugenia« wurde diese Auffassung so referiert: »selbst die constitutionelle Verfassung unseres Vaterlands bleibt v ihm nicht unangetastet; weil sie seiner Meinung nach, nie das Wohl u das Glück Frankreichs beförder[n] wird, ––––––––– 73 Zit. n. Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Ein Büchner-Fund. München:
Fink 1987, S. 272.
74 Zur Diskussion dieser Meinungsverschiedenheit vgl. auch Hauschild 1993, S. 309–
311.
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so lange noch eine aristocratische Macht, wie die Pairs Cammer, ein[e] 3.te mächtige Hand an das Staatsruder zu legen berechtigt ist.«75 In diesen Zusammenhang gehört auch, daß Büchner – zufolge August Becker – über »die c o n s t i t u t i o n e l l e landständische Opposition« in Hessen »oft« sagte: »Sollte es diesen Leuten gelingen […], die deutschen Regierungen zu stürzen und eine allgemeine Monarchie oder auch Republik einzuführen, so bekommen wir hier einen Geldaristokratismus wie in Frankreich, und lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist.« (Nöllner 425.) 3. Menschenrechte versus Volksrechte: Über die zentrale Bedeutung des Begriffs »Menschenrechte« für Büchner muß nicht viel gesagt werden. Er gründete zwei Sektionen der »Gesellschaft der Menschenrechte« und nahm neue Mitglieder in die Gesellschaft auf, indem er ihnen »die Erklärung der Menschenrechte vorlas, angeblich wie sie sich in geschichtlichen Werken über die französische Revolution vorfindet«.76 Bei Weidig kommt das Wort meines Wissens nicht vor. An dessen Stelle verwendete er eine Reihe verwandter Begriffe, nämlich »Volksrechte«, »Landes-Rechte«, »verfassungsmäßige Rechte«, »Rechte des deutschen Volkes«, »unverjährbare Rechte deutscher Volksstämme« oder auch die »heiligen Rechte des Volkes«.77 Die Wortwahl läßt erkennen, daß Weidig an Kollektivrechte dachte, während die »Menschenrechte« einem Individuum angehören, das sich von Kollektiven gelöst hat, weswegen Karl Marx über sie bemerkte, »dass die sogenannten M e n s c h e n r e c h t e, die ›droits de l’homme‹ im Unterschied von den ›droits du citoyen‹ nichts anderes sind, als die Rechte des M i t g l i e d s d e r b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t, d. h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen«.78 Damit soll nicht Wei––––––––– 75 76 77 78
Protokoll der »Eugenia«-Sitzung vom 5. Juli 1832 (s. Anm. 65), S. 368f. Ilse (s. Anm. 68), S. 429. Leuchter. 1. bis 5. Blatt, zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 89, S. 92, S. 97, S. 98, S. 102. Zur Judenfrage. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Paris 1844, S. 182–207, hier S. 201. Weiter heißt es (ebd., S. 202f.): »Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äusserlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbstständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Natur-Nothwendigkeit, das Bedürfniss
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dig an Marx angenähert werden. Wie Weidigs »Predigt ›Vom gemeinen Nutzen‹«79 erkennen läßt, dachte er in ständestaatlichen Kategorien; Marx plädierte gegen die »droits de l’homme« und für die des »citoyen«. Im folgenden sei gezeigt, welche Rolle diesen drei Themen in den zentralen Abschnitten des Hessischen Landboten zukommt.
4.1. Ablehnung der Erblichkeit von Herrschaft oder Legitimität durch Konstitution Thomas Paine, den Büchner in Danton’s Tod (III/1) auftreten läßt, hatte argumentiert, daß die »Menschenrechte« jede Übergabe von Souveränitätsrechten an einen mit Erbrecht ausgestatteten Monarchen verbieten, denn dies beeinträchtige die Rechte der Nachgeborenen, und Menschen seien nicht befugt, über die Rechte späterer Generationen zu verfügen. Pointiert hatte er gesagt: »Alle erbliche Regierung ist ihrer Natur nach Tyrannei«, und: »Eine Regierung erben, heißt das Volk erben, als wären es Schafe und Herden«.80 Der konsequente Verfechter der »Menschenrechte« muß demnach ein kompromißloser Republikaner sein. Deshalb – so scheint mir – müssen wir die bedingungslosen Angriffe auf die »erbliche Königswürde« (60,26) oder auch die »halberbliche Königsherrschaft« (61,19f.) eher Büchner zusprechen als Weidig. Und hieran sollte uns auch das scheinbar ins Theologische abgleitende Argument vom »Götzendienst der erblichen Königsherrschaft« (61,14, vgl. auch 63,14f.: »Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen«) nicht hindern, denn auch Paine hatte dieses Bild – und zwar gänzlich untheologisch – gebraucht, als er gegen Edmund Burke gewendet sagte, dieser betrachte das Volk ––––––––– und das Privatinteresse, die Conservation ihres Eigenthums und ihrer egoistischen Person.« – Marx wundert sich, warum »das Staatsbürgerthum, das p o l i t i s c h e G e m e i n w e s e n von den politischen Emancipatoren sogar zum blosen M i t t e l für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, dass also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Theilwesen verhält, degradirt, endlich nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den e i g e n t l i c h e n und w a h r e n Menschen genommen wird.« 79 Vgl. den Abdruck in Müller (s. Anm. 20), S. 193–214. 80 Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. In der zeitgen. Übertr. v. D. M. Forkel. Bearb. u. eingel. v. Theo Stemmler. Frankfurt: Suhrkamp 1973. 2. Teil, S. 204.
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»als einen Haufen von Geschöpfen, die durch Betrug, Prunk und Schaugepränge regiert werden müssen, und ein Götze würde ihm ein ebenso gutes Bild der Monarchie sein als ein Mensch«.81 Weidig eröffnet einen Aufsatz im Leuchter mit dem Satz: »Je mehr die neuvermählte baierische Königstochter ihrer edlen Mutter geistesverwandt scheint, und je dringender das Vaterland von dem Erbgroßherzoge seinen Großvater zurückfordert, je mehr ist es zu beklagen, daß die Wohldienerei der Regierungs-Beamten dem fürstlichen Paare die Herzen des Volkes zu entfernen sucht.«82
Büchner dagegen schreibt im Landboten satirisch über den Großherzog wie über einen Sagen-Popanz: »seine göttliche Gewalt vererbt sich auf seine Kinder mit Weibern, welche aus eben so übermenschlichen Geschlechtern sind« (58,17–19). Tatsächlich hat Weidig meines Wissens nie Anstoß an dem »erblichen« Charakter zum Beispiel der darmstädtischen Fürstenherrschaft genommen, und wahrscheinlich hielt er nicht einmal eine formelle Wahl jedes neuen Herrschers für prinzipiell notwendig. An einer späteren Stelle des Landboten heißt es zu diesem Thema, »daß keine Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet ist, als die, welche auf das Vertrauen des Volkes sich gründet und vom Volke ausdrücklich oder stillschweigend erwählt ist« (63,24–27). Die Modifizierung »ausdrücklich oder stillschweigend« ist eine konstitutionalistische Abschwächung in einem sonst republikanischen Text. Sie dürfte von Weidig stammen, denn eine »stillschweigend[e]« Wahl setzt den Mechanismus der Erbfolge geradezu voraus, und daß der »so feurige u so streng republicanisch gesinnte« Büchner sich damit hätte begnügen wollen, ist auszuschließen. Wichtig war für Weidig vor allem eine vertragliche Legitimierung und Begrenzung von Herrschaft, die durch eine zwischen Herrscher und Volk vereinbarte Konstitution ebenso zustande kommen konnte wie auf einem anderen Wege. Deshalb äußerte er sich im Leuchter – und zwar ohne erkennbare Not, sondern in dankbarer Erinnerung – zweimal positiv über den von ihm hochgeschätzten, 1830 gestorbenen Großherzog Ludewig I.: »Sein Leben fiel in eine harte Zeit: er nahm g e z w u n g e n Theil an dem großen Hochverrathe, den Deutschlands Fürsten am deutschen Reich und ––––––––– 81 Ebd., S. 207. 82 Leuchter. 2. Blatt; zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 91.
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Volk begingen, als sie den Rheinbund schlossen […]; aber er erhielt dem Vaterlande das edelste Kleinod: g e i s t i g e F r e i h e i t. Er beschränkte nie die Presse, verfolgte keine politische Meinung«.83
Im 4. Blatt des Leuchter, also im März 1834, kam Weidig dann nochmals auf den »Hochverrath« zurück: »Denn fragt man: wie gelangten die deutschen Regenten zu u n b e s c h r ä n k t e n Herrscherrechten, so ist die unbestreitbare Antwort: d u r c h H o c h v e r r a t h a m d e u t s c h e n R e i c h u n d V o l k. Der Drang der Zeiten, ja die ewige Gerechtigkeit kann einen Umsturz des Bestehenden durch Hochverrath fordern und die Zeitverhältnisse können einen Hochverräther begünstigen, aber der Umsturz wird erst dadurch gerechtfertigt, daß mit Zustimmung des Volkes ein neuer R e c h t s z u s t a n d gebildet wird. Dies wurde von den edleren deutschen Fürsten, einem König Max, König Wilhelm, Großherzog Ludewig I. etc. ausdrücklich anerkannt, indem sie den neuen Zustand der Unumschränktheit in einen rechtlichen verwandelten. In andern Ländern verharrte man in unumschränkter Gewalt, bis die Julius-Sonne drängte. In neuester Zeit möchte man nun zur Unumschränktheit zurückkehren, und bedient sich dazu jesuitischer Vorbehalte und Trugschlüsse, aber dieses Beginnen ist doppelt hochverrätherisch, weil es nicht nur die alten unverjährbaren Eide gegen das deutsche Vaterland, sondern auch die neuen Verfassungseide verletzt.«84
Mayer nimmt – vermutlich aufgrund dieser Stellen – an, die Rede vom Hochverrat gehöre zu Weidigs wiederkehrenden Motiven, und ihr Auftreten im Landboten spreche deshalb für Weidigs Autorschaft. Jedoch wird bei einem genaueren Blick schnell deutlich, daß der Landbote dieses an sich geläufige Motiv nicht in einem mit Weidig konformen, sondern in einem zu Weidig konträren Sinne einsetzt. Weidig betonte im Leuchter zweimal die Möglichkeit, den im Rheinbund geschaffenen hochverräterischen Unrechtszustand durch eine vertraglich geregelte Konstitution nachträglich zu legitimieren. So war die Herrschaft Ludewigs I. zwar verbrecherischen Ursprungs, wurde aber schließlich rechtmäßig. Die––––––––– 83 Ebd.; dieser entschuldigende Zusatz – Hochverrat aus Notstand – findet sich auch
bei Johann Georg August Wirth: Die Geschichte der deutschen Staaten von der Auflösung des Reiches bis auf unsere Tage. Bd. 1. Karlsruhe: Kunstverlag, S. 76: »Gewiß fühlten auch die deutschen Theilhaber des Rheinbundes die ganze unselige Bedeutung ihres Schrittes, und waren darüber beschämt; denn sie entschuldigten sich durch die Gebote einer harten und bittern Nothwendigkeit.« 84 Leuchter. 4. Blatt; zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 98.
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selbe legitimierende Kraft billigte Weidig auch den nach 1830 ausgehandelten Konstitutionen zu. Erst »[i]n neuester Zeit«, also durch die »Juniordonnanzen« von 1832, in denen die Frankfurter Bundesversammlung gravierende Einschränkungen der Versammlungs- und Publikationsfreiheit verfügt hatte, sah Weidig diese Rechtmäßigkeit wieder in Frage gestellt. Hiermit seien die Fürsten wiederum gegenüber den von ihnen beschworenen Verfassungen rechtsbrüchig geworden und hätten außerdem nochmals »die alten unverjährbaren Eide gegen das deutsche Vaterland« verletzt.85 Die im Landboten gelieferte Kurzfassung dieser Ereignisse, also zunächst der Satz: »den Kaiser […] haben diese Fürsten verraten« (59,32f.), verzichtet auf diese moderaten Feindifferenzierungen, und auch die nach 1830 gegebenen Konstitutionen beurteilt der »Landbote« gerade nicht als nachträgliche Legitimation obrigkeitlicher Gewalt, sondern als einen »listig[en]« (61,26) Beschwichtigungsversuch der in Panik geratenen Machthaber: »Da ratschlagten die Fürsten, wie sie dem Grimm des Volkes entgehen sollten und die listigen unter ihnen sagten: Laßt uns einen Teil unserer Gewalt abgeben, daß wir das Übrige behalten. Und sie traten vor das Volk und sprachen: Wir wollen euch die Freiheit schenken um die ihr kämpfen wollt. – Und zitternd vor Furcht warfen sie einige Brocken hin und sprachen von ihrer Gnade.« (61,24–31.)
Diese Stellen sind inhaltlich büchnerkonform und weidigkonträr, und wenn sie durch Weidig beeinflußt wurden, dann eher im Sinne eines Gegenentwurfs. Der für Weidigs politisches Denken tatsächlich entscheidende neuerliche Rechtsbruch im Juni 1832 kommt im Landboten nicht in den Blick, denn Büchner dürfte in diesem Rechtsbruch tatsächlich nicht mehr gesehen haben als ein weiteres Glied in der Kette der Gewalthandlungen, ohne die das existierende politische System nicht bestehen konnte. Für Büchners Autorschaft der zuletzt genannten Stelle spricht bekanntlich auch die wörtliche Parallele in Büchners Wachensturm-Brief vom 5. April 1833: »Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen wie eine erbettelte Gnade«. Mayer will aufgrund dessen ebenfalls nicht ausschließen, daß hier ein Büchner-Relikt vorliegt, präsentiert aber zu der ––––––––– 85 Ebd.
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Stelle eine eher entfernt wirkende inhaltliche Parallele aus einem Drama des Berufsrevolutionärs Harro Harring, erklärt den Gedanken für topisch und folgert: »Insofern läßt sich kaum unterscheiden, ob Büchner oder Weidig die betr. Passage des ›Landboten‹ verantwortete.« (Mayer 264.) Hat Weidig dann mit seinen konstitutionalistischen Geschichtserzählungen im Leuchter die Leser hinters Licht geführt? Tatsächlich ist Mayer der Ansicht, daß der Leuchter keine Schlüsse auf Weidigs Meinungen zulasse, da Weidig in ihm nur »Speise für die ›Schwachen‹« bot, indem er sich also seiner moderat und konstutionalistisch gesinnten Leserschaft habe anpassen müssen (Mayer 262). Nun bezweifle ich nicht, daß Weidig unter Anpassungsdruck Gedanken verschwieg und sich wohl auch gelegentlich in Trivialitäten verlor. Daß er dagegen unter Anpassungsdruck das Gegenteil von dem sagte, was er wirklich glaubte, daß er also die Herrschaft Ludewigs I. ausdrücklich für rechtmäßig erklärte, obwohl er ihn für einen illegitimen Gewalthaber hielt, halte ich für unwahrscheinlich.
4.2. Zensusfreies Wahlrecht und Angst vor Pöbelherrschaft Der Landbote erläutert unter »Menschenrechte«: »die Landstände oder die Vertreter des Volks […] werden von Allen gewählt und Jeder kann gewählt werden« (60,16–18). Und im gleichen Sinne heißt es später: »Was sind unsere Wahlgesetze? Nichts als Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte der meisten Deutschen.« (62,3–5.) »Verletzungen der Bürgerrechte« waren die unter Zensusbestimmungen stehenden »Wahlgesetze« natürlich nur, wenn man der Auffassung war, daß allen Bürgern ohne Ausnahme ein Wahlrecht zusteht. Mayer schreibt die erste Stelle Weidig zu und hält bei der zweiten die Autorschaft offen. Nun gehört aber gerade das zensusfreie Wahlrecht zu den republikanischen Prinzipien, für die Büchner vehement eintrat, die Weidig aber ablehnte. Beide Sätze sind also büchnerkonform und weidigkonträr.
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4.3. Die Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution Mayers seinerzeit vom Forschungskonsens86 abweichende Annahme, daß der historische Exkurs (60,5–61,33) von Weidig stamme, erstaunt zunächst insofern, als dieser Rückblick mit einer kurzen Erklärung der »Rechte des Menschen« (60,12) beginnt. Büchner hatte den Verlust und Raub dieser Rechte schon zuvor zweimal beklagt (55,12f. u. 56,13f.), und so sollte man meinen, er habe jetzt diesen Begriff endlich mit Inhalt füllen wollen, zumal er selbst der Meinung war, die Bauern hätten »aus sehr nahe liegenden Ursachen durchaus keinen Sinn für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des Menschen u. s. w.« (Nöllner 421; Aussage Becker). Warum also sollte dieser Abschnitt nicht von Büchner, sondern von Weidig stammen? Mayer begründet seine Ansicht mit der Feststellung, Weidig seien bei der Abfassung dieses historischen Exkurses mangels gründlicher Kenntnisse Fehler unterlaufen, außerdem aber »Beschönigungen ausgerechnet zugunsten der konstitutionellen Monarchie« (Mayer 258). Diese »Beschönigungen« erklärt Mayer mit der »öfter« geäußerten Meinung Weidigs, er sei »vor der Hand […] mehr für die M o n a r c h i e, woraus dann später, wenn das deutsche Volk dafür empfänglich wäre, eine deutsche R e p u b l i k entstehen solle«.87 Betrachten wir zunächst die Fehler. Mayer nimmt Anstoß an folgenden Elementen in der Zusammenfassung der Erklärung der Menschenrechte (60,12–22; Einwände nach Mayer 258): – »Keiner erbt vor dem andern mit der Geburt ein Recht oder einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigenthum ein Recht vor dem andern«. – ––––––––– 86 Mayer (S. 256) nennt als einzige Ausnahme eine unveröffentlichte Magisterarbeit von
Peter Schirmbeck.
87 Überraschenderweise zitiert Mayer (S. 258) diese schon oben S. 112f. herangezogene
Aussage Fröhlichs (Nöllner, S. 304) an dieser Stelle zustimmend und ohne die von Fröhlich hinzugefügte Einschränkung: Im privaten Gespräch »machte er mir die oben angeführte[n] Eröffnungen, für eine deutsche R e p u b l i k mitzuwirken.« Damit macht Mayer Weidig eindeutig zum Konstitutionalisten, obwohl er – wie schon oben S. 110 zitiert – S. 262 schreibt, Weidig und »die oberhessischen Demokraten« seien »antifürstliche, antiaristokratische Revolutionäre comme il faut« gewesen und Weidig und Büchner hätten sich an »Schärfe« nicht unterschieden, wenn »sich ein Angriff […] eindeutig gegen den Adel, die Könige und Fürsten richtet«.
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Tatsächlich enthalte die Verfassung nichts Bestimmtes außer dem allgemeinen Satz im Artikel I der Menschenrechtserklärung: »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.« – »die Landstände oder die Vertreter des Volks […] werden von Allen gewählt und Jeder kann gewählt werden«. – Tatsächlich habe die Konstituante am 22. Dezember 1790 ein Zensuswahlrecht erlassen. – »der König hat nur für die Ausübung der von ihnen erlassenen Gesetze zu sorgen«. – Tatsächlich habe der König ein Vetorecht gehabt. – Er »sey nur der erste Diener im Staat, er müsse sich vor dem Volk verantworten und wenn er sein Amt schlecht verwalte, könne er zur Strafe gezogen werden.« – Tatsächlich sage die Verfassung von 1791, er sei »unverletzlich und heilig« (Mayer 258). Nun scheint es mir unangebracht, eine Flugschrift mit der Detailgenauigkeit zu versehen, die einer wissenschaftlichen Abhandlung gut ansteht, und wenn der Verfasser des Landboten es unterließ, die oberhessischen Bauern über eine zweitrangige Bestimmung der französischen Verfassungsgeschichte wie das aufschiebende Vetorecht des Königs zu informieren, so tat er wohl das Rechte. Was die übrigen Punkte angeht, so vereinfacht die Erzählung im Landboten tatsächlich, indem sie nämlich mit folgender Information einsetzt: »[…] das Volk in Frankreich […] erhob sich und berief Männer, denen es vertraute, und die Männer traten zusammen und sagten, ein König sei ein Mensch wie ein anderer auch […]. Dann erklärten sie die Rechte des Menschen« (60,5–12).
Mayer bezieht diese Erzählung und die folgende Menschenrechtserklärung durchweg auf die Institution, die als »Tiers État« der »États généraux« einberufen wurde, die sich am 17. Juni 1789 zur »Assemblée nationale« und am 9. Juli schließlich zur »Assemblée nationale constituante« erklärte und die als solche bis zum 30. September 1791 tagte und gegen Ende ihrer über zweijährigen Sitzungsperiode, am 3. September 1791, eine Menschenrechtserklärung als Teil einer Verfassung verabschiedete, auf die sich Ludwig XVI. am 14. September 1791 vereidigen ließ. Bei dieser Auslegung hat er mit seinen Einwänden recht.88 Jedoch ––––––––– 88 Unrecht hat Mayer freilich, wenn er (S. 259) von dieser »konstituierenden […]
Assemblée Frankreichs« sagt, sie sei »immerhin aus der Volksrevolution des 14. Juli hervorgegangen«.
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schwindet der Eindruck des Fehlerhaften, sobald man sieht, daß der Verfasser des Textes von den verschiedenen Menschenrechts- und Verfassungsbestimmungen sowie -auslegungen der Jahre 1789 bis 1793 immer die im republikanischen Sinne fortgeschrittenste Variante nennt, während er die Zwischenstufen übergeht. So nennt er nicht die das Zensuswahlrecht enthaltenden Wahlrechtsbestimmungen vom Dezember 1790, sondern mit der Formulierung »werden von Allen gewählt und Jeder kann gewählt werden« (60,17f.) die vom Sommer 1793, die die ZensusEinschränkungen abschafften.89 Ebenso definiert er die Position des Monarchen in einer Weise, wie sie tatsächlich erst im Spätherbst 1792 beim Prozeß gegen Ludwig XVI. angewandt wurde, als nämlich der Konvent den König nicht mehr für »heilig und unverletzlich«, sondern für strafrechtlich verantwortlich erklärte. Liest man den Text so – und so ist er m. E. zu lesen –, so kann von »Beschönigung der konstitutionellen Monarchie« keine Rede sein. Vielmehr will der gesamte Abschnitt anscheinend klar machen, daß die Einrichtung der konstitutionellen Monarchie nicht mehr war als ein unnötiger und gefahrvoller Umweg auf dem Weg zur Republik. Mayer schreibt, Weidig habe diesen Abschnitt »mit einem spezifischen Interesse an den Grenzen wie an den über ihren eigenen Horizont hinausweisenden Möglichkeiten der konstitutionellen Monarchie« verfaßt (Mayer 259). Die »über ihren eigenen Horizont hinausweisenden Möglichkeiten« liegen jedoch einzig in der Beseitigung des konstitutionellen Monarchen. Dies dürfte wohl eher Büchners als Weidigs Ansicht gewesen sein.
5. Von den Revolutionskriegen 1792/93 zur Julirevolution (Landbote 60,33–61,21) Wie eben gezeigt, sprechen die im ersten Abschnitt des historischen Exkurses präsentierten Inhalte recht deutlich für Büchners Autorschaft. Für die Zuordnung des folgenden Abschnittes scheint mir insgesamt dasselbe zu gelten; jedoch schlage ich vor, hier je nach Teilabschnitt diffe––––––––– 89 So in Art. V: »Tous les citoyens sont également admissibles aux emplois publics« und
in Art. XXIX: »Chaque citoyen a un droit égal de concourir à la formation de la loi et à la nomination de ses mandataires ou de ses agents.« Zit. n. Lucien Jaume (Hrsg.): Les Déclarations des Droits de l’homme. (Du Débat 1789–1793 au Préambule de 1946). Paris: Flammarion 1989, S. 299f. und 302.
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renziert zu argumentieren. Relativ eindeutig scheinen mir die Sätze 60,33– 61,7. Sie werden hier vor allem deshalb behandelt, weil sie in der Forschung bisher auf die »Herrschaftszeit« Robespierres, also ebenfalls auf die Terreur, bezogen wurden. Meines Erachtens beziehen sie sich auf die Revolutionskriege, und dieser Wechsel des Bezuges wirkt sich auch auf die Zuschreibung aus. Problematischer sind die Sätze 61,10–21, die die Errichtung der Republik als Rückbesinnung auf den wahren Gott und die französische Geschichte vom Fall Napoleons bis zur Thronbesteigung Louis-Philippes nach biblischem Muster als Erziehungsmaßnahme des »Allmächtig[n]« darstellen. Mir scheint, daß es keinen zwingenden Grund gibt, Büchner entweder die religiös klingende Begründung der Menschenrechte oder auch die biblisch geprägte Geschichtsdarstellung abzusprechen. Der dritte Abschnitt (61,21–33) handelt schließlich von den Wirkungen der Julirevolution in Deutschland. Wie schon gesagt (s. o. S. 116), beurteilt dieser Abschnitt die konstitutionellen Zugeständnisse der deutschen Fürsten als Folge von Panikreaktionen. Die hierbei verwendeten Worte hat Büchner zum gleichen Thema auch brieflich gebraucht. Das spricht bereits hinreichend für Büchners Autorschaft auch dieser Landboten-Stelle.
5.1. Die Revolutionskriege 1792/93 In dem auf die Einrichtung des französischen »Freistaat[s]« folgenden Abschnitt des Landboten heißt es (61,3–7): »Da ergrimmte das Volk und erhob sich in seiner Kraft. Es erdrückte die Verräter und zerschmetterte die Söldner der Könige. Die junge Freiheit wuchs im Blut der Tyrannen und vor ihrer Stimme bebten die Throne und jauchzten die Völker«.
Mayer hat diesen Abschnitt Büchner abgesprochen. Jancke und Saviane, die anders entschieden hatten, wirft er vor, sie nutzten ihre Interpretation, um aus Büchner einen Robespierre-Anhänger zu machen, und stellt ihnen »die Frage […], wie sich denn das so positive, ja geradezu frischfröhliche Bild der ›Herrschaftszeit Robespierres‹ im ›Landboten‹ [...] mit Büchners wenige Tage bzw. maximal zwei Wochen zurückliegender ›Zernichtung‹ über den ›gräßlichen Fatalismus der Geschichte‹ vertragen soll.« (Mayer 257f.; Mayer datiert wie seinerzeit üblich den Fatalismusbrief in den März 1834.) Nun scheint mir diese Debatte insofern gegen121
standslos, als Robespierres »Herrschaftszeit« im Landboten an keiner Stelle vorkommt.90 Robespierre übernahm am 27. Juli 1793 eine Position im Wohlfahrtsausschuß. Insofern fällt die Menschenrechtserklärung in der Verfassung vom 10. August 1793, die das Zensus-Wahlrecht abschaffte, allenfalls formell in die Zeit Robespierres; fixiert war der Text bereits am 24. Juni. Und vor allem: das »frischfröhliche Bild« bezieht sich auf frühere Ereignisse, nämlich auf den bekannten Sieg der Revolutionsüber die Koalitionsarmee am 20. September 1792 und den folgenden Vormarsch der Revolutionsarmeen, der zum Beispiel am 21. Oktober zur Einnahme von Mainz führte. Mayer ist Bergemann in der Feststellung gefolgt,91 daß der den Paragraphen einleitende Satz: »Die übrigen Könige […] dachten, sie könnten alle über der ersten Königsleiche den Hals brechen«, an Lacroix’ Satz aus Danton’s Tod (IV/7): »Die Tyrannen werden über unsern Gräbern den Hals brechen«, erinnert, und hält ihn deshalb für ein stehengebliebenes Relikt Büchners. Mich erinnern auch die folgenden Sätze im Landboten an die Begeisterung, mit der Büchners Danton vor Gericht (III/4) von dieser Zeit spricht: »Ich habe auf dem Marsfelde dem Königthume den Krieg erklärt, ich habe es am 10. August geschlagen, ich habe es am 21. Januar getödtet und den Königen einen Königskopf als Fehdehandschuh hingeworfen. […] Ich habe im September die junge Brut der Revolution mit den zerstückten Leibern der Aristocraten geäzt.«
Daß Weidig formuliert hätte: »Die junge Freiheit wuchs im Blut der Tyrannen« (61,5f.) oder daß dieser deutsche Patriot so »frischfröhliche Äußerungen« für das gefunden hätte, was letztlich die Annexion des linkrsheinischen Deutschlands durch französische Truppen bedeutete, das halte ich für unwahrscheinlich. Dagegen würde ich das Vokabular ––––––––– 90 Die Verbindung mit Robespierre in Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktuali-
tät seines Werkes. 3. Aufl. Königstein: Athenäum 1979, S. 94; Renato Saviane: Libertà e necessità. »Der hessische Landbote« di Georg Büchner. In: Studi tedeschi 19, 1976, H. 2, S. 7– 119. Auch Knapp (2000), S. 85, stellt, auf Jancke verweisend, diese Verbindung her: »Die angesprochene Chronologie – Abschaffung der Monarchie, Erklärung des allgemeinen Wahlrechts etc. – deutet genau auf die Zeitspanne vom August 1793 bis Juli 1794.« Tatsächlich werden aber meines Erachtens nur Ereignisse bis zum August 1793, also bis zur Verkündung der jakobinischen Verfassung, genannt. 91 Bergemann (s. Anm. 5), S. 737.
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der zitierten Sätze durchaus Büchner ›zutrauen‹. Bedenklich ist sicher die schrecklich altfränkisch klingende Wendung »das Volk ergrimmte«, die aber im frühen 19. Jahrhundert breit und nicht nur bei Deutschtümlern belegt ist.92 Dasselbe gilt für »junge Freyheit«, was z. B. Heine (allerdings ironisch) verwendete.93 »[V]or ihrer Stimme bebten die Throne«: das hat eine Parallele in Büchners »Pforzheimer«-Rede: »Solche Männer waren es, […] vor welchen die Tyrannen bebten«. Das »jauchzten die Völker« schließlich scheint übernommen aus Voss’ Homerübersetzung.94 Ich schlage deshalb vor, die Stelle als konträr zu Weidig, aber als konform mit Büchner zu beurteilen.
5.2. Von »dem Gotte […], der die Menschen frei und gleich geschaffen« (Landbote 61,15f.) Die Begriffe »Menschenrechte« oder »Menschen- und Bürgerrechte« oder Varianten hierzu finden sich im Landboten an vier Stellen. Die Fürsten, so heißt es zunächst, ›erpressen‹ Steuern, um den Untertanen ihre »Menschen- und Bürgerrechte zu rauben« (55,10–13), und wenig später (56,13f.): »klagt über eure verlorne Menschenrechte«. Die französischen Volksvertreter – so hören wir weiter (60,12) – »erklärten […] die Rechte des Menschen«; und schließlich heißt es über »unsere Wahlgesetze« (62,3–5), sie seien »[n]ichts als Verletzungen der Bürger- und Menschenrechte der meisten Deutschen.« In die Reihe gehören noch zwei weitere Äußerungen, in denen von dem ersten Grundsatz der Menschenrechte, der Gleichheit und Freiheit aller Menschen, die Rede ist. In 61,15f. spricht der Text von »dem Gotte […], der die Menschen frei und gleich geschaffen«, und in 63,23f. heißt es: »daß Gott alle Menschen frei und ––––––––– 92 Ich finde die Wendung »das Volk ergrimmte« u. a bei Schleiermacher, in August
Friedrich Gförers Übersetzung des Flavius Josephus (Geschichte des jüdischen Krieges. Bd. 2. Stuttgart u. Leipzig 1836, S. 303), in Ludwig Hoffmanns: Die staatsbürgerlichen Garantieen oder über die wirksamsten Mittel, Throne gegen Empörungen, und die Bürger in ihren Rechten zu sichern (Stuttgart und Tübingen: Cotta 1828, S. 154). 93 Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In: DHA 11, S. 9–132, hier S. 77. 94 Homer: Ilias XIII, V. 831f.; nach Johann Heinrich Voss: Homers Ilias. XIII.–XXIV. Gesang. 3 verb. Aufl. Tübingen: Cotta 1806, S. 34: »Also rief der herscher, und führete; jene nun folgten / Mit graunvollem geschrei, und laut nach jauchzten die völker.«
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gleich in ihren Rechten schuf«. Wie sollen wir diese religiös klingende Sprache beurteilen? Die Rede von bestimmten Handlungen Gottes in der Geschichte begegnet im Landboten des öfteren. Für uns alle, die wir annehmen, daß Büchner nicht an einen transzendenten Gott glaubte, liegt es nahe, diese Äußerungen allesamt dem Theologen Weidig zuzuschreiben, und für die hier zu verhandelnde Stelle 61,15f. ist dies noch aus zwei besonderen Gründen plausibel: die Wiederholung in 63,23f. fällt in den Textbereich, den Bergemann und Mayer Weidig zuschreiben, und Weidig ermahnte in seiner »Antrittsrede (›Was uns bleibt?‹) gehalten in Obergleen am 7. September 1834« seine Gemeinde: »Laßt uns wandeln im Glauben an einen heiligen Gott, der alle Menschen gleich geschaffen hat in Rechten und Pflichten […]«.95 Der Satz ist also zweifellos bei Weidig belegt, und Mayer weist ihn deshalb Weidig zu. Nun ergeben Formulierungen aus dem zweiten Teil des Landboten nach einer oben genannten Regel96 keine starken Argumente für die Textzuweisung, weil Weidig natürlich Formulierungen aus dem ersten Teil in den zweiten übernommen haben kann, und dasselbe gilt natürlich auch für die Predigt in Obergleen, die auf September 1835, also nach dem Landboten, datiert. Für diese Möglichkeit spricht zudem, daß Weidig – wie schon erwähnt – normalerweise nicht von »Menschenrechten«, sondern von anderen Kollektivrechten sprach. Also kehren wir zurück zu der Frage, ob dem nicht gläubigen Büchner zuzutrauen ist, daß er die Formulierung von »dem Gotte […], der die Menschen frei und gleich geschaffen«, selbst gebraucht hat. Im frühen 19. Jahrhundert gab es drei Möglichkeiten, die Menschenrechte zu begründen: – durch die mythisch-religiöse Erzählung von der Handlung eines Schöpfergottes; – durch die historische Erzählung von einem einst besessenen, dann geraubten Gut; – durch eine Deduktion aus der »Natur« oder »Idee« des Menschen. Schließlich konnte man auf eine Begründung verzichten und die Menschenrechte entweder als einen Teil von politischer Ideologie oder ––––––––– 95 Weidig: Reliquien, S. 99 u. 114; zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 227 u. 242. 96 Siehe oben S. 82.
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als Rechtselement in einem künftigen oder gegenwärtigen Staat darstellen. Die erste Variante wählte Marx und sprach folgerichtig von den »sogenannten Menschenrechte[n]«.97 Die zweite Variante wählte Proudhon, der gegen die jakobinische Menschenrechtserklärung von 1793: »Tous les hommes sont égaux par la nature et devant la loi«, einwandte, dies sei eine »déclaration ambigue et redondante. ›Les hommes sont égaux par la nature‹: est-ce à dire qu’ils ont tous même taille, même beauté, même génie, même vertu? Non: c’est donc l’égalité politique et civile qu’on a voulu désigner. Alors il suffisait de dire: ›Tous les hommes sont égaux devant la loi.‹«98
(»Es genügte zu sagen: alle Menschen sind gleich vor dem Gesetz«, und zwar als begründungslosen Akt der Rechtsetzung.) Zuvor freilich wählten Theologen, Philosophen und Politiker meist entweder den religiösen oder den naturrechtlichen Weg der Begründung. Theologischer locus classicus ist hierfür eine Äußerung Martin Luthers in seiner bekannten Polemik gegen Thomas Müntzer, derzufolge Gott zwar »alle Dinge frei und gleich geschaffen«, aber diese Qualitäten im Neuen Testament wieder aufgehoben habe: »Es hilft auch die Bauern nicht, daß sie fürgeben, 1. Mose 1. 2. seyen alle Dinge frei und gleich geschaffen und daß wir alle gleich getauft sind. Denn im neuen Testament hält und gilt Moses nicht; sondern da stehet unser Meister Christus und wirft uns mit Leib und Gut unter den Kaiser und weltlich Recht. Und die Taufe macht nicht Leib und Gut frei, sondern die Seelen. Auch macht das Evangelium die Güter nicht gemein«.99
Als locus classicus der Philosophiegeschichte – jetzt im positiven Sinne – seien John Lockes anonym erschienene Two Treatises of Government genannt.100 In der ersten dieser zwei Abhandlungen polemisierte Locke ge––––––––– 97 Siehe oben Anm. 77. 98 Jean Pierre Proudhon: Qu’est-ce que la propriété? Paris: Garnier 1849, S. 22; ähnlich auch
zuvor schon Antoine François Bertrand de Moleville: Histoire de la Révolution de France. 3. Teil. Bd. 12. Paris: Guiguet et Michaud 1803, S. 19: »la nature, qui n’a jamais fait égales deux feuilles du même arbre, n’a jamais rendu deux hommes parfaitement homogènes, par la structure physique, par le caractère et par l’entendement«. 99 Hier zit. n. Gustav Pfizer: Martin Luther’s Leben. Stuttgart: Liesching 1836, S. 417f.; ebenso auch zitiert in Wolfgang Menzel: Geschichte der Deutschen bis auf die neuesten Tage. 3. Aufl. Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1837, S. 571. 100 London: Awnsham and Churchill 1698 (hier referiert nach der »Student Edition«, hrsg. v. Peter Laslett, 12. Aufl., Cambridge: University Press 2002).
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gen zeitgenössische Rechtstheoretiker, die aus der universellen väterlichen Gewalt Adams den göttlichen Status der absoluten Monarchie ableiten wollten. Locke wies umgekehrt nach, daß Adam nie als einzelner alle Souveränitätsrechte innehatte, sondern daß Gott vielmehr die Souveränität auf alle von ihm als »gleich« und »frei« geschaffenen Menschen verteilt habe. Als eines unter mehreren Argumenten hierfür wies Locke dabei – wie schon vor ihm die Bauern um Thomas Müntzer – auf die Reihenfolge hin, in der Gott die Lebewesen schuf: am fünften Tag die Vögel und Fische, am sechsten Tag vormittags die Landtiere einschließlich der Reptilien (das »Gewürm« des Landboten 53,26), nachmittags schließlich den Menschen. Im Landboten knüpfte Büchner an diese Begründungstradition an. Im zweiten der Treatises differenzierte Locke diese Argumentation, indem er – jetzt fast durchweg mit naturrechtlicher Begründung – aus der »Gleichheit« und »Freiheit« eine Reihe weiterer ›unveräußerlicher‹ (»unalienable«) Menschenrechte ableitete. Dem Philosophen des späten 17. Jahrhunderts lieferte der biblische Schöpfungsmythos tragende Argumente, wobei ihm zugute kam, daß er dem Bibeltext durchweg dieselben Schlußfolgerungen zu entnehmen wußte wie einer rationalistischen Deduktion des Naturrechts. Welchen der beiden Wege zu dem gewünschten Ziel er einschlug, war demnach nahezu gleichgültig. Daß »jedes Volk nach der Vernunft und nach der heiligen Schrift« (60,27f.) bestimmte Rechte hat, darunter auch das einer freien Wahl der Obrigkeit, das hätte auch Locke sagen können. Diesen mehrdeutigen Charakter haben sich Menschenrechtserklärungen lange bewahrt. Die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung waren teilweise Deisten und mußten also an den Schöpfungsmythos nicht unbedingt glauben; dennoch griffen sie mit dem Satz »All men are created equal« umstandslos auf ihn zurück. In Lafayettes »Motion pour une déclaration des droits« vom 11. Juli 1789 hieß es: »La nature a fait les hommes libres et égaux« (»Die Natur hat die Menschen frei und gleich geschaffen«), womit die »Natur« zum Urheber der Schöpfung wurde.101 Die Verfasser der französischen Menschenrechtserklärung von 1791 verzichteten dann auf solche halb-mythischen Begriffe und stellten im 1. Artikel nur fest: »Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits«. Sie trafen diese Feststellung jedoch immmerhin »en présence ––––––––– 101 Zit. n. Jaume (s. Anm. 89), S. 118.
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et sous les auspices de l’Être Suprème«102 und sprachen im 2. Artikel von den »droits naturels et imprescriptibles«, deren Erhaltung das Ziel jeder politischen Gemeinschaft (»le but de toute association politique«) sei. Die jakobinische Menschenrechtserklärung vom 24. Juni bzw. 10. August 1793 formulierte schließlich: »Tous les hommes sont égaux par la nature et devant la loi«,103 argumentierte damit halb naturrechtlich, halb wissenschaftlich-empirisch und wurde deshalb von Proudhon kritisiert. Und Büchner? In Danton’s Tod (II/7) läßt er Saint-Just sagen: »[...] da Alle unter gleichen Verhältnissen geschaffen werden, so sind Alle gleich«. Schließlich gibt uns eine schon zitierte Aussage von Theodor Sartorius einen Hinweis, wie Büchner, der spätere Philosophiedozent und Experte in rationalistischer Philosophiegeschichte, die Republik und wahrscheinlich also auch die Menschenrechte unter Akademikern begründete: »Dieser Becker sowohl wie jener Büchner […] haben immer davon gesprochen, daß die einfachste und dem Naturgesetz angemessenste Staaten- und Regierungsform die wünschenswertheste sei und als Ideal für diese erkannten sie die Republik und sie erklärten, man müsse darauf hin auch in Deutschland wirken.«104
Das ist dieselbe naturphilosophische Begründung, die der Anatom Büchner in seiner Dissertation und seiner Probevorlesung anwendet, wenn er über das »Grundgesetz für die gesammte Organisation« sagt, daß es »nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt«.105 Was unsere Ausgangsfrage angeht, so hätte selbst diese naturphilosophische Begründung Büchner nicht hindern müssen, von dem »Gott […], der die Menschen frei und gleich geschaffen«, zu sprechen. Dieser Gott wäre dann freilich nicht »das absolut vollkommne, moralische Wesen des Deismus«, das Büchner später im ersten »Spinoza«-Skript explizit ablehnte, sondern ein »deus sive natura«
––––––––– 102 103 104 105
Zit. n. ebd., S. 12. Zit. n. ebd., S. 299. Verhör vom 1. Juni 1835; zit. n. Katalog Marburg, S. 156. »Probevorlesung«, in: MBA 8, S. 155. In der französischen Fassung von Büchners Dissertation ist die »Natur« der Schöpfer: »La nature est grande et riche, [...] parce qu’elle produit, d’après le plan le plus simple, les formes les plus élevées et les plus pures« (ebd., S. 100).
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oder zumindest die »Weltursache«, die ihm zufolge »jeder Atheist selbst […] anerkennen muß«.106 Für politische Flugschriften und für Bauern, die so »mit ihrer materiellen Noth beschäftigt« waren, daß sie »durchaus keinen Sinn für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des Menschen u.s.w.« (Becker, Büchner referierend; zit. n. Nöllner 421) haben, war all dies nun doch zu kompliziert, und zu Recht war Büchner der Meinung, die zu schreibenden »Flugschriften müßten ihre Ueberzeugungsgründe aus der Religion des Volkes hernehmen, in den einfachen Bildern und Wendungen des neuen Testaments müsse man die heiligen Rechte der Menschen erklären.«107 Ich verstehe also den Satz von Gottes Schöpfung freier und gleicher Menschen als eine nur terminologische Variante auf die philosophisch geläufige naturrechtliche Begründung und halte es für wahrscheinlich, daß Büchner nicht zögerte, die Menschenrechte in religiös klingender Sprache zu begründen, wenn dies den Umständen nach geboten schien. Am besten sprechen wir hier wohl von »lexischem Registerwechsel«, einem Verfahren, das jeder Mensch im Alltagsleben ständig verwendet und das natürlich ein Dramatiker, der verschiedene Personen in unterschiedlichen Registern sprechen läßt, vor allem beherrschen muß.
5.3. Geschichte als pädagogisches Handeln Gottes (Landbote 61,10–21) Ein Volk, das die Menschenrechte außer acht läßt, fällt ab von Gott; indem es sie anerkennt, bekehrt es sich wiederum zu Gott. Oder anders gesagt: Sind diese Rechte einmal religiös begründet, so ist jedermann verpflichtet, für sie einzutreten. Darf ich einen solchen Gedanken auch noch Büchner zutrauen? Die Verfasser der Präambel der Menschenrechtserklärung von 1791 sahen sich veranlaßt, »die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen in einer feierlichen Erklärung« aufzustellen, also dem kollektiven Gedächtnis einzuprägen, weil nämlich »die Unwissenheit, das Vergessen oder die Mißachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und ––––––––– 106 MBA 9.2, S. 15. 107 Aussage Adam Koch; in Ilse (s. Anm. 68), S. 428.
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der Korruption der Regierungen« sei.108 So wie bei Kant die »Unmündigkeit« des Menschen »selbstverschuldet« ist, so sind es auch hier das Vergessen oder die Mißachtung an sich klarer Tatsachen, die zu Ungleichheit und Unfreiheit geführt haben. Für die philosophische Begründung gilt ähnliches. Auch das »Naturgesetz«, das eine ihm »angemessenste Staatenund Regierungsform« kennt, wirkt verpflichtend, wenn nicht im moralischen, so zumindest im pragmatischen Sinne. Wer es mißachtet, den wird die Natur strafen. Im Landboten wird aus diesen und weiteren Elementen eine Erzählung der nachrevolutionären französischen Geschichte, in der Gott Geschichte macht, indem er ein Volk, das sich von seiner »junge[n] Freiheit« abund dem »Götzendienst der erblichen Königsherrschaft« zugewandt hat, maßregelt, damit es zu dem wahren republikanischen Gott zurückfinde. Gottes Mittel sind der russische Frost, die russische Armee und schließlich die französische Restauration: »Aber die Franzosen verkauften selbst ihre junge Freiheit für den Ruhm, den ihnen Napoleon darbot, und erhoben ihn auf den Kaiserthron. – Da ließ der Allmächtige das Heer des Kaisers in Rußland erfrieren und züchtigte Frankreich durch die Knute der Kosacken und gab den Franzosen die dickwanstigen Bourbonen wieder zu Königen, damit Frankreich sich bekehre vom Götzendienst der erblichen Königsherrschaft und dem Gotte diene, der die Menschen frei und gleich geschaffen.« (61,7–16.)
Persönlich finde ich diese Geschichtserzählung in ihrer Kürze, ihrer Prägnanz, ihrem Witz, aber auch ihrem Ernst unübertrefflich. Scheinbar »pastörlich« spricht der Verfasser von ›Züchtigung‹, Gottes Instrument hierfür ist dann sehr passend »die Knute der Kosacken«, und indem »der Allmächtige« ausgerechnet »die dickwanstigen Bourbonen« auf den Thron setzt, zeigt er seinen Sinn für Humor. Den zeigt der Verfasser wohl auch, wenn er im folgenden Satz die Züchtigungsmetapher fortführt und schreibt: »Frankreich [...] band sich in dem Heuchler Louis ––––––––– 108 Zit. n. Jaume (s. Anm. 89), S. 11f.: »Les représentants du peuple français, [...] considé-
rant que l’ignorance, l’oubli ou le mépris des droits naturels de l’homme sont les seules causes des malheurs publics et de la corruption des gouvernements, ont résolu d’exposer dans une déclaration solennelle les droits naturels, inaliénables et sacrés de l’homme [...]«. Die jakobinische Menschenrechtserklärung vom Juni/August 1793 wiederholt diesen Satz mit leichten Abänderungen.
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Philipp eine neue Zuchtrute auf«.109 Ernsthaft vorausgesetzt ist bei dieser Erzählung, daß Nationen in bestimmten Situationen für ihre Gewalthaber selbst verantwortlich sind, »die Franzosen« also nicht für Ludwig XVIII., der ihnen nach der Niederlage aufgezwungen wurde, wohl aber für Napoleon und Louis-Philippe, die sie in gewisser Weise selbst bestimmten. Wem dies zu moralisch scheint, der kann sich mit dem pragmatischen Satz begnügen, daß jede Entscheidung Konsequenzen hat, die ein deus sive natura oder auch nur der Gang der Dinge herbeiführt. Der hier genannte Registerwechsel konnte in einem Text wie dem Landboten freilich nur dann möglich sein, wenn der Verfasser der christlichen Tradition nicht geradezu feindselig gegenüberstand. Nun gibt es gute Gründe, Büchner nicht für einen gläubigen Christen zu halten. Deutlich ist aber auch, daß sein Bruch mit Teilen der christlichen Tradition ihn nicht hinderte, in Straßburg vor allem mit Theologen zu verkehren, sich mit einer Pfarrerstochter zu verloben und in Gießen wiederum mit dem Theologen Weidig zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit fiel ihm leicht, weil er anscheinend mit einem gleitenden, wenn auch langfristig eindeutigen Übergang von religiösen zu säkularen Begründungsformen rechnete. Büchners frommer Freund Alexis Muston hat dies später in folgender Anekdote festgehalten. Er habe, so erinnerte er sich, in einem Darmstädter Museum vorreformatorische ornamentale und liturgische Gegenstände der katholischen Konfession betrachtet und habe dabei gegenüber Büchner die Befürchtung geäußert, daß eines Tages »die Religion als solche unter den alten Krempel verbannt« werden könnte. Büchner habe geantwortet: »Es ist sehr wohl möglich, daß die kirchlichen Förmlichkeiten nicht immer der angemessenste Ausdruck des religiösen Gefühls bleiben. Der Gegenstand des religiösen Gefühls ist das Ideal, seine Ausformung in der Wirklichkeit ist der Fortschritt […].«110 ––––––––– 109 Der aus der Bibeltradition stammende Begriff »Zuchtrute« begegnet – auch in der
hier einschlägigen politischen Bedeutung – häufig, so z. B. als »Zuchtruthe des Despotismus« in Schillers Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande, ist also topisch. Auch die Wendung »sich eine Zuchtruthe aufbinden« ist mehrfach belegt, und zwar zum Teil abgeflacht zu der Bedeutung: ein schwerwiegendes Problem selbst hervorrufen. 110 Nach der Übersetzung von Fischer (s. Anm. 73), S. 259 u. 261.
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Folgt man diesem Gedanken, so ist der Gegenstand der religiösen Erzählung oder Mythe nur eine besondere historische Variante dessen, was in säkularer Form oder auch in anthropologischer Allgemeinheit als »Ideal« bezeichnet wird. In Hinsicht auf die universelle Geltung von Menschenrechten oder den Kampf für eine republikanische Verfassung bedeutet dies, daß zwischen deren philosophischer Deduktion und ihrer narrativ-religiösen Begründung kein prinzipieller Unterschied besteht. Man konnte sagen: Die Menschen sollen dem »Gotte diene[n], der die Menschen frei und gleich geschaffen«. Oder man konnte sagen: Es gehört zu unseren »Grundsätzen«, für die »einfachste und [dem] Naturgesetz angemessenste« Gesellschaftsform zu kämpfen, für die freier und gleicher Menschen in einer Republik. Dies waren im Grunde nur variante Ausdrucksformen desselben Gedankens. Nun gibt es sicher Fälle, wo solche Registerwechsel moralisch anstößig werden. Folgende von Mayer (235f.) beigebrachte Parallele mag das zeigen. Leopold Eichelberg nutzte in einem Flugschriften-Entwurf die gerade in der Bevölkerung grassierende »Kometenfurcht« als Messiassignal für die oberhessischen Bauern, was Mayer überzeugend als »Sterndeutung für die Heloten« und Ausdruck von »bourgeoisrevolutionärem Zynismus« bezeichnet hat. Eichelbergs Vorgehen scheint auch mir anstößig. Anstoß würde ich auch nehmen, wenn Büchner geschrieben hätte: »Wann der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch« (66,5–8). Weidig mochte noch eine Berufung in sich spüren, sich derart als Gesandten Gottes zu bezeichnen. Wenn Büchner sich derart als Berufener ausgegeben hätte, so erschiene mir dies als betrügerisch. Bei der Erzählung von Zeitgeschichte nach alttestamentarischem Muster kommen mir diese Bedenken nicht. Meines Erachtens überwiegen die Gründe, den historischen Exkurs Büchner zuzuschreiben, die möglichen Gegengründe also bei weitem. Mit den folgenden Überlegungen will ich die Frage nach Ursprung und Legitimität ›lutherischer‹ Sprache im Landboten noch einmal unter einem anderen Aspekt diskutieren.
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6. Textkritische Wortschatzanalysen? Sprache aus der Tradition der »Gießener Schwarzen« Können uns Wortschatzanalysen helfen, die Verfasseranteile im Landboten zu bestimmen? Bei diesem Verfahren müßten wir für jedes auffällige Wort bestimmen, mit welcher Häufigkeit und in welcher Verwendungsform es bei einem der beiden Autoren erscheint, und dann entscheiden, ob wir es umgekehrt auch mit hinreichender Sicherheit einem der beiden Autoren absprechen können. In einem zweiten Schritt können wir neben dieser autorspezifischen auch eine gruppenspezifische Analyse vornehmen, also untersuchen, ob ein verdächtiges Wort charakteristisch für eine politische Gruppe ist, der einer der beiden Autoren angehörte. Der Versuch einer solchen Analyse liegt beim Landboten nahe, und Mayer hat ihn nicht systematisch, aber doch immer wieder mit einzelnen Hinweisen durchgeführt und dabei stets begründet, warum und mit welcher Sicherheit er den »Tonfall Weidigs« (Mayer 267) zu hören glaubte. So läßt sich an den von ihm gewählten Beispielen vielleicht am besten zeigen, wie schwierig, wenn nicht aussichtslos das Verfahren ist. Ich beginne mit Beispielen der autorspezifischen und komme dann zur gruppenspezifischen Analyse. Es geht jeweils um vermeintlich weidigspezifische Wörter, die zusätzlich im ersten, unbestritten von Büchner stammenden Teil des Landboten auftauchen und die Weidig demnach in den Büchner-Text implantiert hätte, oder auch um Wörter aus dem umstrittenen Teil des Landboten, die – wenn sie büchnerkonträr sind – Weidigs Autorschaft dieses Abschnitts bestätigen würden. Als mögliche Implantate beurteilte Mayer (Mayer 269) u. a. die Wörter 54,19 »Presser«, 54,4 »Fremde«, 55,7 »Schinder« (auch 57,16 »Schinderei«), 57,5 »Tyrannen« (auch 61,6), 55,10 »Knechtschaft«, außerdem (Mayer 263) neben »schinden« auch »martern« (belegt in 58,26 »Marterstuhl«) und schließlich (Mayer 262) aus dem umstrittenen Teil 60,36f. »Franken« (für »Franzosen«). Letzteres sei ein »zweifelsfrei« von Weidig stammendes Wort. Streifen wir nur kurz das verdächtigte »martern«. Büchner verwendet das Wort zweimal in Danton’s Tod – »Leben langsam aus den Fiebern martert« (III/7); »eine Handvoll gemarterten Staubes« (ebd.) – einmal in Lenz – »das Bild läuft mir fort, und dies martert mich« (MBA 5, S. 42) – und einmal in einem Brief, dem ersten Brief an die Braut (»dies kalte und gemarterte Herz«). Es ist also als Büchner-Wort bestens ausgewiesen. 132
Mayer ordnet es einem Komplex »politisch-theologische[r] Leitmotiv[e]« und wohl deshalb Weidig zu; jedoch ist das verdächtigte »Marterstuhl« ein terminus technicus aus dem älteren peinlichen Gerichtsverfahren. Wie steht es mit »Presser«? Das Wort bezeichnet im harmlosesten Sinne Gerichtsdiener, sonst aber vor allem Regierungstrupps, die geeignet scheinende Leute z. B. in Bordellen und Kneipen aufgriffen, um sie in die Armee zu »pressen«. Das Wort begegnet bei Büchner sonst nirgends, wohl aber dreimal in den letzten Abschnitten des Landboten, die wir Weidig zuschreiben (65,24, 31 u. 36). Strittig ist seine Herkunft in 54,19, wo es über das Steuergeld heißt: »Im Namen des Staates wird es erpreßt, die Presser berufen sich […]« (54,18f.). Vermutlich wählte der Verfasser dieses prägnante Wort »Presser« in Fortsetzung von »wird es erpreßt«. Wir müßten also außer »Presser« gleich auch noch »erpreßt« verdächtigen. Deshalb finde ich es wahrscheinlicher, daß Weidig dieses von Büchner gefundene Wort besonders passend fand und am Ende des Textes wieder aufnahm, als daß umgekehrt Weidig es zu Anfang implantierte. Nicht anders steht es mit »schinden« oder »Schinder«. Das Wort, das natürlich das Häuten von Tieren bezeichnet, fehlt sonst bei Büchner, schien aber für Weidig gut ausgewiesen, denn es begegnet im Landboten dreimal in seinerzeit unbestrittenem Weidig-Text (63,7f. »der fremden und einheimischen Schinder«; 65,19 »eitel Schinderei«; 64,4 »schunden«), zweimal in vermutlichen Weidig-Einsprengseln (56,21 »Volksschinder« und 56,22 »geschunden«) sowie zweimal in dem umstrittenen Teil (59,26f. »Schinderei«, 59,36 »schinden«). Zweimal – und hierauf beschränke ich mich – finden wir es in dem sonst unbestrittenen Büchner-Text. In 55,6f. heißt es: »Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an […]«. Mayer erwägt, »Schinder« sei an dieser Stelle implantiert. Aber wie hieß der Satz dann vorher? Die Formulierung »sie sind seine Hirten, Melker« verlangt an sich schon eine steigernde Ergänzung, und dann ist »Schinder« auch noch das einzige Wort, das einen Übergang zu dem folgenden Satz herstellt. Sollen wir annehmen, daß er auch von Weidig stammt? Dieses letztere Problem haben wir in ähnlicher Form auch bei 57,13–16: »Dafür werden die Beamten aufs Polster gelegt, wenn sie eine gewisse Zeit dem Staate treu gedient haben, d. h. wenn sie eifrige Handlanger bei der regelmäßig eingerichteten Schinderei gewesen, die man Ordnung und Gesetz heißt.«
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Wenn wir »Schinderei« streichen, gerät der ganze Satz ins Wanken. Er ist aber der einzige, den der Landbote zum Etatposten der Pensionen überhaupt enthält. Mayer hat seinerzeit denjenigen, die am Ende des Landboten möglichst viel Text für Büchner retten wollten, verdeutlicht, wie eng die Textteile verbunden sind und daß man nicht Abschnitt ›k‹ Weidig, Abschnitt ›l‹ aber Büchner zuschreiben kann, wenn ›l‹ eine direkte Fortsetzung von ›k‹ ist. Das gilt für das umgekehrte Verfahren der Zuschreibungen an Weidig freilich genauso. Auch hier gilt meist: wenn man ein einzelnes Element in Frage stellt, gefährdet man zugleich die Umgebung. Kommen wir zum Verfahren der gruppenspezifischen Wortschatzanalyse. Mayer weist zu Recht darauf hin, daß Weidig in jener christlichreligiösen sowie »deutschtümelnden u n d revolutionären Tradition von 1815/19« (Mayer 262) gestanden habe, die sich in Gießen in der Gruppe der »Gießener Schwarzen« bzw. im Kreis um Karl Follen organisierte. Es liegt deshalb nahe, Wörter, die für den Follen-Kreis charakteristisch sind, auch Weidig als Angehörigem dieser Gruppe zuzuschreiben. Als Teil dieses Vokabulars nennt Mayer die Wörter »reisige[r] Zeug«, »Zwingburgen«, »Knechtschaft«, »Kerker«, »Schande«, »Wahn«, »Kraft«, »Freistaat« (Mayer Anm. 605, S. 286f.) sowie die schon genannten »Franken« (für »Franzosen«). Ich betrachte im folgenden »reisiger Zeug«, »Knechtschaft« und »Franken«. Für das – übrigens maskuline und tatsächlich heute fremdartige – Wort »reisiger Zeug« mit der Bedeutung von »Reiterei« finde ich weder bei Adelung noch bei Heyse einen Hinweis, daß es veraltet oder sonst seltsam sei.111 Büchner kannte dieses vor 1850 noch häufig belegte Wort z. B. aus Goethes Götz (II/10: »Sechs Reisige«) und aus Voss’ HomerÜbersetzung (z. B. Ilias, 7. Gesang, V. 342),112 also aus Texten, aus denen er des öfteren Elemente übernahm. Das Wort ist also nicht gruppenspezifisch, sondern topisch. ––––––––– 111 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart.
4 Bde. Wien: Bauer 1811, Bd. 3, S. 1065; Karl Wilhelm Ludwig Heyse, Johann Christian Heyse: Handwörterbuch der deutschen Sprache. 2 Bde. Magdeburg: Heinrichshofen 1849, Bd. 2, S. 495. 112 Johann Heinrich Voss: Homers Ilias. I.–XII. Gesang. 3. verb. Aufl. Tübingen: Cotta 1806, S. 180.
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Nichts anderes gilt natürlich auch für »Knechtschaft«. Es kann BibelAssoziationen (»Knechtschaft in Ägypten«) wecken und findet sich im Landboten in den Weidig-Teilen 64,14f. »Allen, die Recht und Freiheit mehr lieben als Unrecht und Knechtschaft« sowie 66,10f. »in den Dornäckern der Knechtschaft«, außerdem im Büchner-Teil 55,9f. »sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft«. Aber auch der Gymnasiast Büchner gebrauchte es in der »Helden-Tod«-Rede, indem er von der Wahl zwischen »Freiheit oder Knechtschaft« sprach.113 Und schließlich schrieb Büchner seinen Eltern Ende März 1834: »ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen.« Und die »Franken«? Im umstrittenen Teil begegnet 60,36f. der »Freiheitsruf der Franken« statt des zu erwartenden »Freiheitsrufs der Franzosen«. Jedoch begegnet »Franken« neben »Franzosen« auch mehrfach in Büchners »Helden-Tod«-Rede, einmal speziell in der Wendung »Freiheits-Kampf der Franken«.114 Mayer hätte den Hinweis, »Knechtschaft« und »Franken« seien doch beim Gymnasiasten Büchner nachgewiesen, nicht gelten gelassen. Im Gegenteil: ihm galt das gleichzeitige Auftreten eines Wortes in der »Helden-Tod«-Rede und im Landboten geradezu als Argument gegen Büchners Autorschaft. Mayer wies selbst das Vorkommen der »Franken« in der »Helden-Tod«-Rede nach und kommentierte, daß Büchner »den Begriff ›Franken‹ ja nicht zufällig ausschließlich als Gymnasiast während seiner kurzen Influenza aus dieser Tradition [i. e. des Follen-Kreises] verwendete« (Mayer 262). Sowohl Weidig als auch Büchner – darüber ist sich die Forschung einig – hatten Teil an derselben Tradition des FollenKreises und der Gießener oder Darmstädter »Schwarzen«. Bei Weidig war sie prägend, bei Büchner – Mayer zufolge – eine »kurze Influenza«. Mayer wehrte sich mit diesem Terminus zu Recht unter anderem gegen die von Werner R. Lehmann unternommenen Versuche, Büchner als lebenslangen Anhänger Fichtes und eines christlichen Chiliasmus zu deuten,115 und wollte deshalb nicht einmal gelten lassen, daß Büchner mit ––––––––– 113 Zit. n. P II, S. 23. 114 Ebd., S. 19. 115 Vgl. dazu Mayer 229f.
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»Franken« auf einen »Ausdruck aus seiner Schülerzeit« zurückgegriffen habe.116 Stattdessen nahm er wohl an, Büchner habe, indem er in Straßburg nach dem Kontakt mit Gedanken der französischen Sozialrevolutionäre politisch mündig wurde, alle und dabei auch die sprachlichen Attribute seiner Schuljahre und der Follen-Tradition von sich abgestreift, wie sich ein Genesender von Grippeviren befreit. Deshalb gilt ihm das Wiederauftauchen eines Begriffs aus der »Helden-Tod«-Rede im Landboten als textkritische Kontraindikation. Dieses Argument wirft grundsätzliche Fragen auf und bedarf grundsätzlicher Überlegungen. Ich beginne mit dem Spezialfall »Franken«. Die Wortfolge in 60,36f. »Freiheitsruf der Franken« steht im Landboten inmitten von Stellen, an denen das üblichere Wort »Franzosen« verwendet wird (60,25f. »schafften die Franzosen die erbliche Königswürde ab«; 61,7f. »die Franzosen verkauften selbst ihre junge Freiheit« und 61,12f. »gab den Franzosen die dickwanstigen Bourbonen«). Diese Gemengelage kann auf drei Arten entstanden sein: – Weidig verfaßte, wie Mayer annimmt, die gesamte Passage und wechselte an dieser Stelle den Begriff (aber warum nur hier?); – Büchner verfaßte die Passage, und Weidig fügte an einer Stelle »Franken« ein (aber wiederum: warum? Und warum nur hier?); – Büchner verfaßte die Passage und wählte an einer Stelle »Freiheitsruf der Franken«, da er noch seine ältere Formulierung »Freiheits-Kampf der Franken« im Kopf hatte. Diese dritte Erklärung ist sicher nicht zwingend, aber sie nennt doch immerhin ein mögliches Motiv. Deshalb würde ich sie hier vorziehen. Kann man diese Erklärung ausschließen, weil Büchner alle Anteile der Follen-Tradition von sich abgestreift hatte? Mir scheint es im Gegenteil aus zwei Gründen wahrscheinlich, daß Büchner auch nach seinem politischen Reifungsprozeß, also im Landboten, auf sprachliche Elemente, die er in seinen Gymnasialschriften verwendet hatte, zurückgreifen konnte. Zum einen ist mit dem schon erwähnten lexischen Registerwechsel zu rechnen. Und für jeden ist offensichtlich, daß das Register »Luthersprache« im Landboten sehr ausgeprägt ist, und zwar auch in den sicher von Büchner stammenden Partien. Zum andern muß man aber auch fragen, ob Büchner nicht bestimmte Elemente dessen, was ich hier ––––––––– 116 Schaub 1976 (s. Anm. 21), S. 83; im Widerspruch dazu Mayer 286f., Anm. 605.
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schlagwortartig als »Tradition der hessischen Schwarzen« bezeichnen will, aus Überzeugung bewahrte. Nehmen wir als einfachsten Beleg hierfür die in der Burschenschafts- und in der Follen-Tradition beliebte und von Büchner zeitlebens bewahrte Lautung »teutsch« für »deutsch«. In nichtredigierter Textüberlieferung findet sich die Schreibung »deutsch« bei ihm außer in den unselbständigen Schülerschriften in fünf quellenabhängigen Stellen des »Cartesius«-Skripts sowie je einmal in der Züricher »Probevorlesung« und in dem Brief an den Züricher Bürgermeister Hess vom 22. September 1836. In den selbständigen Schülerschriften, nämlich 17 Mal in der »Helden-Tod«-Rede, in sämtlichen überlieferten Privatbriefen117 und an drei Stellen des »Cartesius«-Skripts118 wählte Büchner dagegen die Schreibung »teutsch«. In seiner Briefdokumentation im Nachruf von 1837 ersetzte Gutzkow sie bereits durch das gängige »deutsch«, und Ludwig Büchner verfuhr 1850 ebenso. Daß Büchner auch im Landboten die Form »teutsch« gewählt hatte, ist zu vermuten. Daß es der Drucker war, der dies zu »deutsch« veränderte, ist insofern wahrscheinlich, als auch in Weidigs Leuchter die Form »deutsch« erscheint, während Weidigs anderswo gedrucktes Teutsches Gesangbuch119 die Form »teutsch« enthält. In seinen Briefen aus Berlin hatte Heine 1822 einen Burschenschafter karikiert, der ihn mit den Worten getadelt habe: »Auf einer teutschen Mummerey soll der Teutsche teutsch sprechen«,120 und Jacob Grimm hatte 1826 bündig erklärt: »Teutsch lauft ebenso wider unsere Mundart, als wollten wir schreiben ter, tie, tas«.121 Wenn Büchner ––––––––– 117 »Muse der teutschen Dichtkunst« und »das liebe Teutsche Volk« (an August u.
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Adolph Stoeber, 24. August 1832); »im lieben heiligen teutschen Reich« (an Edouard Reuss, 20. August 1832); »verlassen Sie Teutschland« (an Gutzkow, Januar 1836); »die Tour durch unsere teutschen Staaten« (an Böckel, 1. Juni 1836); »Mitglieder des jungen Teutschland« (an Geilfus, um den 25. Juli 1836). »ein Teutscher und ein Franzose«; »begab sich nach Teutschland«; »die Niederlande und Teutschland« (MBA 9.2, S. 103, 98, 117). Das erste Beispiel ist Büchners eigene Übersetzung aus dem Lateinischen; in den beiden anderen weicht Büchner von der ›d‹-Schreibung der Vorlage ab. Friedrich Ludwig Weidig: Teutsches Gesangbuch. Darmstadt und Hanau: Selbstverlag 1831; zit. n. Müller (s. Anm. 20), S. 19. In: DHA 6, S. 19–53, hier S. 37 (»Zweyter Brief«). Jacob Grimm: Rezension. In: Göttingische gelehrte Anzeigen. Theil 3, 160. Stück, 7. Oktober 1826, S. 1600; so bereits zitiert in Johann Christian A. Heyse: Theoretischpraktische deutsche Grammatik, oder Lehrbuch [...] der deutschen Sprache. 4. Aufl. Hannover: Hahn 1827, S. XIV.
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zehn Jahre danach noch immer an dieser Schreibung festhielt, so war dies bereits ein demonstrativer Akt. Wichtiger sind natürlich die sonstigen biographischen Zeugnisse. Seinen Freunden in der »Eugenia« erschien Büchner als der »so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot«,122 für Muston war er in der Rückerinnerung an den Sommer 1833 ein »idolâtre de la Révolution française, contempteur de Napoléon, aspirant de tout son être à l’unité de la famille allemande«.123 In Gießen hatte er engen Kontakt zu Weidig, in Straßburg und Zürich zu Wilhelm Schulz, in Zürich außerdem zu Lorenz Oken. Der erste stand den Gießener, der zweite den Darmstädter »Schwarzen« nahe, der dritte war führend beteiligt an der WartburgBewegung. Das heißt keineswegs, daß Büchner sich diesen Traditionen unterordnete; aber es heißt doch, daß seine sozialrevolutionären Überzeugungen ihn nicht hinderten, in engen Kontakt gerade mit bestimmten Angehörigen dieser Bewegungen zu treten.
7. Versuch eines Fazits 1. Zur Methodik der Landboten-Philologie: Als Gymnasiast hatte Georg Büchner weitgehend die politischen Ansichten der hessischen »Schwarzen« übernommen, und es gibt Gründe für die Annahme, daß er diese Ansichten auch dann nicht verwarf, als er sich die Ideen der französischen Sozialrevolutionäre zu eigen machte. Dies schuf die Grundlage für seine weitgehend konfliktfreie Zusammenarbeit mit Friedrich Ludwig Weidig, der sich zwar in bestimmten politischen und religiösen Ansichten und vor allem durch seine Kompromißfähigkeit gegenüber den oppositionellen Konstitutionalisten wesentlich von Büchner unterschied, der jedoch ebenfalls vom Denken der »Schwarzen« geprägt war. Diese teilweise identische Prägung führt zu erheblichen Schwierigkeiten, wenn man versucht, die Textanteile beider Verfasser aufgrund von lexikalischen oder inhaltlichen Analysen zu bestimmen. Dies gilt nicht für den ersten Teil des Landboten, in dem die »materiellen Interessen des Volks«, also ein eindeutig Büchner zugehöriges Thema, verhandelt werden, wohl aber für den zweiten, in dem es um die politische »Revolution« geht. ––––––––– 122 Siehe oben S. 109. 123 Siehe oben Anm. 73.
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Auch die Feststellung, bestimmte Sätze und Wendungen seien religiös oder biblisch geprägt, ist hier nicht als Unterscheidungskriterium brauchbar. Grundlage für jede Entscheidung über die Textanteile müssen in dieser Situation die Aussagen des einzigen tatsächlichen Augenzeugen, also August Beckers, sein. Er hatte Büchners Manuskript abgeschrieben und später bei der Verteilung der von Weidig redigierten Fassung mitgewirkt; er kannte also die Unterschiede. Auch sind seine Aussagen zu diesem Thema präzise genug, um eindeutige Zuweisungen zu dem uns vorliegenden Text zu ermöglichen. Die philologische Analyse muß zwar dennoch versuchen, Beckers Aussagen auf die Probe zu stellen, um mögliche Erinnerungsfehler auszumachen; sie muß jedoch, wenn dies nicht gelingt, seinen Aussagen folgen. Dieser Aufsatz hat zentrale Textstellen untersucht, die Becker zwar nicht als Anteile Weidigs erwähnt, die aber dennoch mit lexikalischen oder inhaltlichen Argumenten Weidig zugeschrieben wurden. Dabei hat sich ergeben, daß in manchen Fällen die Autorzuweisung offen bleiben muß und daß in anderen Büchner der wahrscheinlichere Autor ist. Im ersten Fall sind wir genötigt, August Becker zu vertrauen, im zweiten können wir ihm begründet folgen. Ingesamt hat sich dabei ergeben, daß wir allen Grund haben, August Becker als glaubwürdigen Zeugen zu beurteilen und seine Zuweisungen als verläßlich anzusehen. 2. Zum Aufbau von Büchners Landboten-Manuskript: Der Hessische Landbote, so August Beckers Definitionsversuch (Nöllner 422; vmtl. am 4. Juli 1837), »hatte den Z w e c k, die m a t e r i e l l e n I n t e r e s s e n des V o l k s mit denen der R e v o l u t i o n zu v e r e i n i g e n, als dem einzigen möglichen Weg, die letztere zu bewerkstelligen.« Was Becker »Revolution« nannte, erschöpfte sich demnach nicht darin, die »materiellen Interessen« der Armen zu befriedigen, wie dies ja auch – historisch gesehen – nicht ursprünglich das Ziel der aus der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen hervorgegangenen deutschen Revolutionäre war. Vielmehr war es deren Ziel, Deutschland in eine Republik oder – wie es im Landboten heißt – in einen »Freistaat« umzuwandeln. Wenn dieser »Freistaat« dem genügen sollte, was Büchner unter Menschen- und Bürgerrechten verstand, so durfte Reichtum keine Rechtspriviligien, also zum Beispiel keine Einschränkungen des aktiven und passiven Wahlrechts oder des Zugangs zu staatlichen Funktionsstellen, zur Folge ha139
ben. Im Spektrum der zeitgenössischen politischen Diskussion vertrat Büchner damit – auch abgesehen von seinen sozialrevolutionären Ansichten – eine extreme republikanische Position.124 Sie verbot es ihm, Kompromisse mit den Anhängern des Konstitutionalismus einzugehen, denn diese zogen es im Ernstfall vor, sich mit der Monarchie zu arrangieren und nicht etwa einer demokratisch verfaßten Republik, in ihren Augen einer »Pöbelherrschaft«, zuzuarbeiten. Je weniger sich Büchner von der konstitutionalistischen Bewegung erhoffte, umso mehr mußte ihm daran liegen, »das gemeine Volk« als den allein in Frage kommenden Bündnispartner für die Revolution zu gewinnen, das heißt: dessen »materielle Interessen […] mit denen der Revolution zu vereinigen«. Der erste (unbestritten von Büchner stammende) Teil des Landboten wendet sich an «das gemeine Volk«, in der Annahme, daß es »bewogen werden könne, seine gegenwärtige Lage zu verändern, wenn man ihm seine nahe liegenden Interessen vor Augen lege« (Nöllner 425; Becker am 1. November 1837). Diesem Zweck dienen einerseits die Angaben über die Höhe der erpreßten Steuereinnahmen (»materielle Interessen«), andererseits die Hinweise auf deren wirklichen Verwendungszweck. Die Steuereinnahmen ermöglichen die Aufrechterhaltung des Ausbeutungssystems, sie garantieren das Wohlleben der »Reichen« und basieren auf der permanenten Demütigung und Existenzbedrohung der »Armen«, die systematisch ihrer »Menschenrechte« beraubt werden. Der zweite Teil des Landboten verfolgt den Zweck, die Leser für die »Revolution« – das heißt: für die Beseitigung der monarchischen Verfassung und für eine Republik – zu gewinnen. Dies gilt offensichtlich für den uns vorliegenden Text, galt aber August Becker zufolge auch schon für Büchners Originalmanuskript. Büchner widerlegte in diesem zweiten Teil zunächst die vor allem unter Lutheranern verbreiteten religiösen Bedenken gegen eine Revolution. Er unterschied zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Obrigkeit, verwies auf die jahrhundertelangen Verrats- und Usurpationshandlungen der deutschen Fürsten und sprach ihnen jegliche Legitimität – ––––––––– 124 Ob und bis zu welchem Punkte Büchner darüber hinaus die Institution privaten Ei-
gentums an sich als Verstoß gegen die Menschenrechte betrachtete, muß uns hier nicht beschäftigen. Im Landboten wird dieses Thema aus verschiedenen einsichtigen Gründen nicht behandelt.
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jegliches »Sein von Gott« – ab. Der folgende Exkurs zur französischen Geschichte gab ihm Gelegenheit, die »Menschenrechte« in einer revolutionär fortgeschrittenen Fassung und das Recht jedes Volkes auf Sturz und freie Wahl seiner »Obrigkeit« zu erläutern und außerdem am französischen Beispiel darzustellen, daß ein Volk, das sich die Freiheit schon erkämpft hat und dennoch den republikanischen Prinzipien eine Absage erteilt und für entweder imperiale oder monarchisch-konstitutionelle Systeme votiert, sich selbst ›eine Zuchtrute aufbindet‹, also geradezu freiwillig Unrecht und Leiden auf sich zieht. Der Exkurs schließt mit einem Blick auf die faulen konstitutionalistischen Kompromisse, mit denen in Deutschland die Chancen der Revolution von 1830 vergeben wurden. Der folgende Abschnitt behandelt zunächst die nur den status quo bewahrenden »Verfassungen in Deutschland«. Die daran anschließenden Attacken auf die landständische Opposition hat Weidig nach August Beckers Aussage durch eigenen Text ersetzt. Büchners Landboten-Schluß – oder wenigstens ein Teil davon – nennt die Befreiungskriege als Beispiel für einen Tyrannensturz und rekapituliert die »Wahrheit«, die das zur Revolution bereite Volk sich einprägen müsse. Hervorgehoben werden der Freiheits- und Gleichheits-Grundsatz der Menschenrechtserklärungen und das Revolutionsrecht gegenüber unrechtmäßiger Gewalt. Der Rest des Landboten besteht aus dem, was von August Becker als »die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß« bezeichnet wurde. Diese Passagen »sind von Weidig«.
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»Zum sogenannten, so gescholtenen Pöbel« Die radikale Aufwertung der sozialen Unterschichten bei Börne und Büchner Von Raphael Hörmann (Gießen)
Büchner und Börne: ideologische Affinitäten? In diesem Aufsatz werde ich zwei mit einander verwandte Aspekte untersuchen: Erstens werde ich illustrieren, wie bei Börne und Büchner – anders als bei Heine – die soziale Unterschicht, das entstehende Industrie- und Agrarproletariat, eine für bürgerliche Schriftsteller erstaunliche Aufwertung erfährt. Zweitens werde ich argumentieren, dass zwischen dem in der heutigen Forschung sträflich vernachlässigten Publizisten Börne und Büchner ideologische Affinitäten bestehen, die sich besonders in ihrer Hinwendung zu sozialrevolutionären Positionen der französischen Frühsozialisten zeigen. Während die Beziehungen zwischen Büchners und Heines Schriften immer wieder untersucht worden sind, fehlen solche vergleichenden neueren Studien zu Börne und Büchner völlig.1 Das ist umso erstaunlicher, als Börne zu Büchners Lebzeiten ––––––––– 1
Soweit ich sehe, vergleicht in der ›neueren‹ Forschung nur Alfred Opitz Büchners und Börnes revolutionäre Positionen im Zuge einer Untersuchung mit anderen Vormärzautoren: »Zimmer mit Spiegeln überall«. Zur Revolutions-Metaphorik bei Weitzel, Börne, Heine und Büchner. In: Klaus Bohnen u. Ernst-Ullrich Pinkert (Hrsg.): Georg Büchner im interkulturellen Dialog. Kopenhagen, München 1988, S. 72–98. Mein Aufsatz, der den englischen Exilautor T. L. Beddoes im deutschen revolutionären Kontext situiert, suggeriert eine ideologische Affinität zwischen Börne und Büchner, ohne deren Werke direkt zu vergleichen: Raphael Hörmann: »Liberty[’s] Smile Melts Tyrants Down in Time«: T. L. Beddoes’s »Death’s Jest-Book« and the German Revolutionary Discourse in Heine, Börne and Büchner. In: Ute Berns u. Michael Bradshaw (Hrsg.): The Ashgate Research Companion to Thomas Lovell Beddoes. Aldershot 2007, S. 81–96. Es würde zu weit führen, hier alle Studien aufzulisten, die sich mit dem Verhältnis Büchner und Heine beschäftigen. Eine der neuesten Monographien, die dieses untersucht, ist: Teraoka
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– ganz im Gegensatz zu heute – bekannter war und mehr gelesen wurde als Heine. Manchen Zeitgenossen scheint auch eine gewisse ideologische Nähe Büchners zu Börne durchaus bewusst gewesen sein. So wertet etwa Büchners langjähriger Freund Wilhelm Schulz in seinem Nachruf auf ihn den Tod Börnes und Büchners, die beide kurz hintereinander im Februar 1837 starben, als einen herben Schlag für die deutsche demokratischrevolutionäre Bewegung.2 Schulz suggeriert eine Kontinuität zwischen dem lang gedienten revolutionären Streiter für Demokratie Börne und seinem jungen Kampfgenossen und potentiellen, genial-begabten Nachfolger Büchner, der tragischerweise sein ganzes politisches und dichterisches Potential nicht voll ausschöpfen konnte: »Beide ruhen in fremdem Lande, denn Beiden hatte sich das Vaterland verschlossen. Wenn Börne im heiligen Kampfe für Licht und Recht ein lang erprobter Streiter war, der mit steter Ausdauer die scharfen Geisteswaffen gegen Unterdrückung und Knechtschaft, gegen Heuchelei und Lüge gerichtet hatte; so begrüßten Alle, welche G. Büchner näher kannten, in diesem die frische Jugendkraft, der eine weite Bahn des Ruhms und der Ehre offen lag. Große Hoffnungen ruhten auf ihm, und so reich war er mit Gaben ausgestattet, daß er selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen haben würde.«3
Die Verwandtschaft zwischen beiden erstreckte sich laut Schulz nicht nur auf die Erfahrung des Exils, sondern ebenfalls auf das revolutionäre Engagement. Im Gegensatz zur Börnekritik des 20. Jahrhunderts, die in ihm oft einen zu spät gekommenen Jakobiner sah, der für Demokratie, nicht aber für ein Ende der Ausbeutung der Unterschichten kämpfte, hebt Schulz eindeutig auch Börnes Verdienste als Kämpfer gegen »Unterdrückung und Knechtschaft« hervor.4 Dadurch rückt er Börne in –––––––––
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Takanori: Spuren der Götterdemokratie. Georg Büchners Revolutionsdrama »Danton’s Tod« im Umfeld von Heines Sensualismus. Bielefeld 2006. 1937 würdigte die deutsche Moskauer Zeitschrift Das Wort (2, S. 3–55) aus Anlass des hundertsten Todestags von Büchner und Börne ebenfalls die beiden Schriftsteller gemeinsam. MA, S. 393f. Der sozialistische Literaturkritiker Franz Mehring war 1911 einer der ersten Literaturkritiker, die Börne bornierter sozialer Auffassungen beschuldigten. Gefangen in den Schranken von »kleinbürgerlich-demokratischen Anschauungen«, ging Börne – im Gegensatz zu Heine – nicht nur jegliches Verständnis für die deutsche zeitgenössische Philosophie ab, sondern auch für den französischen Sozialismus (vgl. Ge-
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erstaunliche Nähe zu Büchner, dem Sozialrevolutionär. Wie dieser im Hessischen Landboten schreibt, dient die Ideologie einer gottgegebenen »Knechtschaft« den »Schinder[n]«, den Ausbeutern des Volkes, dazu, den »Raub der Armen« zu legitimieren.5
Pöbel, Volk und Proletariat bei Börne und Büchner Bevor ich mich dem direkten Vergleich Börne-Büchner stelle, gilt es zunächst den Begriff ›Pöbel‹ und seinen Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert zu klären. Wie der Sozialhistoriker Werner Conze in seinem Artikel im Lexikon Geschichtlicher Grundbegriffe hervorhebt, bezog sich ›Pöbel‹ als sozialer Begriff lange Zeit ausschließlich auf die Unterschichten. Als solcher war er verwandt mit dem moderneren Begriff des ›Proletariats‹, mit dem er noch im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert oft synonym verwendet wurde. Wie Conze betont: »Beide [›Pöbel‹ und ›Proletariat‹] bezeichneten den Begriff der ungesicherten Unterschicht an der Subsistenzgrenze mit der dazugehörigen Erfahrung, daß ihre Menschen verächtlich oder bemitleidenswert, unerwünscht und gefährlich seien.«6
Mit dem Erstarken der revolutionären frühsozialistischen Bewegung in Frankreich (die, wie etwa Hans-Joachim Ruckhäberle gezeigt hat, einen entscheidenden Einfluss auch auf die deutsche frühproletarische Exilbewegung ausübte7), wurde Anfang der 1830er Jahre der Begriff ›Pöbel‹ in seiner soziologischen Bedeutung stetig vom Begriff des ›Proletariats‹ verdrängt. Diese Entwicklung lässt sich besonders hinsichtlich der –––––––––
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sammelte Schriften. Berlin 1960 ff., Bd. V, S. 122). Lukács schloss sich diesem Urteil an (siehe Heine und die ideologische Vorbereitung der 48er Revolution. In: text+kritik 18/19, S. 31–47, hier S. 32), ebenso wie Peter-Uwe Hohendahl (siehe Talent oder Charakter: Die Börne-Heine-Fehde und ihre Nachgeschichte. In: Modern Language Notes 95, 3 (April 1980), S. 609–626). Wolfgang Labuhn argumentiert, dass Börne zwar soziale Missstände wahrnahm, aber dass er – wie andere Liberale – für die »soziale Frage nur eine politische Antwort« fand (vgl. Wolfgang Labuhn: Literatur und Öffentlichkeit im Vormärz. Das Beispiel Ludwig Börne. Königstein/Ts. 1980, S. 255). Vgl. GW I, S. [2]. Werner Conze: Proletariat, Pöbel, Pauperismus. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1972ff., Bd. 5 (1984), S. 27–68, hier S. 27. Siehe Hans-Joachim Ruckhäberle (Hrsg.): Frühproletarische Literatur. Die Flugschriften der deutschen Handwerksgesellenvereine in Paris 1832–1839. Kronberg/Ts. 1977.
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deutschsprachigen Rezeption der Schriften des revolutionären Frühsozialisten Blanqui nachvollziehen, die neben der deutschen frühproletarischen Exilbewegung sowohl Börne als auch Büchner nachhaltig beeinflussten.8 So fügt etwa ein in Straßburg publiziertes Pamphlet von 1832, das eine Übersetzung der Verteidigungsrede Blanquis vor dem Geschworenengericht in Varennes darstellt (eine entscheidende Rede, die Büchner wahrscheinlich als eine Quelle sowohl für den Hessischen Landboten, Dantons Tod als auch Wozyeck diente), eine erhellende Fußnote zum Wort »Proletaires« bei, das im Haupttext selbst unübersetzt bleibt: »Dieses Wort läßt sich seines eigenthümlichen Sinnes wegen, nicht ins Deutsche übersetzen. Wir haben kein gleichbedeutendes Wort. Proletarius (lat.) eigentlich Fortpflanzer des Geschlechts, führt im Französischen noch den Nebenbegriff der Mittellosigkeit oder Armuth.«9
Bereits zu Anfang der 1840er Jahre war der Begriff ›Proletariat‹ weit verbreitet. ›Pöbel‹ hingegen verlor zunehmend seine soziologische Bedeutung und wurde stattdessen weitgehend auf seinen pejorativen Aspekt reduziert. Börne, der – wie aus seinen Briefen aus Paris (1832–1834) deutlich hervorgeht – ebenso wie Büchner die Texte Blanquis bestens kannte, steht genau am Anfang dieses Begriffswandels. Zwar ist der Begriff ›Pöbel‹ bei ihm in seiner soziologischen Bedeutung durchaus noch synonym mit dem Begriff des ›Volks‹, der ebenfalls oft die unterbürgerlichen Klassen meint. Dennoch ist die pejorative Semantik des Worts ›Pöbel‹ bereits so stark, dass er diese Bedeutung von der soziologischen abtrennen und ––––––––– 8
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Siehe zum Verhältnis Büchners zu den französischen Frühsozialisten etwa Thomas Michael Mayer: Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298 u. ders.: Die »Gesellschaft der Menschenrechte« und »Der Hessische Landbote«. In: Katalog Darmstadt, S. 168–199, sowie Terence M. Holmes: The Rehearsal of Revolution. Georg Büchner’s Politics and his Drama »Dantons Tod«. Bern u. a. 1995. Zu Börne existiert meines Wissen nur ein Aufsatz, der sich intensiver mit dem Verhältnis Börnes zum französischen Frühsozialismus und der deutschen frühproletarischen Exilbewegung in Frankreich auseinandersetzt: Hans Ruckhäberle: »Der Krieg der Armen gegen die Reichen«. Ludwig Börne und die deutschen Handwerker und Arbeiter in Paris. In: Inge Rippmann u. Wolfgang Labuhn (Hrsg.): »Die Kunst – eine Tochter der Zeit«. Neue Studien zu Ludwig Börne. Bielefeld 1988, S. 99–110. Auguste Blanqui: Prozeß der Volksfreunde zu Paris. Ein Vorbild des Ernstes und der Kraft. Straßburg, gedruckt bei der Wittwe Silbermann [1832], S. 1. Vollständig ist diese Übersetzung, meines Wissens, nur in der Bibliothèque Nationale de France vorhanden (Signatur 8-LB51-1183).
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gegen die herrschenden Klassen richten kann, wie es im »Vierunddreißigsten Brief« deutlich wird: »Und dieses sogenannte, so gescholtene Volk verachtet man überall; man verachtet die Mehrzahl einer Nation, der weder der Reichtum das Herz verdorben noch das Wissen den Kopf! Man klagt dessen wilde Leidenschaften an, weil es zu edelmütig ist, gleich den Vornehmen seinen Haß in eine kleine Pille zu verschließen, die man dem sorglosen Feinde mit Lächeln beibringen kann! Man verspottet seine Dummheit, weil es nicht immer so klug ist, seinen eignen Vorteil dem Rechte vorzuziehen! Ich finde wahre menschliche Bildung nur im Pöbel, und den wahren Pöbel nur in den Gebildeten.«10
Börne löst hier die pejorative Semantik von ›Pöbel‹ von der soziologischen ab und kehrt sie gegen die Urheber einer solchen Herabwürdigung des Proletariats. Anders als die Aristokratie und die Bourgeoisie, die gemein-verschlagen ihre strategischen Winkelzüge im Kampf gegen die Unterschichten planen, ist das als ›Pöbel‹ geschmähte Volk für Börne ein unverbildetes und moralisches Wesen, das voll Leidenschaft für seine Rechte ficht. Pöbel im abwertenden Sinne sind für Börne nicht die sozialen Unterschichten, sondern vielmehr die Oberschichten, und besonders auch das Bildungsbürgertum, dem er in sozialer Hinsicht ebenfalls angehört. Diesen Klassenverrat Börnes hebt Heine in seiner Streitschrift gegen Ludwig Börne (1840) in zynischer Weise hervor, wenn er fragt: »War es Tugend oder Wahnsinn, was den Ludwig Börne dahin brachte, die schlimmsten Mistdüfte mit Wonne einzuschnaufen und sich vergnüglich im plebejischen Kot zu wälzen?«11 Auch Büchner ist ein solcher sozialer Nestbeschmutzer und Klassenverräter. In einem oft zitierten Brief an Gutzkow vom Juni 1836, in dem er seine materialistische, sozialrevolutionäre Perspektive ausführt, wettert Büchner wie Börne nicht nur gegen die Aristokratie, sondern auch gegen die Bourgeoisie, die gemeinsam das Volk ausbeuten.12 Analog zu Börne mit den Begriffen ›gebildet‹/›Bildung‹ spielend und sie in Frage stellend, ––––––––– 10 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Inge u. Peter Rippmann. Darmstadt 1964,
Bd. III, S. 181. Im Folgenden abgekürzt als BS.
11 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Klaus Briegleb. München 1997, Bd. IV,
S. 75f.
12 Wie Büchner bereits zweieinhalb Jahre früher, am 9. Dezember 1833 an August
Stoeber schreibt, sieht er die Aristokratie und die Bourgeoisie als gemeinsame Profiteure der Ausbeutung des Volkes: »Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen.« (MA, S. 285.)
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identifiziert er eine aufkeimende sozialrevolutionäre Kultur ausschließlich im Proletariat. Der abgeschlafften Aristokratie und Bourgeoisie, die sich gleichermaßen in den Ennui flüchten, geht es nur mehr darum, den Status quo zu bewahren und den revolutionären Elan des Volkes zu ersticken. Während Büchner wie Börne »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk« erkennt, stellen die Oberschichten, »die gebildete und wohlhabende Minorität«, lediglich einen wandelnden Anachronismus dar: «die abgelebte moderne Gesellschaft«. Im Gegensatz zu dem des vitalen Volkes, besteht das »ganze Leben de[r]selben [...] nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben«. Während daher den herrschenden Klassen als Zukunftsprognose nur mehr das Aussterben als »das einzig Neue, was sie noch erleben« können, bescheinigt wird, scheint »die große Klasse selbst« die revolutionäre Avantgarde darzustellen. Wenn die Massen, getrieben von »materielle[m] Elend und religiöse[m] Fanatismus«, einer sozialrevolutionären Massenideologie, eine soziale Revolution beginnen, dann kann das Ziel eines »absoluten Rechtsgrundsatz[es]« »in sozialen Dingen« erreicht werden, scheint Büchner überzeugt.13 Wie der junge Philosoph Marx in der »Einleitung« zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie (1844) acht Jahre später ähnlich feststellen wird, reicht revolutionäre Theorie nicht aus, um die soziale Revolution herbeizuführen. Denn die »Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen«, sondern »die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt«, und die Theorie wird lediglich »zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«14 Wenn auch in Büchners Ausdruck der »Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk« der Herder’sche romantische Volksbegriff zumindest noch mitschwingt, so steht die soziologische und revolutionäre Bedeutung von ›Volk‹ als ›Proletariat‹ meiner Ansicht nach jedoch im Vorder––––––––– 13 Vgl. MA, S. 319f. Zur Lesart von »religiöse[m] Fanatismus« als einer sozialrevolutionä-
ren Massenideologie siehe etwa Raphael Hörmann: Religionskritik als Herrschaftskritik: Überlegungen zur Bedeutung von Thomas Paines »The Age of Reason« für Georg Büchner. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Bd. 19 (2007), S. 83–99, hier S. 99. 14 Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPDSU und Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.): Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA). 1. Abt., Bd. 2.: Werke, Artikel, Entwürfe. März 1843 bis August 1844. Berlin 1982, S. 177.
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grund.15 Man könnte sogar behaupten, dass Büchner bereits weitgehend Marx’ Überzeugung vom Proletariat als der einzigen sozialrevolutionären Klasse der Gegenwart antizipiert: »einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist« und die »die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft« erreichen soll, wie es in der »Einleitung« zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie weiter heißt.16 Auch wenn man behaupten könnte, dass Marx und Heine sich in ihrer jeweiligen politischen Auseinandersetzung mit Hegel philosophisch näher stehen, so sind dennoch die Unterschiede in ihrer revolutionären Auffassung eklatant. Zwischen den Materialisten Büchner und Marx finden sich Parallelen in sozialer und politischer Ideologie, die besonders auch das Verhältnis zum Proletariat betreffen und sich deutlich von Heine unterscheiden. Heine, der die proletarische Revolution und den Pöbel zeitlebens als eine Gefährdung der von ihm vergötterten bürgerlichen Kultur ansah, steht in scharfem Gegensatz zu Büchner und Marx.17 Diese begreifen die Vernichtung der, von ihnen als nur mehr reaktionär betrachteten, zeitgenössischen Bour––––––––– 15 Michael Perraudin sieht in dieser Passage die Forderung nach einer Verwirklichung
des Herder’schen Ideals einer Volkskultur: »[M]oribund society should go to the devil and in the common people the creation of a new cultural life – thus one might render the difficult term ›geistig‹ here – is to be sought«, lautet seine Paraphrase (Literature, the Volk and Revolution in Mid-Nineteenth Century Germany. New York u. Oxford 2000, S. 38). 16 Vgl. MEGA, 1. Abt., Bd. II, S. 181f. 17 Vgl. etwa die folgende Passage aus Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1840): »Da kommen zunächst die Radikalen und verschreiben eine Radikalkur, die am Ende doch nur äußerlich wirkt, höchstens den gesellschaftlichen Grind vertreibt, aber nicht die innere Fäulnis. Gelänge es ihnen auch, die leidende Menschheit auf eine kurze Zeit von ihren wildesten Qualen zu befreien, so geschähe es doch nur auf Kosten der letzten Spuren von Schönheit, die dem Patienten bis jetzt geblieben sind; häßlich wie ein geheilter Philister, wird er aufstehen von seinem Krankenlager, und in der häßlichen Spitaltracht, in dem aschgrauen Gleichheitskostüm wird er sich all sein Lebtag herumschleppen müssen. Alle überlieferte Heiterkeit, alle Süße, aller Blumenduft, alle Poesie wird aus dem Leben herausgepumpt werden, und es wird davon nichts übrig bleiben, als die Rumfordsche Suppe der Nützlichkeit. – Für die Schönheit und das Genie wird sich kein Platz finden in dem Gemeinwesen unserer neuen Puritaner, und beide werden fletriert und unterdrückt werden, noch weit betrübsamer als unter dem älteren Regimente. [...] sie passen nicht in eine Gesellschaft, wo jeder, im Mißgefühl der eigenen Mittelmäßigkeit, alle höhere Begabnis herabzuwürdigen sucht, bis aufs banale Niveau.« (Heine: Sämtliche Schriften [s. Anm. 11], Bd. IV, S. 140f.)
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geoisie als eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung einer sozial gerechten, kommunistischen Gesellschaft. Noch weniger beachtet worden als diese Affinitäten zwischen Büchner und Marx ist bisher, dass auch Börne die Vorstellung von einer saturierten, jeglichen revolutionären Elans verlustig gegangenen Bourgeoisie und einem revolutionären Proletariat bereits in seinen Briefen aus Paris äußert, die von 1832 bis 1834 erschienen. Ähnlich wie Büchner stellt auch er der »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft« ein nach Revolution strebendes Proletariat gegenüber. Die Gefahr für Deutschland liegt für Börne nicht in erster Linie in den als Pöbel diffamierten Unterschichten und einer vom Proletariat ausgehenden Revolution. Sondern sie liegt vielmehr vor allem in der Verblendung des deutschen Bürgertums, das verkenne, dass die weitestgehend unbegründete Angst vor dem barbarischen, aufrührerischen Volk geschürt werde, um den deutschen Status quo zu konservieren. In diesem Sinne lehnt Börne auch die Forderungen einiger Liberaler nach Einführung einer bürgerlichen Nationalgarde nach französischem Vorbild für Deutschland ab. Dies würde laut Börne lediglich dazu dienen, die herrschende repressive Ordnung zu stärken. Das Volk solle noch mehr als bisher in Schach gehalten werden, um einen Umsturz der sozialen Machtverhältnisse zu verhindern, ereifert sich Börne im »Vierundzwanzigsten Brief«: »[...] die Esel begreifen nicht, daß das ein neues Werkzeug der Gewalt ist, das alte abgenutzte damit zu ersetzen. Die Deutschen! – nicht einzusehen, daß die Uniform eine Art Gefängnis ist, die Disziplin eine Kette an Händen und Füßen – nicht einzusehen, daß, wenn man Schildwache steht, man am meisten selbst bewacht wird – den sogenannten Pöbel im Zaum zu halten, das heißt die armen Leute, das heißt die einzigen, welchen das verfluchte Geld nicht die ganze Seele, allen Glauben abgehandelt; die einzigen, denen der Müßiggang nicht alle Nerven ausgesogen, und die einen Geist haben, die Freiheit zu wünschen, und einen Leib, für sie zu kämpfen – sich wie ein toter Ofenschirm vor der [sic] Glut des Volks zu stellen, damit die Großen hinter uns nicht schwitzen und gemächlich ihr Eis verzehren – und sich noch weismachen zu lassen, das geschähe für die Freiheit – sich so foppen zu lassen, ein solcher Tölpel zu sein – es ist unglaublich!«18
Wie Büchner sieht auch Börne die herrschenden Klassen dem »Müßiggang« anheim gefallen. Das Volk hingegen sprühe vor revolutionärer ––––––––– 18 BS, Bd. III, S. 114f.
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»Glut« und sei die einzige Klasse, die sowohl das geistige Potential besitze, revolutionäre Veränderung zu wollen, als auch die physischen Voraussetzungen mitbringe für den revolutionären Kampf. Ganz im Gegensatz zu Marx und Büchner glaubt Börne jedoch in den Briefen aus Paris anfangs noch an die Möglichkeit, dass eine von einem heldenhaften Proletariat durchgeführte Revolution einen sozial gerechten radikal-demokratischen Staat errichten könnte, der noch weitgehend auf den Grundsätzen einer bürgerlichen sozial-ökonomischen Ordnung fußen soll. Politische Reformen nach der Revolution sollen – analog zu den in Frankreich nach der Julirevolution von 1830 durchgeführten – auch in Deutschland zu einer Verbesserung der sozialen Lage des Proletariats führen, vermeint Börne. Im Laufe der Briefe aus Paris wird dieses Szenario von Börne jedoch zunehmend in Zweifel gezogen. Hier ist vor allem seine tiefe Enttäuschung über die Julirevolution von 1830 entscheidend, deren Ausbruch für ihn mit den Ausschlag gab, nach Paris überzusiedeln. Als jedoch klar wurde, dass die aristokratische Herrschaft der restaurierten Bourbonen-Dynastie lediglich von einer ebenso sozial repressiven Herrschaft der liberalen Bourgeoisie abgelöst worden war, radikalisierte sich Börnes Einstellung zum Proletariat und zur sozialen Revolution weiter. Wie Inge Rippmann als eine der wenigen Börnekritiker erkennt, wandelt er sich nach der Julirevolution »vom Liberalen zum radikalen Aktivisten«. Dementsprechend versuchte er nicht länger, wie bisher »den deutschen Mittelstand [...] aufzurütteln«, sondern verlegte sich stattdessen auf die »Schulung der von ihm als geschichtsbildend erkannten Unterschicht der Handwerker und Arbeiter«.19
»La Guerre entre les Pauvres et les Riches«: Klassenkampf und Ausbeutung bei Börne und Büchner Anders als Delacroix’ berühmtes Monumentalgemälde La Liberté guidant le peuple (1830), das die Julirevolution als eine kollektive revolutionäre Bewegung aller Klassen der französischen Gesellschaft darstellt, sieht ––––––––– 19 Inge Rippmann: Börne und Heine. In: Heinrich Heine 1797–1856. Internationaler Veran-
staltungszyklus zum 125. Todestag 1981 bei Eröffnung des Studienzentrums KarlMarx-Haus Trier. Trier 1981, S. 98–119, hier S. 107.
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Börne die Revolution vorrangig als eine Leistung des Proletariats an. Dieser ›heldenhafte‹ Kampf des Proletariats wird jedoch von der Bourgeoisie nicht honoriert, obwohl sie alleinig von der Revolution profitiert. Während anfangs noch Börnes alter (prä-1830), liberal-republikanischer Glaube an die Bourgeoisie als eine revolutionäre Klasse mitschwingt, erkennt er jedoch bald, dass sie sich nur mehr einem radikalen Wirtschaftsliberalismus verschrieben hat. Jegliche revolutionär-demokratischen Ideale (wie sie etwa der linke Flügel der Jakobiner in der Französischen Revolution vertrat) sind der liberalen Bourgeoisie des juste-milieu ein Gräuel. Sich entgegen der Tatsachen zum Augenzeugen der revolutionären Straßenschlachten stilisierend, entwirft Börne im »Fünfundzwanzigsten Brief« ein Szenario, in welchem dem revolutionären Volk die Früchte seines Sieges an der Börse wieder abgehandelt wurden:20 »[...] es ist zum Totweinen! Denn ich habe die Kämpfenden gemustert, ich habe die Leichen betrachtet und gezählt und die Verwundeten – es waren viele junge Leute; die meisten Alten aber gehörten zum sogenannten, so gescholtenen Pöbel, der jung bleibt bis zum Grabe. Einen bejahrten Mann in einem guten Rocke, ich sah keinen, weder unter den Streitenden noch unter den Gefallenen. Die Männer in guten Röcken sitzen in der Pairs- und Deputiertenkammer und halten sich die Nase zu vor den stinkenden Pöbelleichen und sagen: Wir haben Frankreich gerettet, es gehört uns wie eine gefundene Sache, wie eine Entdeckung, und sie ließen sich ein Patent darüber geben. Und die reichen Leute, die verfluchten Bankiers kamen und sagten: halb part! und haltet uns nur den Pöbel im Zaum, damit die Renten steigen. An diese muß die Rache auch noch kommen.«21
Börne greift hier den Vorwurf der révolution escamotée auf, der beinhaltet, dass die Bourgeoisie die Revolution vom Proletariat gestohlen habe, eine Anschuldigung, die sich auch bei Blanqui in seiner Verteidigungsrede vor dem Gericht in Varennes in ähnlicher Weise findet. Beide erregen sich über die zynische Diffamierung des Proletariats durch die Bourgeoisie,
––––––––– 20 Börne befand sich bei Ausbruch der Julirevolution auf Kur in Bad Soden und kam
erst am 16. September 1830 in Paris an. Zu Börnes Fiktionalisierung seiner ursprünglichen Briefe in den Briefen aus Paris, siehe Rutger Booß: Ansichten der Revolution. Paris-Berichte deutscher Schriftsteller nach der Juli-Revolution 1830. Heine, Börne u. a. Köln 1977, S. 168–181. 21 BS, Bd. III, S. 122f.
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nachdem letztere die Herrschaft übernommen und konsolidiert hat.22 Gleichzeitig suggeriert Börne durch die Sprache des Wirtschafts- und Finanzkapitalismus (»Patent«, »Renten« etc.), dass die Bourgeoisie sich durch kapitalistische Winkelzüge die Herrschaft sichert, indem sich die Parlamentarier die Revolution aneignen, als ihre Erfindung patentieren lassen und Frankreich damit als ihren rechtmäßigen Besitz ausgeben. Zugleich schöpft die Finanzbourgeoisie die Gewinne an der Börse ab, die sich aus der Einführung der liberalen Staats- und Wirtschaftsordnung ergeben. Das Proletariat, das sie abwertend als Pöbel beschimpft, begreift die Bourgeoisie als eine Gefährdung für ihre Hegemonie und den Siegeszug des Kapitalismus, was sich wiederum in der Börsensprache ausdrückt. Die Bourgeoisie schlägt aus der Revolution Profit, und jede weitere soziale Unruhe stört das Wirtschaftswachstum und lässt die Kurse in den Keller fallen. Deshalb bekämpft die Bourgeoisie das Proletariat mit allen Mitteln, sowohl mit Waffengewalt als auch mit rhetorischen Waffen. Diese Anschuldigungen Börnes, dass hier eine militärische, wirtschaftliche und rhetorische Kampagne gegen das Proletariat geführt werde, gegen »den sogenannten, so gescholtenen Pöbel«, sind keineswegs unbegründet, wie etwa die brutale Niederschlagung des Aufstandes der Lyoner Seidenweber Ende 1831 belegt, auf die eine groß angelegte Diffamierungskampagne gegen das Proletariat folgte. So schürte etwa der liberale Schriftsteller und Journalist Saint-Marc Girardin im einflussreichen Organ Journal des Débats die Angst vor einer Invasion der modernen ––––––––– 22 »Wer hätte es geahnet, daß solche Freude und solcher Ruhm sich in so tiefe Trauer
verwandeln könnte! Wer hätte gedacht, beim Anblick jener 6 Fuß hohen Arbeiter, deren schmutzigen Hände die aus ihren Kellern hervorgekrochenen Bürger um die Wette küßten, und ihre Uneigennützigkeit und ihren Muth unter Thränen der Bewunderung anerkannten! – wer hätte gedacht, daß sie dem Hunger preisgegeben, da liegen würden auf diesem Pflaster, welches sie erobert, und daß ihre Bewunderer sie einst den K r e b s s c h a d e n d e r G e s e l l s c h a f t nennen würden?« (Blanqui: Prozeß der Volksfreunde [s. Anm. 9], S. 11.) Mit dem bourgeoisen Urteil über die Proletarier als »Krebsschaden der Gesellschaft« greift Blanqui höchstwahrscheinlich eine Anschuldigung des liberalen Schriftstellers Saint-Marc Girardin auf, der in einem Artikel über den Aufstand der Seidenweber in Lyon im November 1831 schrieb: »Notre société commerciale et industrielle a sa plaie comme toutes les autres sociétés; cette plaie, ce sont ses ouvriers.« (Journal des Débats, 8. Dezember 1831, S. 1f., hier S. 1; siehe auch Saint-Marc Girardin: Souvenirs et réflexions politiques d’un journaliste. Paris 1859, S. 144–151, hier S. 144).
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Barbaren, der Arbeiter, die sich weder im Kaukasus noch in den Steppen Asiens befänden, sondern in den Vorstädten der französischen Industriestädte. In hysterischer Weise schrieb er: »Les Barbares qui menacent la société ne sont point au Caucase ni dans les steppes de la Tartarie; ils sont dans les faubourgs de nos villes manufacturières […].«23 Nur durch Entwaffnung und Überwachung der Besitzlosen sowie ihren Ausschluss von allen politischen Rechten einerseits, eine vorsichtige Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage andererseits ließen sich die Zerstörung der der bürgerlichen Gesellschaft und die »démocratie prolétaire« verhindern, die die unvermeidliche Folge einer erfolgreichen »révolution prolétaire« sein würden.24 Auch Heine malte das Schreckgespenst eines bürgermordenden barbarischen Proletariats an die Wand, etwa wenn er in Artikel VI der Französischen Zustände den bestialischen Lynchmord an einem Bürger durch einen Mob von Proletariern schildert und dann vor dem »Volkszorn« warnt, der »nach Blut lechzt und seine wehrlosen Opfer hinwürgt‹‹.25 Am deutlichsten drückt jedoch der französische Premierminister Périer diese Diffamierung der Unterschichten aus, der laut Börne den Aufstand von Lyon zu einem barbarischen kriminellen Akt degradieren will. Börne empört sich im »Sechzigsten Brief« folgendermaßen über Périer, der nicht nur die Proletarier zu reinen Mordbrennern degradiert, sondern auch das immense Explosionspotential dieses Vorboten der proletarischen Revolution verkennt: »Dieser Kasimir Périer hat darüber gefrohlockt, daß in den blutigen Geschichten von Lyon gar nichts von Politik zum Vorschein gekommen, und daß es nichts als Mord, Raub und Brand gewesen! Es sei nichts weiter als ein Krieg der Armen gegen die Reichen, derjenigen, die nichts zu verlieren hätten, gegen diejenigen, die etwas besitzen!«26
Indem Périer naiv dem Aufstand von Lyon jegliche politische Bedeutung abspricht und ihn als einen kriminellen Akt darzustellen versucht, macht er unwissentlich deutlich, dass es sich bei dieser Arbeiterrevolte um eine neue Form der revolutionären Auseinandersetzung handelt, nämlich die des sozialen Kampfes. Diese »fürchterliche Wahrheit« vom Krieg der Be––––––––– 23 24 25 26
Journal des Débats, 8. Dezember 1831, S. 1. Vgl. ebd. Heine: Sämtliche Schriften (s. Anm. 11), Bd. III, S. 173. BS, Bd. III, S. 371.
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sitzlosen gegen die Besitzenden27 scheint erneut von Saint-Marc Girardins Artikel über den Lyoner Aufstand inspiriert, der laut Jeremy D. Popkin mit zu den berühmtesten in Frankreich je gedruckten Zeitungsartikeln gehört.28 Girardin spricht davon, dass der Arbeiteraufstand ein bedeutungsschweres Geheimnis offenbart habe, nämlich, dass man es hinfort mit Bürgerkrieg und Klassenkampf zu tun habe, was die Anfänge einer allgemeinen »révolution prolétaire« darstellte: »La sédition de Lyon a révelé un grave secret, celui de la lutte intestine qui a lieu dans la société entre la classe qui possède et celle qui ne possède pas.«29 Die Formel vom Krieg der Armen gegen die Reichen entstammt ebenfalls dem zeitgenössischen bourgeoisen Diskurs. Sie kaschiert laut Börne, dass die Provokation auf Seiten der Reichen liegt, die anstatt »gegen die Armut« lieber »gegen die Armen« zu Felde ziehen. Während hier noch die Hoffnung mitschwingt, dass eine Sozialreform von oben die Sozialrevolution von unten verhindern könnte (wie es auch Giradin vorschwebt), schwindet diese Möglichkeit im weiteren Verlauf des »Sechzigsten Briefes« immer weiter. Wie ich später noch nachweisen werde, entlarvt Börne peu à peu, dass hinter der Formel vom ›Krieg der Armen gegen die Reichen‹ sich in Wirklichkeit ein andauernder Krieg der Reichen gegen die Armen verbirgt. Diesen Vorwurf, dass die wirkliche Aggression auf Seiten der Reichen liegt, erhebt Blanqui an zentraler Stelle in seiner Verteidigungsrede, indem er die bürgerlichen Anschuldigungen gegen das Proletariat karikiert, sie umkehrt und als Teil eines von den Reichen initiierten Klassenkampfes darstellt: »Das Gericht hat eurer Einbildung [...] eine Empörung der Sklaven vorgespiegelt, um euren Haß durch Furcht anzuregen. ›Ihr seht, sagte es, dieß ist der Krieg der Armen gegen die Reichen: ›Jeder der Etwas besitzt, ist betheiligt diese Eingriffe zurückzuweisen; wir führen euch eure Feinde vor, zernichtet sie, bevor sie furchtbarer werden.‹
––––––––– 27 Ebd. 28 Siehe Jeremy D. Popkin: Press, Revolution, and Social Identities in France, 1830–1835.
University Park, PA 2002, S. 1.
29 Journal des Débats, 8. Dezember 1831, S. 1.
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Ja, meine Herren! Dieß ist der Krieg zwischen Arm’ und Reich’; so wollten es die Reichen, denn sie haben den ersten Angriff gethan. – Sie finden nur übel, daß die Armen Widerstand leisten«.30
Diese von Blanqui inspirierte Formulierung vom »guerre entre les pauvres et les riches« hat im zeitgenössischen deutschen revolutionären Diskurs wohl niemand so beharrlich thematisiert wie Büchner. Bei ihm ist es meist ein Krieg der Reichen gegen die Armen, durch direkte Unterdrückung mit Waffengewalt oder sozio-ökonomische Ausbeutung. Sei es in Dantons Tod, wo die Unterschichten in Akt I, Szene 2 »den Mord durch Arbeit« anklagen, dem sie zeitlebens ausgesetzt sind,31 oder im Woyzeck, in dem die totale Ausbeutung des Proletariers diesen schließlich in den Wahnsinn und zu dem Mord an Marie treibt. Wie es Woyzeck gegenüber dem Hauptmann (H4,5) in einem starken Bild für die Allgegenwart von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen ausdrückt, haben diese für die Armen selbst im Jenseits kein Ende: »ich glaub’ wenn wir [die Armen] in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.«32 Selbst in der scheinbar so albernen ›Literaturkomödie‹ Leonce und Lena ist der Krieg der Reichen gegen die Armen präsent. Am deutlichsten tritt er wohl in der ›Bauernszene‹ (III,2) zu Tage. In dieser Szene muss ein Schulmeister die aushungerten und ausgebeuteten Bauern, die »in ihren Leiden [...] sich schon seit geraumer Zeit aneinander halten«, um nicht vor Hunger umzufallen, zum Vivat-Schreien bei der Heirat des königlichen Paares abrichten.33 Doch der Zynismus der Herrschenden ist damit noch nicht ausgereizt. So entwirft in der darauf folgenden Schlussszene (III,3) der zum Hofminister avancierte Narr und arbeitsfaule Valerio ein Bild der Proletarier als gemeingefährliche Irre und kriminalisiert sie darüber hinaus sogar noch: »V a l e r i o . […] es wird ein Dekret erlassen, daß wer sich Schwielen in die Hände schafft unter Kuratel gestellt wird, daß wer sich krank arbeitet kriminalistisch strafbar ist, daß Jeder der sich rühmt sein Brod im Schweiße seines
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Blanqui: Prozeß der Volksfreunde (s. Anm. 9), S. 2. Vgl. MBA 3.2, S. 11. MBA 7.2, S. 25. MBA 6, S. 84f.
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Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird [...].«34
Mit seiner Kriminalisierung der Arbeit rechtfertigt Valerio den Status quo, der auf der Ausbeutung der arbeitenden Klassen fußt. Die bittere Ironie hinter Valerios Vision von einem Paradies der Müßiggänger liegt natürlich nicht nur darin, dass die Schufterei des Proletariats eine luxuriöse Existenz der herrschenden Klassen erst ermöglicht, die Valerio per Dekret oktroyieren will. Sondern ironisch ist auch, dass sich ein Proletariat, das sich seiner sozialen Rolle und seiner Ausbeutung bewusst wird, tatsächlich zu einer Gefahr nicht der menschlichen, sondern vielmehr der bürgerlichen Gesellschaft werden kann. Die anti-proletarische Stoßrichtung von Valerios Dekret tritt noch schärfer hervor, wenn man berücksichtigt wie er zeitgenössische frühproletarische und frühsozialistische Schriften parodiert, die dieses auf Ausbeutung und entfremdeter Arbeit basierende Wirtschaftssystem anklagen und abschaffen wollen. So erklärt Karl Wilhelm Theodor Schuster in einem zuerst in der deutschen Exilzeitschrift Der Geächtete 1835 publizierten und später auch als Flugblatt erschienenen Text Gedanken eines Republikaners: »Arbeit ist […] die Grundbedingung jedes Eigenthumserwerbs, und jeder arbeitskräftige Bürger«, der von entfremdeter Arbeit profitiert, »begeht einen Verstoß wider die Gesetze der Natur und einen strafbaren Eingriff in die Eigenthumsrechte seines Nächsten.«35 Der italienisch-französische Revolutionär und Frühsozialist Filippo Buonarroti behauptet in La Conspiration pour l’égalité dite de Babeuf (1828) in ähnlicher Weise, dass die »Müßiggänger«, die »vom Schweiße des Arbeitsmannes leben, den Mühsal und Entbehrung zu Boden drückten«, als Kriminelle zu betrachten sind. Wie er daraus in radikaler Weise schlussfolgert, ist daher »Eigentum [...] die schlimmste Geißel der Gesellschaft, es ist in der Tat ein Verbrechen an der Allgemeinheit«.36 Der Ausbeutungskampf zwischen Reich und Arm wird auch in Akt I, Szene 2 von Dantons Tod in ähnlichen Worten beschrieben. In dieser Szene hebt der 1. Bürger den Kontrast zwischen ––––––––– 34 Ebd., S. 124. 35 Karl Wilhelm Theodor Schuster: Gedanken eines Republikaners. In: Ruckhäberle
(s. Anm. 7), S. 152–204, hier S. 190f.
36 Zit. n. Joachim Höppner u. Waltraud Seidel-Höppner: Von Babeuf bis Blanqui: Franzö-
sischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx. Leipzig 1975, Bd. II, S. 98.
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»den Schwielen in den Fäusten« der Arbeitenden und den »Sammthände[n]« der bürgerlichen Revolutionäre hervor. Im Gegensatz zu Valerio, der dem Proletariat kriminelle Überarbeitung vorwirft, klagt der 1. Bürger die Bourgeoisie der kriminellen Ausbeutung des Proletariats an. Seine Argumente erinnern dabei an diejenigen einiger Frühsozialisten, die – wie erwähnt – Ausbeutung als ein schweres Verbrechen ansehen: »1. B ü r g e r. […] Ihr habt Kollern im Leib und sie haben Magendrücken, ihr habt Löcher in den Jacken und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen in den Fäusten und sie haben Sammthände. Ergo ihr arbeitet und sie thun nichts, ergo ihr habt’s erworben und sie haben’s gestohlen; ergo, wenn ihr von eurem gestohlnen Eigenthum ein paar Heller wieder haben wollt, müßt ihr huren und bettlen; ergo sie sind Spitzbuben und man muß sie todtschlagen.«37
Mit der Gesetzeslogik einer Gesellschaftsordnung argumentierend (und sie gleichzeitig parodierend), in der das Eigentum so sakrosankt ist, dass auf Diebstahl vielfach die Todesstrafe stand, werden die Reichen ihrerseits des Raubes im großen Stile angeklagt und zum Tode verurteilt. Um sein »gestohlne[s] Eigentum« wieder zurückzuholen, bleibt dem Proletariat keine andere Möglichkeit als revolutionäre Gewalt, die die bisherige Gesellschaftsordnung zerstört, so suggeriert Büchner. Auch in der zusammen mit Weidig verfassten sozialrevolutionären Flugschrift Der Hessische Landbote finden sich »Schwielen«/»Schweiß« als Indikatoren des Ausbeutungskampfes wieder. In einem drastischen Bild für entfremdete Arbeit und Ausbeutung ist selbst der Körper dem Bauern nicht mehr zu eigen, noch sind es seine Körperexkrete, die als Luxusprodukte für die Reichen abgezapft werden: »Fremde verzehren seine Aecker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen«, wie es in der Julifassung heißt.38 Von allen Werken Büchners ist es ebenfalls der Hessische Landbote, in dem die Parallelen zu Börnes Briefen aus Paris am deutlichsten zu Tage treten. So operiert etwa Börne im »Sechzigsten Brief« (erschienen 1833) – wie Büchner wenig später im Hessischen Landboten (1834) – mit konkre––––––––– 37 MBA 3.2, S. 10. 38 GW I, S. [1].
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ten, statistischen Zahlen, um das Ausmaß der fiskalischen Ausbeutung der Armen deutlich zu machen: »Die Stadt Paris braucht jährlich vierzig Millionen, von welchen ein schöner Teil in den räuberischen Händen der begünstigten Lieferanten und Unternehmer zurückbleibt. Jetzt brauchen sie noch mehr Geld und sie besinnen sich seit einiger Zeit, ob sie die neuen Auflagen auf den Wein, die Butter oder die Kohlen legen sollen. Der Reiche soll nicht darunter leiden, der Arme soll bezahlen wie immer. [...] Dreißig Millionen stiehlt jährlich der Staat aus den Beuteln der Tagelöhner, und eine Regierung, die dies tut, hat noch das Herz, einen Dieb an den Pranger zu stellen und einen Räuber am Leben zu bestrafen! Und nach allen diesen Abscheulichkeiten kommen sie und lästern über die Unglücklichen, die nichts zu verlieren haben, und fordern die reichen Leute auf, gegen das wilde Tier, Volk, auf seiner Hut zu sein!«39
Spätestens an dieser Stelle im »Sechzigsten Brief« wird deutlich, dass es sich nicht, wie Périer behauptet, um einen »Krieg der Armen gegen die Reichen« handelt, sondern um einen Krieg der Reichen gegen die Armen. Wie Börne suggeriert (analog zu Büchner und den erwähnten Frühsozialisten), legitimieren die Gesetze eine räuberische Gesellschaftsordnung, die ironischerweise das Eigentum für sakrosankt erklärt, während sie Räuber hinrichten lässt. Dieser Vorwurf, dass die herrschende Ordnung der Ausbeutung der Armen dient, findet sich ebenfalls im Hessischen Landboten. Wie Börne illustriert auch Büchner seine Behauptung durch eine ähnliche statistische Auflistung der Abgaben und Steuern, die jedoch noch weitaus detaillierter und präziser ist als in Börnes »Sechzigstem Brief«:40 »Im Großherzogthum Hessen sind 718,373 Einwohner, die geben an den Staat jährlich 6,363,364 Gulden als ––––––––– 39 BS, Bd. III, S. 377. Die heuchlerische Warnung der Reichen vor den barbarisch-
animalischen Armen stellt wahrscheinlich ein Echo von Blanquis Verteidigungsrede dar, die auch Büchner bekannt war: Die Reichen »finden nur übel, daß die Armen Widerstand leisten; gerne möchten sie vom Volke sagen: ›Diese Bestie ist so wild, daß sie sich vertheidigt wenn man sie angreift‹«. Prozeß der Volksfreunde (s. Anm. 9), S. 2. 40 Walter Grab argumentiert, dass Büchner bei seiner Instrumentalisierung von Statistik zum Zwecke der revolutionären Agitation von Wilhelm Schulz beeinflusst wurde (Statistik und Revolution. Geistige und politische Beziehungen zwischen Georg Büchner, Wilhelm Schulz und Karl Marx. In: Katalog Darmstadt, S. 356–359).
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1) Direkte Steuern 2) Indirekte Steuern 3) Domänen 4) Regalien 5) Geldstrafen 6) Verschiedene Quellen
2,128,131 fl. 2,478,264 ” 1,547,394 ” 46,938 ” 98,511 ” 64,198 ” 6,363,363 fl.
Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem Leib des Volkes genommen wird. An 700,000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpreßt, die Presser berufen sich auf die Regierung und die Regierung sagt, das sey nöthig die Ordnung im Staat zu erhalten. […] seht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700,000 Menschen bezahlen dafür 6 Millionen, d. h. sie werden zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden.«41
Wenn auch nicht mit derselben Radikalität wie Büchner hier, hebt auch Börne die Wirkung der »Maschine« hervor, die, wie Blanqui es in einem starken Bild ausdrückt, »von 25 Millionen Bauern und 5 Millionen Handwerkern einen um den andern zermalmt, um ihr reinstes Blut abzuzapfen und in die Adern der Privilegirten umzugießen.«42 Die gesamte Gesellschaftsordnung basiert auf diesem Prinzip der Ausbeutung des Agrar- und Industrieproletariats, impliziert auch Börne. Während diese Maschinerie zumeist ohne spektakuläre Ausbrüche von Gewalt abläuft (sie ist sozusagen systemimmanent und alltäglich), tritt sie ab und an, in militärischen Aktionen gegen die Armen, offen hervor. Im Falle des Sohns des armen Bauern, der zum Militärdienst gezwungen wird, verschränken sich beide Formen des Kampfes der Reichen gegen die Armen. Der Protest des durch das Wirtschaftssystem verarmten Bauern gegen die Ausbeutung wird durch den Sohn erstickt, der für einen lächerlichen Sold zum Mord an seinem Vater gezwungen wird: »Das Herz empört sich, wenn man sieht, mit welcher Ungerechtigkeit alle Staatslasten verteilt sind. Hat man denn je einen reichen Städter über zu starke Auflagen klagen hören? Wer trägt denn nun alle die Lasten, unter welchen die europäischen Völker halb zerquetscht jammern? Der arme Taglöh––––––––– 41 GW I, S. [1]f. 42 Auguste Blanqui: Prozeß der Volksfreunde (s. Anm. 9), S. 3.
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ner, das Land. […] Der Bauer muß seinen einzigen Sohn hergeben, den frechen Überfluß der Reichen gegen seine eigene Not zu schützen, und unterliegt er der Verzweiflung und murrt, schickt man ihm den eigenen Sohn zurück, der für fünf Kreuzer täglich bereit sein muß, ein Vatermörder zu werden.«43
Im Hessischen Landboten wird ebenfalls die Pressung zum Militärdienst angeklagt, die dazu führt, dass die Söhne der armen Bauern gezwungen werden, zu »Brüder- und Vatermörder[n]« zu werden, wie es beim Massaker von Södel während der Hungerunruhen in Oberhessen 1830 geschah, als Soldaten ein Blutbad unter den Dorfbewohnern anrichteten. Wie Börne verschränkt auch Büchner in dieser Passage Ausbeutung und militärische Repression. Denn die Soldaten, die »gesetzlichen Mörder«, garantieren das reibungslose Funktionieren der Ausbeutungsmaschinerie der »gesetzlichen Räuber«: »Für das Militär wird bezahlt 914,820 Gulden. Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen [...]. Mit ihren Trommeln übertäuben sie eure Seufzer, mit ihren Kolben zerschmettern sie euch den Schädel, wenn ihr zu denken wagt, daß ihr freie Menschen seyd. Sie sind die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen, denkt an Södel! Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und Vatermörder.«44
Beide, Büchner und Börne, scheinen überzeugt, dass dieses System nur durch das Proletariat selbst beendet werden kann. Für Büchner ist das, wie ich eingangs hervorgehoben habe, gleichbedeutend mit einer proletarischen sozialen Revolution. Einem solchen Szenario nähert sich auch Börne gegen des Ende des »Sechzigsten Briefes« immer mehr an. Während er anfangs noch an Sozialreformen von oben zu glauben scheint, wird diese Möglichkeit gegen Ende des Briefes immer unwahrscheinlicher. Denn wie er feststellen muss, hat selbst der britische Reformbill von 1832 »nur den Zustand der Mittelklassen verbessert und das Helotenverhältnis des niedern Volks von neuem befestigt.«45 Für eine soziale Veränderung von unten ist jedoch Voraussetzung, dass sich das Volk seiner sozialen Situation und seiner Stellung im gegenwärtigen sozial––––––––– 43 BS, Bd. III, S. 376. 44 GW I, S. [3]. 45 BS, Bd. III, S. 375.
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ökonomischen System bewusst wird, die Einsicht habe, »es sei nur ein schlechtes Handwerkszeug, zum Dienste der Reichen geschaffen, das man wegwirft, wenn man es nicht braucht, und zerbricht, sobald es unbrauchbar geworden«.46 Auch Büchner führt seinen Adressaten im Hessischen Landboten ihre Entmenschlichung und Verdinglichung wiederholt vor Augen. Sie werden »zu Ackergäulen und Pflugstieren gemacht« oder – noch radikaler – aus ihren Körperteilen und -säften werden Güter und Produkte für die Reichen hergestellt: Die Reichen »haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern«;47 und er berichtet »von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer [der Bauern] Hände geschnitten sind, [...] von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind«.48 Büchner wie Börne erachten es als nötig, dass sich das Volk seiner Ausbeutung und sozialen Situation vollends bewusst wird, um seine Rolle als revolutionäre Avantgarde zu erfüllen. Als Drohung an die Reichen gerichtet, schreibt Börne am Ende des »Sechzigsten Briefes« über das von den oberen Klassen als dumm angesehene Volk: »Ja freilich, das beruhigt sie [die Reichen und Vornehmen], daß das Volk nicht denkt. Aber ihm ist der Gedanke Frucht, die Tat Wurzel, und wenn das Volk einmal zu denken anfängt, ist für euch die Zeit des Bedenkens vorüber, und ihr ruft sie nie zurück.«49
In einem scheinbaren Paradox kehrt Börne hier die idealistische Vorstellung um, dass das Bewusstsein der Aktion, der »Gedanke«, der »Tat«, notwendigerweise vorausgehen muss. Stattdessen spricht er dem Proletariat die Fähigkeit einer Herausbildung eines praktischen, sozialrevolutionären Bewusstseins zu. Dieses erwächst aus der direkten Konfrontation mit der Bourgeoisie und der Erfahrung des Klassenkampfes. Als zentrales Ereignis für diesen Prozess begreift Börne den Lyoner Seidenweberaufstand von 1831, um den der gesamte »Sechzigste Brief« kreist. Börne sieht im Verhalten der Bourgeoisie, die, anstatt die Lösung der sozialen Frage praktisch anzugehen, lieber darüber reflektiert, wie sie das ––––––––– 46 47 48 49
BS, Bd. III, S. 378. GW I, S. [2]. Vgl. GW I, S. [4]. BS, Bd. III, S. 378.
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als dumm erachtete Volk mit weiteren Unterdrückungsmaßnahmen zum Narren halten kann, den endgültigen Verlust der revolutionären Rolle der Bourgeoisie. Anders als diese, der es nur mehr darum geht, ihre Vorherrschaft mit allen Mitteln zu sichern, ist das praktische Bewusstsein des Proletariats auf revolutionäre Veränderung und nicht auf die Konservierung der sozio-ökonomischen Verhältnisse ausgerichtet. Dieses Vorgehen der Bourgeoisie führe unweigerlich – so impliziert Börne – zu einer weiteren Verschärfung des Kampfs zwischen den beiden Klassen, zwischen Reichen und Armen, und damit zur Entwicklung eines praktischen Bewusstseins des Proletariats für seine Situation. Am Ende dieser Entwicklung steht die soziale Revolution des Proletariats. Zu diesem Zeitpunkt wird die »Zeit des Bedenkens« für die Bourgeoisie endgültig vorbei sein, da ihre weitere Existenz in Frage gestellt sein wird. Ähnlich wie Büchner, der eine Herausbildung einer sozialrevolutionären Kultur allein im Proletariat verortet und die Bourgeoisie zum Aussterben verurteilt, scheint auch Börne am Ende des »Sechzigsten Briefs« – wenn auch eindeutig vorsichtiger als Büchner – das Szenario einer vom Proletariat getragenen, zukünftigen sozialen Revolution zu begrüßen. In dieser »fürchterlichsten Revolution« hat das Proletariat, »das untere Volk«, die historische Gelegenheit, die soziale »Ungleichheit« zu beseitigen und damit »diesem Übel der Menschheit«, das seit »dreitausend Jahre[n]« besteht,50 ein Ende zu bereiten. Im Postulat von sozialer »Gleichheit« als Ziel zukünftiger Revolutionen nähert sich Börne Büchners Überzeugung von »einem absoluten Rechtsgrundsatz« »in sozialen Dingen«.51 Als Träger dieser sozialen Umwälzung kommt für beide nur das Proletariat in Frage. Beide werten somit die Rolle das vom Bürgertum als Pöbel verachteten und gefürchteten niederen Volkes auf und nehmen dabei selbst die Niederlage ihrer eigenen Klasse, der Bourgeoisie, in Kauf.
––––––––– 50 Ebd., S. 371f. 51 MA, S. 319f.
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Im Dialog mit dem Jungen Deutschland: Büchners Briefe an Gutzkow Von Ariane Martin (Mainz) Georg Büchners Briefe an Karl Gutzkow, deren literaturpolitische »Aktualität […] blendend einleuchten muß«,1 wie Walter Benjamin 1936 mit allem Pathos der Moderne in seiner Briefsammlung Deutsche Menschen schrieb, werde ich im Kontext ihrer Niederschrift und Veröffentlichung in den 1830er Jahren kommentieren, indem ich zunächst ein Wort zur Überlieferung und zu Büchners Verhältnis zum Jungen Deutschland sage und dann exemplarisch auf seinen vermutlich letzten Brief an Gutzkow eingehe, indem ich diesen Brief als Stellungnahme zu einem bisher unberücksichtigten Bezugstext identifiziere. Die von der Forschung festgestellte »besonders prekäre Situation der Überlieferung von Büchners Korrespondenz«2 betrifft auch diejenigen Briefe, um die es hier geht. Büchners Briefe an Gutzkow sind bis auf den nach Mitte Januar 1836 verfassten, zufällig handschriftlich erhaltenen Brief, in dem der Briefschreiber sich um den infolge der Denunziation seines Romans Wally, die Zweiflerin in Mannheim inhaftierten Adressaten sorgt, ihm nach der Freilassung das Exil nahe legt und ihm Hilfe im französischen Straßburg anbietet,3 nur als mehr oder weniger umfangreiche Auszüge in problematischen Drucken aus dem 19. Jahrhundert überliefert. Sie erschienen zuerst in Gutzkows Büchner-Nachruf Ein Kind der
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2 3
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1. Frankfurt a. M. 1980, S. 213. Benjamin druckte den ersten Brief Büchners an Gutzkow, bei ihm noch ungenau datiert auf Ende Februar 1835. Vgl. ebd., S. 214. Henri Poschmann: Briefe. In: Büchner-Handbuch, S. 138–155, hier S. 140. Vgl. das Faksimile in: Briefwechsel, S. 150f. Das Original befindet sich in der Universitätsbibliothek Basel.
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neuen Zeit im Juni 1837 im Frankfurter Telegraph.4 In seinem Brief an Wilhelmine Jaeglé vom 30. August 1837 klagte der Verfasser darüber, dass die Zensur ihm die Zitate aus Büchners Briefen zusammengestrichen hat: »Die Censur ist allerdings ein Stein des Anstoßes; in meinem Nachrufe an Büchner hat sie stark aufgeräumt und die originellsten Stellen aus seinen Briefen an mich weggestrichen«.5 Ein Jahr darauf erfolgte die zweite, im Textbestand beträchtlich erweiterte und veränderte Veröffentlichung durch den Nachdruck des Nachrufs – nun unter dem Titel Georg Büchner – in Gutzkows Bändchen Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche.6 »Ich [...] vervollständigte Einiges, was mir die Censur in Frankfurt verstümmelt hatte«,7 schrieb der Verfasser am 26. Juni 1838 an Jaeglé über seinen in dieser Sammlung nachgedruckten Nachruf. Die Bemerkung betraf speziell die Briefe Büchners an ihn. Der Zweitdruck von 1838 ist entsprechend dann dem Erstdruck von 1837 vorzuziehen, wenn dort zuvor unterdrückter Text abgedruckt ist. Überblickt man insgesamt die fragmentarisch überlieferten Briefe von und an Büchner, dann stellt man fest, dass lediglich im Fall der Korrespondenz mit Gutzkow von einem Briefwechsel die Rede sein kann, von einem brieflich geführten Gespräch, von einem Dialog in aufeinander bezogenen Briefen. Zu konstatieren ist im Fall dieser Korrespondenz jedenfalls »eine gewisse Intertextualität der Repliken, die dem übrigen Briefkorpus weitgehend fehlt.«8 Alles in allem zähle ich zehn Briefe Büchners, angefangen von der brieflichen Kontaktaufnahme, die dem Schreiben an den Verleger Sauerländer mit dem Manuskript von Danton’s Tod am 21. Februar 1835 beigelegt war, bis zu einem letzten Brief vom Juni 1836. Von Gutzkow sind dreizehn allesamt handschriftlich erhaltene Gegenbriefe überliefert, der erste vom 25. Februar 1835, der letzte ––––––––– 4
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Vgl. K.[arl] G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit. In: Frankfurter Telegraph. (Neue Folge.) Juni 1837. Nr. 42. S. 329–332. Nr. 43. S. 337–340. Nr. 44. S. 345–348. In: Nachrufe auf Georg Büchner 1837. Frankfurt a. M. 1987. (= GW IX.) Charles Andler: Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. In: Euphorion 4 (1897) 3. Ergänzungsheft. S. 181–193, hier S. 190f. Vgl. Karl Gutzkow: Georg Büchner. In: Ders.: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstimmungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche. Hamburg 1938, S. 19–50. Andler (s. Anm. 5), S. 192f. Knapp, S. 62f.
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vom 10. Juni 1836.9 Danach ist der Kontakt unterbrochen, aufgrund von Büchners frühem Tod am 19. Februar 1837 tatsächlich aber abgebrochen. Gutzkow erklärte sich dazu im Juni 1837 gleich zum Auftakt seines Nachrufs in einer Charakterisierung des Briefwechsels mit Büchner, dem er nie persönlich begegnet ist. Dieser Auftakt ist aufschlussreich für die retrospektive Einschätzung des Briefempfängers, der offenbar mehr seine eigene Haltung als die seines Briefpartners im Blick hatte. Gutzkow schrieb dort über den Briefwechsel und seine Beziehung zu Büchner: »Um die Wehmuth zu verstehen, welche diesen Nachruf an einen früh vollendeten jungen deutschen Dichter durchbebt, denke man sich eine Freundschaft, die aus der Ferne, ohne persönliche Begrüßung, nur durch wechselseitige Bestrebungen, durch gleiche Gesinnungen hervorgerufen, und durch das Band objektiver Ideale zusammengehalten wurde! Man wechselt Briefe […], man tauscht seine Zukunft aus und schüttet das reiche Füllhorn lachender, dreister Hoffnungen sich einander in den Schooß. Man spricht sich in trüben Stunden Muth zu und malt sich eine Wendung der Dinge aus […]. Man hofft auf persönliche Begrüßung und gibt sich Kennzeichen, wenn man sich plötzlich begegnen sollte. Ein solcher Gemüth und Geist bewegender Verkehr dauert ein Jahr; da tritt eine kleine Pause ein, der Eine bestellt sein Haus, der Andre rüstet sich zu einer Reise und neuen Lebensbahn. Der Briefwechsel stockt. Man ist ohne Sorge über den still fortglimmenden Freundschaftsfunken und tritt eines Tages an einen Ort, wo sich das Echo der tausend Tagesgerüchte […] in Zeitungen durchkreuzt. Man ergreift sorglos eine derselben und liest, daß der Freund, der hoffnungsvolle, strebende, muthige, schon seit Monaten hinübergegangen ist in das Reich des Friedens, […] ausgelöscht aus dem jungen Nachwuchsregister unsrer Hoffnungen, […] ve rst or ben ! / So ging es mir mit Ge org B üc hne r«.10
Hier spricht der Förderer Büchners, der die Bedeutung von Danton’s Tod erkannt, den Autor entdeckt, enthusiastisch rezensiert und ihn beständig zu weiterer literarischer Produktion ermuntert hat. Hier spricht außerdem der Wortführer des Jungen Deutschland, der sich angesichts des Verbotsbeschlusses des Frankfurter Bundestages vom 10. Dezember 1835 und überhaupt angesichts der Verfolgungen, denen er bis hin zur Haftstrafe ausgesetzt war, sehr vorsichtig ausdrückt, aber gleichwohl zu verstehen gibt, dass er Büchner als Nachwuchstalent jungdeutscher Lite––––––––– 9 Vgl. Briefwechsel, S. 54–57, 67f., 72f., 78f. 82f., 85f., 94f., 103f. Die Handschriften be-
finden sich im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar.
10 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit (s. Anm. 4), S. 329.
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ratur gefördert hat. Er hatte ihm bereits in seinem Brief vom 17. März 1835 nach Straßburg, wohin Büchner, um der Verhaftung zu entgehen, kurz zuvor geflohen war, die jungdeutsche Strategie des Ideenschmuggels anempfohlen. »Treiben Sie wie ich den Schmuggelhandel der Freiheit«.11 Und er hatte ihn als Beiträger zu der dann wegen des Verbotsbeschlusses nicht realisierten Deutschen Revue gewonnen, was Büchner seine Eltern durch mehrere Briefe hat wissen lassen.12 So hat Büchner in seinem Brief nach Darmstadt vom 2. November 1835 darauf hingewiesen, dass er in der Presse13 als Mitarbeiter der Deutschen Revue namentlich genannt war: »Neulich hat mein Name in der Allgemeinen Zeitung paradirt. Es handelt sich um eine große literärische Zeitschrift, deutsche Revue, für die ich Artikel zu liefern versprochen habe.«14 Allerdings hat er sich dann unmittelbar nach dem Verbotsbeschluss in seinem Brief an die Eltern vom 1. Januar 1836 vom Jungen Deutschland distanziert: »Das Verbot der deut sch en Re vue schadet mit nichts. […] Uebrigens gehöre ich f ür me i ne Per so n keineswegs zu dem sogenannten Ju ngen De utsc h la nd, der literarischen Partei Gutzkow’s und Heine’s. Nur ein völliges Mißkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei.«15
Diese Bemerkung, in der Büchner sich vom Jungen Deutschland distanziert und erklärt, dass der Ideenschmuggel nicht seine Sache sei, war wohl in erster Linie der Beruhigungsstrategie geschuldet, die charakteristisch ist für Büchners Briefe an die besorgten Eltern,16 die informiert waren über die Beteiligung des Sohnes an jungdeutschen publizistischen ––––––––– 11 Briefwechsel, S. 61. 12 Er hatte den Eltern beispielsweise am 20. September 1835 angedeutet: »Mir hat sich
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eine Quelle geöffnet; es handelt sich um ein großes Literaturblatt, d e u t s c h e R e v u e betitelt, das mit Anfang des neuen Jahres in Wochenheften erscheinen soll. G u t z k o w und W i e n b a r g werden das Unternehmen leiten; man hat mich zu monatlichen Beiträgen aufgefordert. […] Vielleicht, daß Ende des Jahres noch etwas von mir erscheint.« Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt a. M. 1850, S. 270. Vgl. [Karl] Gutzkow, [Ludolf] Wienbarg: Erklärung. In: Außerordentlichen Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 430, 26. Oktober 1835, S. 1720. Nachgelassene Schriften (s. Anm. 12), S. 271f. Ebd., S. 272f. Vgl. Thomas Michael Mayer: »Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein...«. Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern. In: GBJb 2 (1982), S. 249–280, hier S. 264ff.
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Projekten und von dem Verbotsbeschluss vom 10. Dezember 1835 verschreckt gewesen sein dürften. Spätestens mit dem vom Frankfurter Bundestag erlassenen Verbot »der Schriften aus der unter der Bezeichnung ›das junge Deutschland‹ […] bekannten literarischen Schule, zu welcher namentlich Heinr. Heine, Carl Gutzkow, Heinr. Laube, Ludolph Wienbarg und Theodor Mundt gehören«,17 diente der seit dem Spätsommer 1835 im Literaturstreit um Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin populär gewordene Begriff ›Junges Deutschland‹ als politisches Etikett oppositioneller Literatur. Derart festgeschrieben vermied der Verfasser von Ein Kind der neuen Zeit diesen Begriff. Gleichwohl sah Gutzkow in der literarischen Opposition gegen die Restauration grundsätzlich die Gemeinsamkeit zwischen ihm und Büchner, die er hervorhob, wenn er in seinem Nachruf vage über ›wechselseitige Bestrebungen‹ spricht, die ›durch gleiche Gesinnungen hervorgerufen‹ und ›durch das Band objektiver Ideale zusammengehalten‹ worden seien, und damit die Zugehörigkeit Büchners zum Jungen Deutschland betont. In Gutzkows Nachruf ist von den Gemeinsamkeiten mit Büchner die Rede, nicht von den Differenzen. Diese aber sind in den immerhin von Gutzkow publizierten Briefen Büchners an ihn offensichtlich, darüber ist sich die Forschung einig. Festgestellt wurde unwidersprochen: »Zwei Konzeptionen fortschrittlich engagierter Schriftstellerei treffen im Briefwechsel mit Gutzkow exemplarisch aufeinander.«18 Man hat allgemein gesagt, dass die Beziehung sich »problemreich« und »spannungsvoll«19 darstelle, was zweifellos auf die festgestellten beiden unterschiedlichen Konzeptionen politisch engagierter Literatur bei Büchner und Gutzkow abzielt. Man hat jedenfalls die »politischen Divergenzen« beobachtet, den »Gegensatz zwischen [...] dem bildungsbürgerlichen Emanzipationsprojekt Gutzkows und dem materialistischen Egalitarismus Büchners«,20 der die Korrespondenz der beiden Autoren durchziehe. ––––––––– 17 Ernst Rudolf Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1. Stutt-
gart 31978, S. 151.
18 Poschmann: Briefe (s. Anm. 2), S. 148. 19 Henri Poschmann: Am Scheidepunkt der Vormärzliteratur. Büchner und Gutzkow – eine
verhinderte Begegnung. In: Helmut Bock, Renate Plöse (Hrsg.): Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz und Biedermeier. Münster 1994, S. 234–246, hier S. 234. 20 Knapp, S. 63.
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Büchners materialistischer Blick auf die Welt und seine radikale republikanische Haltung sind nun gerade durch markante paradigmatische Sätze in seinen Briefen an Gutzkow überliefert, Sätze, »an denen die Forschung sich ohne Ende abarbeitet«,21 »explizite Äußerungen Büchners zu politischen Fragen, die man […] als Zentralargumente der revolutionären Programmatik lesen muß.«22 Es folgt in diesen Briefen eine politische »Klartextpassage«23 nach der anderen. Eine dieser Passagen will ich nun herausgreifen, um daran zu zeigen, wie Büchner seine politische Haltung dem Briefpartner klar macht, indem er sich auf dessen Haltung bezieht, um sich von ihr abzugrenzen. Es handelt sich um den Anfang Juni 1836 verfassten Brief, der vermutlich letzte, den Büchner an Gutzkow geschrieben hat. Über den Briefwechsel der beiden Autoren zu diesem Zeitpunkt und speziell über diesen Brief hat Thomas Michael Mayer geschrieben, es würden sich »im Ton noch verbindlich, jedoch nicht mehr argumentativ aufeinander bezogen und in der Sache auch nicht mehr vermittelbar, die Positionen gegenüber«24 stehen. Nun kritisiert Büchner in diesem Brief zwar offen die Position des Briefpartners, die mit der eigenen nicht vereinbar ist, die er eindeutig formuliert. Aber er bringt die gegenläufigen Positionen gerade dadurch auf den Punkt, indem er sich auf den Briefpartner bezieht, sich mit ihm anhand einer seiner Schriften auseinandersetzt. Bei dieser Schrift handelt es sich um eine meines Wissens in der Forschung bisher noch nicht berücksichtigte Quelle zu diesem Brief Büchners, einen Bezugstext, der als ein Dokument zu bewerten ist, das den zeitgeschichtlichen Kontext, das Gespräch mit Gutzkow, die Positionen des Jungen Deutschland und Büchners Haltung weiter erhellt. Bald nach dem Beginn der von Wolfgang Menzel mit seiner Polemik gegen den Roman Wally, die Zweiflerin in Cottas Literatur-Blatt vom 11. und 14. September 1835 angezettelten Rufmordkampagne gegen Gutzkow hatte dieser Büchner am 28. September 1835 auf seinen Literatur-
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Poschmann: Briefe (s. Anm. 2), S. 149. Knapp, S. 63. Ebd., S. 65. Mayer (s. Anm. 16), S. 262.
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streit25 mit Menzel und auf zwei Broschüren aufmerksam gemacht: »In einigen Tagen erscheinen von mir u Wienbarg Brochüren. Ich kann nichts Besseres thun, als aus seiner Infamie eine literarische Streitfrage machen.«26 Von Interesse ist der Text Gutzkows, bei dem es sich nur um die zwanzig Seiten umfassende Broschüre handeln kann, die 1835 im Verlag von Johann Philipp Streng in Frankfurt am Main erschienen ist und sich als Beitrag zum Literaturstreit mit Menzel zu erkennen gibt: Appellation an den gesunden Menschenverstand. Letztes Wort in einer literarischen Streitfrage. Von K. Gutzkow. Es handelt sich bei diesem Text zwar um eine Rechtfertigungsschrift, um einen Versuch Gutzkows, angesichts der Angriffe gegen ihn abzuwiegeln, insbesondere seine religionskritischen Ausführungen im Wally-Roman bis hin zur Umdeutung abzumildern; seine grundsätzliche Haltung zur Rolle des Schriftstellers mitsamt den literaturpolitischen Zielen und Umständen aber behält er bei, macht sie sogar durch die rechtfertigende Erläuterung ausdrücklich transparent. Diese Broschüre muss Büchner gelesen haben. In seinem Brief von Anfang Juni 1836 entschuldigt er sich zunächst dafür, dass er lange nicht geschrieben habe, erzählt von der Abfassung seiner Dissertation und von seinem Plan, an die Universität Zürich zu gehen, um dort über Philosophiegeschichte zu lesen, erkundigt sich danach, ob Gutzkow weiter durch politische Verfolgung gefährdet sei, und kommt dann auf den Literaturstreit um das Junge Deutschland zu sprechen: »Ueber den Stand der modernen Literatur in Deutschland weiß ich so gut als nichts; nur einige versprengte Broschüren, die, ich weiß nicht wie, über den Rhein gekommen, fielen mir in die Hände.«27 Diese Äußerung hat die Zensur im Erstdruck des Briefes zugelassen. Eine der von Büchner erwähnten Broschüren war Gutzkows Appellation an den gesunden Menschenverstand, jene Broschüre, auf die der Verfasser selbst Büchner aufmerksam gemacht hat und auf deren Argumentation Büchner in seinem Brief antwortet, sich auf sie bezieht. In Büchners Brief heißt es weiter, nachdem er seine Solidarität mit Gutzkow gegen Menzel zum Ausdruck gebracht ––––––––– 25 Vgl. dazu die umfangreiche Dokumentation und Bibliographie in Karl Gutzkow:
Wally, die Zweiflerin. Roman. Studienausgabe mit Dokumenten zum zeitgenössischen Literaturstreit hrsg. v. Günter Heintz. Stuttgart 1998, S. 259–441. 26 Briefwechsel, S. 82. 27 G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit (s. Anm. 4), S. 346.
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hat – und diese politische Klartextpassage hat die Zensur im Erstdruck gestrichen: »Uebrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der ge bildete n Klasse aus reformiren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein mat er ie l l, wären Sie je directer politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen. / Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, so viel Concessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältniß zur großen Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und rel i gi ö ser Fa na t ismu s. […] Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Recht sgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im V o l k suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.«28
Diese im »Gegensatz zur jungdeutschen Strategie«29 formulierten programmatischen Sätze sind in der Forschung immer wieder zitiert worden; in Beziehung gesetzt zur Broschüre Appellation an den gesunden Menschenverstand und als Antwort auf diese interpretiert wurden sie bisher, so weit ich sehe, nicht. Vergleicht man Büchners Ausführungen mit denen in dieser Broschüre, dann zeigt sich, dass er sich mit diesem Text kritisch befasst, sich auf ihn direkt bezogen und sich deutlich von ihm abgegrenzt hat. Nimmt man Büchners rhetorische Frage ›Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformiren?‹ dann liest sich diese Frage wie eine Antwort auf Ausführungen in der Appellation an den gesunden Menschenverstand, in der Gutzkow das Junge Deutschland und speziell seinen Roman Wally, die Zweiflerin gegen die politisch motivierten Angriffe verteidigt, eine revolutionäre, gar neojakobinische Intention zurückweist und sich junghegelianisch auf allgemein die Gesellschaft formende Ideen beruft, die sich auch im aktuellen Literaturstreit um seinen Roman niedergeschlagen hätten und deren Verbreitung der Schriftsteller als seine eigentliche Mission zu begreifen habe. Gutzkow schrieb: ––––––––– 28 Gutzkow: Georg Büchner (s. Anm. 6), S. 43f. 29 Burghard Dedner: Georg Büchner. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger
Autoren. Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Bd. 5. Stuttgart 1989, S. 571–594, hier S. 580.
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»Man will nun etwas entdeckt haben, was eine soziale Revolution vorstellen soll. Man will in der Redensart: J un ges Deu tsc h la nd etwas bemerken, was eine Incarnation des Jacobinismus wäre. Ich will mit einigen Worten das zu charakterisiren suchen, was man sich unter dieser Phrase: S o zia le Um w ä l zu ng zu denken hat: / Die Gesellschaft fühlt, daß sich endlich die Bestimmung unsers Jahrhunderts aussprechen muß. Wären nicht Ideen vorhanden, […] würde sich diese Streitfrage, welche jetzt das deutsche Vaterland beschäftigt, so rasch haben entwickeln können? Diejenigen, welche sie zunächst veranlaßten, erschrecken selbst über die Consequenzen, welche ihre ganz ohne Zusammenhang hingeworfenen Sätze, ein nur im Interesse der Poesie geschriebener Roman, herbeigeführt haben. […] Ein merkwürdiges Zeichen der Zeit, daß die Ideen bald zusammen waren, welche noch Niemand gelehrt hat, und daß man eine Mission bekömmt, ohne sie gesucht zu haben. So dienen sie alle dem Genius des Jahrhunderts!«30
Die Gesellschaft ist nicht mittels abstrakt gedachter Ideen zu reformieren, reagierte Büchner auf diese Ausführungen, diese Gesellschaft, die ›abgelebte moderne Gesellschaft‹ – ›abgelebt‹ im Sinne von »matt und kraftlos«,31 »modern« im Sinne von »heutig, neu«32 – möge vielmehr ›zum Teufel gehen‹. Die von Gutzkow in eine Reform umdefinierte Revolution, die soziale Umwälzung, hat Büchner mit dem Hinweis auf die materiellen Verhältnisse als maßgeblich in sozialen Dingen wieder auf ihren eigentlichen Begriff gebracht. Büchners Absage an die von dem Wortführer des Jungen Deutschland propagierte Mission der Gebildeten ist deutlich ausgefallen. In der Appellation an den gesunden Menschenverstand ist diese Mission ausdrücklich beschworen. Gutzkow hat die gebildete Schicht der Literaten, der Dichter und Denker, als friedlich reformerisch verteidigt und als maßgeblich in der Gestaltung der Gesellschaft entworfen: »Ich müßte mich sehr irren, wenn mir nicht Jeder zugestehen wird, daß keine Beschäftigung des denkenden Kopfes so würdig ist, als die, den Gebrechen der Gesellschaft auf eine milde und gefahrlose Weise abzuhelfen.«33 Er hat sich in seiner Appellation ausdrücklich auf die von ––––––––– 30 K.[arl] Gutzkow: Appellation an den gesunden Menschenverstand. Letztes Wort in einer literari-
schen Streitfrage. Frankfurt a. M. 1835, S. 10f.
31 Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854–1954. [Reprint in 33
Bänden. München 1984.], hier Bd. 1, Sp. 46.
32 Joh.[han] Christ.[ian] Aug.[ust] Heyse: Allgemeines Fremdwörterbuch oder Handbuch zum
Verstehen und Vermeiden der in unserer Sprache mehr oder minder gebräuchlichen fremden Ausdrücke […]. Bd. 2. Hannover 71835, S. 97. 33 Gutzkow: Appellation an den gesunden Menschenverstand (s. Anm. 30), S. 13.
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Büchner als ›wohlhabende Minorität‹ charakterisierte ›gebildete Klasse‹ als Adressat berufen, nicht wie dann Büchner auf das Volk, auf die mittellose, ungebildete Mehrheit. Gutzkow: »Für die Massen schreib’ ich nicht. Mein Styl und meine Bildung entfremden mich der Durchschnittsintelligenz. […] so werden meine Schriften immer nur einen geweihten Kreis bilden, in welchen die Einsichtsvollen und Unterrichteten eintreten. Mit diesen kann ich allein unterhandeln, mit Männern von Belesenheit und Bekanntschaft in dem geistigen Entwickelungsprozesse dieser Zeit, mit Frauen, welche reif sind für ernste Anschauungen«.34
Büchner hat dagegen gesetzt, dass man ›die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen‹ müsse, da es sich um soziale Dinge handle, bei denen von einem ›absoluten Rechtsgrundsatz‹ auszugehen sei. Er hat sich dabei wohl auf den »Rechtsgrundsatz« berufen, den Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden als politische Maxime ausgegeben hat, die »von dem reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen, dessen Prinzip a priori durch reine Vernunft gegeben ist) ausgehen« müsse, die »physischen Folgen daraus mögen auch sein, welche sie wollen.«35 Die physischen Folgen wären ein Umsturz der bestehenden Verhältnisse, das Ende der abgelebten Gesellschaft. Wenn Büchner sich auf jenen ›absoluten Rechtsgrundsatz‹ beruft, dann operiert er sprachlich im Rahmen eines philosophischen Diskurses, denn zeitgenössisch bedeutete ›absolut‹: ––––––––– 34 Ebd., S. 19. 35 »Der […] wahre Satz: ›fiat iustitia, pereat mundus‹, das heißt zu deutsch: ›Es herrsche
Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zugrunde gehen‹, ist ein wackerer, alle durch Arglist oder Gewalt vorgezeichneten krummen Wege abschneidender Rechtsgrundsatz […]. – Dieser Satz will nichts anders sagen, als: Die politischen Maximen müssen […] von dem reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen, dessen Prinzip a priori durch reine Vernunft gegeben ist) ausgehen, die physischen Folgen daraus mögen auch sein, welche sie wollen.« Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Stuttgart 1983, S. 65. In der Forschung ist Kants Satz bei Heine – »fiat justitia, pereat mundus!« im Sinne »eines absoluten Rechtsgrundsatzes im Sinne Kants« (Bodo Morawe: Citoyen Heine. Das Pariser Werk. Bd. 2: Poetik, Programmatik, Hermeneutik. Bielefeld 2010, S. 16f.) – dingfest gemacht und die Parallele zu Büchners »Rechtsgrundsatz« in sozialen Dingen festgestellt worden (vgl. Bodo Morawe: Citoyen Heine. Das Pariser Werk. Bd. 1: Der republikanische Schriftsteller. Bielefeld 2010, S. 288ff., 309f.) Vgl. zu diesem Zusammenhang mit dem zusätzlichen Hinweis auf die Korrespondenz des ›pereat mundus‹ mit der Welt, der alten Gesellschaft, die ›zum Teufel gehen‹ könne: Bodo Morawe: Heine und Holbach. Zur Religionskritik der radikalen Aufklärung und über zwei zentrale Probleme der BüchnerForschung. In: GBJb 11 (2005–08), S. 237–265, hier S. 264f.
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»1) An und für sich betrachtet, ohne Beziehung auf ein anderes Ding, im Gegensatze des relativ; im philosophischen Style. 2) Ohne Bedingung, unbedingt, schlechterdings.«36 Den Gegensatz zwischen einer ›relativen‹, der liberalen reformistischen Haltung, wie sie Gutzkow vertrat, und einer ›absoluten‹, der revolutionären Haltung, für die Büchner einsteht, wäre so verstanden bereits in einem früheren Brief Büchners an Gutzkow auf den Punkt gebracht: »Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten getheilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältniß zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt«,37 hatte Büchner dort geschrieben. Der Tenor in diesem Brief von wahrscheinlich Herbst 1835 und in dem Brief von Anfang Juni 1836 ist derselbe. »Friede den Hütten, Krieg den Pallästen«38 hatte Büchner schon 1834 seine Überzeugung vom Gegensatz zwischen Arm und Reich im Motto des Hessischen Landboten im Rekurs auf den Kampfruf »Guerre aux château! Paix aux chaumières«39 aus der Französischen Revolution formuliert, den er aus seinen Quellen zu Danton’s Tod kannte.40 Man könnte daher einwenden, dass Gutzkows Appellation an den gesunden Menschenverstand für Büchners Formulierung seiner politischen Überzeugung in seinem Brief von Anfang Juni 1836 keine besondere Rolle spiele. Zu bedenken ist aber, dass die Broschüre ihn dazu herausgefordert hat, zu widersprechen. Gerade die spezifische Formulierung an dieser Stelle gibt sich als unmittelbarer Reflex auf Gutzkows Broschüre zu erkennen, der sich als Widerspruch artikuliert. Signifikant ist etwa der Begriff ›Hebel‹, den Büchner in seiner Bemerkung zu den Voraussetzungen einer Revolution durch die ›große Klasse‹ (das Volk) aufgreift: Es gebe ›nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus‹. Auf diesen Begriff war er in den für seine politische Auffassung thema––––––––– 36 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,
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mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 4 Bde. Leipzig 21793–1801, hier Bd. 1, S. 109. Gutzkow: Georg Büchner (s. Anm. 6), S. 36. Auch diese Passage hat die Zensur im Erstdruck nicht zugelassen. Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996, S. 6. Ebd., S. 48. Vgl. MBA 3.3, S. 89, sowie Reinhard Papst: Zwei Miszellen zu den Quellen von »Dantons Tod«. In: GBJb 6 (1986/87), S. 261–268, hier S. 264.
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tisch zentralen Ausführungen zur Armut in der Broschüre gestoßen, denen er dann pointiert widersprochen hat. In der Appellation an den gesunden Menschenverstand heißt es zum materiellen Elend: »Die Verarmung der Gesellschaft ist ein großes Uebel, aber die Vertheilung der Güter würde es nicht heben. […] Es muß eine Gesinnung erweckt werden, welche die der Mildthätigkeit [..] ist. An unsere Gefühle müssen die Hebel der Aufopferung kommen, wir müssen wenigstens das erreichen, daß Niemand eine ruhige Nacht hat, der einen glänzenden Palast mitten in einem Viertel bewohnt, wo die Armuth keine Lumpen hat um ihre Blöße zu bedecken […]. Welche Mittel haben wir zu unserm Feldzuge? keine anderen, als die des Wortes, keine schlagenderen, als die der Poesie.«41
Auch den von Büchner als zweiter Hebel für eine Umwälzung erwähnte Aspekt der Religion hat er in der Broschüre gegenläufig zu seiner Auffassung thematisiert gefunden. Dort heißt es, entwickelt sei in Wally, die Zweiflerin »die Tendenz, dem Christenthum im 19. Jahrhundert eine neue Wegbereitung in den Gemüthern zu geben, es in Einklang zu bringen mit den Stimmungen und Bedürfnissen dieser Zeit, es zur Angel einer neuen Bewegung zu machen. Schon in meiner ersten Production versuchte ich es, den Liberalismus als eine Sache der Religion zu entwickeln und jeden Fortschritt im Geist und der Wahrheit als ein wesentliches Merkmal der christlichen Ideen zu characterisiren.«42
Diese Art von politischer Bewegung hatte Büchner dezidiert nicht im Blick, wie er dem Briefpartner Anfang Juni 1836 mit seiner klaren Abgrenzung der Positionen erklärte. Gutzkow, der »nach überstandener Rufmordcampagne, nach Gefängnishaft und Publikationsverbot«43 gut vier Wochen darauf in Frankfurt heiraten sollte und ein ruhiges Leben anstrebte, antwortete Büchner am 10. Juni 1836. Er gab ihm zu verstehen, dass er »vor erträglicher Gegenwart die Vergangenheit vergessen«44 und vom Streit um das Junge Deutschland Abstand gewinnen wolle. Ohne explizit auf die Kritik an seiner Broschüre und damit an seiner literaturpolitischen Haltung einzugehen, beschränkte er sich auf seine gewohnte, von Anfang an eingenommene Rolle als Förderer des jüngeren ––––––––– 41 42 43 44
Gutzkow: Appellation an den gesunden Menschenverstand (s. Anm. 30), S. 15. Ebd., S. 16. Poschmann: Am Scheidepunkt der Vormärzliteratur (s. Anm. 19), S. 235. Briefwechsel, S. 103.
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begabten Autors. So sprach er von Büchners »force« im Ausdruck und lobte die »seltene Unbefangenheit«, die »Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben. Wenn Sie mit dieser Ungenirtheit unter die deutschen Philosophen treten, muß es einen neuen Effekt geben.«45 Zwischen den Zeilen gibt Gutzkow, der hier auch an Büchners ›force‹ in Anknüpfung an Kants philosophisch postulierten ›Rechtsgrundsatz‹ gedacht haben mag, dem Briefpartner aber zu erkennen, dass er dessen Brief als eine rezensierende Stellungnahme zu seiner Broschüre gelesen hat. Gutzkow schätzte nach wie vor den offensiven Habitus, mit dem Büchner ihm gleich bei der Kontaktaufnahme entgegengetreten war – eingeladen durch die Versicherung des verantwortlichen Redakteurs (Gutzkow) im Literatur-Blatt Nro 1 des Phönix vom 7. Januar 1835, dass dieser »nur das Kommende im Auge habe« und sich »forttragen lassen« wolle »mit dem Neuesten, was die Literatur bringt.«46 Daraufhin hat Büchner diesem Redakteur das Manuskript seines Drama Danton’s Tod wie eine Pistole bildlich »auf die Brust« gesetzt47 – in seinem ersten Brief vom 21. Februar 1835, der in der Forschung als ein »rhetorisches Meisterstück«48 analysiert wird und wie die Folgebriefe zum Zweck der »Beeindruckung eines Schriftstellerkollegen (Gutzkow)«49 verfasst worden sei. Tatsächlich hat sich Büchner gegenüber Gutzkow von Anfang an als entschiedener Republikaner im Anspielungshorizont der Französischen Revolution dargestellt und zu erkennen gegeben. Dass Gutzkow diese radikale oppositionelle Haltung als Tendenz den jungdeutschen Bestrebungen subsumierte, damit hat er vielleicht erst die von Walter Benjamin und anderen stets neu beschworene literaturpolitische Aktualität gesichert, die exzessive Rezeption ermöglicht.
––––––––– 45 Ebd., S. 104. 46 Karl Gutzkow: [Über das Literatur-Blatt des Phönix.] In: Phönix. Frühlings-Zeitung für
Deutschland, Jg. 1, Nr. 6, 7. Januar 1835, Literatur-Blatt, Nr. 1, S. 21–24, hier S. 24.
47 Vgl. G.[utzkow]: Ein Kind der neuen Zeit (s. Anm. 4), S. 331f. 48 Knapp, S. 63. 49 Gerhard Schaub: Georg Büchner: Poeta rhetor. Eine Forschungsperspektive. In: GBJb 2
(1982), S. 170–195, hier S. 194.
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Büchners Kleider Vestimentäre Inszenierung und Materialität der Zeichen Von Doerte Bischoff (Hamburg)
1. Mode und Moderne: Eine Begegnung Ende Mai des Jahres 1833 schreibt Büchner an seine Familie aus Straßburg über eine merkwürdige Begegnung: »Wenn Ihr neulich bei hellem Wetter bis auf das Münster hättet sehen können, so hättet Ihr mich bei einem langhaarigen, bärtigen, jungen Mann sitzend gefunden. Besagter hatte ein rotes Barett auf dem Kopf, um den Hals einen Cashmir-Shawl, um den Cadaver einen kurzen deutschen Rock, auf die Weste war der Name ›Rousseau‹ gestickt, an den Beinen enge Hosen mit Stegen, in der Hand ein modisches Stöckchen. Ihr seht, die Carricatur ist aus mehreren Jahrhunderten und Weltteilen zusammengesetzt: Asien um den Hals, Deutschland um den Leib, Frankreich an den Beinen, 1400 auf dem Kopf und 1833 in der Hand. Er ist ein Kosmopolit – nein, er ist mehr, er ist Saint-Simonist!«1
Dieser Bericht zeugt von einer genauen Kenntnis und sensiblen Wahrnehmung von Kleidermoden, deren Differenziertheit sowohl im Hinblick auf historische Entwicklungen wie auf verschiedene lokale bzw. nationale Ausprägungen reflektiert wird. Die Figur, die hier offensichtlich in hohem Maße das Interesse des Schreibenden geweckt hat, verweist gerade dadurch auf den Zusammenhang von Mode und Selbstdarstellung, dass sie nicht einer bestimmten Mode folgt, sondern sozusagen das Charakteristikum von Mode schlechthin zur Schau stellt, nämlich veränderlich und von zeitlich und räumlich begrenzter Geltung zu sein.2 ––––––––– 1 2
P II, S. 368. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe unmittelbar im Text nachgewiesen. Verwandte Szenen finden sich interessanterweise in Kellers 1873 zum ersten Mal publizierter Novelle Kleider machen Leute. Auch hier wird der Blick auf die Heterogenität und Historizität von Moden (auch in Baustilen) gelenkt und so Beweglichkeit
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Dabei scheint die Besonderheit und Individualität der beschriebenen Person nun gerade darin zu bestehen, dass sie durch ihre Kleidung auf verschiedene Weltteile und historische Epochen zugleich verweist, ohne dass diese zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt und transzendiert würden – vielmehr stellt »sein fatales Kostüm« (ebd.) die Brüche und Unstimmigkeiten der eigenwilligen Komposition ja gerade zur Schau: Sie ist es, die ins Auge fällt und die Beschreibung herausfordert. Inwiefern René Rousseau, dessen saint-simonistische Schriften in dieser Zeit in Straßburg kursierten und mit dem Büchner dort offenbar tatsächlich zusammengetroffen ist, wirklich die beschriebene Kleidung so getragen hat, lässt sich wohl nicht genau rekonstruieren.3 Bemerkenswert ist aber in jedem Fall, dass Büchner hier die Begegnung mit der saintsimonistischen Philosophie, Politik und Weltanschauung, auf deren Bedeutung für sein eigenes Schaffen gelegentlich hingewiesen worden ist,4 gestaltet, indem er den Blick auf das Phänomen der Mode lenkt und zugleich die Stofflichkeit und Materialität in der konkreten Erscheinung des Saint-Simonismus hervorkehrt. Bis zu einem gewissen Grade trägt er damit den materialistischen Thesen und Forderungen dieser frühsozialistischen Bewegung Rechnung. Gerade indem die Gestalt aber als eine zusammengesetzte und verschiedene Moden in sich aufnehmende geschildert wird, lässt sie sich auch als eine spezifisch Büchner’sche Konstruktion entziffern, die abstrakte Ideen und konkrete Materialisierung, Universalität und Partikularität in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander treten lässt. Betrachtet man noch einmal die eingangs zitierte Briefpassage, so lässt sich auch fragen, ob mit dem Namen ›Rousseau‹, der ja angeblich auf die Weste des Fremden gestickt ist, nicht auch gespielt wird, indem er auch auf den anderen, nämlich Jean-Jacques Rousseau verweisen –––––––––
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und Zirkulation als modernes Paradigma ebenso reflektiert wie das Gemachtsein von Leitbildern aus stofflichen Versatzstücken unterschiedlichster Provenienz. Vgl. dazu Bernd Widdig: Mode und Moderne. Gottfried Kellers »Kleider machen Leute«. In: Merkur 48 (1994), S. 109–123. Insofern historischer Eklektizismus in der Kleidung der zeitgenössischen Mode der romantiques entspricht, ist eine derartige Erscheinung aber nicht unwahrscheinlich. Zur frz. Mode um 1830 vgl. Louis Maigron: Le Romantisme et la mode. Paris 1911. Für diesen Hinweis danke ich Eva-Maria Vering. Vgl. etwa Michael Glebke: Die Philosophie Georg Büchners. Marburg 1995, S. 99–103.
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kann, der als Vordenker und Wegbereiter der Französischen Revolution die Idee vom Naturzustand bzw. naturrechtliche Bestimmungen des Menschen propagiert hatte: Ein halbes Jahrhundert nach der Französischen Revolution erscheinen deren Leitideen, die sich typischerweise mit dem Anspruch verknüpft hatten, für alle Menschen, unabhängig von Stand, Ort und zeitlichem Kontext Geltung zu besitzen, ihrerseits als Moden, und die im ausgehenden 18. Jahrhundert strukturbildenden Oppositionen zwischen Mode und Menschheit, Partikularem und Universalem, künstlichem Schein und natürlichem Sein haben ihre diskursprägende Macht eingebüßt. Dabei ist zu bedenken, dass die Kontrastierung von Mode und Menschheit, wie man sie programmatisch etwa in Schillers Ode An die Freude (1785) gestaltet findet – dort heißt es: »Deine Zauber binden wieder, / Was die Mode streng geteilt / Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt«5 – im Grunde selbst eine Schwelle markiert, insofern die implizite Vorstellung von die Menschheit trennenden (Kleider-)Konventionen einer vorrevolutionären Welt angehört, während die Mode im eigentlichen, modernen Sinne des Wortes ihre spezifische Logik und Dynamik erst mit der Abschaffung von standestypischer Tracht entfaltet.6 Das aber bedeutet, dass sie als Rückseite der Moderne deren universalistische Programme (›Freiheit‹, ›Humanität‹, ›Gleichheit‹ etc.) mit dem Index des Vergänglichen, konkret Stofflichen und Partikularen versieht, was diese nicht unangetastet lässt, sondern ›in Mitleidenschaft zieht‹, wie es Barbara Vinken einmal formu-
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Friedrich Schiller: An die Freude (zweite Fassung). In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Otto Dann u. a. Bd. 1: Gedichte. Hrsg. v. Georg Kurscheidt. Frankfurt a. M. 1992, S. 248f., hier S. 248. Wenn es weiter unten heißt: »Freude trinken alle Wesen / An den Brüsten der Natur«, wird zudem das künstliche Gemachtsein der Moden emphatisch der ursprünglichen Gegebenheit der Natur entgegengestellt. Vgl. Gertrud Lehnert: Rosa Schleifen, blaue Fräcke. Zur Verbürgerlichung der Mode im 18. Jahrhundert. In: Der Deutschunterricht 60 (2008), H. 4: Themenheft Mode und Literatur. Hrsg. v. Anne Fleig u. Birgit Nübel, S. 20–30, hier S. 20f. Dass es sich dabei um einen längeren Prozess handelte, bei dem das monetäre Macht repräsentierende Bürgertum nicht nur die Kleiderkonventionen des Adels nachahmte, sondern dieser umgekehrt zunehmend durch die Dynamik und Schnelllebigkeit bürgerlicher Verkehrs- und Repräsentationsweisen unter Druck geriet, zeigt auch Marita Bombek: Kleider der Vernunft. Die Vorgeschichte bürgerlicher Präsentation und Repräsentation in der Kleidung. Münster 2005, S. 70, 277.
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liert hat.7 Lange vor Georg Simmel, dessen Analysen zur Mode deren Ambivalenz herausstellen, die darin besteht, dass sie dem modernen Menschen Distinktion und Individualität verspreche, ihn aber zugleich auf veränderliche und willkürliche Gesetze verweise,8 haben Büchner und einige seiner Zeitgenossen die beunruhigende Koinzidenz von Freiheit und Determiniertheit, der sich der Mensch in der Moderne ausgesetzt sieht, auf unterschiedliche Weise ausgelotet. Dabei kristallisiert sich die Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Mode sowie allgemein ein Interesse für Kleidung als materielle Erscheinungsweise von Menschen, ihrer Glaubensbekenntnisse und Ideale, als Topos einer gleichermaßen zeittypischen wie zukunftsweisenden Verhandlung der Aporien der Aufklärung heraus. Materielle Kultur und philosophische Begriffe werden einander angenähert, so dass kategoriale und disziplinäre Unterscheidungen, die auch die Büchner-Rezeption bis heute vielfach leiten, grundsätzlich in Frage gestellt werden. – »Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung. Mein ganzes System ist ruiniert« (P I, S. 99), heißt es denn auch ausgerechnet in der sogenannten Ankleideszene in Leonce und Lena, in der König Peter den freien Willen als ›offenstehenden‹ entdeckt, indem er ihn mit seinem Phallus identifiziert.9 Im selben Atemzug sucht er Moral und Manschetten, worin sich die Verschränkung von stofflichem Kleidungsstück und immaterieller Leitvorstellung besonders augenfällig verdichtet und zugleich Erhabenes und Lächerliches ununterscheidbar werden.
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Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1993, S. 37. Vgl. auch Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Georg Simmel: Die Mode. In: Ders.: Philosophische Kultur. Über das Abeuteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Mit einem Nachw. v. Jürgen Habermas. Berlin 1983, S. 26–51. »Jetzt kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektationen und Akzidenzien, wo [ist mein Hemd,] meine Hose? – Halt, [pfui!] der freie Wille steht [davorn] ganz offen.« (P I, S. 99) Zu den hier impliziten Anspielungen auf die idealistische Philosophie und ihre Vorläufer (i. e. Descartes, Kant, Fichte), die intrikate Vermischung mit (eher materialistischen) spinozistischen Begriffen sowie literarische Intertexte vgl. die Kommentare P I, S. 621 sowie MBA 6, S. 445f.
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»Modern ist meine Weste, modern aber auch eine Anschauung, die ich hier oder da geäußert habe«,10 heißt es in einem 1837 publizierten Essay, in dem Karl Gutzkow, Büchners Freund und Mentor, Korrespondenzen zwischen ›der Mode und dem Modernen‹ erkundet. Der Mode und der Kleiderästhetik, die kaum von Philosophen, sondern von Modehändlerinnen in Paris ergründet worden seien,11 werden dort die Signaturen der Moderne abgelesen. Diese gebe sich zunächst »als Eklektik, von Allem Etwas«,12 verwerfe das Alte also nicht, sondern komme, wie eben die Mode, auf es zurück, indem sie es ummodele und z. B. ins Extrem treibe. Durch und durch modern ist es, Gutzkows Argumentation zufolge, Gewordensein und Wechsel anzuerkennen und das Kapital der Wahrheit, mit dem sich die Philosophen ehedem abgemüht hätten, auf sich beruhen zu lassen. Aus der genuin modernen Erfahrung, dass die Institutionen schwankend und hinfällig geworden seien und »sie keinen liebenden und schützenden Mantel [mehr] über unsre Blößen ausbreiten«,13 folge jedoch auch, dass die Menschen für sich selbst sorgen müssten, indem sie ihre Haltlosigkeit durch Raffinement und Geckerei kompensieren und so immerhin die Illusion objektiver Maßstäbe und Orientierungen erzeugten. »So wäre denn das Moderne recht eigentlich das Objective im schwebenden Moment«,14 folgert Gutzkow, womit er Positionen, wie sie sich später bei Baudelaire und bei Walter Benjamin finden, die sich ihrerseits mit dem Verhältnis von Mode und Moderne auseinandersetzen, vorwegnimmt. Wenn jedoch die Ideen der Schönheit oder der Freiheit mit der Mode an den Wechsel und damit auch an Absterben und Vergänglichkeit geknüpft sind, so impliziert dies eine fun––––––––– 10 Karl Gutzkow: Die Mode und das Moderne. In: Ders.: Säkularbilder. Teil 1 (= Gesammelte
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Werke, Bd. 9). Frankfurt a. M. 1846, S. 141–158. (Erstveröffentlichung unter dem Titel Das Moderne und dem Pseudonym E. L. Bulwer in: Die Zeitgenossen. Ihre Schicksale, ihre Tendenzen, ihre großen Charaktere. Bd. 1. Stuttgart 1837, S. 153–173). Ich zitiere nach Karl Gutzkow: Die Mode und das Moderne. In: Ders.: Säkularbilder. Anfänge und Ziele des Jahrhunderts (= Gesammelte Werke. 1. Serie, Bd. 8). Jena: o. J. [1875], S. 103–115, hier S. 104f. Zu Gutzkows Mode-Schrift vgl. auch Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln 2005, bes. S. 10–12. Gutzkow: Die Mode und das Moderne (s. Anm. 10), S. 104. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111.
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damentale Neubestimmung des Verhältnisses von abstraktem Ideal und konkreter Materialisierung oder Verkörperung. Letztere käme dann nicht mehr bloß als Medium zur Darstellung des Idealischen in Betracht, dessen Unangemessenheit in der Partikularität der stofflichen Dinge bzw. der Sterblichkeit und Hinfälligkeit der Körper begründet ist. Vielmehr ist dem Objektiven und Idealischen, dem kein Ort mehr jenseits seiner konkreten und wechselnden Materialisationen und Verkörperungen zukommt, das Moment des Absterbens und der Differenz nun selbst eingeschrieben.
2. Löchrige Hosen und die Bekleidung des inneren Menschen Die Szene, in der König Peter angekleidet wird, lässt sich vor diesem Hintergrund auf zweierlei Weise lesen: Zum einen gibt sie sicherlich den Repräsentanten einer überlebten Aristokratie der Lächerlichkeit preis, indem sie ihn auf seine Kreatürlichkeit verweist und seine Selbstkonstitution als Macht-Instanz als eine mit allerhand vestimentärem Aufwand betriebene Prozedur vorführt. Zum anderen aber werden die evozierten Leitideen der bürgerlichen Revolution, freier Wille, Moral und Substantialität, ihrerseits auf Kleiderstoffe, Mode und Inszenierung bezogen. Während also zum einen auf die ›nackte‹ Wahrheit hinter den Ritualen höfischer Prachtentfaltung und Herrschaftsdemonstration angespielt wird, entzieht der Text hier doch gleichzeitig dem Versuch, ausgehend von dieser Nacktheit objektive Kategorien wie eben Moral oder Freiheit zu begründen, den Boden. Denn die parodistische Szene lässt letztere gerade nicht als von Worten und äußeren Zeichen lediglich einzukleidende bzw. darzustellende erscheinen, sondern führt ihre philosophische Setzung wie politische Durchsetzung als an materielle Zeichen geknüpfte vor, die sich nicht als bloße Medien der Repräsentation zum Verschwinden bringen, sondern in ihrer schwer kontrollierbaren Dinglichkeit hervordrängen.15 Damit aber werden sowohl idealistische Positionen angegriffen, indem sie auf ihre leiblich-materielle Bedingtheiten bezogen blei––––––––– 15 Vgl. hierzu Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose.
In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 237–251; zu Büchner explizit auch Anke van Kempen: Rhetorik und Antirhetorik. In: Büchner-Handbuch, S. 288–293, hier S. 291 sowie Johannes F. Lehmann: Sexualität. In: Ebd., S. 231–236, hier S. 234.
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ben, wie auch materialistische Konzepte, die sinnliche Erfahrung bzw. die physische Natur des Menschen wie der Dinge als Voraussetzung jeder Geistestätigkeit oder politischer Handlungsfähigkeit betrachten.16 Nicht nur das Land, das Leonce und Valerio auf der Suche nach der idealschönen Frau durchqueren, ist »wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts« (P I, S. 112), wie Valerio bemerkt. Auch das individuelle Ich besteht nur aus Masken, die, wie Valerio vorführt, einmal abgenommen, sofort die nächste sichtbar werden lassen.17 Die von ihm artikulierte Angst, dass sich das Ich ganz in diesem Auseinanderschälen und -blättern erschöpfen könnte, ohne dass irgendwann eine Substanz bzw. Innerlichkeit zum Vorschein käme, bringt das Nichts, die Abwesenheit eines den Bekleidungen und Bezeichnungen vorausliegenden Seins mit ins Spiel. »Ich stülpe mich jeden Tag vier und zwanzigmal herum, wie einen Handschuh« (P I, S. 103), sagt auch Leonce von sich, womit er nicht nur das eigene Ich mit einem Stück Kleidung assoziiert, sondern auch die Leitdifferenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit unterläuft, die für die Konstitution bürgerlicher Werte gegenüber höfisch-luxuriöser Selbstdarstellung eine so große Rolle gespielt hatte. Dasselbe geschieht, wenn Valerio, die aufs Leibliche und Materielle orientierte Narrenfigur, ankündigt, »auch den inneren Menschen bekleiden und Rock und Hosen inwendig anziehen« zu wollen (P II, S. 112). Die Vorstellung einer Innerlichkeit, die durch angemessene Kleidung zum Ausdruck gebracht, durch unangemessene, allzu prunkvolle, auf ––––––––– 16 Zur Vermischung idealistischer und materialistischer Philosopheme bei Büchner vgl.
Koji Taniguchi: Zwischen Idee und Leib. Georg Büchners weltanschauliche Stellung in »Dantons Tod». In: GBJb 10 (2000–04), S. 83–102. Der vorliegende Beitrag kann an die von Taniguchi formulierten Einsichten anknüpfen, weist aber über sie hinaus, insofern er in Büchners »Auseinandersetzung mit den beiden einander entgegengesetzten Ideensystemen« (ebd., S. 83), die wechselseitig ihre jeweilige Legitimität und Geltung zu unterlaufen scheinen, nicht eine Inkonsequenz Büchners bzw. sein andauerndes Begehren nach Erlösung (vgl. ebd., S. 96f.) erkennt, sondern vielmehr eine spezifische Operation, welche die Performativität universalisierender Moral- und Tugendbegriffe in den Blick rückt. 17 Vgl. Danton’s Tod. Danton reagiert auf die Forderung der Gegenseite, man solle ihnen die Masken abreißen, mit dem Ausspruch: »Da werden die Gesichter mitgehen.« (P I, S. 30.)
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sich selbst verweisende, aber auch verhüllt werden könne, wird in solchen Sprachspielen ad absurdum geführt: Auch das Innere, Eigentliche ist Effekt einer zeichenhaften Konstruktion, bedarf und verdankt sich also der Be-Kleidung. Zugleich bringt das Lustspiel das Innere des Menschen mit körperlichen Bedürfnissen wie Essen und Trinken in Verbindung, womit einmal mehr das abstrakte Ideal der Empfindsamkeit mit der konkreten Leiblichkeit und Bedürftigkeit des Menschen verschaltet wird. Die ›Natur‹ als Leitbild aufklärerischer Diskurse erscheint damit als Konstruktion und Setzung, die nur bestimmte Realisierungen und Körperbilder zulässt.18 Diese sind weder in Bezug auf die Geschlechter noch in Bezug auf unterschiedliche soziale Stände bzw. Klassen neutral, was etwa deutlich wird, wenn das Tragen von Manschetten als Zeichen für »feines sittliches Gefühl« (P I, S. 126) in Anschlag gebracht bzw. die Tatsache, dass die Dame (hier: der Automaten-Doppelgänger Lenas) kein Wort für den Begriff Beinkleider habe, als Ausweis von deren Moralität beschrieben wird (vgl. ebd.).19 Indem Valerio als Stimme des Volkes in Leonce und Lena und Büchner in seinem gesamten Werk das Wort für Beinkleider, nämlich Hosen, geradezu penetrant immer wieder verwendet, wird die Grenze zwischen einer moralisch-schicklichen ›Natur‹, die ––––––––– 18 Zur gewaltsamen Konstruktion und ideologischen Verwendung des Naturbegriffs
vgl. auch den Kommentar Valerios zu den Vorzügen des Königseins: »Das ist eine lustige Sache. [...] man kann aus ordentlichen Menschen ordentliche Soldaten ausschneiden, so daß Alles ganz natürlich wird [...].« (P I, S. 107.) Zur Komplementarität von Naturbegriff und Modekonzept vgl. Heinz Schlaffer: Tragik und Komik der Mode. Ansichten der Kleidung im 19. Jahrhundert. In: Akzente 31.3 (1984), S. 277–287, hier S. 283: »Ohne den kritischen Begriff der Natur ist weder die theoretische noch die praktische Geschichte der Mode seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu denken.« Vgl. auch Gideon Stiening: Natur. In: Büchner-Handbuch (s. Anm. 15), S. 204–209. Stiening betont, dass vor allem in Danton’s Tod und im Woyzeck »›Natur‹ als beanspruchter oder kritisierter Legitimationsgrund menschlichen Handelns und als körperliches Fundament humaner Existenz eine konstitutive Rolle« spielt (S. 207). Allerdings »zeigen die unterschiedlichen Figuren, Konsequenzen und Kontexte des epikureischen Grundsatzes in Danton’s Tod eher dessen krasse Antinomien und mörderischen Folgen als die Gestaltung einer vom Autor bruchlos geteilten Position« (S. 208). 19 Charakteristisch ist auch, dass Leonce das ideale Frauenzimmer als »unendlich schön und unendlich geistlos« (P I, S. 112) beschreibt, während Lena sich als »hilflose Quelle [empfindet], die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß« (P I, S. 109).
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man sich durchaus leisten können muss, und der durch diese normative Setzung ausgegrenzten Aspekte und Erscheinungsweisen menschlicher ›Natur‹ immer wieder als solche in den Blick gerückt. – Dieselbe Diskrepanz bringt ja auch Woyzeck zur Sprache, wenn er auf die Kritik des Hauptmanns, er habe keine Tugend, entgegnet: »Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise, und könnt vornehm reden ich wollt schon tugendhaft sein.« (P I, S. 156.)20 – Mit der Rede von den Hosen wird zudem regelmäßig Sexualität und Obszönität ins Spiel gebracht, womit gleichfalls das Bild von der ›Natur‹ als einer reinen, geschlossenen Größe erschüttert wird. Groteske Bilder des Leibes, welche die Ganzheit und Geschlossenheit des ›natürlichen Körpers‹ durchkreuzen und damit auch die politisch folgenreiche Analogiebildung zwischen menschlichem Naturkörper und Staatskörper angreifen, werden bei Büchner häufig durch die Thematisierung unzureichender oder unpassender Kleider hervorgerufen. Prominentes Beispiel hierfür sind die löchrigen Hosen, die in verschiedenen Texten wiederholt auftauchen. Bei Valerio treten die Hosen – nach bekanntem Muster – an die Stelle der Vernunft, hier mit dem Argument, dass sie den Prozess der Reife befördern, allerdings nur auf einem Kirschbaum, indem sie die Kirschen durch ihre Löcher schamrot machen (vgl. P I, S. 98). Vernunft und Sonne als Topoi natürlicher Erkenntnis- und Entwicklungsfähigkeit werden in diesem Bild gleichermaßen aufgerufen und auf die Kleidung als Zeichen sozialer Verortung des Menschen wie auf kulturelle Verknüpfungen von Kleiderordnung und Moralvorstellung bezogen.21 In der Szene, in der das einfache Volk auf ––––––––– 20 Bei einer anglaise handelt es sich um einen Festtagsrock für Männer nach englischem
Zuschnitt. Vgl. die Erläuterungen P I, S. 760 und MBA 7.2, S. 506.
21 Als Valerio ein weiteres Mal mit der Sonne in Verbindung gebracht wird, erscheint er
gar als jemand, der sich in ihr vollkommen verflüchtige. Stattdessen identifiziert ihn Leonce teilweise mit der Wolke am Himmel, die sich als gleichsam elementares Hindernis Transparenz und Transzendenz entgegenstellt und die als solche die Materialität des menschlichen Seins hervorkehre: »Sie sieht ganz wohlbehaglich auf deine gröberen materiellen Stoffe herab.« (P I, S. 111.) Ein ähnliche Verschränkung von kosmischen Dimensionen und Effekten einerseits, der Funktion von Kleidern andererseits findet sich in III/2, wo der Schulmeister befiehlt, dass die »hirschledernen Hosen« der paradierenden Leute »der Mondschein« der künstlichen Szenerie zu sein hätten (P I, S. 121).
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dem Schlossplatz vom Schulmeister abgerichtet wird, als Staffage für die bevorstehende königliche Hochzeit zu dienen, wird für den Abend ein ›transparenter Ball‹ »mittelst der Löcher in unseren Jacken und Hosen« (P I, S. 122) angekündigt. Damit wird das Leitbild eines auf das Innere hin transparenten Gewandes, das jeden überflüssigen Luxus vermeidet, um das Eigentliche und Innere zum Vorschein zu bringen,22 einmal mehr ad absurdum geführt. Indem zusätzlich die Information gegeben wird, dass sich die Leute auf dem Ball »mit [...] Fäusten Kokarden an die Köpfe« (P I, S. 122) schlagen werden, wird deutlich markiert, dass es sich um einen nach-revolutionären Kontext handelt, also mehr auf dem Spiel steht als ein anachronistisches Fürstentum. Auch in Danton’s Tod werden die löchrigen Hosen bereits als Marker materieller Not des einfachen Volkes in Szene gesetzt: »[I]hr habt Löcher in den Jacken und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen in den Fäusten und sie haben Samthände« (P I, S. 18), gibt dort ein ›Bürger‹ zu bedenken, womit ihm eine aus dem Hessischen Landboten vertraute Rhetorik in den Mund gelegt wird.23 Insofern die löchrigen Jacken auf körperliche Arbeit wie darauf verweisen, dass diese Arbeit offenbar nicht den versprochenen Wohlstand eingebracht hat, bleiben sie völlig auf die Logik der Revolutions- und Emanzipationsforderungen bezogen. Dabei macht die Passage ganz deutlich, dass es hier nicht mehr um den Kampf gegen den Luxus der Aristokratie und die von ihr zu verantwortende Ausplünderung des Volkes geht – die Aristokraten hängen längst an den Laternen (P I, S. 19). Es sind die Revolutionäre selbst, gegen die sich die revolutionäre Rhetorik, die sie selbst im Munde geführt haben, nun wendet. Hier geht es offensichtlich darum zu verhindern, dass die Revolution ––––––––– 22 Zum Transparenzideal klassizistischer Kleiderrhetorik, die – analog zur vorherr-
schenden Rhetorikkritik der Epoche – ihre eigene Rhetorizität verleugnet, vgl. Heiner Weidmann: Rhetorik der Kleidung um 1800. In: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Johannes Anderegg zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Andreas Härter, Edith Anna Kurz u. Heiner Weidmann, Göttingen 2003, S. 215–234. 23 Dort heißt es etwa: »Dafür sitzen die Herren in Fräcken beisammen und das Volk steht nackt und gebückt vor ihnen« (P II, S. 56) oder: »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern [...] von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind« (P II, S. 59).
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auf halben Wege stecken bleibt und dass ihre Nutznießer es sich am Ort der ehemals Reichen und Mächtigen bequem machen, während die große Masse des arbeitenden Volkes nach wie vor darbt und mit schönen Versprechungen und idealen Visionen vertröstet wird. So wie Valerio, der seinen »Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand« schleppt, weil er »Abends ein reines Hemd anziehen will«, ahnt dieses Volk oder ahnen zumindest einige zudem, dass sich das Versprechen moralischer Tadellosigkeit erst im Tod einlösen wird. In den Worten Valerios: »[W]enn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirne gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel und ich habe grade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen als Totenhemd.« (P I, S. 112.)
3. Die Kleider-Rhetorik der Revolution und die Lumpen Nicht zuletzt die fortgesetzten Spaltungen auf der Seite des Volks bzw. der Volksvertreter, die sich immer wieder in Kleidermetaphern artikulieren, markieren ein grundsätzliches Dilemma, das die Grenzziehung zwischen einem angemessenen, den menschlichen Bedürfnissen entsprechenden Kleid und einem unangemessenen, falschen Kleid betrifft. Während Danton und seinen Parteigängern vorgeworfen wird, »der toten Aristokratie die Kleider ausgezogen« (P I, S. 34) zu haben, um selbst »mit allem Luxus der ehemaligen Höflinge Parade [zu] machen« und »kostbare Kleider [zu] tragen« (P I, S. 24),24 lautet umgekehrt der Vorwurf gegenüber Robespierre, er verleugne den theatralen Charakter seiner antikisierenden Posen, die weniger ein objektives Ideal als vielmehr das »behagliche[] Selbstgefühl« seines Fürsprechers beförderten: »Es ist nicht so übel seine Toga zu drapieren und sich umzusehen ob man einen langen Schatten wirft.« (P I, S. 85.) Mit seiner Rede gegen Robespierre will Danton, nach eigenem Bekunden, dem Gegenspieler »die Absätze [...] von den Schuhen [...] treten« (P I, S. 33), womit er einerseits auf dessen quasi-aristokratische Erscheinung anspielt – tatsächlich ging Robespierre ––––––––– 24 In Robespierres Augen ist der »gefährlichste Bürger« zudem derjenige, »welcher
leichter ein Dutzend rote Mützen verbraucht, als eine gute Handlung vollbringt« (P I, S. 24). Der implizite Vorwurf gegenüber Danton lautet also, dass dieser sich mit den stofflichen Accessoires der Revolution, deren Bedeutungsfunktion durch ihre Serialität und Ersetzbarkeit unterlaufen wird, lediglich schmücke, ohne dass diese auf eine entsprechende innere Einstellung verwiesen.
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bis zuletzt nie ohne die als Symbol höfischer Künstlichkeit verschrieene gepuderte Perücke aus dem Hause.25 Andererseits lässt Dantons Rede die von Robespierre zur Schau gestellte Tugend, die dieser zum Gradmesser der Revolution erklärt, als Absatz seiner Schuhe erscheinen, wie Robespierre ebenso hellsichtig wie empört bemerkt: »Die Tugend ein Absatz meiner Schuhe! Bei meinen Begriffen!« (P I, S. 35.) Damit wird das abstrakte moralische Ideal wiederum als materielles Accessoire, als Teil der Kleidung, figuriert, das zudem in besonderem Maße darauf zielt, den Bekleideten herauszustellen und über andere zu erheben. Hier wird der von den Revolutionären im Allgemeinen verabscheute Absatzschuh zum Zeichen für eine uneingestandene Kontinuität, die darin besteht, dass die propagierten Ideale nicht, wie behauptet wird, als Universalien der Zeichengebung vorausgehen, sondern sie vielmehr an Verkörperungen und Inszenierungen geknüpft sind, die immer partikular und situativ bleiben. Indem sie dies leugnen und das Partikulare absolut setzen, produzieren sie Abspaltungen und Mortifikationen, was in Danton’s Tod vor allem Dantons Rede gegen Robespierre drastisch ins Bild setzt: »Hast du das Recht aus der Guillotine einen Waschzuber für die unreine Wäsche anderer Leute und aus ihren abgeschlagn Köpfen Fleckkugeln für ihre schmutzigen Kleider zu machen, weil du immer einen sauber gebürsteten Rock trägst?« (P I, S. 33.)
Die Tötungsapparatur als Kleiderwaschmaschine: Hier wird die Verschaltung von Körpern und Kleidern offenkundig, indem das ›reine Kleid‹ eben nicht einen ihm zugrundeliegenden reinen Körper repräsentiert, sondern es die Idee von Reinheit erst in einer Materialisierung setzt, die an eine Zerteilung und Tötung der Körper geknüpft ist. Diese Verschuldung, die nicht Gegensatz der Tugend, sondern Effekt der Versuche ihrer Durchsetzung ist, wird in Danton’s Tod einmal mehr durch Bilder von Stofflichkeit und Kleidung figuriert – man denke etwa an Robespierres Monolog, in dem das Trauma der Schuld ihn immer wieder einholt: »Wie das immer wieder kommt. Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag so viel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer durch.« (P I, S. 35.) ––––––––– 25 Vgl. Wiebke Koch-Mertens: Der Mensch und seine Kleider. Teil 1: Die Kulturgeschichte der
Mode bis 1900. St. Gallen 2003, S. 351.
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Dass die Wertsetzungen der Revolution ein beachtliches Maß an rhetorischem und inszenatorischem Aufwand erfordern, lässt sich natürlich an der großen Bedeutung von Rede und Rhetorik während der Revolution erkennen, die Büchners Drama ja auch in besonderer Weise hervorhebt. Als Indiz kann aber auch etwa der Umstand gelten, dass die historischen Revolutionäre nicht nur eine ideale Kleidung der Revolution entwarfen, die sich an der Kleidung des arbeitenden Volkes orientierte,26 sondern dass dieses normative Gewand auch von Schauspielern öffentlich vorgeführt wurde. Berühmt ist etwa ein Bild des Malers Louis Léopold Boilly von 1792, auf dem der Schauspieler Chenard mit der Trikolore posiert.27 Der wichtigste Modeschöpfer der Zeit war ein klassischer Maler – Jacques Louis David löste mit seinen Bildern ›Der Schwur der Horatier‹ (1784) und ›Brutus‹ (1789) jene Begeisterung für antike Vorbilder insbesondere auch im Bezug auf Kleidung aus, die ja in Danton’s Tod immer wieder vorgeführt und ironisiert wird. Auch hierin dokumentiert sich eine Annäherung und Vermischung von Kunst und Mode, Ästhetik und materieller bzw. populärer Kultur, die den Anspruch ersterer, abstrakte und universelle Werte zur Darstellung zu bringen, unterläuft. Bezeichnenderweise wurde David 1793 ausdrücklich vom Konvent beauftragt, eine revolutionäre Nationaltracht zu entwerfen. Die Bezugnahme auf die Vorstellung eines Naturkörpers zur Rechtfertigung der eigenen Position als Repräsentant der Revolution wird in Danton’s Tod offensichtlich sowohl im Hinblick auf Danton wie auch – besonders drastisch – im Hinblick auf Robespierre als problematische zur Schau gestellt. Bei Danton erscheint der Körper vor allem im Zusammenhang mit Sinnlichkeit und Erotik – ein freier Umgang mit diesen als den natürlichen Bedürfnissen des Menschen verbindet sich mit dem politischen Entwurf einer Staatsform, die sich wie »ein durchsichtiges Gewand [...] dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken« (P I, S. 15).28 Und in der Fortsetzung dieser be––––––––– 26 Vgl. ebd., S. 350. 27 Vgl. ebd., S. 349, 351. 28 Zu den kontroversen Diskussionen dieser Passage in der Forschung vgl. Herbert
Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von »Danton’s Tod«, Frankfurt a. M. 1988, S. 239–252. Vgl. hierzu auch die ähnlich lautende Formulierung im Kunstgespräch des Lenz (vgl. P I, S. 234f.); Ähnlichkeiten zu Formulierungen
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rühmten Passage, die Dantons Weggefährten Camille in den Mund gelegt ist, heißt es: »Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden. Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen.« (P I, S. 15.)
Die in der Zeit der Revolution wie der Nationalstaaten allgemein gängige Allegorisierung Frankreichs als Frau, die es gilt, angemessen mit einer Staatsform zu bekleiden, wird hier ausdrücklich mit Sündhaftigkeit konnotiert, womit eine Verbindung zu denjenigen weiblichen Figuren des Stücks hergestellt wird, die wie Marion Prostituierte oder ›Grisetten‹ sind und die damit den Vorstellungen bürgerlicher Wohlanständigkeit und Vorbildlichkeit gerade nicht entsprechen. Bemerkenswert ist, dass sie auch nicht ohne Weiteres der Kategorie des arbeitenden Volkes zugerechnet werden können, die etwa in der politischen Ökonomie bei Marx den Ausgangspunkt von Herrschafts- und Kapitalismuskritik bildet. Während dort – bei Marx und Engels – das sogenannte Lumpenproletariat als amorphe Gruppe derjenigen angesprochen wird, die nicht als Subjekte und Träger der Revolution in Betracht kommen,29 bevölkern Lumpen – und zwar in der doppelten Bedeutung von ›zerfetzten, armseligen Kleidern‹ wie auch in Bezug auf jene Menschen am Rande der Gesellschaft von Produzenten – die Büchner’schen Texte.30 Mit ihnen aber ist das Problem, wo genau der Körper des Volkes, dem das Gewand angepasst (und abgeschaut) werden soll – man denke an die Nationaltracht, welche an der Kleidung der Arbeiter orientiert wurde –, anzutreffen sei, ––––––––– Winckelmanns sind an diesen Stellen unverkennbar. Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hrsg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1995, S. 19: »Die griechische Draperie ist mehrenteils nach dünnen und nassen Gewändern gearbeitet, die sich folglich, wie Künstler wissen, dicht an die Haut und an den Körper schließen, und das Nackende desselben sehen lassen.« Vgl. hierzu auch MBA 3.4, S. 43f. 29 Vgl. etwa MEW 23, S. 673; MEW 6, S. 160f.; MEW 7, S. 536; MEW 40, S. 523f. 30 In Danton’s Tod etwa finden einmal »die Fischweiber und die Lumpensammler« (P I, S. 67) als Vertreter des Volkes Erwähnung, welches die Vertreter der Revolution hinter sich bringen müssen. An Gutzkow schreibt Büchner zudem einmal: »[...] bedenken Sie, daß es mir leichter fällt, in Lumpen zu betteln, als im Frack eine Supplik zu überreichen« (P II, S. 393).
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wo er sein Modell, aber auch seine Grenze finde, in aller Schärfe angesprochen. Jene Szene etwa, in der ein Bettler einem anonymen Herrn vorwirft, für Genuss gearbeitet zu haben, nämlich um einen Rock kaufen und besitzen zu können, der aber gar nicht unbedingt nötig sei – »ein Lumpen tut’s auch« (P I, S. 42) –, lässt mit der Frage, was als natürlich menschliches Bedürfnis gelten kann, auch diejenige nach dem dann angemessenen Kleid in der Schwebe. In jedem Fall ist ja das Kleid des Bettlers keine in sich geschlossene, auf den zugrunde liegenden Körper hin durchsichtige Oberfläche, sondern eine zerrissene, die damit auch auf die Brüche und Risse in der Gesellschaft hindeutet, welche sich nicht ohne weiteres mit Bezug auf eine natürliche Leib-Vorstellung neu konstituieren kann. Ganz ähnlich artikuliert sich das Problem in jenem Ausruf eines Bürgers, der dazu auffordert, alle jene totzuschlagen, die »kein Loch im Rock« hätten (P I, S. 19). Auch hier wird die Kleidmetaphorik, die einen natürlichen Körper voraussetzt, ad absurdum geführt: Bezugspunkt der Argumentation ist nicht der heile, den politischen Verhandlungen und Differenzierungen vorgängige Körper, sondern das löchrige, zerfetzte Kleid, der Lumpen, der gleichsam als verleugnete Kehrseite der Natürlichkeits- und Ganzheitsrhetorik der Revolution ins Bild gesetzt wird. Mit den Prostituierten, die ja durchaus nicht nur als abgegrenzte Gruppe in den Blick kommen, sondern die hier, wie das Beispiel von der Tochter Simons zeigt, aus der Bevölkerung hervorgehen, die gleichzeitig die Ideale des aufklärerischen Tugenddiskurses propagiert, tritt zugleich eine weitere Komplikation des Ideals vom natürlich-sinnlichen Körper zutage. Nachdem Simon der sittenlosen Tochter nach antikem Vorbild den Tod geben will, gibt seine Frau zu bedenken: »[S]ie ist ein braves Mädchen und ernährt ihre Eltern. [...] hättest du nur ein Paar Hosen hinaufzuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bei ihr herunterließen?« (P I, S. 18.) Das Kleid des vermeintlich anständigen Bürgers verdeckt und verleugnet also die Tatsache, dass der Leib des Volkes kein naturgemäß ganzer, genießender ist, sondern einer, der im Kontext einer allumfassenden Logik des Tauschs und der Ausbeutung in seine Teile zerstückt ist. So argumentiert Simons Weib: »Wir arbeiten mit allen Gliedern warum denn nicht auch damit; ihre Mutter hat damit geschafft wie sie zur Welt kam und es hat ihr weh getan, kann sie für ihre Mutter nicht auch damit schaffen, he? und tut’s ihr auch weh dabei, he?« (Ebd.) 193
Indem die Mutter hier als arbeitende Erwähnung findet, die keinen natürlichen Ort jenseits der ökonomischen und sozialen Verstrickung und Funktionalisierung verkörpert, wird ein weiteres Merkmal idealistischer Rhetorik herausgestellt und problematisiert: Anstatt dass die natürlich geborenen Körper als Modell einer ihnen angepassten Staatssymbolik gelten, wird hier ihre – schmerzhafte – Geburt als Paradigma der Hervorbringung auch symbolischer Körper benannt: Schmerz und Abtrennung bestimmen den Ursprung von Körpern – ob sie nun aus Fleisch und Blut sind oder das politische Imaginäre betreffen. Auch Dantons Suche nach leiblichem Genuss ist ja offenbar dem Prinzip der Stückelung unterworfen, wenn es über ihn heißt, »er mach[e] Mosaik«, indem er mit seinen zahlreichen Besuchen bei Prostituierten »die mediceische Venus stückweise« zusammensuche (P I, S. 26). Hier wird zum einen die Konstruktion des Körper- (und Weiblichkeits-) Ideals aus einzelnen Stücken akzentuiert, wobei ein berühmter Prätext aus der Geschichte der Rhetorik zitiert wird, nämlich Ciceros De inventione, wo die Geschichte vom Maler Zeuxis erzählt wird, der die schöne Helena als Verkörperung der Schönheit malt, indem er von den schönsten lebenden Jungfrauen in der Stadt Kroton jeweils die schönsten Körper-Teile abkopiert und zusammenfügt. (Cicero dient diese Geschichte zur Beschreibung des eigenen Vorgehens bei der Komposition seiner umfassenden Darstellung der Rhetorik.)31 Die in diesem Bild durchaus inhärente Gewalt gegenüber den Frauen, die als bloße Materialstücke einer männlich geprägten Kunst bzw. Rhetorik fungieren, wird in Büchners Drama zudem ausdrücklich thematisiert, wenn im Volk der Vorwurf gegenüber Danton laut wird, er kaufe das Fleisch der Frauen des Volkes und lasse es sich auf deren Kosten wohlsein (P I, S. 18).32 Sein Bemühen, dem natürlichen Körper und seinen Bedürfnissen zu ihrem Recht zu verhelfen, erscheint damit als problematisches, insofern es immer an Operationen der Zerteilung geknüpft ist, ›der ideale Körper‹ mithin – wie bei Cicero – Konstruktion und nicht vorsymbolische Bezugsgröße ist. ––––––––– 31 Marcus Tullius Cicero: De inventione = Über die Auffindung des Stoffes. Ins Deutsche
übers. und hrsg. v. Theodor Nüßlein. Darmstadt 1998, S. 167. Vgl. MBA 3.4, S. 76
32 Vgl. auch den Vorwurf eines ›Bürgers‹: »Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein
schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau, er badet sich in Burgunder, ißt das Wildpret von silbernen Tellern und schläft bei euren Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist.« (P I, S. 76.)
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4. »Sie haben die Häute der Bauern an«: Kleid und Körper Im Hessischen Landboten sind es vor allem die Bilder vom aufgezehrten, zerteilten und instrumentalisierten Körper des Volkes, welchen der Text seine Wirkmacht im Hinblick auf die Ansprache und Mobilisierung des einfachen Volkes verdankt. Kleidermetaphern spielen dabei eine zentrale Rolle, insofern es immer wieder heißt, dass die Herrschenden ihre schönen Kleider mit den zierlichen Bändern, ihre Prachtgewänder und Fürstenmäntel aus den Körpern der einfachen Leute herstellen. Bereits die erpressten Abgaben erscheinen als »der Blutzehnte, der von dem Leib des Volkes genommen« (P II, S. 54) ist, was in der Formulierung, die Herrschenden hätten »die Häute der Bauern an« (P II, S. 55), zugespitzt wird: Ihr Herrschaftskleid, das Bedeutung und Macht von Gottes Gnaden oder mindestens von Geburt und damit eine natürliche Ordnung der Dinge zu repräsentieren vorgibt, erscheint als Zeichen der Ausplünderung und Kannibalisierung des Volkskörpers.33 Konnte Büchner dieses drastische Bild bereits bei Jean Paul vorgeprägt finden,34 so deutet es zugleich voraus auf die Marx’sche Analyse kapitalistischer Ausbeutungsund Entfremdungsverhältnisse. Der Warentausch, so heißt es nämlich im Kapital, lässt Menschen wie Dinge nur mehr unter dem Gesichtspunkt der Tauschbarkeit zueinander in Beziehung treten, der Gebrauchswert einer Sache, z. B. eines Rocks (Marx’ Lieblingsbeispiel) hat in dieser Logik keinen Platz mehr, wie auch Menschen, z. B. Schneider oder Weber, nicht in Bezug auf die unterschiedliche gestaltende Arbeit, durch die sie stoffliche Dinge in nützliche Dinge verwandeln, in Betracht kommen, sondern nur noch in Bezug auf die abstrakte Verausgabung menschlicher Arbeit. Dass der Arbeitende zerlegt wird in »Hirn, Muskel, Nerv, Hand«,35 korrespondiert der Trennung zwischen natürlich-stofflichem nützlichem Ding und Warending, in das, wie Marx immer wieder betont, »kein Atom Naturstoff«36 eingegangen ist. In der Produktion des Rockes ––––––––– 33 Vgl. hierzu den instruktiven Aufsatz von Daniel Müller Nielaba: Das Loch im Fürsten-
mantel. Überlegungen zu einer Rhetorik des Bildbruchs im »Hessischen Landboten«. In: Colloquia Germanica 27 (1994), S. 123–140, bes. S. 128f., 134. 34 Vgl. Jean Paul: Hesperus. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. 1, 1. Bd. München, 5. korr. Aufl. 1989, S. 471–1236, hier S. 1166 (40. Hundposttag): »[...] die Herren vom Hofe haben eure Häute an.« 35 MEW 23, S. 58. 36 Ebd., S. 62.
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ist also »menschliche Arbeit [...] aufgehäuft«,37 in der Produktion des wertvollen Rocks sogar besonders viel menschliche Arbeit, wobei der Körper oder die stoffliche Materialität des Rockes eine scheinhafte, eine Materialität zweiten Grades sozusagen ist, welche die gewaltsame Zerteilung und Aufzehrung des natürlichen Körpers voraussetzt und verleugnet, indem sie sich selbst als erste Natur setzt. Interessant, da analog zu Büchners Bildlichkeit, ist, dass Körper und Kleid letztlich ununterscheidbar werden: Wie im Hessischen Landboten die Fürsten die Häute der Bauern als Kleider tragen, erscheint bei Marx der Rock als »Körper der Ware Rock«,38 mithin als ein bedeutsamer Körper, der aber mit dem natürlichen Körper, dessen Verausgabung er voraussetzt, nichts mehr zu tun hat. Seine eigentümliche Stofflichkeit beschreibt Marx immer wieder als ›Gallerte‹:39 bloße Materialität, die jede spezifische oder individuelle Form eingebüßt hat, damit aber gleichsam bereit ist, jeder beliebigen Imagination eine Form zu geben bzw. jede Idee zu materialisieren. Wenn für die politische Flugschrift des Hessischen Landboten diese Parallelen zur Marx’schen Warenanalyse evident sind, so trifft dies auch auf Danton’s Tod zu, allerdings erscheint die Problematik hier sogar gegenüber Marx noch zugespitzt. Meine These ist, dass der Vorstellung von einer Verkörperung einer abstrakten Größe wie Herrschaft, Staat, ›Volk‹ oder Natur, die bereits im Hessischen Landboten mit radikalen Bildern (bzw. Katachresen40) problematisiert wird, in dem später entstandenen und weniger auf die Aktivierung einer konkreten politischen Handlungsfähigkeit abzielenden Drama radikal der Boden entzogen wird. Gerade weil einige Passagen in Danton’s Tod ganz analog konstruiert sind zu den Bildern der Ausbeutung im Hessischen Landboten, tritt die Verschiebung umso deutlicher hervor: Nun ist es Danton, sind es Wortführer und Repräsentanten der Revolution, die mit derselben Rhetorik wie zuvor die Aristokraten angeklagt werden, seidene Kleider zu tragen, die Toten abgenommen wurden. Allerdings spricht nun das Volk selbst und in seiner Rede verbindet sich die Entlarvungsgeste mit einer konkreten Aufforderung zum Handeln: ––––––––– 37 38 39 40
Ebd., S. 66. Ebd. Z. B. ebd., S. 59, 65, 72, 77. Vgl. Müller Nielaba: Das Loch im Fürstenmantel (s. Anm. 33), S. 126, 129, 132f.
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»Sie haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesaugt haben. [...] sie haben die Toten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen [...].« (P I, S. 18f.)41
An anderer Stelle heißt es, das Volk laufe »barfuß in den Gassen« und wolle »sich aus Aristokratenleder Schuhe machen« (P I, S. 26). Mit anderen Worten: Der Mangel an Kleidung soll durch dasselbe Verfahren kompensiert werden, durch das er überhaupt erst hervorgerufen wurde. Die Löcher in den Hosen sollen durch Tötungsdelikte gestopft werden, die denen gleichen, durch die sie entstanden sind.42 Kleider und Körper werden hier wiederum angenähert, werden in einer Weise ununterscheidbar, die jede Vision eines den Bekleidungen vorausliegenden (natürlichen) Körpers zunichte macht.43 Radikal ist der Entzug jeder natürlichen Bezugsgröße außerdem auch hier durch einen Bezug auf das weibliche Geschlecht figuriert: Als der schöne Hérault-Séchelles zum Schafott geführt wird, ruft eine Frau aus dem Volk (auch Kinder sind zugegen): »Hérault, aus deinen hübschen Haaren laß’ ich mir eine Perücke machen.« (P I, S. 87.)44 Es ist nicht nur die Tatsache, dass Frauen, ––––––––– 41 Zu den intertextuellen Bezügen zu Bildern in der Bibel und bei Shakespeare vgl.
MBA 3.4, S. 58.
42 Die Absurdität dieses Bemühens wird zwar gelegentlich formuliert – »[...] über all den
Löchern, die wir in andrer Leute Kör
er machen, ist noch kein einziges in unsern Hosen zugegangen« (P I, S. 50) –, ohne dass jedoch daraus alternative politische Entwürfe oder Handlungskonzepte generiert würden. 43 Dies wird auch bereits in der Marion-Szene deutlich, in der diese, die sich selbst immer wieder auf ihre »Natur« beruft, berichtet, wie der ehemalige Liebhaber sie einmal beinahe habe töten wollen, dann aber von ihr abgelassen habe mit den Worten: »er hätte fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen [...], es wäre doch das Einzige, was ich hätte« (P I, S. 27). 44 Eine Entsprechung hat dieses Motiv in Kleists Hermannsschlacht, wo Hermann Thusnelda die Brutalität der Römer damit beschreibt, dass diese den Germanen das goldene Haar abschnitten, um sich selbst Perücken daraus zu machen. Gleichfalls würden die Zähne (»Die elfenbeinernen«) den Feinden aus dem Mund gebrochen, um die eigenen Zahnlücken zu füllen (Vs. 1027–29). Das Bild wird auch hier ausdrücklich an die Gleichsetzung von (barbarischen) Menschen und Tieren durch die herrschende Macht geknüpft: »Für wen erschaffen ward die Welt, als Rom? / Nimmt August nicht dem Elefanten / Das Elfenbein, das Öl der Bisamkatze, / Dem Panthertier das Fell, dem Wurm die Seide? Was soll der Deutsche hier zum voraus haben?« [...] »Was ist der Deutsche in der Römer Augen? [...] – Eine Bestie, / Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft! / Ein Tier, das, wo der Jäger es erschaut, / Just einen
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auch Mütter, keine Ausnahme von der Regel bilden, dass »heut zu Tag Alles in Menschenfleisch« gearbeitet wird (P I, S. 62), sondern darüber hinaus auch die implizite Tatsache, dass isolierte und abgetrennte Körperteile unabhängig vom Geschlecht des Menschen, dem sie ursprünglich angehörten, tauschbar geworden sind. Die radikale Verausgabung, der ›Verbrauch‹ der Leiber, wie Danton es nennt – »[m]ein Leib wird jetzt auch verbraucht« (ebd.) –, kennt kein natürliches Geschlecht, wie sie generell keinen Körper jenseits der Kleider kennt, die immer schon die Signatur ihres Gemachtseins wie ihrer Fragmentarität tragen. Dass das Subjekt der Revolution jede Souveränität eingebüßt hat, macht nicht nur der berühmte Satz: »Wir haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat uns gemacht« (P I, S. 39) deutlich, besonders eindrücklich wird dies auch darin, dass Danton den eigenen Leib zuletzt als »durchgerutschte Hose« anspricht, die »in die Garderobe geworfen« wird, wo die Motten sie fressen (P I, S. 79). »Ja Camille, morgen sind wir durchgelaufne Schuhe, die man der Bettlerin Erde in den Schoß wirft.« (P I, S. 78.) Und Camille ergänzt: »Das Rindsleder, woraus nach Platon die Engel sich Pantoffeln geschnitten und damit auf der Erde herumtappen.«45 Auch die Engel bilden keine Ausnahme, wenn es darum geht, dass jeder Auftritt, jedes In-Erscheinung-Treten auf der Erde an bestimmte stoffliche Materialisierungen, an Kleider mithin, geknüpft ist, die immer zugleich auf den Tod des lebendigen Körpers und damit auf eine unhintergehbare Abtrennung vom Natürlichen oder Vorsymbolischen verweisen. »Wir sind Alle lebendig begraben und wie Könige in drei oder vierfachen Särgen beigesetzt, unter dem Himmel, in unseren Häusern, in unsern Röcken und Hemden«, formuliert Danton in diesem Sinne. (P I, S. 72f.) Danton’s Tod und wohl Büchners Texte allgemein nähern Körper und Kleid konsequent einander an, wodurch die Vorstellung der Verkörperung im Sinne einer Repräsentation eines andernorts Präsenten zurück––––––––– Pfeilschuß wert, mehr nicht, / Und ausgeweidet und gepelzt dann wird!« (Vs. 1061– 1075) Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. Bd. 1. München, 2. Aufl. 1994, S. 533–628, hier S. 569f. 45 Die im Motiv der abgezogenen Häute präsente Engführung von Mensch und Tier, die nicht nur für die Kleiderthematik bei Büchner aufschlussreich ist, sondern einen neuen komplexen Kontext eröffnet, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.
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gewiesen wird.46 Stattdessen erscheint diese als performative Setzung, die immer zugleich Ausschließungen und Abtrennungen produziert. Damit ist Büchner in mancher Hinsicht radikaler als Marx, bei dem die Vorstellung des Gebrauchswerts und der den Dingen anhaftenden Stofflichkeit immer noch als Folie und Korrektur aufgerufen wird. In seiner Analyse der Terreur weist Büchner bereits voraus auf das 20. Jahrhundert, in dem der verdinglichende Verbrauch menschlicher Körper in den KZs ihren vorläufigen Extrempunkt fand. (Man denke an die Verarbeitung von Menschen zu Lampenschirmen und Seife,47 die in gewisser Weise im Hessischen Landboten, wo neben den Häuten auch Lampen Erwähnung finden, »aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert« [P II, S. 59], präfiguriert wird.) Als Signatur der Moderne wird wie in Danton’s Tod das Phantasma einer herrschenden Macht vorgeführt, die glaubt, Reinheit und die totale Geltung des Eigenen Realität werden lassen und auf Dauer stellen zu können.
5. Textile Texturen und Schneiderkunst Gegen solche Phantasmen präsentiert das Büchner’sche Drama Geschichte als einen Text, der aus unterschiedlichen Fäden und Stoffen ––––––––– 46 Vgl. Weidmann: Rhetorik der Kleidung um 1800 (s. Anm. 22), S. 221: »Um 1800 wird das
vielfach variierte Modell des Stils als Kleid des Gedankens abgelöst: Nicht Bekleidung (des Körpers), sondern Verkörperung (der Seele), nicht exornatio, sondern incarnatio ist das neue Konzept.« Die Aporien dieses Konzepts führen die Büchner’schen Texten in aller Radikalität vor. 47 Die entmenschlichende Verbrauch der Körper der Anderen im Holocaust wird in der Filmsatire Das Leben ist schön (La vita è bella) von Roberto Benigni (1997) in einer eindrücklichen Szene vorgeführt, die in manchem an Büchner’sche Bilder erinnert und deshalb hier genannt werden soll. Der Vater, der seinem kleinen Sohn, der mit ihm zusammen in ein KZ deportiert worden ist, das Geschehen zu ›erklären‹ versucht, ist notwendig gezwungen, dem unerklärbar Monströsen einen – es verstellenden – Sinn zu geben, gerade darin allerdings offenbart sich der Zivilisationsbruch. Während seiner Abwesenheit hat der Junge von Mithäftlingen trotzdem etwas anderes über die Lager erfahren. Ängstlich konfrontiert er den Vater mit dem Gehörten: »Sie machen Knöpfe und Seife aus uns!« Ohne groß zu überlegen, lacht dieser (in Angstschweiß gebadet, fast hysterisch) los: »Knöpfe aus Menschen? Das wär’ ja die Höhe! Und das hast du geglaubt? ... Knöpfe und Seife! ... Stell dir vor, morgen früh wasch’ ich mir mit Bartolomeo [ein Mithäftling] die Hände, mit Francesco knöpf’ ich mir die Jacke zu, und mit Claudio kämm’ ich mich ... (lacht, reißt sich einen Jackenknopf ab und läßt ihn fallen) ... Hoppla, Giorgio ist mir runtergefallen!«
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gewoben, geknüpft und genäht wird, ohne dass er sich zu einem kohärenten Sinnganzen fügte oder gar eine eindeutige Autorposition erkennen ließe, hinter welche die Materialität und Heterogenität seiner Teile zurückträte. So werden politische Positionen durchgehend auf die Verfahren ihrer Verfertigung zurückbezogen, wobei aktuelle materielle Bedingtheiten und Interessen ebenso als Determinanten in den Blick kommen wie historische Bezüge, die den Stoff der aktuellen Inszenierungen abgeben. Wenn Lacroix Bezug nehmend auf die Robespierre-Fraktion mahnt, dass die »Schneider von der Sektion der roten Mütze [...] die ganze römische Geschichte in ihrer Nadel fühlen« (P I, S. 31)48 würden, werden Herrschaftsstrategien, die sich unter Rückgriff auf antike Vorbilder legitimieren, ausdrücklich als Handwerk angesprochen. Entlarvt der Text damit deren Pathos von der Rehabilitation kultureller Ursprünge und natürlicher Gegebenheiten als interessegeleitete und historisch je spezifische Konstruktion, so weist er in seinem eigenen Zitations- und Montageverfahren zugleich auf die Unhintergehbarkeit eines solchen Umgangs mit Stoffen, der jedoch – und dies markiert die Differenz zum ›klassischen Stoffparadigma‹ – als solcher reflektiert wird.49 Dass die Kleider nicht als äußere Zeichen einer außersymbolischen Wahrheit oder Wirklichkeit fungieren, deren Erscheinen vielmehr auf zeichenhafte Inszenierungen verwiesen ist, erscheint bei Büchner dabei immer wieder als durchaus beunruhigend. Nicht nur bei Danton artikuliert sich in der Klage, dass er von dem immergleichen, an sich sinnlosen Ankleiden – »immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen« (P I, S. 38) – gelangweilt sei, eine existentielle Leere. Auch Leonce leidet darunter, dass er sich »nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben ––––––––– 48 Vgl. auch weiter unten: »[...] Barrère wird eine Carmagnole schneidern und dem Con-
vent das Blutmäntelchen umhängen« (P I, S. 31). Die Polyvalenz bzw. die Verschiebung der Bedeutung von Carmagnole als Bezeichnung für ein Tanzlied der Revolution, ein Kleidungsstück (kurze von Arbeitern getragene Jacke), für politische Berichte und damit letztlich für eine bestimmte politische Position (vgl. den Stellenkommentar P I, S. 515f.) demonstriert hier zugleich die Einbindung von Kleidung als Zeichen in historisch-politische Signifikationsprozesse. 49 Vgl. hierzu Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes. Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama »Danton’s Tod« unter Berücksichtigung der »Letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus. Tübingen 1991, bes. S. 12, 17, 23f.
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[kann], daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und moralisch würde« (P I, S. 96). Offensichtlich hemmt hier die Einsicht in die Abwesenheit rein ideeller Orientierungen und das Wissen um die rhetorische Konstruktion bürgerlicher Werte die Handlungsfähigkeit des (politischen) Subjekts. Der Umschlag eines solchen Fatalismus angesichts der Beliebigkeit der Bekleidungen oder allgemeiner, auf das Verhältnis von Sprache und Welt bezogen, der Bezeichnungen, in Herrschaftsphantasmen, die auf der Vorstellung beruhen, dass die Welt nach Gutdünken bezeichnet und vereinnahmt werden könne, liegt dabei häufig nicht fern. Nachdem Lenz den »ungeheuern Riß« (P I, S. 246), die Leere in der Schöpfung mit aller Macht gespürt hat, amüsiert er sich in der Phantasie damit, »die Häuser auf die Dächer zu stellen, die Menschen an und auszukleiden« (P I, S. 247). Wenn der zuletzt mit der Regierungsmacht ausgestattete Leonce meint, »die Taschen [...] voll Puppen und Spielzeug« zu haben, und er vorschlägt, man könne »ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen« oder aber »ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen« (P I, S. 128), deutet sich immerhin die Gefahr an, welche die Auflösung einer ständischen (Kleider-)Ordnung birgt, indem Menschen nun ständig wechselnden, willkürlichen Bekleidungen, Zuschreibungen und Verwendungen ausgesetzt werden. Denn während hier natürlich einerseits die auch noch im 19. Jahrhundert andauernde Willkür der Höfe und der Aristokratie und nicht zuletzt das restaurative Modell eines Bürgerkönigtums satirisch ausgestellt wird, deutet sich durch den Verweis auf den Frack als bürgerliches Kleidungsstück zugleich eine Macht an, die sich nicht so deutlich an bestimmten Personen oder Herrschaftsformen festmachen lässt. Denn die Mode, so heißt es später – in auffälliger Nähe zu Büchner’schen Metaphern – bei Friedrich Theodor Vischer, ist eine »geheime Macht [...], welche an unsichtbaren Drähten die [...] Subjecte wie Marionetten tanzen läßt«.50 Ihre ––––––––– 50 Friedrich Theodor Vischer: Wieder einmal über die Mode (1878). In: Ders.: Mode und
Cynismus. Beiträge zur Kenntniß unserer Culturformen und Sittenbegriffe. Hrsg. u. mit einem Nachw. vers. v. Michael Neumann. Berlin 2006, S. 9–82, hier S. 62. Vgl. auch ebd., S. 63: »Es ist nicht anders, die Geschichtsphilosophie der Mode führt mitten hinein in die Frage: Freiheit oder Nothwendigkeit.«
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Regierungsform sei »die absolute«.51 So spielt jene Beschreibung, die Valerio in Leonce und Lena für die Machtfülle des Königs findet – als solcher könne man »schwarze Fräcke und weiße Halsbinden zu Staatsdienern machen« (P I, S. 107) – und die bereits auf die zitierte Rede Leonces am Schluss vorausweist, offensichtlich nicht nur auf die gleichmachende und verdinglichende Macht bürgerlicher Bürokratie an, sondern implizit auch auf das Tyrannische der Mode, die Kleidungsstücke metonymisch für die ganze Person einstehen lässt, welche als solche nicht mehr in Betracht kommt. Die Einsicht, dass man aber trotz allem »aus der Mode [....] nicht heraus« könne, teilt Vischer mit Büchner. Wo jener jedoch eher resignativ gegen das ruhe- und ziellose Treiben der Mode polemisiert (»Die Mode also spielt und spielt [...]«52), ist zumal in Leonce und Lena das Spiel der Moden, Masken und Bezeichnungen aufs Engste mit dem theatralen Charakter des Textes selbst verknüpft. Aus der spielerischen Wiederholung und Verkehrung diskursiver (Macht-)Inszenierungen gewinnt dieser sein poetisches wie poetologisches Potential.53 Die Kunst hat bei Büchner buchstäblich »Rock und Hosen«:54 Indem sie die materiellen Bedingtheiten der menschlichen Existenz betont und zugleich das Gemachtsein von Bedeutungen und Machtpositionen hervorkehrt, bleibt sie stets auf die Kleider bezogen. Diese sind ihr nicht in erster Linie Zeichen für anderes, vielmehr lenken sie den Blick immer auch auf die eigenen Texturen mit ihren Polyvalenzen, Rissen, Vernetzungen, Verkehrungen und Verschiebungen. Die dichterische Hervorbringung ist, wie Büchner in einem Brief einmal formuliert, eine Schneiderkunst (vgl. P II, S. 454). Sie impliziert eine Engführung von Schreiben und Bekleiden und zwar nicht, indem sie fertigen Ideen oder Gefühlen aus der souveränen Posi––––––––– 51 Ebd., S. 28. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: »[...] diese Macht ist absolute Regie-
rung, unverantwortlicher Regent oder besser: Regentin [...]. Diese Monarchie ist zugleich Theokratie, ihre Gebote sind Offenbarung, sind also unumstößlich.« (Ebd., S. 62) 52 Ebd., S. 54. 53 Zur poetologischen Funktion von Kleidung (bei Goethe) vgl. Ulrike Landfester: Der Dichtung Schleier. Freiburg i. Br. 1995, bes. S. 47–71. 54 Vgl. den Jahrmarkt-Ausrufer im Woyzeck: »Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein Säbel!« (P I, S. 150)
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tion eines Autor-Spielleiters heraus »Rock und Hosen an[zieht]«,55 sondern indem der Schreibende sich selbst in seiner materiellen Bedingtheit in den kreativen Prozess einschreibt. So notiert Büchner während der Entstehung von Leonce und Lena: »Ich muß eine Zeitlang vom lieben Kredit leben und sehen, wie ich mir in den nächsten 6–8 Wochen Rock und Hosen aus meinen großen weißen Papierbogen, die ich vollschmieren soll, schneiden werde.« (P II, S. 437.)
––––––––– 55 Vgl. Camilles Kritik am zeitgenössischen Theater in Danton’s Tod: »Nimmt Einer ein
Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich 3 Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal!« (P I, S. 44.)
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Büchners Ankunft im Theater. Eine Rekonstruktion Von Nora Eckert (Berlin) Auch wenn ihn das eigene Jahrhundert scheinbar übersehen hatte, so war Büchner doch nie völlig in Vergessenheit geraten. Literarische Entdeckernaturen hatten es nicht allzu schwer, die Spur aufzunehmen, um einen überschaubaren und gleichwohl bedeutungsvollen literarischen Schatz zu heben. Diese mit Seismologen vergleichbaren Entdeckernaturen sind die eine Seite der Schatzsuche. Aber Entdeckungen brauchen ein Publikum, das staunt und applaudiert. Im Fall Büchners dauerte es gut ein halbes Jahrhundert, bis der Kulturbetrieb des noch jungen deutschen Kaiserreichs über den fulminanten Fund berichtete. Noch einmal zwei Jahrzehnte gingen darüber ins Land, bis seine Stücke endlich wahrgenommen wurden und dort angelangten, wo sie hingehörten, nämlich auf die Bühne. Das war die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Daß Büchners Ankunft im Theater zusammenfiel mit dem Ende seines Jahrhunderts, mit dem zugleich der Untergang der bürgerlichen Epoche dämmerte, stellt sich als eine verblüffende und keineswegs zufällige Pointe dar. Denn offenkundig tat sich mit der Moderne um Neunzehnhundert, die gleichsam zum Synonym für die Epochenwende wurde, ein ästhetischer Horizont auf, für den Büchners Modernität wie bestellt schien. Die Zeit war reif für Büchner. Was meint das? Stellen wir zunächst fest: Seine Ankunft im Theater war kein plötzliches und vor allem kein episodisches Ereignis. Zwar spielen im Theater Moden seit jeher eine wichtige Rolle, aber bei der Büchner-Rezeption wird man nicht von einer Modeerscheinung sprechen wollen, obschon ihre Akzente mit den Moden wechselten. Jede Zeit scheint sich in den Stücken wiederzufinden – als seien diese alterslos. Die wichtigste Voraussetzung einer literarischen Erfolgsgeschichte ist zuallererst die Verfügbarkeit der Texte für den potentiellen Leser. Sie müssen gedruckt werden, um für das Publikum verfügbar zu sein. Das 205
klingt banal, aber um diese Selbstverständlichkeit kam auch die BüchnerRezeption nicht herum. Ein erster Versuch in diese Richtung stellt die von Ludwig Büchner 1850 herausgegebene Werkausgabe dar, die aber noch nahezu wirkungslos blieb. In Gang kam die Rezeption dreißig Jahre später, obschon auch jetzt nur mühsam, nämlich mit der von Karl Emil Franzos verantworteten Ausgabe der Sämmtlichen Werke. Von dieser waren bis 1892 gerade einmal 268 Exemplare verkauft worden. Büchner war zu diesem Zeitpunkt immer noch ein Geheimtipp. Doch unter den Lesern befanden sich offenbar die entscheidenden Multiplikatoren. Es waren selbst Schriftsteller, die naturgemäß mitteilungsfreudig sind – auch im Fall ihrer Lektüreerfahrungen. Büchner spielte so eine Zeitlang eine nicht unbedeutende Rolle in der Korrespondenz von Schriftstellern – beispielsweise bei Hauptmann, Hofmannsthal, Rilke, Flake, Jahnn und anderen. Man begann Vorträge über ihn zu halten, schrieb Artikel, und gelegentlich hinterließ die Büchner-Lektüre auch mehr oder weniger deutliche Spuren im eigenen literarischen Werk. Zweierlei Wahrnehmungen fallen in der frühen Büchner-Rezeption auf: Da wäre der politische Büchner, der Verfasser des Hessischen Landboten. Er wurde – kaum überraschend – zur Herzensangelegenheit eines sozialdemokratisch orientierten Publikums. Hier ist es Dantons Tod, der unter den Stücken favorisiert wird. Auf der anderen Seite wird Büchner als Vertreter einer avancierten literarischen Moderne präsentiert. Hier tendiert man eher zu Leonce und Lena und später auch zu Woyzeck. Gilt er in dem einen Fall als Vorläufer, so in dem anderen als Zeitgenosse. Dort die Historisierung mit aufscheinenden aktuellen Bezügen, hier die Aktualisierung mit Büchners historisch bruchloser Präsenz in der Kunst um Neunzehnhundert. Bruchlos wird sich auch die Aktualisierung von der naturalistisch geprägten Rezeption hin zur expressionistischen vollziehen. Als symptomatisch mag man die Ausführungen eines Max Krell nehmen. Sie münden 1913 in das Resümee, es sei höchste Zeit für Büchners Entdeckung gewesen: »Denn unfraglich schöpft unsere literarische Gegenwart aus denselben Quellen wie Georg Büchner, was etwa ebensoviel heißt wie: Büchner griff
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seiner Zeit voraus, schuf eine Kunst für die, aus inneren Gründen, Verständnis und Wirkung erst jetzt möglich sind.« 1
Wie immer die Interpretationen ausfallen, sie zielen auf eine Vereinnahmung, wobei nichtkompatible Elemente des Werkes naturgemäß ausgeblendet bleiben. Man liest, was man lesen will und soll. In dieser Hinsicht bezeichnet das Theater den Extremfall. Denn dort waren und sind Texte immer nur frei verfügbares Material. Was wiederum erklärt, daß der fragmentarische Werkcharakter letzten Endes kein Hindernis für die Bühnenpräsenz darstellte. Büchners hundertster Geburtstag im Jahre 1913 ließ die Zahl der Artikel und Aufsätze beachtlich anschwellen. Es ist auch die Zeit, in der seine Stücke in rascher Folge auf den Bühnen erscheinen. Kaum einer der damals bedeutenden Regisseure ließ sich die Neuentdeckung entgehen. Den Gedenkrednern von 1913 war gelungen, so Burghard Dedner, »was zehn Jahre zuvor noch kaum vorstellbar gewesen wäre: Büchner war zu einem bürgerlich deutschen Gegenstand avanciert«.2 Mit der Einschränkung freilich: Je konservativer der Gedenkredner, desto mehr überwogen Einwände und Bedenken. Erinnert sei an Arthur Moeller van den Bruck, der Büchner bereits 1904 ein Kapitel in dem mit »Verirrte Deutsche« überschriebenen Buch widmete. Es blieb die Ausnahme, der Enthusiasmus überwog. Büchners Ankunft im Theater vollzog sich keineswegs so plötzlich, wie dies der Durchbruch des Jahres 1913 suggeriert. Schließlich lagen die Uraufführungen zweier Büchner-Stücke schon viele Jahre zurück. Insofern läßt sich von Etappen sprechen, die mit den schon erwähnten frühen Büchner-Lesern eng verknüpft sind und deren Rolle als Multiplikatoren nicht unterschätzt werden sollte. In ihren Motiven wird die jeweils spezifische Attraktivität des Büchnerschen Werks ablesbar. Einer dieser frühen Büchner-Leser war Max Halbe, der als naturalistischer Dramatiker begann und eine Zeitlang Beachtung fand, aber bereits zu Lebzeiten eine nur noch literaturgeschichtliche Existenz führte. Wenn heute sein Name fällt, dann vor allem im Zusammenhang mit der Urauf––––––––– 1 2
Max Krell: Georg Büchner. Zum Hundertjahrtag seiner Geburt, 17. Oktober 1813. In: Xenien. 6. Jg. (1913), Oktoberheft, S. 215–221, hier S. 217. Burghard Dedner: Büchner-Bilder im Jahrzehnt zwischen Wagner-Gedenkjahr und Inflation. In: GBJb 3 (1983), S. 275–297, hier S. 281.
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führung von Leonce und Lena. Unbestritten ist das Datum dieser ersten Aufführung, nicht jedoch ihre theatergeschichtliche Bedeutung. Nicht anders liegt der Fall bei der Uraufführung von Dantons Tod. Und dennoch, beide Ereignisse kündigen die Büchner-Rezeption an und drücken sie signifikant aus. Was hatte sich also an jenem 31. Mai 1895 im frühsommerlichen Schwabing ereignet? Wie haben wir uns die Veranstaltung des von Max Halbe initiierten »Intimen Theaters« vorzustellen? Vielleicht so: Wir befinden uns in einem Park mit großen alten Alleebäumen. Inmitten des Grüns ein kleiner See. In die Idylle eingepflanzt eine Bretterbühne. Sie steht vor dem See, der samt dem gegenüberliegenden Ufer Kulisse spielt, wobei der zu erwartende Vollmond die Beleuchtung übernimmt. Ausgedacht hat sich das ein junger Mann, der das Theater neu erfinden will. Das arrivierte Theater »aus nichts als Routine und Vorurteilen« muß weg: »Wir brauchen neue Formen.« 3 Die nervösrevolutionäre Unerbittlichkeit des jungen Mannes erhält eine gewisse Pikanterie dadurch, daß seine Mutter, die große Schauspielerin, gleichsam das verachtete Theater repräsentiert. Was für ein Theater will der junge Mann? So genau weiß er das selbst nicht. Lebendige Menschen soll es zeigen. »Man muß das Leben nicht so darstellen, wie es ist, und auch nicht, wie es sein müßte, sondern so, wie es uns in unseren Träumen erscheint.« 4 »Träumen wir«, ruft die Theaterrevolution. Was leichter gesagt als getan ist. Denn wer im Traumtheater träumt, hat den Auftritt womöglich schon verpaßt. So könnte es gewesen sein, aber den Park und das improvisierte Freilufttheater finden wir bei Tschechow und nicht am Münchner Stadtrand. Der junge Theaterrevolutionär heißt Trepljow und nicht Halbe. Die Szene stammt aus der Komödie Die Möwe von 1896. Die zeitliche Nähe zu dem Münchner Uraufführungsereignis frappiert. Gewiß, der Schwabinger Garten sah anders aus, besaß keinen See. Auch war zu Büchners Komödie ein größeres Publikum versammelt, nämlich immerhin vierzig bis fünfzig Personen. Und es gab keine Bretterbühne; man spielte in der vorhandenen Gartenkulisse auf einer Wiese, eingerahmt ––––––––– 3 4
Anton Tschechow: Die Möwe. Komödie in vier Akten. Übers. u. Nachw. v. Kay Borowsky. Stuttgart 1975, S. 9. Ebd., S. 12.
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vom Halbrund einer Hecke. Darüber mochte wohl ebenso ein theaterrevolutionärer Geist geschwebt haben. Während Trepljows Stück kläglich scheitert, fand Leonce und Lena allgemeines Wohlwollen. Natürlich wußte Tschechow nichts von dem Münchner Ereignis. Aber die Theaterrevolution lag sozusagen in der Luft und wuchs sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Ereignis von europäischem Rang aus. Tschechow hatte mit dem Natur- und Traumtheater seines Stückes die Diskussion in dramatisierter Form wiedergegeben. Nicht zufällig wurde eine Möwe zum Emblem einer Theaterbewegung, die auf szenische Vereinfachung und auf Natürlichkeit im Spiel setzte. Nebenbei: Der spätere Theaterrevolutionär Meyerhold spielte damals im Moskauer Künstlertheater den Trepljow. Stanislawski als Promotor dieses Künstlertheaters wollte ein Theater der Einfühlung – Einfühlung avancierte zum neuen Zauberwort. Als Max Halbe zusammen mit einer Handvoll Münchner Bohemiens sein »Intimes Theater« 1895 gründete, beabsichtigte er Ähnliches. Seine Idee war es, »Theatervorstellungen eines gewissen programmatischen Charakters zu veranstalten« 5. Das »Intime Theater« verstand sich als Kritik an der Materialisierung der Theaterkunst, wie sie zuletzt der historische Realismus der Meininger bis zum Überdruß praktizierte. Halbe sah die Phantasie im Kunstgenuß verdrängt durch die Behaglichkeit und wollte sie mit seiner Theateridee zurückgewinnen. Sein »Intimes Theater« ist ein Künstlertheater im eigentlichen Wortsinn – eine Spezialbühne von Künstlern für Künstler, indem sie Exklusivität gegen Institutionalisierung setzt. Eine frei fluktuierende Kunst benötige keine Kulissen und Vorhänge. Vielmehr solle der Naturalismus »vom Aeussern der Scene lieber in das Innere der schauspielerischen Darstellung«6 verlegt werden. »Ursprüngliche Natur und Freiheit der Phantasie sei unsre Losung!«,7 dezidierte Halbe. Und weiter: »Das seelische Bild sei über das scenische Bild gestellt!«8 Das hätte auch Trepljow verkünden können, der bei Tschechow ebenso von einer Seelenkunst träumt. Und klingt das nicht auch nach Büchner? ––––––––– 5 6 7 8
Max Halbe: Jahrhundertwende. Erinnerungen an eine Epoche. München, Wien 1976, S. 146. Ders.: Intimes Theater. In: Pan. 1. Jg. (1895/96), H. 2, S. 106–109, hier S. 108. Reprint: Nendeln/Liechtenstein 1978. Ebd. Ebd.
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Einstudiert hatte Leonce und Lena Ernst von Wolzogen, ein Mann des Kabaretts; Halbe selbst trat als Leonce auf. Die übrige illustre Besetzung soll uns nicht weiter interessieren. Und auch von den vielen Anekdoten, die das Ereignis umranken, sei nur an diese erinnert: Man hatte nicht an die hereinbrechende Dunkelheit gedacht, weshalb Eduard Fuchs losradelte, um in aller Eile Kerzen und Lampions aufzutreiben. Das Ende sei fröhlich gewesen. Auf dem Nachhauseweg brach ein Gewitter los, das die Gesellschaft in einem leerstehenden Musikpavillon überstand. In die dort selbst produzierte Tanzmusik seien die wilden Donnerschläge des himmlischen Orchesters hineingekracht. »Es war eine dionysische Nacht«, resümierte Halbe.9 War es nicht Leonce, der die Frage stellte: »Wollen wir ein Theater bauen?« Und gab er Lena nicht gleich die Antwort dazu: Nein, nur Natur und nur Sommer – »das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern«? Das »Intime Theater« als theatralisches Gartenfest mit dionysischem oder wohl besser sanguinischem Anklang hatte Leonce und Lena immerhin zwischen Hecken stattfinden lassen, und Sommer herrschte auch. Nur an das Licht hatte niemand gedacht. Bedeutsamer freilich war der Umstand, das Stück selbst zum Leuchten gebracht oder, genauer gesagt, den Stimmungszauber entzündet zu haben. Denn davon ist in den Berichten allenthalben zu lesen. Büchners Lustspiel wurde tatsächlich für lange Zeit als eine poetisch-stimmungsvolle Veranstaltung wahrgenommen. Man sah es als luftiges Gebilde, ein wenig skurril, ein wenig überirdisch, ein wenig schwermütig. Für Alfred Polgar klang das Stück wie eine Mischung aus »Harfenspiel und Rüpelklängen«.10 Die Idee des »Intimen Theaters« blieb nicht folgenlos. Aus ihr entstand die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem durch Max Reinhardt propagierte und virtuos beherrschte Theaterform des Kammerspiels. Überdies konnte Max Halbe die Psychologie in Büchners Figurenzeichnung nicht entgangen sein – bei aller theaterhaft-grotesken Überzeichnung. In der modernen Dramatik der Zeit sollte sie eine zentrale Rolle spielen. Ins Zentrum rückte mit der Betonung des Spiels und ––––––––– 9 Max Halbe: Jahrhundertwende (s. Anm. 5), S. 152.
10 Zit. nach Axel Bornkessel: Georg Büchners »Leonce und Lena« auf der deutschsprachigen
Bühne. Studien zur Rezeption des Lustspiels durch das Theater. Diss. Köln 1970, S. 57.
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der Persönlichkeit auch die Magie des gesprochenen Worts. So empfand Halbe den Dialog als eigentliche Seele der theatralen Situation. Büchners Sprachartistik traf so den Nerv eines auf Lyrisierung gestellten Dramas um Neunzehnhundert. Der poetische Ton in Büchners Sprache befand sich offenkundig auf jener Frequenz, auf die sich die parallel zur Intimisierung des Theaters entstandene literarische Bewegung eingependelt hatte. Ebensowenig zu übersehen ist, daß Büchners Stück, bei allen zeitkritischen und politischen Konnotation, so etwas wie eine Produktion auf dem psychologischen Seil darstellt, bei der die Selbstbeschau aber mit ironischem Sicherheitsabstand stattfindet. In der lyrischen Seelendramatik um Neunzehnhundert fehlt diese Dimension völlig. Zu fragen bliebe, warum das Intime so attraktiv werden konnte. Was waren dafür die mentalen Voraussetzungen? Max Weber griff das Phänomen in seiner Rede »Wissenschaft als Beruf« von 1919 auf: »Es ist weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.«11
Doch das zwanzigste Jahrhundert läßt den Hang zum Privaten nachgerade als Korrektiv zu dem erscheinen, was unter Begriffen wie ›Massengesellschaft‹, ›Massenkultur‹ und ›Vermassung‹ verstanden wurde und was im Politischen einer Zwangskollektivierung glich. Als ob die Besinnung auf das hochkomplizierte und komplexe Individuum ein letztes Innehalten vor den katastrophischen Umbrüchen und Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts bedeutet. Als ob gegen die »Entzauberung der Welt«, die Max Weber konstatierte, das Individuum als Zauber in allen denkbaren Licht- und Schattenwirkungen inauguriert wurde. Im übrigen wird das der Vorwurf gegen das Intime Theater und die damit verbundene literarische Bewegung sein. Georg Lukács will beides nur als Produkt der Intellektualisierung des Dramas gelten lassen, geboren aus dem Bedürfnis einer geistigen Elite und begleitet von der Sehn––––––––– 11 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. [...] Politik als Beruf [...]. Hrsg. v. Wolfgang J.
Mommsen u. Wolfgang Schluchter in Zus.arb. m. Birgitt Morgenbrod. In: Max Weber Gesamtausgabe. Abt. I, Bd. 17. Tübingen 1992, S. 71–111, hier S. 110.
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sucht nach geistiger Aristokratie.12 Lukács’ Forderung nach Massenwirksamkeit verrät vor allem ein mythisches Denken, das dem Theater eine gemeinschaftsbildende Kraft zuschreibt, aber unbeantwortet läßt, welche Gemeinschaft es je konstituierte. Ausgeblendet bleiben die simplen soziologischen Implikationen jeder Besucherstatistik. Das Theater mag sich politisch, individualistisch oder sonstwie verstehen, es bleibt so oder so Kunstform. Gewiß, um den Krisenbefund für die dramatische Form im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert kam man nicht herum. Die tradierte Form mochte zerbrechen, aber die Moderne antwortete mit neuen Formen.13 Das lyrische Drama war letzten Endes auch ein Rettungsversuch, obschon man gerade ihr Überangebot an Stimmung kritisch vermerkte. Die frühe Rezeption von Büchners Lustspiel wollte kaum anderes als Stimmungshaftes entdecken. Als sei die Stimmung gleichsam der Held. Anders als das lyrische Drama blieb ihm jedoch der Vorwurf der Innerlichkeit erspart. Fassen wir zusammen: Büchners Ankunft im Theater spielte sich in zeitgeistigen Kontexten ab. Daß aus der Entdeckung eine Erfolgsgeschichte werden konnte, liegt in einer Art Gleichklang begründet, also in dem Phänomen, daß das entdeckte Werk eine im Erwartungshorizont des Publikums verankerte Saite zum Klingen brachte. Bezeichnend ist die Tatsache, daß jedes der drei Büchner-Stücke für sich einen spezifischen zeitgeistigen Zusammenhang ansprach. Korrespondierte Leonce und Lena mit dem lyrischen Drama respektive mit der Intimität des kammerspielhaften Formats, so reklamierte das sozialdemokratisch verfaßte Theater das Drama Dantons Tod. Es war Gerhart Hauptmann, der seine Berliner Dichterkollegen mit der BüchnerBegeisterung infizierte. Viele hatten seinen Vortrag von 1887 über das »Kraftgenie Büchner« gehört. Als Bruno Wille im Zuge der Vereinsgründung der »Freien Volksbühne« einen ersten Spielplan im Sommer 1890 vorstellte, war auch Dantons Tod aufgelistet. Aber erst am 5. Januar 1902 öffnete sich in Berlin zum ersten Mal der Vorhang für Büchners Danton. Als Grund für die Verspätung ist einerseits Franz Mehrings Skepsis im ––––––––– 12 Vgl. hierzu Annette Delius: Intimes Theater. Untersuchungen zu Programmwahl und Drama-
turgie einer bevorzugten Theaterform der Jahrhundertwende. Kronberg/Ts. 1976.
13 Vgl. hierzu Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt a. M.
1965.
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Hinblick auf die Bühnentauglichkeit des Stücks anzunehmen. Mehring war Nachfolger Bruno Willes als Vereinsvorsitzender. Andererseits kam es schon bald zur Spaltung des Vereins. Als die beiden Volksbühnenvereine sich schließlich doch wieder zusammentaten, konnte aus dem Plan Realität werden. Der Uraufführung im Belle-Alliance-Theater folgte eine zweite Vorstellung am 12. Januar am anderen Ende der Stadt im CarlWeiss-Theater in der Großen Frankfurter Straße. Das Publikum spendete dem Ereignis starken Beifall, die wenigen Kritiker, die darüber berichteten, gaben sich zurückhaltender und glaubten kaum an eine Wiederbelebung der literarischen Ausgrabung. Spätestens mit Max Reinhardts fulminanter Inszenierung von 1916 war das Stück fest installiert im Spielplankanon. Es erlebte mit Beginn der republikanischen Zeitrechnung in Deutschland eine anhaltende Hochkonjunktur. Die Revolutionsthematik versprach Aktualität, wobei das Stück sich sowohl für als auch gegen die Republik inszenieren ließ. Und so korrespondierte jede Inszenierung mit den politischen Befindlichkeiten und ideologischen Couleurs der Zeit. Abgesehen von der wechselnden Bühnenästhetik, blieb immer aufschlußreich, wie man die Hauptkontrahenten des Stückes wertete, ob man Danton oder Robespierre den Vorzug gab. Hier wechselten die Sympathien passend zum tagespolitischen Klima. Mit der Heroisierung Robespierres gerät die für die Weimarer Zeit auffällige Sehnsucht nach dem starken Mann in den Blick. Gegen die dezidiert politische Wahrnehmung des Stückes mutet Hans Henny Jahnns kulturkritisch motivierte Begeisterung für Dantons Tod eher kurios an. Während des Ersten Weltkriegs entwarf er den Plan für die Glaubensgemeinde Ugrino, eine kunst-religiös begründete Gemeinschaft mit eigener Bühne. Ein erster, aber nie realisierter, Spielplan sah auch Dantons Tod vor. Jahnn reizte vor allem Büchners Modernität, die er in der Suspendierung von Bühnenkonventionen und überholten Moralvorstellungen zu erkennen vermeinte. Büchners Theatermetapher verstand er ideologiekritisch als die dem Menschen abhanden gekommene Wirklichkeit. »Die Menschen haben sich ganz der Bühne angepaßt«, konstatierte Jahnn.14 Sie vernachlässigten ihre substantiellen Bedürfnisse mit der Folge, daß es nichts Wirkliches mehr im Leben gebe. ––––––––– 14 Zit. nach Jan Bürger: Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn. Die
Jahre 1894–1935. Berlin 2003, S. 141.
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Der kulturkritische Impetus des Entfremdungsvorwurfs ist nicht zu überhören. Woyzeck wurde zuletzt uraufgeführt, nämlich am 8. November 1913. Diesmal hatte sich der arrivierte Theaterbetrieb das Ereignis nicht entgehen lassen. Nach der Uraufführung am Münchner Residenztheater folgte einen Monat später das Lessingtheater in Berlin und ab dem 5. Mai 1914 sah bereits das Wiener Publikum in seinem Residenztheater die tödlich endende Geschichte von Franz und Marie. Schon im Jahr zuvor hatte Hugo von Hofmannsthal der Wiener Volksbühne vorgeschlagen, den Woyzeck herauszubringen. »Es ist doch eines der höchsten Producte, das wir haben«, befand er in einem Brief an Stefan Grossmann, den Gründer des Hauses.15 Noch im selben Monat empfahl er dem Opernkomponisten und damaligen Generalintendanten der Münchner Oper Clemens von Franckenstein Woyzeck und auch Dantons Tod, den zu bearbeiten er sich bereit erklärte, obschon er den Woyzeck favorisierte: »Immerhin bleibt der Wozzek [sic!] in seiner balladenhaften Abgerissenheit vielleicht das leichtere und dankbarere Experiment.«16 Daraus wurde sowenig wie aus dem Vorschlag an den Komponisten Richard Strauss, das Lustspiel Leonce und Lena als Oper zu komponieren. Unter den Büchner-Bewunderern finden wir auch Rainer Maria Rilke, der für den Woyzeck warb, als er einer Bekannten zum Besuch einer Aufführung nachdrücklich riet. Über die Münchner Inszenierung äußerte er: »Daß der Büchner übrigens auch Anwendungen ins Jetzige, (wenn man schon auf solchen besteht) zuläßt, das hat die hiesige Aufführung des ‚Wozzek’ [sic!] genügend ins Licht gesetzt.«17 Worin genau die Aktualität bestand, teilt Rilke nicht mit. Doch auch dieses Stück verfehlte nicht den Nerv der Zeit. Es verfehlte ihn nicht mit Blick auf die expressionistische Ästhetik, deren Sprachekstatik sich in Büchners Ausdruckskraft wiederzufinden glaubte. Seine Metaphorik schien wie für den Tag gemacht. Sie frappierte und kam an als nachgerade expressionistischer Originalton. Und auch die atonal gewordene Musik korrespondierte mit Büchners konzentrierter Sprache. Als Alban Berg den Woyzeck in Wien sah, war er ––––––––– 15 Hugo von Hofmannsthal: Brief-Chronik. Bd. 2: 1912–1929. Hrsg. v. Martin E. Schmid.
Heidelberg 2003, S. 1537.
16 Ebd., S. 1538. 17 Zit. nach Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen,
Kommentar. Bd. 1: 1875–1945. Berlin 2001, S. 215.
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wie gebannt und wußte sofort, hier ein Sujet für eine moderne Oper gefunden zu haben. Büchner zeige das Typische des Lebens, meinte Tucholsky. Wenn dem so ist, was wäre dann im Woyzeck das typische Leben? Ist es das, was jede Rezension ausspricht? Büchner zeige die gequälte, gehetzte Kreatur, den Menschen in seiner ganzen Unfreiheit. Ging es um die Kritik an den sozialen Verhältnissen? Das wohl auch. Die veröffentlichte Meinung läßt keinen anderen Schluß zu, aber sie blendet ein wesentliches Element aus: Woyzeck ist auch Mörder. Wie wird diese Tat gesehen und bewertet, da er, der Täter, doch ausnahmslos als Opfer wahrgenommen wird? Mit der Gewalttat vermischt sich die soziale Frage, und am Ende wird der Mörder zum Ankläger der Gesellschaft. Wenn man so über einen Mord auf der Bühne denkt, wie denkt man über Morde, die wirklich geschehen? Und die Zeitungen waren voll von Mordgeschichten und aufsehenerregenden Mordprozessen. Das Erstaunliche: Die Wahrnehmung scheint keinen Unterschied zwischen Bühne und Wirklichkeit zu machen. Hier wie dort rückt das unbestreitbare Faktum der Tat aus dem Blickfeld und weicht einer moralischen Bewertung. Man sucht Antworten auf die Frage, was in der Seele des Täters vorging, als er tötete und bevor er tötete. So wird ein Rechtsproblem zur psychologischen Deutung und der Mörder zum psychisch gestörten Individuum, zum klinischen Fall. In dieser Betrachtungsweise drückt sich nichts Geringeres als ein fundamentaler Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aus.18 Zwar hatte man schon zu Büchners Zeiten die Frage der Zurechnungsfähigkeit diskutiert, so auch im Fall des authentischen Woyzeck, doch ein Jahrhundert später sind Zuschreibungsprobleme entstanden über die im Täter nicht mehr auffindbare Handlungsfähigkeit. Ein konkretes Beispiel liefert uns Siegfried Kracauer in seiner Rolle als Sonderberichterstatter der Frankfurter Zeitung im Mordprozeß Angerstein des Jahres 1925. Das Gericht befand über einen durch den Mord an der kranken Ehefrau ausgelösten Amoklauf. Der Gutachter erklärte, Angerstein habe die Tat nicht begangen, sie sei ihm passiert. Kracauers Resümee: ––––––––– 18 Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit. Frankfurt a. M.
2001.
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»Das Ereignis ist eine Anomalie, zum Glück; es sollte darum nicht minder als Warnung dienen. Als Warnung einer Welt, in der die Gegenstände und ihre Gesetze die Herrschaft sich anmaßen über die Seele. Denn je mehr die Menschen sich in ihren Beziehungen zu einander versachlichen, und den von ihnen abgesprengten Dingen Gewalt über sich einräumen, statt die Dinge an sich heranzupressen und menschlich sie zu durchdringen, desto leichter kann und wird es geschehen, daß das in die Abgründe des Unbewußten verdrängte Menschliche entstellt, koboldhaft und grausig in die verlassene Dingwelt sich stürzt. Nur in einer menschlichen Welt hat die Tat ihren Täter.«19
In zahllosen Rezensionen des Woyzeck und später der Oper Wozzeck von Alban Berg ist, obschon mit anderen Worten, genau davon die Rede. Die Schuldverlagerung ist eindeutig: schuld ist die Gesellschaft. Auch dieses Büchnersche Stück erwies sich, wie die beiden anderen zuvor, als im wahrsten Sinne des Wortes geistesgegenwärtig und hatte dennoch nichts mit modischem Aktualitätenkino zu tun. Stellte Leonce und Lena eine ästhetische, so Dantons Tod eine politische und Woyzeck eine sozialpsychologische Frage von elementarem Charakter, die wir in den Diskursen der Zeit wiederfinden. Jedes Stück konstituierte so einen eigenen Sinnzusammenhang und eine mit den Zeitstimmungen korrespondierende Atmosphäre. Für die Entdeckung des Dramatikers Büchner waren nicht die philologisch verifizierbaren Absichten des Autors ausschlaggebend. Man fand drei Bühnentexte und jeder sprach auf seine Weise an. Man las darin oder hörte heraus, was man lesen und hören wollte. Solcher Umgang mag Philologen zur Verzweiflung bringen, aber die Rezeption nimmt zuweilen eigenwillige Wege. Gelegentlich führt der Erfolg über ein Mißverständnis, was dem Erfolg sowenig abträglich ist wie dem Werk selbst, obschon wir die Quellen im Auge behalten sollten – gerade wegen der interpretatorischen Sedimentierungen. Aber der Text allein macht es nicht; es ist sein Wahrheitsgehalt, den jede Inszenierung aktualisierend zu zeigen versucht (oder es zumindest sollte). Daß ein Werk berührt und bewegt ist entscheidend. Und genau das tun Büchners Stücke seit einem Jahrhundert. Ihre Vielschichtigkeit, oder anders gesagt, ihre Offenheit macht das Entdeckerglück unerschöpflich – wie alle große Dramenliteratur. Keine noch so radikale Deutung hat es vermocht, sie ––––––––– 19 Siegfried Kracauer: Schriften. Bd. 5.1: Aufsätze 1915–1926. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach.
Frankfurt a. M. 1990, S. 321f.
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zum Verschwinden zu bringen. Man kann Literatur am besten mit einem fremden Land vergleichen, das immer größer wird, je öfter man es betritt. Zum Schluß sei noch eine Eigentümlichkeit der frühen BüchnerRezeption von nachgerade katalysatorischer Wirkung erwähnt, nämlich die Parallelisierung von Autor und Werk, als sei das Werk gleichsam ein Spiegel des Künstlerschicksals und als enthielten seine Bühnenfiguren Facetten der Künstlerbiographie: Büchner als Leonce, Danton und Woyzeck. Das liest man so in Herbert Eulenbergs Erzählung, wenn die Beschreibung von Büchners Flucht nach Straßburg mit Motiven seiner drei Stücke vermischt wird.20 Bizarr wiederum Robert Walsers literarische Petitesse über dasselbe Thema, wenn von »wilder, süßer Flüchtlingslust« die Rede ist.21 Ähnlich emphatisch sprach Wilhelm Hausenstein, einer der Gedenkredner des Jahres 1913, von Büchners frühem Tod: »Man stirbt nicht an Krankheiten. Man stirbt an der Gesellschaft.«22 In anderen Texten suggeriert der Umstand des fragmentarischen Werkcharakters das Diktum des Schicksalhaften, gepaart mit dem Furor des jugendlichen Genies. Büchner, der junge Wilde, frühreif und unfertig, aber genial. Darin sprach sich auch die um Neunzehnhundert erwachte Liebe zum Biographismus aus, wie überhaupt das romantische Ineins von Leben und Kunst nichts an Attraktivität und Virulenz eingebüßt hatte. Wohl nicht wenige Theaterbesucher haben mit der unerträglichen Leichtigkeit des Seins im Lustspiel, mit der Melancholie des Untergangs im Revolutionsdrama und schließlich mit der Hirnwütigkeit des Sozialdramas oft auch ein Stück über den Autor wahrgenommen.
––––––––– 20 Siehe Herbert Eulenberg: Letzte Bilder. Berlin 1915, S. 259–268. 21 Siehe Robert Walser: Büchners Flucht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Jochen Gre-
ven. 3. Band: Aufsätze. Zürich, Frankfurt a. M. 1985, S. 106f.
22 Wilhelm Hausenstein: Georg Büchner. Zum Säkulartag seiner Geburt. In: Die weissen Blätter.
1. Jg., H. 2 (Oktober 1913), S. 134–151, hier S. 135.
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Gegen Gutachten. Büchners Woyzeck Von Michael Niehaus (Dortmund) »Gegen Gutachten« meint nicht Gegengutachten. Es soll nicht eine Gegnerschaft zu einem bestimmten Gutachten zum Ausdruck gebracht werden, sondern eine Gegnerschaft gegenüber der Textsorte Gutachten. Die These ist, dass Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck eine solche Gegnerschaft gegen die Textsorte Gutachten voraussetzt. Daher meint Büchners Woyzeck nicht Büchners Woyzeck. Der Name »Woyzeck« soll also nicht das Dramenfragment bezeichnen, das unter diesem Namen firmiert, sondern die literarische Figur sowie den Menschen namens Woyzeck, der zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich gelebt hat. Daraus ergibt sich ein doppeltes Problem. Denn erstens lässt sich – aufgrund der Überlieferungslage – Büchners Sicht der historischen Figur Woyzeck nur aus dem Dramenfragment erschließen, dem man nachträglich den Namen seines Protagonisten als Titel gegeben hat. Und zweitens verdankt sich letztlich alles, was Georg Büchner über die historische Figur Woyzeck weiß, der Textsorte Gutachten – nämlich dem Gutachten von Dr. Johann Christian August Clarus, der den Mörder Johann Christian Woyzeck als einziger tatsächlich auf seine Zurechnungsfähigkeit hin untersucht hat. Alle weiteren kontroversen Wortmeldungen zum Fall beziehen sich auf den Referenztext von Clarus. Büchners Woyzeck beruht also auf dem Woyzeck von Johann Christian August Clarus. Büchners Woyzeck beruht auf dem begutachteten Woyzeck. Der wirkliche Woyzeck fällt aus der Betrachtung heraus. Ich werde im Folgenden in einem ersten Teil das logische Verhältnis zwischen Büchners Woyzeck und Clarus’ Woyzeck betrachten. In einem zweiten Teil werde ich darauf eingehen, welche Figur Woyzeck im Gutachten von Clarus macht, welche Subjektposition er dort einnimmt. Und in einem dritten Teil werde ich versuchen, Büchners Woyzeck davon abzuheben.
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I. Das Verhältnis von Clarus zu Woyzeck ist eindeutig. Der Stadtphysikus von Leipzig war auf Antrag der Verteidigung bestellt worden, Johann Christian Woyzeck, der am 2. Juni 1821 die achtundvierzigjährige Witwe Johanna Christina Woost erstochen hatte, gerichtsmedizinisch im Hinblick auf seine Zurechnungsfähigkeit zu untersuchen. Clarus besuchte Woyzeck mehrmals im Gefängnis und verfasste daraufhin ein erstes Gutachten, das auf den 16. September 1821 datiert ist. Komplikationen im Prozessverlauf führen dazu, dass die urteilende Instanz – der Leipziger Schöppenstuhl – ein zweites Gutachten von Clarus einfordert. Dieses zweite, ausführlichere und mit zahlreichen Zeugenaussagen unterfütterte Gutachten, das auf ausgedehnten Unterredungen mit dem Inquisiten beruht, wird anlässlich der öffentlichen Hinrichtung Woyzecks am 27. August 1824 auf dem Leipziger Marktplatz – mit einem Vorwort versehen – als Broschüre veröffentlicht. Die Publikation ist behördlich gewünscht, denn sie hat den Zweck, den aufsehenerregenden und bedenklichen Aktus – es ist die erste öffentliche Exekution in Leipzig seit 34 Jahren und die letzte überhaupt – ins rechte Licht zu stellen, zu rechtfertigen. Darauf weist schon der Paratext der Broschüre hin: »D i e Z u rechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde a k t e n m ä ß i g e r w i e s e n von Dr. J o h a n n C h r i s t i a n A u g u s t C l a r u s. K. Sächsischem Hofrath, des Königlich Sächsischen Civilverdienst- und des Kaiserl. Russischen Wladimirordens IV. Klasse Ritter, ordentl. des. Professor der Klinik, des Kreisamts, der Universität und der Stadt Leipzig Physikus u. Arzt am Jakobsspital etc.«1 Es wird also gewissermaßen die geballte Macht der – sich gegenseitig stützenden – wissenschaftlichen und staatlichen Institutionen mobilisiert, um einen Menschen zu exekutieren, der – wie es im Vorwort bei Clarus heißt – »durch ein unstätes, wüstes, gedankenloses und unthätiges Leben von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur andern herabgesunken« (Cl 3; MBA 7.2, S. 260) war. Gleichwohl hat diese Exekution der – vor allem zwischen Juristen und Medizinern geführten – Debatte um die Zurechnungsfähigkeit insbesondere von Mördern eine ungeahnte Inten––––––––– 1
Vgl. die Wiedergabe des Titels in MBA 7.2, S. 259.
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sität verliehen, von deren Umfang man sich anhand der Dokumentation in der Marburger Büchner-Ausgabe ein Bild machen kann. Schon einige Jahre zuvor hatte der in vielen Zügen vergleichbare Fall des Tabakspinnergesellen Daniel Schmolling – in dem auch E. T. A. Hoffmann ein richterliches Gutachten verfasst hatte – für ein gewisses Echo in Fachkreisen gesorgt. Im Jahre 1825 wurde das Gutachten von Clarus in einem einschlägigen Organ zur Staatsarzneikunde ein zweites Mal veröffentlicht, und auch sein erstes Gutachten von 1821 wurde dort nachträglich publiziert; in anderen Publikationen wurden lange Passagen wörtlich oder sinngemäß zitiert; auf die teils scharfen Einwände und Angriffe antwortete auch Johann Christian August Heinroth, der einflussreichste deutsche Gerichtsmediziner der Zeit, mit einer eigenen Veröffentlichung. 1836, als Büchner an dem später Woyzeck betitelten Drama schrieb, hatte der Fall Woyzeck in einschlägige Falldarstellungen und Lehrbücher der gerichtlichen Psychologie Eingang gefunden. Es lässt sich nicht mehr feststellen, wann Büchner was von dieser Debatte gelesen hat (vgl. MBA 7.2, S. 252ff.). An einigen Details ist indes zweifelsfrei zu erkennen, dass er die Zweitveröffentlichung von Clarus’ Gutachten in der Zeitschrift für Staatsarzneikunde kannte, zumal in demselben Jahrgang dieser Zeitschrift ein Gutachten von seinem Vater, dem Großherzoglich Hessischen Medizinalrat Ernst Büchner, abgedruckt war, in dem es um die Zurechnungsfähigkeit in einem Fall von tätlicher Insubordination ging. Anlass für eine Wiederbeschäftigung mit dieser Frage könnte ein dritter Fall gewesen sein, den der Darmstädter Liberale Bopp 1836 unter der Überschrift Zurechenbarkeit oder nicht? in derselben Zeitschrift publiziert hatte, der in manchen Zügen ebenfalls mit dem Fall Woyzeck vergleichbar war und daher neben Schmolling und Woyzeck als dritte Referenz Büchners gilt: der sogenannte »Fall Dieß«.2 In jedem Fall hat Büchner den Fall Woyzeck als Cause célèbre im Rahmen eines sehr klar konturierten Problemkomplexes kennen gelernt: der ––––––––– 2
Darüber hinaus hat noch ein vierter Fall in der ersten Entwurfsstufe zu Woyzeck Spuren hinterlassen, der ebenfalls schon länger zurückliegende und von Bopp in derselben Zeitschrift im Jahre 1834 publizierte »Fall Schneider« (vgl. MBA 7.2, S. 83, sowie den Abdruck der Falldarstellung MBA 7.2, S. 317–329). Anklänge an diesen Fall beziehen sich vor allem auf das dem hier noch Louis heißenden Dramenprotagonisten zugeschriebene Nachtatverhalten.
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Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bei einer singulären Mordtat. Dieser Problemkomplex verknüpft sich mit auffälligen Parallelen im konkreten sozialen Umfeld und in den Lebensumständen der drei Georg Büchner bekannten Fälle: Alle drei Täter – Schmolling, Woyzeck und Dieß – hatten ihre Geliebten umgebracht, waren etwa gleichen Alters, stammten aus der untersten Schicht der Gesellschaft, hatten handwerkliche Berufe gelernt und als Soldaten gedient, führten ein unstetes Leben ohne gesichertes Einkommen. Durch den diskursiven Kontext des Woyzeck-Falles wird also die Gutachter-Frage nach der Zurechnungsfähigkeit als Problemkomplex automatisch in das Dramenfragment Büchners importiert. Der Name Woyzeck steht gleichsam für diese Frage. Und das ist nicht irgendeine Frage, sondern die Frage nach der Subjektposition schlechthin. Sie zitiert, wie man der wissenschaftlichen Debatte leicht entnehmen kann, Begriffe wie Freiheit, Gesetz, Pflicht und Schuld herbei, die spätestens seit Schiller auch Kernbegriffe der Dramenpoetik sind.3 Die Karriere ohnegleichen, die die fragmentarische Szenenfolge Büchners in der Rezeption seit dem Ersten Weltkrieg gemacht hat, ist ohne die Beziehung auf die Dokumente der Zurechnungsdebatte nicht denkbar. Dies gilt, seit 1914 – ein Jahr nach der Uraufführung – mit dem Auffinden der Gutachten erstmals entdeckt wurde, dass der zuvor als Wozzeck entzifferte Protagonist keine erfundene, sondern eine historische Figur war. Seitdem ist vielleicht kein zweites Werk der Weltliteratur in den Textausgaben so sehr wie dieses mit Quellen- und Dokumentationsapparaten befrachtet worden, die den Umfang des eigentlichen Textes zunehmend um ein Vielfaches übersteigen: »Daß ein Fall Woyzeck der Grund oder Hintergrund von Büchners Woyzeck ist, ist Teil seiner literarischen und kulturellen Bedeutung«, fasst Rüdiger Campe zusammen.4 Die Frage, wie Büchner mit der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit umgeht, ist in der Forschung natürlich verschieden und auf verschiedenen Ebenen beantwortet worden. Sie setzt zunächst einmal voraus, dass Büchner die historischen Quellen nicht nur als stummen, von der dichte––––––––– 3
4
Vgl. dazu Rüdiger Campe: Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama. In: Michael Niehaus; Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewusstseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1998, 209–236, hier S. 231. Ebd., S. 211.
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rischen Sprache zum Leben zu erweckenden Stoff nimmt, sondern dass er sich tatsächlich auf diese Quellen als Elemente eines Diskurses bezieht. In dieser Weise spricht sich Alfons Glück dafür aus, Büchners Drama als »dichterische R e v i s i o n des historischen Prozesses«5 aufzufassen, als ein auf Unzurechnungsfähigkeit plädierendes Gegengutachten also. Georg Reuchlein argumentiert in einer einschlägigen Publikation zum Thema differenzierter, aber auch etwas widersprüchlich: Auf der einen Seite plädiere Büchner mit den liberalen Teilnehmern an der Debatte auf Unzurechnungsfähigkeit, kritisiere aber auf der anderen Seite gleichzeitig die medizinisch-juridischen Konzepte von Zurechnung überhaupt. Denn die Fundierung des Verbrechens in den gesellschaftlichen Zuständen werde von der individualistischen Konzeption der Zurechnung überhaupt nicht erfasst.6 Man kann auch, wie Sabine Kubik in ihrem Buch über Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, erklären, dass Büchner »die Kernfrage der Gutachten nach der Zurechnungsfähigkeit bis zuletzt offen« hält und damit gewissermaßen an den Leser bzw. Zuschauer weitergibt, wobei er zugleich die »Vorgeschichte der Tat und damit d[ie] Pathogenese des Täters« in den Vordergrund stelle, die Frage nach der juristischen Schuld hingegen in den Hintergrund rücke.7 Solche Stellungnahmen beruhen auf undurchschaute Weise auf einer zweifachen Vermischung von verschiedenen Ebenen: Zum einen der Vermischung der moralischen und der rechtlichen Frage der Zurechnung, zum anderen der Vermischung des literarischen und juridischen Diskurses, oder – anders ausgedrückt – des Ortes, von dem aus sie sprechen. Ein literarischer Text unterscheidet sich von einem Gutachten – trivialer Weise – zunächst einmal dadurch, dass er keine institutionellen Folgen hat. Der Text von Clarus führt zu einem Urteil; der Text von Büchner führt höchstens dazu, dass viele Leser das Gefühl haben, dieses Urteil sei ein Fehlurteil gewesen. Ein literarischer Text hat daher auch keine Ur––––––––– 5 6 7
Alfons Glück: Militär und Justiz in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 4 (1984), S. 227– 247, hier S. 245. Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Frankfurt a. M., Bern, New York 1985, Kap. 5. Vgl. Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991, S. 169f. Vgl. für weitere Stellungnahmen in der Diskussion um die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks Harald Neumeyer: »Woyzeck«. In: Büchner-Handbuch, S. 98– 118, hier S. 113–115.
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teilsform. Der literarische Text stellt dar, ohne jene unzweideutige Schlussfolgerung zu ziehen, in die die Darstellung eines Gutachtens spätestens mit dem letzten Satz münden muss. Die Darstellung des literarischen Textes ist in diesem Fall denn auch zweideutig genug, um manchen Lesern bzw. Zuschauern nahe zu legen, Woyzeck sei unzurechnungsfähig, anderen wiederum – wie etwa Wolfgang Wittkowski –, das Drama zeige einen durchaus zurechnungsfähigen, wenn auch Mitleid verdienenden Mörder.8 Der literarische Text als solcher nimmt – wenn er von Subjekten spricht, die zum Fall geworden sind – von seinem diskursiven Ort her eben nicht den Rechtsstandpunkt ein. Er beobachtet die Welt und ihre Fälle nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Subsumierbarkeit unter das Gesetz, woraus eine systematische Vermischung von rechtlicher und moralischer Zurechnung entsteht. Es ist dieser Rechtsstandpunkt, den das Gutachten von Clarus schon im Vorwort unmissverständlich ins Spiel bringt und emphatisch für sich reklamiert: Auch wenn das »Mitleiden« mit dem Täter angesichts der anstehenden Exekution nachvollziehbar sei, müsse sich gleichwohl »der Gedanke an die u n v e r l e t z l i c h e H e i l i g k e i t d e s G e s e t z e s erheben« (Cl 3; MBA 7.2, S. 260) und geltend machen. Die Frage ist allerdings, ob und inwiefern ein Gutachten als institutionell verankerte Textsorte tatsächlich diesen beanspruchten Rechtsstandpunkt einnehmen kann (dazu im zweiten Teil mehr). Bereits aus diesen Gründen kann der Text Büchners nicht ohne weiteres als Gegengutachten oder als Replik auf das Gutachten von Clarus verstanden werden. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Status literarischer Texte noch eine weitere Zweideutigkeit: Die Figuren, die in literarischen Texten auftreten, sind – auch wenn sie die Namen historischer Figuren tragen – kategorial von diesen unterschieden. Sie sind zunächst einmal fiktionale Figuren. Angenommen, Büchner plädiert mit seinem Dramenfragment auf die Unzurechnungsfähigkeit von Woyzeck, so kann sich diese Stellungnahme trivialer Weise immer nur auf die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der Figur im Drama beziehen. Um seinen literarischen Text dennoch als Plädoyer für die Unzurechnungsfähigkeit Woyzecks erscheinen zu lassen, hätte Büchner die Dra––––––––– 8
Vgl. Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. Heidelberg 1978, S. 279–281.
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menfigur der historischen Figur, wie sie ihm aus dem Gutachten von Clarus bekannt war, nach Möglichkeit annähern müssen. Dies hat er jedoch nicht getan. Im Gegenteil. Büchners Woyzeck unterscheidet sich in vielen wesentlichen Punkten vom historischen Woyzeck. Nicht nur hat Büchner den ganzen Komplex hinzugefügt, in dem Woyzeck zum Gegenstand des Experimentierens wird, er hat auch aus dem beschäftigungslosen Enddreißiger, der bisweilen gegen seine ältere Geliebte handgreiflich wird, einen rastlos tätigen Mann um die Dreißig gemacht, der nach Kräften für seine vermutlich jüngere Geliebte und das gemeinsame Kind sorgt. Es ist vor allem der Eigenname, der dazu verführt, Büchners Woyzeck mit dem Woyzeck von Clarus doch – irgendwie – gleichzusetzen. In der sogenannten ersten Entwurfsstufe ist jedoch noch nicht einmal die Namensgleichheit gegeben. Woyzeck heißt hier noch Louis, und Marie heißt Margreth. Diese erste Entwurfsstufe speist sich denn auch vorrangig aus den Quellen zum Fall Schmolling und nicht zum Fall Woyzeck. Auf dem Fall Woyzeck beruht vor allem das Leitmotiv, das »immer, zu – immer zu« (H1,5; MBA 7.2, S. 4), das Louis am offenen Wirtshausfenster der tanzenden Margreth abhört und zu seiner Zwangsvorstellung macht – bei Clarus ist es ein »i m m e r d r a u f, i m m e r d r a u f« (Cl 66; MBA 7.2, S. 285). Und dann gibt es noch das auf verblüffende Weise verschobene Auftauchen des Namens Woyzeck; seine Geliebte meinend ruft Louis auf freiem Felde aus: »Stich, Stich, Stich die Woyzecke todt, Stich, stich die Woyzecke todt.« (H1,6; MBA 7.2, S. 5.)9 Auf diese Weise wird der Fall Woyzeck buchstäblich herbeizitiert; es wird ein Bezug hergestellt, dem man sich stellen muss. »Woyzeck im Drama zitiert den Fall Woyzeck«.10 Gäbe es die Ebene der Eigennamen nicht, so könnte man das Drama mit dem gleichen Recht als Plädoyer für die Unzurechnungsfähigkeit von Schmolling lesen wie als Plädoyer für die Unzurechnungsfähigkeit von Woyzeck. Auch wenn in den weiteren Entwurfsstufen dann die Entnahmen aus dem Gutachten von Clarus zum Fall Woyzeck in den Vordergrund treten – in der literarischen Figur Franz Woyzeck bleibt etwas vom Tabakspinnergesellen Daniel Schmolling erhalten. ––––––––– 9 Dazu ausführlich Campe: Johann Franz Woyzeck (s. Anm. 3), S. 222f. 10 Ebd., S. 224.
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Gerade hinsichtlich der Frage der Zurechnungsfähigkeit ist der Fall Schmolling aber ganz anders gelagert als der Fall Woyzeck. Daniel Schmolling wurde über längere Zeit von der Zwangsvorstellung heimgesucht, seine Geliebte, mit der er während dieser Zeit regelmäßig Geschlechtsverkehr hatte, töten zu müssen, ohne den leisesten Grund dafür zu haben. Johann Christian Woyzeck hatte umso mehr Grund zu den Anfällen von Eifersucht, die ihn zur Ermordung seiner Geliebten trieben, als er von ihr zunehmend abgewiesen wurde. Auf der einen Seite steht die unverständliche Tat ohne Motiv, auf der anderen die dicht motivierte Tat, die sich nachvollziehen lässt. Wie geht das zusammen? Auf diese Frage werde ich im dritten Teil zurückkommen.
II. Zunächst aber werde ich in Umrissen darzustellen versuchen, in welche Subjektposition das Gutachten von Clarus den Begutachteten versetzt und wie es dessen Zurechnungsfähigkeit konstruiert. Wie wird Woyzeck in diesem Gutachten präsentiert? Seine Subjektposition wird aus verschiedenen Bestandteilen gewissermaßen montiert.11 Wie bereits gesagt, führt schon das Vorwort Woyzeck als einen Fall an, bei dessen Beurteilung die »u n v e r l e t z l i c h e H e i l i g k e i t d e s G e s e t z e s « (Cl 3; MBA 7.2, S. 260) im Blick zu behalten ist. Das Besondere wird hier also unter dem Aspekt seiner Subsumierbarkeit unter das Allgemeine betrachtet. Im Gutachten selbst wird nach einer kurzen Schilderung des bisherigen Prozessverlaufes unter der Überschrift »Bei Durchsicht der Akten« (Cl 14; MBA 7.2, S. 264) das bisherige Leben des Inquisiten rekonstruiert. Die Tat Woyzecks, der zuvor nur in geringem Maße aktenkundig gewesen ist, hat einen Berg von Akten hervorgebracht, bestehend unter anderem aus seinen früheren Aussagen und den Aussagen vieler Zeugen, die über sein Verhalten und seinen Lebenswandel Auskunft geben. Clarus ist natürlich an den Anzeichen einer »Verstandeszerrüttung« interes––––––––– 11 Vgl. zum Folgenden Roland Borgards: Der Kontext als Text. Ein Lektürevorschlag für das
zweite Clarus-Gutachten und die Debatte um Woyzecks Zurechnungsfähigkeit. In: Peter Klotz, Paul Portmann-Tselikas, Georg Weidacher (Hrsg.): Text-Zeichen und Kon-Texte. Studien zu soziokulturellen Konstellationen literalen Handelns. Erscheint Tübingen 2011 (Abschnitt 3).
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siert. Schon der erste Satz stellt fest, dass ihm eine solche nicht in die Wiege gelegt worden ist: »Der Inquisit W o y z e c k stammt von durchaus rechtschaffenden Eltern, die ihren gesunden Verstand bis an ihr Ende behalten, und nie eine Spur von Tiefsinn oder Verstandeszerrüttung gezeigt haben.« (Ebd.) Eine grundlegende Argumentationsfigur des Gutachtens deutet sich hier bereits an: Auch wenn Woyzeck zum Zeitpunkt der Tat an einer Verstandeszerrüttung gelitten haben sollte, hat er sich diese sozusagen selbsttätig auf seinem Lebensweg erworben. In diesem Sinne muss man ihm seine mögliche Unzurechnungsfähigkeit gewissermaßen zurechnen. Die Darstellung des Lebenswegs von Woyzeck konzentriert sich auf die Zeit nach dem Dezember 1818, dem Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Leipzig (nachdem er mehr als zehn Jahre im Ausland in wechselnden Kriegsdiensten zugebracht hatte). Erzählt wird die nach den von ihm genutzten Schlafstätten durchnummerierte Geschichte eines offenbar unaufhaltsamen Abstiegs. An zehn verschiedenen Stellen hat Woyzeck in den zweieinhalb Jahren bis zum Juni 1821 seine Schlafstätte gehabt. Am Ende hatte er »sich bis zur Ausführung seiner That, acht bis vierzehn Tage lang im Freien herumgetrieben und von Unterstützungen guter Menschen gelebt« (Cl 29; MBA 7.2, S. 271). Bei der Darstellung dieses Lebenswegs werden jeweils die reichlich vorhandenen Zeugenaussagen mit der eigenen Darstellung des Inquisiten abgeglichen. In dem Bild, das daraus entsteht, erscheinen die verschiedenen Zeichen der Verstandesverwirrung – Angstzustände, Stimmenhören –, denen das Gutachten natürlich besondere Aufmerksamkeit schenkt, als Teil einer Reihe anderer Verhaltensauffälligkeiten, vor allem der Alkoholprobleme und der Tätlichkeiten gegenüber dem späteren Opfer. Auch ohne es explizit zu machen, erscheint die Tat auf diese Weise als diffuse Folge eines bestimmten Lebenswandels. Schon eingangs des Gutachtens hatte Clarus festgestellt, dass der Inquisit ihm bei seinen ersten Unterredungen nicht durch eine Verstandeszerrüttung aufgefallen sei, sondern durch seine »moralische Verwilderung«, seine »Abstumpfung gegen natürliche Gefühle, und rohe Gleichgültigkeit, in Rücksicht auf Gegenwart und Zukunft«, durch »Mangel an äußerer und innerer Haltung«, durch »Verdruß über sich selbst«, durch »Scheu vor dem Blick in sein Inneres«, durch »Mangel an Kraft und Willen sich zu erheben« (Cl 9; MBA 7.2, S. 262). 227
Auch die Ausführung der Tat fügt sich in dieses Schema ein. In einem verzweifelten Eifersuchtsanfall hat sich Woyzeck einen zerbrochenen Degen gekauft mit dem Gedanken (das heißt nicht: mit dem Vorsatz), die Woostin mit dieser Klinge ums Leben bringen zu können. Und kurz vor der Tat hat er – nachdem sie einmal mehr eine Verabredung nicht eingehalten hatte – die Klinge zur Ausführung dieses Vorhabens »in ein Heft stoßen lassen«. Dann war er der Woostin aber zufällig begegnet, hatte sie nach Hause begleitet und eigenem Bekunden nach »an seinen Vorsatz nicht wieder gedacht«, bis die Woostin eine Abschiedsbemerkung machte, die ihn so in Zorn versetzte, dass er siebenmal zustach (Cl 31; MBA 7.2, S. 271). Man sieht: Schon die Darstellung nach den Akten fördert eine Tat zutage, die sowohl geplant und vorsätzlich wie impulsiv und ungeplant ist; sowohl das Ergebnis eines Lebenswandels wie einer Ausnahmesituation; sowohl folgerichtig wie zufällig. Und sie fördert einen Täter zutage, der sich selbst in die Lage gebracht hat, in der ihn seine Affekte zu einer Tat trieben, die er auch in diesem Moment noch hätte unterlassen können. Die Ergebnisse, die Clarus im nächsten, mit »Bei der Untersuchung des Inquisiten« betitelten Abschnitt präsentiert, bestätigen dies.12 Clarus konzediert dort, dass er bei dieser zweiten Reihe von Unterredungen einen anderen Woyzeck vor sich hatte als beim ersten Mal: »Das gleichgültige, kalte, rauhe und verwilderte Wesen, das ich früher an ihm beob––––––––– 12 In der Einleitung zu diesem Abschnitt schildert der Gutachter Clarus ausführlich, wie
er den Begutachteten darüber aufklärt, was es mit den Unterredungen auf sich hat. Er ermahnt ihn, »um seines eignen Vortheils willen die reine Wahrheit zu sagen«, macht ihm deutlich, dass er selbst »nicht im Stande« sei, »zu beurtheilen, was für Folgerungen« aus seinen Aussagen »gezogen werden könnten« usw. (Cl 31f.; MBA 7.2, S. 271f.) Die Frage nach der Subjektposition von Woyzeck im Gutachten müsste auch diese eigentümliche Interaktionssituation zwischen Gutachter und Begutachtetem (die im zweiten Gutachten einen ganz anderen Stellenwert hat als noch im ersten Gutachten) einbeziehen. Eine genauere Analyse dieser Interaktionssituation, in der das Verhältnis zwischen Verhörendem und Verhörtem im Rahmen eines rechtlichen Gehörs in das Verhältnis zwischen Begutachtendem und Begutachtetem im Rahmen einer sogenannten »Unterredung« übergeht, würde einen eigenen Aufsatz verlangen; vgl. aber bereits die Bemerkungen von Campe: Johann Franz Woyzeck (s. Anm. 3), S. 218. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Subjektposition des Begutachtetwerdens in der Logik des Verhörs von Anfang an impliziert ist; vgl. Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München 2003, insbes. S. 242–265.
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achtete, hat sich verloren. Er hat Zeit und Aufforderung gefunden, einen ernsthaften Blick in sein Inneres, auf Vergangenheit und Zukunft zu werfen; die Reue ist in ihm erwacht und mit ihr die Liebe zum Leben.« (Cl 36; MBA 7.2, S. 273.) Man könnte sagen: Er ist wieder einer der Unsrigen. Umso weniger wahrscheinlich ist es allerdings, dass ihm Unzurechnungsfähigkeit attestiert wird. Die Mitteilungen, die Woyzeck nunmehr bereitwillig macht,13 zeigen, dass wir die Vorgeschichte der Tat, dass wir die Lage Woyzecks und seine Motive ohne weiteres nachzuvollziehen vermögen. Das gilt nicht nur für seine trübe Gemütsstimmung oder den ohnmächtigen Jähzorn, mit dem er auf immer neue Kränkungen reagierte, es gilt auch – mit ein wenig medizinischer Hilfestellung – für jene Symptome geistiger Verwirrtheit, deren Bekanntwerden diese medizinische Untersuchung und dieses Gutachten nötig gemacht haben. Denn mit all diesen Symptomen steht er nicht allein, sondern in bester Gesellschaft mit Leuten bei klarem Verstand, die keinen Mord auf dem Gewissen haben. Das gilt für die ungegründeten, aber begreiflichen und verbreiteten Ängste vor den Freimaurern ebenso wie für die große Bedeutung, die Woyzeck wie viele Grübler seinen Träumen beimisst. Es gilt für das »Brausen oder Zischen vor den Ohren« und andere Kennzeichen für eine sogenannte »venöse Constitution« (Cl 57; MBA 7.2, S. 282). Es gilt aber auch für die Stimmen, die Woyzeck bisweilen gehört hat. Sie sind keine Halluzinationen, keine Wahngebilde, sondern Sinnestäuschungen, hypochondrische Fehlinterpretationen von Geräuschen etwa, oder sogar die metaphorische Stimme des Gewissens: Wenn Woyzeck beim Kauf der Degenklinge eine Stimme hört: »S t i c h d i e F r a u W o o s t i n t o d t«, so ist das bei jemandem wie Woyzeck, der häufig Selbstgespräche führt, nichts weiter »als der lebhaft erwachende Vorsatz« zur Tat, während die zweite Stimme, die »d u t h u s t e s n i c h t« sagt, eben die »Stimme des Gewissens« ist (Cl 66f.; MBA 7.2, S. 285). Darüber hinaus kann man den Aussagen Woyzecks selbst entnehmen, dass die Seelenzustände, die als Verstandeszerrüttung interpretiert werden könnten, in den Wochen vor der Tat nicht vorgelegen haben. ––––––––– 13 In den Unterredungen, die zum ersten Gutachten geführt hatten, sei er hingegen
»noch desperat« gewesen, habe »kein Zutrauen zu den Menschen gehabt« und sich von ihnen »verfolgt« gefühlt (Cl 37; MBA 7.2, S. 274).
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Woyzeck selbst behauptet keineswegs, dass er von diesen Stimmen zur Tat aufgefordert worden sei. Es sei vielmehr, so Clarus zusammenfassend, »nach allen Umständen bei der That selbst anzunehmen, daß d a s Uebergewicht der Leidenschaft über die Vernunft d i e e i n z i g e T r i e b f e d e r d e r s e l b e n g e w e s e n s e y « (Cl 89; MBA 7.2, S. 294). Und welche Triebfeder kennten wir besser als diese? Welche könnten wir besser nachvollziehen? Nicht umsonst spricht Clarus von den »g e w ö h n l i c h e n, le i d e n s c h a f t l i c h e n M o t i v e [n]« (Cl 71; MBA 7.2, S. 287). Damit liegt die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks für Clarus klar zutage. Das von Clarus vertretene Konzept der Zurechnungsfähigkeit beharrt, wie schon gesagt wurde, auf dem Rechtsstandpunkt. Woyzeck fällt unter das Gesetz. Man kann dieses Konzept als kantisch bezeichnen. »P e r s o n« ist nach Kant »dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Z u r e c h n u n g fähig sind«, und »T a t heißt eine Handlung, […] sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird«.14 Nur freie Handlungen sind rechtlich relevant. Und eine Handlung ist dann frei, wenn man auch anders gekonnt hätte. Das entscheidet der Gutachter. Und man hat anders gekonnt, wenn es – so der Gutachter Clarus – weder ein »Hinderniß für den freien Gebrauch des Verstandes« gegeben hat noch einen direkten, unabweislichen »Antrieb zu der That selbst« (Cl 68; MBA 7.2, S. 286). Entscheidend ist, dass es nach dem von Clarus vertretenen Rechtsstandpunkt nur ein Entweder-Oder geben kann. Es gibt keine Grade der Zurechnungsfähigkeit. Es sei in seinem Gutachten, so Clarus, »nicht von der L e i c h t i g k e i t oder S c h w i e r i g k e i t, sondern von der M ö g l i c h k e i t oder U n m ö g l i c h k e i t leidenschaftlichen Antrieben zu widerstehen, die Rede« (Cl 70; MBA 7.2, S. 287). Damit weist er dem gerichtspsychiatrischen Gutachten auch einen eindeutigen institutionellen Ort zu. Zwar können »T e m p e r a m e n t s f e h l e r« wie der von Woyzeck nichts über die Zurechnungsfähigkeit besagen; ob sie aber »nicht blos die m o r a l i s c h e, sondern die l e g a l e Schuld eines Vergehens vermindern«, möchte Clarus »r i c h t e r l i c h e m Ermessen ––––––––– 14 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Hamburg. 4. Aufl. 1922,
S. 26.
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anheimstellen« (ebd.). Die Frage nach der Schwere der Schuld ist für ihn also konsequenter Weise eine Frage des Richters, nicht des Gutachters.15 Der Richter kann bei der Bewertung der Schuld verschiedene Faktoren berücksichtigen, die eine Milderung der Strafe nach sich ziehen können. Neben dem Temperamentsfehler Woyzecks könnten auch seine bedrückende soziale Lage, die erlittenen Kränkungen und sein affektiver Zustand bei der Tat berücksichtigt werden. Aber: Wie das zu geschehen hätte, kann keine Regel festschreiben, auch wenn es nicht vollkommen regellos geschieht. Es geschieht also auf der Basis einer allgemeinen und diffusen Bewertung des delinquenten Subjekts und seiner Lebensweise, von der sich die Vertreter der Rechtsinstitution ein Bild machen. Daher erfüllt das Gutachten von Clarus eine Doppelfunktion. Es erklärt Woyzeck nicht nur für zurechnungsfähig, sondern liefert zugleich auch Material für eine Bewertung der Person.16 Man könnte sagen, dass das Gutachten im Fall Woyzeck den Begutachteten erklärt. An Woyzeck bleibt nichts Unerklärliches. Sein Fall wirft für Clarus keine Fragen auf, denn das Rätsel des Triebes, das Michel Foucault zufolge in Gestalt einiger monströser Verbrecherfiguren in jener Zeit »der Anlaß für die Ingangsetzung und Formierung der gesamten Gerichtsmedizin«17 gewesen ist, gibt es bei Woyzeck nicht. Die Kritiker von Clarus wollten aus der im Gutachten herausgestellten »Stringenz der psychisch bedingten Motivlage« auf Woyzecks Unzurechnungsfähigkeit schließen. In der »psychisch verstärkten und damit geschlossenen Motivationskette« erkannten sie einen »Zwang zur Tat«. Aber wenn diese Zwangsläufigkeit verstehbar ist, ist sie – im Prinzip – auch für den Täter verstehbar. Und wo es »Verstehen gibt, gibt es [...] die Möglichkeit, anders zu entscheiden«.18 Ein Täter, in den man sich ganz ––––––––– 15 Vgl. zu der Diskussion um die Frage nach der Möglichkeit gradueller Unzurech-
nungsfähigkeit ausführlich Ylva Greve: Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der »Criminalpsychologie« im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2004. 16 Vgl. zu den das gesamte Leben des Delinquenten betreffenden Informationen, die ein gerichtsärztliches Gutachten enthalten solle, Johann Christian August Heinroth: System der psychisch-gerichtlichen Medizin. Leipzig 1825, S. 482–488. 17 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Frankfurt a. M. 2007, S. 138f. Vgl. auch Michael Niehaus: Das verantwortliche Monster. In: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hrsg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 81–102, insbes. S. 87f. 18 Campe: Johann Franz Woyzeck (s. Anm. 3), S. 233.
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und gar hineinversetzen kann, kann im strengen Sinne eigentlich nicht unzurechnungsfähig sein. Rüdiger Campe hat diesen Sachverhalt in die Formulierung gebracht: »Wer Indizien für Unzurechenbarkeit sucht, sucht also nach Gründen, die zur Tat führen, wie auch nach einem Punkt der Unmöglichkeit, die Tat aus Gründen abzuleiten.«19 Diesen Punkt der Unmöglichkeit gibt es für Clarus im Fall Woyzeck nicht. Das Gutachten ist insofern ein voller Erfolg, weil es gelungen ist, die Tat aus Gründen abzuleiten. Es wird von keinem Punkt der Unmöglichkeit irritiert. Es liegt in der Logik des Gutachtens, dass die Freiheit Woyzecks rein formal ist. Denn Clarus muss ja auf Woyzeck gewissermaßen mit dem informierten Auge dessen blicken, der weiß, dass es so kommen musste. Und letztlich ist die moralische Verurteilung des Begutachteten die Kehrseite des reinen Rechtsstandpunktes. Denn dieser muss durch die Behauptung ergänzt werden, dass das Subjekt die auf die Tat zulaufende Zwangsläufigkeit – irgendwie – selbst verschuldet hat. Unter dem Strich droht das begutachtete Subjekt dabei – wie man sagen könnte – seine Würde zu verlieren.
III. In welchem Verhältnis steht nun der Woyzeck im Dramenfragment Büchners zu dem Woyzeck des Gutachtens? Wie hebt er sich von ihm ab? Zunächst ist noch einmal zu betonen, dass sich Büchners Woyzeck nicht als die Freilegung eines irgendwie wirklichen Woyzeck auffassen lässt, den das Gutachten mit seiner verzerrenden Darstellung verdeckt hätte. Dass Büchner im Woyzeck nicht auf die Rekonstruktion einer historischen Figur zielt, ist angesichts der vielen Umänderungen, die er vornimmt, trivial. Büchners Woyzeck realisiert aber auch nicht – wie man noch sehen wird – einen Typus, einen Vertreter oder ein Exemplar einer bestimmten Schicht, den es in der Wirklichkeit gibt. Oft wird zur Erklärung dieses zuvor unerhörten Dramenprotagonisten ein von Büchner dem Dichter Lenz in den Mund gelegtes Zitat aus dem sogenannten »Kunstgespräch« der gleichnamigen Erzählung angeführt: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum ––––––––– 19 Ebd.
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bemerkten Mienenspiel.«20 Wenn Büchner dies in seinem Woyzeck realisiert, dann evoziert er zugleich den Grund dafür, aus dem man sich in ein solches Leben versenken kann und soll: weil dieser Geringste ein Fall geworden ist, der genaueste Beobachtung erfordert. Vor eben diesem Hintergrund muss man Büchners Woyzeck als Einspruch gegen den Woyzeck von Clarus sehen. Denn auch Clarus hatte in seinem Gutachten den Auftrag, sich mit dem Leben eines Geringsten zu beschäftigen. Er hat es – der Textsorte und den institutionellen Rahmenbedingungen entsprechend – getan, ohne sich in ihn zu ›senken‹ oder zu versenken. Büchner erhebt mit seinem Drama Einspruch gegen die Subjektposition, in die das Gutachten von Clarus den begutachteten Johann Christian Woyzeck versetzt. Und zwar erhebt er Einspruch nicht gegen das Ergebnis des Gutachtens, sondern gegen die Form der Darstellung, gegen die Position, von der aus es spricht. Insofern es sich um einen Einspruch handelt, hat die im Gegenzug von Büchner gewählte Form der Darstellung, in der der Geringste als solcher vor Augen gestellt wird,21 auch eine rhetorische Dimension. Es ist nun leicht gesagt, dass das Drama auf dieser Ebene ein Einspruch gegen das Gutachten als solches sein soll. Wie lässt sich das umsetzen? Was kann es hier überhaupt heißen, sich in einen Geringsten zu versenken? Die Einspruchsmöglichkeit beruht ja darauf, dass das Gutachten und die literarische Darstellung in einem Konkurrenzverhältnis stehen, dass sie eine strukturelle Affinität zueinander haben. Es gibt eben – seit Büchner – in unserer Kultur letztlich genau diese beiden diskursiven Orte, wo der Geringste in erschöpfender Weise zur Darstellung kommen kann. Das »Leben des infamen Menschen«, wie Foucault es genannt hat,22 scheint nur auf, wenn es für einen Moment mit der Macht zusammenstößt und aktenkundig wird – und in der Folge dann, wenn die Literatur sich seiner annimmt. Insofern sind die gutachterliche Darstellung und die literarische Darstellung ungewollte Zwillingsbrüder, die sich gegenseitig in ein zweideutiges Licht tauchen. Beide wollen sie ––––––––– 20 P I, S. 234; als Beweggrund Büchners für Woyzeck zitiert ebd., S. 705. 21 Nicht zuletzt dieses Vor-Augen-stellen ist ausschlaggebend dafür, dass die Bearbei-
tung des Falls im Drama zu erfolgen hat (und nicht, wie bei Lenz, in einer Erzählung). 22 Vgl. Michel Foucault: Das Leben des infamen Menschen. In: Schriften in vier Bänden. Frankfurt a. M. 2003, Bd. III, S. 309–332.
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das Leben des infamen Menschen als eine Geschichte erzählen, die für sich selbst spricht. Um Einspruch gegen die Textsorte Gutachten zu erheben, genügt es daher nicht, ein anderes Gutachten zu verfassen – ein mitfühlendes Gutachten, wo jenes unbeteiligt war; ein gerechtes, wo jenes ungerecht war; ein unparteiisches, wo jenes parteiisch war; ein weiches, wo jenes hart war; ein abgestuftes, wo jenes kategorisch war. Man muss stattdessen die geheime Komplizenschaft zwischen Literatur und Gutachten aufkündigen. Die Literatur kann nur zu einem »Gegendiskurs« werden, wenn sie zu einer Darstellung gelangt, in der es sich als unmöglich erweist, ein Gutachten abzugeben.23 Diese Unmöglichkeit wird in Büchners Woyzeck auf unterschiedlichen Ebenen und auf vielfache Weise erzeugt, wie nunmehr abschließend (und ohne Anspruch auf Systematik) ausgeführt werden soll.24 Erstens präsentiert das Drama den Protagonisten nicht, wie das Gutachten, in der Logik einer Lebensgeschichte bzw. eines Werdegangs, sondern es zeigt ihn in einer zusammengesetzten Situation. Das hängt natürlich einesteils damit zusammen, dass es nur die letzte Phase von Woyzecks Getriebensein zum Mord zeigt, wie in der ersten Entwurfsstufe, die sich ganz auf die unausweichlich zur Tat hinführende Eifersuchtshandlung konzentriert, besonders deutlich wird. Es ist aber bezeichnend, dass die übrigen Szenen, die später hinzukommen und für die Verankerung des Eifersuchtsgeschehens sorgen, nicht so ohne weiteres ––––––––– 23 Vgl. Armin Schäfer: Biopolitik. In: Büchner-Handbuch, S. 176–181: »Büchner führt in
›Woyzeck‹ keinen juridischen, medizinischen oder psychiatrischen Diskurs, sondern fingiert Äußerungen, die einem ›Geringsten‹ [...], der sonst in diesen Diskursen stumm bleibt oder in indirekter Rede spricht, eine Stimme verleihen. Insofern übernimmt die Literatur hier die Funktion eines Gegendiskurses, in dem die Aussageregeln der Justiz, der Medizin und der Psychiatrie nicht greifen […].« (S. 180) Die Frage ist eben, unter welchen Prämissen sich ein solcher Gegendiskurs überhaupt realisieren kann. 24 Elias Canetti hat in seiner Büchner-Preis-Rede versucht, das hier waltende Darstellungsproblem des »Geringen« mit dem Begriff des »Erbarmens« zu beschreiben: Nur »wenn das Erbarmen verborgen bleibt, wenn es stumm ist, wenn es sich nicht ausspricht, ist das Geringe intakt. Der Dichter, der sich mit seinen Gefühlen spreizt, der das Geringe mit seinem Erbarmen öffentlich aufbläst, verunreinigt und zerstört es. […] In dieser Keuschheit fürs Geringe ist bis zum heutigen Tag niemand mit Büchner zu vergleichen.« (Elias Canetti: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1972. In: Büchner-Preis-Reden 1972-1983. Stuttgart, S. 18–31, hier S. 30)
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chronologisch eingeordnet werden können, da sie eben nicht Stationen eines Werdegangs sind, sondern die existenzielle Situation aufspannen, in der sich Woyzeck befindet. Wohin beispielsweise die Szene »Der Hof des Professors« (H3,1; MBA 7.2, S. 20) aus dem sogenannten Ergänzungsentwurf gehört, die Woyzeck in der Doppelfunktion als Faktotum und Proband zeigt, ist ganz unklar. Auch die Szenen, in denen Woyzeck den Hauptmann rasiert und den Doktor trifft, lassen sich isoliert gesehen nicht unbedingt chronologisch einordnen. Durch diese Zusammengesetztheit der Situation wird es auch möglich, Elemente aus dem Leben Daniel Schmollings einzubeziehen. Dieses Vorgehen führt natürlich zweitens dazu, dass Begebenheiten, die im Gutachten von Clarus in zeitlichem Abstand zueinander stehen, plötzlich als gleichzeitig zu denken sind. Das gilt vor allem für die Tätigkeiten Woyzecks. Im Gutachten ist Woyzeck jemand, der nur selten Gelegenheitsarbeiten ausführt und meist herumlungert. Im Drama führt Woyzeck diese Gelegenheitsarbeiten (und noch mehr) alle zu gleicher Zeit aus, so dass er im Gegenteil eine atemlose Existenz führt und, wie der Hauptmann sagt, »immer so verhetzt« (H4,5; MBA 7.2, S. 25) aussieht: Er schneidet Stöcke für den Hauptmann und rasiert ihn, er ist Proband für den Doktor, er geht dem Professor zur Hand, er unterstützt seine Geliebte Marie und ihr Kind. Anders als im traditionellen Drama, wo die dramatischen Ereignisse sich auf einen Tag verdichten, findet hier eine Verdichtung der Existenzform des Protagonisten statt. Für Woyzeck als einen »Geringsten« verkehrt sich, wie man sagen könnte, der Alltag aus der Perspektive des Bürgersohnes Büchner auch ohne die Eifersuchtshandlung in eine Art permanenten Ausnahmezustand, der den Rechtsstandpunkt – und mit ihm die moralische Beurteilung – von vorn herein als unangemessen erscheinen lässt. Drittens nimmt das Drama die Situation des Begutachtetwerdens, der der historische Woyzeck als Folge unterworfen wird, – wie vielfach bemerkt worden ist – in die Vorgeschichte der Tat hinein und reflektiert sie. Schon vor der Tat wird Woyzeck als »interessanter casus« bezeichnet, wird ihm eine »fixe Idee«, und »die schönste aberratio, mentalis partialis« bescheinigt (H4,8; MBA 7.2, S. 27). Woyzeck ist auf verschiedenen Ebe-
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nen Gegenstand des Experimentierens,25 wobei für die Gesamtkonzeption des Dramas besonders bedeutsam ist, dass auch die Eifersuchtshandlung mit dem Thema des Experiments verknüpft wird: Der Hauptmann und der Doktor setzen den zuvor vertrauensseligen Woyzeck von seinem Nebenbuhler in Kenntnis, stellen dann fest, dass er »kreideweiß« ist, und der Doktor untersucht sogleich seinen Puls, begutachtet seine Gesichtsmuskeln und nimmt dessen wunderliche Reden als ein Symptom, weshalb er ihm – als einem »Phänomen« – eine »Zulage« geben möchte (H2,7; MBA 7.2, S. 18). Dieses Experimentierverhalten ist aber nicht systematisch, und es ist keine konzertierte Aktion. Es wird satirisch behandelt. Diagnosen werden auf lachhafter Grundlage, aus dem Stand und als Zeitvertreib gestellt. Die beobachtenden und begutachtenden Instanzen wirken im Drama nicht weniger verhaltensauffällig als ihr Beobachtungsgegenstand. Johannes Lehmann attestiert ihnen denn auch einen »experimentellen Beobachtungswahn«.26 Es ist mithin eine bloße Frage des Zufalls bzw. der Macht, wer in die Position des Gutachters und wer in die Position des Begutachteten gerät. Viertens. Auch die theoretische Voraussetzung der Zurechnungsfähigkeit wird in die Vorgeschichte hineingenommen. Dabei wird die kategoriale Unterscheidung von Mensch und Tier bemüht, die ja auf der anderen Seite durch die Experimentalanordnungen gerade relativiert wird. Der Doktor erklärt Woyzeck, nachdem dieser »auf die Straß gepißt« hat »wie ein Hund«, »der Mensch ist frei, im Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit« (H2,6; MBA 7.2, S. 16). Umgekehrt ist das »astronomische Pferd« durch »Erziehung« (H2,3; MBA 7.2, S. 14) kein »viehdummes Individuum« mehr, sondern »eine Person« (H1,2; MBA 7.2, S. 3). Solche satirischen Elemente dienen dazu, die Kategorien außer Kraft zu setzen, ohne die kein Gutachten über eine Person erstellt werden kann. Sie dienen schließlich fünftens und entscheidend dazu, die Frage nach der Natur des Menschen als einer geschaffenen Kreatur ins Spiel zu bringen. Erst über diese Ebene gelingt es Büchner, seinem Protagonisten ––––––––– 25 Vgl. dazu ausführlich Nicolas Pethes: ›Viehdummes Individuum‹, ›unsterblichste Experi-
mente‹. Elements for a Cultural History of Human Experimentation in Georg Büchner’s Dramatic Case Study »Woyzeck«. In: Monatshefte 98/2006, S. 68–82. 26 Johannes Lehmann: Erfinden, was der Fall ist: Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil. In: Zeitschrift für Germanistik 2/2009, S. 361–380, hier S. 372.
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eine Subjektposition zuzuordnen, die sich dem Begutachtetwerden vollends entzieht. Sie hängt zusammen mit der religiösen Ebene des Dramas, die sich schon in den apokalyptischen Anklängen und den Hinweisen auf das Jüngste Gericht in der ersten Szene ankündigt. »Woyzecks Wahn artikuliert sich als Angst des gefallenen Menschen vor dem Zorn Gottes und den Freimaurern.«27 Für das Clarus-Gutachten sind diese Anwandlungen des historischen Woyzeck bloße Symptome. Bei Büchners Woyzeck wird daraus ein das ganze Drama mit biblischen Verweisen durchsetzender Ernst.28 Man kann sagen, dass das Drama die Sicht Woyzecks auf die gefallene Welt teilt, indem es sie unwidersprochen lässt und insofern eine Welt vor Augen stellt, die aus den Fugen ist. Wenn Woyzeck zu sich selbst mit erstickter Stimme spricht: »Warum bläßt Gott nicht [die] Sonn aus, daß Alles in Unzucht sich übernanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh« (H4,11; MBA 7.2, S. 30), so korrespondiert dies Maries Bitte zu Gott, er möge sie von der Sünde abhalten, weil sie selbst es nicht vermag (vgl. H4,16; MBA 7.2, S. 31f.). Und die Tat Woyzecks korrespondiert Maries Monolog, »ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen. – Ach! Was Welt? Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.« (H4,4; MBA 7.2, S. 24) Dadurch befindet sich Woyzeck in der Position dessen, der eben nicht nur Objekt ist – Gegenstand von Spott, von Experimenten, von Beobachtungen, von Begutachtungen –, sondern in ausgezeichneter Weise Subjekt. In der älteren Büchnerforschung hört man etwa, Woyzeck sei kein »Proletarier« sondern »ein Armer in dem viel umfassenderen und tieferen Sinne, den das Christentum dem Wort verliehen hat«; aber auch damit wird das Geschehen im Drama als ein »Martyrium« vorgestellt, das die Titelfigur bloß erleidet.29 Egon Krause hat im Anhang zu seiner WoyzeckAusgabe versucht, Woyzeck in eine Nähe zu Christus zu rücken. Er ver––––––––– 27 Ebd., S. 373. 28 Vgl. für die Omnipräsenz des Religiösen in Büchners Schriften Christian Soboth:
Religion. In: Büchner-Handbuch, S. 156–161. Eine eingehende Untersuchung des Woyzeck-Fragments im Hinblick auf die darin anklingenden Bibelstellen findet sich bereits in der von Egon Krause besorgten Woyzeck-Ausgabe (Frankfurt a. M. 1969), vgl. S. 205–233. 29 Wolfgang Martens: Zum Menschenbild Georg Büchners. »Woyzeck« und die Marionszene in »Dantons Tod«. In: Georg Büchner. Wege der Forschung. Hrsg. v. Wolfgang Martens. Darmstadt 1965, S. 373–386, hier S. 383f.
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knüpft dies mit der Theorie, dass sich Büchner im Laufe der Arbeit am Drama von Woyzeck als Mörder – als Täter also – zunehmend entferne. In der letzten gestalteten Szene (H4,17), in der Woyzeck sein Hab und Gut an Andres übergibt, traut er ihm sogar zu, »eine geistige Entscheidung in dem Alter [zu] vollziehen, in welchem Christus starb, um eine Erlösung der Menschen zu erwirken. Woyzeck spricht nicht mehr von dem Messer oder von einer Ermordung.«30 Dies hat seinerzeit Polemiken auf den Plan gerufen. So stellt Bernd Dieter Niebuhr seine Auseinandersetzung mit Krause unter die Überschrift: »Woyzeck – ChristusDrama oder Drama eines Opfers seiner ökonomisch-sozialen UmweltBedingungen?«31 Diese Alternative ist grundlegend falsch, weil die Täterschaft Woyzecks in beiden Fällen aus dem Blick gerät. Wenn man sagen kann, dass »Woyzeck ein Leidender« ist, der »als Einziger die Last auf sich nimmt«, so gerade deshalb, weil sein »Opfer« eine Tat ist.32 Nur deshalb kann Büchners Woyzeck, wie Johannes Lehmann sagt, in einer »pervertierten Christusnachfolge« stehen.33 Anders als das Gutachten von Clarus beschäftigt sich das Drama mit dem subjektiven Sinn, den der Täter dieser Tat beilegt. Woyzecks Tat hat bei Büchner nicht nur ein Motiv, sie erfährt zugleich auch eine Begründung. Dass Woyzeck zur Tat getrieben wird, ist nur die eine Seite, zugleich führt er sie als eine Art Auftrag aus und nimmt sie damit auf sich. Mit den Worten »Margreth, wir wollen gehen s’ist Zeit« (H1,14; MBA 7.2, S. 9), kündigt Louis alias Woyzeck schon im ersten Entwurf seine Tat an. Er bestraft seine Geliebte; er reagiert nicht nur, sondern antwortet damit – stellvertretend – auf die Verfassung der Welt. Es ist diese subjektive Dimension, für die die Textsorte Gutachten zwangsläufig blind bleibt. Wer sich in dieser Weise in den subjektiven Sinn einer Tat versenkt, kommt zu einem Text und damit zu einem Drama, das ebenso zurechenbar oder nicht zurechenbar ist wie diese.
––––––––– 30 Anhang zu: Georg Büchner: Woyzeck (s. Anm. 28), S. 224. 31 Bernd Dieter Niebuhr: Das politische Missverständnis Georg Büchner. Eine Interpretation sei-
ner Werke. Clausthal-Zellerfeld 1977, S. 241.
32 J. Lehmann (s. Anm. 26), S. 372. 33 Ebd., S. 373.
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Weltanschauung und Interpretation – Versuch einer systematischen Rekonstruktion mit Blick auf Deutungen der WoyzeckEntwürfe Georg Büchners Von Carolina Kapraun und Per Röcken (Marburg) Die Büchner-Bilder1 der letzten 150 Jahre haben sich immer wieder ––––––––– 1
Vgl. z. B. Bo Ullman: Der unpolitische Georg Büchner. Zum Büchnerbild der Forschung, unter bes[onderer] Berücksichtigung der »Woyzeck«-Interpretationen. In: Studier i modern språkvetenskap [Stockholm] 4 (1972), S. 86–130; Jost Hermand: Der Streit um »Leonce und Lena«. In: GBJb 3 (1983), S. 98–117, bes. S. 112–114; ders.: Extremfall Büchner. Versuch einer politischen Verortung. In: Monatshefte 92.4 (2000), S. 395–411; Jan-Christoph Hauschild: Büchner-Bilder. In: Peter Petersen, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): Büchner-Opern. Georg Büchner in der Musik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 33–40, hier S. 40 sowie Herbert Wender: Büchnerbilder der Literaturwissenschaft. In: Ebd., S. 41–56. – Eine ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Lektüre zu diesem Thema ist Thomas Michael Mayers Aufsatz Jan-Christoph Hauschilds Büchner-Biographie(n). Einwendungen zu Methode, Ergebnissen und Forschungspolitik. In: GBJb 9 (1995–99) [2000], S. 382–500, bes. S. 438– 443 sowie S. 465–475; vgl. auch die entsprechenden Passagen in Erika Gillmann, Thomas Michael Mayer u. a. (Hrsg.): Georg Büchner an »Hund« und »Kater«. Unbekannte Briefe des Exils. Marburg 1993 [= GBHK]. – Mayers eigene, die Diskussion spätestens seit Ende der 70er Jahre maßgeblich bestimmende Position findet sich entwickelt in dessen Studie Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: GB I/II, S. 16–298, bes. S. 19–158 (»Georg Büchner – Spätjakobiner oder Frühkommunist?«); vgl. auch ders.: Umschlagporträt. Statt eines Vorworts. In: Ebd., S. 5–15; kritisch hierzu Heinz Wetzel: Ein Büchnerbild der siebziger Jahre. Zu Thomas Michael Mayer: »Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie«. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Georg Büchner III. München 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik) [= GB III], S. 247–264. – Vgl. auch Helmut Müller-Sievers: Büchner-Cult. In: Modern Language Notes 112/3 (1997), S. 470– 485 und Walter Schmitz: »Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden«. Umpolung eines Forschungsfeldes: Zur Büchner-Forschung seit den siebziger Jahren. In: Silvio Vietta, Dirk Kemper (Hrsg.): Germanistik der siebziger Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie. München 2000, S. 219–267 sowie die verstreuten Hinweise bei Gideon Stiening: »Der Dichter jedoch, der Denker und Revolutionär Georg Büchner läßt sich nicht aufteilen.« Hans Mayer interpretiert Büchner. In: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 4 (2008), S. 305–322.
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gegeneinander verschoben. Mit ›Bild‹ ist hierbei die Summe allen Wissens, aller Annahmen und Spekulationen eines Interpreten zum (empirischen) Autor gemeint, einschließlich der »Erinnerung an die Lektüreerfahrung und d[er] Rückschlüsse auf den Autor« aufgrund seiner Texte.2 Neben den unausgesetzt revolutionär gesinnten politischen Aktivisten Büchner, den uneingeschränkten Befürworter der Französischen Revolution, den engagierten Sozialisten, Frühkommunisten oder Demokraten tritt hier der resignierte metaphysische Determinist oder Fatalist Büchner, der Apologet christlicher Leidensethik, der nihilistische bzw. ›heldische‹ Pessimist, der volksromantische Vitalist oder der jenseits aller sozialen Zwecke stehende Ästhetizist und Sprachkünstler.3 Das Spektrum ist breit. Fast schon kontrapunktisch lassen sich die Büchner jeweils zugeschriebenen Haltungen aufeinander beziehen. Oft sind hiermit weniger Aussagen über die historische Person gemacht als vielmehr über denjenigen, der das entsprechende Autorbild vertritt. Nicht abwegig sind daher Jost Hermands Feststellung: »hier steht bis heute Ideologie gegen Ideologie«4 und Jan-Christoph Hauschilds hellsichtiges Aperçu: »Büchner, das sind wir selber.«5 Die hier andeutungsweise beschriebene Praxis gibt einen Hinweis darauf, dass das autorbezogene Konzept der Weltanschauung – man könnte auch sagen: das der konvergenten Sichtweisen, Meinungen, Einstellungen, Ansichten, »Grundsätze«,6 Haltungen oder Überzeugungen – eines Autors, irgendwie von Relevanz für literaturwissenschaftliche Verfahren ist. Immer wieder wird gefragt,7 wie Büchner politisch oder sozial han––––––––– 2 3 4 5 6
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Fotis Jannidis: Autor, Autorbild und Autorintention. In: editio 16 (2002), S. 26–35, hier S. 27. Vgl. nur Wender: Büchnerbilder (s. Anm. 1), S. 45f. und Silvio Vietta: Sprachkritik bei Büchner. In: GBJb 2 (1982), S. 144–156, hier S. 153. Hermand: Extremfall (s. Anm. 1), S. 395. Hauschild: Büchner-Bilder (s. Anm. 1), S. 40. Diesen Ausdruck gebraucht Büchner selbst im Brief an die Familie vom Juni 1833 (Briefwechsel, S. 23): »Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in n e u e r e r Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeyführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der E i n z e l n e n vergebliches Thorenwerk ist.« Vgl. u. a. Mario Carlo Abutille: Angst und Zynismus bei Georg Büchner. Bern 1969, bes. S. 30–41 (»Büchners Weltanschauung«); Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk [1975]. 3. Aufl. Königstein im Taunus 1979, S. 75–135 (»Büchners politische Anschauungen«); Maurice B. Benn: The
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delte, wie er sich positionierte, wer oder was ihn beeinflusste, wie er zeitgenössische Sachverhalte oder das von ihm literarisch Dargestellte bewertete bzw. bewertet wissen wollte, um dadurch Aufschlüsse über die Bedeutung des zu interpretierenden Textes zu erhalten. Dem liegt zuweilen die Prämisse zu Grunde, dass man Büchners Texte nur dann richtig verstehe, wenn man dies aus Büchners eigener Gesinnung heraus tue. Die Relevanz einer solchen (autorbezogen-intentionalistischen) Interpretationsmethode – alternativ könnte man auch von einer »Argumentationsweise« sprechen8 –,die auf der Rekonstruktion der Weltanschauung des Autors gründet (oder darauf abzielt), ist Thema des folgenden Beitrags. Dabei soll hier nicht im Sinne einer Ideologiekritik nach der weltanschaulichen Vereinnahmung und Aneignung Büchners durch seine Interpreten gefragt werden. Dementsprechend geht es also auch nicht um eine historische Rekonstruktion und Kritik bereits kursierender Zuschreibungen oder gar um einen weiteren Versuch einer weltanschaulichen Interpretation der Woyzeck-Fragmente.9 Im Zentrum unserer Überlegungen steht stattdessen eine grundsätzliche Rekonstruktion des Verfahrens, sich bei der Bedeutungsermittlung eines Textes auf die Weltanschauung des Autors zu beziehen. Gefragt werden ––––––––– Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. Cambridge 1976, bes. S. 4–102; Wolfgang Witkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. Heidelberg 1978; Theo Buck: »Man muß die Menschheit lieben«. Zum ästhetischen Programm Georg Büchners. In: GB III (s. Anm. 1), S. 15–34; Bernhard Görlich, Anke Lehr: Materialismus und Subjektivismus in den Schriften Georg Büchners. In: Ebd., S. 35–62; M. Šmuloviÿ: Georg Büchners Weltanschauung und ästhetische Ansichten [1963]. In: Ebd., S. 195–215; Friedrich Sengle: Georg Büchner (1813–1837). In: Ders.: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. III. Stuttgart 1980, S. 265– 331; Albert Meier: Georg Büchners Ästhetik. In: GBJb 2 (1982), S. 196–208; Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. Berlin und Weimar 1983 [31988], bes. S. 58–90; Terence M. Holmes: Georg Büchners »Fatalismus« als Voraussetzung seiner Revolutionsstrategie. In: GBJb 6 (1986/87), S. 59–72; Soon-Nan Chang: Politik, Philosophie und Dichtung in Georg Büchners Lebenspraxis. Diss. Freie Universität Berlin 1988. 8 Vgl. Harald Fricke: Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen! Überlegungen zur Konkurrenz wissenschaftlicher Standards in der Literaturwissenschaft. In: Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Stuttgart 1991, S. 211–227. 9 Insbesondere werden wir der »Herausforderung« – Hermand: Extremfall (s. Anm. 1), S. 396 – widerstehen, unsererseits »ein Bekenntnis abzulegen, von welchem Büchnerbild« wir uns »am meisten angezogen« fühlen.
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soll aus analytischer10 – und das heißt hier: terminologischer und methodologischer – Perspektive nach den Voraussetzungen von Interpretationen, die sich in irgendeiner Weise auf das im Folgenden näher darzustellende Konzept der Weltanschauung beziehen. Es geht also unter anderem darum, zu zeigen, ob – und falls ja –, warum, wozu und wie welche Informationen herangezogen werden und was genau derjenige tut, der sich im Rahmen einer Interpretation implizit oder explizit auf ein Konzept von Weltanschauung bezieht. Es kann uns dabei um nicht mehr gehen, als um eine deskriptive, exemplarisch entwickelte »übersichtliche Darstellung«11 wenigstens eines Teilbereichs philologischer Praxis. Unser Vorgehen wird primär darauf abzielen, ein Problembewusstsein zu schaffen und einige (theoretische, methodologische und terminologische) Voraussetzungen zu klären. Möglicherweise ergeben sich daraus dann – im Sinne einer ›therapeutischen‹ Perspektive12 – Ansätze dafür, bestehende Interpretationskonflikte besser nachvollziehen und zukünftige vermeiden zu können. In der Literaturwissenschaft wird der Ausdruck »Weltanschauung« so gebraucht, als sei dieser hinlänglich bekannt und ausreichend deutlich: das ist indes nicht der Fall. Zunächst ist demnach (1) eine problembezogen zugespitzte Explikation des Ausdrucks erforderlich. Anschließend werden wir (2) die Frage diskutieren, wie im Rahmen, vorgängig oder parallel zu der Interpretation eines Textes die Weltanschauung des Autors überhaupt zu ermitteln und (3) anhand welcher Kriterien diese zu rubrizieren ist. Überdies interessiert uns (4), welche Funktionen Bezugnahmen auf die Weltanschauung des Autors bei der Interpretation erfüllen sollen und unter welchen Voraussetzungen derlei Informationen als relevant gelten können. Hierzu werfen wir (5) anhand repräsentativer Beispiele einen Blick in die (jüngere) Praxis der Woyzeck-Interpretation. Die ––––––––– 10 Vgl. grundsätzlich zu dieser Perspektive Axel Spree: Drei Wege der analytischen Literatur-
wissenschaft. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 111–133, bes. S. 118–121.
11 Vgl. hierzu grundsätzlich Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.:
Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2006, S. 224–580, hier S. 302 (§ 122); vgl. auch Gordon P. Baker, Peter M. S. Hacker: Übersicht. In: Dies. (Hrsg.): Wittgenstein: Meaning and Understanding. 4. Aufl. Oxford 1997, S. 295–309 sowie Hans-Johann Glock: Übersicht. In: Ders.: Wittgenstein Lexikon. Darmstadt 2000, S. 343–347. 12 Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (s. Anm. 11), S. 305 und S. 360 (§ 133 und § 255) sowie Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Definition, Klassifikation, Interpretation, Bewertung. Paderborn 1993, S. 10f.
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Büchner-Philologie eignet sich u. E. als exemplarischer Untersuchungsgegenstand deshalb so gut, weil die interpretatorische Bezugnahme auf (das System der) Überzeugungen des Autors hier offensichtlich von zentraler Bedeutung für research design, Sinn-Zuschreibungen, ästhetische Wertungen sowie für Kontextselektion und -legitimation ist.
1. Was ist eine Weltanschauung? Von der Weltanschauung des Autors zu sprechen, ist spätestens seit der diskursgeschichtlich-kulturwissenschaftlichen Wende des Faches en vogue. Nicht nur, dass Weltanschauung als Bewertungsgrundlage gelungener oder weniger gelungener Interpretation fungiert, auch kann über die Weltanschauung eines Autors ein relativ weiter kulturhistorischer Kontext und damit ein interdisziplinärer Zugriff auf Literatur plausibel gemacht werden. Autoren positionieren sich: Sie vertreten – zuweilen in recht heterogenen Lebensbereichen und Tätigkeitsfeldern – ethische, religiöse, ästhetische, politische usw. Ansichten, die sich in ihren Texten niederschlagen. Um zu erklären, warum der Text eines Autors genau so ist, wie er ist (und nicht anders), worauf dies zurückzuführen ist, wird zuweilen auf Überzeugungen und Werthaltungen des Autors (bzw. deren systematischen Zusammenhang) rekurriert. Weltanschauung ist hier Bestandteil eines methodologischen Autorkonzepts. Entsprechende Verfahren jedoch werfen die Frage nach dem verwendeten Weltanschauungsbegriff auf. Wenn man von der Weltanschauung des Autors spricht, was meint man dann eigentlich mit ›Weltanschauung‹? In aller Kürze möchten wir die zentralen Merkmale dieses Begriffs herausarbeiten.13 ––––––––– 13 Vorab noch ein Hinweis: Wir verwenden den Ausdruck ›Weltanschauung‹ ungeachtet
seiner begriffsgeschichtlichen Implikationen und seiner negativ-evaluativen Komponenten – seiner ideologischen ›Anrüchigkeit‹ sozusagen. Uns ist bewusst, dass er vor allem im Gehör ideologiekritisch sozialisierter Wissenschaftler einen unschönen Beiklang haben dürfte. Dass dies indes nicht zwingend ist, mögen folgende Beispiele zeigen: Georg Guntermann: Auf der Suche nach Büchners Weltanschauung. Edition und Interpretation des »Woyzeck«. In: Lenau-Forum 15 (1989), S. 101–116 und Koji Taniguchi: Zwischen Idee und Leib. Georg Büchners weltanschauliche Stellung in »Dantons Tod«. In: GBJb 10 (2000–04), S. 83–102. – Grundsätzlich scheinen uns die Vorteile des Ausdrucks zu überwiegen, namentlich seine relative Einfachheit und seine in heuristischer Hinsicht
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Helmut G. Meier schreibt in seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung: »Weltanschauung soll aus der unmittelbaren Lebenserfahrung heraus Welt und Leben deuten.«14 Damit gibt er einen Hinweis darauf, dass mit ›Weltanschauung‹ gemeinhin eine sich in bestimmten Überzeugungen oder Einstellungen15 niederschlagende Relation von Personen und Sachverhalten bezeichnet wird. Eine Person, die eine Weltanschauung vertritt, hat eine bestimmte Ansicht, die sie in Bezug auf die Welt oder ihr eigenes Leben geltend macht. Etwas vereinfacht lässt sich sagen: Ein Autor (A) hat eine Auffassung zu (B) seiner Umwelt in toto oder zu einem mehr oder minder umfangreichen Aspekt derselben – wobei ›(Um)Welt‹ potentiell alles meint, was nicht die Wahrnehmungsinstanz (der Autor) ist. Mit dieser recht allgemeinen Minimalbestimmung sind bereits wesentliche Punkte berührt. Erstens: ›Weltanschauung‹ ist als personaler Relationsausdruck zunächst einmal ein einem Subjekt zugeordneter Begriff. Das subjektive Moment als individuelles Erleben des Einzelnen spiegelt sich in spezifischen, subjektgebundenen Ansichten und Auffassungen wider. Man kann daher mit guten Gründen behaupten, der Begriff sei »von der Seite des weltanschauungstragenden und -setzenden Subjekts«16 fruchtbar zu machen. Zweitens: Wer eine Weltanschauung hat, glaubt etwas von der Welt zu wissen. Anders als dem Wissensbegriff – traditionell definiert als gerecht––––––––– integrativ-homogenisierende Funktion, als griffiges Schlagwort eine Menge einzelner Bestandteile eines personalen mental-dispositionellen Systems plakativ zu erfassen. Eine terminologische Alternative wäre die umständlichere Bezeichnung ›auktoriales Überzeugungssystem‹ gewesen. – Vgl. zur Wort- und Begriffsgeschichte von ›Weltanschauung‹ neuerdings auch Arnulf Müller: Weltanschauung – eine Herausforderung für Martin Heideggers Philosophiebegriff. Stuttgart 2009, S. 15–118. 14 Helmut G. Meier: »Weltanschauung«. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Münster 1970, S. 55. 15 Nur in Parenthese sei daran erinnert, dass der Ausdruck ›Einstellung‹ ein feststehender Terminus technicus der Sozialpsychologie ist; unser Ausdrucksgebrauch ist demgegenüber unspezifischer, an der Umgangssprache orientiert. – Vgl. aber Elliot Aronson, Timothy D. Wilson, Robin M. Akert: Sozialpsychologie. 4. Aufl. München u. a. 2006, S. 228–267; Hans Werner Bierhoff: Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch. 4. Aufl. Stuttgart u. a. 1998, S. 237–280 sowie Erich H. Witte: Lehrbuch Sozialpsychologie. 2. Aufl. Weinheim 1994, S. 359–397. 16 Meier: Weltanschauung (s. Anm. 14), S. 55.
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fertigte, wahre Meinung17 – lässt sich dem Weltanschauungsbegriff allerdings weder eine Rechtfertigungs- noch eine Wahrheitsbedingung unterlegen.18 Weltanschauung wird in der Regel weder begründet, noch kann ohne weiteres nach ihrem Wahrheitswert gefragt werden, da es sich hierbei um soziale Handlungsmaximen, um ethische oder axiologische Fragen handelt. Diese können zwar mehr oder weniger plausibel gemacht oder als sinnvoll dargestellt werden, Antworten auf Fragen wie: ›Wie soll ich das bewerten?‹ oder: ›Wie soll ich leben?‹ und: ›Was ist das Sein?‹ jedoch können weder überindividuell gerechtfertigt noch als empirisch zutreffend erwiesen werden. Weltanschauung zielt somit nicht auf Wissen, sondern auf individuelle Sinnstiftung.19 Ihr Gegenstand ist das Leben, die Welt und der Mensch. Mit anderen Worten: »Weltanschauung im eigentlichen Sinn ist in der irrationalen Sphäre angesiedelt und gehört in einen prä-, para-, oder metaphilosophischen Bereich. Sie ist als der rein subjektive Versuch, sich mit einer durch das eigene Gemüt allererst begründeten Welt zu arrangieren, in ihrem Charakter auf jeden Fall vorrational und atheoretisch.« 20 Drittens: Weltanschauliche Systeme sind relational in Bezug auf axiologisch gesetzte Werte, zu welchen sie in Bezug gesetzt werden und nach welchen derjenige, der sie vertritt, handelt und urteilt (übrigens ohne dass ihm alle Bestandteile seiner Weltanschauung voll bewusst sein müssen). Plausibilisierungen sowie Rechtfertigungen erfolgen stets innerhalb dieses jeweils selbst gesetzten Rahmens, der dem Welt anschauenden Subjekt als unverrückbare und basale Bewertungsgrundlage dient. Viertens: Zudem ist Weltanschauung ein integrativ-synthetisches System. Weltanschauungen überschreiten die Grenzen einzelner Disziplinen oder verschiedener, gruppenspezifisch sozial verankerter Glaubenssätze, wie sie beispielsweise in Ideologien oder Religionen vorzufinden sind. Diese können zwar Bestandteil einer Weltanschauung sein, jedoch ––––––––– 17 Vgl. Peter Baumann: Erkenntnistheorie. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2006, S. 33–40 und
Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik 17/2 (2007), S. 398–410. 18 Vgl. hierzu erhellend Bruno Brüslisauer: Was können wir wissen? Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Stuttgart 2008, S. 242–244. 19 Vgl. zum Konzept der Sinnstiftung auch Tilmann Köppe: Literatur als Sinnstiftung? In: KulturPoetik 5 (2005), S. 1–16. 20 Meier: Weltanschauung (s. Anm. 14), S. 6.
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sind sie in der Regel individuell überformt, indem etwa philosophische, naturwissenschaftliche, politische, ethische, metaphysisch-religiöse, epistemologische und ästhetisch-poetologische Ideen assoziativ miteinander verschränkt werden. Dies geschieht indes nicht argumentativ, sondern meist rhetorisch und »entspringt einem kreativen Akt.«21 Es lässt sich sagen: Die Weltanschauung (WA) eines Autors (Index: A) ist ein komplexes System von Überzeugungen positiver (Ü) und negativer (ü) Art, wobei ›negativ‹ hier meint, dass A eine bestimmte Überzeugung nicht haben darf (stärkere Variante: ablehnt). Schematisch: WAA {Ü1, Ü2, Ü3, Ü4, …, Ün, ü1, ü2, ü3, ü4, …, ün}
Fünftens: Im Gegensatz zu einzelnen situationsbezogenen und spontanen Ansichten, Auffassungen, Standpunkten oder Sichtweisen bezieht sich Weltanschauung zudem auf ein diachron stabiles normatives System. Zu bewertende Situationen oder vertretene Ansichten werden vor dem Hintergrund einer geschlossenen und komplexen Überzeugungsmatrix postuliert, die sich weniger auf Zeitpunkte als auf Zeiträume erstreckt. Wer einmal die Ansicht äußert, der Mensch habe eine ›metaphysische Komponente‹, und diese Annahme ist Teil seiner Weltanschauung, kann am nächsten Tag nicht behaupten, der Mensch sei endlich und materiell.22 Im Weiteren wird der Ausdruck ›Weltanschauung‹ von uns wie folgt verwendet: Weltanschauung ist eine tendenziell diachronisch konstante Haltung einer Person der Welt gegenüber. Diese Haltung synthetisiert Anteile kognitiver (Überzeugungen) als auch emotional-affektiver Art (Einstellungen) zu einem mehr oder weniger konsistenten, integrativen Modell subjektiver Welterklärung. Sie ist axiologisch in Bezug auf ihre Bewertungsmaßstäbe und auf den perspektivischen, historischen Standpunkt ihres Urhebers begrenzt.
––––––––– 21 Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Lutz
Danneberg, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 342. 22 Dessen ungeachtet können Weltanschauungen in diachronischer Perspektive einem – mehr oder weniger stetigen – Wandel unterliegen; vgl. unten S. 258–260.
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2. Wie können Weltanschauungen rekonstruiert werden? Ist unsere Explikation empirisch gehaltvoll und adäquat, so ergeben sich für die Ermittlung von Weltanschauungen verschiedene Probleme. Die Weltanschauung eines Autors ist nicht ohne weiteres rekonstruierbar. Insofern mental-dispositionelle Zustände per definitionem direkter empirischer Beobachtung nicht zugänglich sind, ist man hier stets auf voraussetzungsreiche Hilfskonstruktionen und hypothetische Wahrscheinlichkeitsaussagen angewiesen. In diesem Sinne ist die einem Autor zugeschriebene Weltanschauung eine aus der Selektion und Interpretation textuell gegebener Informationen gewonnene Abstraktion, die der Kontextualisierung, Klassifikation, Bewertung und Deutung anderer Informationen dient. Prinzipiell können für die Ermittlung einer Weltanschauung (neben dem primären Interpretationsgegenstand – in diesem Fall also den Woyzeck-Entwürfen) folgende Bezugstexte23 relevant sein: (1) Selbstäußerungen des Autors. Briefe, Tagebucheinträge oder autobiographische Schriften sind eine unmittelbare Quelle weltanschaulicher Aussagen des Autors. In ihnen finden sich wertende Stellungnahmen zu eigenem und fremdem Handeln und Denken. Sie können Aufschluss darüber geben, wie ein Autor prinzipiell urteilte, wie er soziale, private oder politische Fragen beantwortete, wie er philosophische oder ethische Themen grundsätzlich in Angriff nahm, wie er eigene Texte24 verstanden wissen wollte. Wenngleich hier zuweilen mit einem spezifischen Adressatenbezug zu rechnen ist – oder wie Thomas Michael Mayer das für einige von Büchners Briefen ausgedrückt hat: mit »Argumentationslist«25 –, wird davon ausgegangen, dass die Weltanschauung des Autors (oder deren Bestand––––––––– 23 Eine vielsagende Auswahl für aussagekräftig erachteter Textauszüge aus Werken und
Briefen bietet die Zusammenstellung in Georg Büchners ästhetische Anschauungen. Ausgewählt und eingeleitet von Heinz Nahke. Dresden o.J. 24 Vgl. grundsätzlich Lutz Danneberg: Besserverstehen. Zur Analyse und Entstehung einer hermeneutischen Maxime. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin, New York 2003, S. 644–711. 25 Vgl. Thomas Michael Mayer: »Wegen mir könnt ihr ganz ruhig sein…«. Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern. In: GBJb 2 (1982), S. 249–280. – Vgl. grundsätzlich zu den Briefen jetzt Henri Poschmann: Briefe. In: Büchner-Handbuch, S. 138–155.
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teile) sich hier offener, klarer und deutlicher ausgesprochen findet als im fiktionalen literarischen Werk. Mit anderen Worten: es wird ein präsumtives Aufrichtigkeits- und Deutlichkeitspostulat erhoben, um explikative Zirkularität zu vermeiden.26 Wer Büchners Briefe kennt, weiß, dass diese Erwartung – wenngleich hier grundsätzlich durchaus ›klare Worte‹ gefunden werden27 – mitunter trügerisch sein kann. Bemerkenswert ist jedenfalls, zu welch widersprüchlichen Auslegungen manche brieflichen Äußerungen Büchners – zum Beispiel das Postulat die »Bildung eines neuen geistigen Lebens im V o l k [zu] suchen«28 – Anlass gegeben haben.29 (2) Fremdäußerungen über den Autor. Nicht immer sind Selbstäußerungen verfügbar. Hilfreich sind dann Zeugnisse anderer,30 Erinnerungen und Berichte Angehöriger und dem Autor mehr oder weniger nahe stehender Personen, soweit sie als authentisch und zuverlässig beurteilt werden können – im Falle Büchners ist hier etwa an Alexis Muston,31 Wilhelm Schulz,32 Freunde und Mitstreiter wie Ludwig Wilhelm Luck oder ›den roten‹ August Becker, aber auch an die den Nachgelassenen Schriften vorangestellte Biographie Ludwig Büchners zu denken.33 Abgesehen davon, dass Büchner – wie Wilhelm Schulz dies 1851 ausdrückte – letztlich »[k]einen in die stille Werkstätte seines rastlosen Geistes blicken ließ«,34 ––––––––– 26 Vgl. hierzu erhellend Lutz Danneberg: Idem per idem. In: Geschichte der Germanistik. Mit-
teilungen 27/28 (2005), S. 28–30.
27 Vgl. auch GBHK (s. Anm. 1), S. 138–140. 28 Brief an Karl Gutzkow, Anfang Juni 1836 (Briefwechsel, S. 103). 29 Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Überzeugungen ausdrückende Propositionen
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mitunter interpretativ erschlossen und in Form explizierender Paraphrasen wiedergegeben werden müssen. Vgl. Oliver Robert Scholz: Das Zeugnis anderer. Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie. In: Thomas Grundmann (Hrsg.): Erkenntnistheorie. Positionen zwischen Tradition und Gegenwart. Paderborn 2001, S. 354–375. Vgl. Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem BüchnerFund. München 1987. Vgl. Walter Grab (Hrsg.) und Thomas Michael Mayer (Mitarb.): Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein/Ts. 1985 sowie Walter Grab: Der hessische Demokrat Wilhelm Schulz und seine Schriften über Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig. In: GBJb 2 (1982), S. 227–248. Vgl. Dedner: Einleitungen, S. 105–134. Wilhelm Schulz: Nachgelassene Schriften von G. Büchner. In: Grab/Mayer (s. Anm. 32), S. 51–82, hier S. 66.
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sind auch hier jedenfalls Weltanschauung, Äußerungskontext und Sprecherabsicht des jeweiligen Zeugen zu berücksichtigen. Grundsätzlich gilt: Je näher Zeitzeugen der Person standen und je weniger Eigeninteresse sie an der weltanschaulichen Vereinnahmung (oder gar ideologischen ›Gleichschaltung‹) des Autors hatten, desto glaubwürdiger ist in der Regel die Information. (3) Das Gesamtwerk. Der Autor ist neben dem Text und dem Leser die zentrale Instanz der literarischen Kommunikation. Vor allem in jüngeren theoretischen Debatten wurde begonnen, die Reichweite des Autorbegriffs für die Interpretation neu (bzw. erneut) auszuloten.35 Heute ist kaum mehr zweifelhaft, dass das Autorkonzept wichtige Funktionen in Literatur- und Bedeutungstheorien sowie in der konkreten Interpretationspraxis erfüllt.36 Autorbezogene Textkonzepte verknüpfen nun Werk und Autor zu einer prima facie konsistenten Einheit.37 Nicht selten werden »Autoreigenschaften in verdeckter Form als Texteigenschaften«38 ausgewiesen. Auch das Weltanschauungskonzept geht von einem solchen Konnex zwischen Autor und Werk aus; genauer: es wirkt im Rahmen einer Homogenisierungsstrategie integrativ. Im Falle Büchners werden – von den Briefen abgesehen – namentlich die folgenden œuvre-immanenten Kontexte bemüht: (i) mehr oder weniger ––––––––– 35 Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr
des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999 sowie grundsätzlich Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin 2007. 36 Vgl. Simone Winko: Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 334–354; Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext. In: Rückkehr des Autors (s. Anm. 35), S. 353–389 sowie Axel Bühler: Die Funktion der Autorintention bei der Interpretation. In: Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Berlin, New York 2005, S. 463–472. 37 Vgl. Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 276–344, hier S. 296–300 sowie v. a. S. 304: »Die Homogenisierung einer Textmenge im Werk kann letztlich nur durch den Rückgriff auf eine diese Homogenität verbürgende Produktionsinstanz plausibel gemacht werden.« 38 Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko: Einleitung. Autor und Interpretation. In: Dies. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 7–28, hier S. 10.
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umfangreiche (sachliche) Parallelstellen aus anderen literarischen Texten des Autors einschließlich poetologischer39 Passagen und textgenetischer Vorstufen, wobei man unter anderem mit der Frage konfrontiert ist, warum die einer fiktiven Dramenfigur (oder einer Erzählinstanz) aufgrund einer Analyse ihrer fiktiven Äußerungen und ihres fiktiven Verhaltens zugeschriebene Anschauung mit der des realen Autors zu identifizieren sein sollte oder nicht. Unter anderem werden hier Erwägungen darüber angestellt, ob dem realen Autor eine seiner Figur zugeschriebene Anschauung zuzutrauen ist. Einen Sonderstatus hat demgegenüber – nicht nur, weil unsicher ist, welche Textanteile von Büchner stammen40 – (ii) die sozialrevolutionäre Flugschrift Der Hessische Landbote, da sich hier – wie auch bei Büchners naturwissenschaftlichen und philosophiehistorischen Schriften – die prekäre »Frage nach der Einheit des Werkes, wenigstens aber nach einer widerspruchsfreien Verbindung der […] Betätigungsfelder«41 stellt. Einige Interpreten tragen dem Rechnung, indem sie heuristisch zwischen ›Büchner, dem Revolutionär‹, ›Büchner, dem Dichter‹ und ›Büchner, dem Wissenschaftler‹ unterscheiden42 und wenigstens für die so differenzierten Bereiche der Biographie Konstanz und Konsistenz unterstellen. Zudem wird (iii) auf Büchners philosophiehistorische und naturwissenschaftliche Schriften43 verwiesen, die zwar eine argumentative Anlage aufweisen, zugleich aber den Erfordernissen des jeweiligen diskursiven ––––––––– 39 Vgl. hierzu grundsätzlich Wilfried Barner: Poetologie? Ein Zwischenruf. In: Scientia Poetica
9 (2005), S. 389–399.
40 Vgl. Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 1), S. 183–287; ein weiteres Problem bringt
Mayer (ebd., S. 28) folgendermaßen auf den Punkt: »Die einzigen authentischen und sicher auch annähernd vollständig-systematischen Zeugnisse für Büchners ökonomische, soziale und strategisch-taktische Positionen, nämlich der Entwurf des ›Hessischen Landboten‹ und die internen Papiere der ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ […] sind nicht erhalten.« 41 Gideon Stiening: Schönheit und Ökonomie-Prinzip. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte bei Georg Büchner. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 95–121, hier S. 98. 42 Vgl. zu dieser Trias Viëtor und Katalog Darmstadt sowie kritisch Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 1), S. 19. 43 Vgl. zu ersteren den knappen Forschungsüberblick bei Per Röcken: Philosophische Schriften. In: Büchner-Handbuch, S. 130–137 und zu letzteren ausführlich Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004.
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Rahmens, den wissenschaftlichen Gattungskonventionen verpflichtet sind. Gerade bei den philosophischen Skripten und Exzerpten ist es überdies nicht einfach, quellenabhängige Aussagen und Zitate vom originären Büchnertext zu unterscheiden.44 Zuweilen werden (iv) Büchners Schülerschriften45 – vor allem die Helden-Tod- und die Cato-Rede – interpretatorisch in Dienst genommen; wenngleich hier häufiger die Möglichkeit eines zwischenzeitlich eingetretenen Sinneswandels erwogen oder schlicht vorausgesetzt wird. Können Texte aber Weltanschauungen enthalten? Hierzu ein kurzer Exkurs: Für den Zusammenhang von literarischen Texten und Weltanschauungen gilt in etwa das gleiche, was Tilmann Köppe für die Frage nach Literatur und Wissen konstatiert hat: ›Weltanschauung‹ ist ein personaler Relationsausdruck. Man kann daher nicht sinnvoll sagen, literarische Texte enthielten Weltanschauungen.46 Dessen ungeachtet kann man jedoch sagen: Texte sind Äußerungsformen, die Rückschlüsse auf Weltanschauungen zulassen, sofern diese eine »textprägende Instanz«47 waren. Im Umkehrschluss gilt: psychische – kognitive, affektive, emotionale usw. – Zustände haben eine Repräsentation im Text. Entgegen der Meinung, Weltanschauungen seien rein subjektiv und daher nicht erfassbar, vertreten wir die Ansicht, dass sie im literarischen Text objektiv manifest und rekonstruierbar, nämlich auf spezifische Weise codiert oder zeichenhaft sind. Mit anderen Worten: Wir gehen davon aus, dass Literatur subjektive Werte und Einstellungen transportiert. »Jeder literarische Text ist dadurch, dass er die Umsetzung eines Textkonzepts und eines Literaturprogramms ist, immer auch die Artikulation eines bestimmten Überzeugungssystems.«48 Wie aber kann dies ermittelt werden? Wie ist Weltanschauung literarisch realisiert? ––––––––– 44 Vgl. dazu die umfassende Quellendokumentation in MBA 9.2, S. 1–164. 45 Vgl. Susanne Lehmann: Georg Büchners Schulzeit. Ausgewählte Schülerschriften und ihre
Quellen. Tübingen 2005 sowie Gerhard Schaub: Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. Bern, Frankfurt a. M. 1975. 46 Vgl. Köppe: Wissen (s. Anm. 17), passim. 47 Vgl. hierzu Peter Tepe: Kognitive Hermeneutik. Textinterpretation ist als Erfahrungswissenschaft möglich. Würzburg 2007, S. 62–70, S. 87–90 u. ö. 48 Ebd., S. 67.
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Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Weltanschauungen werden (i) direkt-explizit ausgedrückt, etwa durch Artikulation oder Thematisierung. Das betrifft etwa explizite Formulierungen in der Figuren- oder Erzählerrede, Umschreibungen, Anspielungen oder Bezugnahmen auf weltanschauliche Themen und Fragestellungen. Ferner können sie (ii) indirekt-implizit realisiert werden, indem sie auf der figuralen Ebene der Handlung oder der ›Gesamtbedeutung‹49 selbst unterlegt werden und damit eine bestimmte Tendenz oder Stoßrichtung des Textes andeuten bzw. die diesem inhärente Position nachvollziehbar machen. Da es sich bei fiktionalen Texten um eine spezielle Kommunikationssituation handelt,50 muss allerdings situativ entschieden werden, ob (i) von textimmanenten Instanzen (Figuren, Erzähler) gemachte oder interpretativ zu erschließende Aussagen den Überzeugungen des Autors entsprechen oder ob es sich (ii) um Aussagen handelt, die konventionell bestimmten (unter Umständen mehreren) Weltanschauungen zuzuordnen sind, welche allerdings nicht der Haltung des Autors zuzuschreiben sind, da er ihnen ablehnend oder indifferent gegenübersteht.51 Hier kann es ––––––––– 49 Vgl. zur Problematik dieses Ausdrucks: Stein Haugom Olsen: The End of Literary
Theory. Cambridge 2008, S. 42–72. – Gemeint sind hier Aussagen, die sich auf die grundsätzliche Positionsgebundenheit des Textes in toto beziehen und diese mit dispositionellen oder intentionalen Zuständen der Autorperson in Verbindung bringen. Ein neueres Beispiel – Annette Graczyk: Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 11 (2005–08), S. 101–121, hier S. 105f. – sieht so aus: »Obwohl das Drama Woyzeck vom Autor des Hessischen Landboten stammt, kann […] tendenziell eine Verunsicherung entstehen, ob wir es insgesamt mit einer sozialkritisch-analytischen Anlage des Stücks samt Appell oder mit einer abgründigen Distanzsetzung zu tun haben, in der sich ein grundlegender Zweifel an der Wandelbarkeit der menschlichen Verhältnisse ausspricht.« 50 Vgl. nur Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn 2008, Kap. 2 sowie den exzellenten Überblick bei Tilmann Köppe, Jan Gertken: Fiktionalität. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Simone Winko (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York 2009, S. 228–266. 51 Vgl. zu diesem schwierigen Problem grundsätzlich Peter D. Juhl: Zur Interpretation eines literarischen Werkes und ihrer Begrenzung durch die Anschauungen seines Autors. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 3.12 (1973), S. 37–52. und Fotis Jannidis: Zwischen Autor und Erzähler. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 540–556; vgl. auch den Hinweis bei Tilmann Köppe: Fiktion, Praxis, Spiel. Was leistet der Spielbegriff bei der Klärung des Fiktionalitätsbegriffs? In: Thomas Anz, Heinrich Kaulen (Hrsg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologie, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin, New York 2009, S. 30–56,
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hilfreich sein, andere Texte des Autors oder über den Autor heranzuziehen, sowie textuelle Distanzierungssignale der Ironie, axiologische oder kommentierende Textsignale zu berücksichtigen, solange die allen Texten zugrunde liegende weltanschauliche Konsistenzpräsumtion aufrecht erhalten werden kann. Die negative oder positive Wertung des Dargestellten durch den Autor legen vor allem strukturelle, stilistische bzw. gestalterische Merkmale nahe. Beispielsweise illustriert der Doktor im Woyzeck (H2,6 und H4,8) bestimmte wissenschaftstheoretische Überzeugungen, wobei die Darstellung karikierend ist.52 Büchner sympathisiert nicht mit dem Dargestellten, sondern verrät – um Jan Thorn-Pricker zu zitieren – »seinen Haß deutlich in der Gestaltung der Personen«,53 kritisiert also die abstrakten – hier etwa idealistischen – Überzeugungen (paraphrasierbar als Propositionen wie diese: ›Das menschliche Handeln unterliegt der Willensfreiheit‹), und seine eigene Haltung, der entsprechende Darstellungs-, Ausdrucks-, Appell- und Wirkungsabsichten korrespondieren, ist demnach die der Negation besagter Proposition. Über Büchners alternative positive Vorstellungen ist damit allerdings noch nichts ausgesagt (möglicherweise wäre sie in der Rede von den – wie es im Brief an die Familie vom Februar 1834 heißt54 – »außer uns« liegenden »Umstände[n]« zu suchen). Ein für die Interpretation des Textes relevanter Abgrenzungspunkt jedoch wäre gewonnen. Für die Ermittlung der Weltanschauung kommen weiterhin (4) rezipierte Quellen in Betracht: Nicht selten liegt Texten – in Form selektiver Adap––––––––– hier S. 49 dass »man nicht berechtigt ist, die mit fiktionalen Äußerungen zum Ausdruck gebrachten Sprechakte als nicht-fiktionale Sprechakte des Autors anzusehen […]. Wer fiktionale Äußerungen als Behauptungen des Autors auffasst und dem Autor entsprechende Überzeugungen (usw.) zuschreibt, tut etwas, das als unvernünftig (leichtsinnig, epistemisch unverantwortlich) bezeichnet werden kann.« 52 Vgl. differenzierend Udo Roth: Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners »Woyzeck« unter besonderer Berücksichtigung von H2,6. In: GBJb 8 (1990–1994), S. 254–278 sowie Ders.: »Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben.« Wissenschaft und Wissenschaftsverständnis im dichterischen Werk Georg Büchners. In: Dietrich von Engelhardt, Hans Wißkirchen (Hrsg.): Von Schillers Räubern zu Shelleys Frankenstein. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800. Stuttgart 2006, S. 157–177. 53 Jan Thorn-Pricker: Revolutionär ohne Revolution. Interpretationen der Werke Georg Büchners. Stuttgart 1978, S. 123. 54 Briefwechsel, S. 35.
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tion, Modifikation oder vielsagender Auslassung – eine die Textstruktur prägende Quelle zu Grunde. Oft finden sich Versatzstücke, Vorstellungsbereiche, Metaphern, Begriffe oder ganze Theorien wieder, die einen deutlichen oder auch impliziten Bezug zur Quelle aufweisen. Auch hier ist zu berücksichtigen, wie derlei Komponenten in literarischen Texten durch ihre Darstellung bewertet werden.55 Über den Nachweis56 von derlei Bezügen – zumal hinsichtlich verschiedener Modi der Bezugnahme (z. B. Parodie) – lassen sich Rückschlüsse auf Werthaltungen und Überzeugungen des Autors ziehen; auch lässt sich auf diese Weise ermitteln, welche Konzepte die Produktion des Textes prägend mitbestimmt haben. Überdies können (5) vergleichende positive oder negative Parallelisierungen mit Texten – oder allgemeiner: ›Positionen‹ – anderer Autoren oder ›Richtungen‹ (z. B. Heine,57 ›Junges Deutschland‹, Spinoza,58 Fichte, Theoretiker des ›Frühkommunismus‹, Marx usw.) vorgenommen werden, soweit diesen hinsichtlich der zum Ausdruck gebrachten Weltanschauung eine zeitliche Nähe und eine gewisse Ähnlichkeit oder Verwandtschaft – und sei es nur den Umständen nach – mit derjenigen des Autors nachgewiesen werden kann oder diese als Einflussfaktoren gelten können. Präferiert werden hier in der Regel Bezüge zu Texten, die der Autor gekannt hat oder wenigstens gekannt haben könnte (VerfügbarkeitsPrinzip). (Eine Ausnahme bildet lediglich die Rede von der ›Vorläuferschaft‹ Büchners, die auch anachronistische Kontextualisierungen gestat––––––––– 55 Vgl. Simone Winko: Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literatur-
wissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Braunschweig 1991, bes. S. 166–189.
56 Wie dies methodisch abläuft zeigt Burghard Dedner: Quellendokumentation und Kommen-
tar zu Büchners Geschichtsdrama »Danton’s Tod«. Versuch einer sachlichen Klärung und begrifflichen Vereinfachung. In: editio 7 (1993), S. 194–210. 57 Ein neueres Beispiel ist Bodo Morawe: Heine und Holbach. Zur Religionskritik der radikalen Aufklärung und über zwei zentrale Probleme der Büchner Forschung. In: GBJb 11 (2005–08), S. 237–265, hier S. 256, der mit einem Wort Heines (DHA 8.1, S. 77) auf den »merkwürdigste[n] Parallelismus« zwischen Heine und Büchner hinsichtlich »Zeitdiagnose«, »Gesellschaftstheorie«, »Rechtsauffassung«, »entschiedene[r] Parteinahme für das Volk« sowie einem »vorbehaltlose[n] Bekenntnis zur Revolution« aufmerksam macht. 58 Vgl. etwa Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Wiesbaden 1946, S. 350f.: »Wie Spinoza ist auch er [Büchner] Determinist und Fatalist. Von der Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Umstände und der Ohnmacht des Menschen, sie zu ändern, ist auch er tief überzeugt. Danton und Woyzeck sind die Zeugnisse solcher Einsicht.«
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tet.) In jedem Falle wird angenommen, dass die herangezogenen Kontexte für die Zuschreibung bestimmter Anschauungen an den Autor relevante Informationen beinhalten. Die hierbei vorherrschende Argumentform ist der Analogieschluss.59 Man sagt etwa: (P1) Autor A hat (in der Interessendomäne I) die Überzeugungen Ü1, Ü2 und ü3. (P2) Ein Vergleich mit Autor B zeigt, dass bei diesem (in I) ebenfalls Ü1 und ü3 vorliegen. (P3) Überdies weisen A und B (in I) eine Reihe weiterer Ähnlichkeiten – z. B. hinsichtlich ihrer Sozialisation und ihrer Lebensumstände – auf. (P4) Wenn zwei einander ähnliche Personen in ähnlichen Umständen eine bestimmte Menge an Überzeugungen teilen, so werden sie wahrscheinlich auch weitere Überzeugungen miteinander teilen (Holismus). (C) Also wird bei B wahrscheinlich ebenfalls Ü2 vorliegen.
Der Nachweis ähnlicher oder gleicher Überzeugungen erfüllt freilich noch weitere Funktionen: So könnte die Praxis, bei der Interpretation der Woyzeck-Entwürfe Passagen aus Spinozas Ethica vergleichend heranzuziehen (Kontextselektion und -staffelung), durch einen Hinweis auf Übereinstimmungen weltanschaulicher Art begründet werden. Eine elliptische Variante dieser Begründungsstrategie versucht, mehrere Autoren schlagwortartig einer gemeinsamen weltanschaulichen Orientierung zuzuschlagen.
3. Wie klassifiziert man die Weltanschauung eines Autors? Die Menge aller Überzeugungen einer Person ist grundsätzlich nicht zu erfassen und in einer bestimmten Konstellation nur bei einem einzigen Menschen anzutreffen, d. h. individuell. Aber: die Ermittlung und Rubrizierung von WAA erfolgt stets über die selektive Berücksichtigung von Überzeugungen und Haltungen, die A nicht allein besitzt. So gilt z. B. konventionell für eine WAMarxismus {…, Ü1, Ü3, ü4, …}. ––––––––– 59 Vgl. grundsätzlich zu Struktur und Reichweite entsprechender Argumente Wesley C.
Salmon: Logik. Stuttgart 1983, S. 197–203 sowie neuerdings Fabrizio Macagno, Douglas Walton: Argument from Analogy in Law, the Classical Tradition, and Recent Theories. In: Philosophy and Rhetoric 42.2 (2009), S. 154–182.
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Liegen die fraglichen Überzeugungen, die zur Intension des Ausdrucks ›Marxismus‹ gehören, auch bei A vor, so sind damit die notwendigen Bedingungen dafür erfüllt, A einen ›Marxisten‹ zu nennen. Das heißt, dass bei der Subsumierung einer individuellen unter eine überindividuelle Weltanschauung nur eine begrenzte Auswahl an Überzeugungen berücksichtigt wird. Diverse vom Autor gemachte Äußerungen werden in der Zusammenschau zur komplexen ›Makroproposition‹ Weltanschauung zusammengesetzt. Man kann sich dies ungefähr so vorstellen: Äußerung (A), der z. B. ein bestimmter Wert oder eine Überzeugung zugeordnet werden kann, wird mit Äußerung (B) – ihrem Wert (C) usw. zu einer Gesamtmenge abstrahiert, die zusammen nach sozialen, politischen, ethischen, ästhetischen usw. Mustern kategorisiert werden können. Anders gesagt: Sind einem Autor bestimmte Anschauungen nachzuweisen und ist dieses Set typologisch aussagekräftig, sofern es konventionell einer bestimmten weltanschaulichen Position zugeordnet wird, so hat man gute Gründe, den Standpunkt des Autors mit einer bestimmten sprachlichen Etikettierung zu versehen. Neben groben Klassifikationen nach dem Schema optimistisch-affirmativ versus pessimistisch-kritisch gibt es verschiedene Ausdrücke, die die Haltung einer Person zum Status quo charakterisieren, also etwa: ›reaktionär‹, ›konservativ‹, ›liberal‹, ›progressiv‹, ›reformistisch‹, ›revolutionär‹, ›anarchistisch‹. Darüber hinaus begegnen eine Reihe von ›Ismen‹, also Klassifikationen nach philosophischen oder politischen Theoretikern (z. B. ›Marxist‹, ›Herbartianer‹, ›St. Simonist‹), nach Gruppierungen, Institutionen und Denkrichtungen (z. B. ›Jakobiner‹, ›Sozialist‹, ›Eudämonist‹, ›Kommunist‹, ›Christ‹, ›Romantiker‹), nach Epochen (z. B. ›Stürmer und Dränger‹, ›Vertreter der Moderne‹) sowie nach vorherrschenden persönlichen Haltungen (›Zyniker‹, ›Materialist‹, ›Pessimist‹, ›Nihilist‹, ›Pazifist‹, ›Patriot‹). Ein Problem besteht nun freilich darin, dass bestimmte Weltanschauungen einige Überzeugungen – als Schnittmenge – mit anderen gemeinsam haben können, also beispielsweise gilt: WASozialismus {…, Ü1, Ü3, ü4, …}.
Nun kann strittig sein, welche Rubrizierung adäquat ist, weshalb weitere Differenzmerkmale eruiert werden müssen, bis die Zuordnung hinrei256
chend differenziert erfolgen kann. Vorausgesetzt ist hierbei, dass es eine eindeutige, definitorisch klar geregelte Zuordnung von AnschauungsSets zu entsprechenden Rubrizierungen, statisch gedachten weltanschaulichen Konzepten, gibt. Ausdrücke wie ›Materialismus‹ oder ›Fatalismus‹ aber sind – zumal in historischer, transnationaler Perspektive – einigermaßen unpräzise, mehrdeutig und vage. Hier empfiehlt es sich daher, mit zeitgenössischen Vorstellungen oder etwa prototypischen Merkmal-Sets zu argumentieren. In den gesichteten Woyzeck-Interpretationen wird fast nie die erforderliche Klärung des eigenen Ausdrucksgebrauchs vorgenommen (›Was verstehe ich unter ›Materialismus‹?‹), noch die klassifikatorische Zuordnung des Autors ausführlich begründet (›Aufgrund welcher Kriterien bezeichne ich Büchner als ›Materialisten‹?‹). Interessant ist auch, dass der Nachweis bestimmter Überzeugungen ausreicht, um Personen eine Weltanschauung abzusprechen. War Büchner beispielsweise religiös (wofür es freilich kaum empirische Belege gibt), so schließt dies die Annahme bestimmter Weltanschauungen aus. Auch kann das Fehlen von Überzeugungen – wenngleich dieser Nachweis schwierig ist60 – Aufschluss über das Überzeugungssystem des Autors geben. Schwierig können Klassifizierungen vor allem dann werden, wenn die einzelnen Überzeugungen in Beziehung zueinander gesetzt werden sollen. Derlei Klassifikationen sind nämlich in der Regel keine Taxonomien. Ein Autor kann gleichzeitig mehreren Typen von Weltanschauungen zugeschlagen werden, womit das Problem der Hierarchisierung und Subordination von Klassifikationsvorschlägen verbunden ist: Wenn man Büchner beispielsweise einer typologischen Mischform der Art ›atheistisch-materialistischer Pessimismus‹ zuordnet, kann man ihn dann mit gleichem Recht einen ›pessimistisch-atheistischen Materialisten‹ nennen? Ist damit nicht eigentlich nur gesagt, dass besagte Überzeugungen beim Autor vorhanden sind, nicht aber, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen? Oder soll man die adjektivische Spezifikation als Feingliede––––––––– 60 Der Grund ist folgender: Zum einen belegt das Fehlen von Belegen nicht das Fehlen
des zu Belegenden, zum anderen kann nur mittels zusätzlicher Informationen aus dem Vorhandensein einer bestimmten Überzeugung auf das wahrscheinliche Fehlen einer anderen – als kontradiktorisches, konträres oder polares Gegenteil bestimmten – Überzeugung geschlossen werden.
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rung einer mit dem Substantiv thematisierten Kernüberzeugung auffassen? Hier muss der Interpret je nach Fall abwägen, welche Sub- oder Superordinationen am wahrscheinlichsten, und das heißt: am besten mit unserem Wissen über den Autor vereinbar sind. Es zeigt sich ferner, dass bestimmte Weltanschauungen sozusagen per definitionem Teilmengen anderer sind (so ist Antiziganismus eine Spielart des Rassismus), weshalb es angemessen sein kann, die superordinierte Weltanschauung zuzuschreiben, selbst wenn die subordinierte vorliegt. Ein weiteres Problem ist dieses: Mitunter verschieben sich weltanschauliche Überzeugungskonstellationen. Oben wurde festgehalten, Weltanschauungen seien tendenziell stabil. Das schließt allerdings nicht aus, dass die Überzeugungen einzelner Autoren sich ändern (durch andere ersetzt werden). Politische, soziale oder private Ereignisse führen nicht selten zur Revidierung oder Modifikation bestimmter Einstellungen, sei es, da sie sich als unzweckmäßig herausgestellt haben, sei es, dass sich lebensweltliche Prioritäten oder Sichtweisen ändern. Denkbar sind hier teleologische, dialektische (Zustand A ist in Zustand B ›aufgehoben‹), konjunkturelle (partiell-temporärer Wandel – häufig als ›vorübergehende Krise‹ beschrieben, bei der zu einem Zeitpunkt t1 eine Überzeugung A, in t2 B und in t3 wieder A vorliegt)61 oder mutative (sprunghafte – oft als ›Zäsur‹ oder ›Bruch‹ beschriebene) Änderungen in der weltanschaulichen Merkmalsmatrix. Erfolgen Diskontinuitäten abrupt – über den Austausch großer Mengen von Einzelüberzeugungen –, so vollzieht sich ein kontinuierlicher Wandel behutsamer; über die Kontiguität einzelner Überzeugungssets und deren langsamen, d. h. stetigen, evolutionären Wandel. Hier werden nur wenige Einzelüberzeugungen fallen gelassen und gegen andere ausgetauscht. Weltanschauungen zu verschiedenen Zeiten sind nicht unbe––––––––– 61 Der Ausdruck ›Krise‹ begegnet in der Büchner-Philologie häufig und wird in der
Regel – namentlich hinsichtlich der klärungsbedürftigen Relation zwischen ›Fatalismus‹-Brief, Der Hessische Landbote und Danton’s Tod – auf Büchners schwankende (psychische) Verfassung der Jahre 1833/34 bezogen; vgl. dazu Mayer: Einwendungen (s. Anm. 1), S. 392–397 sowie Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 1), S. 93–98. Auch hat man – vgl. Guntermann: Auf der Suche (s. Anm. 13), S. 113–115 – eine oder mehrere weltanschauliche ›Krisen‹ Büchners als Erklärung für den angeblichen Konzeptionswandel der Woyzeck-Entwürfe herangezogen, sah also einen Zusammenhang zwischen dem mentalen Zustand des Autors und der (fragmentarischen) Textgestalt.
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dingt grundsätzlich verschieden, sondern in der Regel aufeinander beziehbar oder miteinander verwandt. Daher lässt sich hier von Familienähnlichkeiten sprechen. Es ist zwar durchaus denkbar, dass Einstellungen vom Zeitpunkt t1 bis tn sich grundlegend ändern, jedoch bleibt in der Verschiebung ein Kernbestand erhalten. Das Kontiguitätsverhältnis wirkt zugleich limitierend auf die prinzipiellen Richtungen des Wandels. Schematisch:62 WA (t) WA t1 WA t2 WA t3 WA t4
A
Einzelne Überzeugungen B C B C D C D E D E
F
Während synchronische Widersprüchlichkeit, Inkohärenz oder Ambivalenz strategisch durch eine Differenzierung von Tätigkeitsfeldern und Lebensbereichen behoben werden können, wird auf Diskontinuität und Widersprüchlichkeit in diachronischer Perspektive in der Regel mit einer Differenzierung nach mehr oder weniger homogenen Phasen (›der frühe Autor‹, ›Büchner als Schüler‹) oder damit reagiert, dass das Autorkonstrukt mit einem Zeitindex in temporäre Einzelzustände aufgelöst wird (›der Autor zur Zeit der Abfassung des Landboten‹). Hintergrund ist hier einerseits ein methodologisches Interesse an der Wahl relevanter Kontextinformationen (Kontextstaffelung), andererseits aber auch ein Wertungsaspekt: Es soll vermieden werden, einer Person offene – nicht mit guten Gründen zu erklärende63 – Widersprüche zuzuschreiben. Dem entsprechen hermeneutische Maximen der Art: ›Präferiere zeitlich nähere und ––––––––– 62 Das folgende Schema übernehmen wir leicht modifiziert von Strube: Analytische Philo-
sophie (s. Anm. 12), S. 23.
63 Eine beliebte Strategie nicht nur der Erklärung, sondern auch der Rechtfertigung
synchronischer Widersprüche sieht – Sengle: Georg Büchner (s. Anm. 7), S. 274 – so aus: »Man sollte von einem so jungen Schriftsteller, dem nur wenige Jahre des Schaffens vergönnt waren, kein politisches oder soziales oder weltanschauliches System erwarten, wie es zu meiner Verwunderung so viele Büchnerforscher tun. Die verwirrende Ungleichartigkeit der Ergebnisse erklärt sich nicht nur aus dem erwähnten persönlichen oder parteilichen Aneignungsbedürfnis, sondern auch aus dem Verkennen von Büchners jugendlicher Ambivalenz.«
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sachlich bzw. ko-textuell ähnliche Kontexte, um die Möglichkeit einer zwischenzeitlichen Meinungsänderung des Autors zu minimieren.‹
4. Literaturwissenschaftliche Relevanz des Weltanschauungskonzepts Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass schon die Ermittlung und Typologisierung einzelner Anschauungen und die Rekonstruktion ihrer internen Struktur die Interpreten vor erhebliche Schwierigkeiten stellt. Jede weltanschauliche Interpretation verwischt – als ein schlagwortartig verkürzter, nähere Begründungen entbehrlich machender Behauptungsdiskurs – den tatsächlich extrem voraussetzungsreichen KonstruktCharakter dieser Operation. Auch die von uns gesichteten Textinterpretationen zu Büchners Woyzeck-Entwürfen legen bei der Rekonstruktion und Indienstnahme der auktorialen Weltanschauung nur einen kleinen Teil ihrer Argumentation offen; Kriterien und methodische Prinzipien der Datenerhebung, persuasive Legitimationsstrategien, Voraussetzungen und Prämissen bleiben in der Regel implizit. Demgegenüber muss abermals betont werden, dass Weltanschauung – auch vorgängig einer argumentativen Einbindung in literaturwissenschaftliche Textdeutungen – ein komplexes Interpretament ist. Welche Prämissen liegen nun dem fraglichen Verfahren zu Grunde? Zunächst wird üblicherweise davon ausgegangen, dass die Weltanschauung eines Autors konstant ist, jedenfalls sich nicht sprunghaft ändert. Entsprechend ist Weltanschauung eine dem Autor zugeordnete Perspektive, der – bis zum Erweis des Gegenteils – eine gewisse diachronische Konsistenz unterstellt werden kann. Hat ein Autor bestimmte Anschauungen, Haltungen, Überzeugungen, so werden sie als Grundsätze seines Denkens und Schreibens nicht so ohne weiteres außer Kraft gesetzt sein. Ferner wird angenommen: Kein Autor schreibt in eigener Sache ein Werk, dessen Gesamtaussage seinen Ansichten, Werten und Überzeugungen widerspricht. Diese Homogenitätsprämisse ist für die Literaturwissenschaft zentral. Werden weltanschauliche Annahmen getroffen, so gilt eine dem Autor einmal zugeschriebene Position so lange als richtig, bis sich gegenteilige Äußerungen oder nicht zu glättende Widersprüche ergeben, die eine 260
Modifikation erforderlich machen. Nur so kann plausibel gemacht werden, dass differente Werke und Texte ein wechselseitiges Explikationspotential besitzen und sich die rekonstruierten Wertmaßstäbe und Überzeugungen überhaupt übertragen bzw. synthetisieren lassen. Die kausale Kette, die diesem Verfahren zu Grunde liegt, geht – vereinfacht gesagt – davon aus, »daß durch umfassende Kenntnisse der Bedingungen, unter denen sie hervorgebracht wurde, die Literatur selbst wesentlich erhellt werden kann.«64 Unterstellt wird, dass die hinzugezogenen Texte deutlicher sind als der möglicherweise mehrdeutige oder widersprüchliche fiktionale literarische Untersuchungsgegenstand; zumindest aber, dass sie zu dessen Klärung irgendwie beitragen können. Mögliche Schwierigkeiten bei dieser Praxis liegen vor allem im doppelten Interpretationsakt. Der eigentlichen Interpretation geht eine andere (subsidiäre) voraus. Die durch Interpretation erschlossene Weltanschauung des Autors dient als Ausgangspunkt der Interpretation des zu untersuchenden Gegenstands. Kann dies problemlos gelingen, so könnte man fragen? Und: Sieht sich das der eigentlichen Interpretation vorgeordnete Verfahren nicht mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert wie die eigentliche Interpretation? Werden beispielsweise andere literarische Texte herangezogen, wie ist dann mit deren Fiktionalität umzugehen? Wie ist damit umzugehen, dass Textstellen, die nach einem diffusen Ähnlichkeitskriterium höchst selektiv zu einer der Interpretation zu Grunde liegenden Weltanschauung zusammengesetzt werden, oftmals aus verschiedenen Schaffensperioden und -zusammenhängen stammen? Reichen hermeneutische Maximen der Art: Präferiere zeitnahe und der Sache nach naheliegende Belege, die nicht ihrerseits ebenfalls stark interpretationsbedürftig (z. B. mehrdeutig) sind, sondern möglichst eindeutig Überzeugungen und Werthaltungen zum Ausdruck bringen! Versuche diese Belege nicht zu dekontextualisieren! Versuche auch, mögliche Gegenbelege aufzufinden und kritisch zu prüfen, ob sie Deiner Annahme widersprechen!
––––––––– 64 René Wellek, Austin Warren: Theorie der Literatur [1956]. Frankfurt a. M. 1972, S. 71. –
Im Modell der diachronisch zerdehnten, textuell vermittelten Kommunikationssituation kann (Wissen über) die Weltanschauung des Autors als Teil des desambiguierenden personell-situativen Äußerungskontexts konzipiert werden.
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aus, um entsprechende Einwände zu entkräften? Methodologisch ist das offenbar nicht ganz einfach. Wie Verfahren der Kontextselektion und Kontextverwendung hier genau auszusehen haben und ob hier regelgeleitet vorgegangen werden kann, wäre zu überlegen. Auch ließe sich fragen, was für eine Art Interpretation65 eine weltanschauungsgestützte Interpretation ist.
5. Interpretationspraxis: Woyzeck-Deutungen In (jüngeren) Interpretationstexten zu Büchners Woyzeck-Entwürfen66 gibt es eine große Bandbreite von expliziten und impliziten Bezugnahmen auf die dem Autor zugeschriebene Weltanschauung oder Bestandteile derselben. Obgleich eine klare Trennung hier nicht immer möglich ist, lassen sich grundsätzlich zwei Spielarten dieses Vorgehens unterscheiden: (1) die aus der Analyse des Textes und im Rekurs auf für relevant erachtete Kontexte entwickelte Interpretation der Weltanschauung des Autors und (2) die (autorbezogene) Interpretation der Texte aufgrund oder mittels der Weltanschauung. In den gesichteten Beiträgen erfüllt die Bezugnahme auf Büchners Weltanschauung – je nach Fragestellung und methodischem Verfahren, je nachdem ob die Interpretation eines Textsegments, einer Entstehungsstufe oder der überlieferten Entwürfe in toto angestrebt wird – recht verschiedene (argumentative) Funktionen.67 Um nur die wichtigsten ––––––––– 65 Vgl. grundsätzlich Göran Hermerén: Interpretation: Types and Criteria. In: Joseph
Margolis (Hrsg.): The World of the Art and the World. Amsterdam 1984, S. 131–161, Werner Strube: Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation. In: Paul Michel, Hans Weder (Hrsg.): Sinnvermittlung. Zürich 2000, S. 43–69 sowie den Überblick bei Simone Winko, Tilmann Köppe: Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart 2007, S. 285–371. – Es ist anzunehmen, dass vor allem autorbezogene bzw. intentionalistische Positionen argumentativ auf die Weltanschauung des Autors zurückgreifen. 66 Vgl. auch den Forschungsüberblick bei David G. Richards: Georg Büchner’s »Woyzeck«. A History of its Criticism. Rochester, NY 2001 sowie die Hinweise bei Per Röcken: Georg Büchners »Woyzeck« – Möglichkeiten und Grenzen textgenetischer Interpretation. In: GBJb 11 (2005–08), S. 163–205. 67 Vgl. zum Folgenden auch die hervorragende Untersuchung von Winko: AutorFunktionen (s. Anm. 36). Es ist in diesem Zusammenhang abermals darauf hinzuweisen, dass die Weltanschauung des Autors neben der Zuschreibung von Absichten verschiedener Qualität und Reichweite sowie der Rekonstruktion bestimmter diskursiver Praxen (wie sie vor allem Foucault beschrieben hat) zentraler Bestandteil eines
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zu nennen: Der Rekurs auf die Weltanschauung des Autors dient (i) der ideengeschichtlichen Einordnung und Kategorisierung der Autorposition sowie – nach einem Inklusion/Exklusion-Schema – (ii) der Einheitsstiftung oder (iii) der Differenzbildung in Bezug auf Texte und Textmengen, Personen und Personengruppen, Ideen und Denkrichtungen. Entsprechend fungiert der Nachweis übereinstimmender (oder konstanter) Weltanschauungen als die Konsistenz einer Menge von Texten präsumtiv gewährleistendes – nicht aber garantierendes – Kriterium. In diesem Sinne dient der Bezug auf die Weltanschauung des Autors (iv) der Selektion relevanter Kontextinformationen i. w. S. und Belegstellen (aus eigenen oder fremden Texten). Relevant sind diese, sofern sie als Ausdruck gleicher oder ähnlicher Dispositionen (bzw. diesen entsprechender Intentionen) gelten können. Die Funktion des Weltanschauungskonzepts ist hier jeweils eine integrative, homogenisierende. Wissen oder Annahmen über die Weltanschauung des Autors werden (v) heuristisch zur Bildung und Einschränkung von – auf mehr oder weniger umfangreiche Textmengen bezogenen – Interpretationshypothesen oder (vi) evaluativ zu deren Bestätigung oder Widerlegung herangezogen. Als Beurteilungs- und Gütekriterium ist die Übereinstimmung bzw. Vereinbarkeit mit der Weltanschauung des Autors eine Spielart der Forderung nach historischer Stimmigkeit der Interpretation. Nach unserer Einschätzung dienen Informationen über Büchners Weltanschauung – bzw. deren Bestandteile – argumentationspraktisch zumeist als spezifische Prämissen (interne oder externe Belege, Tatsachenaussagen, Daten), wobei allgemeine Gesetzeshypothesen dispositioneller Art als (meist implizite) generische Prämissen (Schlussregeln) fungieren.68 Dass die deskriptive, argumentationsanalytische Rekonstruktion entsprechender Passagen konkreter Interpretationstexte nicht immer einfach ist, sollen die folgenden Beispiele illustrieren. ––––––––– methodologischen Autorkonzepts ist. Einige argumentative Funktionen des Weltanschauungskonzepts entsprechen mithin denjenigen des Autorkonzepts und vice versa. 68 Vgl. auch Winko: Autor-Funktionen (s. Anm. 36), S. 347: »Eine Variante der Annahme von der interpretatorischen Relevanz kognitiver Faktoren (z. B. Problemsituationen, weltanschaulicher Annahmen, religiöser Orientierungen) […] eines Autors bildet in allen Fällen die Schlussregel, die einen Übergang von den Prämissen zur Konklusion rechtfertigt.«
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Ein erstes Beispiel: Heinz Wetzel wendet sich in seiner 1980 erschienenen Interpretation der Woyzeck-Entwürfe ausdrücklich gegen Versuche, »Büchner und sein Werk auf bestimmte weltanschauliche Grundmuster festzulegen«, und möchte stattdessen – die textgenetische Dimension stärker fokussierend – den Versuch unternehmen, »die Widersprüche zu verstehen«, näher charakterisiert als das auktoriale »Oszillieren zwischen rationaler Analyse und Melancholie, zwischen revolutionärem Impuls und Resignation«.69 Eine entscheidende Pointe in Wetzels Argumentation ist die introspektive Analogisierung – zuweilen auch Identifizierung – der männlichen Hauptfigur mit Büchners psychisch-biographischer Entwicklung bzw. seinem sich wandelnden Erkenntnisstand: »Der Grund für die Entwicklung Woyzecks liegt in Büchners eigener Entwicklung.«70 Büchners Arbeit am Text dokumentiert Wetzel zufolge dessen Absicht, durch Selbstdistanzierung »die Bildung eines neuen geistigen Lebens im V o l k [zu] suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft [der Büchner sich angeblich selbst zugehörig fühlte, C.K./P.R.] zum Teufel gehen [zu] lassen«.71 Die in den Woyzeck-Entwürfen dargestellten Figuren verkörpern demnach Büchners wertende Einschätzung der sozialen Gegebenheiten, wobei Woyzeck ihm als positive Identifikationsfigur dient. Wetzel vertritt nun allerdings die Auffassung, dass Büchners »Versuch, über dieses Mitempfinden am Leben Woyzecks teil zu haben«, zwangsläufig in die Irre führen musste; seine Begründung hierfür verdient wegen ihrer Originalität vollständig zitiert zu werden: »[Büchners] Versuch […] mußte scheitern, weil die Annäherung nur in dem Maße gelang, in dem Woyzeck Büchner angenähert und sich selbst entfremdet wurde. Denn weil Büchner [der übrigens nach Wetzel »selbst schon während seiner revolutionären Tätigkeit von deren Sinnlosigkeit überzeugt« war; S. 386] dieser Figur um der Wahrhaftigkeit willen seinen eigenen Bewußtseinsstand nicht vorenthalten konnte, gelang die Annäherung nur um den
––––––––– 69 Heinz Wetzel: Die Entwicklung Woyzecks in Büchners Entwürfen. In: Euphorion 74 (1980),
S. 375–396, hier S. 375f.
70 Ebd., S. 385. 71 Brief an Karl Gutzkow, Anfang Juni 1836 (Briefwechsel, S. 103); vgl. auch den Brief an
Wilhelmine Jaeglé, 20. Januar 1837 (ebd., S. 128f.)
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Preis, daß auch Woyzeck nach den Bedingungen seiner Existenz fragt, um sie schließlich resigniert zu erkennen.« 72
Es ist nur konsequent, wenn Wetzel gerade in diesem (vorhersehbaren) Scheitern der Büchner’schen ›Selbst-Therapie‹ den eigentlichen Grund für die Unabgeschlossenheit des Dramas (wie auch der einzelnen Entwürfe) glaubt ausmachen zu können. Das dem Autor aufgrund einer Analyse ausgewählter Briefpassagen73 zugeschriebene mental-dispositionelle Inventar wird auf diese Weise in den Textbestand – namentlich die Figuren – hineinprojiziert. Die widersprüchliche, bei aller Resignation, allem »konsequente[n] Determinismus«74 entwicklungsoffene Weltanschauung Büchners wird zur Erklärung der Textgestaltung und der Textgenese herangezogen. Aus einer Analyse all derjenigen Stellen, an denen Büchner die Arbeit an einer Entstehungsstufe jeweils abbrach, zieht Wetzel den Schluss, dass dieser, »nachdem die in der Tradition des Volkes bewahrten religiösen und sittlichen Werte seinen kritischen Fragen nicht standgehalten haben, dahinter zurückgegangen [sei], um« – dies zeige die zunehmende Vitalität Maries und der Altruismus der ›Testaments-Szene‹ (H4,17) – »solche Werte allein in der Natur des Menschen aufzuspüren.«75 Die sich damit andeutende humanistisch-allzumenschliche Lösung indes habe Büchner nicht mehr weiterverfolgen und kritisch prüfen können. Ein zweites Beispiel: Sämtliche Spielarten existentiell-metaphysischer Deutung durch close reading – anhand der »Texttatsachen«76 also – zu widerlegen, diese als Versuche auszuweisen, »die politische Position des ––––––––– 72 Wetzel: Entwicklung (s. Anm. 69), S. 389. – Eine eher theoretische Erwägung zum
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Folgenden: Tatsächlich scheint (i) das Wissen der fiktiven Figuren dasjenige des Autors grundsätzlich nicht übersteigen zu können und dürften (ii) die von jenen zum Ausdruck gebrachten An- und Einsichten diesem vorab kognitiv mehr oder weniger präsent gewesen sein; vgl. auch Juhl: Begrenzung (s. Anm. 51), S. 39f. Vgl. auch Wetzel: Entwicklung (s. Anm. 69), S. 386–389, wo zunächst mit Hinweis auf Büchners ›Melancholie‹ Auszüge aus dem ›Fatalismus‹-Brief zitiert, Wilhelm Schulz als Zeuge für Büchners »religiöse Achtung vor dem Volke« angeführt und schließlich dessen Kritik an Bildungsprivilegien anhand abwertender Äußerungen (»eine[] lächerliche[] Aeußerlichkeit«, »todte[r] Kram[]«, Briefwechsel, S. 36) belegt wird. Wetzel: Entwicklung (s. Anm. 69), S. 377. Ebd., S. 396. Alfons Glück: Der »Woyzeck«. Tragödie eines Paupers. In: Katalog Darmstadt, S. 325–332, hier S. 328.
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Dichters zu tilgen«,77 und stattdessen die sozial- und ideologiekritische Grundlage und Tendenz der Woyzeck-Entwürfe zu exponieren, ist das Anliegen des bis heute zweifellos einflussreichsten Interpreten dieser Texte. Alfons Glücks umfangreiche Beiträge78 zu Büchners unvollendetem Drama kommen dabei erwartungsgemäß nicht ohne Bezugnahmen auf dem Autor zugeschriebene Überzeugungen, Werthaltungen, Darstellungs- und Wirkungsintentionen aus: »Moral ist für Büchner an materielle Bedingungen gebunden, sie ist klassenspezifisch«, so Glück, und es sei von entscheidender Bedeutung, dass »dieses Axiom Büchners vom Interpreten nicht nur zitiert, sondern auch festgehalten und in der Textauslegung realisiert wird.«79 Aussagen zu Büchners Überzeugungen belegt Glück vor allem mit Hinweis auf den Hessischen Landboten80 (bzw. allgemein auf Büchners revolutionäre Praxis) oder mit ausgewählten Briefpassagen.81 Ein zusätzlich intendierter Effekt ist hierbei offenbar, ein positives Urteil über die moralische Integrität des Autors zu begründen und Sympathie für das diesem zugeschriebene sozialkritische Projekt einzufordern. Grundsätzlich dient die Bezugnahme auf die Weltanschauung des Autors als zusätzliches, nicht explizit benanntes Beurteilungskriterium für die Richtigkeit von Interpretationshypothesen; primäres, ausdrücklich exponiertes Kriterium ist demgegenüber die Vereinbarkeit mit möglichst vielen nicht selektiv erhobenen Textdaten in ihrem strukturellen Zusam––––––––– 77 Alfons Glück: Der »ökonomische Tod«: Armut und Arbeit in Georg Büchners »Woyzeck«. In:
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GBJb 4 (1984), S. 167–226, hier S. 182; vgl. zur Kritik christlicher, metaphysischer, existentialistischer, allegorischer usw. Deutungen ebd., S. 173f., S. 182f., S. 195f., S. 203f. sowie S. 216–223; vgl. auch Ders.: »Herrschende Ideen«: Die Rolle der Ideologie, Indoktrination und Desorientierung in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 5 (1985), S. 52– 138, hier S. 79–91 u. ö. Erschienen in GBJb 4 (1984), S. 167–247 und 5 (1985), S. 52–182; eine Kurzfassung liegt vor mit Alfons Glück: Woyzeck. Ein Mensch als Objekt. In: Georg Büchner. Interpretationen. Stuttgart 1990, S. 177–215, eine Kürzestfassung ist der in Anm. 75 genannte Beitrag. – Im Sinne der von Tepe: Kognitive Hermeneutik (s. Anm. 47), S. 14f. vorgeschlagenen Unterscheidung wären diese Interpretationstexte am ehesten dem ›projektiv-aneignenden‹ Interpretationstyp zuzuordnen. Glück: Ideen (s. Anm. 77), S. 66f. mit Anm. 27. Vgl. Glück: Armut (s. Anm. 77), S. 171, S. 176 mit Anm. 11, S. 181f., S. 187 und S. 197; ders.: Militär und Justiz in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 4 (1984), S. 227–247, hier S. 227f., S. 237, S. 245 und S. 247; Glück: Ideen (s. Anm. 77), S. 55, S. 80, S. 102, S. 115, S. 132, S. 138 u. ö. Vgl. etwa Glück: Ideen (s. Anm. 77), S. 74, S. 79, S. 102 und S. 114f.
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menhang.82 So wird etwa, um zu ermitteln, wie Büchner die »Religion im Hinblick auf die Erniedrigten und Beleidigten bewertet wissen wollte«, zunächst das ›Großmutter-Märchen‹ als Ausdruck einer »atheistische[n] Kosmologie« gedeutet, das, »in Worten und Chiffren von schneidender Klarheit«, »diametral einer christlichen Ausdeutung des Woyzeck« widerspreche.83 Um sodann ein weiteres Argument gegen all diejenigen zu gewinnen, die »aus seinen Werken und gerade aus dem Woyzeck eine religiöse Botschaft herauslesen wollen«, interpretiert Glück eine Passage aus Büchners Brief an Gutzkow vom Juni 1836,84 den er als »ein sicheres Indiz« für Büchners rein instrumentelle Auffassung der Religion wertet; seine Schlussfolgerung lautet: »Niemals hätte ein Gläubiger solche Sätze schreiben können!« bzw.: »Und gläubig hätte Büchner allerdings sein müssen, wenn er seine tiefste Konzeption als Dichter, den Woyzeck, auf einen religiösen (christlichen) Sinn hätte ausrichten sollen.«85 Glücks Argumentation lässt sich ungefähr so paraphrasieren: (P1) Wenn jemand eine christliche Weltanschauung hat (gläubig ist), so wird er keine Formulierungen benutzen, die die Religion als etwas rein Instrumentelles erscheinen lassen (dispositionelle Gesetzesannahme). (P1’) Menschen handeln entsprechend ihren Überzeugungen konsistent und vermeiden Selbst-Widersprüche (Konsistenzpräsumtion, Stützung zu P1). (P2) Büchner hat entsprechende Formulierungen (nämlich »Hebel anzusetzen«, »und dann ein Kreuz oder sonst so was«) benutzt (empirische Aussage). (C1) Büchner hatte (mit großer Wahrscheinlichkeit) keine christliche Weltanschauung. (P3) Wenn Büchner eine christliche Weltanschauung gehabt hätte, so hätte sich diese den vom ihm verfassten Texten prägend ›eingeschrieben‹, und es ––––––––– 82 Vgl. Glück: Armut (s. Anm. 77), S. 220 und S. 224f. sowie Glück: Ideen (s. Anm. 77),
S. 89. – Hierzu passt, dass Glück die Evaluation von Interpretationshypothesen ausdrücklich nicht von deren Vereinbarkeit mit brieflichen Aussagen Büchners abhängig machen möchte: »Ein solches Verfahren ist unzulässig. Die Deutung eines Textes kann nicht bezogen (importiert), sie kann nur aus dem Gegenstand entwickelt werden, und Gegenstand ist der Text« (Armut [s. Anm. 77], S. 220). 83 Glück: Ideen (s. Anm. 77), S. 77–79. 84 »Und die große Klasse selbst? Für die giebt es nur zwei Hebel, materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s. Jede Parthei, welche dieße Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein K r e u z oder sonst so was.« (Briefwechsel, S. 103.) 85 Ebd., S. 80f.
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gäbe Gründe, (zumindest heuristisch) von einer religiösen Botschaft auszugehen (kontrafaktische Imagination). (P4) Büchner hatte (mit großer Wahrscheinlichkeit) keine christliche Weltanschauung (Konklusion des ersten Arguments). (C2) Den Woyzeck-Entwürfen ist (mit großer Wahrscheinlichkeit) keine christliche Weltanschauung prägend ›eingeschrieben‹, i. e. das So-Sein des Textbestands ist nicht im Rekurs auf eine solche erklärbar.
Es finden sich auch verkürzte Varianten entsprechender Argumente: So verzichtet Glück bei der Bestätigung einer Interpretationshypothese – derzufolge Woyzecks kognitive Beschränktheit keine naturgegebene Anlage (Dummheit), sondern »durch seine materielle Situation bedingt sei« – auf eine Sichtung der relevanten internen Belege und weist stattdessen auf Büchners Haltung zum fraglichen Sachverhalt hin. Angeführt werden namentlich bildungskritische Passagen aus dem Brief an die Familie vom Februar 1834, gefolgt von dem Hinweis, dass »eine solche materialistische Ableitung für Büchner etwas anderes als ein gelegentlicher und folgenloser Einfall« und »diese Philosophie durch Lebenspraxis gedeckt war«.86 Offenbar dient dies der Entkräftung antizipierter Einwände, die sich z. B. auf die zeitliche Distanz (über zwei Jahre) zwischen der Briefstelle und der Arbeit an den Woyzeck-Entwürfen bzw. auf mögliche Veränderungen im System der Überzeugungen des Autors beziehen könnten. Schließlich findet sich noch eine bemerkenswerte normative (forschungsprogrammatische) Version der Bezugnahme auf Büchners Weltanschauung: Der in Lenz (MBA 5, S. 37) von Lenz formulierten »Konfession« folgend (»Man versuche es einmal und versenke sich in das Leben des Geringsten […]«) – für die Glück »einen politischen Grund: die Parteinahme für die ›Geringsten‹« ausmacht – solle sich auch der Interpret der Woyzeck-Entwürfe Büchners Perspektive zu eigen machen und die durch besagte ästhetische Programmatik bestimmten Texte »wieder und wieder auf Spuren und Abdrücke der ›Geringsten‹ durchsehen«.87 Zu unserem dritten Beispiel: In einer 1999 erschienenen Untersuchung geht Carsten Jakobi von einer Interpretation des so genannten ––––––––– 86 Glück: Ideen (s. Anm. 77), S. 115. 87 Ebd., S. 126f..
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›Fatalismus‹-Briefs88 aus, die ihn zu der (einigermaßen abstrakten) Annahme führt, »[d]ie pointierte fatalistische Rhetorik einer Subjektwidrigkeit der Welt« gebe Büchner »lediglich Gelegenheit, zu affirmativen Sinnentwürfen subjektiver Verwirklichung eine theoretische Distanz aufzubauen, und dies unter dezidiertem Verzicht auf die Zustimmung zum subjektgemäß Unausweichlichen, die der Fatalismus intendiert.«89 Vereinfacht gesagt: Büchner habe (1) eine kritisch ablehnende Haltung gegenüber subjektbezogenen, idealistisch-aufklärerischen Überzeugungen und also auch noch zu den Maßstäben der von ihm selbst geübten Kritik,90 weshalb er (2) bewusst darauf verzichte, eine eigene optimistische Vision zu entwickeln. In diesem Sinne könne gezeigt werden, dass den Texten mitnichten »die positive Darlegung einer Weltanschauung«91 zu entnehmen sei: »Der Verfasser des ›Woyzeck‹ zitiert Versprechungen an das Subjekt lediglich, um sie scheitern zu lassen«.92 Methodisch realisiert sei Büchners Kritik nun in den WoyzeckEntwürfen und zwar vor allem im Modus des Grotesken. Jakobis Ziel ist ausdrücklich, »die Funktion der ästhetischen Mittel für Büchners kritische Intention nachzuzeichnen«.93 Er verfährt dabei ungefähr so: Als zentraler Aspekt der Weltanschauung Büchners wird – aus der Analyse einer als systematisch relevant erachteten Briefstelle (genauer: von dieser ausgehend) – ein interpretatorisches Ordnungsschema abstrahiert, von dem anschließend durch theoriegeleitete Selektion und Deutung entsprechender ––––––––– 88 Briefwechsel, S. 34; vgl. zu verschiedenen Deutungen des Briefes überblickshaft There-
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sia Maria Guntermann: Arbeit – Leben – Sprache. Eine diskursanalytische Untersuchung zu Texten Georg Büchners im Anschluss an Michel Foucault. Essen 2000, S. 193–199. Carsten Jakobi: Kritischer Zweischritt. Georg Büchners ästhetische Entmächtigung moralischer Sinnsysteme im »Woyzeck«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), S. 216–233, hier S. 218; vgl. zur näheren Bestimmung des Ausdrucks ›Fatalismus‹ ebd., S. 217. Büchners (durch schiere Negativität charakterisierte, subjektkritische) Position wird (1) durch den Ausweis einer »partielle[n] Konformität« »mit dem Fatalismus« (i. e. als »partielle[r] ›Fatalismus‹«) und (2) ex negativo bestimmt: »Zu den Objekten von Büchners Kritik gehören zum Beispiel Schillers Ideal der moralischen Freiheit des Subjekts, Kants Entwurf der sittlichen Autonomie und Rousseaus Naturzustandsidealismus, aber auch die traditionelle moralische Subjektivität des Christentums sowie Sinnentwürfe der Alltagsmoral«; ebd., S. 218. Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Ebd., S. 221.
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Textbelege94 gezeigt wird, dass es als integratives dispositionelles Strukturprinzip den Entwürfen in toto zugrunde liegt95 und den einzelnen Textsegmenten eine spezifische Funktion zuweist. Die dem Autor zugeschriebene Weltanschauung erfüllt hier eine heuristische Funktion; sie dient dem Auffinden ihr analoger Gestaltungsprinzipien im Text. So interpretiert Jakobi das Großmutter-Märchen in H1,14 als Ausdruck der »Vergeblichkeit menschlicher Sinnsuche«96 und versucht zu zeigen, dass Büchner zugleich die Form der Kritik (nämlich die narrativ-ästhetische Struktur des Märchens) als mögliches sinnstiftendes Prinzip kontrafaktisch ad absurdum führe. Insofern als Jakobi alle Textbestandteile strukturell durch besagte Disposition bestimmt sieht, erfüllt der Rekurs auf Büchners Weltanschauung überdies eine integrativ-synthetische Funktion; er dient der Plausibilisierung eines Einheitlichkeits-Postulats. Es ist auffällig, wie Annahmen über Büchners vermeintlich rein negative Weltanschauung sukzessive vom einzelnen Zitat in eine Paraphrase und weiter in eine abstrakte schlagwortartige Aussage überführt werden, hinter der sich implizit ein höchst komplexes Argumentationsgebäude verbirgt. ––––––––– 94 Dieses Vorgehen einer hypothesen-geleiteten Selektion lediglich affirmativer Belege
entspricht ersichtlich nicht den wissenschaftstheoretisch einschlägigen Anforderungen an einen strengen, ernsthaften oder gar kritischen Hypothesen-Test; vgl. dazu Axel Bühler: Die Überprüfung von Hypothesen über Autorabsichten. In: Journal of Literary Theory 4.1 (2010), S. 141-156. 95 In vergleichbarer Weise greift Theo Elm: Georg Büchner: »Woyzeck«. Zum Erlebnishintergrund der Vormärzzeit. In: Interpretationen. Dramen des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1997, S. 141–169, bes. S. 161f. und S. 163f. anhand der Probevorlesung auf Büchners »naturwissenschaftliche Teleologiekritik« zurück, »den elementaren bewußtseinstheoretischen Hintergrund des Stücks« und »Kern von Büchners Denken und Werk« (S. 161f.). Elm sieht die (recht weit gefasste) Teleologiekritik als Folie auch für Handlungs- und Figurengestaltung, dank derer »der Blick des Publikums gerade nicht auf teleologische, auf sozialgeschichtliche Begründungs- und Strukturzusammenhänge« falle, »sondern auf Woyzeck als einzelnen um seiner selbst willen«, worin sich übrigens »Büchners Ethos der Individualität und seine Abwehr alles übergeordnet Prinzipiellen« zeige (S. 145). – Ein weiteres (in seinen Konsequenzen entgegengesetztes) Beispiel: Von Büchners Briefen ausgehend (re)konstruiert Hanns Frericks: Georg Büchner: »Woyzeck«. Der Beginn des modernen Dramas. In: Dietrich Steinbach (Hrsg.): Dramen in ihrer Epoche. Stuttgart 1990 (Anregungen für den Literaturunterricht), S. 84–96 Büchners »Materialismus« und deutet die Entwürfe nach dieser Schablone sodann als »konsequente Weiterentwicklung eines materialistischen Konzepts« (S. 85). 96 Jakobi: Zweischritt (s. Anm. 89), S. 230.
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Wie schon bei Glück geht auch hier mit der Zuschreibung einer bestimmten – hier: einer differenzierten (›modernen‹) – Weltanschauung eine positive ethisch-ästhetische Wertung des Autors und seiner Texte einher. Anders als Jakobi geht Theo Buck – und damit sind wir bei unserem vierten Beispiel – in seinem Aufsatz Die Bühne des Antihelden aus dem Jahre 2000 nicht von theoretischen Äußerungen Büchners, sondern von einer – implizit theoriegeleiteten, nicht sonderlich textnahen – Analyse der Woyzeck-Entwürfe aus. Die die Untersuchung leitende These lautet, Büchner habe seine theatralische Umsetzung des Woyzeck-Stoffes »zu einem ihm wichtigen humanen Appell« bzw. als »ein soziales Exempel« gestaltet, mit dem Ziel, »Zuschauer und Leser zu der dialektischen Erkenntnis zu bringen, wie nötig es wäre, andere Verhältnisse herbeizuführen«.97 Um seine These plausibilisieren zu können, geht Buck davon aus, dass dem Text »ein kommentierender Bild- und Symbolkode eingeschrieben« sei, der eine implizite Rezeptions- und Handlungsanweisung enthalte und als »Parteinahme des Autors fortgesetzt« dazu zwinge, »menschliches Verhalten zu beurteilen«.98 Vereinfacht gesagt: Durch die Art und Weise der Darstellung werde »eine Art Interpretationsebene« eingeführt, die als intentionaler Bestandteil der Texte – dem »ästhetischen Programm des Autors« entsprechend – Büchners (kritische) Parteinahme, seine Werthaltung dem Dargestellten gegenüber zum Ausdruck bringe.99 Für die Plausibilität dieser These argumentierend versucht Buck zu zeigen, dass diese mit ethisch-ästhetischen Anschauungen Büchners vereinbar sei, oder auch: von diesen nahegelegt werde. Namentlich zitiert er aus dem Brief an die Familie vom Februar 1834, in dem der »Revolutionär Büchner«100 bekanntlich seine Verachtung derjenigen, »w e l c h e v e r a c h t e n«, wie sein Mitleid »leidenden, gedrückten Gestalten« gegenüber ––––––––– 97 Theo Buck: Die Bühne des Antihelden. Anmerkungen zu »Woyzeck«. In: Ders.: »Riß in der
Schöpfung.« Büchner-Studien II. Aachen 2000, S. 153–178, hier S. 157, S. 161 u. S. 167f. – Entsprechend bringt Buck die Struktur der Entwürfe erklärend »mit dem dezidierten Wunsch des Autors« in Verbindung, »die Natur des menschlichen Zusammenlebens von Grund auf verändert zu sehen« (S. 169). 98 Ebd. 99 Ebd., S. 171 und S. 167. 100 Ebd., S. 171.
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eindrucksvoll zum Ausdruck bringt.101 Buck annotiert: »Das liest sich wie ein Kommentar zum Gestaltungsverfahren im Woyzeck.«102 Der Bezug auf einzelne dem Autor begründet zugeschriebene Anschauungen dient hier neuerlich der Plausibilisierung eines auf den Text in toto applizierten Deutungsschemas. Obgleich dies nicht explizit gemacht wird, scheint ein übergeordnetes Ziel der Interpretation darin zu bestehen, als Gehalt, Aussage, Tendenz, Einsicht oder auch: zentrale Idee des Textes die Repräsentation und Vermittlung der auktorialen Überzeugungen und Werthaltungen auszuweisen. Das entsprechende hermeneutische Postulat besagt: Wir haben einen Text erst dann adäquat verstanden, wenn wir verstanden haben, wie der Autor das Dargestellte aufgefasst wissen wollte oder auch: was er uns sagen wollte. Grundsätzlich scheint das Postulat der Vereinbarkeit mit einer dem Autor plausibel zuschreibbaren Weltanschauung demnach – der Forderung nach historischer Stimmigkeit entsprechend – als Beurteilungsmaßstab oder Gütekriterium von Textinterpretationen (und Text-Applikationen im Sinne des Autors) verwendet zu werden und auch anerkannt zu sein. Abgesehen davon, dass die Bezugnahme auf die Weltanschauung des Autors – wie mehrfach angedeutet – zu einer Potenzierung von Interpretationsschwierigkeiten, einer beträchtlichen Komplexion (und a fortiori: Undurchsichtigkeit) literaturwissenschaftlicher Argumentationen führt, erscheint uns bemerkenswert, dass auf der Grundlage derselben Kontext-Informationen eine Vielzahl nicht miteinander vereinbarer weltanschaulicher Deutungen der Woyzeck-Entwürfe möglich ist. Das Problem scheint uns hierbei weniger zu sein, dass Büchners individuelle Weltanschauung nicht zu rekonstruieren ist, sondern dass eine vollständige Integration widersprüchlicher Anschauungen und damit eine eindeutige Rubrizierung dieser Weltanschauung nicht zu überzeugen vermag, da hier immer wichtige Einzelaspekte außer Acht bleiben. Auch gibt es ersichtlich kein hinreichend spezifisches interpretatorisches Schema, das eine Integration und Funktionalisierung aller Textsegmente leisten könnte. Es bleibt immer ein nicht zu integrierender Rest. ––––––––– 101 Briefwechsel, S. 36. 102 Buck: Bühne (s. Anm. 97), S. 170.
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Offenbar sind auch und gerade die Woyzeck-Entwürfe kein »Agitationsmedium für eine genau fixierte theoretische Überzeugung«,103 sondern Ausdruck einer irreduziblen Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen, dessen gemeinsamer Nenner die komplexe, bis zuletzt entwicklungsoffene Persönlichkeit Georg Büchners ist.104 Eine (normative) Konsequenz aus diesem Gedanken könnte lauten: Diskontinuitäten und Widersprüche gilt es ebenso wie Kontinuitäten und Konsistenz, wo sie im Rekurs auf relevante (historische) Kontexte plausibel zu machen sind, differenziert zu erfassen105 und in ihrem Spannungsverhältnis zu begreifen, statt sie zu ignorieren, sie wegzudiskutieren oder einseitig aufzulösen.106 Eine »unaufgehobene Widersprüchlichkeit« – so scheint es – macht auch Büchners letztes literarisches Projekt »ebenso anfällig für vereinseitigende Ideologisierungen wie im Kern für derlei unverwundbar.«107 ––––––––– 103 Wetzel: Ein Büchnerbild der siebziger Jahre (s. Anm. 1), S. 260 (hier bezogen auf Danton’s
Tod).
104 Vgl. Carsten Rohde: Pervertiertes Dasein. Über die Vereinbarkeit des Unvereinbaren im Werk
Georg Büchners. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 161–184; vgl. ähnlich bereits John Reddick: Georg Büchner. The Shattered Whole. Oxford 1994. 105 Hierzu gehört: Die zur Beschreibung und Rubrizierung von Überzeugungen oder mental-dispositionellen Systemen allgemein verwendete Terminologie sollte metasprachlich reflektiert sein. Zu vermeiden sind undifferenzierte Gegensatzpaare, anachronistische Konstruktionen und pauschale Erklärungsmodelle wie etwa der Bezug auf die angeblich dem Œuvre Büchners zugrunde liegende »Dialektik der Aufklärung«; vgl. etwa Rohde: Pervertiertes Dasein (s. Anm. 104), S. 165–170; vgl. ähnlich bereits (jeweils mit Bezug auf Adorno/Horkheimer) Thorn-Pricker: Revolutionär (s. Anm. 53), S. 111–134 und Richard T. Gray: The Madness of Civilization. Carnivalisation, Spectatorship, and the Critique of Enlightment in Büchner’s ›Woyzeck‹. In: Ders.: Stations of the Divided Subject. Contestation and Ideological Legitimation in German Bourgeois Literature, 1770–1914. Stanford, CA 1995, S. 196–231. 106 Damit ist mitnichten einer ahistorischen Beliebigkeit das Wort geredet: Grundsätzlich scheint uns der explanative Rekurs auf die mental-dispositionelle Ausstattung des Autors – zumal im lebensweltlichen Zusammenhang seiner biographischen Entwicklung – das aussichtsreichste Güte- und Beurteilungskriterium für die Richtigkeit und intersubjektive Überzeugungskraft einer Textinterpretation zu sein. Der Rückgriff auf die Autorposition gewährleistet eine gewisse Objektivität der Interpretation, kann diese aber nicht garantieren. Stichhaltige Einwände wären hier am ehesten auf methodologischer Ebene zu erwarten. 107 Klaus Müller-Salget: Georg Büchners »Fatalismus« [1980]. In: Ders.: Literatur ist Widerstand. Aufsätze aus drei Jahrzehnten. Innsbruck 2005, S. 61–71, hier S. 71.
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»Der Schriftsteller hat sich den Schriftsteller einverleibt« – Georg Büchner als literarisches Alter Ego in Friedrich Dürrenmatts Endspiel Achterloo von Sabine Schu (Saarbrücken) Die Bedeutung Georg Büchners für Friedrich Dürrenmatt wird bereits in den Anfängen seiner künstlerischen Laufbahn deutlich: Als dieser zwischen Malerei und Schriftstellerei schwankend an Weihnachten 1942 nach durchzechter Nacht unvermittelt vor dem Züricher Grabstein Büchners steht, hat er sein »›Pfingsterlebnis‹«:1 Er beschloss, Schriftsteller zu werden. Ergriffen von dieser Erkenntnis schreibt Dürrenmatt noch am selben Morgen seine Geschichte Weihnacht, die in Anlehnung an die Erzählung der Großmutter im Woyzeck seine poetische Weltbeschreibung präsentiert. Die Entmythologisierung des Himmels bei Büchner, dessen Sonne »eine verwelkte Sonnenblume«, dessen Sterne »kleine goldne Mücken« sind, wird bei Dürrenmatt auf die Spitze getrieben: »Der Himmel schwarz. Die Sterne gestorben. Der Mond gestern zu Grabe getragen. Die Sonne nicht aufgegangen.«2 Das im Schnee aufgefundene Christkind, Symbol des christlichen Weltbildes, entpuppt sich als augenloses Wesen aus altem Marzipan. Diese negative Kosmologie des Autors, dessen Himmel mehr Drohung als Hoffnung verspricht, wird sich über sein gesamtes Werk erstrecken. Die Figur Georg Büchners erhält überdies eine Art ›Rahmenfunktion‹ für das Dürrenmattsche Schaffen, was seine Zentral- und Vorbildstellung bereits andeutet, indem ihn Dürren––––––––– 1
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Charlotte Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung. In: Friedrich Dürrenmatt: Achterloo [...]. Zürich 1998 (WA, Bd. 18), S. 125–266, hier S. 237. Der Band enthält außerdem: Achterloo I (S. 9–122), Zwischenwort (S. 267–272), Achterloo III (S. 273–411), Achterloo IV (S. 413–537), unter dem Titel Abschied vom Theater (S. 539–586) den Doppelessay Nachwort zu ›Achterloo IV‹ (S. 541–567) und Abschied vom Theater (S. 568–586) sowie einen Anhang. Ebd., S. 166.
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matt zum fiktiven Autor seines letzten Dramas Achterloo erhebt, mit dem er sich von den Bühnen in die Subjektivität der Epik3 verabschiedet. Das Interesse für den Schriftsteller Georg Büchner und sein Werk wird in einer von Friedrich Dürrenmatt 1972 verantworteten WoyzeckInszenierung am Schauspielhaus Zürich deutlich. Angeregt durch den fragmentarischen Charakter des Stückes wählt er »eine neue Fassung: meine«.4 Der Dramatiker ändert die Szenenfolge und damit die Interpretation, z. B. indem er zuerst den Treuebruch Maries inszeniert, die erst danach die Ohrringe sozusagen als Geschenk ihres Geliebten erhält. Hierdurch verschiebt sich die Untreue der jungen Frau vom Wunsch nach sozialem Aufstieg mehr in die Lustebene, was explizit dadurch unterstrichen wird, dass der Tambourmajor sogar in Szenen zwischen Marie und Woyzeck im Hintergrund in Maries Bett liegt.5 Dürrenmatt verstärkt die moralische Verurteilung Maries, die sich nachdrücklich von Woyzeck abwendet: »Rühr mich nicht an, Franz! Ich hätt lieber ein Messer in den Leib als deine Hand auf meine.«6 Darüber hinaus reduziert Dürrenmatt das Bühnenbild ins Minimalistische: Zwei Wagen dienen als Schauplatz der verschiedenen Örtlichkeiten, was zu einer szenischen Gleichzeitigkeit der Handlung führt. Durch die Gleichsetzung des Barbiers mit Woyzeck und des Unteroffiziers mit dem Tambourmajor in der Szene H1,10, die er der blutigen Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten und dem Kauf des Messers voranstellt, legt Dürrenmatt eine Motivierung des Mords als Tat aus ›gekränkter Ehre‹ nahe.7 Die figür––––––––– 3 4 5 6 7
»Erzählen ist eine subjektive Kunst« (Friedrich Dürrenmatt: Aspekte des dramaturgischen Denkens. In: Ders.: Theater. Essays, Gedichte, Reden. Zürich 1998 (WA, Bd. 30), S. 104– 120, hier S. 104). Friedrich Dürrenmatt: Urfaust. Woyzeck. Bearbeitungen. Zürich 1998 (WA, Bd. 13), S. 193. – Dennoch betont Dürrenmatt, dass er »so lang wie möglich der letzten Niederschrift Büchners« gefolgt sei (Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 224). »Maries Stube. Tambourmajor liegt im Bett, Marie sitzt neben ihm. […] Woyzeck eilt von rechts hinten auf die Bühne. Marie nimmt ihr Tuch um, fängt ihn vor dem Haus ab.« (Woyzeck [s. Anm. 4], S. 162.) Ebd., S. 164. Diese Deutung vertritt auch Hartung: »Es gibt für den Mörder, den historischen wie den von Büchner gedichteten, gar kein anderes s o z i a l e s Tatmotiv als Eifersucht, Behauptung maskuliner Ehre, Rache für verletzte Herrschafts- und Besitzansprüche des Mannes.« (Günter Hartung: Die Technik der Woyzeck-Entwürfe. In: Wege zu Georg Büchner. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften (Berlin-Ost). Hrsg. v.
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liche Identität von Barbier und Woyzeck wird ebenfalls in Achterloo von tragender Bedeutung sein, wo die Woyzeck-Figur als Barbier und Scharfrichter fungiert. Den Höhepunkt von Friedrich Dürrenmatts Auseinandersetzung mit dem Werk Georg Büchners bildet sein letztes Bühnenstück Achterloo, »eine Komödie über die Vorgänge in Polen, die in einer Volksrepublik zu einer Militärdiktatur führten, gespielt von historischen Gestalten verschiedener Zeiten, ein scheinbar wirres Unterfangen, die Gegenwart erzählt durch die Vergangenheit«.8 Der Schweizer transponiert in seinem Endspiel, das er als den »Versuch, ein Fazit aus [s]einer Theaterarbeit zu ziehen«,9 kennzeichnet, das aktuelle Zeitgeschehen Polens von 1981 in ein überzeitliches Welttheater. In diesem »carnival of history«10 wird die Rollenpluralität der Figuren nochmals dadurch gesteigert, dass diese in der Dreiheit von Person, Rolle und Maske auftreten. Die Individualität wird innerhalb des therapeutischen Rollenspiels durch eine Wahnrolle sowie eine Spielrolle überlagert, was ein Spiel im Spiel etabliert und zur Verunsicherung der Identitäten beiträgt, insbesondere da die Person im Gegensatz zur Wahn- und Spielrolle meist namenlos bleibt und Dürrenmatt sich mit der Angabe von Typen (wie z. B. Damenschneider, Patient oder Transvestit) begnügt. Durch die Unbestimmtheit der Persönlichkeit erhalten Wahn- und Spielrolle quasi die Funktion einer neuen Identität der Figuren. Fiktiver Binnenautor und literarisches alter ego Friedrich Dürrenmatts im Drama ist die Figur Georg Büchners, welche sich als Hauptfigur »die ganze Spielzeit hindurch auf der Bühne [befindet], jederzeit bereit, auf jeder Ebene ins Geschehen einzugreifen«.11 Während in Achterloo I diese Stellvertreter-Figur noch gänzlich fehlt – hier imaginiert sich Woyzeck am Ende als Georg Büchner und somit als sein eigener –––––––––
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Henri Poschmann unter Mitarbeit von Christine Malende. Berlin, Bern, Frankfurt a. M. 1992, S. 204–233, hier S. 217.) Friedrich Dürrenmatt: Zwischenwort. In: Ders.: Achterloo (s. Anm. 1), S. 269. Der.: Im Bann der »Stoffe«. Gespräche 1981–1987. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Zürich 1996 (= Gespräche 1961–1990, Bd. 3), S. 194. Roger A. Crockett: Understanding Friedrich Dürrenmatt. Columbia, SC 1998, S. 162. Dietmar Goltschnigg: Dürrenmatts weltpolitische Farce »Achterloo« als (post)moderne Collage und ideologiekritische Warnutopie. In: Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Hrsg. v. Bernhard Spies. Würzburg 1995, S. 151–159, hier S. 153.
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Autor –, tritt in der dritten und vierten Fassung der Autor der zitierten Figuren Woyzeck und Marion selbst als Figur ins Geschehen ein: »Dürrenmatt hat Büchner aufgewertet, zum Autor seiner Geschöpfe gemacht. Er gibt ihm seine Rolle.«12 Innerhalb des therapeutischen Rollenspiels wird die Figur lediglich als Erbe einer Spanferkelkette eingeführt, bleibt also namenlos. Seine Wahnrolle als Georg Büchner und Autor des ablaufenden Stückes wird durch die im Rollenspiel angenommene Spielrolle Benjamin Franklins überlagert. Interessant ist, dass – wie bei allen Figuren des Dramas – eine Verbindung zwischen Wahnrolle und Spielrolle vorliegt: Beide – Franklin und Büchner – sind Naturwissenschaftler und teilen die Vorliebe fürs Zitat.13 Die Rezeption des historischen Büchner in Achterloo IV rückt dessen Aktivitäten als Naturwissenschaftler durch die Figurengestaltung verstärkt in den Vordergrund,14 so dass dieser Aspekt seiner Persönlichkeit gleichberechtigt neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller steht. Abgesehen von dieser Akzentverschiebung im Büchner-Bild, der Neugewichtung von Wissenschaftler- gegenüber Schriftsteller-›Rolle‹, werden auch die Wahnrolle und die (Spiel-)Identität zueinander in Verbindung gesetzt: »Aber warum hält er sich für Georg Büchner? Die Antwort ist klar: Weil Büchner den ›Woyzeck‹ schrieb, der unglücklicherweise auch in diesem Stück vorkommt. So ist denn einerseits ein unstillbarer dichterischer Drang am Werk, andererseits ein Millionengeschäft, einerseits die Poesie, andererseits die Massenschlachterei unschuldiger Jungschweine: Das mußte zur see-
––––––––– 12 Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung. In: Achterloo (s. Anm. 1), S. 223. 13 »Franklin war ja auch ein Naturforscher und Schriftsteller und Politiker.« (Ebd.,
S. 224.)
14 »Tagsüber seziere ich in der Spiegelgasse 12 Fische, Frösche und Kröten, um mich
auf meine Vorlesung auf der Universität Zürich über Vergleichende Anatomie der Fische und Amphibien vorzubereiten, aber nachtsüber schreib ich an zwei neuen Theaterstücken, einem über den korrupten und bösartigen Renaissanceschriftsteller Pietro Aretino, durch die Schlamperei meiner Familie, die in mir nur den Naturforscher sah, verlorengegangen, und das andere spielt am Morgen des 12. und am Morgen des 13. Dezember 1981 in Warschau, in einer Zeit also, in der ich, der ich sie schreibe, nicht bin.« (Achterloo IV [s. Anm. 1], S. 417). Indem die Selbstvorstellung der Figur Büchners explizit als Lexikonzitat gekennzeichnet wird (vgl. Achterloo IV, S. 416f.), wird die Wahnrolle zum Rollenzitat bzw. Zitat einer historischen Person erklärt und das rein Darstellerische bewusst gehalten.
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lischen Katastrophe führen. Ein Spanferkel ist eine Kreatur und Woyzeck ist eine Kreatur.«15
Die Wahnrolle wird so zum Mittel der Verdrängung und Bewältigung der personellen Identität. Als literarische Stellvertreterfigur Dürrenmatts im Drama kommt der Figur Büchners die Funktion zu, die heterogenen Spielebenen zu vereinen. Dürrenmatt bezeichnet ihn als »Orgelpunkt«,16 um den sich die Handlung formiert. Die Multiplizierung der Figurenidentitäten, die Heterogenität von Zeit und Ort sowie die immense Zahl von literarischen und historischen Anspielungen, kurz, die Vielfalt der Bezüge, erfordert eine Zusammenführung durch die »Spielleiterfunktion« Büchners zu einer »bühnenwirksamen Einsträngigkeit«.17 Indem Büchner als Binnenautor und somit Schöpfer der Figuren erscheint, wird die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowohl der Figuren als auch der dargebotenen Handlung als Fiktion enthüllt und infolgedessen plausibel. Die durch die Entlarvung des Spiels als »Rollentherapie«18 erlangte Pluralisierung der Identitäten und die daraus resultierende Potenzierung der Handlungsund Bedeutungsebenen wird durch den ins Drama integrierten fiktiven Autor zu einer Handlung gebündelt. Durch den ›Autor Büchner‹ verliert die Wahnrolle zugunsten der Spielrolle an Bedeutung. Dergestalt in den Hintergrund gedrängt, bricht sie lediglich zeitweise gleichsam als ›Relikt‹ der Irrenpersönlichkeit hervor. Dieses Hervorbrechen der Wahnrolle im therapeutischen Rollenspiel repräsentiert bei Dürrenmatt das Fatum: die Macht des allgegenwärtigen Zufalls, welcher das Leben bzw. die Spielhandlung in eine nicht vorhersehbare Richtung lenkt und die Pläne des Einzelnen ad absurdum führt. Es stellt sich nun die Frage, wieso Friedrich Dürrenmatt gerade Georg Büchner als seinen literarischen Stellvertreter auf die Bühne schickt. Dietmar Goltschnigg hat das Problem auf folgende Formel gebracht: »Indem Dürrenmatt Büchner zum Autor von Achterloo macht, identifiziert er sich einerseits mit ihm und parodiert sich andererseits ––––––––– 15 Achterloo III (s. Anm. 1), S. 310. 16 Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 256. 17 André Bloch: Achterloo oder: Das Endspiel des dramatischen Helden. In: Hommage à Friedrich
Dürrenmatt. Hrsg. v. Jürgen Söring und Jürg Flury. Frankfurt a. M. 1991, S. 51–72, hier S. 56. 18 Achterloo III (s. Anm. 1), S. 279.
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selbst.«19 Es gilt nun, die Grundlage herauszuarbeiten, auf der Georg Büchner einen Identifikationsanreiz für Friedrich Dürrenmatt darstellt. Eine Gemeinsamkeit, die Dürrenmatt als Anknüpfungspunkt an die historische Person Georg Büchner gedient haben könnte, ist beider Interesse für Naturwissenschaften: Die in der Rezeption relativ unbeachteten anatomischen Studien Georg Büchners werden von Dürrenmatt erst in Achterloo IV in der Figurenkonzeption stärker hervorgehoben, indem er den Selbstvorstellungsmonolog um den Bericht über die wissenschaftliche Forschungstätigkeit Büchners erweitert.20 Zwar auf einer weniger wissenschaftlichen Ebene – wie er selbst betonte, war er nur ein »Laie«21 –, aber mit nicht minder profundem Interesse an der Naturwissenschaft, bettet Dürrenmatt diese in seine literarische Produktion mit ein, denn die »Welt dramaturgisch in den Griff zu bekommen, das geht heute ohne Beschäftigung mit der Wissenschaft überhaupt nicht. Was nämlich die Welt verändert hat, ist nicht irgendeine Ideologie, sondern eben die Wissenschaft. Sie hat die Welt verändert«.22
Diese poetologische Erkenntnis macht der Schweizer Autor immer wieder zur zentralen Thematik seiner Stücke, so z. B. mit der Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Erfindungen in den Physikern oder den Missbrauch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Der Mitmacher. Ähnliche Tendenzen sieht die Büchner-Forschung in dem »auf instrumentelle Rationalität«23 reduzierten Doktor im Woyzeck, welcher eine auf den Wissensdrang vereinseitigte Wissenschaft repräsentiert und durch die Herabsetzung seiner Versuchsperson auf den Status eines Objekts mit zu dessen gesellschaftlicher Depravation beiträgt. Beiden Schriftstellern ist überdies gemein, dass ihre Dramen beinahe wie ein wissenschaftlicher Versuch ablaufen, so wenn z. B. im Woyzeck »das naturphilosophische Problem der Teleologie [...] zur individuellen Tragik ––––––––– 19 Goltschnigg: Dürrenmatts [...] »Achterloo« (s. Anm. 11), S. 153. 20 Vgl. Achterloo III (s. Anm. 1), S. 310. 21 Friedrich Dürrenmatt: Albert Einstein. In: Ders.: Philosophie und Naturwissenschaft. Zü-
rich 1980, S. 150–172, hier S. 150.
22 Ders.: Gespräche 1981–1987 (s. Anm. 9), S. 143. 23 Peter Uwe Hohendahl: Nachromantische Subjektivität: Büchners Dramen. In: Wege zu Georg
Büchner (s. Anm. 7), S. 11–26, hier S. 14.
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verdichtet«24 wird, um vorzuführen, dass Woyzeck – angesichts der gesellschaftlichen Zwänge und seiner sozialen Voraussetzungen – nicht anders handeln konnte.25 Auch bei Dürrenmatt liegen solche äußeren Zwänge vor, die die Handlung unerbittlich in eine Richtung treiben, jedoch ist es bei ihm das Prinzip des Zufalls,26 das die Pläne der Menschen durchkreuzt. Dies ist in Achterloo die Unwägbarkeit, dass sich zwei Irrenhausinsassen einen gemeinsamen Wahn teilen – nämlich Judith bzw. Holofernes zu sein –, was das Geschehen in einen tragischen Ausgang lenkt, da sich beide ihren Wahnrollen ergeben und die biblische Geschichte wiederholen. Wie sich bereits in Büchners Woyzeck andeutet, ist die Kritik bzw. »Verabschiedung der teleologischen Weltbeschreibung«27 eine Gemeinsamkeit der beiden Autoren. Besonders Büchners Probevorlesung über Schädelnerven, von der Dürrenmatt behauptet, darin sei Büchners »eigene Philosophie versteckt«,28 wird dem modernen Dramatiker zum
––––––––– 24 MA, S. 587. – Dass die Teleologie eine zentrale Stellung im Büchnerschen Œuvre
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einnimmt, betont auch Albert Meier: »Eines der zentralen Themen auch der literarischen Werke Büchners resultiert aus dieser Verbindung von empirischer Naturerforschung und deren philosophischer Verarbeitung: das Problem der Teleologie.« (Ders.: Georg Büchner: »Woyzeck«. München 31993, S. 9.) »Mit Woyzeck schafft Büchner eine radikal neue Zentralfigur eines radikal neuen Dramentypus. Idealistische Wirkungs- und Bezugsmuster werden mit dem Zugrundegehen dieser Figur an Umständen, die ›außer uns liegen‹ und dem tragischen Verlauf des Dramas so nachhaltig in Abrede gestellt wie nie zuvor auf der deutschsprachigen Bühne. Für Woyzeck führt kein Weg in die Transzendenz und in die Erlösung.« (Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2000, S. 207.) Mingels charakterisiert den Zufall im Werk Dürrenmatts als »jenseits eines über die Menschen hereinbrechenden Fatums die sich aus dem nicht zu eliminierenden Spielraum menschlicher Individualität ergebende überraschende und unerwartete Konstellation, deren Folgen sowohl positiv als auch negativ sein können.« (Annette Mingels: Jener Einzelne. Kierkegaards Kategorie des Einzelnen als Grundkonstante in Dürrenmatts ideologiekritischem Denken. In: Dürrenmatt im Zentrum. 7. Internationales Neuenburger Kolloquium 2000. Hrsg. v. Jürgen Söring u. Annette Mingels. Frankfurt a. M. 2004, S. 259– 284, hier S. 269) Goltschnigg: Dürrenmatts [...] »Achterloo« (s. Anm. 11), S. 153. Friedrich Dürrenmatt: Georg Büchner und der Satz vom Grunde. Dankrede. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1986. Darmstadt 1987, S. 196–204, hier S. 199.
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Ausgangspunkt seiner Anbindung an Büchner dienen.29 Die in der Probevorlesung dargestellten philosophischen Grundansichten – die teleologische und die philosophische Methode – greift Dürrenmatt in seinem Stück Achterloo mehrfach auf. Während diese in den Fassungen I und III lediglich in Büchners Schlussmonolog Erwähnung finden,30 treten sie in Achterloo IV leibhaftig, als zwei Figuren auf die Bühne. So verweist Dürrenmatt im Nachwort selbst darauf, »daß der Zahntechniker Jean-Pierre Leuli, der sich für Carl Gustav Jung, und der Damenschneider Ignaz Schwänzel, der sich für Sigmund Freud hält, Inkarnationen der beiden naturwissenschaftlichen Grundansichten darstellen, von denen Georg Büchner in seiner Zürcher Probevorlesung ausging, aus der ich die Schlußrede formte: Jung vertritt die teleologische Ansicht, er fragt nach dem Zweck, dem Sinn; Freud die philosophische, wie Büchner sie nennt, er fragt nach dem Grund.«31
Dürrenmatt, der Büchners Probevorlesung interpretiert und in seinem eigenen Sinne weiterdenkt, folgt jenem in seiner Verabschiedung der teleologischen Methode; da diese »sich in einem ewigen Zirkel [bewege], müsse doch nach dem Zweck dieses Zweckes gefragt werden und der progressus in infinitum sei unvermeidlich«.32 Vermittelt durch Dürrenmatts Konzept des Zufalls wandelt sich Büchners progressus in infini––––––––– 29 Auch die philosophischen Studien Dürrenmatts zeigen auffällige Parallelen zu Büch-
ner: Dürrenmatt, der ehemals Philosophie studiert hatte, beschäftigt sich zeitlebens u. a. mit Spinoza, Leibniz, Descartes und Kant. Eine Aufarbeitung der Theorien Kants und Vaihingers in Dürrenmatts Werk bietet die Publikation Philipp Burkards: Dürrenmatts ›Stoffe‹. Zur literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vaihingers im Spätwerk. Tübingen, Basel 2004. 30 »Es treten uns zwei sich gegenüberstehende Grundansichten entgegen. Die erste betrachtet alle Erscheinungen des organischen Lebens vom teleologischen Standpunkt aus, sie findet die Lösung des Rätsels im Zweck, der Mensch hat Hände, um zu greifen. Doch handelt die Natur nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt, sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich selbst genug. Alles was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins zu suchen ist das Ziel der philosophischen Grundansicht.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 405.) 31 Dürrenmatt: Abschied vom Theater (s. Anm. 1), S. 562. – Freud und Jung reflektieren in ihren Spielrollen als Leiter der Rollentherapie über den Wahnsinn: So fragt Freud nach dem »Grund jeder psychotischen Verwirrung« (Achterloo IV [s. Anm. 1], S. 447), während Jung »nach dem Sinn des Irrsinns Mensch« (ebd., S. 477) sucht. 32 Ders.: Georg Büchner oder der Satz vom Grunde (s. Anm. 28), S. 198.
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tum in einen regressus in infinitum,33 indem die vom Schweizer Dramatiker angenommenen Gründe dem Zufall anheim fallen und so nicht mehr kalkulierbar erscheinen. Dieser regressus in infinitum ist im Stück insofern konsequent umgesetzt, als die archetypisch verwendeten historischen Muster sich immer weiter vom geplanten Spielverlauf entfernen und sich im Zuge zufällig eintretender Geschehnisse im Wahn verlieren. Der fiktive Binnenautor Büchner beschreibt dies plastisch in seinem Schlussmonolog: »Darum habe ich ›Achterloo‹ geschrieben, die komische Tragödie eines Aufstands, der unterblieb, weil ein Irrer vernünftig zu sein versuchte und einen Krieg vermied, der die Menschheit zugrunde gerichtet hätte, um einen Frieden zu retten, an dem die Menschheit zugrunde geht, eingewebt in Ursachen, die zufällig zu Wirkungen wurden, die sich wiederum zu Ursachen neuer zufälliger Wirkungen verwandelten, ein Teppich, der hinabreicht bis zu dem nur mit Hypothesen ahnbaren Beginn des Alls, mündend in der Unendlichkeit des Nichts, und darum habe ich, um die Konstellation nachzubilden, die das Geschehen am 12. und 13. Dezember 1981 hervorbrachte, Muster aus ganz anderen Zeiten genommen, weil jedes Muster des unendlichen Teppichs anderen Mustern gleicht. Doch […] die Muster hielten sich kaum an meinen Text, sie redeten, was sie wollten, und nun rutscht gar die Handlung wie die Laufmasche eines billigen Strumpfes in die Zeit fast sechshundert Jahre vor Christi Geburt, hinunter zu Judith und Holofernes.«34
Obwohl in der Gegenüberstellung von Büchners logischem progressus in infinitum mit Dürrenmatts chaotischem regressus in infinitum letzterer eine pessimistischere Einstellung der Welt gegenüber zu haben scheint, nähern sich beider Konzepte in ihrer Beurteilung der Geschichte wieder an. Dürrenmatts Auffassung, der zufolge die Geschichte eine Wiederholung des Immergleichen, ein ewiger Kreislauf ist,35 steht Büch––––––––– 33 »Regressus in infinitum. Aber das ist eben das, was der Büchner sagt von der Hand-
lung: ›Die Masche saust… Jedes Ding hat seinen Grund, jede Wirkung ihre Ursache.‹ Ich sage, seinen ›zufälligen Grund‹, seine ›zufällige Ursache‹. Alles ist heute möglich, der Zufall ist heute gesetzmäßig integriert, es gibt mehr Möglichkeiten als Gesetzmäßigkeiten. Das konnte Büchner nicht denken, weil es das nicht gab. Das ist das, was ich die Freiheit nenne« (Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 221). 34 Achterloo III (s. Anm. 1), S. 406. 35 »Dieser Kreislaufcharakter von Geschichte, in dem die immer gleichen Archetypen die immer gleichen Konflikte immer gleich zu lösen versuchen, da sie von der immer gleichen menschlichen Natur determiniert sind, ist denn auch der letzte Grund dafür,
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ners Diktum vom »gräßlichen Fatalismus der Geschichte«36 vergleichsweise nahe. Beide Autoren relativieren die Möglichkeit des Einzelnen, Einfluss auf den historischen Verlauf zu nehmen: Dürrenmatt betont die »Überschätzung der Möglichkeit[en], die der Einzelne oder einzelne Gruppen noch haben«,37 Büchner nennt ihn »nur Schaum auf der Welle«38, und bemerkt, »daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist«.39 An dieser Stelle scheint ein Blick auf die Konzeption des Einzelnen bei Büchner und Dürrenmatt durchaus lohnenswert. Büchner spricht – wie oben ablesbar – dem Einzelnen keine reelle Chance zur revolutionären Veränderung der Welt zu, sondern hebt hervor, »daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann«,40 weist somit die Verantwortung zur Realisierung der sozialen Probleme dem Kollektiv zu. Dürrenmatt, der ebenfalls die Verantwortung für gesellschaftliche Veränderung der Allgemeinheit zuweist,41 sieht den Einzelnen jedoch in einer grundlegend ambivalenten Position: In konsequenter Weiterführung seiner Einschätzung, allgemeinmenschliche Probleme seien nur durch die Gemeinschaft lösbar, spricht er dem Einzelnen jegliche Möglichkeit ab, »für sich zu lösen, was alle angeht«.42 Kontrastiv hierzu liegt für ihn die »Chance […] allein noch am Einzelnen. Der Einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen. Nur von ihm, das ist seine grausame Einschränkung.«43 Infolge dieser paradoxen Situation bleibt dem Einzelnen nur noch die Besinnung auf seine individuelle Situation, die er –––––––––
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daß Dürrenmatt ganz ungeschichtlich Persönlichkeiten aus verschiedenen Epochen gleichzeitig auftreten und seine aktuelle Konstellation verkörpern lassen kann.« (Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Handke. Würzburg 1996, hier S. 177). MA, S. 288. Friedrich Dürrenmatt: Der Mitmacher. Ein Komplex. Zürich 1998 (WA, Bd. 14), S. 165. MA, S. 288. Ebd., S. 280. Ebd. »Was alle angeht, können nur alle lösen.« (Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern. In: Ders.: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Zürich 1998 [WA, Bd. 7], S. 91–93, hier S. 92) Ebd., S. 93. Ders.: Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit (1956). In: Ders.: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980, S. 60–69, hier S. 67.
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nur für sich selbst lösen bzw. bewältigen kann. Diese Problematik fasst der Schweizer Autor in seinem Bild des mutigen Menschen, der »die ›verlorene Weltordnung‹ in der Brust wiederherstellt, ansonsten aber die total werdende, ihn zum Teil, zum Glied der Masse degradierende Welt aushält, ihr als Mensch widersteht, indem er sich zu ihr bekennt.«44 Dieser mutige Mensch kann auf die Schrecknisse der Welt mit zweierlei Haltungen reagieren: Auf der einen Seite steht das Verzweifeln an der Welt, »eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder ihm zu entgehen.«45
Die Position des mutigen Menschen zeichnet sich durch das Nichtverzweifeln aus, welches nicht mit einem aktiven Angehen gegen die Missstände einhergehen muss. So qualifiziert Dürrenmatt sowohl den Kampf gegen die Welt als auch den Rückzug auf das Eigene als adäquate Möglichkeiten, die Herausforderung der Gegenwart anzunehmen. Basierend auf dem Konzept des mutigen Menschen und der schlimmstmöglichen Wendung folgert Friedrich Dürrenmatt, man könne »nur noch den ohnmächtigen Menschen darstellen«,46 den Leidenden, mit dem gehandelt wird und der selbst nur noch in der Lage ist zu reagieren.47 Die exemplarische Literarisierung des ohnmächtigen Menschen ––––––––– 44 Jan Knopf: Friedrich Dürrenmatt. 4. neubearb. Aufl. München 1988, S. 87. 45 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. In: Ders.: Theater. Essays, Gedichte, Reden
(s. Anm. 3), S. 31–73, hier S. 63.
46 Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 203f. 47 Auch hier weisen die Konzeptionen beider Schriftsteller erstaunliche Parallelen auf:
Dürrenmatt propagiert eine Dramatik der Opfer, da ihm deren Schicksal als das einzig realisierbare angesichts der heutigen, im klassischen Drama nicht mehr darstellbaren Welt erscheint: »Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu [den] Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr.« (Theaterprobleme [s. Anm. 45], S. 60) Die Literarisierung ihres Schicksals ist – laut Dürrenmatt – nur mit der Komödie möglich, denn »die Opfer sind ›komisch‹, weil es unmenschlich ist, Opfer sein zu müssen, weil die Opfer dadurch, dass sie Opfer sind, von dem getrennt sind, was sie sein könnten: Menschen.« (Friedrich Dürrenmatt: Zwei Dramaturgien? (1968). In: Ders.: Theater. Essays, Gedichte, Reden (s. Anm. 3), S. 147– 149, hier S. 149). Als einzig wirksames Mittel gegen die Mächtigen sieht er den Spott: »Die Tyrannen dieses Planeten werden durch die Werke der Dichter nicht gerührt,
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im Werk Büchners repräsentiert für ihn zweifelsohne Woyzeck, der trotz all seiner Versuche, ein redliches und anständiges Leben zu führen, gerade durch seine mannigfaltigen gesellschaftlichen Verpflichtungen ins soziale Abseits gerät und »sich nicht gegen seine Unterdrücker, sondern gegen die einzige [wendet], in der er sein kleines Glück gefunden hat.«48 Im Werk Dürrenmatts sind es weniger die gesellschaftlichen Umstände selbst, die die für ihn charakteristische schlimmstmögliche Wendung auslösen; sie bieten lediglich den Hintergrund eines Gewissenskonflikts, der nach einer scheinbaren Lösung dennoch in die Katastrophe führt. So zieht sich der Physiker Möbius aus Angst vor den Folgen seiner Erfindungen ins Irrenhaus zurück und eliminiert sich somit selbst aus der Gesellschaft; eine Indienstnahme seiner Forschungen durch zwei gegnerische Agenten wird durch die freiwillige Rollenübernahme aller als Irre abgewehrt. Nach diesem utopischen »Scheinschluß«49 jedoch muss Möbius feststellen, dass gerade jenes Irrenhaus, in das er sich zum Schutz geflüchtet hatte, von einer verrückten Trustchefin geleitet wird, die seine Erfindungen bereits gestohlen und für ihre Zwecke ausgebeutet hat. Die poetologischen Gemeinsamkeiten, die Friedrich Dürrenmatt mit Georg Büchner zu teilen glaubt, haben ihn sogar dazu veranlasst, im Drama explizit auf die Stellung Büchners als sein literarisches alter ego hinzuweisen, indem er die in Achterloo präsentierte literarische Arbeit Büchners mit seiner eigenen – sich selbst als Irrsinnigen imaginierend – in Verbindung setzt: »Vielleicht gibt es ein Achterloo hinter Achterloo, wo ein Irrsinniger ein Stück schreibt, in welchem ein Irrsinniger ein Stück schreibt, das von Irrsin––––––––– bei ihren Klageliedern gähnen sie, ihre Heldengesänge halten sie für alberne Märchen, bei ihren religiösen Dichtungen schlafen sie ein, nur eines fürchten sie: ihren Spott.« (Theaterprobleme [s. Anm. 45], S. 68). Beinahe identisch formuliert dies Georg Büchner in einem Brief an die Familie 1834: »Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, daß er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile. […] Ich habe freilich noch eine Art von Spott, es ist aber nicht der der Verachtung, sondern der des Hasses. […] Der Aristokratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen; Hochmut gegen Hochmut, Spott gegen Spott« (MA, S. 285f.). 48 Knapp: Büchner (s. Anm. 25), S. 192. 49 Herbert Lehnert: Fiktionale Struktur und physikalische Realität in Dürrenmatts »Die Physiker«. In: Sprachkunst (1970), H. 1, S. 318–330, hier S. 322.
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nigen gespielt wird. Vielleicht meint der Irrsinnige, langsam dem Grab zurutschend, einen Irrsinnigen schreibend, der schreibt, mit diesem sich selber.«50
So nutzt Dürrenmatt in Achterloo eine Anspielung auf Büchners Lenz, um den Wahnsinn seiner Figur Jeanne deutlich zu machen, da er in Büchners Fragment eine seinem Werk äquivalente Thematisierung der Problematik des Ichs bzw. des Wahnsinns erkennt: »Mir ist es auch unangenehm, daß ich nicht auf dem Kopf gehen kann«51. Ferner rekurriert der Schweizer auf die in beiden Werken verwendete Metaphorik der Maske: Während Büchner in Leonce und Lena vor allem eine Identitätsproblematik akzentuiert, gerät für Dürrenmatt die Maske zur einzigen, scheinhaften Identität des Menschen: »Jeder spielt eine Rolle. Jeder spielt, um ein ›Ich‹ zu werden, eine Rolle. Ich spiele die Rolle des Schriftstellers. Ich muß kreieren, um zu sein. Und was bleibt, wenn du die Maske wegnimmst? Nichts.«52
Das fundamentale Prinzip, das Dürrenmatt als ausschlaggebend für die Wahl von Büchner als Binnenautor anführt, ist die Methode des Zitats: »Der Grund ist, daß der Büchner in seinen historischen Schriften und auch im Woyzeck ungeheuer viel historische Realität zitiert […]. Ich habe die Methode übernommen: […] mein Büchner zitiert Büchner: Nun habe ich es so weit getrieben, daß ich auch Personen aus der Geschichte nehme, Napoleon, der Jacob Burckhardt zitiert, aus der Bibel zitiert als Holofernes, Jeanne, die Shaw zitiert und aus dem Buch Judith als Judith.«53
Die Rollenpluralisierung des Dramas, die »spielerisch-karnevaleske Polyphonie der Collage manifestiert sich im Zitat. Zum literarischen Vorbild dieser Technik bzw. Methode hat Dürrenmatt namentlich Georg Büchner gewählt, dessen Werke bekanntlich alle aus ausgedehnten Zitatmontagen bestehen.«54 ––––––––– 50 Achterloo III (s. Anm. 1), S. 385. 51 Ebd., S. 343. – Bei Büchner lautet diese Stelle: »nur war es ihm manchmal unange-
nehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte« (MBA 5, S. 31).
52 Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 214. 53 Ebd., S. 224.
54 Goltschnigg: Dürrenmatts [...] »Achterloo« (s. Anm. 11), S. 153. – Vgl. hierzu auch Dürrenmatts Selbstaussage: »Es hat mich also verlockt, zum Mittel der Collage zu greifen. Natürlich ist es unmöglich, daß Richelieu und Napoleon sich begegneten. Aber gerade das hat mich gereizt, ein Stück, wo eine Theaterfigur wie Woyzeck auf Napo-
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Die Zitatübernahmen Dürrenmatts betreffen hierbei sowohl wörtliche Zitate als auch Figurenzitate. Im Bereich der wörtlichen Übernahme zitiert Dürrenmatt die aus den Werken Büchners überlieferten Repliken der Figuren Woyzeck, Marion und Robespierre, nutzt aber desgleichen das Fragment Lenz, den Hessischen Landboten, die Probevorlesung über Schädelnerven sowie Büchners Briefe als Quellen für sein Drama. Wie sich hier bereits andeutet, konzentriert sich der Schweizer somit in seiner Rezeption nicht auf ein bestimmtes Werk oder auf bestimmte Aspekte des Büchner-Bildes – so z. B. den politischen oder philosophischen Büchner –, sondern integriert alle Facetten des Autors, dessen literarische ebenso wie dessen politische, philosophische und naturwissenschaftliche Studien in seine Arbeiten. Einer besonderen Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang das bereits angesprochene Märchen der Großmutter aus dem Woyzeck, welches sich von der direkten, als wörtliches Zitat markierten Wiedergabe in Achterloo I55 zu einer mehr ideellen Vorlage in Achterloo IV wandelt. Im Prozess der Dramenentwicklung hat sich der Schweizer diese »negative ›poetische Weltbeschreibung‹«56 immer stärker angeeignet und sie »zur grausigen Parabel kulturell verbrämter Judenvernichtung im ›Dritten Reich‹«57 umgestaltet. Parallel zu Büchners Kind ist die Nazi-Enkelin scheinbar elternlos. Die traumatischen Lebensumstände beim Großvater, ––––––––– leon und Richelieu trifft, die ja für uns auch Filmfiguren sind, oder auf die Marion aus Büchners Danton. Das sind Rollen.« (Gespräche 1981–1987 [s. Anm. 9], S. 196). 55 Bereits in Achterloo I wird das Märchen der Großmutter von Napoleon als »schöne Geschichte« (Achterloo I [s. Anm. 1], S. 109) kommentiert, die der heutigen Zeit nicht mehr angemessen erscheint: »Heut könnt sie deine Großmutter nicht erzählen. Ein Stück faul Holz ist lebendiger als der Mond, die Sonn schrecklicher als ein verwelkt Sonneblum, die Stern fürchterlicher als tote goldne Mücken; und daß die Erd ein umgestürzter Hafen sei, ist ein zu liebliches Bild.« (Ebd.) Dürrenmatt verwandelt Büchners »Negation jeder Theodizee« (Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. Berlin, Weimar 1983, S. 265) in eine negative Kosmologie, die die Desillusionierung Büchners zum Angst einflößenden Himmel hin verlängert und die Erde als Ort voll von »Kotze, Blut und Dreck« (Achterloo I, S. 109) charakterisiert: »Es ist Dürrenmatts Weltbeschreibung. Sie setzt Büchner ins Heute fort.« (Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 238.) 56 Dietmar Goltschnigg: Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 3: 1980–2002. Berlin 2002, S. 22. 57 Ebd., S. 23.
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einem KZ-Lagerkommandanten,58 werden durch die naiv-verklärende Sichtweise des Kindes in ein Idyll verfremdet.59 Neben der von Goltschnigg bemerkten Anlehnung an Paul Celans Todesfuge60 sind Parallelen zu Dürrenmatts Der Folterknecht zu ziehen. Der Ausspruch der Enkelin – »Wenn es einen Gott gibt, sieht er wie mein Großvater aus«61 – schließt die »anti-idyllische, makabre Märchen-Version«62 an Dürrenmatts frühe Prosaerzählung an, in der Gott als Folterknecht imaginiert wird: »Die Folterkammer ist die Welt. Die Welt ist Qual. Der Folterknecht ist Gott. Der foltert.«63 Die Entmythologisierung des Himmels, die der Schweizer Dramatiker in der Kurzerzählung Weihnacht bereits angedeutet hatte, setzt er in dieser Anverwandlung des Märchens der Großmutter bis in die letzte Konsequenz einer negativen Theodizee fort. Äquivalent zu den wörtlichen Übernahmen zitiert der Autor literarische Figuren aus dem Werk Georg Büchners, so die Hure Marion und Robespierre aus Dantons Tod und den Woyzeck, wobei bei den beiden letzteren stets die historische Figur mit aktualisiert wird.64 Die Figuren––––––––– 58 »Mein Großvater trug eine schwarze Uniform. […] Die Stadt meines Großvaters war
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eine Fabrikstadt, weil sie nur eine Fabrik hatte und keine Kirche. Um die Stadt waren hohe Wachttürme, und die Häuser waren in langen Reihen und voller Menschen, die alle in der Fabrik arbeiteten, aus der Tag und Nacht Rauch aufstieg, und jeden Tag kamen Menschen in die Stadt meines Großvaters mit der Eisenbahn, um in der Fabrik zu arbeiten, die immer rauchte. Den Geruch habe ich nie vergessen, der von der Fabrik kam. […] Ich dachte, die Stadt müßte platzen, doch sie platzte nie, und nie gab es eine Beerdigung.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 344f.) »Wir wohnten in einem kleinen Holzhaus ganz in Blumen, noch nie habe ich nachher einen so schönen Garten gesehen.« (Ebd., S. 344.) Vgl. Goltschnigg: Georg Büchner und die Moderne (s. Anm. 56), S. 22f. Achterloo III (s. Anm. 1), S. 345. Vgl. Goltschnigg: Georg Büchner und die Moderne (s. Anm. 56), S. 23. Friedrich Dürrenmatt: Der Folterknecht. In: Ders.: Aus den Papieren eines Wärters. Frühe Prosa. Zürich 1998 (WA, Bd. 19), S. 13–19, hier S. 19. Während Büchner die historischen Quellen zitiert und damit zugleich die historischen Figuren als Vorlage seiner Gestaltung mit übernimmt, zitiert Dürrenmatt die historischen Personen nicht in ihrer eigentlichen zeitlichen Umgebung, sondern versetzt sie als überzeitliche Muster in sein ›Zeitstück‹ Achterloo. Darüber hinaus verweist er explizit auf die literarische Tradition dieser Stoffe, so dass die ihm vorangehenden Literarisierungen intertextuell mit einbezogen werden: »Ich bin Jeanne d’Arc: als Hexe am 30. Mai 1431 In Rouen verbrannt, heiliggesprochen am 20. Mai 1920 durch Papst Benedikt XV. Bei Shakespeare komme ich in ›Heinrich VI.‹ als la Pucelle vor.
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zitate sind »durch ihr Kostüm, ihre überlieferten Aussagen und ihr Rollenverständnis im vordergründigen Handlungsverlauf eingebaut«.65 Sie halten – wie die übrigen Figuren des Dramas – die Rollenhaftigkeit ihrer Spielrolle bewusst, indem sie sich bei ihrem ersten Auftritt per Lexikonzitat vorstellen und so die Fiktionalität ihres Daseins betonen. Der Rückgriff auf historische bzw. literarische Figurenzitate dient offenbar als Zitat »feste[r] – tragische[r] – Positionen«, die Dürrenmatt »versatzweise von Büchner her in sein Werk einbaut«,66 um zu kennzeichnen, dass das Tragische nur mehr als historisches Zitat existiert, der Gegenwart gegenüber aber nicht mehr angemessen ist: »Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden.«67
Die Rolle der Hure Marion aus Dantons Tod erfährt in Achterloo weitreichende Veränderungen. Während sie in der ersten Fassung noch explizit mit ihrem Namen als Figur Georg Büchners bezeichnet ist und dementsprechend ihre Rolle durch wörtliche Zitate aus Dantons Tod im Stück Dürrenmatts übernimmt,68 verliert sie in den folgenden Fassungen den Zitatcharakter zugunsten einer engeren Verknüpfung von Spiel- und Wahnrolle:69 Aus Marion wird die historische bzw. literarische Jeanne –––––––––
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Schiller nennt mich die Jungfrau von Orléans. George Bernard Shaw die heilige Johanna.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 284.) A. Bloch (s. Anm. 17), S. 53f. Ebd., S. 71. Dürrenmatt: Theaterprobleme (s. Anm. 45), S. 59. »›Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochenes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom. Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nemliche Gefühl, wer am Meisten genießt, betet am Meisten‹: […] ›Ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte.‹« (Achterloo I [s. Anm. 1], S. 60f.) – Interessanterweise wird sogar innerhalb des Spiels im Spiel auf die Rollenhaftigkeit von Marions Spielrolle verwiesen, indem Napoleon ihre Äußerungen explizit als Zitat kennzeichnet: »Genug zitiert.« (Ebd., S. 61.) »Mit der Marion war ich nie recht glücklich. Du hast mich dann auf die Jeanne gebracht. Die Marion ist abgedriftet, die hatte nichts mehr mit Judith zu tun, die mordet auch nicht.« (Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 213.)
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d’Arc,70 die Dürrenmatt als institutionalisiertes Abbild71 der biblischen Terroristin Judith72 versteht. In den späteren Fassungen von Achterloo bleibt lediglich die Rolle als Hure als Bestandteil der Marion-Figur erhalten. Dennoch schafft Dürrenmatt eine direkte, wenn auch fiktive, Verbindung zur Georg Büchners Werken, indem er Jeanne als Tochter Woyzecks installiert. Die hieraus resultierenden zeitlichen Inkompatibilitäten, die entstehen, weil »der Vater eine Tochter hat, die vor ihm gelebt hat«,73 unterstreichen abermals Dürrenmatts Anlage des Dramas als überzeitliches Welttheater. Zudem etabliert sich durch die Wahl Jeanne d’Arcs innerhalb der Figur ein Spannungsverhältnis zwischen Heiliger und Hure,74 welches für Dürrenmatts Gestaltung der Frauenfiguren typisch ist.75 Ebenfalls aus Dantons Tod wird Robespierre zitiert, der im Zuge der einzelnen Fassungen immer stärkere »Aufweichungstendenzen« erfährt, welche letztlich zur konsequenten »sexuellen Pervertierung« und Travestie der Figur in Achterloo IV führen.76 Innerhalb des Spiels rezitiert er ––––––––– 70 Durch die Ersetzung Marions durch die Figur der Jeanne d’Arc erreicht Dürrenmatt
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zudem eine Rollenpluralisierung, indem er die literarische Figur durch die ›Doppelfigur‹ Jeanne d’Arc austauscht und somit sowohl literarische als auch historische Reminiszenzen weckt. »Indem man sie in der Rollentherapie Jeanne d’Arc spielen läßt, will man ihren Wunsch zu morden ins Institutionelle umprogrammieren: Jeanne d’Arc hat nicht gemordet, sie hat Krieg geführt, um ihr Volk zu retten.« (Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 134.) »Judith war eine religiöse Terroristin, eine biblische Gudrun Ensslin. Die Terroristinnen halte ich für ebenso irrational wie die Judith in meinem Stück.« (Ebd., S. 135f.) Rosmarie Zeller: »Ein doppelt verrücktes Unternehmen.« Das Delirium des Irr-Sinns in Dürrenmatts »Achterloo«. In: Weltentwürfe in Literatur und Medien: phantastische Wirklichkeiten – Realistische Imaginationen. Hrsg. v. Hans Krah u. Claus-Michael Ort. Kiel 2002, S. 279–298, hier S. 286. Diese Opposition wird von Jeanne selbst im Stück angesprochen und von Büchner – in seiner Funktion als alter ego Dürrenmatts – beantwortet: Jeanne: »Warum hast du eine Heilige geschrieben, die eine Hure ist?« / Büchner: »Weil ich glaube, daß es weder Heilige noch Huren gibt.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 344.) Es sei an dieser Stelle auf meine ausführliche Untersuchung zur Darstellung der Frauenfiguren im dramatischen Werk Friedrich Dürrenmatts verwiesen: Sabine Schu: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werkes. St. Ingbert 2007. Ulrike Dedner: Deutsche Widerspiele der Französischen Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt. Tübingen 2003, S. 284. – Dürrenmatt verstärkt in der sexuellen Persiflage Büchners Charakterisierung Robespierres als tugendhafter Asket und »impotenter Mahomet« (MBA 3.2, S. 62).
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Robespierres Rede vor der Nationalversammlung, der Dürrenmatt durch die Ersetzung der sozialen Revolution durch die »sogenannte Revolution«77 konsequent die Legitimation entzieht und seine Figur somit »in eine resignativ wertende Distanz zum Gegenstand der Revolution«78 bringt. Das Darstellende der Redesituation Robespierres wird unterstrichen, indem er »in unbeirrter Reproduktion der Ursituation«79 – »als wäre er vor der Nationalversammlung«80 – und ungestört von äußeren Einflüssen81 seine Rede hält. In Achterloo IV ist er selbst dieser Äußerung beraubt, hier muss der fiktive Autor seine Rede soufflieren.82 Robespierres Auftritt gerät zum »Revolutionstheater«,83 dessen Spielcharakter darüber hinaus durch die sexuelle Persiflage der Figur betont wird. In Achterloo I als »winziger verschrumpelter Greis«, der »auch von einem Mädchen gespielt werden«84 kann, bereits deutlich parodiert, wird er in Achterloo III von einem »kesse[n] blonde[n] Geschöpf in der Kleidung Robespierres, Marlene Dietrich nicht unähnlich, mit schneidender kalter Stimme«85 dargestellt. Während sich in Achterloo III Robespierre erst in seiner zweiten Spielrolle, dem Kaiser Sigismund, als Transvestit zu erkennen gibt,86 wird diese Ebene der Figur in Achterloo IV von Beginn an ––––––––– 77 Achterloo I (s. Anm. 1), S. 48. 78 U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 285. – Der Funktionsverlust der Figur wird
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zudem durch den Verzicht auf seinen Gegenspieler Danton unterstrichen, womit neben dem radikalen Tugendpolitiker auch der »Revolutionsskeptiker Danton verabschiedet« (ebd.) wird. Ebd., S. 283. Achterloo III (s. Anm. 1), S. 328. Zur Komik der Situation trägt bei, dass Robespierre während seiner Rede sogar von Louis herumgetragen wird, ohne sich davon jedoch beeinflussen zu lassen: »Louis nimmt Robespierre auf die Arme, trägt ihn herum. […] Louis stellt Robespierre aufs Bettende, geht nach rechts hinaus. Robespierre läßt sich nicht stören.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 330.) »Robespierre wird gleich noch eine Rede gegen Jan Hus halten. Ich habe sie der Rede nachgebildet, mit der er seinerzeit die Todesstrafe für Ludwig XVI. gefordert hat. […] Vielleicht hat er den Text vergessen. Ich souffliere mal: Die sogenannte Revolution…« (Achterloo IV [s. Anm. 1], S. 464). U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 283. Achterloo I (s. Anm. 1), S. 48. Achterloo III (s. Anm. 1), S. 328. »Ich bin nämlich ein Transvestit. Vor der Pause habe ich Robespierre dargestellt« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 383).
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zur Charakterisierung Robespierres mitgenutzt,87 der – in konsequenter Fortführung seiner Zeichnung durch Dürrenmatt – als Anspielung auf den Fatalismusbrief und Büchners Charakterisierung der »Herrschaft des Genies [als] ein Puppenspiel«88, gar zur Puppe89 reduziert wird. Zusätzlich zur geschlechtlichen Pervertierung führt der Schweizer Autor auch die politische Person Robespierre in ihrer Bedeutungslosigkeit vor, indem er ihn einerseits seines Antagonisten Danton beraubt90 und durch den Passus der ›sogenannten Revolution‹ andererseits den Fixpunkt seines Strebens ad absurdum führt. Wenn Dürrenmatt im Folgenden die Revolution gar zur sozialistischen Revolution ausweitet,91 verlängert er die Revolutionsproblematik in die Gegenwart. Überdies ereilt die Figur Robespierres in Achterloo auch ein differentes Schicksal: Der bei Büchner durchgängig als Tugendfigur akzentuierte Robespierre92 findet hier den Weg ins Bett von Jeanne bzw. von Büchners Marion, verliert seine Unschuld und »in der Konsequenz [sein] Leben, d. h. übertragen […] [seine] Fama«.93 Die zentrale Rolle der von Büchner zitierten Figuren in Achterloo fällt Woyzeck zu: Dürrenmatt hebt ausdrücklich hervor, dass »ohne Woyzeck […] Achterloo nicht entstanden«94 wäre, was sich auch innerhalb des Stückes niederschlägt, wenn der fiktive Autor Büchner das Stück als eine »Fortsetzung des ›Woyzeck‹«95 kennzeichnet. Die Figur des Woyzeck und das durch seinen Namen intertextuell aufgerufene Büchnerdrama haben in Dürrenmatts Geschichtscollage eine Schlüsselfunktion inne; sie ––––––––– 87 »Durch Türe 5 kommt der Transvestit, im Frack und mit Zylinder und mit der Triko-
lore als Schärpe.« (Achterloo IV [s. Anm. 1], S. 429.)
88 MA, S. 288. – Vgl. hierzu auch: U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 285. 89 »Deckt unter der Trikolore eine zerschnittene Puppe auf« (Achterloo IV [s. Anm. 1],
S. 470).
90 Zwar tritt in Achterloo IV Hus in die Position Dantons ein, er fungiert allerdings
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lediglich als strukturelles Pendant, dessen Auseinandersetzung mit Robespierre sich nur auf der Ebene der Politik abspielt und im Gegensatz zu Danton keine Zweifel in Robespierre zu wecken vermag. Vgl. Achterloo IV (s. Anm. 1), S. 329. »du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bey keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken.« (MBA 3.2, S. 24). U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 284. Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 225. Achterloo III (s. Anm. 1), S. 281.
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dienen dazu, »anzudeuten, in welcher Beziehung Achterloo in der Literatur steht, da haben die Germanisten Futter«.96 Die Figur des Woyzeck ist in Achterloo von der Rolle des Opfers in die Rolle des Scharfrichters und »Helfershelfer[s]«97 des Systems versetzt.98 Er ›rasiert‹ oppositionelle Politiker im Auftrage Napoleons99 und ist innerhalb des Dramas als die »ständige Drohung mit dem politischen Mord«100 präsent. Neben dieser Funktion als »Werkzeug«101 Napoleons erfährt die Figur im Laufe der drei publizierten Dramenfassungen eine Tendenzverschiebung. In Achterloo I ist Woyzeck als Henker der »Ausgestoßenste der Gesellschaft«,102 der im Gegensatz zu seiner ohnmächtigen Situation im Büchner-Stück103 ––––––––– 96 Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 225. – Diese Neigung, nicht zur
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Klärung und Erklärung der eigenen Stücke beizutragen, sondern sie bewusst der Mehrdeutigkeit auszusetzen, ist eines der schriftstellerischen Prinzipien Dürrenmatts: »Es ist meine nicht immer glückliche Leidenschaft, auf dem Theater den Reichtum, die Vielfalt der Welt darstellen zu wollen. So wird mein Theater oft vieldeutig und scheint zu verwirren. Auch schleichen sich Mißverständnisse ein, indem man verzweifelt im Hühnerstall meiner Dramen nach dem Ei der Erklärung sucht, das zu legen ich beharrlich mich weigere.« (Theaterprobleme [s. Anm. 45], S. 48). A. Bloch (s. Anm. 17), S. 63. – Merschmeier akzentuiert diese Funktion Woyzecks, der durch seine Tätigkeit ein System stützt, das ihn ausbeutet und unterdrückt, indem er ihn als einen »nützliche[n] Idiot für’s System« charakterisiert (Michael Merschmeier: Komik und Katastrophe. Friedrich Dürrenmatts »Achterloo« in Zürich. In: Theater heute [1983], H. 11, S. 19–21, hier S. 21). Diese Gleichsetzung Woyzecks mit dem Barbier der Szene H1,10 hatte Dürrenmatt bereits seiner Woyzeck-Inszenierung am Zürcher Theater 1972 zugrunde gelegt. Sie wird Ausgangspunkt seiner Instrumentalisierung Woyzecks als Scharfrichter, da hier dessen Funktion als Werkzeug des Machtapparats mit seiner Funktion als Barbier verknüpft wird. »Im Fenster erscheint Fouché […], um den Hals ein blutiges Tuch. [...] Ich bin Joseph Fouché, geboren 1759, gestorben 1820 […]. Eben bin ich, am Morgen des 12. Dezembers 1981, von Woyzeck rasiert worden.‹« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 295). Georg Hensel: Achterloo. In: Über Friedrich Dürrenmatt. Hrsg. v. Daniel Keel. Zürich 1998, S. 241–248, hier S. 246. Achterloo I (s. Anm. 1), S. 114. Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 226. »Von der Gesellschaft radikal unterdrückt und ausgebeutet, erscheint die Titelgestalt als hoffnungslos leidender Anti-Held, der von Anfang an nicht länger über eine sichere und festgegründete Welt verfügt, die er die seinige nennen könnte. Außerdem wird die Freiheit des Handelns durch physische und psychische, eben im Sozialgesellschaftlichen verankerte Bedingungen aufgehoben.« (Luc Lamberechts: Zur sozialen Grundlage der Idealismuskritik in Georg Büchners »Woyzeck«. In: Bild-Sprache. Texte zwischen Dichten und Denken. Festschrift für Prof. Dr. Ludo Verbeeck. Hrsg. v. Luc Lamberechts u. Johan Nowé. Leuven 1990, S. 109–121, hier S. 109)
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von Dürrenmatt die Möglichkeit erhält, die Geschichte selbst mitzugestalten: »Bei Büchner ist er das reine Opfer. Bei mir könnte er nicht nur Henker, sondern auch Richter sein«.104 Indem Woyzeck seine Chancen zur Veränderung nicht ergreift – er tötet Napoleon nicht, obwohl er es könnte –, bleibt er weiterhin in seiner passiv-duldenden Rolle gefangen, die ihm keinen Ausbruch aus seinem Schicksal erlaubt: »Aber Woyzeck wagt nur auf Befehl zu töten. […] Woyzeck hat keine Courage, er handelt immer wie ein braver Bürger, er will vor allem sicher sein, ob er töten darf«.105 Wenn sich Woyzeck nun am Ende des Stückes als Georg Büchner – und somit als sein eigener Autor – vorstellt, wird somit implizit auch die Eventualität einer Veränderung des eigenen Schicksals angesprochen. Wenn er überdies äußert, »[d]as nächste Mal spiele ich den Danton!«,106 so kündigt sich hier bereits der Wechsel von der dienenden, sozial benachteiligten Rolle des Woyzeck in die aufbegehrende Rolle Dantons an, welche sich im Verlauf der einzelnen Fassungen weiter herauskristallisieren wird. In Achterloo III wird die sozial benachteiligte Rolle Woyzecks als Repräsentant des Volkes107 noch durch eine ihm zugeschriebene Individualität als Clochard unterstrichen,108 so dass hier Identität und Spielrolle in direkte Verbindung zueinander treten. Zudem rückt in der dritten Fassung des Dramas neben der literarischen die historische Figur des Woyzeck stärker in den Vordergrund, so dass Woyzeck als »Kontamination aus Dichtung und Wirklichkeit«109 erscheint.110 ––––––––– Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm.1), S. 229. Ebd. Achterloo I (s. Anm. 1), S. 119. »An Stelle des Volkes steht Woyzeck, die Hauptfigur von Büchners gleichnamigem dramatischem Fragment.« (Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 1993, S. 126f.) 108 Die Doppelung der Spielrolle, bei der Woyzeck in Achterloo IV ebenfalls als Jan Hus auftritt, deutet sich bereits in Achterloo III an, wenn beide als Clochard bezeichnet werden und somit – zumindest auf der Ebene der Identität – eine Ähnlichkeit bzw. Identität der Person demonstrieren. Hus: »Gewiß, auch ich bin ein Clochard, ein freischaffender Pfarrer, der sich freiwillig von jeder Bindung mit dem Staate gelöst hat« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 303). 109 Goltschnigg: Dürrenmatts [...] »Achterloo« (s. Anm. 11), S. 153. 110 »Was hat Er am 27. August 1824 um elf Uhr vormittags auf dem Blutgerüst zu Leipzig gesungen, bevor Ihm der Scharfrichter schnell mit großer Geschicklichkeit den Kopf abhieb, so daß dieser noch auf dem breiten Schwerte saß, bis der Scharfrichter das Schwert wandte und der Kopf herabfiel?« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 302). 104 105 106 107
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In konsequenter Weiterentwicklung des bereits angesprochenen ›revolutionären‹ Potentials der Figur erhält der »bewegungslose Dulder«111 in Achterloo IV von Dürrenmatt durch die Beigabe einer zweiten Spielrolle, der des religiösen Reformers Jan Hus, die Chance zur Aktion: »Wenn du ihn jetzt den Hus spielen läßt, dann heißt das: Woyzeck wirft seine Rolle, die des Unterdrückten ab, er rebelliert, er wird ein Reformator, ›das Volk emanzipiert sich‹, erlangt ›ein Jota Freiheit‹«.112 Die Verdopplung der Spielrolle wird von Hus selbst kommentiert: »Woyzeck ist eine poetische Nebenrolle, und dem dichtenden Unikum wäre Hus gar nicht eingefallen, wenn es nicht für die poetische Nebenrolle eine politische Entsprechung hätte schreiben wollen.«113 Die Doppelrolle dient innerhalb des Dramas zur Problematisierung von personeller Identität, wenn ein gleichzeitiger Auftritt beider Spielrollen auf der Bühne die Unmöglichkeit offenbart, »doppelt auf der Bühne [zu] stehen«.114 Indem Hus sich fragt, »wie ich mich auseinanderschachtle«,115 wird die Theatralisierung des Spiels ins Gedächtnis gerufen.116 Abseits dieser Rollenproblematisierung jedoch verschiebt sich die Anlage des Stücks von einer Fortsetzung des Woyzeck in Richtung des Revolutionsdramas Dantons Tod, da die Figur des Hus, die in Achterloo III bereits mehr und mehr die Rolle Dantons als Gegenspieler Robespierres eingenommen hatte,117 nun als Ver––––––––– 111 Alfons Glück: Woyzeck. Ein Mensch als Objekt. In: Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz,
Leonce und Lena, Woyzeck. Stuttgart 1990, S. 177–215, hier S. 182. Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 259. Achterloo IV (s. Anm. 1), S. 439. Ebd. Ebd. Die Multiplikation der Individualität durch die Trias von Spielrolle, Wahnrolle und Person erweckt den Eindruck »jener russischen Puppen, in denen mehrere stecken, in der Spielrolle steckte eine Wahnrolle und in der das eigentliche Ich« (Dürrenmatt: Zwischenwort [s. Anm. 1], S. 271). Die Vervielfältigung der menschlichen ›Hüllen‹ oder der dem Gesicht vorgelagerten Masken ist vermutlich ebenfalls ein intertextueller Verweis auf die Zwiebelmetaphorik Valerios in Büchners Leonce und Lena: »(Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab.) ›Bin ich das? oder das? oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern.‹« (MBA 6, S. 121.) 117 Robespierre hält seine Rede in Achterloo III explizit gegen den »entlarvte[n] Revisionist[en]« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 329) Hus, der stellvertretend für Danton zum Antagonisten Robespierres im Kampf zwischen »Verbrechen und Tugend« (ebd., S. 330) avanciert. 112 113 114 115 116
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haltensalternative Woyzecks aufscheint.118 Letztendlich erweist sich jedoch die Spielrolle Hus’ nicht als der erhoffte Ausbruch aus der Ohnmacht und Passivität der Woyzeck-Figur. So resümiert die Figur, dass beide Rollen machtlos gegenüber der von Napoleon repräsentierten Gesellschaftsordnung seien: »Wer hat wen besiegt und wer ist der größte Narr in diesem Tollhaus? Ich spielte Woyzeck und ich spielte Hus. Woyzeck glaubte ich spielen zu können, Hus fürchtete ich zu spielen. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr. Wir waren beide Woyzecke. Wir waren beide verflucht bescheiden. Wir verlangten beide nur das Mögliche und wurden beide ausgenutzt. Wir waren beide ein Opfer unserer Halbherzigkeit. Woyzeck wagte nicht zuzudrücken, und ich hing zu sehr an der alten Ordnung.«119
Im Mittelpunkt der Zitatanleihen steht die Figur Georg Büchners selbst, deren Funktion in Achterloo es ist, den Entstehungsprozess des Dramas zu reflektieren und zugleich zu parodieren. Büchner, dessen Ästhetik »im Hinblick auf das Dargestellte durchweg den Charakter eines work-inprogress trägt«,120 eignet sich in besonderem Maße, um Dürrenmatts Arbeitsweise des unablässigen Schreibens und Umschreibens ironisch zu versinnbildlichen.121 Knapps Bemerkung, »[l]iterarisch verbriefte Selbstironie [sei] dabei von Dürrenmatt aber keineswegs intendiert«,122 wird von Dürrenmatt widerlegt: »Auf alle Fälle schreibt am Anfang vom zweiten Akt immer noch der Büchner. Die Bühne ist mit Papieren bedeckt, und er schreibt immer noch am ersten Akt herum. Da parodiere ich mich selbst.«123 ––––––––– 118 Interessant ist hierbei, dass Woyzeck in seiner Spielrolle die Möglichkeit erhält, sein
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passives Dulden gegen eine rebellische, aufbegehrende Rolle einzutauschen. Er kann somit eine alternative Handlungsweise durchspielen. So wie im Laufe der Fassung Woyzeck immer stärker die Rolle Dantons (bzw. Hus’ als dessen Stellvertreter) einnimmt, so verschiebt sich auch die Anlage Achterloos von der Fortsetzung des Woyzeck immer mehr in Richtung einer Dramatisierung der Revolutionsproblematik in direktem Anschluss an Dantons Tod. Achterloo IV (s. Anm. 1), S. 514. Knapp: Büchner (s. Anm. 25), S. 128. Wenn Dürrenmatt sein Drama als »indirektes Porträt Büchners« (Abschied vom Theater [s. Anm. 1], S. 562) charakterisiert, parallelisiert er die eigene Arbeitsweise, den Prozess des Umschreibens, mit jener Büchners, von dessen Drama Woyzeck ebenfalls mehrere Entwurfs- und Ausarbeitungsstufen vorliegen. Knapp: Dürrenmatt (s. Anm. 107), S. 129. Kerr: Protokoll einer fiktiven Inszenierung (s. Anm. 1), S. 191f.
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Dürrenmatt, der einen dynamischen Textbegriff vertritt und bei dem jede Veröffentlichung oder Inszenierung eines Stückes neue Umarbeitungs- und Ergänzungsvorgänge initiiert, sieht den von ihm geschriebenen Text nicht als endgültig an, sondern begreift ihn als »Substanz, die jedes Theater, jede Truppe auf eine immer andere Weise zum Erscheinen, zum Leuchten bringen muß«.124 Das Drama wird demzufolge zum Resultat der »Begegnung des Schriftstellers mit der Bühne«,125 eine Arbeitsweise, die für Achterloo geradezu symptomatisch ist. Nicht nur die verschiedenen Fassungen des Stücks beweisen Dürrenmatts Arbeit mit der Bühne, sogar innerhalb des Dramas wird fortwährend der Dialog über den zugrunde liegenden Text und dessen Änderungen geführt.126 Besonderheit dieser im strukturellen Stellvertreter Büchner gespiegelten Arbeitsweise des Umschreibens ist es, dass sie durch ein »grundsätzliches ›Zuspät‹ gekennzeichnet« ist und infolgedessen einen quasi »unabschließbaren Produktionsprozeß« präsentiert,127 dessen Handlung dem fingierten Autor des Dramas buchstäblich davonläuft. Die hierin implizierte »Entmächtigung des Binnenautors«128 ist aufs Engste mit der Dramaturgie des Stückes als Zeitstück verbunden. Die Figur Büchners, die sozusagen von den Geschehnissen eingeholt und überholt wird, verkörpert Dürrenmatts Vorstellung von der »Unmöglichkeit, ein Zeitstück zu schreiben«.129 Die in Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod implizierte ––––––––– 124 Dürrenmatt: Gedanken vor einer neuen Aufführung (1957). In: Ders.: Theater. Essays,
Gedichte, Reden (s. Anm. 3), S. 74–77, hier S. 74f.
125 Ders.: Schriftstellerei und Bühne (1951). In: Theater. Essays, Gedichte, Reden (s. Anm. 3),
S. 16–19, hier S. 18.
126 So beklagt sich Büchner mehrfach, dass niemand den von ihm geschriebenen Text
spricht, betont, dass er keinen Einfluss auf die dramaturgische Umsetzung des Manuskripts hat – »ich führe nicht Regie« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 350) – und weist darauf hin, dass der Text immer wieder Veränderungen unterliegt: »Schreibe immer um!« (Ebd., S. 321.) 127 U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 268. – Dieses ›Zuspät‹ der Textproduktion Büchners hinter dem bereits ablaufenden Stück wird auch von den Figuren selbst kommentiert: »Als Georg Büchner sind Sie verdammt langsam.« (Achterloo III [s. Anm. 1], S. 304). 128 U. Dedner: Widerspiele (s. Anm. 76), S. 289. 129 »Die Unmöglichkeit, ein Zeitstück zu schreiben, liegt vorerst im Wesen der Zeit, es ist die Vergangenheit, die sich auf der Bühne als Gegenwart präsentiert, präsentieren muß, weil die Bühne nur die Gegenwart kennt.« (Abschied vom Theater [s. Anm. 32], S. 556).
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»Theatralisierung der Politik«130 verweist zugleich auf das »Problem der Reproduzierbarkeit historischer Realität auf der Bühne«,131 was Dürrenmatt für sein Drama aufgreift, wobei er jedoch das Polit-Theater durch die Einführung des theatralischen Rollenspiels abermals potenziert: Historische Rollen stellen das Drama der Revolution quer durch Zeit und Raum vor, während subversiv die Wahnrollen ein weiteres Mikrodrama, das von Judith und Holofernes, inszenieren. Die Gegenwart, die im Augenblick ihrer Transposition auf die Bühne bereits der Vergangenheit angehört, muss »qua Präsentifizierung anderer Vergangenheiten wieder verfügbar«132 gemacht werden. Für Achterloo bedeutet dies, dass ein zeitgenössisches Geschehen – die Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981 – durch historische ›Muster‹ in ein überzeitliches Welttheater, ein theatrum mundi mit multiplizierten Rollen, überführt wird. Die von Büchner übernommene exzessive Zitiertechnik dient hierbei zur Inszenierung des Spiels im Spiel und zur Betonung der von Dürrenmatt intendierten Aussageabsicht: »Wenn ich die Welt als Theater darstellen will, muss ich Theater zitieren.«133 Ferner etabliert sich eine direkte Parallele zu Büchners Dantons Tod, wo die Theatermetaphorik und das theatrum mundi134 ebenfalls Konstituenten des Revolutionsdramas sind.135 Büchners »Entwurf des ––––––––– 130 Michael Voges: Dantons Tod. In: Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena,
Woyzeck. Stuttgart 1990, S. 7–61, hier S. 11.
131 Knapp: Büchner (s. Anm. 25), S. 108. 132 Roland Bursch: »Wir dichten die Geschichte«. Adaption und Konstruktion von Historie bei
Friedrich Dürrenmatt. Würzburg 2006, S. 207. – Bursch bezeichnet Achterloo in diesem Zusammenhang als »metahistorische[s] Manifest« (ebd.), das die »Historizität des Ahistorischen« (ebd., S. 209) mittels der »Historifizierung der Gegenwart qua Präsentifizierung des Vergangenen« (ebd., S. 201) reflektiert. 133 Gespräche 1981–1987 (s. Anm. 9), S. 197. 134 Die individuellen Leiden der Einzelnen, ihr Sterben innerhalb dieses theatrum mundi fasst Danton kurz vor seiner Hinrichtung in das anschauliche Bild einer »Schüssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seeligen Götter steht und die seeligen Götter lachen ewig und die Fische sterben ewig und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes« (MBA 3.2, S. 77). 135 Wie bereits angesprochen scheint Dantons Tod eine der Hauptquellen für Dürrenmatts Achterloo zu sein. Obwohl der Schweizer Dramatiker sein Stück explizit in Parallele zum Woyzeck stellt, sind die Bezüge zu Büchners erstem Drama mehr als auffällig und schließen das in Achterloo präsentierte Motiv der »Notwendigkeit des Verrats in der Politik« (Abschied vom Theater [s. Anm. 1], S. 569) stärker an die Revolutionsthematik an. Eine detaillierte Untersuchung der strukturellen und motivischen Paral-
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Geschichtsprozesses als Spiel eines Marionettentheaters«136 entlarvt die Revolution als Revolutionstheater,137 in dem die Handlungsträger heroische oder theatralische Rollen spielen, um sich aus der Masse der Menschen abzuheben.138 So identifiziert der Souffleur Simon sich und seine Familie mit tragischen, heroischen Rollen, um der eigenen Armut und sozialen Misere zu entfliehen. Auch Dantons gleichmütige Haltung im Angesicht des eigenen Todes wird von Camille als Heldenpose und Maskenspiel enthüllt: »Er zieht ein Gesicht, als solle es versteinern und von der Nachwelt als Antike ausgegraben werden. […] wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schaafskopf, nichts mehr, nichts weniger.«139
Das hier dargestellte Masken- und Rollenspiel, welches die Geschichte als Polit-Theater kennzeichnet, wird von Dürrenmatt durch Potenzierung des Theatralischen vom »Zeitstück zum Zeitspiel, zum Spiel über eine Zeit«140 weiterentwickelt. Während bei Büchner die »Theatralisierung der Wirklichkeit«141 demonstriert wird, sind Theater und Wirklichkeit bei Dürrenmatt nicht mehr voneinander zu trennen:142 So verab–––––––––
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lelen, die im Rahmen dieser Überlegungen leider nicht möglich ist, könnte hierbei zu interessanten Ergebnissen führen. So wäre u. a. die Relation des ›Gottesmonologs‹ in Achterloo IV ( [s. Anm. 1], S. 536f.) zum Atheismusgespräch in Dantons Tod III,1 zu überprüfen. Bernhard Greiner: Welttheater als Montage. Heidelberg 1977, S. 80. – Danton selbst bezeichnet sich und seine Gefährten als »Puppen […] von unbekannten Gewalten am Draht gezogen« (MBA 3.2, S. 41). »Die ›Geschichte der Revolution‹ erweist sich hier als die Neuinszenierung eines alten Theaterstücks, in dem nur neue Schauspieler die Rollen der alten übernommen haben. Das Theater der Revolution ist in mehr als einem Sinne zum Revolutionstheater geworden« (Walter Hinderer: Über deutsche Literatur und Rede. Historische Interpretationen. München 1981, S. 195). »the deepest reason for the need to assume roles, wear ›masks‹ and ›costumes‹ might lie in the individual’s very inability or unwillingness to accept this sameness.« (Janis L. Solomon: Büchner’s »Dantons Tod«: History as theatre. In: The Germanic Review 54 (1979), H. 1, S. 9–19, hier S. 16). MBA 3.2, S. 75. Abschied vom Theater (s. Anm. 1), S. 556. Voges (s. Anm. 130), S. 11f. »Wenn die Welt nur noch Theater spielt, wenn die Welt zum Theater wird, dann sind die Folgen schrecklich: [...] das bedeutet die Umkehrung der Verhältnisse, die Umkehrung des Satzes von den Brettern, die die Welt bedeuten. [...] Nicht das Ende des
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schiedet sich Louis in Achterloo I von »unserer Welt, die die Bretter – [von] unseren Brettern, die die Welt bedeuten«,143 und weist somit explizit auf die Untrennbarkeit beider Bereiche im Stück hin. Die Welt selbst wird als Theater auf dem Theater demaskiert, als therapeutisches Rollenspiel, was durch die Verknüpfung mit der Wahnsinnsthematik zu einer Intensivierung der Irrealität der Welt führt. In diesem Welttheater, in dem der Schweizer »mit seigneuraler Schöpfergebärde den ganzen Erdkreis«144 bewegt, wendet sich der Autor konsequent von jeglichem festen Orientierungspunkt einer Welterklärung ab; mit der »Dekonstruktion jeglicher mimetischer Sinnvorspiegelung«145 erklärt Dürrenmatt abermals die Suche nach dem Sinn und somit das teleologische Prinzip für nichtig, »weil nur der Irrtum einen Sinn hat, den Irrsinn«.146 Indem Wahnsinn und Spiel im Spiel zu entscheidenden Merkmalen seines Welttheaters erhoben werden, wird die Welt zum Irrenhaus,147 stellt Dürrenmatt den Wahnsinn der Geschichte und der Welt explizit bloß. Paradigmatisch für das Ineinssetzen von Theater und Welt endet das therapeutische Rollenspiel letztlich in der schlimmstmöglichen Wendung, als das Maskenspiel der Irrenhausinsassen in einen echten Mord mündet.148
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Theaters ist hier also angesagt – die Welt ist ins Theater integriert. Um so schlimmer für die Welt.« (Gespräche 1981–1987 [s. Anm. 9], S. 196f.). Achterloo I (s. Anm. 1), S. 121. Rüdiger Krohn: Letzte Worte, doch kein Endspiel. In: Stuttgarter Zeitung, 22. 06. 1988. Birgit Brüster: Das Finale der Agonie: Funktionen des »Metadramas« im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre. Frankfurt a. M. 1993, S. 12. – Schmitz-Emans führt diese Negation möglicher Sinnhaftigkeit darauf zurück, dass »es in Dürrenmatts Theater-Welt keinen Außenraum, keinen überlegenen Beobachterstandpunkt mehr [gibt], von dem her sich Erfahrung sortieren und Unordnung in Ordnung überführen ließe.« (Monika Schmitz-Emans: Dürrenmatts Räume. Literarische und visuelle Modelle. In: Text + Kritik 50/51: Friedrich Dürrenmatt. Hrsg. v. Heinz-Ludwig Arnold. 3. Aufl. München 2003, S. 197–215, hier S. 202). Achterloo IV (s. Anm. 1), S. 477. »Die Welt ist ein Irrenhaus.« (Protokoll einer fiktiven Inszenierung [s. Anm. 1], S. 131.) Es sei an dieser Stelle auf die Parallele zu Dantons Tod verwiesen, indem Danton resümiert, dass die Menschen »immer auf dem Theater [stehen], wenn [sie] auch zulezt im Ernst erstochen werden.« (MBA 3.2, S. 32.)
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Mit der Absage an die Sinnhaftigkeit des Weltgeschehens wird Achterloo zum »Epilog für [Dürrenmatts] gesamtes dramatisches Werk«.149 Unschlüssig, ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch darstellbar ist, wendet sich der Schweizer Dramatiker von diesem Medium ab und erklärt Achterloo zu seinem »Abschied von der Bühne«,150 zu seinem Endspiel. In Übereinstimmung mit dieser Entscheidung lässt er seinen fiktiven Binnenautor Georg Büchner am Ende des therapeutischen Rollenspiels resignativ verkünden: »Ich werde von nun an nichts mehr schreiben.«151 Resümierend kann festgehalten werden, dass die Beweggründe Dürrenmatts, Georg Büchner als fiktiven Stellvertreter seiner selbst zum Binnenautor seines Dramas zu installieren, durch die hohe Bandbreite an poetologischen Gemeinsamkeiten bedingt ist, die Dürrenmatt mit seinem fingierten alter ego zu teilen meint. Knapps Verdikt, »[a]ls Beitrag zur Büchner-Rezeption des 20. Jahrhunderts leiste[] ›Achterloo‹ nichts. Büchner und Dürrenmatt [hätten] philosophisch und weltanschaulich so gut wie nichts gemein«,152 kann somit zurückgewiesen werden. Dürrenmatt hat Büchner und dessen Philosophie ins Heute transponiert und in seinem Sinne ›weitergedacht‹: Aus dem progressus in infinitum ist Dürrenmatts Weltsicht des regressus in infinitum geworden, Büchners Theatralisierung der Realität ist zu einer Welt geworden, die nur mehr Theater ist und von Irren bevölkert ist.
––––––––– 149 Hensel (s. Anm. 101), S. 247. – Dürrenmatt selbst kennzeichnet sein Drama als einen
»Versuch, ein Fazit aus meiner Theaterarbeit zu ziehen« (Gespräche 1981–1987 [s. Anm. 9], S. 194). 150 Dürrenmatt: Abschied vom Theater (s. Anm. 1), S. 541. – Loetscher akzentuiert ebenfalls den Endspiel-Charakter von Achterloo; er bezeichnet das Drama als »dramaturgische Gespensterstunde seines Bühnenschaffens, in der er nochmals seine Einfälle paradieren lässt, als gälte es, die eigene Parodie zu schreiben« (Hugo Loetscher: Die Welt in Szene setzen. In: Play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch. Hrsg. v. Luis Bolliger u. Ernst Buchmüller. Zürich 1996, S. 252–255, hier S. 254). 151 Achterloo III (s. Anm. 1), S. 406. 152 Knapp: Dürrenmatt (s. Anm. 107), S. 129.
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Stanisâawa Przybyszewskas Drama Sache Danton im intertextuellen Dialog mit Georg Büchners Dantons Tod Marion Brandt (Gdaľsk) Das Drama Sprawa Dantona/Sache Danton der polnischen Schriftstellerin Stanisâawa Przybyszewska (1901–1935) hat – was Dramen zur Französischen Revolution betrifft – für die polnische Bühne einen ähnlichen Stellenwert wie Georg Büchners Stück Dantons Tod für die deutschen Theater. Es ist das bekannteste und am häufigsten gespielte Stück über die Französische Revolution; mehr noch: mit seiner Hilfe setzten und setzen sich bis heute polnische Regisseure gern mit der Revolutionsproblematik an sich auseinander. Sache Danton entstand 1928/29 und erlebte zu Lebzeiten der Autorin zwei Aufführungen – am Teatr Wielki in Lemberg 1931 und am Teatr Polski in Warschau 1933. Dieser erste Erfolg war dem ›polnischen Piscator‹ Leon Schiller zu verdanken, dem Przybyszewska ihr Stück geschickt hatte und der es sehr hoch schätzte, es sogar für besser gehalten haben soll als die Revolutionsdramen von Rolland und Büchner.1 In den Jahren von 1967 bis 1971 wurden die Dramen Przybyszewskas durch den Regisseur Jerzy Krasiľski in Breslau in aufsehenerregenden Inszenierungen wiederentdeckt. 1975 inszenierte Andrzej Wajda das DantonStück zum ersten Mal und kehrte seitdem immer wieder zu ihm zurück, u. a. in einer Inszenierung im Solidarnoœý-Jahr (November 1980) in Danzig und in dem polnisch-französischen Film Danton aus dem Jahre 1982. Von der anhaltenden Produktivität des Stückes zeugen neuere In-
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Stanisâawa Przybyszewska: Listy [Briefe]. Bd. 1. Gdaľsk 1978, S. 613 (an Helena Barliľska, 15.–26.7.1929).
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szenierungen, so 2008 durch den bekannten Regisseur Jan Klata in Wrocâaw.2 Sache Danton wurde ins Französische, Italienische, Tschechische, Schwedische und Englische übersetzt;3 1995 erlebte das Stück, das bereits seit den 1930er Jahren in einer deutschen Übersetzung vorliegt,4 in der Inszenierung von Frank Castorf an der Volksbühne in Berlin auch seine deutsche Uraufführung. Leon Schillers Meinung, daß ihr Drama besser sei als das von Büchner, erfüllte Przybyszewska selbstverständlich mit Stolz. Wie ihre Briefe ausweisen, war Sache Danton das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit Georg Büchners Stück und stellt somit auch ein Zeugnis der Büchnerrezeption in Polen dar. Als solches möchte ich es hier vorstellen und dabei auch den Dialog beschreiben, den Przybyszewska mit Büchner führt. Przybyszewska schreibt in ihren Briefen, daß die Lektüre von Büchners Stück im Jahre 1924 sie zu ihren eigenen Revolutionstexten inspiriert habe. Was sie zu Büchner hinführte, erfahren wir nicht – es könnte die polnische Uraufführung von Romain Rollands Danton im September 1924 am Teatr Polski in Warschau gewesen sein, die Przybyszewska zwar nicht sah, von der sie aber durch die Presse und in Gesprächen erfahren haben wird. Dort könnte jemand auf Büchner verwiesen haben. Sie wird aber bereits in den Jahren 1920 bis 1922, als sie im Kreis der polnischen Expressionisten in Posen verkehrte, von Max Reinhardts Inszenierung ––––––––– 2 3
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Die Premiere fand am 29.3.2008 am Teatr Narodowy in Wrocâaw statt (http://www.teatrpolski.wroc.pl/przedstawienie.php?id=danton). L’affaire Danton, übers. v. Daniel Beauvois. Lausanne 1982. The Danton Case. Thermidor, übers. v. Boleslaw Taborski. Evanston, Ill. 1989. 1978 erschien Sache Danton im Prager Verlag Dilia in der Übersetzung von Mojmira Janišova, am 18.10.1982 fand im Teatro Stabile del Friuli Venezia Gulia in Triest die italienische Uraufführung unter der Regie von M. Karpiľski statt (vgl. Tomasz Lewandowski: Anhang, in: Stanisâawa Przybyszewska: Listy [Briefe]. Bd. 2. Gdaľsk 1983, S. 616). Im März 1986 führte Unga Klara das Stück am Stadttheater Stockholm auf, im Juni desselben Jahres inszenierte es auch die Royal Skakespeare Company in London (vgl. Kazimiera Ingdahl: A Gnostic Tragedy. A Study in Stanisâawa Pezybyszewska’s Aesthetics and Works. Stockholm 1997, S. 12). Stanisâawa Przybyszewska: Sache Danton. Ms. (henschel Schauspiel) Berlin 1994, S. 214. Die Übersetzung fertigten Heinz Joseph Mischel und Stanisâawa Przybyszewska gemeinsam an. Die Zitate aus dem Stück werden im folgenden mit der Sigle SD im Text nachgewiesen.
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am Deutschen Theater in Berlin und von dem 1921 unter der Regie von Dmitri Buchowetzki entstandenen Film erfahren haben. Über die Lektüre des Dramas selbst schreibt sie: »[…] nichts hat mich jemals so sehr fortgerissen, so ganz und gar durchdrungen […].«5 Büchners Einfluß auf ihr Werk ist denn auch bereits auf den ersten Blick zu erkennen: Przybyszewska wählte für ihr Stück denselben historischen Ausschnitt wie Büchner, der zugleich ja auch tatsächlich einer der entscheidenden Momente der Revolution ist: die Verhaftung, Anklage und den Tod Georges Dantons. Büchner wird Przybyszewska möglicherweise auch zur Modernisierung der Figurensprache und Situationen ermutigt haben.6 Der nächtliche Monolog Robespierres in Büchners Stück (I,6), von dem Przybyszewska, wie sie schreibt, besonders beeindruckt war,7 war offensichtlich Keimzelle ihres Robespierre-Romans Ostatnie Noce Ventôse’a/Die letzten Nächte des Ventôse von 1927.8 Die Handlung dieses Romans spielt sich in zwei Nächten ab und besteht im wesentlichen (mit wenigen Unterbrechungen) aus einem inneren Monolog Robespierres, der durch die Ankunft von Saint-Just beendet wird. Ihr erstes Stück zur Französischen Revolution mit dem Titel Thermidor schrieb Przybyszewska ein Jahr nach der Lektüre von Dantons Tod 1925 auf deutsch. Von ihrer Begeisterung für Büchners Stück zeugt auch, daß sie es ins Polnische übersetzte;9 leider blieb die Übersetzung nicht erhalten.
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»[…] nic mnie nigdy nie porwaâo tak silnie, nie przeniknęâo tak caâkowicie [...]«. Stanisâawa Przybyszewska: Listy [Briefe]. Bd. 1, S. 191 (an Wacâaw Dziabaszewski, 9.10.1928). In der Szene, die im Nationalkonvent spielt, ändert Przybyszewska ähnlich aktualisierend wie Büchner. Gemeint ist die Anklagerede gegen Danton, in der Saint-Just vom »Weltgeist« spricht. Przybyszewska streicht die Rede Saint-Justs ganz. Sie läßt ihn nur die Einleitung vortragen, dann kommt aus der Reihe der Abgeordneten der Vorschlag, gleich über die Anklage abzustimmen, denn die Beweise der Anklage müsse man nicht mehr hören. Auf der Galerie versucht daraufhin Etienne Jean Panis vergeblich, einen Lachkrampf zu unterdrücken, und wird deswegen zurechtgewiesen. Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 190 (an Wacâaw Dziabaszewski, 9.10.1928). Dies.: Ostatnie Noce Ventôse’a. Kraków 1958. Dies.: Listy. Bd. 1, S. 135 (an Leon Schiller, 22.12.1927).
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Der Französischen Revolution wandte sie sich in mehreren Werken zu, so auch 1927 im Einakter Das Dreiundneunzigste.10 Am bekanntesten wurde jedoch Sache Danton. Obwohl Przybyszewska durch Büchner entscheidend inspiriert wurde, gelangte sie mit der eigenen Arbeit am Danton-Stoff, und wohl auch bei ihrer Übersetzung des Büchnerschen Stückes, zu einer grundlegenden Kritik an Dantons Tod. Dabei richtete sie ihren Hauptvorwurf gegen die literarische Gestaltung. Büchners Stück war in ihren Augen ein »kindliches Konglomerat«,11 »loses Zeug«,12 ein »so barbarisches Chaos, daß es allein durch die Intensität seiner Barbarei eine gewisse morbide Schönheit erhält.«13 Anders gesagt, sie vermißte kompositorischen Zusammenhang und innere Logik. Sie selbst wählte, wie sie in einem Brief schreibt, bewußt die »erzklassische Kompositionsmethode«,14 spricht mit Stolz von der »first class«-Komposition ihres Stückes.15 Tatsächlich hat sie in ihrem Stück die Handlung und das Figurenensemble ganz auf den zentralen Konflikt ausgerichtet: Alle Szenen stehen ausnahmslos im Verhältnis zu diesem Konflikt, alle Figuren in Bezug zu den beiden Gegenspielern, was z. B. bei Camille Desmoulins besonders ins Auge fällt, der bei ihr keine eigenständige Figur ist, sondern nur in Funktion entweder zu Danton oder Robespierre agiert. Przybyszewskas Stück besteht aus 5 Akten: In den drei Aufzügen des ersten Aktes werden zuerst das Volk und die politische Situation und dann jeweils in einem Aufzug die beiden Hauptfiguren (auch im privaten Bereich) vorgestellt. Der zweite Akt führt zur ersten Konfrontation und zur Entscheidung von Robespierre, daß Danton und auch Camille verhaftet werden müssen. Der dritte beginnt mit dem Beschluß des Wohlfahrtsausschusses, Danton inhaftieren zu lassen, und endet mit der Anklage Dantons im Nationalkonvent. Danach wird der Prozeß gezeigt, in dem es Danton und seinen Freunden gelingt, immer größere Zustim––––––––– 10 Alle drei Revolutionsdramen erschienen unter dem Titel Dramaty 1975 in Gdaľsk. Zu
einer deutschen Publikation kam es bisher noch nicht.
11 Stanisâawa Przybyszewska: Listy. Bd. 3. Gdaľsk 1985, S. 119 (an Iwi Bennet, 12 13 14 15
6.6.1928). An Iwi Bennet, 19.2.1929, Archiwum PAN Poznaľ, P.III-52, Nr. 47. Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 614 (an Helena Barliľska, 24.7.1929). Ebd., S. 346 (an Wacâaw Dziabaszewski, 8.1.1929). Ebd.
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mung bei den Zuschauern zu gewinnen. Der fünfte Akt bringt dann die endgültige Entscheidung: Die Richter haben den Prozeß nicht mehr unter Kontrolle, es kommt zum Tumult, in dem die Gefangenen zu fliehen versuchen, was durch das Eingreifen des Militärs verhindert wird. Der Prozeß kann wie bei Büchner und wie in der Geschichte nur aufgrund des Dekretes beendet werden, das der Konvent nach der entdeckten Gefangenenverschwörung beschloß. Die letzten beiden Aufzüge des Stükkes enthalten die Reflexionen und Zukunftsvoraussagen beider Parteien – zunächst der Dantonisten, die abgehen, indem sie aus dem Gefängnis geführt werden (die Guillotine selbst wird nicht gezeigt), dann von Robespierre und Saint-Just, die abgehen, um erneut ein gegenrevolutionäres Feuer zu löschen. Zu der »first class«-Komposition zählt für Przybyszewska auch der symmetrische Aufbau des Stückes. Die Handlungen der Gegenspieler Robespierre und Danton führt sie durch den szenischen Wechsel und das fast gleichzeitige Auslaufen beider Perspektiven in den letzten beiden Aufzügen durchgängig parallel. Beide Hauptfiguren werden gleichermaßen im privaten und im politischen Raum, d. h. auch im Kreis der politischen Freunde gezeigt. Beide treten einmal öffentlich auf, in Szenen, die als Höhepunkte der äußeren Handlung angesehen werden können: Robespierre im Nationalkonvent, als er Danton anklagt (diese Szene III,3 bildet das kompositorische Zentrum des Stücks), und Danton in der letzten Sitzung des Revolutionstribunals, als er – sich verteidigend – Robespierre anklagt (es ist die vorletzte Szene des Stückes: V,3). Diese beiden Szenen sind zugleich zwei der drei Massenszenen des Stückes. Die dritte findet sich im 1. Akt (I,1); hier bereitet die Straßenszene den Auftritt beider Protagonisten vor. Anders als Büchner, in dessen Stück der Ausgang der Handlung im Grunde genommen von Anfang an entschieden ist, die Reflexionen, Gespräche und Gefühle der Figuren an die Stelle der Handlung treten und Szenen häufig motivisch und über Schlüsselbegriffe verknüpft sind, schafft Przybyszewska eine logisch aufgebaute und politisch motivierte Handlung. Sie entwickelt Spannung, da der Ausgang des Kampfes zwischen Danton und Robespierre tatsächlich erst am Ende des Stückes entschieden wird. Danton stellt sie als einen kämpfenden, sich von Robespierre herausgefordert fühlenden Politiker dar. So beginnt die Handlung mit einer Offensive Dantons, der Verhaftung Hérons, des Chefs der 307
politischen Polizei von Paris, der wichtigsten Stütze des Sicherheitsausschusses. Der Versuch, dadurch größeren politischen Einfluß zu gewinnen, schlägt fehl und bewirkt nur, daß der Wohlfahrtsausschuß nun Dantons Verhaftung verlangt. Robespierre lehnt diese zunächst ab, weil er weiß, daß es gefährlich wäre, den einflußreichen und vom Volk geliebten Danton, eine Ikone der Revolution, anzuklagen. Als er die Verhaftung schließlich für notwendig ansieht und sie akzeptiert, muß sie wegen der Gefährlichkeit der Dantonisten sofort in der Nacht geschehen. Im Prozeß, dessen Verlauf etwa ein Drittel des Stückes einnimmt, verteidigt sich Danton dann mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft, so daß dieser nur mit knapper Not (d. h. mit Manipulation und militärischer Gewalt) abgeschlossen werden kann. Und sogar am Ende des Stückes bleibt Danton trotz der Verurteilung in gewisser Weise Sieger. Nicht nur weil er in seiner letzten Rede Robespierre anklagt und so mit die Grundlagen für den Thermidor legt. Robespierre weiß auch selbst, daß die Revolution nun, da sie sich auf den Terror stützen muß, verloren ist. Przybyszewska schafft mit ihrem Stück die Illusion, historisches Geschehen in einem entscheidenden Augenblick mit- oder nachzuerleben, wozu auch die differenzierte und psychologisch genaue Profilierung vieler Figuren beiträgt. Philippeaux z. B. nähert sich Danton erst zögerlich, läßt sich dann in den Kreis der Dantonisten hineinziehen, behält aber dennoch einen gewissen Abstand zu ihnen, aus dem heraus er Danton immer wieder kritisiert. Die Darstellung des Volkes ist bei Przybyszewska ebenfalls ganz und gar politisch und auf den zentralen Konflikt ausgerichtet: Die Menschen stehen in einer Schlange nach Brot an, auf das sie lange warten müssen. Sie sind resigniert, setzen ihre Hoffnungen nur noch auf die Revolutionsführer. Es kann nicht davon die Rede sein, daß sie – wie bei Büchner – jemanden an die Laterne knüpfen (etwas, was seit der Institutionalisierung des Terrors im Laufe des Jahres 1793 wohl tatsächlich nicht mehr vorkam). Aus Angst vor Denunziation geben sie auf jedes Wort acht, das sie sagen. Mit Recht, wie sich erweist. Ein Spitzel unter ihnen zeigt ein Mädchen an, weil es Mitleid mit einem gut aussehenden Gefangenen hatte, der unter Eskorte vorübergeführt wurde. Auch in den beiden anderen Massenszenen – im Nationalkonvent und im Revolutionstribunal – handelt das Volk, das in mehrere Parteien 308
zerfällt, rein politisch, d. h. die herausgehobenen einzelnen oder Gruppen positionieren sich direkt zum Geschehen, das sich vorn – an der Tribüne und am Gericht – abspielt bzw. abspielen wird. Man kann Przybyszewskas Kritik an Büchners Stück als Folge eines Miß- oder sogar Unverständnisses der Büchnerschen Poetik ansehen. Büchner war an der Vermittlung einer literarischen Illusion nicht gelegen; wir befinden uns bei ihm bereits nach dem historischen Geschehen, im Bereich der melancholischen, ironischen Reflexion desjenigen, über den die Geschichte hinweggeht oder hinweggehen wird. Przybyszewska mußte an Büchners Stück daher die politische Handlung überhaupt vermissen.16 Das Atheismusgespräch hält sie für überflüssig, die Rhetorik der Büchnerschen Figuren sagt ihr nichts. Dies ist deutlich an ihrem Unmut über Büchners Metaphern zu erkennen (hier spricht wohl auch die Übersetzerin Przybyszewska), in denen sie das sprachkritische, persiflierende und parodistische Moment nicht wahrnimmt. Sie empfindet diese Metaphern als »unerträglich«, von »grauenerregendem Geschmack« und bemängelt, daß ganze Dialoge aus ihnen bestehen. Als Beispiel führt sie an: »Ich werde mich in die Zitadelle der Vernunft zurückziehen, ich werde mit der Kanone der Wahrheit hervorbrechen und meine Feinde zermalmen.« oder »Es mag nicht so unangenehm sein einen Tarquinius aus der Tugendrepublik einer Jungfrau zu treiben.«17 Selbst gerade einmal 27 Jahre alt, entschuldigt sie diesen Stil mit Büchners Jugend. Przybyszewskas Kritik an Büchners Stück läßt sich so aus ihrer eigenen ästhetischen Programmatik erklären,18 die sie das geschlossene Drama bevorzugen ließ.19 Aus dieser Sicht mag ihr Büchners Stück als ein romantisches Werk erschienen sein, in dem individuelle Gefühle gestaltet werden, keine universale Problematik. Darüber hinaus entspringt Przybyszewskas Kritik aber auch ihrem Revolutionsverständnis. Ihr ––––––––– 16 Vgl. dazu Karol Sauerland: Przybyszewskas Dantondrama. Mit Blick auf Georg Büchner und
Romain Rolland. In: Acta Universitatis Nicolai Copernici. Fil. Germ. H. XVIII. Toruľ 1993, S. 11–32. 17 Przybyszewska: Listy. Bd. 3, S. 261 (an Iwi Bennet, 19.2.1929); vgl. Dantons Tod III,9 u. III,6 (P I, S. 74 u. 68). 18 Vgl. dazu Marion Brandt: Robespierres Verwandte. Stanisâawa Przybyszewskas deutschsprachige Lektüren. In: Grenzüberschreitungen. Deutsche, Polen und Juden zwischen den Kulturen (1918–1939). Hrsg. v. M. B. München 2006, S. 125–141, hier S. 126–130. 19 So auch Tadeusz Lewandowski in seiner Monographie: Dramat Intelektu. Biografia literacka Stanisâawy Przybyszewskiej. Gdaľsk 1982, S. 145.
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Anliegen war es, nach eigenen Worten, ein »neues Bild der Revolution in die morastige Materie des öffentlichen Gehirns [zu] schlagen.«20 Ähnlich wie Büchner hielt sie eine Revolution für notwendig, sie war sogar selbst – nicht in dem Maße wie Büchner, aber doch auch – in den Sog revolutionärer Bewegungen geraten. 1922 hatte sie eine Stelle in einer Warschauer Buchhandlung angenommen, die von der Kommunistischen Arbeiterpartei (KPRP) betrieben wurde, und war dann unter dem Vorwand, Kontakt zu polizeilich gesuchten kommunistischen Funktionären zu unterhalten, ca. eine Woche inhaftiert worden. Weshalb sie revolutionäre Veränderungen bejahte, erfahren wir aus einem Brief, den sie 1927 an den Schriftsteller Antoni Sâonimski, Mitarbeiter der bekannten polnischen Literaturzeitung Wiadomoœci Literackie schrieb: »Wir leben in einem furchtbaren Jahrhundert auf einer furchtbaren Welt und sind selber furchtbar. Das Unheil breitet sich überall in einer unerträglich hohen Intensität aus – im Schulwesen und im System der Diktatur, in der Zollpolitik und der Politik der Kirche, im Rechtswesen und in den Gewerkschaften, in Genf, in der Mandschurei, in Paris, in Sumatra. Überall, in der Länge, Breite und Höhe das dreidimensionale Unheil in unendlicher Zahl an Gestalten. Fliehen kann man es nicht – es herrscht in allen Gruppierungen der Menschheit, in allen Bereichen des menschlichen Tätigseins und Strebens. Es umgibt jeden Geist mit einer sphärischen, undurchdringbaren Wand. Uns bleibt also nur, ruhig zuzusehen – und verrückt zu werden, denn es ist ein Anblick über alle Kräfte; oder zu kämpfen. Den ganzen Inhalt des Lebens in die Kraft des Stoßes zu legen. Das Leben ist weiter gewachsen, hat seine Gestalt völlig verändert; es erstickt und krümmt sich in lange schon veralteten, aber furchtbar dauerhaften Formen. Man muß sie zerstören, um das Leben zu befreien. Eine schwere Arbeit – doch als einzige heute menschlicher Kraftanstrengung wert.«21
Obwohl der Tag der Erfüllung in der Zukunft liege, müsse man »die gegenwärtigen Formen um jeden Preis« zerstören. Dazu gehörten »die Regierungsformen, die Besitzformen, die Formen der Beziehungen zwischen den Gruppen des Gemeinwesens und zwischen den einzelnen.«22 Das Bild, das Przybyszewska hier von der Revolution zeichnet, mag durch marxistisches Denken geprägt sein. Darauf könnte die Formulierung vom Zerstören veralteter, überlebter Formen hindeuten, und auch ––––––––– 20 Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 455 (an Helena Barliľska, 16.–30.3.1929). 21 Ebd., S. 113 (an Antoni Sâonimski, 10.9.1927). 22 Ebd., S. 114.
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Przybyszewskas Sympathie für die Russische Revolution23 weist in eine solche Richtung. Zum anderen, und m. E. stärker, ist dieses Bild durch Ideen des Expressionismus beeinflußt, in dessen Kreisen sich Przybyszewska 1920–22 bewegte. Die polnischen Expressionisten der Gruppe »Bunt« und um die Zeitschrift Zdrój verstanden – ähnlich den deutschen Expressionisten – die Revolution als eine umfassende, existentielle geistige Erneuerung. Einige von ihnen stellten dabei den Begriff des »Geistes« im mystischen Verständnis der Materie gegenüber. Jerzy Hulewicz, ein Programmatiker des Posener Expressionismus, nennt den »Geist« in einer Schrift von Februar 1919 den »ewigen Revolutionär« und ist der Überzeugung, »die letzte Phase des Kampfes gegen den Materialismus, gegen die Verfälschung der Wirklichkeit durch die Sinne«24 mitzuerleben. Przybyszewska entwickelt diese Gedanken weiter, wenn sie die Revolution, wie sie in den Notizen zu Sache Danton beschreibt, als einen Prozeß versteht, in dem das Geistige zu einer gesellschaftlich schöpferischen Kraft wird. Dabei kommt dem Revolutionsführer eine besondere Rolle zu: »Wenn das Leben des Gemeinwesens in eine neue evolutionäre Phase eintritt, für die neue politische Formen notwendig sind – dann emaniert die Idee dieser neuen Formen aus der ganzen Gesellschaft als freie +++ Substanz, hauptsächlich emotional (Unruhe, Unzufriedenheit etc.) und negativ. Ihre Dichte und Spannung wachsen immer mehr an: Das [unklare] Gefühl des Mangels ergreift die Menschen immer intensiver, löst lokale Massenaufstände, widersprüchliche Versuche der intellektuellen Formulierung etc. aus – bis das Fluidum auf das Genie trifft. Es ergreift [uneingeschränkten] Besitz von diesem Wesen als dem Medium seiner Realisierung. Es kristallisiert in seinem Geist: erreicht seine intellektuelle Formulierung. Dann handelt es durch das Genie (Schaffenszwang), geistig und materiell. Die geistige Handlung liegt in der mentalen Aufklärung der Masse (lehren), die materielle Handlung – das ist die Realisierung der Forderungen der Idee,
––––––––– 23 Im Brief an Sâonimiski schreibt sie, daß sie begierig alle positiven Nachrichten über
Sowjetrußland aufnehme, weil sie daran glauben möchte, daß trotz aller ›Fehler‹ hier ein entscheidender Versuch unternommen werde, die Verhältnisse zu ändern. Ebd., S. 118. 24 Jerzy Hulewicz: My. In: Zdrój. Dez. 1918, Wiederabdruck in Józef Ratajczak: Krzyk i ekstaza. Antologia polskiego ekspresjonizmu. Poznaľ 1987, S. 55–59, hier S. 58.
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zu der das Genie strebt – handelnd durch die Masse wie die Idee durch ihn.«25
Die Geschichte der Französischen Revolution und besonders der Jakobinerdiktatur bot sich für Przybyszewska für eine Analyse dieses revolutionären Prozesses an, da dieser hier an seine Grenzen gelangt war. Auch darüber schreibt sie Sâonimski 1927, wobei sie hier statt vom »Genie«, das den revolutionären Geist realisieren müsse, noch von revolutionären »Führern« spricht. »Das grundlegende Übel in der Mechanik der Revolution«, so Przybyszewska, liege in der »unvermeidliche[n] Notwendigkeit, das ganze Unternehmen um einige Führer-Individuen zu konzentrieren.«26 Diese müssen deshalb durch die Masse kontrolliert werden: »[D]ie gegenseitige Abhängigkeit des Führers und der Masse« muß sich in einem »Gleichgewicht« halten.27 Diese Regierungsform bezeichnet Przybyszewska als revolutionäre Diktatur, die sie von der Autokratie unterscheidet. An anderer Stelle, in ihren Arbeitsnotizen zu Sache Danton, nennt sie die Diktatur »Mittel des Schaffens durch die Allgemeinheit für die Allgemeinheit, Exekutive ihrer Forderungen.«28 Der Revolutionsführer sei ein »Diktator mit einer Kugel am Bein, in ein Glashaus gesetzt, der unter der unerbittlichen Kontrolle der öffentlichen Meinung«29 stehe. Przybyszewska spricht der revolutionären Masse die Macht zu, das ›egoistische‹ Wesen der Revolutionsführer zu neutralisieren. Ihrer Meinung nach ist die Französische Revolution gerade daran gescheitert, daß die »gegenseitige Kontrolle der Regierenden und der Regierten«30 noch nicht möglich war (erst zu ihrer Zeit sei sie möglich geworden). Auch wenn die von ihr verwendeten Worte »Führer« und »Diktatur« nicht dar––––––––– 25 Stanisâawa Przybyszewska: Notizen zur dritten Fassung von Sprawa Dantona. APAN
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(Archiv der Polnischen Akademie der Wissenschaften). Nachlaß Stanisâawa Przybyszewska. P.III-52 A, Nr. 12, p. 13 (Übersetzung M. B.). Die diakritischen Zeichen +++ kennzeichnen ein nicht entziffertes Wort, eckige Klammern eine unsichere Lesart. Zum Revolutionsverständnis Stanisâawa Przybyszewskas siehe auch: Zum Revolutionsbegriff von Stanisâawa Przybyszewska. In: Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Hrsg. v. Holger Böning, Hans Wolf Jäger, Andrzej KĊtny u. Marian Szczodrowski. Bremen 2005, S. 209–228. Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 115f. (an Antoni Sâonimski, 10.9.1927). Ebd., S. 116. Notizen zur dritten Fassung von Sprawa Dantona (s. Anm. 25), p. 14. Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 511 (an Helena Barliľska, 16.–28.4.1929). Ebd., S. 15 (an Antoni Sâonimski, 10.9.1927).
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auf hindeuten, so hat Przybyszewska hier doch zum Teil den Mechanismus direkter Demokratie beschrieben: der Führer ist lediglich Exekutive, er handelt unter Kontrolle der öffentlichen Meinung. Dies gilt deshalb nur teilweise, weil für Przybyszewska die Revolutionsführer nicht durch die Masse gewählt werden, sondern eine Art selbsttätige Selektion der Führer erfolgt je nach ihrer Fähigkeit, für die schöpferische Energie eine »intellektuelle Formulierung« zu finden. Mit diesem Revolutionsbild hat Przybyszewska einerseits ein wichtiges Gefahrenmoment revolutionärer Umbrüche erfaßt, nämlich den Moment, in dem diejenigen Persönlichkeiten, die sich aus der spontan aufbrechenden revolutionären Massenbewegung herausheben und die dann die neu errichteten revolutionären Institutionen prägen, die Revolution für ihre persönlichen Interessen zu nutzen beginnen und den revolutionären Geist ebenso wie die Masse verraten. Andererseits weist dieses Verständnis der Revolution als eines geistig schöpferischen Prozesses eine nicht unwichtige Blindstelle auf. Die Revolution wird dadurch zu einem endlosen Prozeß, zu einer ins Unendliche gehenden Zerstörung politischer Formen, denn jede Form muß früher oder später als Einengung des freien schöpferischen Geistes erfahren werden. Dies jedoch bedeutet revolutionäre Gewalt ohne Ende. Und das Materielle an sich, das betrifft auch das Körperliche, muß zwangsläufig als Hindernis erfahren werden. Ein solches Bild von der Revolution ist geradezu das Gegenteil von dem, was die Revolution für Georg Büchner bedeutete, für den sie auch zu einer Emanzipation der Sinne führen sollte. Ihre Vorstellungen von der Revolution führten Przybyszewska denn auch zu einer anderen Bewertung der Gegenspieler Robespierre und Danton, als wir sie bei Büchner finden. Sie idealisierte Robespierre, wofür sie Rückhalt in Albert Mathiez’ Geschichtsschreibung der Französischen Revolution fand. Sowohl Danton als auch Robespierre sieht sie als »Genies«, d. h. als Revolutionsführer in dem oben beschriebenen Revolutionsverständnis an. Danton unterscheidet sich jedoch von Robespierre dadurch, daß er die Revolution für das persönliche Interesse verrät, daß er – mit den Worten Przybyszewskas – zum »Renegaten der Berufung«31 wird, die schöpferische Kraft verrät. Er ist nicht nur korrupt und bereit, sich für den Zweck der Machtergreifung auch mit den Feinden der Revolution einzulassen. ––––––––– 31 Przybyszewska: Samowywiad [Selbstinterview]. In: S. P.: Listy. Bd. 2, S. 555.
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Realisiert das Genie nicht die schöpferische Energie, so wirkt es – nach Meinung Przybyszewskas – zerstörerisch; dies will sie an Danton zeigen. Zu den Vorwürfen, die Stanisâawa Przybyszewska gegen das Stück von Büchner richtete, gehört auch derjenige der Untreue gegenüber den historischen Fakten. Sie weist zu Recht darauf hin, daß Danton bei Büchner noch mit seiner ersten Frau verheiratet ist, während er tatsächlich bereits ein zweites Mal geheiratet hatte. Diese Frau, Louise, ging nicht mit ihm in den Tod, sondern heiratete später einen Verwaltungsbeamten. Auch Büchners Lucile Desmoulins folgt nicht der historischen Figur, die hingerichtet wurde, weil sie angeblich Geld unter der Pariser Bevölkerung verteilte, um so Unterstützung für die Gefangenen zu erhalten. Przybyszewskas Kritik an der fehlenden Faktentreue suggeriert, daß sie sich selber eng an die Quellen hielt. Dies ist zwar in der Regel, aber keineswegs durchgehend der Fall. Um das Bild von Danton zu verdunkeln und das von Robespierre aufzuhellen, interpretiert sie die Quellen zum Teil parteiisch – so wenn sie Danton zum Urheber der Gefangenenverschwörung macht, wo nur belegbar ist, daß ein Gefangener namens Alexandre de Laflotte in eine solche Verschwörung einbezogen werden sollte und diese verriet. Przybyszewskas Figurendarstellung ist der von Büchner oftmals entgegengesetzt, läßt aber – gerade in dieser Umkehrung – noch den Bezug zu ihm deutlich erkennen. So hat in beiden Stücken das Gespräch zwischen Danton und Robespierre zentrale Bedeutung für die Gegenüberstellung ihrer Haltungen zum Fortgang der Revolution bzw. für den Konflikt zwischen den Protagonisten. Über dieses Gespräch, das tatsächlich stattgefunden hat, weiß man wenig. Büchner ging noch davon aus, daß Danton Robespierre aufsuchte, um diesen von der drohenden Verhaftung abzuhalten. Er läßt ihn Robespierre die Wahrheit ins Gesicht sagen: »Ist denn nichts in dir, was dir manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst!«32 Przybyszewska dagegen läßt Robespierre für einen letzten Verständigungsversuch zu Danton gehen und erst nach diesem Gespräch der Verhaftung zustimmen. Sie ist hier den heute bekannten Quellen näher, denn Robespierre zögerte tatsächlich, Danton zu verhaften, und suchte ihn auf; dabei muß das Gespräch zu der Veränderung seiner Haltung beigetragen haben. »Was könnte in dem Gespräch ––––––––– 32 P I, S. 33.
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vorgefallen sein?« fragt sich Przybyszewska, und sie läßt Danton – ungewollt – die Wahrheit über sich selbst sagen: Robespierre fordert Danton auf, sich der Regierung zu unterwerfen. Seine Verbrechen seien bekannt, man wolle aber nicht gegen ihn vorgehen, wenn er die Regierung unterstütze. Danton ist bereit, sich Robespierre zu unterwerfen, den er als ebenbürtig ansieht, aber nicht der Regierung. Er mißversteht Robespierre, indem er glaubt, dieser strebe die Alleinherrschaft an, bietet ihm seine Dienste dafür an und offenbart ihm dabei seine eigenen politischen Absichten. Während Büchner die Dantonisten durch ihre persönlichen Beziehungen – ihre Freundschaften untereinander und ihre gerade zu diesem Zweck von der Überlieferung abweichenden Liebesbeziehungen – gegenüber Robespierre und seinen Mitstreitern als moralisch überlegen zeichnet, nutzt Przybyszewska den Privatbereich, um Danton in ein negatives Licht zu rücken und Robespierre sympathischer zu gestalten. Danton ist für seine Frau ein Ungeheuer – er hat sie minderjährig von ihren Eltern ›gekauft‹ –, und der Tod Dantons bedeutet für sie die heiß ersehnte, nicht für möglich gehaltene Befreiung. Camille Desmoulins wird von Danton völlig demoralisiert, ist lediglich eine Marionette in seinen Händen.33 Anders als Büchner zeigt Przybyszewska dagegen auch Robespierre privat, und dies in einer intensiven, in der Ehrlichkeit der Reflexion über die gegenseitigen Gefühle geradezu modernen Liebesbeziehung mit Eleonore Duplay, die Robespierre ebenso selbstlos liebt, wie dieser sich der Revolution opfert. Eine Polemik mit Büchner enthält wohl auch Przybyszewskas Bezugnahme auf die Theatermetaphorik. Sie nutzt diese nicht für eine Charak––––––––– 33 Wie bewußt Przybyszewska ihr Stück um den zentralen Konflikt herum aufbaute,
zeigt auch ihr Kommentar zur Figurengestaltung und zum Figurenensemble: Die Deutlichkeit, das Ausgeprägtsein der Figuren hänge von ihrer Bedeutung für den Konflikt ab; sie sind wie in Kreisen, als Spiegel, um das Konfliktpaar, die Figuren im Vordergrund, angeordnet. Auf der zweiten Ebene befinden sich die »Komparsen« – wie Przybyszewska sie nennt: Saint-Just, Camille Desmoulins, die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, Dantons Freunde, die Frauenfiguren. Danach folgen die »episodischen Rollen« (»role epizodyczne artykuâowane« – Figuren die in mehreren Episoden auftreten wie die Richter des Revolutionstribunals Herman und Fouquier) und als viertes am äußersten Rand der Handlung »einsilbige Rollen« (»Role monosylabiczne« – Figuren mit nur ein oder zwei Äußerungen wie Panis und Merlin). Vgl. Przybyszewska: Listy. Bd. 1, S. 531–543 (an Helena Barliľska, 16.–28.4.1929).
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teristik des Geschichts- oder Revolutionsprozesses oder der Rede über Geschichte einschließlich ihrer Literarisierung oder eben Theatralisierung. Vielmehr charakterisiert sie im Rückgriff darauf die Figuren, wobei Theater dann mit Spiel, Verstellung, Täuschung etc. assoziiert ist. Das betrifft z. B. Danton, der bei Büchner im Bild des Theaters die Revolution als einen notwendigen und von Gewalt begleiteten Mechanismus, in dem die Akteure wie Marionetten oder Puppen ihres eigenen Handelns entfremdet sind, als ein »Muß«, das über den Menschen steht, beschreibt. Przybyszewska stellt ihn nicht nur als einen begnadeten Schauspieler dar, der seine Freunde und sein Publikum (z. B. während seiner Auftritte im Revolutionstribunal) hervorragend zu täuschen vermag, er wird auch direkt als Schauspieler bezeichnet. Im letzten Auftritt der Dantonisten, als diese das Gefängnis verlassen, um zur Guillotine gebracht zu werden, ruft Delacroix ihm in den letzten Worten zu bzw. nach: »Oh Danton! Welch ein großer Künstler geht an Dir zugrunde!« (SD 280.) Aus demjenigen, der bei Büchner das revolutionäre Geschehen als ein Theater durchschaut, wird bei Przybyszewska jemand, der auf den Brettern dieses Theaters als eine der Hauptfiguren agiert, vielleicht mehr noch, jemand, der das Stück, das da gespielt wird, mit kräftigen Zügen mitschreibt – wie das Wort »Künstler« auch suggerieren kann. Und auch Camille, der in Büchners Stück die schärfste Kunstkritik formuliert, ist bei Przybyszewska ein Mann des Theaters, denn Robespierre, der ihn retten will, begründet die Möglichkeit, daß man ihn für die eigenen Ideen gewinnen könne, damit, daß man sie nur »eben zu seinem Gebrauch mit effektvollen Theaterlumpen behängen« müsse (SD 57). Camille ist tatsächlich auch derjenige, der sich durch das Spiel Dantons am stärksten manipulieren läßt. Robespierre hingegen kennzeichnet gegenüber Eleonore, Saint-Just und den Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses unbedingte, bis an die Schmerzgrenze gehende Ehrlichkeit. Anders als bei Büchner ist er es auch, und nicht Danton, der immer wieder über die Grenze der Revolution nachdenkt. Eben weil er voraussieht, daß der Tod Dantons die Errichtung des Terrors bedeutet, weigert er sich zunächst, ihn zu verhaften. Und auch nachdem er sich dazu entschlossen hat, bleibt der Zweifel, besser gesagt, die Verzweiflung über das eigene Tun. So sagt er im Wohlfahrtsausschuß: 316
»Die Sache Danton ist ein Dilemma. Verlieren wir – dann war die Revolution umsonst gewesen. / Und falls wir gewinnen ... wahrscheinlich auch (Pause.) / Fünf – Jahre – Kampf, Leiden, ungezählter Opfer ... um-sonst... .« (SD 214)
oder: »[...] Wir werden alle zu Henkern. Die Menschen werden uns verfluchen. Die Revolution verwandelt sich in eine Folter ... für – das – Volk! / Die Welt wird sich durch uns nach rückwärts drehen. Alle Plagen der Vergangenheit kehren zurück. Und zwar führen wir, ja, wir, sie wieder ein!« (SD 241f.)
Robespierre sieht sogar die künftige Diktatur, die Frankreich »für einige höllische Jahre – auseinanderschwellen« läßt »bis zum Ural«: »Nette Verwirklichung der Universalen Republik: Europa, wie nach einem Erdbeben verheert, zitternd vor Hunger und Angst zu Füßen des göttlichen Caesar« (SD 301). Er zieht aus dieser Erkenntnis jedoch keine Schlüsse. Könnte er es überhaupt? – Przybyszewska erklärt den immer neuen Abbruch von Robespierres Reflexionen über den verlorenen Sinn der Revolution mit dem Wirken des schöpferischen Impulses: Das Genie muß schöpferisch tätig sein. Der Zweifel, welcher die schöpferische Energie lähmt, sei für dieses ein unnatürlicher Zustand.34 Wie ich eingangs schrieb, war Przybyszewska von dem nächtlichen Monolog Robespierres in Büchners Stück besonders beeindruckt. Es scheint, als würde sie Robespierres Empfinden, wie im Traum zu handeln – »Und ist nicht unser Wachen ein hellerer Traum, sind wir nicht Nachtwandler, ist nicht unser Handeln, wie das im Traum, nur deutlicher, bestimmter, durchgeführter?«35 –, im Stück aufgreifen und weiterentwickeln. Dabei ist ihr Robespierre aber weniger eine Marionette in einem Mechanismus, vielmehr ist er eben Medium der schöpferischen Kraft, der er folgen muß. Als solches scheint er trotz seiner geistigen Stärke immer noch der wie im Traum handelnde Robespierre des nächtlichen Monologs aus Büchners Stück geblieben zu sein.
––––––––– 34 Ebd., S. 560 (an Helena Barliľska, 16.–28.4.1929). 35 P I, S. 35.
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Umstrittene Eigentumsverhältnisse Die Rezeption Büchners im Werk von Volker Braun Von Andrea Geier (Trier) In der Friedlichen Revolution von 1989 griffen die Demonstrant/inn/en vielfach auf berühmte Losungen wie »Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit« und die politische Zeichensprache der Französischen Revolution zurück: »Ein Schild hat die Form einer phrygischen Mütze, auf einem anderen steht bloß ›1789–1989‹, und ein drittes spielt mit dem Anachronismus: ›Stalinisten vom Throne, dem Volk die Krone‹.«1 Auch Revolutionshoffnungen der deutschen Geschichte wurden adaptiert. Insbesondere Georg Büchner erlangte dabei eine neue Aktualität, wie Transparente mit Sprüchen wie »Friede den Hütten. Krieg den Palästen« oder »Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt« zeigen, die beispielsweise bei der Demonstration am Alexanderplatz am 4. November 1989 mitgetragen wurden.2 Aufgrund der Symbolkraft, die diese Massendemonstration besaß, fanden solche Ausdrucksformen in besonders hohem Maße Eingang in das visuelle Gedächtnis.3
––––––––– 1 2
3
Robert Darnton: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989–1990. München, Wien 1991, S. 228. Die Entstehung des berühmten Rufes »Wir sind das Volk!« ist dagegen nicht wie die oben erwähnten Losungen auf einen Einfluss Büchners zurückzuführen. Die Demonstrant/inn/en, die sich am 9. Oktober in Leipzig gegen ihre Kriminalisierung wehrten, riefen zunächst »wir sind keine Rowdys!«; ergänzend dazu entstand der Sprechchor: »wir sind das Volk!« Siehe hierzu Hartmut Zwahr: »Wir sind das Volk!« In: Étienne François, Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2. München 2001, S. 253–265, hier S. 253f. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Fotografie in Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Heiner Müller, die Hamletmaschine und der Mauerfall. Booklet mit Materialien und Interviews. Frankfurt a. M. 2009 (filmedition suhrkamp), S. 34f.
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(Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Frankfurt a. M., Berlin 2009) Auch Schriftsteller/innen gestalteten literarische Rückblicke auf das Ereignis der Revolution, indem sie auf historische Revolutionen, revolutionäre Aufbrüche und auf einzelne wichtige Akteure Bezug nahmen. Zu den besonders häufig befragten Autoren gehören Friedrich Hölderlin und Georg Büchner. Signifikant für diese Referenzen ist, dass sie symbolisch nicht nur für Revolutionshoffnungen in deutschen Ländern, sondern zugleich für deren Scheitern stehen. Die Parallelisierungen in den literarischen Texten dienen daher – im Unterschied zu ihrer Funktion in den Demonstrationen des Herbstes 1989 – in den meisten Fällen dazu, den Wende-Herbst 1989 als eine nach ersten revolutionären Ansätzen zu früh abgebrochene, letztlich nicht realisierte oder erneut gescheiterte Revolution in der deutschen Geschichte darzustellen. Die literarische Selbstverständigung über die jüngsten zeitgeschichtlichen Erfahrungen erweist sich damit stets zugleich als Arbeit an einem (deutschen) Revolutionsgedächtnis. Darüber hinaus kann es sich im Einzelfall um Reaktionen von Autor/inn/en auf eine Krisenerfahrung handeln, die auch die Autorposition nicht unberührt lässt – dies gilt gerade für die ältere Generation von reformsozialistisch orientierten Schriftsteller/innen. Grundsätzlich lässt sich das Gespräch mit der literarischen 320
Tradition als Suche nach Möglichkeiten engagierten Schreibens in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs lesen. In diesem doppelten Bezugsfeld siedeln sich Volker Brauns intertextuelle Dialoge mit Georg Büchner seit 1990 an. Seine Auseinandersetzung mit Büchner ist zeittypisch, insofern die intertextuellen Bezüge einen Reflexionsraum eröffnen, der zur Bewertung der historischen Ereignisse und stets zugleich für eine Befragung von Autorschaft und der Funktion von Literatur nach der ›Zeitenwende‹ von 1989 in der Gegenwart benutzt wird. Das Gespräch mit Büchner ist im Zusammenhang mit Bewertungen der ›Wende‹ und der deutschen Einheit darüber hinaus werktypisch interessant: Jenseits einer Aktualität, die Büchner, der deutsche Dichter der Revolution, im Zuge der Friedlichen Revolution von 1989 allgemein gewann, gehört er zu einem literarischen Erbe, das in Brauns Werk einen wichtigen Stellenwert besitzt. Das Ende der DDR wird zu einer historischen Zäsur, die das Schreibprojekt dieses reformsozialistisch orientierten Autors, der kritische, jedoch nie dissidente Positionen vertrat, in Frage stellte. Der Bezug auf Büchner eröffnet daher Einblicke in Konstanten und Veränderungen im Verfahren der produktiven Rezeption. Im Zentrum stehen im Folgenden der Essay Büchners Briefe (entstanden 1977) und zwei für die Beurteilung des ›Wende‹-Geschehens besonders aufschlussreiche Texte: Brauns Gedicht Das Eigentum (1990) mit seiner prominenten Anspielung auf den Hessischen Landboten von Georg Büchner und Ludwig Weidig (1834) und die Rede zur Verleihung des Büchner-Preises Die Verhältnisse zerbrechen (2000). Die Verbindung von Texten vor und nach ›1989‹ wird dabei von Braun selbst gestiftet, da er in seiner Preisrede den Essay mit einbezieht. Der Blick auf exemplarische Stationen der Rezeption Büchners in Brauns Werk innerhalb von 30 Jahren erweist, dass sich Braun über die Indienstnahme von Büchners Werk vor und nach 1989 jeweils seiner Literaturkonzeption versichert. Dabei reflektiert er nach dem Ende der DDR auf neue Weise über materielle wie ideelle Besitzverhältnisse und modifiziert zugleich sein Selbstverständnis als politischer Dichter, da sich unter den ›gewendeten‹ Verhältnissen seine Sprecherposition verändert.
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Büchners Briefe und die Büchnerpreisrede Als Volker Braun im Jahr 2000 den Büchner-Preis erhielt, stellte der Laudator Gustav Seibt fest, die größte Überraschung daran sei, dass man ihm diesen nicht schon viel eher zuerkannt hatte: »Volker Braun und Georg Büchner, das sind zwei Namen, die seit dem ersten Auftreten Brauns so oft zusammen genannt wurden, daß sich schon bald die Formel verbreiten konnte, Braun sei der Büchner des kleinen Landes.«4
Diese anekdotenhafte Gleichsetzung der Autoren soll vor allem darauf hinweisen, dass Volker Brauns Beschäftigung mit Person und Werk Büchners aus der sonstigen Rezeption des Dichters in der Literatur aus der DDR herausragt. Zum einen, weil sie eine lange Tradition im Werk besitzt. In Brauns intertextuellem Schreibverfahren finden sich zahlreiche und immer wiederkehrende Dialogpartner. Zu diesem Anspielungskosmos gehören, wie etwa York-Gothart Mix feststellt, zu Beginn vor allem Lessing, Goethe, Klopstock, Eichendorff und Hölderlin.5 Sie fungieren, so Mix weiter, als »literarische und philosophische Bezugspersonen, die Dialog und produktiven Widerspruch provozieren.«6 Dass Büchner einer der wichtigsten Referenzautoren ist, zeigt sich bereits daran, dass er in allen Phasen von Brauns Werk präsent ist. Ulrich Kaufmann zählt zu den wichtigsten Texten das Dokumentardrama Lenins Tod, das Woyzeck aufgreifende Stück Schmitten, die Erzählung Unvollendete Geschichte (als Anspielung auf die Lenz-Erzählung), Gedichte wie Spiegelgasse und nicht zuletzt den Essay Büchners Briefe.7 Zuerst 1978 in Frankreich erschienen, danach mehrfach in der Bundesrepublik und erst 1988 auch in der DDR, ist dieser Essay Brauns ausführlichste Auseinandersetzung mit Person und Werk Büchners. ––––––––– 4
5 6 7
Gustav Seibt: Das Wirklichgelungene. Laudatio auf Volker Braun zum Büchner-Preis 2000. In: Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000. Mit der Laudatio von Gustav Seibt. Frankfurt a. M. 2000, S. 7–18, hier S. 7. Vgl. York-Gothart Mix: Volker Braun. In: Michael Opitz, Michael Hofmann (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart, Weimar 2009, S. 49–52, hier S. 50. Ebd. Ulrich Kaufmann: Dichter in »stehender Zeit«. Studien zur Georg-Büchner-Rezeption in der DDR. Erlangen, Jena 1992.
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Brauns Interesse für Büchner siedelt sich im weiteren Kontext einer Rezeptionsgeschichte an, die eng mit der Erbe-Diskussion in der DDR verknüpft ist. Autor/inn/en aus der DDR, die sich mit Büchner beschäftigten, hatten es tendenziell mit einem anderen Büchner-Bild zu tun als ihre westdeutschen Kolleg/inn/en. Büchner war als Teil des nichtklassischen Erbes in der Kulturpolitik der DDR von Beginn an anerkannt, und Woyzeck, Dantons Tod und Der Hessische Landbote gehörten zum schulischen Lesekanon. Gleichwohl war Büchner ein »beiseitegelobter« Autor.8 Man bezog sich positiv auf ihn, weil man seine Beschreibung gesellschaftlicher Missstände und sein Eintreten für eine revolutionäre Umgestaltung von Herrschaftsverhältnissen in die »Vorgeschichte« der sozialistischen Klassiker einreihte. Auf die frühsozialistische Rezeption rekurrierend,9 erklärt Hans Mayer in seiner Studie Georg Büchner und seine Zeit: »Es ist daher eine müßige Frage, wenngleich man sie viel diskutiert hat, in Büchner einen Vorläufer des ›Sozialismus‹ sehen zu wollen. Wie kein anderer vor Karl Marx hat er in Deutschland die klassenmäßige Bedingtheit aller Politik erkannt, die Bedeutung der gesellschaftlichen Seinsweisen der Menschen für ihr Denken und politisches Wollen begriffen«.10
Während der Erbepolitik der DDR Büchners Kritik an feudalen und bürgerlichen Strukturen für seine Zeit als vorbildhaft gelten konnte, erschien seine revolutionäre Perspektive gegenüber der von Marx und Engels als zu unklar. Braun zitiert in Büchners Briefe diese Skepsis: Büchner habe noch »nicht die VOLLE DIALEKTIK der sozialen Kämpfe« erkannt.11 Mehr als historisches Interesse zog das Werk Büchners erst auf sich, als sich der Blick von Autor/inn/en auf das Verhältnis von Klassik und Vormärz änderte und es damit in den 1970er Jahren auch zu einer neuen Wertschätzung einer antiklassischen Ästhetik kam. Diesen ––––––––– Otto F. Riewoldt: »...der Größten einer als Politiker und Poet, Dichter und Revolutionär.« Der beiseitegelobte Georg Büchner in der DDR. In: Georg Büchner III. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik), S. 218–235. 9 Siehe hierzu Burghard Dedner: Zur Frührezeption Georg Büchners. In: Georg Büchner: Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption. Hrsg. von Dieter Sevin. Berlin 2007, S. 19–37. 10 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1977 (1972; 1946/1959 Aufbau-Verlag), S. 187. 11 Volker Braun: Büchners Briefe. In: Ders.: Die Verhältnisse zerbrechen (s. Anm. 4), S. 31–47, hier S. 45 (im Folgenden zitiert als BB). 8
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Paradigmenwechsel hat Dietmar Goltschnigg wie folgt beschrieben: Büchner »avancierte« unter Autoren »zum kanonisierten Dichterrevolutionär, dessen radikale Zeit- und Gesellschaftskritik – unter ausdrücklichem Einbezug auch des DDR-Staats – aktualisiert wurde.«12 Dies ist Brauns zentrale Perspektive in Büchners Briefe: Der Essay, als Nachwort zu einer Briefedition Briefe von und an Büchner geplant, eröffnet demonstrativ mit einer Absage an den bisherigen Umgang mit dem literarischen Erbe in der DDR: »Wen die Nachwelt feiert, der hat Grund zu zittern im Grabe« (BB 33), lautet die paradox anmutende Formulierung. Der Beifall, den man Müntzer, Heine, aber auch Lenin klatsche, übertöne ihre Sätze und verdecke auf diese Weise ihr provokatives Potential. Wie schon in Brauns berühmt gewordenem Wort von den »Goethepächtern«, die mit Goethes Büchern so zu tun hätten, »als hätten sie nichts mit sich zu tun«,13 prangert er knapp zehn Jahre später am Beispiel Büchner erneut einen musealen Umgang mit dem literarischen Erbe an, ein Inbesitznehmen eines Klassikers, das diesen nicht – im Bewusstsein historischer Distanz – für das Nachdenken über die eigene Gegenwart nutze. In Büchners Briefe wie auch in der späteren Büchnerpreisrede sind für Brauns Bezug auf Büchner vier Aspekte charakteristisch: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das Verhältnis von Wort/Literatur und Tat, die Frage nach den Bedürfnissen der Masse und die Revolution als Ereignis und Hoffnung.14 Innerhalb dieses Interesses lassen sich Verschiebungen beobachten: 1977 beleuchtet Braun im Dialog mit Büchners Zeitkritik vor allem Schein und Sein im real existierenden Sozialismus; im Jahr 2000 rücken dagegen die in Brauns Sicht gescheiterte Revolution von 1989 und ihre sozialen Folgen, also Gerechtigkeitsdefizite in der Demokratie, in den Mittelpunkt. In Büchners Briefe ging Braun vom Leben und Nachleben Büchners aus und öffnete von dort aus den Leserinnen ––––––––– 12 Dietmar Goltschnigg: Utopie und Revolution. Georg Büchner in der DDR-Literatur. In:
ZsdPH, Bd. 109 (1990), S. 571–596, hier S. 572. Dass Büchner ein unbequemer ›Klassiker‹ war, zeigt sich schon daran, dass es in der DDR nur ein einziges BüchnerKolloquium gab (1988). 13 Volker Braun: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 2. Halle a. d. S. 1990, S. 258. 14 Vgl. zu diesen Aspekten Gerd Labroisse: Interpretative Überlegungen zu Volker Brauns Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000: »Die Verhältnisse zerbrechen«. In: Volker Braun in perspective. Edited by Rolf Jucker. Amsterdam, New York 2004, S. 239–254.
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und Lesern Blicke in die eigene Gegenwart – eine Konzeption, die sicherlich der ursprünglichen Funktion eines Nachwortes geschuldet war. In der Büchnerpreisrede bilden umgekehrt seine eigenen Erfahrungen mit dem Transformationsprozess in Ostdeutschland den Ausgangspunkt, von dem aus der Autor Büchner als Zeitgenossen anspricht. Rückblickend formuliert Braun, er habe damals, »unter anderen Verhältnissen, Büchner zitiert, um einen Sprengsatz zu legen«.15 Dieser sollte nicht gegen den Sozialismus zünden, sondern im Gegenteil als produktive Kritik für die Realisierung von Gleichheit und Gerechtigkeit im Sozialismus wirksam werden. Dies erklärt, warum Braun 1977 zwei Argumentationsstränge verfolgt: erstens mit dem Sozialrevolutionär Büchner gegen erstarrte Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheit in der DDR, zweitens tendenziell über Büchner hinaus für den bereits erreichten Fortschritt bzw. die Zukunftsperspektive des Sozialismus. Dem real existierenden Sozialismus, der vorgab, in der ›Diktatur des Proletariats‹ die Herrschaftsverhältnisse bereits revolutioniert zu haben, hält Braun mit Blick auf die Klassiker entgegen, dass es sich tatsächlich um eine »unerledigte Revolution« handele. In direkter Anspielung auf eine bekannte Losung formuliert er mit Blick auf die in der DDR verehrten Dichter, man habe »diese Leute ü b e r h o l t , ohne sie e i n z u h o l e n«. Büchner »griff«, so Braun weiter, »nicht nur über den Horizont der bürgerlichen Revolution hinaus«, sondern »auch an schönen Punkten über den Horizont der sozialistischen« (BB 33). Der ungeschönte Blick auf die Gegenwart verweist also auf Versprechen der sozialistischen Utopie auf Gleichheit und Gerechtigkeit, die bis dahin auch im real existierenden Sozialismus uneingelöst geblieben seien. Hierfür inszeniert Braun eine Zeitgenossenschaft zu Büchner, die sich in direkten Anschlüssen sehr plakativ ausstellt: Zitierte Passagen werden schlicht und ergreifend mit dem Satz »Kein Kommentar« bedacht (BB 45) und Szenen seiner Texte in der eigenen Gegenwart wiedergefunden und ohne weitere Übertragung adaptiert: »Ich studirte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. […] / Ich studierte die Geschichte der Oktoberrevolution und watete durch das Blut der dreißiger Jahre.« (BB 40f.) Im Anschluss an ––––––––– 15 Volker Braun: Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises
2000. In: Dass. (s. Anm. 4), S. 19–30, hier S. 22 (im Folgenden zitiert als DVz).
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eine Aussage über die Bitterkeit, die Büchner empfindet, wenn er bettelarme Kinder sieht, schreibt Braun über die »Schlüsselkinder« der DDR: »Wie wenig, in dieser engagierten Gesellschaft, Geborgenheit, gemeinsame Freude.« (BB 46.) Nicht zuletzt zitiert Braun Büchner, um an den affektiven Qualitäten und der Unbedingtheit eines revolutionären Pathos zu partizipieren, etwa wenn er die Notwendigkeit einer revolutionären Gegengewalt auch im Sozialismus betont: »Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es GEWALT. / Ich sehe heute keinen Grund, an Büchners Bekenntnis einen Abstrich zu machen. Solange eine Gesellschaft, sie mag mittlerweile wie immer heißen, auf Gewalt beruht, nämlich so lange es ›die da oben und die da unten‹ gibt, bedarf es der Gegengewalt, sie zu verändern. Zwar der Charakter dieser Gegengewalt mag sich modeln, er mag feiner werden: oder in sozialistischen Staaten gar freundlicher, aber mitnichten nachgiebiger.« (BB 35.)
Mit Büchner formuliert Braun daher ein kompromisslos anzuvisierendes Ziel: eine grundlegende Umorganisation der Gesellschaftsstrukturen im Zeichen von Gerechtigkeit, d. i. als Gleichheit aller. Nur an wenigen Stellen argumentiert Braun im Sinne der etablierten Erbepolitik, wenn er Büchner positiv weiterschreibt. Dessen »gräßlichem Fatalismus«, den Diagnosen gescheiterter Revolutionen, begegnet er an einer Stelle mit dem hoffnungsfrohen Verweis auf das Neue des Kommunismus: »das w i r d ist eins von den Erlösungsworten, die uns in der Kinderkrippe buchstabiert werden. Es muß kein Ärgernis kommen. Wir sind dabei, aus der Welt zu reißen, was uns lügen, morden, stehlen macht.« (BB 41.) Weit wichtiger ist es Braun, durch die Erinnerung an Büchners Zeitdiagnosen eine produktive Beunruhigung erzeugen. Denn schließlich fasziniert(e) ihn, wie er es im Jahr 2000 formuliert, nicht nur die Radikalität von dessen Fragen, sondern vor allem »das entschlossene Zögern mit Antworten.« (DVz 19.) Daher wollte er Büchner vor allem gegen eine Dichter-Verehrung in Schutz nehmen, die sich bei der Lektüre seiner Werke ausschließlich ihrer eigenen Fortschritte vergewissern will. Die Perspektive von Brauns Essay ist auf Kontinuitäten innerhalb offensichtlicher Differenzen gerichtet: »Die Umstände seines Denkens sind aus einem andern Baukasten genommen, aber die Regeln, wonach sie sich zwangsläufig ordnen, sind noch ganze Strecken in Kraft.« (BB 33f.) Derselbe Zugang prägt auch die Büchnerpreisrede (2000), die schon im 326
Titel Die Verhältnisse zerbrechen das Moment der Gewaltsamkeit ins Zentrum rückt. Im Jahr 2000 geben die ›gewendeten‹ Verhältnisse (und nicht mehr das Büchner-Bild der DDR) die Folie für Brauns Zuwendung zu Büchner ab. Die gesellschaftlich-sozialen und politischen Veränderungen fordern den Autor heraus, seine Auffassung politischer Literatur, die die soziale Wirklichkeit16 beschreibt und damit Aufschluss über den Bau der Gesellschaft gibt, einer Prüfung zu unterziehen. Erneut dienen Briefe Büchners, vor allem aber das Drama Dantons Tod, dazu, vor dem Hintergrund gescheiterter Hoffnungen auf einen revolutionären Umbau der Gesellschaft das eigene Konzept politischer Literatur zu befragen. »Für die Herrschaft der Massen zu kämpfen« – so Braun in seinem Vortrag Politik und Poesie 1971 – ist das radikal demokratische Anliegen, für das er Büchner auch nach der Wende noch als Gewährsmann wählt. Das im Essay Büchners Briefe verwendete Textverfahren, Wechsel zwischen markiertem direktem »Zitat und aktualisierender Paraphrase«,17 in der er seine mit Büchners Stimme verschmelzen lässt, behält er ebenfalls bei. Angesichts des ostdeutschen Transformationsprozesses und seiner sozialen Folgen thematisiert Braun noch einmal die eigentlichen Ziele dieser Revolution und urteilt vernichtend über das Ergebnis: »Es ist der vorauseilende Fatalismus der Regierungen, der dem Geldaristokratismus Platz macht, von dem der Aufrührer Büchner sagte: Lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist. Eine Revolution, die kein Brot gibt, und eine Demokratie, die die Arbeit nimmt, sind keine ernsthaften Avancen.« (DVz 26)
Am wütendsten macht ihn der Umgang mit dem Volkseigentum. Büchner wird an dieser Stelle über die Zeiten hinweg als intimer Seelenverwandter direkt angesprochen: »Lieber Georg, wer hätte gedacht, daß Leuna, die Wiege der Chemie, einmal Synonym für Schmiergeld werden würde? Und eine so große Sache wie die ––––––––– 16 »Man könnte freilich die Wirklichkeit selbst untersuchen, um das Dramatische (die
Entwicklung der Widersprüche) zu finden. Allerdings werden die singulären Widersprüche erst fabelbildend, wenn sie auf den gesellschaftlichen ›Punkt‹ gebracht sind, in dem sie sich mit vielen treffen, vergangenen und künftigen, wenn also aus der individuellen Geschichte die ›menschheitliche‹ hervorscheint: sonst bedeuten sie wenig, auf der Bühne. Und wo sie nichts bedeuten, wird die Fabel nicht poetisch.« Volker Braun: Man könnte freilich die Wirklichkeit selbst untersuchen (1968). In: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 2. Halle a. d. S. 1990, S. 249. 17 Goltschnigg: Utopie und Revolution (s. Anm. 12), hier S. 581.
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deutsche Einheit kaufmännisch so schlecht erledigt wird, daß man den Markt auf die B r a c h e stellt; ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen.« (DVz 26f.)
Das drastischste Beispiel ist in diesem Zusammenhang ein Demonstrationszug, der der berühmtesten Berliner Demonstration vom 4. November 1989 zur Seite gestellt wird. Es ist die damit als ›revolutionär‹ gekennzeichnete Aktion der Bischofferöder Kumpel, die den Hungerstreik um ihre Arbeitsplätze schließlich verloren. Mit diesem Vergleich ruft Braun im Jahr 2000 positive Energien der Nachwendezeit in Erinnerung: Menschen, die wie im Herbst 1989 mit ihrem Kampf auch für eine andere Gesellschaft eintraten, aber scheitern mussten, weil sie vollkommen isoliert waren. Am Ende bleibt Bitterkeit: »Es geht um fast nichts«, so Brauns ätzender Kommentar, um »die nackte Existenz, eine Privatsache, die Geschichte jagt über sie weg.« (DVz 23.) Seine Schlussfolgerung, in der einmal mehr der sogenannte ›Fatalismus‹-Brief in veränderter Form – Büchner spricht von »Gleichheit« und entsetzlicher »Gewalt« – und Dantons Tod (»Verhältnisse«) anzitiert wird, beginnt atemberaubend zynisch: »Und ich sage kalt: die Erfahrung müssen sie machen, und lasse sie ruhig im Regen stehn, in diesen Verhältnissen, die ich nicht wollte, aber man muß die Leute in allen Verhältnissen sehen. Ich finde eine unaufhörliche Ungleichheit in der Gesellschaft, in der Menschennatur eine entsetzliche Geduld.« (Ebd.)
Der Autor, der sich selbst als zu müde für eine politische Abhandlung bezeichnet (DVz 24), zeigt sich letztlich vollkommen desillusioniert angesichts des Geschichtsverlaufs. Alle großen Ideen haben sich als trügerisch erwiesen. Doch indirekt instrumentalisiert er Büchners Stimme, um eine historische Tiefendimension einzubringen, die nicht ausschließlich resignativ bleibt. Denn einerseits erklärt er zwar durch und durch pessimistisch, dass »wir […] die Verhältnisse nicht zerbrechen« werden (DVz 29), andererseits erhebt er mit seiner Preisrede erneut eine gesellschaftskritische Anklage gegen die soziale Kälte des Neoliberalismus im vereinten Deutschland und beharrt, wie der Titel zeigt, darauf, dass eine Alternative angestrebt werden müsse. Auch wenn sich der Autor nun nicht mehr mit der Geschichte im Bunde wähnt, fühlt er sich angesichts gescheiterter Revolutionshoffnungen um so mehr dem »Anatom […] und Hochverräter« (DVz 20) Büchner verbunden. 328
3. Gewendete Verhältnisse – veränderte Autorposition Das Gedicht Das Eigentum erschien (noch ohne Titel) am 4./5.8.1990 auf der Titelseite der Zeitung Neues Deutschland, also etwas mehr als einen Monat nach dem Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – und damit nach der Einführung der D-Mark, mit der das Ende der DDR im wörtlichen Sinne ›greifbar‹ geworden war. Der Zeitpunkt und die Tagespresse als Publikationsort bewirkten, dass das Gedicht als politischer Kommentar zum Zeitgeschehen rezipiert wurde. DAS EIGENTUM Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.18
Eine weitverbreitete Lesart lautet, dass Braun mit der Herbstrevolution und ihren Folgen abrechne und dabei dem ›furor melancholicus‹ verfallen sei, »einer seither zumal unter Angehörigen der künstlerischen Intelligenz verbreiteten Gemütsverfassung«.19 Die ›furor melancholicus‹Lesart übersieht jedoch, dass das Gedicht nicht ausschließlich das Zeugnis eines Scheiterns, das auch das Schreiben affiziert, darstellt. Vielmehr handelt es sich um eine Selbstverständigung Brauns über politisches Schreiben in der Gegenwart. Innerhalb des charakteristischen intertex––––––––– 18 Volker Braun: Das Eigentum. In: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 10. Halle a. d. S. 1993, S. 52.
Nachweise zu Nachdrucken in Zeitungen etc. bei Dieter Schlenstedt: Ein Gedicht als Provokation. In: neue deutsche literatur 40 (1992), Nr. 12, S. 124–132 und Frank Thomas Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschen Literatur. Ein Handbuch. Bd. 1: Untersuchungen. Bd. 2: Bibliographie. Berlin, New York 2003, S. 458f. Zur ersten Rezeption (auch privaten Zuschriften) siehe wiederum Schlenstedt. 19 Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 460.
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tuellen Schreibverfahrens20 kommt der Zeile, die auf den Hessischen Landboten anspielt, zentrale Bedeutung zu. Braun inszeniert in Das Eigentum seine Selbstverständigung über Büchner und damit über eine Tradition, die in seinem Werk fest verankert ist. Dies führt dazu, dass das Gedicht auch lesbar ist als ein Versuch des Autors, sich gerade angesichts ›gewendeter Verhältnisse‹ ein Konzept engagierter Literatur zurückzuerobern. Auf diese Lesart führt die Betrachtung des Zusammenspiels von intertextuellen Verweisen auf Friedrich Hölderlins Gedicht Mein Eigentum (1789), die sich im Titel zeigt, und auf die Revolutionsparole »Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!« aus Der Hessische Landbote, die ihrerseits eine bekannte Parole der Französischen Revolution aufgreift.21 Die ›furor melancholicus‹-Diagnose wurde nach dem Revolutionsherbst in erster Linie den Reformsozialisten unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der DDR gestellt: »Es ist die Erschütterung, schließlich das Ortloswerden der sozialistischen Vision im Prozeß der Wende.«22 Tatsächlich trägt die Verlustanzeige in Das Eigentum melancholische Züge und zwar im Sinne der von Emmerich herangezogenen Definition Sigmund Freuds, der Melancholie als einen ›unbekannten Verlust‹ bestimmte.23 Diese pathologische Form der Trauer zeichne sich dadurch aus, dass der Kranke wisse, dass er einen Verlust erlitten hat; er wisse aber nicht unbedingt, was er daran wirklich verloren habe. Die paradox klingende Aussage: »Was ich niemals besaß wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen«, formuliert diese Diagnose. Sie bezieht sich jedoch gleichermaßen auf die Enttäuschung über die in den Augen des Sprechers gescheiterte Revolution von 1989 wie auf die DDR: Der Staat, dessen Gründungsziel es gewesen war, die sozialistische Utopie zu ver––––––––– 20 Zu den Intertexten des Gedichts siehe insbesondere Christoph Weiß: »Sei du, Gesang,
mein freundlich Asyl!« Vorläufiger Versuch, die Lektüre von Volker Brauns Gedicht »Das Eigentum« zu erschweren. In: Reiner Marx, Christoph Weiß (Hrsg.): ›Wir wissen ja nicht, was gilt‹. Interpretationen zur deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts. St. Ingbert 21995, S. 150–161. 21 »Guerre aux châteaux! Paix aux chaumières«. Vgl. Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996, S. 48. 22 Emmerich (s. Anm. 19), S. 457. 23 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917 [1915]). In: Ders.: Studienausgabe. Bd. III: Psychologie des Unbewußten. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M. 2000, S. 193–212, hier S. 199.
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wirklichen, löste diesen Anspruch nie ein. Das Blochsche Prinzip Hoffnung erwies sich nicht erst 1989, sondern schon in der DDR als »Falle«. Betrauert wird in Das Eigentum also ein Verlust des Staates DDR, aber eindeutig nicht als Verlust einer Diktatur, sondern als Verlust einer Chance. Dies wird umso heftiger empfunden, als Ereignisse wie die Alexanderplatzdemonstration, auf der Sätze fielen wie »Stell’ Dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg« (Christa Wolf), bei vielen Reformsozialisten die Hoffnung beflügelt hatten, nun könne tatsächlich noch einmal ein Versuch für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung unternommen werden. Ebenfalls im Neuen Deutschland hatte Braun am 11./12.11.1989 in seinem Text Die Erfahrung der Freiheit geschrieben: »Volkseigentum plus Demokratie [...] das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt. Das wird man meinen, wenn man sagt: made in GDR. [...] Machen wir uns auf in das Land hinein.«24 Der Sprecher in Das Eigentum inszeniert sich als einsam Dagebliebener, der sich in einer Übergangssituation befindet: Das Land ›bewegt‹ sich und das Verharren des Sprechers wird als transitorisch (»noch«) gekennzeichnet. Gegenwart und Vergangenheit werden im Bewusstsein eines sich gerade vollziehenden Wandels betrachtet. Das »jetzt« (V. 11) unterstreicht noch einmal, dass die momentanen Gefühle des SprecherIchs beschrieben werden. Nach einem leise-verhaltenen Beginn steigern sich diese zu einer aggressiven Klage, die sich in einem entsprechenden Vokabular (»entrissen«, »Falle«) ausdrückt. Rückblickend auf früheres Engagement, hat der Sprecher den Eindruck, auf einsamem Posten zu stehen, während das Land »verwestlicht« – ein Bild der Bewegung, das sowohl an die Flüchtlingsströme erinnert als auch die gegenwärtige Umgestaltung Ostdeutschlands meint. Der Sprecher klagt sich an, diese Dynamik mit angestoßen zu haben: »Ich selber habe ihm den Tritt versetzt«. Mehr noch als auf ihn selbst zielt sein Vorwurf auf das Volk, das sich durch das Versprechen blühender Landschaften habe verführen lassen, die DDR zu verschleudern. Die Formulierung »Sommer der Begierde« spielt auf die Währungsunion vom Juli 1990 an und unterstellt, ––––––––– 24 Volker Braun: Die Erfahrung der Freiheit. In: Neues Deutschland vom 11./12. 11. 1989,
hier zitiert nach Hans-Jochen Marquardt: Mit dem Kopf durch die Wende. Zu Volker Brauns Gedicht »Das Eigentum«. In: Acta Germanica 22 (1994), S. 115–130, hier S. 121. Braun war außerdem Erstunterzeichner des Aufrufs Für unser Land, der am 26.11.1989 publiziert wurde.
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dass Konsumwünsche die Mehrheit der Ostdeutschen bei den Volkskammerwahlen am 18.3.1990, den ersten demokratischen Wahlen der DDR, für einen raschen Weg zur deutschen Einheit votieren ließen. Das Volk wird hier also als unsicherer Kantonist der Revolution gezeichnet: Es habe trieb- statt vernunftgesteuert agiert und sei auf kurzfristige materielle Anreize hereingefallen. Für die Gewaltsamkeit der sozialen Umbrüche habe es dagegen keinen Blick gehabt. Aus der Revolution wurde damit, so die Diagnose, eine verheerende (Selbst-)Kolonialisierung des Ostens.25 Der Schriftsteller denunziert all diejenigen, die einen anderen als den von ihm gewünschten Weg gewählt haben. Die politische Entscheidung seiner Landsleute reduziert er zur bloßen Konsumorientierung. Zusammen mit allen, die dagegen seine Hoffnungen teilten, kann er – eine Anspielung auf einen diffamierenden Ausspruch des Literaturkritikers Ulrich Greiner – nun als eine der »toten Seelen des Realsozialismus […] bleiben, wo der Pfeffer wächst.«26 Der Satz bezog sich auf alle, die Reformhoffnungen in Bezug auf die DDR hegten; der Sprecher fühlt sich aber als Autor besonders betroffen: »Und unverständlich wird mein ganzer Text«. »Text« steht hier pars pro toto für das Werk insgesamt, dessen Voraussetzungen – nämlich der Wunsch, eine produktive Kritik an der DDR zu üben und sich dabei aber von dissidenten Positionen fernzuhalten – in einem politischen Diskurs der Gegenwart, der DDR und sozialistische Utopie gleichsetzt, unverständlich werden müssen. Im neuen gesellschaftlichen System gebe es kein Publikum mehr, das die vom Sprecher ausgetragenen Konflikte nachvollziehen kann oder will. Die lyrische Selbstbefragung Brauns, der seit den 1970er Jahren vom festen Grund der sozialistischen Utopie den Sozialismus ebenso wie den Kapitalismus kritisiert hatte, ist damit als Fortsetzung markiert, die durch die ›Wende‹ auf neue Weise motiviert, ja notwendig geworden ist. Die Anklage des Volkes, das bloß seinen Trieben gefolgt sei, schwingt gerade auch in der invertierten – und inhaltlich pervertierten – ––––––––– 25 Andrea Geier: Enteignete Indianer und ausgebeutete Neger. Der Kolonialisierungs-Diskurs in
der Literatur nach 1990. In: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hrsg.): NachBilder der Wende. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 70-83. 26 Ulrich Greiner: Der Potsdamer Abgrund. Anmerkungen zu einem öffentlichen Streit über die »Kulturnation Deutschland«. In: Die Zeit, Nr. 26 vom 22. 6. 1990.
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Revolutionsparole aus Der Hessische Landbote mit. Formal fällt diese Zeile innerhalb der eher konventionellen Gestaltung des Gedichts – regelmäßiges Versmaß, ein fünfhebiger Jambus mit weiblichen und männlichen Kadenzen und überwiegend Paarreime – besonders auf, da es hier zu einer rhythmischen Abweichung kommt, eine Satzstruktur fehlt und die typografische Hervorhebung nur hier eine ganze Zeile umfasst. Zugleich wird die Zäsur des ersten Verses wieder aufgenommen. »KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN« (ohne Ausrufungszeichen) wirkt wie eine Inschrift, die in nuce das Credo der neuen Zeit enthält. Dass die Mehrheit den »Westen« attraktiv findet, weil er – wie der Reim auf »PALÄSTEN« zeigt – reich ist, hält der Sprecher für eine fatale Täuschung. Für ihn ist der »Westen« gleichbedeutend mit »Krieg«, Ausbeutung und sozialer Ungleichheit. Die ›neue Zeit‹ ist damit für Braun tatsächlich eine alte, nämlich die der Herrschaft des Kapitals. Diese neue Zeit wird, so die Warnung, die Kluft zwischen Arm und Reich verschärfen. Julia Kormann erklärt in diesem Sinne, die »Verkehrung des zitierten Aufrufs« beschreibe »den nach der ›Wende‹ stattfindenden ›Krieg‹ um unrentable Produktions-›Hütten‹, die von den ›Palästen‹ wirtschaftlich florierender Unternehmen aus dem Westen, auf die der Vers sich reimt, abgewickelt werden.«27 Die invertierte Parole postuliert zum einen, dass sich die Ostdeutschen mit der bevorstehenden deutschen Einheit gegen ihre Interessen für eine Klassengesellschaft entschieden haben, die die Bedürfnisse der Menschen denen des Kapitals unterordnet. Zum anderen ruft sie noch einmal in Erinnerung, dass sich Revolutionen darauf richteten, diese Kluft zwischen den Klassen zu beseitigen. Der Rekurs weist darauf hin, worum es in den Augen des Sprechers in dieser jüngsten Revolution in Deutschland eigentlich gehen sollte – um soziale Gerechtigkeit –, und er stellt vor Augen, dass das Gegenteil eingetreten ist. Es nimmt die Hoffnungen früherer Revolutionen aus der Perspektive des Scheiterns in den Blick und stellt die eigene Erfahrung in diese historische Reihe. In der Inversion schwingt ex negativo noch einmal das Pathos des Originals mit, der Ruf nach einer Revolution zur Beseitigung von Ungleichheit. Gegen die Idee des Volkseigentums setzten sich jedoch erneut Privatei––––––––– 27 Julia Kormann: Literatur und Wende. Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989. Wies-
baden 1999, S. 258.
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gentum und -interessen durch. Das wahre Volksvermögen, gedacht als ideelle Werte wie auch materielle, haben sich nun vorwiegend Westdeutsche – bei der ›Kralle‹ ließe sich auch an den Bundesadler denken – angeeignet. Die Forderung nach einer gerechten Welt, die Büchner ausspricht, kann Brauns Text nicht mehr direkt wiederholen. Das Eigentum ist ein post-revolutionärer Text, der die Erinnerung an ein wiederholtes Scheitern – im Deutschland des 19. Jahrhunderts wie in der jüngsten Vergangenheit – aufbewahrt. Das Gedicht wird zu einem Revolutionsgedächtnis, das auf Grund der Erfahrungen und des historischen Wissens des lyrischen Ichs nur mehr ex negativo auf Utopien verweisen kann. Entsprechend wird die Frage, wann das ›mein‹ sagende Ich wieder eine Aussage über etwas treffen wird, was einem Kollektiv gemeinsam ist – was moralische Werte ebenso meint wie das Konzept des Volkseigentums –, nicht als Frage formuliert. Gleichwohl verstärkt sich das Bekenntnis zu einer Eigentumsform im Verlauf des Gedichts: Aus Das Eigentum wird am Ende »mein Eigentum«. Insofern demonstriert das Textsubjekt, dass es sich auch nach 1989 noch im Besitz der ›Wahrheit‹ weiß. Seine Position als Sprecher und damit das Verhältnis von politischer Literatur und Volk haben sich durch den gesellschaftlichen Wandel verändert. Dies zeigt sich außer in der offenen Schelte des Volkes vor allem im letzten Satz, der die Problematik des stellvertretenden Sprechens für andere, das Brauns Konzept politischer Literatur innewohnte, aufgreift. Mit dem Abschied von früheren Hoffnungen zieht sich der Sprecher nun auf eine Beobachterposition zurück, die zeitkritisch scharf bleibt, die aber als Außenseiterposition gekennzeichnet ist. Der Autor erreicht eine Selbstvergewisserung, indem er über eine Wiederholungsstruktur die Notwendigkeit kritischer Stimmen für die Zukunft herausstellt. Nicht ob, sondern wann diese Stimme wieder »alle« sagen wird, ist für ihn die Frage. Gerade der Rückgriff auf das Archiv gescheiterter Revolutionshoffnungen, die nicht das Ende des Schreibens bedeuteten, sondern das Nachdenken über die Gründe des Scheiterns, scheinen diese etwas trotzige Selbstbestätigung zu ermöglichen. Die Ansicht, dass 1989 eine historische Chance verpasst wurde, den Lauf der Geschichte zu ändern, statt ihn zu wiederholen, bezieht auch die bereits erwähnte Rezeptionstradition Büchners in der DDR mit ein. 334
Die Einsicht in die verlorene Revolution und den Verlauf der Geschichte wird in Das Eigentum von einer Selbst-Versicherung des schriftstellerischen Ethos begleitet. Dieses stellt sich über die Relektüre des eigenen Werkes und das Beharren auf einem intertextuellen Schreibverfahren her: dem literarischen Gespräch mit den schon früher herangezogenen Klassikern, die aber nie in dem Sinne ›Volkseigentum‹ geworden waren, wie Braun es sich gewünscht hätte. Indem der Sprecher mit Büchner eine Selbstbefragung unternimmt, markiert er zugleich noch einmal eine Differenz zwischen seiner Haltung und der offiziellen Literaturpolitik der DDR. Das Gespräch mit Büchner ist damit Teil der im Gedicht verhandelten ›Eigentumsfragen‹. Die Auseinandersetzung mit dieser Tradition dient vor dieser Folie dazu, kritisch nach der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Literatur unter gewandelten Bedingungen zu fragen. Hölderlin und Büchner treten als Wahlverwandte in Erscheinung,28 die zwei Modelle anbieten: Hölderlin steht für die Literatur als Rückzugsort – »Sei Du Gesang, mein freundlich Asyl«. Poesie wird als ein Ort jenseits des Alltags entworfen: »Ihr segnet gütig über den Sterblichen, / Ihr Himmelskräfte! jedem sein Eigentum, / O segnet meines auch, und daß zu / Frühe die Parze den Traum nicht ende.«29 Der intertextuelle Bezug motiviert sich über das Thema des Verlusts – bei Hölderlin des Verlusts eines Menschen – und erweist, dass mit ›Eigentum‹ ein vorwiegend immaterielles gemeint ist: Die Poesie dient als Lebens- und Erinnerungsraum, in den sich das Ich zurückziehen kann und den es sich für die Zukunft zu erhalten hofft. Die Literatur als geistiger Rückzugsort meint jedoch keine verlockende Aussicht, sondern ein in bitterem Ton vorgetragenes Scheitern. Der pejorative Charakter des Asyls, der auch in der Phrase »bleiben, wo der Pfeffer wächst« anklingt, entsteht aus der scheinbaren Ausweglosigkeit. Eben dies aber führt zur Formulierung einer Gegenposition, für die in Das Eigentum Büchner steht. In der Pervertierung der Revolutionsparole findet die Gegenwartsdiagnose ihren harschen, unversöhnlichsten Ausdruck. Im kritischen Wertediskurs gibt sich das Gedicht jedoch weniger als Abschiedsszene denn als engagierte Be––––––––– 28 Siehe hierzu auch Katrin Bothe: Schreiben im Niemandsland. Beobachtungen zum Schreibpro-
zeß Volker Brauns. In: Weimarer Beiträge 46, 2000, S. 430–453.
29 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 1: Sämtliche Gedichte.
Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. 1992, S. 223f.
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gleiterin der Gegenwart zu erkennen, die Büchners Schreibprojekt beerbt. Das Wiederlesen fremder und eigener Texte und gerade der erneute Rückgriff auf den Hessischen Landboten, der Braun als Quintessenz des politischen Büchner gilt, erweisen sich als produktiv für die Textproduktion und ein spezifisches Schriftstellerethos. Das Volk jedoch ist nun nicht mehr der zentrale Bezugspunkt des Schreibens. Die Position des Sprechers und das Verhältnis von politischer Literatur und Gesellschaft werden neu gedacht: Dies zeigt sich im letzten Satz, der – ohne Fragezeichen – die Idee eines stellvertretenden Sprechens für andere, das Brauns Konzept politischer Literatur prägte, suspendiert. Braun reformuliert auf diese Weise im Dialog mit ›seinem‹ Büchner seine eigene ästhetischpolitische Literaturkonzeption. Er rettet damit indirekt auch sein Gesamtwerk, insofern er sich die Produktivität seines Textverfahrens vor Augen führt – zu einem Zeitpunkt, an dem es aus seiner Sicht keine Hoffnung mehr darauf gibt, dass die Verhältnisse ›zerbrochen‹ werden könnten.
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Die Rezeption Georg Büchners in ungarischen Literaturgeschichten bis ins Jahr 2009 Von Gábor Kerekes (Budapest)
Einleitung Georg Büchner gehört heute in Ungarn zu den Autoren, deren künstlerischer Rang und deren Bedeutung über jeden Zweifel erhaben sind – sein literarisches Lebenswerk liegt übersetzt in ungarischer Sprache vor, sowohl in einer Gesamtausgabe als auch in Einzelveröffentlichungen. Doch ist seine Präsenz im ungarischen literarischen Leben in Form von publizierten Übersetzungen seiner Werke erst ein halbes Jahrhundert alt, erschien doch als erste Publikation von Büchner-Texten auf Ungarisch der Band Danton halála [Dantons Tod] im Jahre 1955, als zeitgleich auch der Büchner-Essay von Georg Lukács aus dem Jahre 1937 veröffentlicht wurde. Der Eindruck von dem mit 1955 beginnenden offensichtlich rapiden Anstieg der Bekanntheit Büchners in Ungarn ist aber trügerisch, denn im Falle Ungarns sollte man bei der Rekonstruktion der Aufnahme eines deutschsprachigen Schriftstellers keinesfalls die bis 1945 deutlich ausgeprägte deutschsprachige Kultur des Landes vergessen. Die deutschungarischen Beziehungen bildeten traditionell ein dichtes Netzwerk, es gab einen hohen Anteil an deutschsprachiger Bevölkerung, in Budapest erschien mit dem Pester Lloyd (1854–1945) eine international angesehene deutschsprachige Tageszeitung, in der u. a. auch Thomas Mann publizierte. Darüber hinaus gab es in diesem Zeitraum in Budapest und landesweit eine ansehnliche Zahl an regelmäßig erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften sowie auch solche, die teilweise Artikel in deutscher Sprache veröffentlichten. Obwohl es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen unübersehbaren Magyarisierungsdruck von staatlicher Seite gab und die Zahl der deutschsprachigen Druck- und Presseerzeugnisse in diesen Jahrzehnten kontinuierlich ab337
nahm, blieb die herausragende Stellung der deutschsprachigen Kultur in Ungarn in diesem Zeitraum – noch – weitgehend ungebrochen. Man sollte sich also von der geringen Anzahl ungarischsprachiger Belege hinsichtlich Georg Büchners in der Zeit vor 1945 nicht täuschen lassen, sondern vielmehr bedenken, dass es sich bei der Rezeption Georg Büchners und seiner Werke in Ungarn im Grunde um zwei Rezeptionen bzw. eine Rezeption in zwei Sprachen handelt. Da in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenn auch mit immer stärker abnehmender Tendenz, die deutschsprachigen Literaturen in Ungarn ebenso in großem Maße in deutscher Sprache gelesen wurden wie der Besuch von Theaterpremieren in Wien zum Leben des ungarischen Großbürgertums dazugehörte, dürfte der Bekanntheitsgrad Georg Büchners im Kreise der ungarischen Leser bei weitem größer gewesen sein als das, was heute die wenigen ungarischsprachigen Belege nahe legen. Zur Erkundung der deutschsprachigen Rezeption Büchners in Ungarn wären weiterführende Untersuchungen von privaten und öffentlichen Bibliotheken notwendig – eine sicherlich lohnenswerte Aufgabe, die den Umfang dieser Ausführungen jedoch bei weitem sprengen würde und die bisher noch nicht in Angriff genommen worden ist. Auch insgesamt gibt es eine Reihe von Aspekten, die bei der Rekonstruktion der Aufnahme Büchners in Ungarn beachtet werden müssen: Außer der Übersetzung seiner Werke natürlich die Theateraufführungen, die nach Ungarn eingeführten Verfilmungen sowie die Sekundärliteratur zu Büchner, zu der in Ungarn erschienene bzw. von ungarischen Wissenschaftlern verfasste Biographien, Dissertationen, Interpretationen, Studien etc. sowie die ungarischen Literaturgeschichten, Literaturhandbücher und (Literatur-)Lexika ebenso gehören wie die Bezugnahme ungarischer Künstler auf das Schaffen Georg Büchners. Im Rahmen dieser Betrachtung könnten all diese Aspekte nicht befriedigend dargestellt werden, weshalb an dieser Stelle der Blick auf die in Ungarn erschienenen Literaturgeschichten fokussiert werden soll, in denen der Autor des Hessischen Landboten vorkommt bzw. hätte vorkommen können oder sogar müssen.
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Literaturgeschichten zur deutschsprachigen, europäischen sowie Weltliteratur in Ungarn seit 1900 Im Interesse der Übersichtlichkeit sollen gleich hier am Anfang tabellarisch jene in Ungarn seit 1900 erschienenen Literaturgeschichten aufgeführt werden, in denen (auch) die deutschsprachige Literatur eine Darstellung findet und die die Grundlage unserer Betrachtungen bilden: Ungarischsprachig: James Sime: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Übersetzt von Dávid Angyal. Budapest: Athenaeum. 3. Auflage 1900. Gusztáv Heinrich: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Franklin 1922 (Überarbeitete Ausgabe der zuerst 1886–1889 in zwei Bänden erschienenen deutschen Literaturgeschichte bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts.) Atanáz Motz: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Szent István Társulat 1925. Andor Juhász: A világirodalom élettörténete [Die Lebensgeschichte der Weltliteratur]. Budapest: Révai 1927. Béla Pukánszky: A német irodalom kis tükre [Kleiner Spiegel der deutschen Literatur]. Budapest: Magyar Szemle Társaság 1930. Mihály Babits: Az európai irodalom története [Die Geschichte der europäischen Literatur]. Budapest: Nyugat 1934 (vielfach neu aufgelegt). Upton Sinclair: Upton Sinclair irodalomtörténete [Upton Sinclairs Literaturgeschichte]. Übersetzt von Sándor Benamy. Budapest: Epocha 1937, erw. 1944. Antal Szerb: A világirodalom története [Die Geschichte der Weltliteratur]. Budapest: Révai 1941 (vielfach neu aufgelegt). Georg Lukács: Az újabb német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der neueren deutschen Literatur]. Budapest: Athenaeum 1946. Titel der deutschsprachigen Ausgabe: Deutsche Literatur während des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen. Berlin 1945 (ab der 4. Auflage: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus). Marcell Benedek: Világirodalom [Weltliteratur]. In drei Bänden. Budapest: Minerv 1968/1969. Elŋd Halász: A német irodalom története [Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Gondolat 1971, 21987. 339
Miklós Györffy: A német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Corvina 1995. Tibor Gintli, Gábor Schein: Az irodalom rövid története [Kurze Geschichte der Literatur]. In zwei Bänden. Pécs [Fünfkirchen]: Jelenkor 2003 (Bd. 1) und 2007 (Bd. 2). Imre Madarász (Hrsg.): Világirodalom. [Weltliteratur]. Budapest: Pannonica 2004. József Pál (Hrsg.): Világirodalom [Weltliteratur]. Budapest: Akadémia 2005. Deutschsprachig: Ernŋ Siptár: Überblick über die deutsche Literaturgeschichte. Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1965. László Tarnói: Deutsche Literaturgeschichte II. Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1978. Beate Bartyik, Regine Thomas: Deutsche Literaturgeschichte III–IV. Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1984, 1988, 1992; Budapest: Nationaler Lehrbuchverlag/Nemzeti Tankönyvkiadó 2002. Karl Keiner, Gábor Kerekes: Deutsche Literatur. Szombathely: BDTF 1994.
Büchner in den Literaturgeschichten bis 1945 Als erste zeitliche Einheit bieten sich die Jahre bis 1945 an, denn dies waren die letzten Jahre einer – zunehmend weniger – intakten deutschsprachigen Kultur in Ungarn, die dem starken Magyarisierungsdruck immer weniger gewachsen war und deren Schicksal die kommunistische Machtübernahme nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die mit dieser im politischen Kurs einhergehende, als Antifaschismus getarnte konsequent strenge antideutsche Tendenz besiegelte. Bittere Ironie des Schicksals ist dabei: Was die politische Rechte noch im ausgehenden 19. Jahrhundert begonnen hatte, vollendete die politische Linke im 20. Jahrhundert. Die Aversion gegenüber dem Fremden und den Minderheitenkulturen war (und ist) ihnen gemeinsam. Die in diesem Zeitraum in Ungarn veröffentlichten Literaturgeschichten sind für eine zeitgemäße Beschäftigung mit Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts natürlich nicht mehr geeignet, doch verraten sie viel 340
über die Zeitumstände ihrer Entstehung. Von diesen gibt es zwei Werke, die – obwohl politisch gar nicht der kommunistischen Literaturauffassung entsprechend – auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder herausgegeben wurden und auch heute noch von Lesern – zumeist Schülern und Studenten – benutzt werden. Der Grund für die kontinuierliche Veröffentlichung der Werke dürfte in dem literarischen Rang der Verfasser zu suchen sein, den sie als Autoren in der ungarischen Literatur besitzen. Es handelt sich um die Literaturgeschichten von Mihály Babits und Antal Szerb, die auch nach der politischen Wende von 1989/90 mehrfach aufgelegt worden sind. Doch gehen wir der Reihe nach vor: Das früheste für uns relevante Beispiel in dem zu betrachtenden Zeitraum stellt die ungarische Übersetzung einer in London publizierten Literaturgeschichte dar. James Simes Die Geschichte der deutschen Literatur erschien 1900 bereits in der dritten Auflage in ungarischer Sprache, was den seinerzeitigen Erfolg des Werkes in Ungarn unterstreicht. Das Büchlein des durch History of Germany (1874), Lessing (1877), Schiller (1882) sowie The Life of Johann Wolfgang Goethe (1888) in der angelsächsischen Welt als Spezialist für den deutschen Sprachraum bekannt gewordenen Autors behandelt die deutschsprachige Literatur bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Er erwähnt Heine, Grabbe, Gutzkow, Laube, Freytag u. a. als Vertreter der modernen deutschen Literatur – Büchner ist allerdings noch nicht vertreten, was angesichts der damaligen Unbekanntheit des Hessen nicht weiter überraschen kann, weshalb man in diesem Fall dem Autor auch keine wie auch immer gearteten Absichten unterstellen kann. Ähnlich fehlt Büchner in dem 1925 publizierten Band Die Geschichte der deutschen Literatur [A német irodalom története] von Atanáz Motz (1890– 1926). Der Zisterzienser Motz unterrichtete ab 1918 deutsche Sprache und Literatur am 1912 gegründeten Szent Imre Gymnasium in Buda, dem hauptstädtischen Gymnasium des Zisterzienserordens. So wie Sime war Motz in der deutschsprachigen Literatur gut bewandert, jedoch anders als bei Sime dürfte die Aussparung Büchners bei ihm bewusst geschehen sein. Seit der Entstehung der Literaturgeschichte von Sime war die Franzos’sche Ausgabe der Werke Büchners erschienen und hatte es die Uraufführungen von Leonce und Lena, Dantons Tod sowie Woyzeck gegeben. Angesichts der Kontexte, in denen, und angesichts der Tendenz, mit der die Fragen des Glaubens in Büchners Werken thematisiert werden, sowie der damals als zumindest »unschicklich« angesehenen 341
Sprache der Stücke des Hessen kann es nicht weiter überraschen, dass Büchner für den Katholiken und Priester Motz, dessen Buch vom Verlag der ungarischen katholischen Kirche veröffentlicht worden war, nicht existierte. Auch in Andor Juhász’ A világirodalom élettörténete [Die Lebensgeschichte der Weltliteratur] von 1927 ist kein Platz für Büchner, wobei dies ebenfalls mit der Konzeption des Buches zu erklären wäre. Schließlich ist es die Absicht des Verfassers – wie er es selbst formuliert –, über frühere Literaturgeschichten hinauszugehen, die vergessen hatten, »dass es über jeden Dichter und jedes Buch hinaus eine höhere Einheit, einen organischen Zusammenhang, eine höhere Seele gibt, die Seele der Literatur, die lebt und atmet, und deren selbständige Existenz über dem Schriftsteller und seiner Arbeit steht«.1 Zum Ende des über 400seitigen Bandes wird dann spätestens klar, dass der Verfasser sich nicht nur allgemein zur geistesgeschichtlichen Annäherung an die Weltliteratur hingezogen fühlt, sondern sich besonders für das Wiedererstarken der Religion einzusetzen wünscht, als er über die Krise seiner Gegenwart und deren mögliche Überwindung, die Bedeutung der Religion in keinerlei Hinsicht in Frage stellend, resümiert: »Nun, wir glauben, dass erneut das Christentum der Welt über den toten Punkt hinweghelfen wird. Denn wenn auch das Christentum heute nicht so neu ist wie vor zweitausend Jahren, so ist doch seine Kraft ebenso ungebrochen, sind seine Ideale ebenso erhaben wie zum Anbruch des Mittelalters.«2 Für Büchner ist hier, was nicht weiter überraschen mag, kein Platz. Drei Jahre später ändert sich das Bild. Der Literaturwissenschaftler Béla Pukánszky (1895–1950), der bereits 1926 sein bis heute als grundlegende Arbeit geltendes Buch A magyarországi német irodalom története a legrégibb idŋktŋl 1848-ig [Die Geschichte der ungarndeutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis 1848] veröffentlicht hatte und der als ein ausgewiesener ––––––––– 1
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Juhász, S. 3: »Ezek az irodalomtörténetek elfelejtették, hogy minden költŋn és könyvön túl egy magasabb egység, egy szerves összefüggés van, egy felsŋbbrendť lélek, az irodalom lelke, amely él és lélekzik és amelynek önálló léte fölül áll az írón és munkáján.« Übersetzungen aus dem Ungarischen, soweit nicht anders erwähnt, von mir: G. K.. Ebd., S. 467: »Nos hát, azt hisszük, ismét a kereszténység fogja átsegíteni a világot a holtponton. Mert ha a kereszténység nem is olyan új ma, mint kétezer esztendŋvel ezelŋtt volt, de ereje épp oly töretlen, eszményei épp oly fenségesek, akár a középkor hajnalán.«
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Kenner der deutschen Kultur bekannt war, publizierte das Bändchen A német irodalom kis tükre [Kleiner Spiegel der deutschen Literatur], in dem – was angesichts des knapp bemessenen Umfanges umso bemerkenswerter und ein Indiz dafür ist, welche Bedeutung jedem Autor zugemessen wird, der hier namentlich erscheint – Georg Büchner im Kapitel »Formlosigkeit und Formsuche«, das im Prinzip die Vormärz- und Biedermeierliteratur überblickt, gemeinsam mit Grabbe als »zukunftsweisender Dramatiker« und »Vorbote des neuen literarischen Geistes« eingeführt wird.3 Büchners »moderner expressiver Naturalismus zeigt auch noch in der heutigen deutschen Literatur ihre Wirkung. Sein revolutionäres Drama Dantons Tod löst die geschlossene Form des klassizistischen Epigonendramas in eine lose Bild- und Szenenfolge auf.« 4 Eine anerkennende Bemerkung, die besonders angesichts der Tatsache Gewicht besitzt, dass damals noch kein einziger Büchner-Text in ungarischer Übersetzung vorlag. Das 80 Seiten umfassende Büchlein besitzt den großen Vorzug, sachlich, informativ und klar zu sein, frei von jedweder Agitation und von jeglichem Moralisieren. Es war sicherlich in erster Linie an ungarischsprachige Leser gerichtet, doch dürfte ein zusätzliches Ziel gewesen sein, den auch auf Deutsch lesenden Ungarn weiterführende Lektürehinweise zu geben. Wie bemerkenswert die Nennung Büchners bei Pukánszky ist, wird deutlich, wenn man die europäische Literaturgeschichte von Mihály Babits (1883–1941) in die Hand nimmt, der zu den wichtigsten ungarischen Autoren in der Zwischenkriegszeit gehört. Sein Buch wird bis auf den heutigen Tag immer wieder herausgegeben und von vielen ungarischen Lesern benutzt. Babits war Dichter, Schriftsteller, Essayist, Übersetzer. Vom Anfang der zwanziger Jahre an war er der Herausgeber bzw. Redakteur der 1908 gegründeten Zeitschrift Nyugat (deutsch: Westen), die bis 1941 erschien und als prägend für die ungarische Literatur in diesen Jahren angesehen wird. Das Ziel der Gründer der sowohl Prosa als auch Poesie umfassenden Zeitschrift war es, die damaligen modernen literarisch-kulturellen Strömungen Westeuropas in Ungarn bekannt zu ma––––––––– 3 4
Pukánszky, S. 57: »Az új irodalmi szellem elŋhírnöke két jövŋbe mutató drámaíró: Grabbe és Büchner.« Ebd.: »Georg Büchner (1813–1837) modern expresszív naturalizmusa még a mai német irodalomban is érezteti hatását. Forradalmi drámája Dantons Tod a klasszicisztikus epigon-dráma zárt formáját laza kép- és jelenetsorozatban oldja fel.«
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chen, damit diese die Weiterentwicklung der Gegenwartskunst in Ungarn befördern konnten. Babits ging von der Grundüberzeugung aus, dass sich die Nationalliteraturen von einem gemeinsamen Erbe im Laufe der Zeit immer weiter entfernt hätten. »Die Weltliteratur ist ein einheitlicher, zusammenhängender Prozess, ein einziger riesiger Blutkreislauf«, schreibt er in der Einleitung.5 Deutlich ist seine Kritik oder zumindest Skepsis auf die nationale Dimension von Literatur gerichtet: »Wer die Geschichte einer Nationalliteratur schreibt, für den mag die Nation wichtiger sein als die Literatur«,6 heißt es bei ihm. Konsequenterweise dachte er in Bezug auf eine ungarische Literaturgeschichte ähnlich: »Wenn ich die ungarische Literatur als ungarische charakterisiere, dann habe ich keine rein literarische Studie vollbracht und habe im Grunde nicht über die Literatur gesprochen, sondern über Ungarn.«7 Angesichts der für seine Zeit aufgeschlossenen Haltung und der Absicht von Babits, die moderne Literatur in Ungarn zu verbreiten, kann man die Tatsache nur bedauernd konstatieren, dass Georg Büchner ihm unbekannt oder zumindest nicht bedeutend genug erschien, um genannt zu werden. Dieser schmerzliche Umstand erklärt sich vermutlich aus dem in erster Linie der englischen und in zweiter Linie der französischen Literatur zugewandten Interesse des Verfassers, denn andere Hemmschwellen, weltanschaulicher, politischer oder künstlerischer Art, hätte es für ihn nicht gegeben. Die andere, in Ungarn auch heute noch einflussreiche Literaturgeschichte aus der Zwischenkriegszeit stammt – wie bereits erwähnt – von Antal Szerb (1901–1945), einem anderen ungarischen Autor aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Katholik Szerb, der sich 1942 als »Jude ungarischer Muttersprache« 8 definierte, hatte nach dem Studium von Hungarologie, Germanistik und Anglistik zwischen 1924–30 in Ita––––––––– 5 6 7
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Mihály Babits: Az európai irodalom története [Die Geschichte der europäischen Literatur], S. 5: »A világirodalom egységes, összefüggŋ folyamat, egyetlen hatalmas vérkeringés.« Ebd., S. 11. »Aki egy nemzeti irodalom történetét írja, annak fontosabb lehet a nemzet, mint az irodalom.« Mihály Babits: Az irodalom elmélete [Die Theorie der Literatur]. In: Esszék, tanulmányok [Essays, Studien]. Budapest: Szépirodalmi, 1978. Bd. 1, S. 576: »Ha a magyar irodalmat mint magyart jellemzem, nem végeztem tisztán irodalmi tanulmányt, és tulajdonképpen nem az irodalomról beszéltem, hanem Magyarországról.« Antal Szerb: Naplójegyzetek (1914-1943) [Tagebuchaufzeichnungen (1914-1943)]. Budapest: Magvetŋ 2001, S. 279: »[…] magyar anyanyelvť zsidó vagyok«.
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lien, Frankreich und England gelebt, wurde danach 1937 Professor für Literatur an der Universität in Szeged. 1934 erschien seine bis heute gelesene Ungarische Literaturgeschichte, 1941 wurde seine Geschichte der Weltliteratur veröffentlicht. Im Juni 1944 wurde er zum so genannten »Arbeitsdienst« einberufen; er wurde verschleppt und verstarb im Internierungslager Balf am 27. Januar 1945 an den Folgen der Misshandlungen und des Hungers.9 In seiner Geschichte der Weltliteratur stützte er sich bewusst auf die erwähnte Literaturgeschichte von Babits. Die Weltliteratur im Goethe’schen Sinne, die Autoren von übernationalem Interesse, welche sich gegenseitig befruchten und steuern, waren für ihn wichtig, Elemente von Spenglers Weltauffassung sind in seinen Ausführungen deutlich erkennbar. In der Einleitung zitiert er Goethes Worte zu Eckermann vom 31. Januar 1827: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« Szerb versteht unter Weltliteratur nicht jene, »die die ganze Welt schreibt, […] sondern […] jene, die für die gesamte Welt geschrieben wird«. Sie ist »die Gesamtheit all jener Werke, die auf Grund ihres Wertes oder ihrer Wirkung […] jeder gebildeten Nation etwas sagten«. Woraus auch folgt, dass aus der Geschichte der Weltliteratur die mittelmäßigen Autoren ausgeschlossen bleiben, selbst dann, wenn sie in der Geschichte ihrer Nationalliteratur eine wichtige Rolle gespielt haben.10 Dies mag schon ahnen lassen, dass bei Szerb keine allzu lange Liste von Autoren zu erwarten ist, weshalb jede Nennung umso wertvoller ist. Das über Büchner Geschriebene liest man mit gemischten Gefühlen, denn es beinhaltet durchaus Richtiges, umfasst aber an zwei Stellen jeweils nur einen einzigen Satz – und erinnert darüber hinaus gespenstisch an das, was Pukánszky geschrieben hatte... Angesichts der Kürze der Erwähnungen ist es kaum zu entscheiden, ob die Ähnlichkeit ––––––––– 9 Új Magyar Életrajzi Lexikon [Neues Ungarisches Biographisches Lexikon]. Budapest:
Helikon 2007, S. 383f.
10 Antal Szerb: A világirodalom története [Die Geschichte der Weltliteratur]. Budapest: Magvetŋ
o. J., S. 7f. »Tehát világirodalmat nem cselekvŋ értelemben, nem azt az irodalmat, amelyet az egész világ ír, hanem szenvedŋ értelemben, azt az irodalmat, amelyet az egész világ számára írnak. A világirodalom azoknak a mťveknek az összessége, amelyek értékük vagy hatásuk révén, legalábbis virtualiter, minden mťvelt nemzet számára mondtak valamit, és el is jutottak minden mťvelt nemzethez.«
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durch die Knappheit begründet ist, oder ob wir es hier einfach mit einer Paraphrase von Pukánszky zu tun haben. In dem auch Schopenhauer, Grabbe, Hebbel und Wagner behandelnden Kapitel »Der Individualismus« heißt es: »Georg Büchners (1813–1837) Dantons Tod betiteltes Drama ist ein naher Verwandter von Grabbes Napoleon, doch ist es tiefer, pathetischer, vielversprechender – schade, dass sein Verfasser so früh gestorben ist.«11 Im Zusammenhang mit dem Expressionismus fällt der Name Büchners das zweite Mal bei Szerb, und dies ist das erste Beispiel dafür, dass in einer ungarischen Literaturgeschichte Büchners Wirkung auf den Expressionismus nachdrücklich erwähnt wird. Über den deutschen Expressionismus heißt es: »Er schließt sich weiterhin an an eine Strömung der Romantik, an Kleist, Grabbe, Büchner und in der Lyrik an den größten, an Hölderlin.«12 Zeitlich zwischen den beiden Literaturgeschichten von Babits und Szerb war in Ungarn noch Upton Sinclairs im Original Mammonart betitelte Literaturgeschichte unter dem Titel Upton Sinclair irodalomtörténete [Upton Sinclairs Literaturgeschichte] herausgegeben worden. Doch der Amerikaner, der sonst in seinen Werken so empfindlich auf soziale Fragen reagierte, kannte Büchner offensichtlich nicht, weshalb dessen Name weder in der ersten Auflage von 1937 noch in der erweiterten Fassung von 1944 anzutreffen ist, während Goethe, Heine, Nietzsche, Wagner und sogar Beethoven vorkommen – Friedrich Schiller allerdings ebenfalls nicht. Den Zeitraum bis 1945 überblickend kann man – immer unter dem Vorbehalt, dass es eine bis dato unerforschte Sphäre der deutschsprachigen Rezeption in Ungarn gibt – resümieren: Von Georg Büchner nahmen in dieser Zeit in Ungarn offensichtlich nur jene Intellektuellen Notiz, die eine besondere Affinität zur deutschen Kultur besaßen und sich in dieser ohne tabuisierende Reglementierungen orientieren konnten. Vorlieben für andere Kulturen sowie weltanschaulich-religiöse Überzeugungen standen der Beschäftigung mit Büchner wahrscheinlich im Wege. ––––––––– 11 Ebd., S. 594: »Georg Büchner (1813–1837) Dantons Tod c. drámája közeli rokona
Grabbe Napóleonjának, de mélyebb, patetikusabb, többet igérŋ – kár, hogy szerzŋje oly fiatalon halt meg.« 12 Ebd., S. 825: »Kapcsolódik továbbá a romantika egy áramlatához, Kleisthez, Grabbéhoz, Büchnerhez és a lírában a legnagyobbhoz, Hölderlinhez.«
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Von 1945 bis zur politischen Wende 1990 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die nächste Publikation einer Literaturgeschichte der deutschsprachigen Literatur in ungarischer Sprache. 1946 erschien im Athenaeum Verlag in Budapest mit dem eher neutralen ungarischen Titel Az újabb német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der neueren deutschen Literatur] der Band des Philosophen Georg Lukács (1885–1971), der auf zuvor veröffentlichten Texten basiert und der in dieser Form in deutscher Sprache 1953 in Berlin unter dem Titel Skizze einer Geschichte der deutschen Literatur publiziert wurde.13 Die politische Ausrichtung des Buches, welches eine Literaturgeschichte von der Aufklärung bis in die damalige Gegenwart darstellt, ist nicht schwer zu erkennen. Büchner spielt in dem »Das Ende der Kunstperiode«14 betitelten Kapitel eine Rolle, in dem sowohl seiner Person als auch seinem Werk eine herausragende Bedeutung attestiert wird. Dantons Tod sei »nicht nur das bedeutendste Drama der Zeit, sondern der einzige große Schritt, den die deutsche Dramatik seit Goethe und Schiller getan hat«.15 Hier wird nur kurz angedeutet, was der damals im Moskauer Exil lebende Lukács in Grundzügen bereits 1937 in seinem – später noch mehrfach veröffentlichten und etwas variierten – deutschsprachigen Artikel Der faschisierte und der wirkliche Georg Büchner16 formuliert hatte: Büchner sei es gelungen, mit der tragischen Gegenüberstellung von Danton ––––––––– 13 Die zuvor veröffentlichten Textvarianten sind:
Georg Lukács: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus. In: Internationale Literatur. Nr. 3 (März 1945) S. 53–65, Nr. 4 (April 1945) S. 62–68 und Nr. 5 (Mai 1945) S. 70–84. Auch als: Deutsche Literatur während des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen. Berlin: Aufbau 1945, 71 S. Ders.: Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur. Berlin: Aufbau 1946, 119 S. 14 »A mťvészi korszak vége«, in: György Lukács: Az újabb német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der neueren deutschen Literatur]. Budapest: Athenaeum 1946, S. 58–73, hier S. 58. 15 Georg Lukács: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Berlin 1953, S. 65. 16 Ders.: Der faschisierte und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem 100. Geburtstag. In: Deutsche Zentralzeitung. Nr. 45 (24. Februar 1937), S. 3. Auch in: Das Wort. Nr. 2 (Februar 1937), S. 7–26. Sowie: ǐDzǻǽǰ ǎȋȂǺDzǽ ǼǻDZǸǵǺǺȈǶ ǵ ȁǭȅǵǴǵǽǻǯǭǺǺȈǶ (Ǘ ǾǿǻǸDzǿǵȋ Ǿǻ DZǺȌ ǾǹDzǽǿǵ, 19 ȁDzǯǽǭǸȌ 1837 ǰ.). ǘǵǿDzǽǭǿȀǽǺȈǶ ǗǽǵǿǵǷ [Literaturkritik] 1937, Nr. 3, S. 34–54. Weiterhin als Kapitel »Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner« in Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin: Aufbau sowie Bern: Francke 1951, S. 66–88. Und später noch mehrfach in der Bundesrepublik Deutschland und Ungarn.
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und Robespierre die zentrale Problematik der demokratischen Revolution zu erfassen. Seine anderen Werke seien ebenfalls bedeutend, doch hätten sie nicht das Maß an Lob erhalten, das ihnen zustünde – die in Büchners Werken vorhandene Selbstkritik der demokratischen Revolution sei nicht selten »konterrevolutionär« gedeutet worden. Keines der anderen Werke Büchners wird genannt, was auf den ersten Blick enttäuschen mag. Doch sollte man bedenken: Zur Zeit des Erscheinens von Lukács’ Text gab es noch keine einzige ungarische Buchausgabe eines Büchnerwerkes, insofern ist das hier knapp skizzierte Bild bei aller Kürze doch als eine wichtige Stufe in der Bekanntwerdung Büchners in Ungarn zu werten. 1955 war es dann soweit: Dantons Tod wurde zusammen mit anderen Texten Büchners auf Ungarisch herausgegeben, und im gleichen Jahr erschien in Ungarn von György Lukács der Band Német realisták [Deutsche Realisten], 17 der die ungarische Fassung des 1951 in Berlin und Bern veröffentlichten Buches Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts ist und den erwähnten Text zu Büchners 100. Todestag enthält. Damit war Büchner gleich mit zwei Veröffentlichungen in das Bewusstsein der Lesenden gerückt. Das Buch von Lukács ist zwar keine Literaturgeschichte – weshalb es eigentlich nicht in unsere Untersuchung gehört –, doch sind einige Sätze zu ihm aus zwei Gründen doch unumgänglich: Erstens: Büchner wird nicht einfach nur vorgestellt, sondern gleich mit der Problematik der Deutung, der Deutungshoheit um das Büchnersche Werk verknüpft vorgeführt. Gundolfs »Schicksalslandschaft«, die angeblich im Büchnerschen Werk wirke, wird ebenso zurückgewiesen wie u. a. Viëtors und Pfeiffers Versuche, Büchners Werke aus dem politischen Kontext zu lösen. Konkret auf den Danton eingehend weist Lukács darauf hin, wie bemerkenswert geteilt sich die politischen und die menschlichen Sympathien Büchners zwischen Robespierre und der Titelfigur darbieten. Damit spricht Lukács wichtige und problematische Gesichtspunkte in der Deutung der Büchnerschen Werke an, die noch Jahrzehnte später in manch einem Literaturhandbuch »herumspuken« werden, ganz gleich ob in Deutschland West (z. B. mit einem Hauptmann im Woyzeck, der als gutmütiger und humaner Bürger hingestellt ––––––––– 17 György Lukács: Német realisták [Deutsche Realisten]. Budapest: Szépirodalmi könyvkia-
dó 1955.
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wird18) oder Deutschland Ost (etwa mit der Behauptung, »Büchner am nächsten steht die Gestalt des St. Just«19). Mit Lukács’ Text war Ungarn sozusagen ›über Nacht‹ einen großen Schritt in der Rezeption Büchners vorangekommen. Zweitens: Die Person Lukács behinderte oder erschwerte zumindest im Späteren – ungewollt – die Rezeption Büchners in Ungarn. Lukács war schon lange eine international bekannte und geachtete Größe, als er 1945 aus der Sowjetunion nach Ungarn zurückkehrte, wo er zum Universitätsprofessor ernannt und 1949 im kommunistischen Einparteienstaat auch noch Parlamentsabgeordneter wurde. Sein Lebensweg bis 1945 war einerseits von Erfolgen und andererseits auch von heftigen Fehden und bitteren Niederlagen – in Form von öffentlicher Selbstkritik – gekennzeichnet, was aber der internationalen Bedeutung und Bekanntheit seiner Person keinen Abbruch tat. Er gehörte Mitte der fünfziger Jahre zu den intellektuellen Kritikern der stalinistischen Diktatur in Ungarn und war 1956, zur Zeit des Volksaufstandes, in der von Moskau unabhängigen Regierung von Imre Nagy Minister für Unterrichtswesen. Lukács war zwar gegen den von Nagy verkündeten Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, doch rettete er sich wegen seiner Rolle im Volksaufstand – so wie Nagy – in die jugoslawische Botschaft, als sich die sowjetischen Panzer durch Budapest wälzten. Lukács wurde schließlich wie die anderen aus der jugoslawischen Botschaft herausgelockt, verhaftet und nach Rumänien gebracht. Erst im April 1957 durfte er nach Ungarn zurückkehren, ohne dass ihm danach der Prozess gemacht worden wäre. Seine internationale Bekanntheit schützte ihn vor existenzbedrohenden Repressalien. Zugleich wurde er seines Lehramtes enthoben, aus der Akademie ausgeschlossen, in die neu umbenannte ungarische kommunistische Partei nicht übernommen. Er selbst formulierte über seine Situation: »Ich bin ihnen im Hals stecken geblieben […]. Sie können mich weder herunterschlucken noch ausspucken.« 20 Nie––––––––– 18 Werner Kohlschmidt: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. IV. Vom Jungen Deutschland
bis zum Naturalismus. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1975, S. 114.
19 Vormärz 1830–1848. Erläuterungen zur deutschen Literatur. 10. Aufl. Berlin: Volk und
Wissen 1977, S. 55.
20 Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp 1981, S. 9; vgl. auch György Lukács: Megélt gondolkodás. Életrajz magnószalagon. Budapest: Magvetŋ 1989, S. 12.
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mand konnte in diesen Jahren sicher sein, wie Lukács’ Status war, doch ging man allgemein sicherheitshalber auf Distanz zu ihm und den von ihm vertretenen Thesen. Dies hatte einen fatalen Effekt – auch – für die Rezeption Büchners in Ungarn, war doch sein Name stark mit Lukács verbunden. Während in den folgenden Jahrzehnten ungarische und ausländische Bücher in Übersetzung etwa über Goethe, Lessing, Schiller und andere deutsche Autoren erschienen, blieb dies Büchner bis 1982 verwehrt, als Kasimir Edschmids Büchner-Buch Wenn es Rosen sind, werden sie blühen unter dem späteren deutschen Titel Georg Büchner. Eine deutsche Revolution [Georg Büchner: egy német forradalom] auf Ungarisch erschien. Zwar findet sich Büchner in der Zeit der schlimmsten Ächtung von Lukács in Ernŋ Siptárs 1965 in deutscher Sprache, speziell für die damals wenigen Studenten der Germanistik veröffentlichtem Überblick über die deutsche Literaturgeschichte im Kapitel »Vormärz«, doch war ja dies keine Publikation für die große Masse ungarischer Leser, sondern lediglich für einige Dutzend Personen gedacht. Büchner wird hier vor allem für seine revolutionären Überzeugungen und den Danton gelobt – schade, dass mehrfach »Bücher« statt »Büchner« zu lesen steht. Der Umgang mit Büchner auf Ungarisch verlief nach dem Volksaufstand von 1956 stockend. So gab es erst 1968 eine erneute Veröffentlichung von Dantons Tod auf ungarisch, und auch in Band II von Marcell Benedeks dreibändiger Literaturgeschichte Világirodalom [Weltliteratur] aus dem Jahre 1969 wird Büchner so kurz erwähnt, dass es kaum noch kürzer geht. Im Kapitel »Neue Gesellschaftskritik« findet sich im Unterkapitel »Das ›Junge Deutschland‹ – zwei dänische Schriftsteller« nach relativ ausführlichen Passagen zu Heine und Lenau sowie kürzeren zu Gutzkow und Grabbe lediglich der sehr unterschiedlich deutbare Satz: »Georg Büchners (1813–1837) Dantons Tod betiteltes Stück mit pulsierend dramatischem Gang und revolutionärem Geist hat man auch bei uns mit Erfolg auferstehen lassen.«21 Hiernach werden im gleichen Kapitel verwunderlicherweise noch kurz die beiden Dänen Hans Christian Andersen und Frederik Paludan-Müller gewürdigt. ––––––––– 21 Benedek, Bd. II (1969), S. 124: »Georg Büchner (1813-1837) Danton halála címť
lüktetŋ drámai menetť, forradalmi szellemť darabját nálunk is sikerrel támasztották fel.«
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Doch nur zwei Jahre später sollte sich das Bild grundlegend ändern, wobei die Wende aus dem Bereich der Germanistik kam. Mit der Gründung der Volksrepublik Ungarn 1949 waren schwere Jahre für die Germanistik angebrochen. 1950 war die universitäre Germanistikausbildung allein auf Budapest konzentriert worden, die Lehrstühle in der Provinz wurden geschlossen. Mit der Germanistik ist der Name von Elŋd Halász (1920–1997), des Verfassers der ungarischsprachigen Geschichte der deutschen Literatur, die zuerst im Jahre 1971 erschien, verbunden. Halász, eine der schillerndsten Gestalten der ungarischen Germanistik, war in Szeged 1948–1949 Lehrstuhlinhaber der Germanistik, doch 1950 wurde auch dieser Lehrstuhl geschlossen und Halász versetzt. Zu einer Reorganisierung des Lehrstuhls in Szeged kam es 1957, als dieser unter dem Namen Institut der Germanischen Sprachen und Literaturen, die Anglistik beinhaltend, weiterarbeitete. Hier in Szeged war Halász bis 1984 tätig, auch als Dekan (1957–1960 und 1965–1969) der Philosophischen Fakultät. 1970 wurde das Institut in zwei Teile aufgeteilt: Der eine widmete sich der Anglistik, der andere wurde weiterhin von Halász unter dem Namen Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur bis 1983 geleitet. In diese Zeit fällt die Entstehung seiner Literaturgeschichte, die er in den 1960er Jahren verfasste. Sie liegt in zwei Auflagen vor und ist bis auf den heutigen Tag die ausführlichste Darstellung der deutschsprachigen Literatur in ungarischer Sprache. Die Veröffentlichung seines Buches war sicherlich nicht allein das Resultat seines Entschlusses, solch ein Handbuch zu verfassen. Auch Marktmechanismen spielten in den 1950–1960er Jahren bei Buchveröffentlichungen keine Rolle in Ungarn, jedoch kulturpolitische Überlegungen umso mehr. Im Laufe der sechziger Jahre veranlasste die Kulturpolitik in Ungarn die Veröffentlichung moderner, d. h. im Sinne der Kulturpolitik »fortschrittlicher«, Literaturgeschichten, da die Anknüpfung an Literaturgeschichten, die vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden waren, aus ihrer Sicht alles andere als empfehlenswert war. Im Laufe von einem Jahrzehnt kam in Ungarn auch als Ergebnis der staatlichen Förderung eine ganze Reihe von Literaturgeschichten heraus, verfasst von Unterrichtenden aus dem akademischen, dem universitären Bereich. (László Dobossy: Die Geschichte der französischen Literatur 1963; Zoltán Csuka: Die Geschichte der Literatur der jugoslawischen Völker 1963; Rezsŋ Szalatnai: Die Geschichte der tschechischen Literatur 1964; ders.: Die Geschichte 351
der slowakischen Literatur 1964; István Sipos: Die Geschichte der bulgarischen Literatur 1966; Endre Iglói: Russische Literaturgeschichte 1968, 1972; Róbert Falus: Die Geschichte der römischen Literatur 1970; Miklós Szenczi, Tibor Szobotka, Anna Katona: Die Geschichte der englischen Literatur 1972.) Inwieweit die Autoren jeweils den politischen Erwartungen zu entsprechen versuchten, denen sie sich gegenübersahen, ist von Fall zu Fall unterschiedlich zu bewerten. Jedenfalls ist die Entstehung der Halászschen Literaturgeschichte in diesem Kontext zu sehen.22 Büchner wird hier im Kapitel »Anfänge des modernen Dramas« beinahe doppelt soviel Raum gewidmet wie Grabbe23 und mit den Worten eingeführt: »Die Grabbeschen Versprechungen und die Bestrebungen des ›Jungen Deutschland‹ wurden im Lebenswerk des über außergewöhnliches Talent verfügenden Georg Büchner (1813–1837), des großen Dramatikers jener Zeit, zu Dichtung und Wirklichkeit.«24 Seine Bedeutung ist bei Halász über jeden Zweifel erhaben. Dantons Tod erhält weiterhin besonderes Gewicht bei der Vorstellung des Autors, wobei Halász vom »Büchnerschen Realismus« spricht, jedoch geht er auch auf den Lenz und den Woyzeck ein. Mit den oft zitierten Worten aus Büchners Brief von Ende Januar 1834 (»Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.«25) konstatiert Halász mit Bedauern den Fatalismus, der »mit enttäuschter Resignation die Unfähigkeit des Menschen gegenüber den in der Welt herrschenden materiellen Gesetzen« zum Ausdruck bringt – eine Passage, die damalige Leser nicht nur zu literaturhistorischen Spekulationen über die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts angeregt haben mag. Inwieweit das subversive ––––––––– 22 Halász hat diese Arbeit auch als Dissertation bei der ungarischen Akademie der
Wissenschaften zur Erlangung des Titels des Doktors der Wissenschaften (Dr. Sc.) eingereicht und verteidigt. Im Katalog der Dissertationen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften [Disszertációk katalógusa (DIS) – MTA kandidátusi és doktori disszertációk (1953–2009)] findet sich seltsamerweise kein Eintrag hierzu… 23 Elŋd Halász: A német irodalom története [Geschichte der deutschen Literatur], Bd. II, S. 171– 176. 24 Ebd., S. 171f. 25 Briefwechsel, S. 34.
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Potential vom Verfasser der Literaturgeschichte bewusst genutzt wurde, lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Büchner wird ganz eindeutig als überragende Gestalt beschrieben, die ihrer eigenen Zeit weit voraus war und mit der die Geschichte des modernen Dramas in deutscher Sprache beginnt. Der Lenz wird als eine Art Übergangswerk zum Woyzeck aufgefasst. Insgesamt war mit dieser Literaturgeschichte die Frage, von welcher Bedeutung Büchner und sein Lebenswerk wohl sein mögen, beantwortet. Im Rahmen der Büchner-Rezeption in Ungarn kommt dieser Literaturgeschichte, die häufig auch heftig kritisiert worden ist, eine wichtige Rolle zu. Natürlich enthält das Buch Passagen und Kapitel, die deutlich von den ideologischen Erwartungen der Zeit und den Vorgaben der DDR-Germanistik und -Literaturwissenschaft geprägt sind. Dies gilt für Themen, die in jener Zeit in Ostdeutschland tabuisiert wurden oder zumindest zu den so genannten »schwierigen« gehörten, wie etwa die westdeutsche Nachkriegsliteratur oder inzwischen unliebsam gewordene DDR-Autoren. Aus DDR-Sicht dürfte das Halászsche Buch sicherlich auch so noch einen sträflich unideologischen Eindruck gemacht haben. Von heute rückblickend kann man trotz aller problematischen Elemente im Grunde genommen der Halászschen Literaturgeschichte zugestehen, dass sie gar nicht so schlecht, auf jeden Fall viel besser als ihr Ruf ist. Als Spezialfall sollen die nächsten zwei Publikationen erwähnt werden: Sie sind in deutscher Sprache erschienen, es sind zwar Literaturgeschichten, doch sind es auch Lehrbücher für die ungarischen Gymnasien – und damit gezwungernermaßen vereinfachend, zusammenfassend. Sie zeigen aber deutlich die Probleme, vor denen die Verfasser von Schulbüchern in Ungarn standen. László Tarnóis 1978 beim Lehrbuchverlag erschienene Deutsche Literaturgeschichte II. war – und hierauf bezieht sich »II.« – für die 2. Klassen der deutschsprachigen Gymnasien gedacht. Sie gibt mit dem Hildebrandslied beginnend bis inklusive Goethe einen Überblick über die deutsche Literatur – ab der Romantik sollte die Fortsetzung im nächsten Band folgen, in dem auch Büchner vorgekommen wäre. Leider entstand dieser Band nicht mehr, nachdem die Gymnasiallehrer sich gegen das vollendete Buch ausgesprochen hatten, das für sie offensichtlich zu anspruchsvoll war. László Tarnói war damals Universitätsdozent an der Budapester Universität, der ELTE, heute ist er Universitätsprofessor. 353
Die nächste in Ungarn publizierte Literaturgeschichte war das Buch von Beate Bartyik und Regine Thomas, Deutsche Literaturgeschichte für die Gymnasialklassenstufen III–IV (also für die letzten beiden Klassen vor dem Abitur, d. h. 11 und 12), zuerst herausgegeben 1984. Es handelt sich hierbei sozusagen um das Nachfolgebuch zu Tarnóis Büchlein. Die Verfasserinnen haben einen (ost)deutschen Hintergrund, was nicht zu übersehen ist. Manche Formulierungen im Buch sind etwas verwaschen, wofür man neben der Beachtung der von der DDR eingeforderten ideologischen Marschroute auch die Gattung Lehrbuch verantwortlich machen kann, doch irritieren immer wieder ganz andere Ungenauigkeiten: So wird man bereits im zweiten Absatz des Buches stutzig, wo man lesen kann, Karl der Große sei »800 vom Papst zum deutschen Kaiser gekrönt« worden... Das Problem Büchner haben die Verfasserinnen ganz einfach in den Griff bekommen: Georg Büchner existiert für ihre Literaturgeschichte, in der Platz für Heine, Hoffmann von Fallersleben, Freiligrath und Herwegh ist, überhaupt nicht. Man kann dies sicherlich als ein Beispiel betrachten, welches zeigt, um wie vieles Schulbücher jeweils hinter dem allgemeinen wissenschaftlichen Konsens hinterherhinken. Angemerkt werden sollte noch soviel: 1982 war das gesamte literarische Werk Büchners und eine Auswahl aus seinen Briefen sowie das bereits erwähnte Buch von Edschmid auf Ungarisch erschienen – für Büchners Anerkennung als ein grundlegender Autor und Vorbereiter der Moderne waren in diesen Jahren alle Hindernisse aus dem Weg geräumt.
Seit der politischen Wende 1990 Seit der politischen Wende 1990 sind bis auf eine Ausnahme nur Literaturgeschichten (auch) über die deutschsprachige Literatur in Ungarn erschienen, die das Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit darstellen. Die einzige Ausnahme stellt Miklós Györffys Buch Kurze Geschichte der deutschen Literatur [A német irodalom rövid története] aus dem Jahre 1995 dar. Bei der Entstehung spielte der Markt, spielten Marktmechanismen insofern eine Rolle, als dass der renommierte und früher besonders auf fremdsprachliche Publikationen spezialisierte Budapester Corvina Verlag für seine neue Reihe »Universitätsbibliothek« geeignete Publikationen suchte. Für Györffy war es zugleich seine Habilitationsschrift. Er arbeitet als Professor an der ELTE, am Lehrstuhl für vergleichende Literatur354
wissenschaften und ist ein sehr guter Übersetzer ins Ungarische. So übersetzte er u. a. Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann und war bereits in den 1970er Jahren als Verlagsredakteur maßgeblich beteiligt am Zustandekommen der ungarischen Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften, was damals weit über ein rein literarisches Ereignis hinausging. Im Vorwort seiner Literaturgeschichte nennt Györffy sowohl Szerb als auch Halász als Vorbilder, und betont, vor allem den letzteren weder umgehen noch übertreffen zu wollen: »ich setze fort und variiere, was er begonnen, ja ausgearbeitet hat«. 26 Georg Büchner kommt gemeinsam mit Grabbe im Kapitel »Anfänge des modernen Dramas« vor, wobei die Betonung auf Büchner liegt, dem doppelt soviel Platz in der Darstellung eingeräumt wird. Györffy geht auf alle Werke Büchners, die Flugschrift inklusive, ein, wobei er dies sehr nüchtern und frei von allen ideologischen Vorgaben tun kann. Besonders wichtig ist ihm, die Einbettung Büchners in die Kultur des 20. Jahrhunderts vor Augen zu führen, weshalb er nicht nur auf das Interesse der Expressionisten an Büchner sowie Alban Bergs Oper Wozzeck verweist, sondern auch auf den in Ungarn aufgeführten Film von Werner Herzog sowie die 1993er, relativ freie Woyzeck-Verfilmung des ungarischen Filmregisseurs János Szász. Zusammenfassend kann man zu Györffy feststellen: Sein Buch ist eine kurze, sachliche Zusammenfassung, ohne subjektive Elemente, in einer sehr nüchternen Diktion vorgetragen. Hier findet sich all das, was man als Basiswissen über die einzelnen Autoren anführen kann. Büchners Bedeutung wird markant unterstrichen. 1994 veröffentlichten Karl Keiner und Gábor Kerekes ihren deutschsprachigen Band Deutsche Literatur, der als Lehrbuch für Germanistikstudenten gedacht war, in dem Büchner als wichtigster Dramatiker des Vormärz vorgestellt wird und mit Woyzeck H4,5 (Woyzeck rasiert den Hauptmann) vertreten ist. Da ich selbst einer der Verfasser und Herausgeber dieses Bandes bin, kann ich mich zu unseren Überlegungen und Zielen direkt äußern: Es war für uns eine Selbstverständlichkeit, Büchner mit aufzunehmen, und auch unsere Formulierung, der Woyzeck sei das »bis heute wirksamste Bühnenwerk des 19. Jahrhunderts« 27 halte ich nicht für übertrieben. ––––––––– 26 Györffy, S. 7: »[…] azt folytatom és variálom, amit ŋ elkezdett, sŋt kidolgozott.« 27 Keiner/Kerekes, S. 231.
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Wie sehr Büchner inzwischen – d. h. um die Jahrtausendwende – im literarischen Bewusstsein Ungarns verankert war, belegt 2003 die Veröffentlichung der ersten »Gesamtausgabe« seiner Werke auf Ungarisch im Budapester Osiris-Verlag, die die fiktionalen Werke, den Hessischen Landboten sowie die Briefe umfasst und auf der von Henri Poschmann herausgegebenen, 2002 in Frankfurt am Main als »InselTaschenbuch« veröffentlichten Ausgabe von Georg Büchners Sämtliche[n] Werke[n] basiert. In Kurze Geschichte der Literatur von Tibor Gintli und Gábor Schein aus dem Jahre 2003 handelt es sich um den ersten Band einer Literaturgeschichte, die eine Geschichte der Weltliteratur sein will, angefangen mit den Höhlenzeichnungen der Alt- und Jungsteinzeit. Band I endet mit der Romantik, Band II, erschienen 2007, setzt die Darstellung bis in die Gegenwart fort. Hier findet sich innerhalb des – gerade für Büchner nicht stimmig, nämlich »Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts« benannten – ersten Teiles, im Abschnitt »Das europäische und das ungarische Drama« innerhalb des Titels »Die Geburt des bürgerlichen Dramas« ein eigenständiges Kapitel, das den Namen Büchners trägt.28 Das Hauptgewicht des Kapitels liegt auf Büchner – und vor allem auf dem Danton sowie auf der Frage nach der Rolle des Individuums; zitiert werden aus dem Werk Dantons Worte (II,5): »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!« –, doch wird hier im gleichen Kapitel auch Friedrich Hebbel vorgestellt, wobei durch die Wahl des Kapiteltitels keinerlei Zweifel an der Frage gelassen wird, welcher Autor als der für die weitere Geschichte der Dramatik wichtigere angesehen wird. Georg Büchner nimmt in dieser Literaturgeschichte, so knapp der vorhandene Raum auch bemessen sein mag, einen prominenten Platz ein. Die beiden letzten, für uns relevanten Publikationen tragen beide den Titel Weltliteratur. In dem von Imre Madarász 2004 herausgegebenen Band finden sich zunächst Zusammenfassungen der Nationalliteraturen, und danach Porträts ausgewählter Autoren. Aus der deutschsprachigen Literatur haben lediglich Brecht, Goethe, Heine, Hölderlin, Kafka, Thomas Mann und Schiller ein Porträt erhalten. Das Kapitel »Die deut––––––––– 28 Tibor Gintli, Gábor Schein: Az irodalom rövid története. A realizmustól máig [Kurze Ge-
schichte der Literatur. Vom Realismus bis heute], Bd. 2, S. 152–156.
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sche Literatur« hat die Germanistin Gabriella Hima, damals an der Budapester Gáspár Károli Universität der Ungarischen Reformierten Kirche, verfasst. Ihr Beitrag ist in jeder Hinsicht sehr reflektiert und korrekt gehalten. Angesichts des knappen Umfanges mag die kurze Erwähnung Büchners enttäuschen, doch fällt sie etwa so lang aus wie die Vorstellung Grabbes und Hebbels zusammen, alle fiktionalen Werke Büchners werden genannt. Das letzte Beispiel dieses Überblicks über die in Ungarn veröffentlichten Literaturgeschichten stellt hinsichtlich der Präsentation Büchners in gewisser Weise einen Rückschritt dar. Der von József Pál 2005 beim Budapester Akademie Verlag veröffentlichte, ebenfalls Weltliteratur betitelte Band umfasst genau 1000 Seiten und wurde von mehr als zwei Dutzend Beiträgern verfasst. Dieses Buch erschien in der Reihe der nach dem Verlag benannten Akademie-Handbücher. Der Herausgeber ist an der Universität in Szeged beheimatet, und entsprechend wurden die Beiträge von Mitarbeitern der Universität Szeged verfasst. Georg Büchner wird im Kapitel »Zwischen Restauration und Revolution (1815–1848)« erwähnt. Das Kapitel, in dem auf den Materialismus und Rationalismus Büchners hingewiesen, die limitierten Möglichkeiten historischer Persönlichkeiten zum Handeln am Beispiel des Danton und die Ausgeliefertheit am Beispiel des Woyzeck angesprochen werden, verfasste Géza Horváth. So korrekt die Bemerkungen auch sind, man hätte noch gerne einige Sätze zur Modernität Büchners gelesen, denn so – eingereiht zwischen Grillparzer, Nestroy, Grabbe einerseits und Hebbel, Mörike, Lenau und dem Jungen Deutschland andererseits – scheint Büchner nur ein beliebiger Autor unter vielen anderen zu sein.
Fazit Ein Überblick über die in Ungarn bis ins Jahr 2009 veröffentlichten Literaturgeschichten zeigt, wie Büchner erst sehr langsam bekannt wird, dann nach dem Zweiten Weltkrieg aber in einer Zeitspanne von etwa 30 Jahren als einer der wichtigsten deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts Anerkennung findet. Verbunden war dieser Prozess einerseits mit der Entwicklung der Bekanntheit und der Einschätzung Büchners im deutschen Sprachraum sowie andererseits den jeweiligen (kultur- )politischen Konstellationen in Ungarn. 357
DOKUMENTE UND MATERIALIEN
Eine Kinderschreckgestalt? Nochmals Bemerkungen zur ›Habergeise‹ und Büchners Lenz anlässlich der Veröffentlichung der volkskundlichen Habilitationsschrift Untersuchungen zur Mythologie des Kindes (Berlin 1933) von Richard Beitl Von Ariane Martin (Mainz) Bald nach dem knapp drei Wochen vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 andauernden problematischen Aufenthalt des Dichters J. M. R. Lenz in seiner Gemeinde verfasste der Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im Steintal einen Bericht Herr L......, in dem er über seinen Gast mitteilte: »Meine Mägde die in dem Kindsstübgen unter ihm schliefen, sachten, sie hätten oft, insunderheit aber in selbiger Nacht ein brummeln gehöret das sie mit nichts als mit dem Thon einer Habergeise zu vergleichen wußtem [sic!]. Vielleicht war es sein Winseln mit holer, fürchter licher, Verzweiflender Stimme.«1
Nach dem Tode Oberlins im Jahre 1826 in dessen Nachlass von Ehrenfried Stoeber aufgefunden, gelangte dieser Bericht in einer Abschrift an Georg Büchner, der im Frühjahr 1835 in Straßburg daran gegangen war, einen Prosatext über den »gestrandeten Poeten« (Briefwechsel, S. 68), wie Lenz von Gutzkow im Brief an Büchner vom 12. Mai 1835 genannt wurde, zu verfassen. Er sei an »allerhand interessante Notizen über [...] einen unglücklichen Poeten Namens Lenz« (ebd., S. 83) geraten, schrieb Büchner selbst den Eltern im Oktober 1835, wobei bei diesen Notizen der unpublizierte Bericht Oberlins das wichtigste Material darstellte, da er Büchner als Hauptquelle für sein Erzählprojekt diente. Als Karl Gutzkow das von Büchner hinterlassene Erzählfragment im Januar 1839 posthum nach einer Abschrift Wilhelmine Jaeglés im Telegraph für Deutsch––––––––– 1
»Lenzens Verrückung«. Chronik und Dokumente zu J. M. R. Lenz von Herbst 1777 bis Frühjahr 1778. Hrsg. v. Burghard Dedner, Hubert Gersch u. Ariane Martin. Tübingen 1999 (Büchner-Studien, Bd. 8), S. 151.
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land erstmals publizierte, hatte die Passage über die Wahrnehmung der Mägde einen geringfügig anderen Wortlaut. Es war der Begriff ›Habergeise‹ durch ›Haberpfeife‹ ersetzt: »Die Mägde, die in der Kinderstube unter ihm schliefen, sagten, sie hätten oft, insonderheit aber in selbiger Nacht, ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone einer Haberpfeife zu vergleichen wußten. Vielleicht war es sein Winseln, mit hohler, fü[r]chterlicher, verzweifelnder Stimme.« (GW VIII, S. 87)
Damit schließt die sechste von acht Fortsetzungsfolgen. Auf Gutzkows Erstdruck berufen sich neuere kritische Editionen des Lenz, so die Frankfurter Ausgabe und die Marburger Ausgabe, da Büchners Handschrift und die von Jaeglé für Gutzkow angefertigte Abschrift verschollen sind. Anstatt ›Habergeise‹ wie in Oberlins Bericht steht in Büchners Lenz nun ›Haberpfeife‹, wobei man sich bei den Sacherläuterungen zu beiden Begriffen schwer getan hat. So bemühte sich Henri Poschmann zwar 1992 darum, in der Frankfurter Ausgabe Hinweise auf die Bedeutung des Begriffs bei Oberlin zu geben, ließ aber offen, was man sich unter einer ›Haberpfeife‹ vorzustellen habe und verwies auf die Forschungsdiskussion. Das Lemma »Haberpfeife« ist in der Frankfurter Ausgabe folgendermaßen erläutert: »Bei Oberlin ›Habergeise‹, d. i. im Elsässischen ›Brummkreisel‹. Im Oberdeutschen ist ›Habergeiß‹ (auch Himmelsziege) seit dem 15. Jahrhundert als Bezeichnung einer mit Dämonen in Verbindung gebrachten Vogelart belegt. L [Lehmann] konjizierte nach Oberlins Bericht zu ›Habergeise‹, in der ungerechtfertigten Annahme, es müßte sich bei ›Haberpfeife‹ um eine Verlesung handeln (Noten, S. 27. Zu der ausgedehnten aber wenig ergiebigen textkritischen Diskussion um ›Haberpfeife oder Habergeise‹ vgl. Th. M. Mayer, Bemerkungen und zuletzt W. Hinderer, Lenz, S. 65, Anm. 9).« (P I, S. 860.)
Verfolgt man diese Hinweise auf die Forschungsdiskussion, dann stößt man auf Ausführungen von Hubert Gersch zu semantischen Differenzen zwischen ›Habergeise‹ in Oberlins Bericht und ›Haberpfeife‹ im Erstdruck des Lenz, die sich als Forschungsschelte zu erkennen geben, einen 1981 im Georg Büchner Jahrbuch publizierter Beitrag mit dem polemischen Titel Aus Forschung und Leere: Eine Haberpfeife ist eine Verlesung ist eine
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Habergeise ist eine Schnepfe.2 Thomas Michael Mayer hat 1985 die textkritischen Ergebnisse Gerschs zum Lenz sachlich verteidigt,3 Walter Hinderer hat 1990 in einer längeren Anmerkung Gerschs Erkenntnisse kritisch mahnend relativiert.4 Der gegenständliche Ertrag des umstrittenen Aufsatzes von Gersch besteht unter anderem darin, dass er zum Begriff der ›Habergeise‹ bei Oberlin eindeutig Stellung genommen hat, indem er eine ganz bestimmte Bedeutung als gültig erklärte. Mit der ›Habergeise‹ sei ganz »eindeutig ein Kinderspielzeug gemeint: Der Brummkreisel«, welcher beim Drehen Geräusche unterschiedlicher Tonhöhe nach sich ziehe, »[a]ndere Bedeutungen«, etwa aus dem Grimmschen Wörterbuch (der Artikel »Habergeisz« bei Grimm mit vier angegebenen Bedeutungen ist in Gerschs Aufsatz faksimiliert), kämen »nicht in Frage.«5 Nachgewiesen hat der Verfasser die ›Habergeise‹ als Brummkreisel (eine Bedeutung, welche in der Frankfurter Ausgabe dann auch angeführt ist) nach einem Wörterbuch der Straßburger Mundart von 1896.6 Angesichts der Empörung oder Erbitterung des Verfassers darüber, dass in Editionen des Lenz die ›Haberpfeife‹ aus Gutzkows Erstdruck kurzum unter Berufung auf Büchners Hauptquelle zu ›Habergeise‹ emendiert worden ist, kommt ihm selbst doch das Verdienst zu, diesen Erstdruck als verbindliche Grundlage für kritische Lenz-Editionen sozusagen entdeckt zu haben, verwundert es, dass seine Vorschläge zur Bedeutung des Begriffs ›Haberpfeife‹ weniger klipp und ––––––––– 2 3 4
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Vgl. Hubert Gersch: Aus Forschung und Leere: Eine Haberpfeife ist eine Verlesung ist eine Habergeise ist eine Schnepfe. In: GBJb 1 (1981), S. 243–249. Vgl. Thomas Michael Mayer: Bemerkungen zur Textkritik von Büchners »Lenz«. In: GBJb 5 (1985), S. 184–197. Vgl. Walter Hinderer: Lenz. »Sein Dasein war ihm eine notwendige Last.« In: Georg Büchner. Dantons Tod – Lenz – Leonce und Lena – Woyzeck. Stuttgart 1990 (= Interpretationen), S. 63–117., hier S. 65f., Anm. 9. Gersch: Aus Forschung und Leere (s. Anm. 2), S. 244. Vgl. ebd. S. 245 das Faksimile des Artikels »Habergeisz« aus dem Deutschen Wörterbuch. Vgl. ebd., S. 244f. Hier kann nun ein weiterer Beleg aus einer früheren Quelle angeführt werden. »Kreisel schlagen« sei ein Kinderspiel: »das Treiben des Brummtopfes mittelst der Geißel, wie es im 17. Jahrh. zu Zürich galt«, nenne man »›Habergeiß ziehen‹ […]. Habergais ist sein Name in Straßburg: ›wie ne Hawwergais schnurren und brumme‹ […] gaißen ist elsässisch klettern […], Habergais daher fränkischer Name der langfüßigen Kornspinne«. Ernst Ludwig Rochholz: Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Gesammelt und sitten- und sprachgeschichtlich erklärt. Leipzig 1857, S. 420.
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klar ausgefallen sind als im Falle des Begriffs bei Oberlin. Nach der Vermutung, »Büchners Abänderung« des Wortes sei eine »Neubildung« (und also nicht nachweisbar), folgen kleinteilige Mutmaßungen zu lautlichen Anklängen des Worts an bestimme Musikinstrumente, an das »›Haberrohr‹, eine Schalmei bzw. Hirtenpfeife,« oder »an die hessische ›Happe‹, die bekannte Kinderpfeife aus Weidenrinde.«7 Hubert Gersch hat 2001 den Lenz-Band der Marburger Ausgabe mitherausgegeben. Dort ist das Lemma »Brummen bis Haberpfeife« folgendermaßen erläutert: »[D]as in Oberlins Bericht überlieferte Wort ›Habergeise‹ (O 180) bedeutet im alemannischen Sprachraum Brummkreisel, so auch belegt bei Charles Schmidt, Wörterbuch der Straßburger Mundart, S. 49. Auch Grimm X, 82f. nennt für ›Habergeisz‹ als die letzte von vier Bedeutungen den Brummkreisel. Dagegen belegt das Südhess. Wb. III, 20f. ›Habergeiß‹ nur in den Bedeutungen einer verspätet jungenden Ziege, eines mageren Pferdes, einer übergroßen mageren Frau. – Vmtl. war Büchner deshalb die Wendung ›Ton einer Habergeise‹ im gegebenen Zusammenhang unverständlich, oder er hielt sie für unverständlich. Sein eigenes, mglw. in Anlehnung an ›Haberrohr‹ gebildetes Kompositum Haberpfeife ist nicht nachgewiesen.« (MBA 5, S. 466.)
Es folgen noch einige Hinweise auf Blasinstrumente oder Pfeifen sowie der Hinweis auf den erwähnten Aufsatz von Gersch, ein wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreiches Dokument zu einem vor knapp dreißig Jahren offenbar heftig geführten Forschungsstreit, der hier aber ebenso wenig interessiert wie die Frage, wie anstelle des Worts ›Habergeise‹ aus Büchners Quelle das bis dahin unbekannte Wort ›Haberpfeife‹ in Gutzkows Erstdruck des Lenz hineingeraten ist. Mit Blick auf Kenntnisse Büchners wäre allenfalls die zoologische Bedeutung des Begriffs ›Habergeise‹ zu bedenken, die 1815 in Okens Lehrbuch der Naturgeschichte zu finden ist. Der Naturforscher Lorenz Oken hat die »Habergeis«8 dort schlicht als eine Spinne bestimmt. Zusammenfassend ist festzustellen: Die neueren kritischen Editionen des Lenz orientieren sich an den von Hubert Gersch vorgelegten Erkenntnissen – sowohl was die ›Habergeise‹ aus Oberlins Bericht in der ––––––––– 7 8
Gersch: Aus Forschung und Leere (s. Anm. 2), S. 246. Okens Lehrbuch der Naturgeschichte. Teil 3: Zoologie. Jena 1815, S. 405. Der Band ist im selben Jahr auch unter dem Titel Okens Lehrbuch der Zoologie erschienen. Die ›Habergeise‹ als Spinne ist auch in Okens Naturgeschichte für Schulen. Leipzig 1821, S. 735 u. 998 erwähnt.
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Bedeutung eines Brummkreisels angeht, eines Kinderspielzeugs also, als auch was die Beibehaltung des durch den Erstdruck überlieferten Worts ›Haberpfeife‹ betrifft, wobei man sich bei den Erläuterungen hierzu mehr oder weniger windet. Immerhin war dieses Wort außer in Gutzkows Erstdruck des Lenz, der Büchners Erzählfragment als einziger Textzeuge überliefert, ansonsten nicht nachweisbar.9 Der Marburger Ausgabe zufolge habe man dabei in irgendeiner Weise an ein Blasinstrument zu denken, welches im vagen Kontext mit Kindern stehe. Über diesen Kontext stehen die ›Habergeise‹ aus der Quelle und die ›Haberpfeife‹ im Büchner zugeschriebenen Text in einer Verbindung, die Oberlins Bericht mit dem »Kindsstübgen«10 vorgegeben hat und die Büchner mit der »Kinderstube« (GW VIII, S. 87) entsprechend reproduziert hat. Dieser Kontext ist auch bei den folgenden Hinweisen zentral, die allerdings nicht das rätselhafte Wort ›Haberpfeife‹ betreffen, sondern lediglich begriffliche Implikationen des Worts ›Habergeise‹, welche nicht auf den Brummkreisel zu reduzieren sind, auch wenn Hubert Gersch dafür plädiert hat, alle weiteren Bedeutungen »auszumustern«,11 die im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm angegeben sind. Eine der im Deutschen Wörterbuch angegebenen Bedeutungen steht in Verbindung mit den Untersuchungen Richard Beitls über Kinderschreckgestalten, von denen gleich näher die Rede sein soll, denn in dessen Habilitationsschrift ist nachzulesen, dass eine Habergeiß eine im süddeutschen Sprachraum verbreitete Kinderschreckgestalt war, auch wenn die Habergeiß inzwischen weniger bekannt ist als etwa der Bi-BaButzemann. Diese neue Information lässt Rückschlüsse zu auf jene in Oberlins Bericht erwähnte ›Habergeise‹, die in Büchners Quelle und in seinem Text im Kontext Kindheit assoziiert ist. Vorab sind die insgesamt vier Bedeutungen nochmals kurz zu vergegenwärtigen, die das Deutsche Wörterbuch im Artikel »Habergeisz« angibt. Dort ist der Brummkreisel als vierte Bedeutung für ›Habergeiß‹ aufge––––––––– 9 Inzwischen ist es nachweisbar. Es findet sich beispielsweise in einem Gedicht von
Ernst Moritz Arndt. »Ihre Haberpfeifen tönten wunderhell«, heißt es in diesem Gedicht von den in der »Gespensterstunde« lärmenden »Elfenleute[n]«. E. M. Arndt: Blütenlese aus Altem und Neuem. Leipzig 1857, S. 221 u. 218. Ich danke Burghard Dedner für diesen Hinweis. 10 »Lenzens Verrückung« (s. Anm. 1), S. 151. 11 Gersch: Aus Forschung und Leere (s. Anm. 2), S. 244.
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führt (darauf bezieht sich, wie gesagt, die Marburger Ausgabe explizit, die Frankfurter Ausgabe implizit). Als erste Bedeutung firmiert eine auch als ›Himmelsziege‹ (darauf nimmt die Frankfurter Ausgabe implizit ebenfalls Bezug) oder ›Himmelsgeiß‹ oder ›Haberziege‹ bezeichnete Schnepfe mit dem Hinweis: »der vogel läszt zur begattungszeit hoch in der luft einen ton hören, welcher dem fernen meckern einer ziege höchst ähnlich ist«,12 außerdem mit dem Hinweis: »es verknüpfen sich wol auch abergläubische vorstellungen mit diesem vogel«,13 der auch die zweite und dritte Bedeutung involviert. In der zweiten Bedeutung meint ›Habergeiß‹ eine Nachteule, deren Geschrei unheilverkündend sei und den Tod anzeige. Als dritte Bedeutung ist angeführt, der Name gehe »in Süddeutschland auch auf eine schreckgestalt, die man sich bald als vogel denkt [...], bald als ziege [...].«14 Dass mit der Schreckgestalt der Habergeiß im süddeutschen Kulturraum eine Kinderschreckgestalt gemeint war, die auch im elsässischen Steintal bekannt gewesen sein dürfte und als solche unmittelbar den Kontext betrifft, der hier zur Debatte steht, geht aus Richard Beitls Untersuchungen über Kinderschreckgestalten hervor, von denen nun die Rede sein soll, da diese Lesart der ›Habergeise‹ der Büchner-Forschung mit ihrem Interesse an der Hauptquelle des Lenz bisher nicht bekannt war. Nähere Aufschlüsse zur ›Habergeise‹ also gibt jene inzwischen fast achtzig Jahre alte volkskundliche Habilitationsschrift, die der Berliner Germanist und Volkskundler Richard Beitl (1900–1982) am 23. Februar 1933 unter dem Titel Untersuchungen zur Mythologie des Kindes an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin einreichte, die damals aber nicht mehr erscheinen konnte. Die empirische Untersuchung ist erst 2007 von Bernd Rieken und Michael Simon in einer kommentierten Ausgabe veröffentlicht worden.15 Sie präsentiert ––––––––– 12 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4. 2. Abteilung. Leipzig
1877. Nachdruck. Bd. 10. München 1984, Sp. 82.
13 Ebd. 14 Ebd. 15 Vgl. Richard Beitl: Untersuchungen zur Mythologie des Kindes (Habilitationsschrift, Berlin
1933). Hrsg. u. eingeleitet v. Bernd Rieken u. Michael Simon. Mit Beiträgen v. Klaus Beitl u. Thomas K. Schippers. Münster, New York, München, Berlin 2007. Dem Buch liegt eine CD-ROM bei, auf der sich umfangreiches Kartenmaterial findet. Die Sachinformationen sind im Folgenden dem Einleitungskapitel der Herausgeber ent-
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Ergebnisse eines ehrgeizigen Großprojekts, das unter der Bezeichnung »Atlas der deutschen Volkskunde« (kurz ADV) eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Volkskultur liefern sollte. Gefördert von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (später DFG) wurde ab 1928 ein umfassender Fragebogen entwickelt, der ab 1930 großflächig in deutschsprachigen Gebieten verteilt wurde, um die rücklaufenden Antworten über eigens eingerichtete Landesstellen an eine Zentrale in Berlin zu leiten, wo das Material für die kartographische Darstellung aufbereitet und ausgewertet wurde. Es handelte sich um das damals größte geisteswissenschaftliche Forschungsvorhaben der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Richard Beitl, Assistent des Leiters der Zentralstelle des ADV, nutzte in der späten Weimarer Republik vergleichend die Nachforschungen zu Agrarbräuchen (eine in 150.000 Exemplaren verschickte Umfrage zum Thema mit allerdings nur 2.500 Rücksendungen), die Mitte des 19. Jahrhunderts der Germanist Wilhelm Mannhardt (1831–1880) angestellt hatte, ein eifriger Schüler der Brüder Grimm, dessen romantische Vorstellungen von ahistorisch gedachter Volkskultur oder Volksseele der junge Wissenschaftler nicht reproduzierte. Wilhelm Mannhardt hatte, was die ›Habergeise‹ angeht, dieses vor allem in der österreichischen Volksüberlieferung herumgeisternde Wesen 1855 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde als schreiende Schreckgestalt beschrieben: »Das schreien der habergeiß […] darf man nicht nachahmen, sonst kommen sie herbei und es läuft übel ab.«16 Einen solchen raunenden Ton in vagen Andeutungen sucht man dann bei Richard Beitl vergebens. »Statt spekulativer Blicke weit zurück in die Geschichte« erkennen die Herausgeber der Untersuchungen zur Mythologie des Kindes »den gezielten Versuch, historisch weitgehend verlässliches Quellenmaterial unter Beachtung standardisierter Vorgaben mit Phänomenen der Gegenwart in Beziehung zu setzen.«17 Beitl war bei der Auswertung des empirischen Materials (einschließlich desjenigen Mann––––––––– nommen: Warum wir Richard Beitls »Mythologie« von 1933 herausgeben. In: Ebd., S. XI– XLIV. 16 Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde. Hrsg. v. W. Mannhardt. Bd. 3. Göttingen 1855, S. 30. 17 Michael Simon, Bernd Rieken: Warum wir Richard Beitls »Mythologie« von 1933 herausgeben (s. Anm. 15) S. XVIII.
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hardts) einem modernen Wissenschaftsverständnis verpflichtet. Dieses Selbstverständnis zeigt sich etwa darin, dass er in seinen Ausführungen zur Habergeiß (sie trägt die Kartennummer 12918) dafür plädiert, auch bei dieser Kinderschreckgestalt zwischen sprachgeschichtlich etymologischer und mythologischer Bedeutung zu unterscheiden. Die wesentliche Passage dieser Ausführungen sei zitiert: »Wohl nicht in ihrer Entstehung, aber in ihrer allmählichen Entwicklung ist die Vorstellung von der Habergeiß eine der rätselhaftesten und groteskesten in der deutschen Volkssage. Im allgemeinen verbindet die Sage mit diesem Namen die Vorstellung eines nächtlichen Vogels. Über die Etymologie des Namens ist viel gedacht und geraten worden. Das Bild unserer Karte unterstützt die Ansicht, die Ranke im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens niedergelegt hat, wonach der erste Bestandteil des Wortes dem Namen der Getreideart gleichzusetzen sei. Es erscheint in den Fragebogen des ADV zweimal die schriftsprachliche Form ›Hafer‹ und andererseits keine Schreibung, die diese Gleichsetzung nicht erlaubte. Eine Frage bleibt natürlich, ob diese Einheitlichkeit nicht das Ergebnis einer nachträglichen und allgemeinen Volksetymologie darstellt. Soviel scheint uns sicher: Die Entwicklung des Nachtvogels Habergeiß zum Korndämon gleichen Wortlauts kann sich nicht so einfach vollzogen haben, wie es Ranke darstellt. Die Frage hätte im genannten Werk eine ebenso eingehende Untersuchung verdient, wie sie etwa der Bilwis fand, und mit gleichem Nutzen hätte vielleicht auch beim Stichwort ›Habergeiß‹ die sprachliche von der mythologischen Bearbeitung getrennt werden müssen. Die genaue Wortbedeutung von Habergeiß ist fast ebenso unsicher wie die von Nachtrabe. Vor allem der Ziegenmelker (auch = Nachtschwalbe), außerdem die Nacht- und Ohreule, der Uhu, und die Heerschnepfe werden Habergeiß genannt. Alle diese Vögel sind im agrarischen Fruchtbarkeitsbrauch fast unbekannt und haben ihren vorzüglichen Aufenthalt nicht im Korn. Weniger bei Tag als am Abend und in der Nacht wird ihr Ruf gehört. Aber auch wenn einer dieser Vögel als Korndämon Geltung hätte, dann wäre es doch noch ohne Beispiel, daß der neue, aus der besonderen Funk––––––––– 18 Zugleich ist dies die Nummer der entsprechenden Pdf-Datei auf der dem Buch
beiliegenden CD, welche die handschriftlich angefertigten Karten enthält, die Grundlage der Studie. Karte 129 zeigt die Verbreitung der »Habergeiß« vor allem im österreichischen Raum, versehen mit diversen Markierungen und handschriftlichen Notizen sowie Zitaten aus den Umfrageergebnissen. Auffällig ist etwa die spezielle Notiz »Nachts: / ›Habergais, sagenhaftes Wesen, das bei Nacht herumspuckt‹ / ›bei Nacht: Habergeis‹«, aber ebenso interessant sind die allgemeinen Einträge wie »H., die Kinder hineinzieht. Ein böses Wesen« oder schlicht »H. allg. Ks« (= Habergeiß allgemeiner Kinderschreck).
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tion entstandene Name nun rückwirkend in zahlreiche Mythen Eingang fände, die weder mit dem Kornfeld noch mit dem Vegetationsmythus etwas zu tun haben. Wenn man auch die Ergebnisse des ADV hinzuzieht, gewinnt man aus dem Vergleich vielmehr den Eindruck, daß eine lautliche Ähnlichkeit oder Gleichheit zu einer sekundären Gleichsetzung des Inhaltes führte. Es gab die Habergeiß als tiergestaltigen Korndämon (die letzte Garbe trug noch 1865 in Bayern diesen Namen), und es gab das gleiche, in seinem ersten Bestandteil aber anders zu erklärende Wort als Bezeichnung der nächtlichen Vögel. Daß diese überhaupt mit einer Geiß verglichen wurden, beruht auf dem Schreien, Flügelsurren und besonders auf dem meckernden Rufen, das der Ziegenmelker zur Nachtzeit hören läßt. Durch die Gleichsetzung beider, verschieden abzuleitender Namen kam der nächtliche Vogel ins Kornfeld; andererseits nahm nun der ursprüngliche und ziemlich klar gedachte Korndämon Anteil an der mythischen Vielgestaltigkeit des gleichnamigen Vogels. In unseren Zeugnissen der Habergeiß als Kinderschreck finden wir keinen Hinweis auf die Gestalt eines Vogels. Auf das nächtliche Treiben wird zwar hingewiesen, aber daneben auch das ziegenartige Aussehen betont. Es ist eine Geiß, die mit langen Hörnern die Kinder sticht und in ihre Kirm (= Korb) wirft oder sie auffrißt. Die Unsicherheit der Vorstellung findet ihren Ausdruck in den Angaben ›sagenhaftes Wesen‹, ›böses Wesen‹. Auch allgemeiner Kinderschreck ist die Habergeiß. Weder in der Bezeichnung noch in den Attributen bemerken wir Sonderentwicklungen innerhalb des hier deutlich hervortretenden bayrisch-österreichischen Verbreitungsgebietes.«19
Dies dürfte auch für das weniger deutlich hervortretende elsässische (oder gar südhessische) Verbreitungsgebiet zutreffen. Die Habergeiß ist eine in ihrer Vielgestaltigkeit breit zu assoziierende Kinderschreckgestalt, deren nächtliches Treiben allerdings spezifisch ist und akustisch zum Ausdruck kommt, ganz abgesehen von dem Aspekt des Bedrohlichen, der sie ohnehin auszeichnet. Die historischen und systematischen Überlegungen Richard Beitls zur Habergeiß haben meines Erachtens Konsequenzen für das Verständnis der Hauptquelle von Büchners Lenz. Oberlins in der Kinderstube untergebrachte Mägde hatten zweifellos mit Kindern zu tun und damit auch mit Kinderschreckgestalten. Wenn diese angesichts der ungewohnten nächtlichen Geräusche des fremden Dich––––––––– 19 Richard Beitl: Untersuchungen zur Mythologie des Kindes (s. Anm. 15), S. 95f. Nicht zitiert
ist hier die originale Paginierung von Beitls Manuskript, welche die Edition in geschweiften Klammern mitteilt. Ebenfalls im Zitat übergangen sind die in der Edition reproduzierten originalen Anmerkungen und Literaturnachweise Beitls.
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ters massiv verängstigten einfachen Frauen aus dem abgelegenen Vogesental dessen Geräusche nicht anders als mit dem Ton einer »Habergeise zu vergleichen«20 wussten, dann kann man zwar als Bedeutung der ›Habergeise‹ mit guten Gründen einen Brummkreisel in Erwägung ziehen, ein harmloses Kinderspielzeug, aber auch einen gerade in seiner bedrohlichen Schemenhaftigkeit allgemeinen Kinderschreck wie die Habergeiß. Tatsächlich dürften die Kindsmägde im Hause Oberlins an einen Dämon gedacht und die mythologische Dimension der Habergeiß aktualisiert haben. Oberlin interpretierte diesen Ton jener von seinen Mägden beschworenen Habergeise als ein »Winseln«21 des psychisch angeschlagenen Gastes »mit hohler, fürchterlicher, verzweiflender Stimme«, wie es im Text heißt. Der Pfarrer dachte vermutlich an die allgemeinen Vorstellungen von der Habergeiß als eines schreienden Nachtvogels. Er dürfte sich aber über die mythologische Komponente dieses sagenhaften Wesens gerade auch als Kinderschreckgestalt im Klaren gewesen sein. Die nun veröffentlichte volkskundliche Habilitationsschrift aus dem Jahr 1933 eröffnet in ihrer Auswertung und Kommentierung auch historischen Materials eine neue Lesart des Details ›Habergeise‹ in der Hauptquelle des Lenz, indem sie die Habergeiß als einen ehedem im süddeutschen Raum bekannten Kinderschreck dingfest macht – mitsamt ihrem schillernd rätselhaften, gleichwohl aber semantisch spezifisch zu konturierenden Bedeutungsspektrum.
––––––––– 20 »Lenzens Verrückung« (s. Anm. 1), S. 151. 21 Ebd.
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Die Geschwister Georg Büchners in der Revolution von 1848/49 Von Matthias Gröbel (Jugenheim)
1. Als im Februar 1848 in Paris eine Revolution ausbrach, die wenig später auch nach Deutschland übergreifen sollte, lebten die Eltern Georg Büchners, Ernst und Karoline Büchner, sowie deren Töchter Mathilde (32 Jahre) und Luise (26 Jahre) in der Grafenstraße in Darmstadt. Ernst Büchner war damals 61, Karoline Büchner 56 Jahre alt. Der nach Georg zweitälteste Sohn Wilhelm (31 Jahre) hatte 1842 eine Firma gegründet, die 1845 nach Pfungstadt verlegt wurde. Ebenfalls im Jahre 1845 hatte Wilhelm geheiratet. Er lebte im Februar 1848 mit seiner Frau in Darmstadt, bevor er im Sommer 1848 nach Pfungstadt umzog. Die beiden jüngeren Söhne, Ludwig und Alexander, studierten noch in Gießen. Ludwig wurde am 29. März 1848 24, Alexander war 20 Jahre alt. Vor allem von Ludwig und Alexander wird die Rede sein, wenn es um die Beteiligung der Familie Büchner an der Revolution von 1848 geht. Aber auch die anderen Geschwister Büchner haben an ihr zumindest Anteil genommen. Was das Verhältnis der Eltern zur Revolution angeht, so fehlen dazu einschlägige Quellen, um ein Urteil treffen zu können. Das Verhältnis der Brüder Ludwig und Alexander Büchner zur Revolution von 1848 ist dagegen mit Hilfe einer großen Zahl an Quellen zu rekonstruieren. Beide haben sich auch in Erinnerungen über die Revolution und ihre Beteiligung an ihr geäußert. Zunächst sollen deshalb die politischen Aktivitäten von Ludwig und Alexander Büchner in den Jahren 1848 und 1849 an vier Beispielen beleuchtet werden.
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2. Im Mai 1848 erschienen in der Darmstädter Zeitung drei Anzeigen, in denen sich nacheinander Ludwig Büchner, dann Alexander Büchner und schließlich Vater Ernst Büchner gegen Verleumdungen verwahrten, Ludwig und Alexander würden in Oberhessen die Bauern zur Rebellion aufreizen. Den Anfang machte Ludwig (Louis) Büchner mit einer aus Gießen nach Darmstadt geschickten, vom 13. Mai datierten Anzeige. In ihr heißt es: »Mehrere dringende Briefe aus Darmstadt nöthigen mich zu der folgenden Erklärung: Ich weiß nicht, durch was meine Persönlichkeit die Aufmerksamkeit von Menschen erregt hat, welche sich bemüßigt finden, in Darmstadt in kleineren und größeren Kreisen auszubreiten, ich mache mir ein Geschäft daraus, mit meinen Freunden in der Provinz Oberhessen umherzureisen und die Bauern aufzureizen – zu was, wird nicht näher angegeben. Dazwischen laufen Andeutungen von ›Sensenmännern‹, ›Aufmerksamwerden der Staatsbehörde‹, und ›Verhaften‹. – Wenn auch die letzten politischen Ereignisse meine lebhafteste p a s s i v e Theilnahme in Anspruch nahmen, so beschränkte sich doch, meinen Arbeiten zu meinem noch nicht ganz beendigten, medicinischen Examen halber, meine active Theilnahme auf wenige Worte, welche ich hin und wieder in h i e s i g e n Volksversammlungen sprach. Ich hielt dabei allerdings mit meinen Ansichten nicht hinter dem Berge, weil ich bisher glaubte, das Haben und Aussprechen einer politischen Gesinnung sei in der letzten Zeit officiell erlaubt worden; und es mag dies die erste Anregung zu jenen perfiden Denunciationen einer Parthei gegeben haben, welcher auch die schlechtesten Mittel gegen Andersdenkende gerecht sind, weil ihre Sache die guten unmöglich macht. Ich bin n i e in einem oberhessischen Dorfe gewesen, um mit den Bauern wegen politischen Dingen zu verhandeln, geschweige denn, sie zu irgend einer Ungesetzlichkeit aufzufordern. Alles, was darüber erzählt wird, beruht auf den reinsten Lügen und Erfindungen. Ich habe nur einmal einer wegen Wahlangelegenheiten in Lich abgehaltenen Volksversammlung beigewohnt, aber auch hier mich völlig passiv verhalten und nicht einmal in kleineren Kreisen mich über politische Dinge ausgesprochen. Eine Bearbeitung der Bauern, (auch ohne Abhaltung durch ein Examen,) erscheint von meiner Seite um so unmöglicher, als meiner oft ausgesprochenen Ansicht zufolge die s. g., der politischen Bildung entbehrenden, Massen bei Staats-Umwälzungen nie betheiligt sind, indem sie gewissermaßen nur die Herrschaft wechseln, und daß solche Herrschaften immer nur von dem kleinen, einsichtigen Kern der Bevölkerung, (in dessen Bewußtsein sie längst präcudiv ist) waren gemacht worden, und gemacht werden sollen. – Ich erkläre die Urheber und Ausbreiter der obigen,
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jeder Beweisführung entbehrenden Gerüchte für böswillige Lügner und Verläumder und werde, sollten mir Namen solcher genannt werden, wo möglich zu gerichtlichen Mitteln meine Zuflucht nehmen. Ich fordere hiermit meine Familie in Darmstadt auf, dasselbe zu thun.«1
Am 18. Mai 1848 folgte Alexander Büchner mit einer deutlich kürzeren Erklärung: »Ich habe gehört, daß sich in Darmstadt das Gerücht verbreitet hat, ich zöge in der hiesigen Gegend auf den Dörfern herum und predige den Bauern Aufruhr. Derartigen, meiner Person höchst nachtheiligen Nachreden trete ich hiermit entschieden entgegen, indem ich sie für unbegründet und ihre Erfinder und Verbreiter so lange für böswillige Verläumder erkläre, bis sie mir derartige Handlungen nachgewiesen haben werden. Auf größeren Volksversammlungen hier, in Friedberg, Lich habe ich, wie viele Andere, gesprochen, allein darin wird kein vernünftiger Mensch ein Herumlaufen auf den Dörfern und Aufwiegeln der Bauern sehen.«2
Am 28. Mai 1848 wandte sich schließlich der Vater, Dr. Ernst Büchner, mit folgender Erklärung an die Öffentlichkeit: »Demjenigen sogenannten Ehrenmann, der im Laufe dieses Monats die infame Frechheit hatte, auf dem Exerzierplatze vor dem Rheinthor einem anderen daselbst reitenden Herrn die lügenhafte Mittheilung zu machen, daß meine Söhne L o u i s und A l e x a n d e r sich der A u f w i e g e l e i und A u f r e i z u n g gegen die bestehende Ordnung schuldig gemacht, erkläre ich hiermit, daß ich ihn so lange für einen ehrlosen Lügner halte, bis er mir die Wahrheit seiner Aussage vor Gericht bewiesen haben wird. Zugleich erkläre ich dem mir vielleicht nicht unbekannten Lügner, daß, wenn er nicht sogleich Ordre parirt, zwar nicht nach Spandau marschirt, ich ihn aber so lange verfolgen werde, bis er mir und meinen Söhnen die erforderliche Satisfaction gegeben haben wird. Er möge hierbei bedenken, daß auch ich längst vor ihm die Waffen der Ehre getragen und daß der Weg zur Kränkung meiner oder meiner Kinder Ehre nöthigenfalls nur über meine Leiche führen dürfte.«3
Nun hatte sich die von Ernst Büchner erwähnte »bestehende Ordnung«4 im Großherzogtum Hessen und darüber hinaus in den weiteren Staaten des Deutschen Bundes seit dem 6. März 1848 erheblich verändert. Das ––––––––– 1 2 3 4
Darmstädter Zeitung, 19. Mai 1848, S. 790. Darmstädter Zeitung, 21. Mai 1848, S. 812. Darmstädter Zeitung, 29. Mai 1848, S. 858. Ebd.
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Organisieren von und das Reden auf Volksversammlungen, die Publikation von Zeitungen waren nun erlaubt. Insofern, so könnte man scharfsinnig schließen, hatten die Söhne Büchner keineswegs gegen die bestehende Ordnung aufgewiegelt. Damit wird allerdings das tatsächliche Engagement der Brüder Büchner in den Wochen seit Ende Februar 1848 und auch das dadurch erregte Aufsehen nur verschleiert. Alexander Büchner jedenfalls schrieb später über diese Zeit: »In der Haupt- und Residenzstadt wurde unser Thun und Treiben sehr übel vermerkt, und es liefen donnergefaltete Briefe ein, welche uns jedoch sehr kalt ließen.«5 – Welche Gründe konnte die Aufregung in Darmstadt haben? Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass Ludwig und Alexander Büchner sich mit ihrem Auftreten und Handeln in »die Tradition des als Demagogen flüchtig gewordenen Bruders Georg«6 gestellt haben. Diese Tradition wurde in jenen Wochen und Monaten im Jahre 1848 lebendig dadurch, dass August Becker, einer der engsten Mitkämpfer Georg Büchners, noch im Februar 1848 aus seinem Schweizer Exil nach Gießen zurückkehrte. Vor allem seiner Erfahrung ist es zu verdanken, dass das Gießener Zeitungsprojekt – zunächst Der jüngste Tag, danach Wehr Dich – nicht nur zustande kam, sondern zwei Jahre überlebte. Alexander Büchner berichtet in seinen Erinnerungen, dass dieser »Exdemagoge aus den dreißiger Jahren, ehemaliger Theologe und Verschwörer, Freund und Anbeter meines verstorbenen Bruders Georg [...] sich sogleich an Louis und mich als Brüder seines unvergeßlichen Freundes Georg, an[schloß] und [...] uns den Plan [eröffnete], eine Parteizeitung herauszugeben«.7 Die um August Becker, Rudolf Fendt – eine weitere wichtige Figur im politischen Geschehen Oberhessens jener Jahre – und die Brüder Büchner entstandene politische Gruppe entwickelte einen Enthusiasmus, den Rudolf Fendt als »revolutionären Rausch der Märztage von 1848, wo ––––––––– 5 6 7
Alexander Büchner: Vorwort. In: Ludwig Büchner: Im Dienste der Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze aus Natur und Wissenschaft. Gießen 1900, S. V–XXIX, hier. S. XIV. Ebd., S. XIII. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr. Vor, während und nach. Von einem der nicht mehr toll ist. Gießen 1900, S. 180.
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uns Alles möglich, ja nicht unwahrscheinlich war«,8 bezeichnete. Ludwig Büchner berichtet davon, dass man sich in jenen Tagen in Gießen nur noch als ranggleiche »Bürger« verstand und mit »Du« anredete. Auch habe man sich gegenseitig geschworen, »für die ›Freiheit‹ leben und sterben zu wollen«.9 Diese Gruppe schloss sich schon »bald [...] zu einem ›republikanischen Club‹ zusammen« und hielt am 28. Februar 1848 eine »Volksversammlung von Studenten und Bürgern im Busch’schen Garten« in Gießen ab.10 Für diese Versammlung wollte man Carl Vogt als Präsidenten gewinnen, dieser habe aber mit Hinweis auf seine Beamtenstellung abgelehnt. Auch Christian Bansa, den in der Landboten-Zeit verfolgten Juristen, habe man damals nicht gewinnen können.11 Der erwähnte Enthusiasmus führte dazu, dass diese Gruppe verschiedene Projekte zugleich ins Leben rief. So gründete man eine Zeitung, die ab dem 6. März 1848 unter dem Titel Der Jüngste Tag in Gießen erschien. Damit besaß die Gruppe ein Medium, mit dem man in das Geschehen eingreifen konnte und in dem über alle weiteren Aktivitäten berichtet wurde; zum Beispiel über die etwa gleichzeitige Gründung einer Bürgerwehr. In der ersten Nummer der Zeitung Der Jüngste Tag vom 6. März 1848 führte die Gruppe um August Becker, die Brüder Büchner und Rudolf Fendt dazu aus: »Wir wollen eine Volksbewaffnung ähnlich der schweizerischen. Schon in der Schule und in der Zeit, wo es ihr Freude macht, soll unsre Jugend in dem W a f f e n s p i e l geübt werden und nicht erst wenn sie, aus Mangel an Uebung, steif geworden ist und alle Lust am Spiel verloren hat. Nur so können wir werden ein Volk von freien Kriegern und Bürgern, ein Volk, das sein Schwert in die Wagschale der Geschichte legen kann und das Nichts zu fürchten braucht, als den Einsturz des Himmels! Vor der Hand tragen wir darauf an, daß alle entbehrlich gewordenen Unteroffiziere des stehenden Heeres beauftragt werden die wehrbare Mannschaft des Landes im Gebrauch der Waffen zu üben. Keine lächerlichen Uniformen, keine rothen ––––––––– 8 [Rudolf Fendt:] Von 1846 bis 1853. Erinnerungen aus Verlauf und Folgen einer akademi-
schen und politischen Revolution. Darmstadt 1875, S. 85.
9 Ludwig Büchner: Erinnerungen eines Zweiundsiebzigjährigen an Frankfurter Vergangenheiten.
In: Ders.: Kaleidoskop. Skizzen und Aufsätze aus Natur und Menschenleben. Gießen 1901, S. 170–183, hier S. 172. 10 [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 8), S. 85 u. S. 87–89. 11 Vgl. ebd., S. 85f.
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Kragen! Der einfache wohlfeile und kriegerische Kittel sey vor der Hand unser Soldatenkleid.«12
Am 4. oder 5. März – im Jüngsten Tag vom 6. März steht »[g]estern«13 – wurde die Gießener Bürgerwehr in »Rotten« eingeteilt, die ihrerseits ihre Führer wählten. Der »provisorische Oberbefehlshaber der Bürgergarde« sollte »durch geheime Abstimmung ernannt werden«.14 Vermutlich am 7. März 1848 wurde auf diese Weise Carl Vogt »mit Stimmenmehrheit zum Oberbefehlshaber der Bürgergarde erwählt«.15 Ludwig Büchner wurde ebenfalls durch Wahl nicht nur die Funktion eines Rottenführers, sondern auch die eines Hauptmanns einer (aus mehreren Rotten bestehenden) Kompanie übertragen. Ludwig Büchners aus »Studenten und jungen Bürgern« gebildete Rotte wurde wegen ihrer »radikalen Gesinnung« die »Radikal-Rotte« genannt. Ihre Mitglieder gingen davon aus, »daß demnächst die Republik in Deutschland proklamiert werden würde«.16 Rudolf Fendt erinnert sich, Mitglied dieser Rotte gewesen zu sein. Sie habe »wegen ihrer Unbotmäßigkeit und muthwilligen Streiche die ›Rotte Korah‹ [geheißen]. Würdiger Rottenführer dieser Schwefelbande war Louis Büchner, der mit uns seine schwere Noth hatte, übrigens auch den Dilettanten fast bei jeder Gelegenheit verrieth.«17
Ähnliches behauptete Alexander Büchner, der zur gleichen Rotte gehörte, die bei ihm aber »Wallthorrotte« heißt, nach dem Walltorviertel in Gießen. Auch Alexander Büchner erinnert sich, »Bruder Ludwig [habe] als Hauptmann [die Rotte] in Gemäßheit seiner sehr geringen militärischen Kenntnisse höchst unvollkommen [exerziert]«.18 Trotzdem hat Ludwig Büchner seine militärischen Aufgaben wohl sehr ernst genommen. So erschien am 26. März 1848 im Jüngsten Tag eine Anzeige, in der er drei Rotten seiner »Compagnie« öffentlich ermahnte, sich zu einer ––––––––– 12 13 14 15 16 17 18
Der Jüngste Tag. Eine freie Zeitung aus Hessenland. Gießen, 6. März 1848, S. 2. Ebd., S. 3. Ebd. Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 8. März 1848, S. 12. Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 172. [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 8), S. 105. Alexander Büchner: Vorwort (s. Anm. 5), S. XIII.
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Besprechung einzufinden, weil sie der Hauptmannswahl nicht beigewohnt hätten.19 Die Organisatoren der Bürgerwehr suchten wegen der Einkleidung ihrer Kämpfer »nach dreifarbigen Schärpen und Kokarden und anderem Humbug«. Auch habe man sich Waffen besorgt, leider aber nur »verrostet[e] Kommißgewehr[e]« und »Jagdflinten« erhalten. Ein aus der Schweiz zurückgekehrter »Waffenschmied namens Großmann« habe an »Stöcken und Stangen aller Art [...] eiserne Spitzen« befestigt. Bei »jüdischen Trödlern« wurden »blauleinene Kittel« gekauft, und »schwarzrotgoldene [...] Kokarden für Mützen und Hüte nebst dito Schleifen« seien angefertigt worden.20 Zu den weiteren Forderungen dieser Gruppe gehörten die Verwirklichung der Einheit Deutschlands und die Lösung der sozialen Frage. Vor allem hier ist die Handschrift August Beckers zu erkennen, aber auch in Ludwig Büchners späteren Schriften wird eine ähnliche Programmatik vertreten. Am 6. März 1848 forderte man im Jüngsten Tag: »Wir wollen ferner, daß auf dem friedlichen Wege der Association und Gesetzgebung die sociale Frage gelöst werde. K e i n K o m m u n i s m u s ! K e i n A r b e i t s z w a n g ! Bewahre der Himmel! J e d e m d a s S e i n e ! Seyd unbesorgt ihr Capitalisten, Fabrikanten und reichen Eigenthümer. Fürchtet auch nicht mehr den Proletarier-Popanz, den euch die Volksbetrüger vorgemalt haben, um euch von der Bahn des Fortschritts zurück zu schrecken! Kein Haar wird euch gekrümmt, kein Heller wird euch e n t w e n d e t werden! Nicht e u e r Eigenthum ist in Gefahr, sondern das Eigenthum der arbeitenden Klasse ist und war leider schon längst in Gefahr, und nicht allein ihr E i g e n t h u m, sondern auch ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehrlichkeit, kurz ihr Alles war in Gefahr unterzugehen im Strudel der Verarmung, in den sie mehr und mehr verwickelt wurden. Kein Proletariat mehr! Deutschland ist reich und groß genug all’ seine Kinder zu nähren und zu herbergen. Kein Auswandern mehr nach Amerika! Bleibt im Land und wehrt euch redlich! Sollte es je zu eng werden für uns Alle im Vaterland, so wollen wir nicht in fremde Staaten auswandern, wo unsere Nationalität untergeht in dem fremden Element, sondern wir wollen selber Kolonien gründen in fernen Landen. [...] Vorher aber müssen hier in Deutschland schon Einrichtungen getroffen werden, welche Jedem den g a n z e n Lohn und das g a n z e Verdienst seiner Arbeit sichern, welche Allen die gleiche Möglichkeit und Gelegenheit eröffnen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ––––––––– 19 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 26. März 1848, S. 76. 20 Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 173.
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durch freie Bethätigung derselben ihre Bedürfnisse zu befriedigen und Eigenthum zu erwerben. Es handelt sich nicht darum, ›A l l e s g l e i c h z u m a c h e n‹ [...]. Nur die u n n a t ü r l i c h e Ungleichheit soll allmälig und, wir wiederholen es, auf dem friedlichen Weg der Association und Gesetzgebung aufgehoben werden durch die n a t ü r l i c h e Ungleichheit.«21
Gleichzeitig hatten die Gießener Demokraten – wie bereits oben erwähnt – die Zeitung Der jüngste Tag ins Leben gerufen. Rudolf Fendt berichtet, »[u]nter der Redaction August Becker’s« sei »eine radikaldemokratische Zeitung« gegründet worden, »woran außer ihm und mir hauptsächlich die beiden Brüder Büchner mitarbeiteten«.22 Alle vier seien »mit burschikoser, oft cynischer Rücksichtslosigkeit gegen Alles, was ›faul war im Staate Dänemark‹«, vorgegangen, und das Blatt sei »bald die gefürchtete Geißel der oberhessischen Büreaukratie und das stets offne Organ für die Beschwerden unsrer Bürger und Bauern«23 geworden. Alexander Büchner erinnert sich, er und sein Bruder Ludwig hätten »eifrig in dieses Blatt [geschrieben]«.24 Und über die Redaktionsarbeit heißt es: »Ein schönes Redaktionszimmer wurde eingerichtet mit einem ungeheuren Pfeifenständer und Flaschen jeden Kalibers und Inhalts. Die Zahl der unberufenen Mitarbeiter wurde somit enorm; nur nahm jeder derselben eine der Pfeifen sowie tiefe Züge aus den Flaschen mit, sodaß diese Vorräte schnell alle wurden und der Ergänzung bedurften. Damit und durch die Befriedigung unserer sonstigen kleineren oder größeren Bedürfnisse ging der ganze Profit schnell zum Teufel, aber wir hatten immerhin ein sehr wirksames Parteiorgan, in welchem Fendt, Louis und ich, der liebenswürdige ›H a n n e s‹ Böhm aus Offenbach und andere ihre ersten litterarischen Sporen verdienten.«25
Am 30. März 1848 veröffentlichte Alexander Büchner seinen ersten namentlich gezeichneten Leitartikel unter der Überschrift Ob Fürst, ob Volk? Darin heißt es: »Es gab eine Zeit (und theilweise gibt es eine solche noch), wo man glaubte, das Volk sei um des Fürsten willen und nicht der Fürst um des Volkes willen da. Die Herren schrieben sich damals ›von Gottes Gnaden‹, wie sie es theilweise in unbegreiflicher Verblendung noch thun, obwohl dies sehr häufig als ––––––––– 21 22 23 24 25
Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 6. März 1848, S. 2. [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 8), S. 89. Ebd., S. 89f. Alexander Büchner: Vorwort (s. Anm. 5), S. XIII. Ders.: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 181.
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ein durchaus schlechtes Compliment für den bon sens des guten alten Herrgotts erscheint, zu dem man alles Zutrauen verlieren müßte, wollte man aus seinen Stellvertretern auf ihn schließen. Ueber diese patriarchalische Ansicht vom Staat ist das Volk jetzt hinaus, sie wird nur noch von Staatshämarrhoidariern, alten Tanten und von einigen Kathedern herab vertheidigt. D e r F ü r s t i s t u m d e s V o l k e s w i l l e n d a ! Das ist das Stichwort unserer Zeit, der leitende Stern an unserem politischen Horizont. Oder soll ein Einzelner die Frucht der Arbeit Vieler genießen wie bisher? soll ein Einzelner, blos aus Gründen seiner Geburt, das Recht haben, für Tausend Andere zu denken, zu reden und zu handeln (oder auch nicht zu denken, zu reden und zu handeln)? soll ein Einzelner, zufolge einer egoistischen Politik einem ganzen Volkswillen eine dessen Sympathien vielleicht widerstrebende Richtung geben dürfen? ›Ich liebe die Zeit nicht‹, schreibt Börne, ›wo Vergessenheit von Tausenden die Ewigkeit von Einzelnen bilden mußte.‹ Die Menschen sind dafür da, daß E i n e r d e n A n d e r n hebt, aber nicht dafür, daß A l l e E i n e n erheben. Der Fürst ist um des Volkes willen da, das heißt, der Fürst ist Nichts als der erste Staatsdiener, derjenige, der das schöne Recht hat, zunächst und zumeist für das Wohl Aller zu sorgen und für diese Sorge Allen v e r a n t w o r t l i c h ist. Ein Volk kann man sich am Ende auch g a n z o h n e F ü r s t e n denken, dafür liefert die Geschichte die Belege, aber denke man sich einen F ü r s t e n o h n e V o l k, einen Johann ohne Land (so à la duc de Neuilly), einen Wipfel ohne Baum, eine Krone ohne Haupt, einen Schwanz ohne Rumpf! Wir wollen hiermit gerade noch nicht die Republik proklamiren, wir wollen nur die Anmaßungen, die Uebergriffe Einzelner in die Rechte Aller zurückweisen, wie es jetzt allenthalben die Völker thun, und unser Grundsatz dabei ist: der Fürst ist um des Volkes willen da!«26
Bis Ende Mai 1848 erschienen noch eine Reihe weiterer von Alexander Büchner namentlich gezeichneter Artikel. Dann stellte er seine journalistische Arbeit zunächst ein. Nach der Revolution, in den 1850er Jahren und danach bis an sein Lebensende, war Alexander Büchner aber ein sehr produktiver Schreiber für deutsche und für französische Zeitungen.27 In seinen Beiträgen für den Jüngsten Tag trat er immer deutlicher für die Republik ein, so dass an seiner demokratischen Gesinnung in jener Zeit überhaupt kein Zweifel bestehen kann. Alexander Büchner musste sein Engagement allerdings auch mit Anfeindungen bezahlen. Im Jüngsten Tag vom 3. Mai 1848 teilte er den Le––––––––– 26 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 30. März 1848, S. 85. 27 Siehe dazu: Alexander Büchner: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Ludwig Fertig. Darm-
stadt 2005, S. 15.
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sern in einer kleinen Anzeige mit, dass er abends von »jungen Leute[n], die dem Anschein nach völlig friedlich an mir vorübergegangen waren, von hinten einen heftigen Schlag auf den Kopf [erhielt], worauf sich sogleich die Thäter im Galopp entfernten«. Er drohte den Tätern, deren Namen er zwar kenne, aber nicht nennen wolle, im Wiederholungsfall mit den »unangenehmsten Folgen«.28 Von Ludwig Büchner gibt es dagegen keine mit Namen gezeichneten Artikel im Jüngsten Tag. Ihm bzw. August Becker und Rudolf Fendt werden aber die Berichte über das Frankfurter Vorparlament zugeschrieben. So schreibt Alexander Büchner: »August Becker, Fendt, Bruder Louis und Andere eilten nach Frankfurt, um auf der Galerie der Paulskirche mit Bleistift hingekritzelte Berichte über die dortigen Verhandlungen abzufassen und mir einzusenden.«29 Allerdings ist das Auftreten der Gießener in Frankfurt anlässlich der Tagung des Vorparlaments bemerkenswert, vor allem weil sie dort als Rotte bzw. in der Kluft ihrer Rotte einmarschierten. Ludwig Büchner erinnert sich daran, »daß sich die gesamte Mannschaft, um die Pariser Blousenmänner nachzuahmen, in blaue Blousen kleidete, welche übrigens sehr leicht zu beschaffen waren, da in Oberhessen bekanntlich alle Bauern blaue Blousen tragen. Alsdann wurden zwei große Omnibusse gemietet, welche uns nach der freien Reichsstadt brachten und im Hotel Drechsel in der Friedbergergasse absetzten. Von da marschierten wir in geordnetem Zuge über die Zeil nach der Paulskirche, dem Sitze des Vorparlamentes, wo wir uns durch den Einfluß unserer beiden Abgeordneten [Carl Vogt und Moritz Carrière; M. G.] Plätze auf der Gallerie hatten belegen lassen.«30
Dieses militärische Auftreten der Gießener Rotte habe »den Frankfurter Spießbürgern einen nicht geringen Schrecken ein[geflößt]«. Sie seien mit den Pariser »Blousenmänner[n]« verwechselt worden, und es sei die Befürchtung geäußert worden, dass nun »der wahre Revolutions-Rummel losgehen« werde.31 Statt mit den Gewehren arbeiteten Ludwig Büchner und August Becker allerdings mit der Feder. Ihre von Alexander Büchner – der in Gie––––––––– 28 29 30 31
Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 3. Mai 1848, S. 206. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 181. Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 173. Ebd.
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ßen geblieben war, um sich auf sein juristisches Fakultätsexamen vorzubereiten – für den Jüngsten Tag redigierten Berichte sind teilweise rein protokollarisch, teilweise mit Kommentaren versehen und lassen dann eindeutige Sympathien für Hecker und die linken Demokraten erkennen. So wird am 4. April 1848 kritisiert, dass Heckers Antrag, das Vorparlament möge permanent tagen, durch die Wahl eines ständigen Ausschusses umgangen werden soll. Auch dass Kleinstaaten unter 50000 Einwohnern ebenfalls einen Abgeordneten stellen sollen, wird als »principwidrig« kritisiert, weil es nicht um Staaten, sondern um das Volk gehe. Schließlich wird abgelehnt, dass »die Leitung der Wahlen den bestehenden Regierungen überlassen« werden soll. Das Volk müsse wachsam sein, sonst würden sich die demokratischen Hoffnungen zerschlagen.32 In ihrem Protokoll der Verhandlungen vom 5. April 1848 bemerken August Becker und Ludwig Büchner: »U h l a n d wird mit Applaus empfangen und schwatzt romantisches Blech.«33 Eingebettet ist dieser Satz in die protokollarische Darstellung der entscheidenden Debatte über die Wahl des 50er Ausschusses, auf die der Austritt von Hecker und seinen Anhängern folgte. Neben dieser Berichterstattung für den Jüngsten Tag mussten Ludwig Büchner und August Becker eine »Volksmenge«, die die beiden jeden Abend auf ihrem Weg zu ihrer Unterkunft in »der Restauration ›Zum Taunus‹« begleitete, über die Verhandlungen informieren. Der Andrang zu dieser Berichterstattung war so groß, »dass der ganze Taunusplatz allabendlich erfüllt war«. Becker und Ludwig Büchner mussten »von herbeigeholten Fässern herab die Neugierde durch Vorlesen [ihrer] Notizen [...] befriedigen«. Hinter dieser Aufklärungs- und Informationstätigkeit stand auch die Absicht, eine Petitionsbewegung auszulösen, die die »Proklamierung der Republik oder etwas dem Ähnliches« zum Ziel haben sollte. Daran wurde die Gießener Rotte, in erster Linie wohl die Berichterstatter August Becker und Ludwig Büchner, aber von Anhängern der konstitutionellen Monarchie mit Erfolg gehindert.34
––––––––– 32 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 4. April 1848, S. 103. 33 Der jüngste Tag, 5. April 1848, S. 107. 34 Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 174.
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In der Frage, ob sich das Vorparlament »für permanent und als konstituierende Versammlung [...] erklären«35 sollte, nahm die Gießener Rotte die Position Heckers ein. Ludwig Büchner berichtet: »In diesem großen Moment strengte die Radikal-Rotte, nach dem [sic] sie schon lange vorher durch Zeichen von Beifall oder Mißfallen möglichst auf den Gang der Verhandlungen einzuwirken gesucht hatte, die ganze Kraft ihrer vereinigten Zungen an, um unsere Gießener Abgeordneten ebenfalls zum Austritt zu bewegen.«36
Damit hatte sie aber keinen Erfolg. Weder Carl Vogt noch Moritz Carrière folgte dem Austritt Heckers. Trotzdem machten die Gießener Demokraten Carl Vogt zu ihrem Kandidaten, als es um die Wahlen zur Nationalversammlung ging. Sie führten einen regelrechten Wahlkampf. So seien »allsonntäglich sehr fidele Ausflüge aufs Land [unternommen worden,] um die Bauern in unserem Sinn zu bearbeiten«.37 Vogt war inzwischen zum Obersten der Bürgergarde aufgestiegen, und Alexander Büchner spottet, Vogts »kurze und runde Gestalt [habe] sich zu Pferde komisch genug [ausgenommen], indem er oft Mühe hatte das europäische Gleichgewicht zu erhalten«.38 Dagegen lobt Alexander Büchner die »volkstümliche Beredsamkeit« August Beckers, der mit einem »donnerähnlichen Baß« und »in kurzen schlagenden Sätzen« die Bauern, u. a. im Hinterland, für sich zu gewinnen wusste.39
3. Während Alexander Büchner seine politische Tätigkeit im Frühjahr 1848 vor allem auf die Zeitungsarbeit und das gelegentliche Auftreten auf Volksversammlungen konzentrierte, so scheint sich Ludwig Büchner während der Revolution von 1848 von Anfang an auch der Organisationsarbeit gewidmet zu haben. Zwar ist sein Anteil an der Gründung und Stabilisierung des Gießener Republikanischen Vereins nicht be––––––––– 35 36 37 38 39
Ebd., S. 175. Ebd. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 181. Ebd., S. 181f. Ebd., S. 182.
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kannt,40 aber schon am 22. März 1848 wurde im Jüngsten Tag die Gründung einer »Bürger-Gesellschaft«41 angezeigt. Ihrem provisorischen Vorstand gehörten u. a. Ludwig Büchner und Rudolf Fendt an. Von dieser Vereinigung ist später allerdings nicht mehr viel zu hören. Ein knappes halbes Jahr später, im August und September 1848, gehörte Ludwig Büchner dann zu den wichtigsten Organisatoren eines oberhessischen Demokratenkongresses, der am ersten Septemberwochenende 1848 in Gießen veranstaltet wurde. Dem gingen verschiedene andere Aktivitäten voraus. So wurde »im Juli des Jahres 1848« der Demokratische Verein in Gießen gegründet, der die schon bestehenden Vereine, »den Merz- und den republikanischen Verein [...] verschmelzen« sollte. Das Ziel dieses Vereins war die »social-demokratische Republik«.42 Ludwig Büchner übernahm in diesem Verein verschiedene Funktionen. In dem aus zwei Präsidenten, einem Vizepräsidenten, einem Kontrolleur, einem Rechner und vier Sekretären bestehenden Vorstand war Ludwig Büchner zeitweise einer der Sekretäre und anschließend einer der beiden Präsidenten.43 Der von Ludwig Büchner und anderen Gießener Demokraten im Auftrag des Demokratischen Vereins organisierte Gießener Demokratenkongress war keine isolierte lokale Angelegenheit, sondern Teil einer organisatorischen Aufbauarbeit der Demokraten in ganz Deutschland. Insofern muss Ludwig Büchner schon vorher über gute Beziehungen zu den Demokraten in der Provinz Oberhessen, in Frankfurt und in Mainz verfügt haben. Mit der Organisation des Gießener Demokratenkongresses folgten die Gießener Demokraten dem Beschluss eines nationalen Demokratenkongresses, der vom 17. bis zum 20. Juni 1848 in Frankfurt tagte. Man wollte den deutschen Demokraten eine die Einzelstaaten übergreifende Organisationsstruktur geben. Ein in Berlin eingerichteter »Central-Aus––––––––– 40 Über die Mitarbeit von Ludwig und Alexander Büchner dort berichtet [Fendt:]
Erinnerungen (s. Anm. 8), S. 90.
41 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 22. März 1848, S. 64. 42 Bericht und Gutachten (Promemoria) des Gießener Polizeikommissars Lorenz Nover über die poli-
tisch-revolutionären Verbindungen im Großherzogtum Hessen in den Jahre 1815 bis 1852. (Im Folgenden: Nover.) In: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (Im Folgenden: HStADA) C 1 C Nr. 54, p. 357. 43 Ebd.
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schuß«44 sollte mit den »Kreis-Ausschüssen«45 und über diese mit den einzelnen demokratischen Vereinen verbunden sein. Die »einzelnen Kreise« wurden darüber hinaus aufgefordert, »sofort Conferenzen aus allen Vereinen ihres Kreises zu berufen, einen Kreisausschuss von etwa 3 bis 7 Männern an einem Hauptorte zu bilden« und darüber dem »Central-Komité«46 zu berichten. Es stellte sich aber wohl schnell heraus, dass es zwischen den Kreiskomitees und den Ortsvereinen noch eine Zwischeninstanz geben musste, zumal die Kreise sich nicht an den bisherigen Territorialgrenzen orientierten. Der Kreis Frankfurt umfasste z. B. neben der Freien Stadt Frankfurt die Territorien von Nassau, Hessen-Homburg, Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel. Deshalb bildete die hessen-darmstädtische Provinz Rheinhessen schon bald einen eigenen Bezirk mit dem Bezirksvorort Mainz.47 Entsprechend handelte man in der Provinz Oberhessen.48 In diesem Zusammenhang bildeten die drei erwähnten demokratischen Vereine in Gießen, der Republikanische, der März- und der Demokratische Verein, einen »Central-Ausschuß«, in dessen Namen sich Ludwig Büchner und Friedrich Bopp am 24. August 1848 an die Gießener Öffentlichkeit wandten, um die Einwohnerschaft um Quartiere für die Delegierten des Kongresses Anfang September zu bitten. Am 28. August 1848 veröffentlichte der Jüngste Tag erstmals das »Programm für den am 2. September zu Gießen stattfindenden DemokratenCongreß«. Die dort ebenfalls abgedruckte und von Friedrich Bopp und Ludwig Büchner entworfene Tagesordnung umfasste die folgenden drei Punkte: »1) Berathung über die Organisation der demokr[atischen] Vereine unserer Provinz, und Wahlen eines Vororts. 2) Berichterstattung der einzelnen Abgeordneten über den Stand der Demokratie in ihren Vereinen und Wohnorten. ––––––––– 44 45 46 47 48
Ebd., p. 91. Ebd., p. 92. Ebd., p. 94. Siehe dazu ebd., p. 97f. Siehe Statuten des democratischen Bezirksverbandes für die Provinz Oberhessen. Giessen 1848, S. 3ff. In: HStADA C 1 C Nr. 55.
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3) Berathung über die Hessische Kammer-Angelegenheit.«49
An den Beratungen in Gießen nahmen verschiedene Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung und Vertreter von 19 demokratischen Vereinen Oberhessens teil.50 Über die Sitzung »des Demokratenkongresses der Provinz Oberhessen« am 2. September 1848 berichtete der Jüngste Tag wie folgt: »Fast alle Vereine unserer Provinz waren in diesem Congreß vertreten, nur die entferntesten nicht; oft freilich hatten Vereine von 500, einmal sogar von 5000 Mitgliedern nur einen Vertreter gesandt. – Um 3 Uhr begann die Sitzung im Saale des Gasthauses zum Prinzen Karl; Professor Hillebrand führte das Präsidium; Dr. Weber war zum Vizepräsidenten, Dr. Büchner, Bopp, G. Noll und F. O. Schenk zu Sekretären gewählt worden. Der Präsident leitete die Verhandlungen mit einer kurzen Rede über den Zweck der Versammlung ein. Nachdem Bopp die Namen der vertretenen Vereine vorgelesen und Aug. Becker über den in Frankfurt geschlossenen großen Bund der demokratischen Partei Deutschlands und über die Beweggründe des speziell oberhessischen Verbandes gesprochen, kommt der erste Punkt der Tagesordnung, der Organisationsentwurf der demokratischen Vereine zur Berathung, die mit richtigem, parlamentarischem Takte und großer Raschheit vor sich ging. Die Besprechung der 40 §§. des Planes dauerte nur 2 und eine halbe Stunde. Der Entwurf, der der Organisation der Provinz Rheinhessen zu Grunde gelegen, wurde mit einigen Modifikationen angenommen; nach ihm treten die demokrat[ischen] Vereine durch einen Bezirksvorort (Gießen ward dazu gewählt) in Verbindung mit dem Kreisvorort Frankfurt und durch diesen mit dem Centralausschuß in Berlin.«51
Die beschlossenen Statuten halten u. a. fest, dass es dem Bezirksverband um die »Erstrebung einer wahrhaft demokratischen Staatsform für das engere und weitere Vaterland« gehe.52 Auch besagen die Statuten, dass der »Ausschuß des Bezirkshauptortes« den Bezirksvorstand ernennt, nämlich »den Bezirksdirektor, einen Stellvertreter desselben, vier Schriftführer [und] zwei Rechner«.53 Im Anschluss an die Beratung und den Beschluss der Statuten des neuen Bezirksverbandes berichteten die Vertreter der demokratischen ––––––––– 49 50 51 52 53
Ebd. Siehe dazu: Nover (s. Anm. 42), p. 344. Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 6. September 1848, S. 635. Statuten (s. Anm. 48), S. 7. Ebd., S. 11.
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Vereine über den Zustand der demokratischen Bewegung in ihren Heimatorten. Diese Berichte lassen den Schluss zu, dass in vielen Orten Oberhessens die demokratischen Vereine das organisierte politische Geschehen dominiert haben. Diese Dominanz stand allerdings im Widerspruch zur Stärke in den politischen und administrativen Organen des Großherzogtums, in denen überwiegend die Konstitutionellen den Ton angaben. Deutlich wird das u. a. an der Behandlung der Neuwahlen des Landtags bzw. einer verfassungsgebenden Versammlung durch die Regierung Gagern und danach Jaup. Dieses Problem wurde am Sonntagvormittag, also am 3. September 1848, diskutiert. Rudolf Fendt griff die Regierung Jaup wegen deren Kammer-Politik heftig an. Kritisiert wurden die Prinzipienlosigkeit Jaups, die wiederholte Auflösung der zweiten Kammer, das Hinauszögern von Neuwahlen bzw. die Verweigerung der Wahl einer neuen verfassungsgebenden Kammer. Vor diesem Hintergrund rief Fendt zum Steuerboykott ab dem 1. Januar 1849 auf.54 Fendts Kritik traf auf den Widerstand einiger Delegierter. Vor allem Alexander Winther aus Gießen, zusammen mit Ludwig Büchner Vorsitzender des Demokratischen Vereins, wollte in Jaups Verhalten ein geschicktes Verhandeln mit der ersten Kammer, besonders dem Prinzen Emil, sehen, auf deren Zustimmung er bzw. die zweite Kammer bei allen Entscheidungen angewiesen sei. Neben August Becker trat nun vor allem Ludwig Büchner zur Verteidigung der Position Rudolf Fendts auf: »Daß Jaup früher ein Feind der Kamarilla war, ist kein Grund dafür, daß er jetzt nicht ihr Freund sein kann; die Kamarilla benutzt Jeden. Ich bin entschieden gegen die von Winther ausgesprochene Vertrauens-Politik, die uns seit 6 Monaten genugsam getäuscht hat; im März hätte Keiner gewagt, gegen die schleunige Berufung einer verfassunggebenden Versammlung etwas zu sagen; da verstand sich Alles von selbst! Und was haben wir jetzt? Jaup hat nie eine Constituante versprochen, sondern nur ein Wahlgesetz für eine neue zweite Kammer, deren Berufung man möglichst hinausschieben und der man nie das Recht der Beschließung einräumen wird. Ich gebe keinen Deut auf Versprechungen, es ist Alles Betrug. Nicht großmüthig und selbstvergessend, sondern mißtrauisch und knauserig soll man in der Politik sein, wie man es in Privatgeschäften ist. Wir verlangen Gesetze, die der Willkür der Personen ein Ende machen. Wem die übrigen Vorgänge in Deutschland ––––––––– 54 Vgl. Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 7. September 1848, S. 640.
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noch nicht die Augen geöffnet haben, den kann diese Angelegenheit von dem Dasein einer Reaction überzeugen. Die Vaterländler theilen sich in Betrogene und in Betrüger.«55
Die Debatte wurde nach Büchners Beitrag abgebrochen; stattdessen wurde nur noch über die Forderung Fendts nach einem Steuerboykott diskutiert. Auch hier ergriff Ludwig Büchner noch einmal das Wort. Fendts Aufruf zum Steuerboykott sei »keine Drohung, sondern das letzte, ruhige, besonnene und entschiedene Auftreten eines Volkes, dem eine Handvoll Leute aus Trotz und Eigennutz seine natürlichsten Rechte vorenthalten und verkümmern will und dem kein Mittel mehr gegen die Gewalt von Oben bleibt. Wir können nicht die Muskete in die Hand nehmen und den Aufruhr proklamiren. Aus Gründen des Prinzip’s bin ich f ü r den Satz, aus Gründen der Zweckmäßigkeit mag er fallen oder verändert werden.«56
Der Gießener Demokratenkongress ging am selben Tag mit folgender Erklärung zu Ende: »Der Congreß der oberhessischen Demokraten erklärt, daß durch die Vertagung der Ständekammern durch Minister Jaup derselbe in Widerspruch mit seinen eigenen Grundätzen: ›nur mit der Majorität der Kammer regieren zu wollen,‹ gerathen ist. – Er verlangt die unverweilte Zusammenberufung eines konstituirenden Landtages auf den Grund [sic] direkter Wahlen und ohne Census, und beschließt: die Ständekammer zu ersuchen, im Verweigerungsfalle die Steuern nicht mehr zu bewilligen. – Er erklärt, im Falle der dadurch erfolgten Auflösung der Stände, daß das hessische Volk nicht verpflichtet ist, vom 1. Januar 1849 an Steuern zu zahlen. [...] Auf die erste Nachricht von der Wahl eines hessischen constituirenden Landtages einen außerordentlichen Bezirkstag zu berufen. [...] Waffen zu tragen ist das erste Rechte [sic] eines freien Bürgers. Der Demokratencongreß in Gießen erklärt: die Jagdwaffenpässe sind abzuschaffen. [...]«57
Entsprechend den beschlossenen Statuten wählten die demokratischen Vereine Gießens am 6. September den »demokratischen Bezirksausschu[ß] für Oberhessen«.58 Dabei »wurden zum Präsidenten und Vizeprä––––––––– 55 56 57 58
Ebd. Ebd. Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 8. September 1848, S. 643f. Der jüngste Tag, 7.September 1848, S. 641.
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sidenten die Herrn Dr. Kilian und Advokat Frank; zu Sekretären die Herrn Dr. Bork, Dr. Hillebrand, Stud. Fendt und Stud. Schenck; zu Rechnern die Herrn G. Noll und Heinr. Ferber« gewählt.59 Hatte Ludwig Büchner während des Kongresses noch die Funktion eines Schriftführers übernommen,60 so schied er anschließend aus dem Führungskreis der oberhessischen Demokraten aus, allerdings nicht aus politischen Gründen. Ludwig Büchner hatte, wie auch sein jüngerer Bruder Alexander, sein Studium inzwischen abgeschlossen. Am 8. September 1848, also nur wenige Tage nach dem Demokraten-Kongress, wurde er in Gießen zum Dr. med. promoviert. Aus diesem Grunde verließ er am 18. September 1848 Gießen und kehrte nach Darmstadt zurück.
4. Zur gleichen Zeit waren in Frankfurt Unruhen ausgebrochen, deren Anlass die Ratifizierung des Waffenstillstandes von Malmö – er wurde am 26. August 1848 geschlossen – durch die Nationalversammlung am 16. September 1848 war. Noch Ende August 1848 war dieser Waffenstillstand von einer knappen Mehrheit der Nationalversammlung verworfen worden. Vor allem die Demokraten waren grundsätzliche Gegner dieses Vertrages. Kritisiert wurde, dass mit ihm die Volksbewegung in Schleswig und Holstein im Stich gelassen und dass dieser Vertrag im Namen des Deutschen Bundes und Preußens, nicht aber im Namen der neuen Reichsregierung mit Sitz in Frankfurt abgeschlossen wurde. Der Nationalversammlung warf man vor, die Volkssouveränität verraten und die Souveränität der Fürsten gebilligt zu haben. In der Ratifizierung des Malmöer Vertrages durch die Nationalversammlung sahen die Demokraten eine Bestätigung ihres Verratvorwurfes. Ihren Höhepunkt erreichten die Unruhen am 18. September 1848. Ausgerechnet an diesem Tag reiste Ludwig Büchner von Gießen in Richtung Frankfurt. In einer Erinnerung schildert er diese Abreise aus Gießen so: »Am 18. September 1848, dem ersten Tage der Revolution, verließ [ich] nach bestandenem Examen als Dr. promotus die Alma mater, um in [m]eine Va––––––––– 59 Ebd. Siehe auch Nover (s. Anm. 42), p. 345. 60 Statuten (s. Anm. 48), S. 6.
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terstadt zurückzukehren. Ich war im Besitze eines alten französischen Jägergewehres, welches mein Vater aus den Napoleonischen Kriegen heimgebracht hatte und mit welchem ich schon während meiner Gymnasiastenzeit in Darmstadt Schießversuche mit selbstangefertigter Schießbaumwolle angestellt hatte. Ich hatte dasselbe im Frühjahr nach Gießen mitgenommen, um daselbst, da die Jagd während der Revolutionszeit vollständig frei war, vergebliche Jagdversuche in Feld und Wald anzustellen.«61
Von Alexander Büchner wissen wir, dass die Anfang März u. a. von den Brüdern Büchner mit ins Leben gerufene Gießener Bürgerwehr mit eher untauglichen Gewehren bewaffnet wurde, z. B. Jagdflinten. Das von Ludwig Büchner hier erwähnte Gewehr dürfte zu diesen Waffen gehört haben. Immerhin war Ludwig Büchner Rotten- und Kompanieführer dieser Bürgerwehr. Über dieses Gewehr heißt es in Ludwig Büchners Erinnerungen weiter: »Dieses kostbare Instrument wollte ich in alter Anhänglichkeit bei meinem Abzug von Gießen nicht missen und stellte dasselbe neben meinem Sitz im Postwagen. Bei unserer Ankunft in Friedberg teilten uns die Seminaristen mit, daß in Frankfurt Revolution ausgebrochen sei, und rieten mir, mein Gewehr zurückzulassen, da es mich notwendig verdächtig machen müsse. Aber mein böses Geschick (seinem Schicksal kann ja niemand entgehen) wollte, daß ich diesen Rat mißachtete, und so fuhren wir gen Frankfurt, in der stillen Hoffnung meinerseits, vielleicht noch etwas zur Entscheidung des Tages beitragen zu können.«62
Was am 18. September 1848 in Frankfurt geschah – diese »Revolution« –, hatte sich schon in den Tagen zuvor angebahnt. Wie aus den Berichten der hessischen Gesandten bei der Nationalversammlung, Eigenbrodt und zur Rabenau, hervorgeht, gab es wegen der Debatte um den Waffenstillstand von Malmö schon am Abend des 16. November 1848 Unruhen in Frankfurt. Eines der umlaufenden Gerüchte besagte, dass die Nationalversammlung gestürmt werden sollte. Am 17. September 1848 schrieb Eigenbrodt den folgenden Bericht nach Darmstadt: »Gestern abend fanden Unruhen hier Statt. Die Westend-Hall, neben dem Bahnhof der Taunusbahn, soll arg verwüstet worden sein. Auch im englischen Hof wurden Fenster eingeworfen, und eine tobende, brüllende, pfeifende Menge erfüllte bis nach Mitternacht die Straßen. Man klagt, daß die ––––––––– 61 Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 176. 62 Ebd.
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hiesigen Behörden die ihnen zu Gebot stehenden Kräfte, eine kurhessische Garnison, eine zahlreiche Bürgerwehr, und eine aus den in dieser nicht dienstpflichtigen Einwohnern gebildete Schutzwehr, nicht mit gehöriger Energie gegen die Unruhestifter benutzten. Heute Nachmittag ist Volksversammlung auf der Pfingstweide, schon hat sich eine Menge des bekannten Gesindels eingefunden, und man fürchtet für diesen Abend ernstere Auftritte. Sie gehen mit nichts Geringerem um, wie gesagt wird, als mit der Sprengung der Nationalversammlung. Doch sind dies alles nur Gerüchte.«63
Auf der angesprochenen Volksversammlung auf der Pfingstweide sprachen auch die Mainzer Demokraten Franz Heinrich Zitz, Friedrich Jakob Schütz, Germain Metternich und Philipp Jakob Schöppler. Zitz und Metternich waren zudem Mitglieder des Central-Ausschusses der demokratischen Vereine in Berlin,64 Schütz gehörte u. a. 1834 in das nähere Umfeld Georg Büchners, als der Hessische Landbote hergestellt und verbreitet wurde.65 Die Redner forderten zum Handeln auf und verurteilten die Mehrheit der Nationalversammlung als »Verräther des deutschen Volks, der deutschen Freiheit und Ehre«.66 Die Nachrichten von dieser Volksversammlung auf der Frankfurter Pfingstweide müssen unverzüglich nach Gießen gelangt sein, denn schon am Montag, dem 18. September 1848 organisierten die Gießener Demokraten eine Volksversammlung im Gießener Philosophenwald, die das gleiche Thema hatte und die gleichen Beschlüsse wie die Versammlung in Frankfurt fasste. Im Jüngsten Tag vom 20. September 1848 war zu lesen, dass »die Beschlüsse der Frankfurter Volksversammlung adoptirt« wurden.67 Weiter heißt es: »Die Versammlung wurde durch die Nachricht der Vorgänge in Frankfurt unterbrochen. Unter dem Ruf: Auf nach Frankfurt! eilte die Versammlung auseinander. Ein kriegerischer Geist hatte die Menge ergriffen. Im Prinzen Karl, wo man sich gleich nachher versammelte, wurde jedoch das Unkluge eines sofortigen ganz unvorbereiteten Auszugs erkannt und die augenblickliche Absendung einer Deputation, welche unverzüglich Kunde über den Stand der Dinge in Frankfurt von unserem Deputirten Vogt einholen sollte. ––––––––– 63 HStAD G 1 Nr.158/7, Schreiben vom 17. September 1848. 64 Nover (s. Anm. 42), p. 93. 65 Siehe dazu u. a.: Thomas Michael Mayer: Die Verbreitung und Wirkung des Hessischen
Landboten. In: GBJb 1 (1981), S. 68–111.
66 Nover (s. Anm. 42), p. 134. 67 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 20. September 1848, S. 684.
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Durch diesen Beschluß ließ sich gleichwohl eine Schar von etwa 20 Freischärlern nicht abhalten, noch am Abend bewaffnet nach Frankfurt abzuziehen.«68
Rudolf Fendt schreibt in seinen Erinnerungen, dass nach Angaben der Oberpostamtszeitung vom 21. September 1848 »›[e]twa 40 Bewaffnete [aus]zogen [...], meist Turner; bei Friedberg trafen sie aber auf hessische Chevauxlegers, die ihnen die Waffen abnahmen, ihre Namen aufzeichneten und sie nach Hause gehen ließen.‹«69 Nun liegt durchaus der Verdacht nahe, dass Ludwig Büchner zu diesen Bewaffneten gehörte, die nach der Versammlung im Gießener Philosophenwald am 18. September 1848 unverzüglich nach Frankfurt aufgebrochen sind. Eine genaue Analyse der Vorgänge kann diesen Verdacht allerdings nicht bestätigen. Folgt man dem Bericht im Jüngsten Tag, dann ist die Gießener Gruppe erst am Abend nach Frankfurt abgereist und dort vielleicht nie angekommen. Sie wäre jedenfalls um diese Jahreszeit erst im Dunkeln in Frankfurt angekommen. Ludwig Büchner dagegen schildert in seinen Erinnerungen ein Geschehen, das noch bei Tageslicht stattfand. Dort heißt es nämlich: »Als wir die Chaussee von der Vilbeler Warte herab fuhren, sahen wir eine kleine Schar unregelmäßig Bewaffneter von der linken Seite her eilig quer über den Weg in der Richtung der Friedhöfe sich flüchten. Später erfuhren wir die Begebenheit auf der Bornheimer Heide und mußten aus dem Zusammenhang schließen, daß dieses dieselben Leute waren, welche dort die Parlaments-Abgeordneten A u e r s w a l d und L i c h n o w s k i ermordet hatten. An dem Friedberger Thor angekommen, konnte die Post wegen der daselbst errichteten Barrikaden nicht weiter und mußte einen weiten Umweg machen, um über die obere Zeil in den Posthof zu gelangen. Um diese Zeit war das Barrikadenviertel durch Militär bereits vollständig abgesperrt und nicht mehr zu erreichen; man gab die Sache der Revolution für verloren.«70
In Frankfurt angekommen, wollte Ludwig Büchner sein Gewehr beim Portier im Postgebäude deponieren, was dieser zunächst ablehnte, am Ende aber zuließ, nachdem Ludwig Büchner es auseinander genommen und verpackt hatte.71 ––––––––– 68 69 70 71
Ebd., S. 685. [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 8), S. 115. Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 176f. Vgl. ebd., S. 177.
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Weil angeblich an eine Weiterreise nach Darmstadt nicht zu denken war, begab sich Ludwig Büchner anschließend »zu einem Verwandten, dem Pfarrer B[ecker] an der Paulskirche«. Dieser nahm ihn auch auf, interpretierte aber Ludwig Büchners Erscheinen als das eines »dem Gemetzel entronnenen Freischärler[s]«. Deswegen schloss er auch das Haus nach Ludwig Büchners Ankunft ab, um eine »allenfallsige Rückkehr in den Kampf zu verhüten«.72 Am anderen Tag, also am 19. September 1848, sah es in Frankfurt nach dem Bericht Eigenbrodts so aus: »Die ganze Stadt gleicht einem Lager. Die Barrikaden sind verschwunden, und die Pflasterer waren heute bei meinem Eintreffen gerade beschäftigt, wieder herzustellen, was sie gestern vielleicht selbst verwüstet hatten. Spuren von Flinten und Kartätschenkugeln waren an den Häusern und Fensterscheiben überall zu sehen. Unsere Infanterie, namentlich das erste Bataillon, welche die Fahrgasse forcirte und die dortigen Barrikaden nahm, und dann ans Allerheiligenthor vorrückte, wo es heute Morgen noch stand und wahrscheinlich noch steht, haben sich in hohem Grade ausgezeichnet u[nd] sind in Jedermanns Munde. Der unüberlegte Aufstand ist hier vollständig unterlegen; doch sollen wie ich höre noch nicht alle Besorgnisse wegen Zuzügen von Außen geschwunden sein [...].«73
Das ist das Geschehen, in das Ludwig Büchner hineingeraten ist. In welcher Weise er damit verbunden war, kann man den Erinnerungen an den 19. September 1848 entnehmen: »Anderen Morgens besah ich mir in aller Ruhe die Spuren der Zerstörung in der Fahrgasse und in den benachbarten Straßen, traf verschiedene Bekannte, welche den Ereignissen näher gestanden hatten, als ich selbst, und fuhr dann per Droschke, nachdem ich meine Siebensachen im Posthause abgeholt hatte, nach dem provisorisch in Sachsenhausen errichteten Bahnhof. Als ich beim Aussteigen dem Gepäckträger das Flintenpaket reichte und er dasselbe in der Hand wog, meinte er mit einem pfiffigen Augenzwinkern, daß ich gut durchgekommen sei. Zu Hause traf ich die Meinigen in höchster Aufregung, weil man mich in den Kampf verwickelt glaubte und bereits Sendboten zurück erwartete, welche man zu meiner Aufsuchung nach Frankfurt geschickt hatte.«74 ––––––––– 72 Ebd. 73 HStAD G 1 Nr.158/7, Schreiben vom 19. September 1848, »8 Uhr abends.« 74 Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 178.
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War es nun Zufall, dass Ludwig Büchner ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Septemberaufstandes in Frankfurt anwesend war? Definitiv wird man diesen Sachverhalt nicht klären können. Die Organisation der Gießener Versammlung am 18. September 1848 legt nahe, dass auch Ludwig Büchner am Tage seiner Abreise von dem sich eskalierenden Geschehen in Frankfurt gewusst haben kann, eventuell sogar seine Abreise beschleunigte. Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, dass er über seine Verbindungen mit der weit verzweigten demokratischen Bewegung schon vorher davon gehört hatte, dass es in Frankfurt zu einem Aufstandsversuch kommen sollte. Zu verweisen ist hier auf die Anwesenheit bedeutender Demokraten aus Mainz in Frankfurt, deren Aufenthalt in Frankfurt eine Aufstandsplanung nahelegt. Zwar hatte Ludwig Büchner auf dem Demokratenkongress in Gießen noch gesagt, man könne »nicht die Muskete in die Hand nehmen und den Aufruhr proklamiren«.75 Diese Aussage bedeutete aber vermutlich keine grundsätzliche Ablehnung einer gewaltsamen Erhebung. In seinen Erinnerungen spricht Ludwig Büchner nämlich davon, dass er »in der stillen Hoffnung [...], vielleicht noch etwas zur Entscheidung des Tages beitragen zu können«,76 sein Gewehr nach Frankfurt mitgenommen habe. Nach seiner Rückkehr nach Darmstadt wurde Ludwig Büchner von seinem Vater an dessen Praxis beteiligt. Vielleicht hat das sein politisches Engagement eingeschränkt. Jedenfalls verschwindet Ludwig Büchner vorläufig aus den politischen Schlagzeilen.
5. Dagegen gibt es viele Hinweise darauf, dass Alexander Büchner vor allem an den Aktivitäten zur Verteidigung der Reichsverfassung im Frühjahr 1849 in besonderem Maße beteiligt war. So war er nach eigenen Angaben Ende Mai 1849 im Besitz eines Aufstandsplanes, der von Wilhelm Zimmermann, einem Darmstädter Arzt, ausgearbeitet worden war.77 Alexander Büchner hatte kurz vor seinem Weggang aus Gießen in der ersten Nummer der Wilden Rosen, einer belletristischen Beilage zum Jüng––––––––– 75 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 7. September 1848, S. 640. 76 Ludwig Büchner: Erinnerungen (s. Anm. 9), S. 176. 77 Vgl. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 185.
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sten Tag, unter der Überschrift Eine Criminalgeschichte von früher78 eine kurze Erzählung veröffentlicht, in der die letzten Stunden von Friedrich Ludwig Weidig im Darmstädter Arresthaus im Jahre 1837 dargestellt werden, ohne dass Weidigs Name oder überhaupt ein Name fällt. In der Erzählung nimmt der verantwortliche Untersuchungsrichter am Schluss ein Messer und schneidet dem Gefangenen, der sich zwar die Pulsadern geöffnet hat, aber noch lebt, die Kehle durch. Zunächst blieb diese Erzählung folgenlos. Alexander Büchner nahm nach seiner Rückkehr nach Darmstadt im Spätsommer des Jahres 1848 dort eine Tätigkeit als »Hofgerichtssekretariatsaccessist« auf, langweilte sich dabei aber so sehr, dass er »im Stillen Sprach- und Literaturwissenschaft« betrieb. Daneben, so erinnert er sich, »ging unser Wühlertreiben mit Reden in den Volksversammlungen und Ausfahrten aufs Land zu gleichem Zweck weiter wie früher in Gießen, bis die Wiener Oktoberereignisse und die Begebenheiten zu Berlin im November die Reihen unserer seither zahlreichen Demokratie beträchtlich lichteten«.79 Im Frühjahr 1849 erstattete Hofgerichtsrat Georgi, der sich durch die Erzählung Alexander Büchners getroffen fühlte, Anzeige, und es wurde, so Alexander Büchner, »sofortige Inhaftnahme des Schuldigen verfügt«.80 Kurioserweise war aber Alexander Büchner als Accessist nicht nur an demselben Gericht beschäftigt, das diese Inhaftierung verfügte, sondern bearbeitete auch die Akten des zuständigen Gerichtsrates, so dass er bei der Durchsicht der Akten die ihn betreffende Haftverfügung bemerkte.81 Nachdem er mit Freunden über seine Lage gesprochen hatte, beschloss Alexander Büchner, sich bei seinem Bruder Wilhelm Büchner auf dessen Anwesen in Pfungstadt zu verstecken. Wilhelm Büchner wohnte seit Sommer 1848 im Obergeschoss einer alten Pfungstädter Mühle, die er als Ultramarinfabrik betrieb. Diesen Ort soll er seinem Bruder Alex––––––––– 78 Wilde Rosen. Ein belletristisches Beiblatt zum jüngsten Tag. Samstag, 1. Juli 1848, S. 2f. 79 Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 196f. 80 Ebd., S. 184. Alexander Büchner behauptet hier, er sei aus dem Grunde als Autor ins
Blickfeld der Behörden geraten, weil er »unkluger Weise mit [s]einem Namen unterzeichnet hatte«. Das ist allerdings nicht richtig. Die Erzählung erschien anonym, und vielleicht erfolgte die Anzeige deswegen so spät, weil zunächst nicht geklärt war, von wem die Erzählung stammte. 81 Vgl. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 184.
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ander mit den Worten: »In meinen weitläufigen Gebäulichkeiten [...] wird Dich so bald kein Polizist finden.«82 als Versteck angeboten haben. Wann genau Alexander Büchner sich in Pfungstadt versteckte, ist nicht zu sagen. In seinen Erinnerungen schreibt er lediglich, dass er dort »zunächst in Sicherheit« war, bevor er an Pfingsten – das »schöne Pfingstfest war nämlich mit herrlichem Wetter herbeigekommen« und lag 1849 am 27. und 28. Mai – mit der Familie seines Bruders Wilhelm einen Ausflug zum Felsenmeer unternahm,83 von Pfungstadt aus eine Strecke von knapp 15 km. Vermutlich verschleiert aber Alexander Büchner mit dieser Geschichte um die Folgen der kleinen Erzählung in den Wilden Rosen nur sein durchaus militantes Engagement in der Reichsverfassungskampagne bzw. zur Unterstützung des badischen Aufstandes. Der Zufall will es nämlich, dass in jenen Tagen, als er sich nach Pfungstadt zurückzog, eine Entscheidung im Hinblick auf die Unterstützung des badischen Aufstandes durch die hessischen Demokraten fallen sollte. Während in der Provinz Rheinhessen ein Freikorps gebildet wurde, das den ebenfalls im Frühjahr 1849 ausgebrochenen Aufstand in der bayerischen Pfalz unterstützen sollte, versuchten die Demokraten in den hessischen Provinzen Oberhessen und Starkenburg, den badischen Aufstand zu unterstützen. Um die badischen Aufständischen zu entlasten und um die »an der Bergstraße zum Schutz von Darmstadt und Frankfurt« versammelten Truppen unter Druck zu setzen, hatte sich in Darmstadt »Anfang Mai – ebenso wie in Rheinhessen – ein Wehrausschuß gebildet, der von dem Volksleseverein, dem Arbeiterverein, dem Märzverein und dem demokratischen Teile der Bürgerwehr, den ›Schwarzen Schützen‹, ins Leben gerufen wurde. Der Versuch, auch den konstitutionellen Verein in die Bewegung hineinzuziehen, war an seiner ablehnenden Haltung gescheitert. An die hessische Regierung wurde sogleich von diesem Ausschuß das Ansinnen gestellt, ihren guten Willen (– nämlich die Reichsverfassung, die sie anerkannt hatte, zu schützen –) nunmehr positiv zu betätigen und Geld, Waffen, Munition und Truppen zum Schutz der Nationalversammlung sogleich zur Verfügung zu stellen. Der Vorsitzende des Volkslesevereins, Dr. Wilhelm Zimmermann, ein sehr kluger, energischer Mann, hatte hauptsächlich die ––––––––– 82 Ebd., S. 185. 83 Ebd.
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Ernennung des Wehrausschusses veranlaßt, vermochte aber nicht, ihn in größere Aktivität zu versetzen. Zimmermann hatte erkannt, daß nur die schnelle Verbreitung der pfälzischen und badischen Bewegung über Hessen und weiter nach Norden hinaus der Erhebung zum Siege verhelfen könne.«84
Dieser Wehrausschuss legte »Zimmermann [...] die unbeschränkte Gewalt in die Hände«.85 Zur gleichen Zeit hatten tatsächlich die Demokraten in der Provinz Oberhessen ihre Anhänger mobilisiert, um einen im südlichen Hessen ausbrechenden Aufstand zu unterstützen. So heißt es im Polizeibericht Novers: »Unter den zahlreichen Demokraten des Vogelsbergs herrschte in den Monaten May und Juny 1849 eine unbeschreibliche Regsamkeit. Fast alle Mitglieder der demokratischen Vereine versahen sich mit Waffen [Sensen, Gewehre p]; man glaubte jeden Augenblick, die blutigste Revolution müsse jetzt ausbrechen.«86
Wilhelm Zimmermanns Aufstandsplan sah nach seinen eigenen Worten vor, dass »in einem gegebenen Augenblicke mit einer Schaar auserlesener, entschlossener Männer in einem im mittleren Odenwalde, nahe der badischen Grenze gelegenen Orte Posto zu fassen, in einer einzigen Nacht die ganze wehrfähige Bevölkerung des mittleren und oberen Odenwaldes durch meine Emissäre in Bewegung zu setzen und nach dieser Stelle zu lenken. In der Frühe des andern Morgens, ehe noch die hessische Regierung genaue Kenntniß von der Sachlage haben und ihre Dispositionen treffen konnte, wollte ich mit der zu Compagnieen und Bataillonen formierten Masse auf die Hauptstadt los marschiren, auf dem Wege dahin die ganze wehrfähige Mannschaft des vorderen Odenwaldes mit fortreißend und Alles niederwerfend, was sich uns in den Weg stellen sollte. – In derselben Nacht sollte eine starke Colonne von Rheinhessen über den Rhein setzen und sich mit uns vor der Hauptstadt vereinigen. In der Residenz selbst und in der Umgegend war die Nationalpartei jeden Augenblick bereit, sich auf ein gegebenes Signal zu erheben. Selbst in der Garnison der Hauptstadt hatte ich Anhänger, die mir Angaben über Waffen- und Munitionsvorräthe, sowie über streng geheim gehaltene Signale u. dgl. m. gemacht hatten, Dinge, die mir in einem gewis––––––––– 84 Mathilde Katz-Seibert: Der politische Radikalismus in Hessen während der Revolution von
1848/49. Darmstadt 1929, S. 72.
85 Ebd. 86 Nover (s. Anm. 42), p. 353.
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sen Augenblicke von großem Nutzen sein konnten. Meine geheimen Verbindungen erstreckten sich bis Hanau, Frankfurt und Gießen. An allen diesen Orten waren meine Freunde bereit, sich zu erheben, sobald sie die Nachricht von meinem Vorrücken auf Darmstadt erhalten würden. Auf diese Weise konnte sich die Bewegung mit Blitzesschnelle über ganz Hessen, Frankfurt und Kurhessen verbreiten.«87
Dieser Plan gewann in den Tagen zwischen dem 16. und 23. Mai 1848, in denen Zimmermann mit wichtigen Verbindungsmännern im Odenwald Besprechungen führte und anschließend in Mannheim mit badischen Truppen verhandelte, an Konkretion. Doch in dieser Zeit hatten andere Demokraten – vor allem Ferdinand von Löhr aus Worms und Karl Ohly aus Darmstadt – , die entweder von diesem Plan nichts wussten oder einen anderen Plan für erfolgreicher hielten, jedenfalls in dieser Zeit mit dem Darmstädter Wehrausschuss nicht zusammenarbeiteten, die Zügel in die Hand genommen. Auf ihre Initiative hin beschloss eine Volksversammlung am 23. Mai 1848 in Erbach, der Regierung in Darmstadt ein Ultimatum mit 14 Forderungen zu stellen, darunter: Volksbewaffnung, Vereidigung der hessischen Truppen und Beamten auf die Reichsverfassung, Amnestie für die politischen Angeklagten, entschädigungslose Aufhebung der Feudallasten, Auflösung der beiden hessischen Kammern und Einberufung einer konstituierenden Versammlung, Geschworenengerichte ohne Zensus usw. Diese Forderungen sollten der Regierung in Darmstadt vorgetragen werden. Die Antwort wollte man an der hessisch-badischen Grenze im badischen Laudenbach, wo ab dem 24. Mai alle Anhänger der Demokratie aus dem Odenwald bewaffnet versammelt werden sollten, abwarten, um bei Ablehnung der Forderungen mit badischer Unterstützung bewaffnet gegen Darmstadt vorgehen zu können.88 Die Versammlung in Erbach und der Zug nach Laudenbach verhinderten die Durchführung des Zimmermannschen Plans. Obwohl Zimmermann der Überzeugung war, dass das von Löhr, Ohly und anderen geplante Vorhaben »verfehlt und unausführbar«89 war, schloss er sich am 24. Mai 1848 den mobilisierten Odenwäldern in der Nähe von Fürth an, ––––––––– 87 Wilhelm Zimmermann: Der Tag von Oberlaudenbach. Ein Beitrag zur Geschichte der Revolu-
tions-Jahre 1848–1849. Mannheim 1866, S. 16f.
88 Siehe dazu auch Katz-Seibert (s. Anm. 84), S. 74f. 89 Zimmermann (s. Anm. 87), S. 29.
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auch um »soviel als möglich militärische Ordnung in die Volkshaufen zu bringen«.90 Vor diesem Hintergrund nahm Wilhelm Zimmermann »in der Uniform der ›Schwarzen Schützen‹, den Schleppsäbel an der Seite, den Heckerhut auf dem Kopf, [...] hoch zur Roß, der Schar voran, die sich in Fürth um ihn gesammelt hatte«91, an dem Zug nach Laudenbach teil. Die Aktion von Laudenbach gelang nicht. Die badischen Behörden in Unterlaudenbach wiesen die hessischen Aufständischen ab, so dass sie sich ins hessische Oberlaudenbach zurückziehen mussten. Die ganze Aktion endete in einer blutigen Auseinandersetzung mit hessischen Truppen, die am 28. Mai 1849 die Verhängung des Kriegsrechtes zur Folge hatte.92 Alexander Büchner war in diese politischen Aktivitäten im Frühjahr 1849 nicht nur am Rande eingebunden. So nahm er am 16. bis 18. April 1849 an einer »Versammlung der vereinigten Ausschüsse der politischen Vereine zu Darmstadt«93 teil, aus der heraus der erwähnte Wehrausschuss entstand. Am 6. Mai 1849 vertrat er den Darmstädter Wehrausschuss beim Bezirkstag der rheinhessischen Demokratenvereine in Oppenheim94 und sprach dort über die Organisation eines Freikorps zur Verteidigung der Reichsverfassung.95 Noch am 21. Mai 1849 war ein »Büchner« – es könnte sich hier auch um Ludwig handeln, aber die ganzen Zusammenhänge legen nahe, dass Alexander gemeint ist – Vorsitzender einer Volksversammlung in Darmstadt, auf der es um die Unterstützug des badischen Aufstand ging.96 ––––––––– 90 Ebd., S. 30. 91 Karl Lindt: Die Volksversammlung zu Oberlaudenbach am 24. Mai 1849. Heppenheim
1925, S. 7.
92 Siehe dazu auch Katz-Seibert (s. Anm. 84), S. 74f. 93 Darmstädter Journal, 20. April 1849. Alexander Büchner veröffentlichte hier das Proto-
koll der genannten Versammlung.
94 Siehe dazu auch Katz-Seibert (s. Anm. 84), S. 70. 95 Siehe dazu: E. G. Franz: Die hessischen Arbeitervereine im Rahmen der politischen Arbeiter-
bewegung der Jahre 1848-1850. In: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde. Nr. 33. Darmstadt 1975, S. 167–262, hier S. 215. – Die Hinweise auf Alexander Büchners Auftreten Ende April in Darmstadt und Anfang Mai in Oppenheim verdanke ich Dr. Thomas Lange. Herzlichen Dank! 96 Der Odenwälder, 26. Mai 1849, S. 247.
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Als Alexander Büchner mit der Familie seines Bruders Wilhelm den Pfingstausflug zum Felsenmeer unternahm, »wimmelte« der »ganze Landstrich [...] bereits von hessischen Soldaten, welche den Fortschritten der badischen Bewegung Einhalt thun sollten«.97 So Alexander Büchner in seinen Erinnerungen. Er fährt folgendermaßen fort: »Als wir gegen Abend die wundervollen Parkanlagen des Jugenheimer Schlößchens durchschritten, fielen mir mehrere von Darmstadt her bekannte Offiziere auf, welche mich eifrig fixierten. So gelangten wir bis zur Station Bickenbach, wo eine große Anzahl von Fahrgästen versammelt war, welche sich mit der Eisenbahn nach Darmstadt oder Frankfurt zurückzubegeben beabsichtigten. Plötzlich durchlief die Menge das Gerücht, die ganze Bergstraße sei in Belagerungszustand erklärt. Ich fühlte mich nicht sehr wohl in meiner Haut, besonders da ich mich im Besitz eines von dem Gesinnungsgenossen Dr. med. Zimmermann entworfenen Planes eines Aufstandes im Odenwald sowie eines großen Dolchmessers befand. Es verstrichen kaum einige Minuten, als ein Gendarm in voller Uniform von einem Piquet Soldaten begleitet an mich herantrat und für verhaftet erklärte.«98
Weil Alexander Büchner gegen die Verhaftung protestierte, wollte sich der Gendarm noch einmal bei seinem Offizier der Rechtmäßigkeit der Verhaftung versichern. Diese Gelegenheit nutzte Alexander Büchner, seiner »Schwester Matilde die erwähnte Mordwaffe und die gefährlichen Papiere« zu übergeben. Mathilde warf bei einer günstigen Gelegenheit dann »die kompromittierenden Gegenstände ins tiefste Gestrüpp«.99 Alexander Büchner wurde aber tatsächlich verhaftet und vorläufig in einem Raum des Bickenbacher Bahnhofs festgehalten. Wie Alexander Büchner weiter berichtet, blieb er dort »indeß nicht lange ohne Gesellschaft [...]. In der Darmstädter Bürgerwehr hatte sich kürzlich eine freiwillige Kompagnie gebildet, welche wegen ihrer Bewaffnung wie Uniform kurzweg die ›s c h w a r z e n S c h ü t z e n‹ genannt wurde. Einer derselben, namens Stumpf, ein ›eiserner Warenhändler‹, hatte in Gesellschaft seiner Büchse einen Ausflug in die Berge gemacht und kam nun zum Bahnhofe um nach Darmstadt zurückzukehren. Stumpf hatte in jungen Jahren in der algerischen Fremdenlegion gedient und galt somit für eine militärische Autorität. Als er die brühwarme Nachricht von meiner Verhaftung erfuhr, äußerte er sich mit soldatischem Freimut über die Ungesetz––––––––– 97 Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 185. 98 Ebd., S. 185f. 99 Ebd., S. 186.
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lichkeit eines solchen Gewaltstreiches. Dies wurde sogleich dem Major hinterbracht, und derselbe verordnete die Verhaftung des ›schwarzen Schützen‹ wegen Aufreizung zur Rebellion. Stumpf wurde zu mir gesperrt, wir erkannten uns, umarmten uns als Schicksalsgenossen und machten uns weidlich über das ganze Abenteuer lustig [...]«100
Anschließend wurde Alexander Büchner nach Heppenheim gebracht. Dort, so Alexander Büchner, »befanden wir uns vor dem Kriminalassessor W. Derselbe war in unserem elterlichen Hause wohl bekannt, begrüßte mich dementsprechend und nachdem die nötigen Formalitäten erledigt waren, klärte er mir die Sache dahin auf, daß eine Personalverwechslung zwischen mir und dem in Ober-Laudenbach thätig gewesenen Dr. Z. meine Verhaftung veranlaßt habe [...]«101
Mit »Dr. Z.« ist zweifellos der Verfasser jenes Aufstandsplans gemeint, den Mathilde Büchner ins Gebüsch geschleudert hatte. Dass ausgerechnet Alexander Büchner mit Wilhelm Zimmermann verwechselt wurde, erscheint seltsam. Diese Zusammenhänge aufzuklären hat sich Alexander Büchner im hohen Alter, als er seine Erinnerungen schrieb, offensichtlich nicht getraut. Alexander Büchner wurde nun nicht unmittelbar freigelassen, sondern nach Darmstadt ins Arresthaus gebracht, weil nur das Darmstädter Hofgericht den Haftbefehl aufheben konnte. In Darmstadt war Alexander Büchner noch weitere »acht Tage lang« inhaftiert, »bis mein Alibi bei der Laudenbacher Katastrophe erwiesen war«.102 Dies konnte Alexander Büchner mit Hilfe seiner »aktenmäßige[n] Anwesenheit auf dem Hofgericht in Darmstadt an jenem verhängnisvollen Tage«103 – gemeint ist der Tag des Zusammenstoßes in Oberlaudenbach, also der 24. Mai 1849 – nachweisen. Demnach hätte sich der mutmaßliche Anlass für Alexander Büchners angebliche Flucht zu seinem Bruder Wilhelm nach Pfungstadt, der Haftbefehl gegen ihn wegen der Erzählung in den Wilden Rosen, erst nach den Ereignissen von Oberlaudenbach, folglich frühestens am Freitag, dem 25. Mai 1849 ergeben. ––––––––– 100 101 102 103
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Ebd., S. 186f. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd.
Das geschilderte Geschehen, vor allem Alexander Büchners Beteiligung daran, ist verwirrend. Deshalb hier noch einmal ein kurzer Überblick: – Am Donnerstag, dem 24. Mai 1849, zogen die rebellierenden Odenwälder nach Unterlaudenbach (Baden) und von dort zurück nach Oberlaudenbach (Hessen). – Am Freitag, dem 25. Mai 1849, oder am Samstag, dem 26. Mai 1849, muss demnach Alexander Büchner das Schreiben mit der Anordnung seiner Verhaftung wegen der Erzählung in den Wilden Rosen entdeckt haben. – Am Sonntag, dem 27. Mai 1849, oder am Pfingstmontag, dem 28. Mai 1849, fand der Pfingstausflug der Büchners zum Felsenmeer statt. Warum Alexander Büchner drei oder vier Tage nach dem Scheitern der Aktion vom 24. Mai 1849 noch mit dem Aufstandsplan Zimmermanns in der Tasche in den Odenwald wanderte, ist kaum nachvollziehbar. Dass Alexander Büchner über diesen Plan verfügte, legt aber nahe, in ihm einen der »Emissäre«104 zu sehen, die zum verabredeten Zeitpunkt in den Odenwaldgemeinden erscheinen sollten, um die dortige Bevölkerung nach Darmstadt zu führen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Rückzug nach Pfungstadt ihn von weiteren Informationen abgeschnitten hatte. Demnach wäre er nach Plan in den Odenwald gezogen und hätte erst dabei gemerkt, dass der Plan nicht mehr durchführbar war. Obwohl Zimmermann in seinen Erinnerungen keine Angaben über den Tag seines Aufstandes macht, legt seine Taktik nahe, als solchen einen Feiertag zu vermuten. Die Regierung in Darmstadt sollte überrascht werden. Zur Geschichte der Verwicklung Alexander Büchners in die Aufstandsplanungen des Frühjahrs 1849 gehört jedenfalls auch, dass Alexander Büchner darüber später nur vage Andeutungen macht, die Zusammenhänge eher verschleiert und sich damit von seiner ehemaligen Militanz distanziert. Nach Freilassung und kurzem Aufenthalt in Darmstadt begab sich Alexander Büchner, weil er sich »von neuen Maßregeln der Gerichte bedroht« fühlte, nach Frankfurt, wo er »Mitglied der Redaktion der dort er––––––––– 104 Zimmermann (s. Anm. 87), S. 20.
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scheinenden ›Ne u e n D e u t s c h e n Z e i t u n g‹« wurde.105 Das kann, wenn man die Angaben über die Inhaftierung berücksichtigt, frühestens am 6. Juni 1849 der Fall gewesen sein. In Frankfurt blieb Alexander Büchner jedoch nicht lange, denn Otto Lüning, »der Redakteur dieses Blattes, [...] ein in der Wolle gefärbter Demokrat, brachte [ihn] nach Hanau«, wo sich Alexander Büchner der Hanauer Turner-Freischar anschließen wollte, »welche nach Heidelberg abgehen sollte unter Führung des damals wohlbekannten Demokraten Schaertner. Diese Truppe war sehr zahlreich, gut bewaffnet, vortrefflich organisiert und hat in der That unserer Sache wesentliche Dienste geleistet, indem dieselbe das hessische Korps beschäftigte, welches, den Neckar hinaufmarschierend, die rechte Flanke der Badenser bedrohen sollte. Unglücklicherweise war diese wackere Turnerschar schon am Tage vorher abgerückt, und während ich mich nach einer anderen Gelegenheit umsah, kam die Nachricht von der Schlacht bei Waghäusel, in welcher der Prinz von Preußen, unser nachmaliger Kaiser, an der Spitze einer zahlreichen Armee den von Mieroslawsky befehligten badischen Truppen den Garaus gemacht hatte.«106
Die von Alexander Büchner erwähnte Hanauer Turnerwehr zog schon am 2. Juni 1849 mit rund 500 Mann an den Neckar, und am 15. Mai 1849 verteidigten sie sich bei Hirschhorn »bravourös gegen ein kurhessisches Regiment, bayerische Jäger und Darmstädter Geschütze«.107 Am Gefecht bei Waghäusel am 21. Juni 1849, das der badischen Erhebung und damit der Revolution insgesamt ein Ende bereitete, waren die Hanauer Turner nicht beteiligt. Dieses Gefecht bei Waghäusel und die Niederschlagung des badischen Aufstandes haben Alexander Büchner veranlasst, mit Hilfe eines Passes, den ihm ein Hanauer Bürger überließ, von Hanau zu seiner Verwandtschaft nach Gouda zu fliehen, wo er sich bis zum Herbst 1849 aufhielt.108 In der Zwischenzeit wurde das Verfahren wegen der Erzählung über Weidig in den Wilden Rosen tatsächlich eröffnet. Wegen Abwesenheit des Angeklagten wurde dessen Festnahme bzw. Vermögensbeschlagnahmung verfügt. Weil da nichts zu holen war, gab sich das Ge––––––––– 105 106 107 108
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Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 192. Ebd., S. 192f. Eckhart G. Franz (Hrsg.): Die Chronik Hessens. Dortmund 1991, S. 243. Vgl. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 193.
richt offensichtlich mit der Zusicherung Alexander Büchners zufrieden, beim nächsten Verhandlungstermin im Oktober 1849 anwesend zu sein. Das geschah dann auch so, und sowohl Alexander Büchner als auch der mitangeklagte Verleger der Wilden Rosen, Karl Schild, wurden freigesprochen.109
6. Die drei anderen Geschwister Büchner – Mathilde, Wilhelm und Luise – haben nach Lage der Quellen alle mehr oder weniger mit der Revolution von 1848/49 sympathisiert, waren aber deutlich weniger aktiv. Für Frauen war ein öffentliches Auftreten ohnehin kaum möglich, so dass sie andere Formen des Engagements entwickeln mussten. Obwohl Mathilde Büchner damals bei ihren Eltern in der Darmstädter Grafenstraße wohnte, gehörte sie zu der Pfungstädter Ausflugsgesellschaft an Pfingsten 1849, die in die letzten revolutionären Ereignisse nicht nur in Hessen, sondern in ganz Deutschland hineingeriet. Das war sicherlich kein Zufall. Wenn Mathilde Alexander Büchner in größter Not – es drohte Schlimmeres als nur die Verhaftung – beistand, dann natürlich als Schwester, aber auch als eine Frau, die sich in dem Kreis demokratisch gesinnter Personen bewegte. So berichtet Alexander Büchner von einem »Mädchenkreis«, der sich 1848 um Luise und Mathilde gebildet hatte und der im Herbst 1848 den damals häufig in Darmstadt weilenden Paulskirchenabgeordneten, linken Demokraten und Schriftsteller Moritz Hartmann »förmlich angebetet« habe.110 Leider gibt es darüber keine weiteren Überlieferungen. Dass Luise Büchner darüber hinaus den Ereignissen von 1848 große Bedeutung zumaß, machen ihre Vorlesungen über die Deutsche Geschichte 1815–1870111 deutlich. Sechs der insgesamt 20 Vorlesungen hat sie der Revolution von 1848 gewidmet und damit auf dieses Ereignis einen Schwerpunkt ihrer Betrachtungen gelegt. Dort geht sie auf die Ereignisse im Mai 1849 zum Teil sehr genau ein112 und kritisiert u. a. die badischen Truppen, weil diese nicht in Richtung Darmstadt und Frankfurt vorge––––––––– 109 110 111 112
Vgl. ebd., S. 193ff. Alexander Büchner: Das »tolle« Jahr (s. Anm. 7), S. 196. Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875. Ebd., S. 533–536.
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stoßen sind. Vermutlich hat auch Luise Büchner intime Kenntnisse der Aufstandspläne besessen oder zumindest später Einblick bekommen. Im Unterschied zu den anderen Geschwistern war Wilhelm Büchner 1848 schon ein durch und durch selbständiger Mann. Gerade das hinderte ihn aber vermutlich zunächst an einem aktiveren Engagement. Er war im Jahr 1848 zunächst vor allem mit familiären und beruflichen Angelegenheiten beschäftigt. Im Januar 1848 wurde Wilhelm zum zweiten Mal Vater. Allerdings war die Tochter Elisabethe Wilhelmine Johanette von Anfang an nicht gesund und starb schon am 11. Oktober 1848. Vorher, nämlich im Juli 1848, war das Ehepaar Elisabeth und Wilhelm Büchner – Elisabeth war eine Cousine Wilhelms aus Gouda in Holland, kam also aus der Familie, zu der Alexander Büchner im Sommer 1849 geflohen war – von Darmstadt in das Obergeschoss der auch als Fabrikgebäude benutzten Mühle nach Pfungstadt umgezogen. Am 8. Oktober 1848, also wenige Tage vor dem Tod der zweiten Tochter, wurde die Teilhaberschaft von Dr. Hermann Wilckens an der Ultramarinfabrik Büchners beendet. Trotz dieser familiären und beruflichen Belastungen ließ sich Wilhelm Büchner im Frühjahr 1848 als Wahlmann für die Wahl zur Nationalversammlung aufstellen.113 Anfang des Jahres 1849 mischte sich Wilhelm Büchner dann intensiver in die Politik ein. Zunächst nahm er am 21. Januar 1849 an einer Versammlung anlässlich der Verabschiedung der Grundrechte in der Nationalversammlung in Auerbach an der Bergstraße teil. Dort gehörte er offensichtlich zu der Gruppe von Teilnehmern, die nach dem angekündigten Teil noch eine weitere Versammlung abhielt, in der »zum Theil in starker Weise«114 gesprochen wurde, wie das Frankfurter Journal am 24. Januar 1849 meldete. Überliefert sind Hinweise, dass Wilhelm Büchner im Anschluss an die Versammlung Unterschriften der Wahlmänner gegen Heinrich von Gagern gesammelt hat. Auerbach lag im Wahlbezirk Zwingenberg, dem Wahlbezirk Gagerns. Auf die Vorwürfe, er sei bei seiner Unterschriftensammlung ohne eine einzige Unterschrift geblieben, reagierte Wilhelm Büchner in der Neuen Deutschen Zeitung mit ––––––––– 113 Dies erwähnt Wilhelm Büchner in einem Kalendarium. Es gehört zum unverzeich-
neten sogenannten Wilhelm Büchner-Depositum, das zum Zeitpunkt der Recherche in der Forschungsstelle Georg Büchner in Marburg aufbewahrt wurde. Neuerdings befindet es sich im Stadtarchiv Pfungstadt. 114 Frankfurter Journal, 24. Januar 1849.
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dem Hinweis, dass bei der anschließenden Sammlung von Wahlmännerunterschriften zu Gunsten Gagerns dieser um 37% gegenüber der letzten Wahl verloren hatte. Das lasse auf das wirkliche Verhalten der Urwähler schließen.115 Dieses Auftreten für die demokratische Linke setzte Wilhelm Büchner mit der schon erwähnten Hilfe für seinen Bruder Alexander im Frühjahr 1849 und dann vor allem mit seinen Landtagskandidaturen für die Demokraten fort. Im Dezember 1849 und nach der Landtagsauflösung im September 1850 wurde er im Wahlkreis Zwingenberg jeweils in den Landtag gewählt. Da beide Landtage schon kurz nach ihrer Konstituierung wieder aufgelöst wurden, konnte sich Wilhelm Büchner hier allerdings nicht profilieren. Ab 1862 gehörte Wilhelm Büchner erneut dem Landtag an, jetzt allerdings für die deutliche gemäßigtere Fortschrittspartei.
7. Abschließend bleibt zu fragen, ob man in den Geschwistern Büchner und ihrem Engagement z. B. in der Revolution von 1848 einen „Echoraum“116 sehen kann, in dem die Stimme Georg Büchners widerhallte. Diese Frage kann hier nur kurz angerissen werden. Sicherlich war allen Geschwistern Büchner das Schicksal des Bruders Georg bewusst. Vor allem Ludwig und Alexander Büchner haben in Gießen zeitweise eng mit August Becker, einem der engsten Freunde Georgs aus dem Jahr 1834, zusammengearbeitet. Vermutlich sind den beiden Brüdern noch weitere Aktivisten aus der Landboten-Zeit begegnet. Trotzdem muss man feststellen, dass es keine öffentliche Erinnerung an Georg Büchner und seine politischen Ideen in der Zeit um 1848 gab. Selbst in der von August Becker herausgegebenen Zeitung Der Jüngste Tag wird Georg Büchner nur einmal kurz erwähnt.117 Zwar haben dann die Geschwister 1850 durch ihre Herausgabe der Nachgelassenen Schriften Georg Büchners118 das für sie Mögliche getan, um ihren Bruder aus der ––––––––– 115 Neue Deutsche Zeitung, 10. Februar 1849. 116 Heiner Boehncke, Peter Brunner, Hans Sarkowicz: Die Büchners oder der Wunsch, die
Welt zu verändern. Frankfurt a. M. 2008, S. 150.
117 Der jüngste Tag (s. Anm. 12), 30. März 1848, S. 269. 118 Georg Büchner: Nachgelassene Schriften. Frankfurt a. M. 1850.
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Vergessenheit zu holen. Dennoch ist die vermutlich vor allem von Ludwig Büchner erfolgte Bearbeitung in verschiedener Hinsicht nicht unproblematisch.119 Insbesondere Ludwig Büchner wird vorgeworfen, das Werk seines Bruders geglättet zu haben, um »den aus dem Rahmen fallenden Bruder als integrierbares Glied der Literaturgesellschaft«120 präsentieren zu können. Tatsächlich entwickelte sich die Gedankenwelt Ludwig Büchners spätestens seit seiner Arbeit an Kraft und Stoff, also seit etwa 1854, vermutlich aber schon seit 1848, in eine Richtung, die sich von den politischen Vorstellungen seines Bruders Georg deutlich entfernte. Ähnliches lässt sich von Wilhelm und Luise Büchner sagen. Alexander Büchner dagegen hielt sich nach 1855 als in Frankreich lebender Literaturprofessor und Publizist aus politischen Diskussionen weitgehend heraus. Auf diese weitere politische Entwicklung der Geschwister Büchner wird dann bei anderer Gelegenheit einzugehen sein.
––––––––– 119 Siehe dazu z. B. MBA 6, bes. S. 300; Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. König-
stein/Ts. 1985, S. 90f.
120 Hubert Gersch: »Nachwort«. In: Georg Büchner: Lenz. Studienausgabe. Stuttgart
1998, S. 64.
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Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Doerte Bischoff, Institut für Germanistik II, Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Universität Hamburg, Von-Melle-Park 6, 20146 Hamburg Prof. Dr. Marion Brandt, Uniwersytet Gdaľski, Wydziaâ Filologiczno– Historyczny, Instytut Filologii Germaľskiej, ul. Wita Stwosza 55, 80–952 Gdaľsk, Polen Prof. Dr. Burghard Dedner, Forschungsstelle Georg Büchner im Fachbereich 09 der Philipps-Universität, Biegenstr. 36, D-35032 Marburg Nora Eckert, Sennockstr. 17, D-12103 Berlin Joachim Franz (M.A.), Seminar für deutsche Philologie, der Universität Mannheim, D-68131 Mannheim Prof. Dr. Andrea Geier, Universität Trier, FB II Germanistik, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, D-54286 Trier Prof. Dr. Alfons Glück, Alte Höhle 23, D-35083 Wetter Matthias Gröbel, Gutenbergstr. 6, D-64342 Seeheim-Jugenheim Dr. Raphael Hörmann (PhD), Graduate School »Transnational Media Events from Early Modernity to the Present«, Justus-LiebigUniversität Gießen, Otto-Behagel-Str. 10 C1, 35394 Gießen Carolina Kapraun (M.A.), Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften, Institut für Neuere deutsche Literatur, Wilhelm-Röpke-Str. 6A, D-35032 Marburg Prof. Gábor Kerekes (PhD), Eötvös Loránd -Universität, Philosophische Fakultät, Germanistisches Institut, H-1088 Budapest, Rakoczi ut 5 Prof. Dr. Ariane Martin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, D-55099 Mainz
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Prof. Dr. Michael Niehaus, TU Dortmund, Fakultät Kulturwissenschaften, Institut für deutsche Sprache und Literatur, Emil-Figge-Str. 50, D-44227 Dortmund Per Roecken (M.A.), Bergaustraße 24, D-12437 Berlin Dr. Sabine Schu (M.A.), Universität des Saarlandes, Philosophische Fakultät II, Germanistik (FR 4.1), Gebäude C 5.3, D-66041 Saarbrücken PD Dr. Dietmar Till, Freie Universität Berlin, Cluster Languages of Emotion, Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin
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