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German Pages 296 [284] Year 2008
Georg Bchner Jahrbuch 10 (2000 – 04)
Georg Bchner Jahrbuch 10 (2000 – 04) Fr die Georg Bchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Bchner – Literatur und Geschichte des Vorm rz – am Institut fr Neuere deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universit t Marburg herausgegeben von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer
NIEMEYER
Redaktionsadresse: Georg Bchner Jahrbuch c/o Philipps-Universit t Marburg. Fachbereich 09. Forschungsstelle Georg Bchner D-35032 Marburg/L. oder ber Georg Bchner Gesellschaft Biegenstr. 36 D-35057 Marburg/L. Redaktion dieses Bandes: Ingrid Rehme Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn m;glich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beitr gen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit blicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.
Gedruckt mit Untersttzung durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und die Stadt Marburg Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Georg-Bchner-Jahrbuch / fr die Georg-Bchner-Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Bchner – Literatur und Geschichte des Vorm rz – am Institut fr Neuere deutsche Literatur und Medien der Philipps-Universit t Marburg hrsg. – Tbingen: Niemeyer. [Bd.] 10. 2000 – 2004 (2005) F Max Niemeyer Verlag GmbH, Tbingen 2005 Motiv: Georg Bchner im Oktober 1833 Bleistiftzeichnung von J.-B. Alexis Muston Umschlaggestaltung nach Entwrfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Satz: epline, Kirchheim/Teck Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf ltigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 3-484-60445-X ISSN 0722-3420
Inhalt Abkrzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aufstze Tobias Schmidt: »Aber gehn Sie inNs Theater, ich rathN es Ihnen«. – Das Darmst dter Theater zu Georg Bchners Zeit . . . . . . . . . . . . Sabine Dissel: »Ha, kannst du mir vergeben, Porcia?« Interpretationsans tze im Kontext der Shakespeare-Anspielungen in Dantons Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans H. Hiebel: Republikanische Motive in Georg Bchners Dantons Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Koji Taniguchi: Zwischen Idee und Leib. Georg Bchners weltanschauliche Stellung in Dantons Tod . . . . . . Ulrike Dedner: Der relative Zuwachs revolution rer Wirklichkeit in Georg Bchners Revolutionsdrama Dantons Tod . . . . . . . . . . . Hermann Patsch: Robespierre als »impotenter Mahomet«. Bemerkungen zu einer Szene in Bchners Dantons Tod III/6 . . . . Gerhard Friedrich: Lenzens und Werthers Leiden. Zur Demontage eines sthetischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Otto R;ßer: Die kritische Perspektive aufs Subjekt in Bchners Lenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gideon Stiening: »Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«. Anmerkungen zu Georg Bchners Spinoza-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfram Viehweg: Woyzeck auf der Bhne. Zu einer Inszenierungsgeschichte des Woyzeck. Begrndung, Ergebnisse und Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 53 65 83 103 121 133 173 207 241
Kleinere Beitrge und Glossen Ewald Grothe: Die Ahnen des politischen Widerstands. Zu Wilhelm Liebknechts Vor- und Leitbildern . . . . . . . . . . . . . . .
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Dokumente und Materialien Ariane Martin: Ein moderner Dramatiker. Ein unbekanntes Zeugnis naturalistischer Bchner-Rezeption aus dem Jahr 1886 . . . . . . . . .
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Anschriften der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkrzungen und Siglen B 1922; (1958) Benn Briefwechsel Dedner: Einleitungen Dedner/ Oesterle DT
F Fischer GB I/II GB III GBHK GBJb GW HA
Hauschild 1985
Georg Bchners Smtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. – Leipzig 1922; bzw. Georg Bchner: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. – Wiesbaden 1958 [oder andere Auflagen] Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Bchner. – Cambridge [u. a.] 1976 [21979] Georg Bchner: Briefwechsel. Kritische Studienausgabe von JanChristoph Hauschild. – Basel, Frankfurt a. M. 1994 Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerstndige Klassiker. Einleitungen zu Bchner vom Nachmrz bis zur Weimarer Republik. – Frankfurt a. M. 1990 (Bchner-Studien, Bd. 5) Burghard Dedner u. Gnter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Bchner Symposium 1987. Referate. – Frankfurt a. M. 1990 (Bchner-Studien, Bd. 6) Georg Bchner: Dantons Tod. Entwurf einer Studienausgabe. [Hrsg.] von Thomas Michael Mayer. – In: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Bchner: Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufstzen und Materialien. – Frankfurt a. M. 21985, S. 7 – 74 Georg BchnerNs Smmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel. u. hrsg. von Karl Emil Franzos. – Frankfurt a. M. 1879 Heinz Fischer: Georg Bchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Bchner-Fund. – Mnchen 1987 Georg Bchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. – Mnchen 1979 [21982] (Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Bchner III. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. – Mnchen 1981 (Sonderband aus der Reihe text + kritik) Georg Bchner an »Hund« und »Kater«. Unbekannte Briefe des Exils. Hrsg. von Erika Gillmann, Thomas Michael Mayer, Reinhard Pabst und Dieter Wolf. – Marburg 1993 Georg Bchner Jahrbuch Georg Bchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 B ndchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. – Frankfurt a. M. 1987 Georg Bchner: Smtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. – Hamburg [dann Mnchen] 1967 ff. [Hamburger bzw. HanserAusgabe] Jan-Christoph Hauschild: Georg Bchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Bchner-Briefen. – K;nigstein/Ts. 1985 (Bchner-Studien, Bd. 2)
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Hauschild 1993; 21997 Hinderer HL Katalog Darmstadt
Katalog Dsseldorf
Katalog Marburg Knapp Lenz LL
MA Marburger Denkschrift
Martens H. Mayer MBA
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Jan-Christoph Hauschild: Georg Bchner. Biographie. – Stuttgart, Weimar 1993; Berlin 21997 Walter Hinderer: Bchner-Kommentar zum dichterischen Werk. – Mnchen 1977 Gerhard Schaub: Georg Bchner / Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. – Mnchen 1976 (Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Georg Bchner 1813 – 1837. Revolutionr, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenh;he Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. – Basel, Frankfurt a. M. 1987 Jan-Christoph Hauschild (Bearb.): Georg Bchner /Bilder zu Leben und Werk. [Katalog der] Ausstellung des HeinrichHeine-Instituts zum 150. Todestag Georg Bchners am 19. Februar 1987. – Dsseldorf 1987 (Ver;ffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts) Georg Bchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. – Marburg 1985 [31987] Gerhard P. Knapp: Georg Bchner. 3., vollst. berarb. Aufl. – Stuttgart, Weimar 2000 (Sammlung Metzler, Bd. 159) Georg Bchner: Lenz. Studienausgabe mit Quellenanhang und Nachwort. Hrsg. von Hubert Gersch. – Stuttgart 1984 [21998] (Reclams Universal-Bibliothek 8210) Georg Bchner: Leonce und Lena. Ein Lustspiel. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. – In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Bchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beitrge zu Text und Quellen von J;rg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. – Frankfurt a. M. 1987 (Bchner-Studien, Bd. 3), S. 7 – 87 Georg Bchner: Werke und Briefe. Mnchner Ausgabe. Hrsg. von Karl P;rnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. – Mnchen, Wien [desgl. Mnchen: dtv] 1988 Marburger Denkschrift ber Voraussetzungen und Prinzipien einer Historisch-kritischen Ausgabe der Smtlichen Werke und Schriften Georg Bchners. [Hrsg. von der] Forschungsstelle Georg Bchner – Literatur und Geschichte des Vorm rz – im Institut fr Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universit t Marburg und [der] Georg Bchner Gesellschaft. Erste Fassung. – Marburg/L. 1984 (als Manuskript gedruckt) Georg Bchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. – Darmstadt 1965 [31973] (Wege der Forschung, Bd. LIII) Hans Mayer: Georg Bchner und seine Zeit. – Frankfurt a. M. 1972 [41980] (suhrkamp taschenbuch 58) Georg Bchner: Smtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Mar-
MEW N Noellner P
Poschmann UZ ViStor WA Weidig Woyzeck
burger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. – Darmstadt 2000 ff. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hrsg. v. Institut fr Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 26 Bde. – Berlin 1956 – 68 Nachgelassene Schriften von Georg Bchner [Hrsg. von Ludwig Bchner]. – Frankfurt a. M. 1850 Friedrich Noellner: Actenmßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig […]. – Darmstadt 1844 Georg Bchner: Smtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei B nden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarb. von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. – Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169) Henri Poschmann: Georg Bchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. – Berlin u. Weimar 1983 [31988] Die Geschichte Unserer Zeit, bearb. v. Carl Strahlheim […]. 30 Bde. – Stuttgart 1826 – 1831 Karl ViStor: Georg Bchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. – Bern 1949 Georg Bchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. – Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (Manu scripta, Bd. 1) Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Mller. – Darmstadt 1987 (Hessische Beitr ge zur Deutschen Literatur) Georg Bchner: Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael Mayer hrsg. von Burghard Dedner. – Stuttgart 1999 (Reclams Universal-Bibliothek 18007)
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»Aber gehn Sie ins Theater, ich rath es Ihnen«1 – Das Darmstdter Theater zu Georg Bchners Zeit Von Tobias Schmidt (Kassel) 1. Vorbemerkungen Bchners Verhltnis zum Theater seiner Zeit meinte Ingeborg Strudthoff 1957 in wenigen Stzen abhandeln zu k.nnen: »Aus Bchners Selbstzeugnissen, die uns erhalten sind, k.nnen wir so gut wie nichts ber seine Beziehung zum zeitgen.ssischen Theater erfahren […]. Wenn der Schler in Darmstadt oder der angehende Dozent in Zrich das Theater besucht hat, so k.nnen diese Theatererlebnisse nicht von entscheidendem Einfluß gewesen sein.«2 Alles in allem ergebe sich aus »Bchners Briefen und Aufzeichnungen wie aus den Stcken selbst, daß der Dichter kaum eine eingehendere Kenntnis des zeitgen.ssischen Theaters gehabt […] hat […] und auch von dieser Bhne keine Anregung empfing […].«3 Richtig ist, daß sich anhand der berlieferten Zeugnisse einzeln datierbare Theaterbesuche Bchners nicht ermitteln lassen. Entgegen Strudthoffs Aussage deutet jedoch eine ganze Reihe von Indizien sowohl in der Korrespondenz als auch im dramatischen Werk auf eine produktionssthetisch nicht unbedeutende Theaterrezeption hin. Besonders offensichtlich sind die Theateranspielungen in Dantons Tod, die vor allem in der interpretierenden Bchner-Forschung aufgegriffen wurden.4 Das gilt insbesondere fr das im sogenannten Kunstgesprch 1 Dantons Tod II/2 (MBA III.2, S. 36). Die weiteren Texte Bchners – außer Leonce und Lena (MBA VI) – werden nach der Mnchner Ausgabe zitiert: MA. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine Vorstudie zu meiner Dissertation, die sich vertieft mit Bchners Theatererfahrung auseinandersetzen und auf die hier vielfach nur skizzierten Themenkomplexe eingehen wird. 2 Ingeborg Strudthoff: Die Rezeption Georg Bchners durch das deutsche Theater. – Berlin 1957 (Theater und Drama, Bd. 19), S. 12. 3 Ebd., S. 15 f. 4 Vgl. dazu u. a. Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Bchner. – Cambridge [u. a.] 1976, S. 77 ff. Walter Hinderer: »Wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden«: Die Kom,die der Revolution in Bchners »Dantons Tod«. – In: ders.: -ber deutsche Literatur und Rede. Historische Interpretationen. – Mnchen 1981, S. 191 – 199. Gerhard P. Knapp: Georg Bchner. – Stuttgart 32000, S. 107 f.
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zwischen Danton und Camille thematisierte sthetische Realismusproblem, wo explizit auf Theater und Oper rekurriert wird (MBA III.2, S. 36 f.). Daneben verweisen Legendres pejorative Beschreibung der »Leute, […] die in den Logen im Theater sitzen« (MBA III.2, S. 13) oder der Souffleur Simon, welcher immer wieder mit diversen literarischen Zitaten und Analogiebildungen gleichsam »einhilft«, eindeutig auf die Welt der Schaubhne. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Wenn Bchner also mehrfach konkret oder metaphorisch auf die Welt des Theaters Bezug nimmt, so ist davon auszugehen, daß sie ihm nicht v.llig unbekannt war. Ihnlich wie schon Gutzkow in seiner im Juli 1835 erschienenen Rezension5 zu Dantons Tod hat auch Hans Mayer auf Anachronismen im oben erwhnten Gesprch zwischen Camille und Danton hingewiesen, die sich »[o]ffensichtlich […] ber Erscheinungen der deutschen Literatur und Kunst im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts« unterhielten, es sprchen »keineswegs aber Franzosen des Jahres 1794.«6 Herbert Wender unternahm dann den Versuch, konkrete Anspielungen auf das zeitgen.ssische Kunstgeschehen aus Dantons Tod herauszudestillieren und verwies u. a. auf Beitrge der franz.sischen Publizistik sowie Bezge zur Rossini- und Paganinirezeption.7 Das Darmstdter Hoftheater als Ort, an dem Bchner derartige Erfahrungen sammeln konnte, die sich im Werk – und zwar nicht allein im hier exemplarisch angefhrten Drama Dantons Tod – widerspiegeln, blieb bei diesen Erwgungen bisher unbercksichtigt. Natrlich ist die Verarbeitung von Theatererfahrungen nicht allein auf den Gebrauch von Theateranspielungen und -metaphorik beschrnkt, sondern kann sich auf nahezu alle Bereiche literarisch-dramatischer Gestaltung erstrecken. Fr Bchners Theaterbesuche kommen insgesamt vier Institutionen in Betracht: das erwhnte Darmstdter Hoftheater, das Theater in Straßburg und die Bhne in Zrich; darber hinaus sind vereinzelte Besuche im Frankfurter Theater denkbar. Gießen verfgte zur Zeit von Bchners Studienaufenthalt ber kein feststehendes Theater – im Großherzogtum war die institutionalisierte Bhnenkunst als exklusives Privileg der Residenzstadt vorbehalten. Den verschiedenen Husern ist allerdings ein unterschiedlicher Stellenwert beizumessen. Sowohl Frankfurt als auch Zrich besaßen fr Bchners Theaterrezeption eine
5 Karl Gutzkow: Dantons Tod, von Georg Bchner. – In: Literatur-Blatt, Nro 27 zum Ph,nix, Nro 162, 11. Juli 1835, S. 645 f. 6 Hans Mayer: Georg Bchners 2sthetische Anschauungen (1955). – In: ders.: Georg Bchner und seine Zeit. – Frankfurt a. M. 1972 (suhrkamp taschenbuch 58), S. 415. 7 Herbert Wender: Anspielungen auf das zeitgen,ssische Kunstgeschehen in Dantons Tod. – In: Dedner/Oesterle, S. 223 – 244.
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marginale Bedeutung; im ersten Fall aufgrund der zu vernachlssigenden wenigen Besuche – sollten solche berhaupt stattgefunden haben; im zweiten Fall, weil sie keinen oder zumindest keinen signifikanten Einfluß mehr auf Bchners Arbeiten genommen haben k.nnen. Anders verhlt es sich hinsichtlich des Straßburger Theaters, in dem regelmßig auch deutsche Truppen auftraten und dessen Auffhrungen von Bchners Freunden August Stoeber und Alexis Muston rezensiert wurden.8 Durch diese bestand also eine direkte Verbindung zur Straßburger Bhne, so daß Theaterbesuche mit einiger Sicherheit besonders in den ersten beiden Studienjahren 1831 bis 1833 angenommen werden k.nnen, wenngleich die Lebenszeugnisse dafr keinen konkreten Anhaltspunkt bieten. Die Theatererfahrungen in Darmstadt sind allerdings schon allein aufgrund der dort verbrachten Zeit von besonderem Interesse. Hier konnte Bchner durch die szenische Realisation dramatischer Texte und das Rezeptionsverhalten des Publikums entscheidende Erfahrungen sammeln, deren sthetische und konzeptionelle Bedeutung fr seine Dramenproduktion bisher kaum Beachtung gefunden hat. Im folgenden geht es darum, einen m.glichen Erfahrungshorizont zu rekonstruieren, der, von einem kulturhistorisch-chronologischen Ansatz ausgehend, die politischen, gesellschaftlichen und knstlerischen Grundlagen des Darmstdter Theaterbetriebs umfaßt. In einem zweiten Schritt wird kursorisch zu fragen sein, ob und inwiefern Bchner in seinen Schriften auf einzelne Aspekte dieser Theaterwelt rekurriert.9 Einen Schwerpunkt bildet die Untersuchung der Jahre zwischen 1825 und 1831, also die Zeit von Bchners Eintritt in das Darmstdter Gymnasium bis zur Aufnahme des Medizinstudiums in Straßburg.10 Das 8 Vgl. Hauschild 1993; fr diese Arbeit wurde die berarbeitete Taschenbuchausgabe verwendet: Berlin 21997, S. 179 u. 303. 9 Dabei geht es nicht darum, spekulativ Thesen zu entwickeln, welche Werke und Darsteller Bchner im einzelnen gesehen hat und wie diese auf ihn gewirkt haben. Behauptungen wie die folgenden sind zwar nicht eindeutig zu widerlegen, doch heuristisch nur sehr begrenzt sinnvoll: Von »dem vielfach bezeugten Charme« der in Darmstadt auftretenden Schauspielerin Therese Peche sei m.glicherweise etwas »in zwei seiner Frauengestalten eingegangen, in Lucile und Lena« (Hauschild 21997, S. 103); Therese Peche habe bei dem »jungen Gymnasiasten den Eindruck von der dichterischen Kraft Shakespeares wesentlich verstrkt« (Erich Zimmermann: Der junge Schler Bchner und die sch,ne Schauspielerin Therese Peche am Darmst2dter Hoftheater. Begeisterung fr Shakespeare geweckt? – In: Darmst2dter Echo, 30. 10. 1982, S. 37. Siehe auch ders.: Die Schauspieler Carl Seydelmann und Therese Peche in Darmstadt. Ein Kapitel hessischer Theatergeschichte unter Ludwig I. – In: Archiv fr hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F., Bd. 41, 1983, S. 146). 10 Haase geht in seinem Beitrag, der die Darmstdter Theaterverhltnisse kurz umreißt, davon aus, daß Bchner etwa im »Jahrzehnt von 1825 bis 1835« das »Darmstdter Theater bewußt miterlebt haben drfte«, wobei die Aussage im Hinblick auf das Studium in Straßburg und Gießen verhltnismßig unklar bleibt. Yorck A.
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Hoftheater drfte, wie nher zu zeigen sein wird, in dieser Zeit zum festen Bestandteil von Bchners Kunst- bzw. Literaturrezeption geh.rt haben, so daß auf den Spielplan und die Theaterpublizistik dieser Jahre verstrkt eingegangen wird. Eine detaillierte Analyse des gesamten Repertoires – es handelt sich dabei um rund 350 verschiedene Dramen und Opern – hinsichtlich konkreter Referenzen Bchners wrde den Rahmen dieses Beitrages allerdings um einiges berschreiten. Hier kann demnach nur ein vielfach aufschlußreiches Forschungsfeld abgesteckt werden.
2. Entwicklungen und Befunde bis zur Mitte der 1820er Jahre: Historisch-institutionelle Grundlagen fr Bchners Theatererfahrung Die Grndung des fr Bchners Theatererfahrung zentralen Großherzoglichen Hoftheaters war eng mit den politischen Ereignissen und Entwicklungen der napoleonischen Zeit und ihren sozialhistorischen Auswirkungen auf die Darmstdter Residenzstadt verknpft. 1798 arrangierte sich der seit acht Jahren regierende Ludwig X. mit Napoleon, avancierte durch die Rheinbund-Grndung 1806 zum souvernen Großherzog und nahm in diesem Zusammenhang schließlich den Namen Ludewig I. an. Durch die betrchtlichen Gebietserweiterungen und die sptere gnstige Arrondierung infolge des Wiener Kongresses war mit dem »Großherzogtum von Hessen und bei Rhein«, in dem etwa 650.000 Menschen lebten, einer der gr.ßten Mittelstaaten des Deutschen Bundes entstanden.11 Diese politische und territoriale Potenz, verquickt mit einem gesteigerten Selbstbewußtsein und neuen, wachsenden Regierungs- und Verwaltungsaufgaben, die einen enormen Zuzug von Beamten mit sich brachten, blieb nicht ohne Einfluß auf das gesellschaftliche Leben Darmstadts. Eine Folge war, daß neben dem Großherzog und der h.fischen Gesellschaft die zahlreichen RegieHaase: Theater in Darmstadt zur Zeit Georg Bchners. – In: Katalog Darmstadt, S. 82. Vor 1821 drfte Bchner die Vorstellungen ohnehin kaum besucht haben. Auf verschiedenen Theaterzetteln findet sich in den Fußzeilen der Hinweis, daß es auf »allerh.chsten Befehl […] durchaus verboten« sei, »Kinder unter 8 Jahren ins Theater einzulassen« (Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Theatergeschichtliche Sammlung). 11 Eckhart G. Franz: Der erste und der letzte Großherzog von Hessen: Frstliche Kunstf,rderung in Darmstadt. – In: Karl F. Werner (Hrsg.): Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert. Akten des 18. Deutsch-franz,sischen Historikerkolloquiums. Darmstadt vom 27. – 30. September 1982. – Bonn 1985 (Pariser Historische Studien, Bd. 21), S. 292. Vgl. auch Peter Schmitt: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700 – 1900. – Tbingen 1990, S. 29.
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rungsbeamten,12 aber nicht nur diese allein, Anspruch auf knstlerische Unterhaltung und gesellschaftliche Reprsentation erhoben, was in einer engen Beziehung zur Reaktivierung des lokalen Theaterwesens zu sehen ist. Die Einrichtung eines Hoftheaters in Darmstadt lief 1810 – verkrzt und leicht modifiziert – nach dem von Peter Schmitt erarbeiteten gleichsam idealtypischen Muster ab: »[…] eine Wandertruppe spielte fr einige Zeit, teilweise sogar erfolgreich, in einer Residenzstadt, war aber nicht in der Lage, die Auffhrungen von Opern und aufwendigeren Sprechtheaterstcken zu finanzieren bzw. hatte sich, wenn sie es doch tat, so hoch verschuldet, daß der Konkurs bevorstand. Diesen Moment nutzte der Landesherr, um die Gesellschaft in eigene Dienste zu bernehmen.«13 Am 26. Oktober 1810 wurde dann das »Großherzogliche (Hof-)Opern-Theater« – schon in der offiziellen Titulatur zeigte sich deutlich die Schwerpunktsetzung im Musiktheaterbereich – er.ffnet. Auf »Allerh.chsten Befehl«, so die Formel, welche von nun an die Ankndigungen und Theaterzettel zierte, brachte das vergr.ßerte Ensemble Mozarts Titus unter der Leitung des Konzertmeisters Georg Mangold zur Auffhrung.14 Ludewig I. ging es offensichtlich darum, mit der Rbernahme und Grndung des HofOpern-Theaters neben der Verwirklichung pers.nlicher Interessen dem gesellschaftlichen Bedrfnis Rechnung zu tragen und bewußt an die Tradition des erfolgreichen Darmstdter Barocktheaters anzuknpfen bzw. diese – analog zum politisch-territorialen Machtzuwachs – noch zu bertreffen. Hinsichtlich der Arbeitsweise und der knstlerischen Qualitt der Darmstdter Spielsttte ergibt sich ein durchaus heterogenes Bild. Ein wesentlicher Aspekt der Beurteilung, der von nahezu allen Kommentatoren aufgegriffen wurde, ist der große Einfluß, den Ludewig I. auf die Theaterarbeit ausbte. Nicht nur, daß er sich an der organisatorischen Leitung des Betriebs maßgeblich beteiligte und bis zum Redigieren des 12 Vgl. Ekkehard Wiest: Stationen einer Residenzgesellschaft. Darmstadts soziale Entwicklung vom Wiener Kongreß bis zum Zweiten Weltkrieg (1815 – 1939). – Darmstadt 1978 (Arbeiten der hessischen historischen Kommission Darmstadt), S. 48. Eckhart G. Franz: Im Kampf um neue Formen. Das Großherzogtum Hessen und seine Hauptstadt zu Zeiten Bchners. – In: Bchner – Zeit, Geist, Zeitgenossen. Ringvorlesung im Wintersemester 86/87 zum 150. Todestag von Georg Bchner. Hrsg. vom Prsidenten der Technischen Hochschule Darmstadt. – Darmstadt 1989 (THD-Schriftenreihe Wissenschaft und Technik, Bd. 46), S. 146. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die Frontstellung gegen die Quantitt der großherzoglichen Erfllungsgehilfen (»Ihre Anzahl ist Legion«) im Hessischen Landboten (MA, S. 42). 13 Schmitt: Schauspieler (s. Anm. 11), S. 28. 14 Vgl. die materialreiche, partiell allerdings wenig analytische und den lokalen Verhltnissen gegenber mitunter recht affirmative Arbeit von Hermann Kaiser: Das Großherzogliche Hoftheater zu Darmstadt 1810 – 1910. – Darmstadt 1964, S. 12.
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Theaterzettels verschiedene Arbeiten immer wieder selbst ausfhrte oder pers.nlich kontrollierte, er dilettierte auch als Kapellmeister, studierte Opern ein und kmmerte sich um das szenische Arrangement, kurz: berformte sowohl administrativ als auch knstlerisch die gesamte Theaterarbeit. Beanstandet wurden dabei jedoch u. a. das defizitre musikalische Wissen und Talent, mangelnde Partiturkenntnisse, unsystematische Probenarbeit und, daraus resultierend, eine ausufernde Anzahl von ineffizienten Proben.15 Die bis zur Mitte der 1820er Jahre berlieferten, teils anekdotisch gestalteten und teilweise sicher berzeichneten Zeugnisse verdeutlichen die vor allem das Musiktheater betreffende Verschmelzung von finanzkrftiger Kunstf.rderung und großherzoglichen Ambitionen privater Natur. Die in mancher Hinsicht selbstschtige Entfaltung degradierte das Musiktheater bisweilen zum bloßen Versuchsfeld eigener Anlagen und Interessen, was natrlich auch dem Darmstdter Publikum nicht verborgen blieb. Ein Problem, nmlich das der Theaterzensur, erledigte sich damit gewissermaßen von selbst. Jene Dramen und Libretti, die die Buchzensur mehr oder weniger unbeschadet passiert hatten, unterlagen bei der Repertoireauswahl ferner dem pers.nlichen Geschmack und Urteil des Großherzogs oder ihm nahestehender Personen. Die Folge dieser subjektiven Spielplangestaltung war, so urteilt Louis Spohr, daß »nicht nur viel Mittelmßiges gegeben, sondern auch manches Vortreffliche ganz ausgeschlossen«16 wurde. Diese Verhltnisse nderten sich auch zwischen 1825 und 1830 nicht grundstzlich, wenngleich natrlich Lebensalter und Krankheit dem bergroßen Engagement Ludewigs mehr und mehr Grenzen setzten. Unbestreitbar ist, daß auch auf Bchners Theatererfahrungen diese Herrschergestalt Einfluß genommen hat, und zwar nicht nur im Musiktheater, sondern quasi mit umgekehrtem Vorzeichen und nicht prinzi15 Vgl. Giacomo Meyerbeer: Briefwechsel und Tagebcher. Hrsg. v. Heinz Becker. Bd. 1. – Berlin 1960, S. 75. Carl Maria von Weber: -ber den Kunstzustand in Darmstadt (1811). – In: Karl Esselborn: Darmst2dter Erinnerungen. Ein Fhrer durch die Darmst2dter Memoirenliteratur. – Darmstadt 1924, S. 101. Louis Spohr: Selbstbiographie. Hrsg. v. Eugen Schmitz. Bd. 1. – Kassel, Basel 1954, S. 236. Vordergrndig weniger kritisch, aber durchaus mit ironischen bis mißbilligenden Untert.nen ußern sich Zelter und Genast. Siehe Max Hecker (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Bd. 1: (1799 – 1818). – Leipzig 1913, S. 504. Eduard Genast: Aus dem Tagebuch eines alten Schauspielers. Bd. 2. – Leipzig 21862, S. 192 f. 16 Louis Spohr: Selbstbiographie (s. Anm. 15), S. 236; vgl. ferner S. 239. Siehe auch: Hermann Knispel: Das Großherzogliche Hoftheater zu Darmstadt von 1810 – 1890. – Darmstadt, Leipzig 1891, S. 27. Zur problematischen Quellenlage und zum Forschungsstand fr den Themenkreis Hoftheater, Oper und Theaterzensur vgl. die aufschlußreiche Monographie von Michael Walter: »Die Oper ist ein Irrenhaus«. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert. – Stuttgart, Weimar 1997, S. 278 ff.
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piell zu dessen Nachteil ebenso im Schauspiel. Dieses wurde nach den Ausfhrungen Eduard Devrients in seiner 1846 bis 1874 erschienenen Geschichte der deutschen Schauspielkunst durch die Vorliebe des Großherzogs in »durchaus untergeordnetem Zustande erhalten.«17 Unangemessen ist es allerdings, die sicher zutreffende Feststellung Devrients zum Topos zu verdichten, indem die Oper holzschnittartig ber das Schauspiel erhoben wird, ohne hinreichend differenzierte Aussagen vor allem hinsichtlich der knstlerischen Arbeit zu treffen. Die schlechtere finanzielle Ausstattung des Schauspiels – wegen des im Vergleich kostengnstigeren Betriebs durchaus angemessen und bis heute praktiziert – und das geringere Interesse des Großherzogs am Sprechtheater sagen wenig ber die tatschliche Leistungsfhigkeit; umgekehrt sprechen kostenintensive, von den pers.nlichen Ambitionen Ludewigs durchsetzte große Ausstattungsopern natrlich keinesfalls zwangslufig fr knstlerische Qualitt.18 Insgesamt waren die finanziellen Aufwendungen des Großherzogs fr das Theater betrchtlich, wenn auch das Schauspiel nur wenig davon profitieren konnte. Finanziert wurden die laufenden Kosten vor allem aus der Zivilliste, also aus dem großherzoglichen Privatverm.gen. Vom Theateretat, der sich am Ende der Regierungszeit Ludewigs auf 250.000 Gulden belief, bernahm der Großherzog nach Kstners Angabe mehr als 215.000 Gulden.19 Ein wesentlicher Bestandteil der stdtebaulichen Maßnahmen, mit deren Planung ab 1810 der Weinbrenner-Schler Georg Moller beauftragt wurde und die die Ausgestaltung Darmstadts zur reprsentativen Landeshauptstadt zum Ziel hatten, war der großangelegte, auf die Bedrfnisse des Musiktheaters abgestimmte Theaterneubau. Bei diesem standen sich eine ußere architektonische Antikisierung und eine der Barocktradition verpflichtete Innenraumgestaltung in Form eines Rang-Logen-Theaters mit exponierter Hofloge und hierarchischem Gliederungsprinzip gegenber. Die programmatischen Vernderungen im Stadtbild, nicht zuletzt natrlich die Neugestaltung des Theaters, geh.rten zweifelsfrei auch zum Erfahrungshorizont der Familie Bch17 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. – Leipzig 1848 – 1874; ND: Berlin, Zrich 1929, S. 146. 18 Vgl. die Ausfhrungen und Urteile von Hermann Kaiser: Hoftheater (s. Anm. 14), S. 12 u. 37 f. Hauschild 21997, S. 101 f. Yorck A. Haase: Theater (s. Anm. 10), S. 83 f. Haase bemht sich um ein ausgewogenes Urteil, schreibt dem Schauspiel aber eine »Lckenbßerfunktion« zu, und Karpeles behauptet sogar, daß die Darmstdter »Oper alles Leben des Schauspiels gelhmt hatte.« (Gustav Karpeles: Der Stern von Sevilla. Ein Beitrag zur Biographie Heinrich Heines. – In: Bhne und Welt 6, 1904, S. 993.) 19 Karl Theodor von Kstner: Vierunddreißig Jahre meiner Theaterleitung in Leipzig, Darmstadt, Mnchen und Berlin. Zur Geschichte und Statistik des Theaters. – Leipzig 1853, S. 72. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 71. Franz spricht von lediglich 100.000 Gulden. M.glicherweise liegt hier eine Verwechs-
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ner.20 Nach der Grundsteinlegung des Theaterneubaus am 22. April 1818, vom Großherzog pers.nlich vorgenommen, konnte das Haus am 7. November des folgenden Jahres mit Spontinis Ferdinand Cortez er.ffnet werden. Knapp drei Wochen spter, am 27. November 1819, berichtete der .sterreichische Ministerresident Freiherr von Handel dem Minister des Auswrtigen und knftigen Staatskanzler Metternich von der angespannten Lage bei der Er.ffnungsveranstaltung.21 Die h.fische Gesellschaft habe bei ihrem Eintreten Beifallsbezeugungen erwartet, sei aber mit einer »ungew.hnlichen Stille«22 in Empfang genommen worden. In der Nacht brachten Unbekannte berdies »heftige, einige sagen drohende«23 Pasquillen an das neue Haus an, so daß die Nachtwache verstrkt und Untersuchungen angeordnet wurden, die aber ergebnislos blieben. Entscheidend ist, daß die Mißbilligung des h.chst kostenintensiven Reprsentationsbaus nicht nur von einer kleinen Gruppe Oppositioneller oder konkret Benachteiligter ausging, sondern vom gesamten Premierenpublikum, d. h. von Personengruppen artikuliert wurde, die bis in die Regierungskreise hineinreichten. Das demonstrative Stillschweigen des gesamten Auditoriums beim Eintritt des Hofes kam jedenfalls nahezu zivilem Ungehorsam gleich. Kontrastierend dazu die Situation im folgenden Jahr, wie der Brief des Oberappellationsgerichtsrats Theodor Arndt an Freiherrn von Senden vom 24. Oktober 1820 klarstellt.24 Am 15. Oktober, als der Großherzog auf dem Weg zum Theater gewesen sei, »stellten sich die auf dem großen Platze versammelten Brger schnell in doppelte Reihen und
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lung mit dem Betrag vor, den Ludwig II. fr das Theater aus der Zivilliste aufbrachte (vgl. unten). Eckhart G. Franz: Hof und Hofgesellschaft im Großherzogtum Hessen. – In: Karl M.ckel (Hrsg.): Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Bdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1985 und 1986. – Boppard am Rhein 1990 (Deutsche Fhrungsschichten in der Neuzeit, Bd. 18), S. 164. Vgl. auch die grundlegende Monographie von Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der H,fe im 18. und 19. Jahrhundert. – Stuttgart 1995, S. 120 f. Nach Marie Fr.lich ist der Ausbau Darmstadts von Anfang an auch im Kontext der sich ausweitenden Wohnungsnot zu sehen (Marie Fr.lich/Hans-Gnther Sperlich: Georg Moller. Baumeister der Romantik. – Darmstadt 1959, S. 114). Vgl. auch Thomas Michael Mayer: Georg Bchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk. – In: GB I/II, S. 357 – 425; ferner Hauschild 21997, S. 97. Familie Bchner strebte in dieser Zeit aufgrund der schwierigen Verhltnisse in der Dienstwohnung des Darmstdter Hospitals einen Wohnungswechsel an und zog 1819 zum Marktplatz, so daß von einem allgemeinen Interesse am Stadtausbau schon allein unter diesem Gesichtspunkt ausgegangen werden kann. Gekrzt abgedruckt bei Adolf Mller: Die Entstehung der hessischen Verfassung von 1820. – Darmstadt 1931 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 13), S. 61. Ebd. Ebd. Verkrzt abgedruckt in: ebd., S. 122.
brachten ihm ein Lebehoch, das wohl nicht herzlicher sein konnte.«25 Die Szene wiederholte sich beim Verlassen des Theaters: »Nach geendigtem Singspiel hatten sich die Brger vorm Opernhaus bis an die Schloßstiege wieder in doppelten Reihen aufgestellt und begleiteten so den Großherzog mit demselben Jubel nach Hause.«26 Wenngleich J.rg Jochen Berns berzeugend die Auffassung vertreten hat, bei der sogenannten Bauernszene (MBA VI, S. 118 f.) in Leonce und Lena handele es sich um eine Dekuvrierung des absolutistischen Einholungszeremoniells der Braut,27 und Thomas Michael Mayer sie direkt mit den Vorbereitungen fr den Einzug des Erbgroßherzogs Ludwig und seiner Gattin Prinzessin Mathilde von Bayern in Verbindung bringt,28 sind auch bei der Huldigung des großherzoglichen Theaterbesuchers augenscheinliche Parallelen zur Lustspiel-Szene auszumachen. Kongruente Ortsangaben – bei Bchner »Freier Platz vor dem Schlosse« (MBA VI, S. 182), bei Arndt »auf dem großen Platze«29 – , Ihnlichkeiten im szenischen Arrangement bei der Positionierung der Untertanen sowie die exaltierten Akklamationen des Volkes verweisen auf weitere m.gliche Realittspartikel in der Bauernszene. Freilich liegt auch eine Reihe von signifikanten Abweichungen vor. So lßt Bchner, den sozialkritischen Aspekt herausstellend, beispielsweise alkoholisierte »Bauern im Sonntagsputz« (ebd.) auftreten (das vom Landrat zitierte Programm spricht von »Smtlichen Untertanen« (ebd.)). Im Brief des Oberappellationsgerichtsrates Arndt ist hingegen nicht von Bauern, sondern von den »Brger[n]«30 die Rede. Die tiefgreifende Divergenz zwischen der realen und der fiktiven Huldigungsszene ist jedoch durch die jeweilige Perspektive bestimmt. Whrend Arndt die Optimalphase, also die erfolgreiche Realisation des Huldigungsprogramms beschreibt, fokussiert Bchner ein dressurgleiches Vorbereitungs- oder Inszenierungsmoment, das allein zur Erfllung eines zeremoniellen Anspruchs dient.31 Somit zeigt die Bauernszene in Leonce und Lena eine Inszenierung der dramenimmanenten Wirklichkeit, eine Art Planung fr ein zeremonielles Spiel im Spiel, welches durchaus Zge der Darmstdter Theaterverhltnisse trgt. Freilich wre es schon allein aus zeitlichen Grnden 25 Ebd. 26 Ebd. 27 J.rg Jochen Berns: Zeremoniellkritik und Prinzensatire. Traditionen der politischen Jsthetik des Lustspiels Leonce und Lena. – In: Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Bchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe, Beitr2ge zu Text und Quellen von J.rg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. – Frankfurt a. M. 1987 (Bchner-Studien, Bd. 3), S. 219 – 274, bes. S. 231 f. u. 252 ff. 28 Thomas Michael Mayer: Chronik (s. Anm. 20), S. 371 u. 412. 29 Adolf Mller: Entstehung (s. Anm. 21), S. 122. 30 Ebd. 31 Vgl. dazu auch J.rg Jochen Berns: Zeremoniellkritik (s. Anm. 27), S. 231 f.
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vermessen, in der von Arndt beschriebenen Episode eine konkrete Vorlage fr Bchners Drama zu sehen und das Lustspiel eindimensional als lokal gebundene großherzogliche Herrschaftssatire zu deuten.32 Festzuhalten ist jedoch, daß neben dem von Mayer und Berns ermittelten Realittsgehalt auch in Bchners theatralischem Erfahrungsbereich eine Form von ehrerbietigem »Welttheater« mit politischer Dimension lag, das in hnlicher, dramatisch ausgestalteter Form in Leonce und Lena vorgefhrt wird. Bei der Er.ffnung des Hoftheaterneubaus 1819 lag die Sache noch anders, und dafr gab es stichhaltige Grnde. Freiherr von Handel faßt die Ursachen des allgemeinen Unmuts ber den »unglcklichste[n] Zeitpunkt«33 fr das Bauprojekt im oben erwhnten Bericht an Metternich prgnant zusammen: Es sei eine Zeit »des allgemeinen Notstandes wegen der geringen Preise der Naturerzeugnisse, die im h.chsten Mißverhltnisse zu den .ffentlichen Abgaben stehen, […] der allgemeinen Grung, durch Armut und revolutionre Umtriebe erzeugt.«34 Im Zusammenhang mit dem Theaterneubau bte Heinrich Karl Hofmann scharfe Kritik am Großherzog, auf dessen Wunsch die von Frankreich gezahlten Kriegsentschdigungen nicht fr die Leidtragenden in Hessen, sondern fr laufende Staatsausgaben, darunter das Theater, verwendet wurden.35 »Wohin sind die Gelder geflossen«, fragt Hofmann in seiner Groß-Gerauer Eingabe mit provokanter Direktheit, »die von den verbndeten Mchten dem Lande zugeteilt wurden als Entschdigung fr die blutigen Opfer, fr die zahllosen Entbehrungen, fr den namenlosen Jammer und all das Elend, womit wir die Befreiung Teutschlands von dem fremden Eroberer so teuer erkaufen halfen?«36 Der Wunsch nach einer schonungslosen Aufklrung dieser Vorflle sei es, so Hofmann weiter, der neben der allgemeinen Notlage, den Einsatz fr eine »zeitgemße« Verfassung bedinge. Deutlich zeigt sich hier ein Dualismus von sptabsolutistischer Kulturpolitik und oppositionellen Forderungen nach Volksvertretung und landstndischer 32 Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings doch die Analogie zwischen Arndts Ausfhrungen hinsichtlich der Haltung des Großherzogs nach empfangener Huldigung und der Disposition K.nig Peters in III/3; Arndt berichtet, Ludewig habe verlauten lassen, »er danke herzlich, er sei zu gerhrt, um mehr sagen zu k.nnen.« Adolf Mller: Entstehung (s. Anm. 21), S. 122. Auch K.nig Peter ist nach der Aufl.sung des Konflikts, also in dem Moment, wo sich Leonce und Lena zu erkennen geben, vom Affekt gezeichnet: »Meine Kinder ich bin gerhrt, ich weiß mich vor Rhrung kaum zu lassen« (MBA VI, S. 123). 33 Adolf Mller: Entstehung (s. Anm. 21), S. 61. 34 Ebd. 35 Siehe dazu Erich Zimmermann: Fr Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmst2dter Demokraten im Vorm2rz (1815 – 1848). – Darmstadt 1987 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N. F., Bd. 2), S. 45. Adolf Mller: Entstehung (s. Anm. 21), S. 28. 36 Zit. nach Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 45.
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Verfassung, wie sie dann schließlich im Großherzogtum nach Aufgabe der Hinhaltetaktik ein Jahr spter in Kraft trat – freilich mit der Tendenz, die Machtflle der Staatsregierung zu bewahren und die Einflußm.glichkeiten des Landtages auf ein Minimum zu reduzieren.37 Der Neubau Mollers war demnach mit einer politischen und .konomischen Hypothek belastet, rckwrtsgewandt wurden illiberale, reaktionre und das Gemeinwohl unterlaufende Herrschaftsformen praktiziert, was nicht ohne Einfluß auf Bchners Theatererfahrung und ihre literarische Verarbeitung bleiben konnte. Nicht zufllig kommt Leonce, der sich zuvor nach einer selbstgefllig-sinnlosen »frstlichen Liebhaberei« (MBA VI, S. 113) umgesehen hatte, unmittelbar nach der Regierungsbernahme auf die Idee, ein Theater zu bauen – was von Lena durch Kopfschtteln allerdings vereitelt wird (MBA VI, S. 124). Der Bau einer Schaubhne als »instrumentum regni« ist zunchst jedenfalls integraler Bestandteil von Leonces sensualistischem »politischen« Programm und Ausdruck seines Regentenbildes. Die bildende und versittlichende Funktion des Theaters, auf die in Darmstadt gern zur Rechtfertigung des Baus hingewiesen wurde, war im Kontext der Ereignisse jedoch zunehmend zur beliebig verwendbaren Leerformel geworden. Wenn im Hessischen Landboten scharfzngig animiert wird: »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich fr euer Geld dort lustig machen, und erzhlt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brod an fremden Buchen herrlich angeschlagen sei, erzhlt ihnen von den sch.nen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefrbt, und von den zierlichen Bndern, die aus den Schwielen ihrer Hnde geschnitten sind, erzhlt von den stattlichen Husern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind« (MA, S. 50), so bildet der Moller-Bau, seine Besucher und der Theaterbetrieb insgesamt einen der m.glichen konkreten Bezugspunkte. Mit dem neuen stehenden Hoftheater und seiner Monopolstellung wurde das auch von Bchner angesprochene kulturelle Geflle zum Land, das in diesem Ausmaß zur Zeit der Wanderbhnen noch nicht existent war, weiter vergr.ßert. Außerdem erm.glichte es eine ungemein einfach zu handhabende staatliche Kontrolle und Lenkung der Volksunterhaltung und Brgerbildung.38 37 Vgl. Eckhart G. Franz: Hof (s. Anm. 19), S. 158 – 162, ferner ders.: Justizrat Becks Mission. Die »Nationaladresse« zur Verfassungsfrage und die hessische Verfassungsbewegung der Jahre 1816 bis 1820. – In: Burghard Dedner (Hrsg.): Das Wartburgfest und die oppositionelle Bewegung in Hessen. – Marburg 1994 (Marburger Studien zur Literatur, Bd. 7), S. 143 – 160, bes. S. 144. Adolf Mller: Entstehung (s. Anm. 21), S. 108 ff. Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 63 f.; H. Mayer, S. 167. 38 Vgl. dazu Reinhart Meyer: Limitierte Aufkl2rung. Untersuchungen zum brgerlichen Kulturbewußtsein im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. –
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3. Theater in Darmstadt zwischen Bchners Eintritt ins Pdagog im Mrz 1825 und seiner Straßburger Immatrikulation im November 1831 3.1. Theaterrepertoire im Spiegel der Didaskalia und der Hessischen Bl2tter Bei der Rekonstruktion der Darmstdter Theaterverhltnisse in der Zeit zwischen 1825 und 1831 kommt der regionalen Berichterstattung in Zeitungen eine grundlegende Bedeutung zu. Neben den zeitgen.ssischen Publikationen, die sich mit dem Theaterbetrieb auseinandersetzen, und den sprlichen »Rberresten« wie Bhnenbildentwrfe, Kostme usw. geben vor allem Rezensionen und Berichte Einblicke in die transitorische Formenwelt des Theaters und seiner Geschichte. Diese insgesamt bisher noch nicht umfassend erforschte umfangreiche Theaterpublizistik beleuchtet sowohl das Repertoire und seine szenische Realisation als auch die zeitgen.ssische Rezeption, indem sie einerseits ber die Publikumsreaktion berichtet, andererseits das Argumentationsgefge und die Wertung des Rezensenten aufzeigt. Das zentrale Darmstdter Blatt, die bis auf Montag tglich erscheinende Großherzoglich-Hessische Zeitung, publizierte allerdings keine Theaterberichte.39 Da diese ohnehin selten ber Darmstadt und das Großherzogtum berichtete, war die weitgehende Zurckhaltung gegenber dem Theater nur konsequent und entsprach dem Konzept, lokale und regionale Themen wegen ihres m.glichen Unruhe- und Konfliktpotentials zu meiden. Das von Ludewig sorgsam berwachte Theater sollte von jeder Art Kritik oder kontroverser Diskussion verschont bleiben. Damit ist das generelle Zensurproblem bei der Auswertung von Theaterberichten angesprochen. Da Schriften bis zu 20 Bogen wie Zeitungen unter die Vorzensurregelung fielen, ist nicht selten mit Interpolationen oder sogar der Unterdrckung von brisanten Artikeln zu rechnen, zumal sich die politische Kritik mitunter als Theaterkritik tarnte.40 In: Hans Erich B.deker/Ulrich Herrmann (Hrsg.): -ber den Prozeß der Aufkl2rung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien. – G.ttingen 1987 (Ver.ffentlichungen des Max-Planck-Instituts fr Geschichte, 85), S. 168 ff. 39 Abgedruckt wurden lediglich der Spielplan des Tages und – unregelmßig – technisch-administrative Theaternachrichten wie zum Beispiel die Ernennung des Freiherrn von Trckheim zum Vorsitzenden des Theaterkomitees (Großherzoglich-Hessische Zeitung, 25. 12. 1827). Allein in der Klatsch-Rubrik »Allerhand« erschienen gelegentlich Anekdoten oder sensationstrchtige kleine Meldungen, die sich aber oft nicht direkt auf das Darmstdter Hoftheater bezogen und eher von geringem Informationswert sind. 40 Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848. Bd. 2. – Stuttgart 1972, S. 60 f.
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Reine Theatervorgnge hingegen blieben von der Zensur in der Regel unbeanstandet, solange keine politische Tendenz zu erkennen war, auch wenn es sich um zgellose Angriffe auf Knstler oder Werke handelte. Die publizistische Lcke im Hinblick auf die Darmstdter Theaterberichterstattung fllte seit 1823 die in Frankfurt a. M. – also nicht mehr im Einflußbereich des Großherzogs – erscheinende Didaskalia oder Bl2tter fr Geist, Gemth und Publizit2t, die von J. L. Heller herausgegeben wurde. Schwerpunkte des Blattes bildeten literarische Stoffe wie Erzhlungen, Reiseberichte, Lyrik, daneben historische und biographische Aufstze sowie Konzert- und Theaterberichte. Das breite Korrespondentennetz der Didaskalia erm.glichte eine fast flchendeckende Berichterstattung ber das deutsche Theater, sogar kleinere Spielsttten und Auffhrungen wie z. B. in Aschaffenburg, Hanau, Bamberg oder Tbingen blieben nicht unerwhnt. Durch Meldungen aus Paris und Prag wurde die deutsche »Theaterkorrespondenz«, so die Bezeichnung der Rubrik, abgerundet. Im Mittelpunkt standen jedoch, zumindest quantitativ, die als Fortsetzungen angelegten Besprechungen von Auffhrungen und Begebenheiten in nahegelegenen Husern, wobei die Theater in Frankfurt, Mannheim und auch Darmstadt eine herausragende Position einnahmen. Die einzige Darmstdter Zeitung, die ausfhrlich ber das Hoftheater berichtete, erschien erst ab Oktober 1830, also nach dem Tod Ludewigs in der Regierungszeit Ludwigs II. Die Hessische[n] Bl2tter. Beitr2ge zur Unterhaltung und Belehrung wurden von Friedrich Hild im Verlag der Hofbuchdrucker Willschen Erben herausgegeben und konzentrierten sich neben den Theater- und Konzertberichten aus Darmstadt und der Region auf Literatur, vornehmlich Gedichte und Erzhlungen, ferner Rtsel sowie Artikel ber verschiedene Orte und Lnder mit kulturellem und historischem Schwerpunkt. In der Ausrichtung der Didaskalia demnach durchaus vergleichbar, drangen in den Hessischen Bl2ttern jedoch strker als dort mitunter provokative politische Themen an die Oberflche. Am 17. Juni 1831 sah sich das Blatt jedoch veranlaßt, mitzuteilen, daß das Erscheinen eingestellt werden msse, nachdem sich bereits zuvor schon Schwierigkeiten mit der Zensur ergeben hatten und auch die Verkaufszahlen – sicher nicht zuletzt wegen der inhaltlichen Rberschneidungen mit der etablierten Didaskalia – unbefriedigend waren.41 Fr den kurzen Zeitraum von neun Monaten liegt mit den Hessischen Bl2ttern dennoch eine bedeutende Quelle im Hinblick auf die Entwicklung des Darmstdter Theaters vor. Seit 1825 oblag die Gesamtleitung des Hoftheaters nominell einem aus drei Mitgliedern bestehenden »Hoftheater-ComitU«, dem anfangs 41 Vgl. Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 98 u. 100.
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der aus dem aktiven Militrdienst ausgeschiedene Oberst du Hall vorstand.42 Des weiteren geh.rten der Schauspieler und Regisseur Franz Grner sowie der zum Rechnungsrat berufene Kaufmann Friedrich Bopp dem Komitee an, das nach der Instruktion vom 27. Oktober 1825 fr ».konomische Gegenstnde, artistische Gegenstnde« und »pers.nliche Verhltnisse« zustndig war.43 Analog dazu verfgte auch die Hofmusik seit Oktober 1828 ber ein Leitungsgremium, dem »Hofkapell-Musik-ComitU«, das sich aus dem Hofkapellmeister Wilhelm Mangold, Musikdirektor Georg Thomas und Musikmeister Carl Thurm zusammensetzte.44 Fr das Musiktheater bedeutete diese duale Organisationsstruktur, daß ihm eine Mittelstellung zufiel, da es sowohl dem musikalischen Apparat unter der Leitung des HofkapellKomitees als auch dem Theaterkomitee verpflichtet war und obendrein im pers.nlichen Interessen- und Bettigungsbereich des Großherzogs lag, der selbstredend die h.chste Entscheidungsinstanz blieb. Bei Krankheit oder Abwesenheit Ludewigs wurden weder Opern aufgefhrt noch Proben abgehalten. Dieses Spannungsfeld bildete das organisatorische Fundament der Darmstdter Opernarbeit bis 1830. Im Zeitraum zwischen 1825 und 1830 wurden jhrlich zwischen einer und vier neuen Opern erarbeitet, dazu kamen ltere Inszenierungen, die je nach großherzoglicher Zuneigung oft etliche Jahre in Folge unverndert aufgefhrt wurden. Der Sonntag war als Spieltag blicherweise der Oper vorbehalten,45 so daß vormittglicher Gottesdienstbesuch und abendliche Opernauffhrung fr viele etablierte Familien den Ereignisrahmen des Tages bildeten. Am 13. Januar 1825 fand die erste der vier Premieren des Jahres statt, gespielt wurde Glucks Iphigenie auf Tauris. Die Didaskalia berichtete mehr als einen Monat spter – eine schnellere Publikation der Korrespondentenberichte war zwar m.glich, hing aber vermutlich neben organisatorisch-technischen Gegebenheiten auch vom Arbeitsmodus der Zensur ab – ber das Ereignis in zwei Ausgaben.46 Dabei werden alle Strukturelemente bedient, die fr ausfhrliche Theaterrezensionen der Didaskalia typisch sind. Am Anfang steht eine kurze Einleitung, die den Titel der Oper und zur schnellen Orientierung ein schlagwortartiges Urteil enthlt. Daran schließen sich 42 Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 59. Eckhart G. Franz: Vorbemerkung zum Repertorium Abteilung G 55 Landestheater Darmstadt. – Darmstadt 1984, S. IV. Vgl. auch die fr die Darmstdter Theatergeschichte dieser Zeit grundlegenden Aufzeichnungen von Dismas Fuchs: Chronologisches Tagebuch des Großherzoglich Hessischen Hoftheaters, von der Begrndung bis zur Aufl,sung desselben. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Schaubhne. – Darmstadt 1832, S. 189. 43 Zit. nach Eckhart G. Franz: Vorbemerkungen (s. Anm. 42), S. IV. 44 Ebd., S. V. 45 Vgl. Yorck A. Haase: Theater (s. Anm. 10), S. 82. 46 Didaskalia, 19. 2. 1825, Nr. 50 u. 21. 2. 1825, Nr. 52.
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ein auffhrungsgeschichtlicher Abriß einschließlich verschiedener Qualittsurteile sowie eine Wiedergabe der Handlung an. Den weitaus gr.ßten Raum beansprucht jedoch die eher stilisierte, auf technischmusikologisches Vokabular verzichtende Bewertung der Sngerleistungen47 – ein Bestandteil, der auch bei den hufigen Kurzkritiken der Didaskalia fast nie fehlt. Die maßgebliche Rezension ist also eindeutig personenfixiert, mit der Tendenz zur exaltierten Verehrung respektive Mißbilligung, wohingegen konzeptionelle und szenische Aspekte, abgesehen von der Prachtentfaltung der Kostme sowie der Ausstattung, weitgehend unbercksichtigt bleiben. Am Schluß der insgesamt sehr positiven Iphigenie-Berichterstattung kommt der Rezensent auf das Publikum zu sprechen: »Unbegreiflich ist es brigens, daß diese einzige Oper kein außerordentlich zahlreiches Publikum um sich versammelt sah […], obgleich nicht zu lugnen ist daß dieß dem wohl etwas einf.rmigen Gange des Stcks zuzuschreiben seyn m.chte, da man bei einer großen Oper gemeinhin noch Abwechslung und Theater-Effect fordert.«48 Der reformerisch-rationalistischen Ausrichtung von Glucks Opernsthetik bescheinigte das Publikum Monotonie und mangelnde Affektation. »Das sch.ne Produkt seiner Zeit«, so der enttuschte Rezensent der Didaskalia in einer Besprechung der recht zahlreichen Wiederholungen, »spricht die Menge nicht erg.zlich an«,49 was zur Folge hatte, daß das Haus mehrfach »ziemlich leer blieb.«50 Die Musiksthetik Rossinis mit ihrer charakteristischen Betonung des Rhythmischen und der Bevorzugung verspielter Koloraturen gegenber einer weitlufig repetierenden melodischen Zeichnung war auch in Darmstadt mehr und mehr in den Mittelpunkt des Publikumsinteresses gerckt.51 Ein rauschhafter musikalischer Sensualismus wurde zum Ideal erhoben, an das die substanzreichen, aber doch im Ausdruck eher klassischschlichten Kompositionen Glucks nicht heranreichten. Im Bereich der Librettistik zeichnete sich deutlich eine Zurckdrngung antiker mythologischer Themen ab, die bisher vor allem als geschtzte Projektionsflche der Hofgesellschaft gedient hatten. In diesem Zusammenhang stand auch das hartnckige Festhalten Ludewigs am mythologisch-klassischen Genre, das seinen und den Bedrfnissen der Hofge47 Verbreitet sind lobende und tadelnde Epitheta in Wendungen wie »sehr brave Leistung«, »herrliche Stimme« (Didaskalia, 19. 2. 1825, Nr. 50), »Spiel und Gesang waren unkrftig«, »Die Ch.re gut, und unverkennbar sicher« (ebd., 2. 3. 1825, Nr. 66). 48 Ebd., 21. 2. 1825, Nr. 25. 49 Ebd., 2. 3. 1825, Nr. 66. 50 Ebd., 23. 3. 1825, Nr. 82. Vgl. auch 3. 3. 1825, Nr. 67. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 187. 51 Vgl. allgemein zu dieser Entwicklung Carl Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts. – Wiesbaden 1980 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6), S. 48.
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sellschaft zumindest anfnglich – denn auch hier setzte am Ende der 1820er Jahre in Darmstadt eine Umorientierung ein – durchaus noch gerecht wurde. Die neuen Libretti verarbeiteten hingegen Stoffe u. a. aus Romanen von Walter Scott, aus den Dramen Shakespeares oder Victor Hugos und spiegeln damit eine gewisse Orientierung am Geschmack des brgerlichen Publikums wider. Bemerkenswert ist, daß dem brgerlichen Trauerspiel, welches vielleicht am deutlichsten eine literarische Emanzipationsbewegung des Brgertums reprsentierte, die librettistische Bearbeitung und damit der Zugang zur Oper verschlossen blieb.52 Neben den Opern Rossinis behaupteten sich im Darmstdter Spielplan vor allem NiccolV Piccinis Dido, Gaspare Spontinis Nurmahal oder: Das Rosenfest von Kaschmir und Ferdinand Cortez – mit 22 Auffhrungen brigens das am hufigsten gespielte Werk im untersuchten Zeitraum. Von Mozarts Bhnenwerken konnte sich mit regelmßigen Auffhrungen allein Don Juan etablieren, u. a. wohl auch deshalb, weil der alternde Großherzog an den – ihm selbst nicht fremden – amour.sen Abenteuern des Protagonisten Gefallen fand und diese nunmehr Raum fr Projektionen ließen.53 Auf besondere Aufmerksamkeit beim Darmstdter Publikum stieß das Virtuosenkonzert des in ganz Europa bejubelten NiccolV Paganini, der am 8. September 1829 im Hoftheater auftrat.54 Das anhaltende Interesse und die Bewunderung des technisch-musikalischen Phnomens Paganini, im »gebildeten« Tagesgesprch gern und hufig aufgegriffen, ließ den Geiger zur Theaterfigur eines unterhaltenden Vaudevilles mit dem Titel Niccolo Paganini, der große Virtuos werden, das am 7. Dezember 1830 in Darmstadt erstaufgefhrt wurde.55 Wender hat nahegelegt, daß Bchner anachronistisch diese Paganini-Begeisterung in Dantons Tod kommentiert, indem Camille abwertend anmerkt: »Fiedelt Einer eine Oper, welche das Schweben und Senken im menschlichen Gemth wiedergiebt wie eine Thonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach die Kunst!« (MBA III.2, S. 37). Angespielt wird hier m.glicherweise auf einen effektvollen und beim Publikum besonders beliebten Virtuosittsbeweis Paganinis, der ein bekanntes Opernthema auf nur einer Violinsaite atemberaubend zu interpretieren pflegte.56 Sollten Wenders Ausfhrungen diesbezglich 52 Vgl. ebd., S. 37. 53 Schon 1814 spottete Ernst Moritz Arndt ber die Mtressenwirtschaft Ludewigs: »Der G. H. von D. zu D. ist abgelebt und erkaltet, hat aber doch Feuer genug, an Schauspielerinnen und Beischlferinnen ungeheure Summen zu verschwenden.« Zitiert nach Hauschild 21997, S. 669. Vgl. Hermann Kaiser: Hoftheater (s. Anm. 14), S. 28 f. 54 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 228. 55 Ebd., S. 252. 56 Vgl. Herbert Wender: Anspielungen (s. Anm. 7), S. 229 f. und den im Internet publizierten (http://schiller.germanistik.uni-sb.de/buechner/kasten/Geiger.htm
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zutreffen, kommen sowohl das Gastspiel Paganinis als auch das thematisch damit in enger Beziehung stehende Vaudeville im Darmstdter Theater als schaffensrelevante Erfahrungswerte Bchners in Betracht. Auch die deutsche romantische Oper, durch das Pathos der Befreiungskriege zur Nationaloper stilisiert, war in Darmstadt durch die regelmßigen Auffhrungen des Freischtz und der Euryanthe von Carl Maria von Weber fester Bestandteil des Repertoires. Die Didaskalia hebt neben der obligaten Erwhnung der Snger- und Orchesterleistung in ihrer Besprechung des Freischtz vom 7. Juni 1825 vor allem die Ausstattung hervor: Die »Decorationen waren geschmackvoll und richtig«,57 resmiert das Blatt. Bercksichtigt man außerdem die bei Kaiser publizierten Bhnenbildentwrfe,58 so wird deutlich, daß sich im Adjektiv »richtig« das sthetische Ideal eines einfachen szenischen Realismus ausdrckt, der eine authentische historische bzw. topographische Nachbildung einforderte. Das gleiche galt auch fr die Kostmierung.59 Je konkreter und plastischer das szenisch-optische Abbild der Wirklichkeit ausfiel, je geringer die geforderte suggestive Eigenleistung, desto gr.ßer waren die Illusion des Authentischen und die Anerkennung beim Publikum. Eine bersteigerte prunkvolle Ausstattung, deren Realittsgehalt bisweilen fraglich war, st.rte den Erfolg indes nicht, sondern besttigte dem Zuschauer vielmehr idealisiert-imaginre Vorstellungen und Wunschbilder angenommener, aber nicht bekannter bzw. nicht existenter Realitt. Die technischen Voraussetzungen dafr boten die vom Hoftheater- und Maschinenmeister Ignatz Dorn »sinnreich erfundenen und vortrefflich geleiteten«60 Bhnenmaschinerien des Theaterneubaus von 1819, die von den Rezensenten der Didaskalia regelmßig lobend erwhnt werden.61 Mit der Darmstdter Erstauffhrung der Stummen von Portici von Daniel FranXois Esprit Auber am 4. Oktober 1829 gelangte ein neuer Operntypus – spter als Grand OpUra bezeichnet – in das Repertoire, der in der Residenzstadt begeistert aufgenommen wurde. EugYne Scribe hatte fr die Pariser Erstauffhrung ein Jahr zuvor den dreiaktigen Entwurf seines Mitarbeiters Germain Delavigne in ein fnfaktiges, fast ohne Verwandlungen auskommendes Libretto umgearbeitet. Cha-
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[12. 12. 2004]), bisher unkommentierten Verweis auf Ernst Elias Niebergall: Datterich. Localposse in der Mundart der Darmst2dter in sechs Bildern. – Hrsg. v. Volker Klotz nach dem Erstdruck von 1841. – Berlin 1963, S. 24: »S c h m i d t. Des is dem Paganini sei Bruda. D a t t e r i c h. Wos? Ei der kanns noch besser; dann der Paganini geit bloß uf ahner Seit, un Der uf drei.« Didaskalia, 7. 6. 1825, Nr. 158. Hermann Kaiser: Hoftheater (s. Anm. 14), S. 36, 45 u. 59. Vgl. Didaskalia, 2. 12. 1825, Nr. 336. Ebd., 13. 8. 1828, Nr. 226. Vgl. z. B. ebd., 22. 2. 1825, Nr. 53 u. 9. 7. 1825, Nr. 190.
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rakteristisch fr die hier vollzogene radikale Abwendung von einer klassizistischen Isthetik waren ein tragischer Ausgang sowie sich dramaturgisch geschickt steigernde kurze Szenen, die, durch scharfe Kontraste voneinander abgegrenzt, jeweils am Aktschluß in einem wirkungsvollen Gruppenbild kulminierten.62 In der Inszenierung ließen sich Detailrealismus, Ausstattungspomp und technische Attraktionen wie etwa der Ausbruch des Vesuvs im letzten Akt publikumswirksam miteinander verbinden, was die bei Rossini vor allem auf der musikalischen Ebene angelegten Effekte noch betrchtlich bertraf. Die Hessischen Bl2tter, die sich allgemein der Oper gegenber eher reserviert verhalten, ußern sich am 12. Februar 1831 h.chst anerkennend: »Wer diese Oper ihren Triumph feiern sehen will, muß sie hier sehen. Das Ensemble derselben kann aber auch schwerlich irgendwo besser seyn. Welche vortrefflich durchgefhrte Musik, welche herrlichen Ch.re, welche wundersch.nen Decorationen, welch prachtvolles Kostm! Das wußten die Leute aber schon im voraus und darum war das Haus berfllt.«63 Fuchs sieht allerdings mit der Stummen von Portici auch einen musikalisch-szenischen H.hepunkt erreicht, der hinsichtlich der Effekte, des Prachtaufwandes und der Orchester- und Chorbesetzung nicht mehr zu berbieten sei.64 Deutlich wird, daß hier eine Vermischung von anspruchsvolleren, exklusiven Theaterformen und populren Momenten vorliegt, was den Personenkreis der Rezipienten merklich vergr.ßerte.65 Die Stumme war wiederholt Bestandteil der lokalen Publizistik und des unterhaltsamen Darmstdter Tagesgesprchs, nicht zuletzt deshalb, weil mit ihrer Auffhrung einschneidende schicksalhafte Vernderungen in Verbindung gebracht wurden, die eine rasche Mythenbildung zur Folge hatten. Am 25. Oktober 1829 sagte die Theaterleitung die fr den Abend geplante Vorstellung kurzfristig wegen des Todes der Großherzogin ab. Das gesamte Theater blieb infolge dieses Vorfalls einen Monat geschlossen, und bis zum Jahresende fanden berhaupt keine Opernauffhrungen mehr statt.66 In der Darmstdter Zffentlichkeit wurde willkrlich und ohne konkreten Anlaß – vielleicht spielte das tragische und ergreifende Ende 62 Vgl. Ludwig Finscher: Aubers »La muette de Portici« und die Anf2nge der Grand-opPra. – In: Jrgen Schlder/Reinhold Quandt (Hrsg.): Festschrift fr Heinz Becker. – Laaber 1982, S. 87. 63 Hessische Bl2tter, 12. 2. 1831, Nr. 19. 64 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 232. 65 Finscher macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß es bei der Rezeption der Stummen von Portici in Deutschland zu einer regelrechten »Umschichtung und Regeneration des Publikums« gekommen sei. Ludwig Finscher: La muette (s. Anm. 62), S. 89. Fr Darmstadt gibt es allerdings keine Hinweise auf eine derart weitreichende Entwicklung. 66 Staatsarchiv Darmstadt (im folgenden: StA Da) Abt. D8 Nr. 108/8 (Theaterverordnung bezglich des Todes der Großherzogin).
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der Protagonistin Fenella eine Rolle – ein dsterer Zusammenhang zwischen der Stummen und dem Ableben der Großherzogin konstruiert. Als Ludewig ein Jahr spter schwer erkrankte und ebenfalls die Stumme von Portici auf dem Spielplan stand, bekam die Legende neue Nahrung. Fuchs berichtet: »[…] diese Oper ward nun fr ein Horoscop angesehen […]. Dies Schreckenszeichen fand um so mehr Glauben, da die Gefahr, in der das theure Leben des Großherzogs schwebte, sich von Tag zu Tag vergr.ßerte.«67 Bchners Vater, dem diese Darmstdter Gerchte und irrationalen Verknpfungen sicher bekannt waren, erwhnt im Brief an seinen Sohn vom 18. Dezember 1836 unter anderem einen Opernbesuch von Mathilde und Luise: »Mutter u Tante Helene sitzen oben bei der Großmutter, welche jetzt beinahe v.llig blind ist. Im Frhling soll das eine Auge operiert werden. Mathilde u Louise sind in der Oper Die Stumme. Louis ist wahrscheinlich mit Anfertigung von Weihnachtsgeschenken beschftigt […]« (MA, S. 360). Die den Brief abschließende aneinandergereihte knappe Aufzhlung von Verwandten und deren aktueller Beschftigung wird auch im Hinblick auf den Opernbesuch nicht ausfhrlicher. Ernst Bchner ging demnach davon aus, daß seinem Sohn der auch in der Darmstdter Publizistik gebruchliche Kurztitel Die Stumme bereits zum Verstndnis ausreichte. Diese Tatsache deutet darauf hin, daß Bchner der Opernstoff und wahrscheinlich auch der Darmstdter Theaterklatsch noch aus seiner Schlerzeit vertraut waren. In jedem Fall liegt hier ein eindeutiger Beleg fr Opernbesuche der Familie bzw. einzelner Familienmitglieder vor. Bereits im Mrz desselben Jahres hatte Bchner in einem Brief seinen Angeh.rigen von den in deutschen Zeitungen unterdrckten tragikomischen Vorkommnissen am Braunschweiger Theater berichtet (MA, S. 315), was auf ein allgemeines familires Interesse an den Theaterverhltnissen und sicher auch an deren kurzweilig-anekdotischen Formen hindeutet. Auffllig ist, daß sich diese Theaterepisode unmittelbar an dezidiert politische Themen anschließt und Bchner sie gleichsam als unterhaltsame Entschdigung fr die erbetenen Ausknfte ber die politischen Untersuchungen ankndigt: »Ich will euch dafr sogleich eine sonderbare Geschichte erzhlen […]« (MA, S. 315). Die theatralische »Anekdote«, in welcher der gedemtigte Frst zum grausamen Rcher avanciert, trgt Zge einer Parabel und wird von Bchner bewußt auch als ablenkendes und beruhigendes Moment verwandt, auf das die Versicherung folgt, daß unter den Flchtlingen in Straßburg »nicht das geringste politische Treiben […] herrscht« (MA, S. 315). Neben den lokalen Besonderheiten stand die Wirkungsgeschichte der Stummen ebenfalls im Kontext politischer Ereignisse. Das historische 67 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 241.
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Sujet der Oper, die den – interessanterweise im Resultat gescheiterten – Aufstand der Neapolitaner von 1647 beschreibt, der vor allem durch die maßlose Steuerpolitik des spanischen Vizek.nigs ausgel.st wurde, bot zahlreiche Identifikationsm.glichkeiten. Ein Kuriosum war die zuerst verbotene, dann aber wegen der allgemeinen Emp.rung und der angeheizten Stimmung doch gestattete Brsseler Auffhrung vom 25. August 1830. Direkt an diese schlossen sich – die sichernde Dichotomie zwischen Bhne und Realitt schien sich aufgel.st zu haben – bewaffnete Auseinandersetzungen an, die schließlich zur Grndung des unabhngigen Staates fhrten.68 Der Sachverhalt wurde auch in der Darmstdter Publizistik aufgegriffen. Die Hessischen Bl2tter kommen am 19. November 1830 zu dem lakonischen Schluß: »Im Frankreich bedurfte es um das Volk zu waffnen, freiheitsm.rderischer Ordonnanzen […]. Karl X. Minister fhrten durch ihre verbrecherischen Umtriebe, ihre Unbekanntschaft mit der wahren Gesinnung der Nation, und ihre tiefe Verachtung des Volkes, eine Revolution herbei […] in Brssel gengte – eine Oper, und der Belgischen Insurrection erste Urheber sind eigentlich – Scribe und Auber.«69 Inwieweit Ernst Bchner in seinem – nach langem Stillschweigen ersten – Brief an den Sohn diese politische Dimension bei der Erwhnung der Oper vor Augen hat, und ob sie gar als verdeckte, vorsichtige Reminiszenz an die hessische oppositionelle Bewegung und die Rolle seines Sohnes gelesen werden kann, ist nicht zu entscheiden. Anhand der Brsseler Vorflle, die keine Einzelerscheinung blieben, lassen sich vereinfachend zwei grundstzliche Rezeptionshaltungen bestimmen, die sowohl fr das Musiktheater als auch fr das Sprechtheater Gltigkeit besaßen. Grundlage fr beide war ein gewisses, teilweise neuartiges Geschichtsinteresse, das freilich sehr unterschiedlich ausgeprgt war und auf das die neuen Texte und Libretti reagierten. Auf der einen Seite stand das fr revolutionre Ideen und historisch fundierte Handlungsimpulse empfngliche eher jngere Publikum, das nicht zum traditionellen Teil der Theaterbesucher geh.rte und in Darmstadt eine kleine Minderheit ausmachte. Auf der anderen Seite hatte ein Großteil der Zuschauer umwlzende Prozesse im Zeitalter Napoleons unmittelbar erfahren und begngte sich nun mit der komfortablen und unterhaltenden sthetischen Aufbereitung historischer, mitunter sogar revolutionrer Stoffe.70 68 Vgl. Ludwig Finscher: La muette (s. Anm. 62), S. 98 f. Hans de Leeuwe: Revolution durch Oper? Aubers »Stumme von Portici« 1830 in Brssel. – In: Maske und Kothurn 30, 1984, S. 279 ff. Auch Bchner nahm von den langanhaltenden Auseinandersetzungen Notiz. Vgl. den Brief an die Familie vom Dezember 1832, in: MA, S. 277. 69 Hessische Bl2tter, 19. 11. 1830, Nr. 19. 70 Vgl. Ludwig Finscher: La muette (s. Anm. 62), S. 88.
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Der Darmstdter Sprechtheaterspielplan umfaßte zwischen 1825 und 1831 eine auffllig große Anzahl von ber 330 verschiedenen Werken. Eindeutig dominierten Dramen, bei denen die Unterhaltungsfunktion im Vordergrund stand. Wie in der deutschen Theaterlandschaft in dieser Zeit durchaus blich, kam August von Kotzebue im Darmstdter Hoftheater mit 64 gespielten Dramen eine zentrale Bedeutung zu. Weit dahinter lagen Arbeiten populrer Autoren wie August Wilhelm Iffland (15 Dramen), Ernst Benjamin Salomo Raupach (14 Dramen), dem vor allem als Rbersetzer ttigen Theodor Hell71 (10 Dramen) oder Johanna von Weißenthurn (11 Dramen). Auch wenn unter den klassischen Autoren Schiller mit 14 aufgefhrten dramatischen Werken hervorsticht, war die Anzahl der Darbietungen im Gegensatz zu den oben angefhrten Verfassern sehr gering. Einige seiner Dramen, so die 1831 erstaufgefhrten R2uber sowie Don Carlos, erlebten lediglich zwei Vorstellungen.72 Dieses umfangreiche Repertoire wurde von 30 festangestellten Schauspielerinnen und Schauspielern73 und einer Vielzahl von Gastdarstellern bewltigt,74 ohne die ein solcher Spielbetrieb kaum m.glich gewesen wre. Zu bercksichtigen ist dabei, daß sowohl das Selbstverstndnis als auch die Arbeitsvertrge der Schauspieler auf festgelegte Rollenfcher wie z. B. erster und zweiter Liebhaber, zrtliche Alte, Bonvivants, komische Rollen und Dmmlinge etc. ausgerichtet waren,75 die den Dramatis personae mehr oder weniger nachvollziehbar zugewiesen wurden.76 Diese vermeintliche Spezialisierung fhrte einerseits zu einem Mangel an Flexibilitt, andererseits konnten die einflußreichen maßgebenden Ensemblemitglieder unabhngig von Alter und individuellen Fhigkeiten ihre Anwartschaft auf bestimmte – mitunter nicht geeignete, aber exponierte – Rollen durchsetzen. Strebte ein Schauspieler den Wechsel eines Rollenfaches an, so war dies nicht selten 71 Theodor Hell (Pseudonym fr Carl [Gottfried Theodor] Win[c]kler) wird von Gutzkow in einem Brief an Bchner vom 28. 9. 1835 im Zusammenhang mit einer zu erwartenden negativen Kritik zu Dantons Tod erwhnt. Dort heißt es: »Das Brockhaussche Repertorium kanzelt Sie mit 2 Worten ab. Die Abend-Zeitung, wie ich aus einem Briefe von Th. Hell an einen Dritten sehe, wird desgleichen tun. Basenhaft genug schreibt dieser Hofrat Hell genannt Winckler: Wer ist dieser Bchner? Antworten Sie ihm darauf!« (MA, S. 341.) 72 Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 254 f., 256 u. 258. 73 Die Zahlen beziehen sich auf das bei Fuchs abgedruckte Personalverzeichnis von 1830. Ebd., S. 237 f. 74 Vgl. zum vor allem aus .konomischen Grnden im Sprech- und Musiktheater weitverbreiteten Gastspielwesen des 19. Jahrhunderts Peter Schmitt: Schauspieler (s. Anm. 11), S. 195 ff. Die in Darmstadt bliche Praxis verdeutlicht eindrucksvoll das umfngliche Gastrollenverzeichnis (StA Da Abt. D8 Nr. 127/1 – 127/5). 75 StA Da Abt. D8 Nr. 59/3. Vgl. auch Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 248 f. 76 Vgl. Ute Daniel: Hoftheater (s. Anm. 19), S. 136.
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mit Schwierigkeiten und Konflikten im Ensemble verbunden, besonders wenn es sich um eine attraktive Fachvernderung handelte. Aber auch das Publikum hatte bestimmte Rezeptionsgewohnheiten ausgebildet, die einem Rollenwechsel entgegenstanden. Als unangemessen oder ungewohnt empfundene Besetzungen des Fachs wurden deutlich quittiert, indem sich bisweilen nicht »eine Hand im ganzen Hause« regte.77 Die Festlegung auf einen bestimmten Rollentypus bei recht weitreichender individueller Gestaltungsfreiheit, die oft eine Standardisierung bedeutete, ließ ein knstlerisches Gesamtkonzept in der Regel vermissen. Dem Regisseur kam bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ohnehin primr die Aufgabe zu, die n.tigen Requisiten, Kostme etc. fr die Probe bereitzuhalten und fr einen pnktlichen, ordnungsgemßen Beginn und Ablauf zu sorgen.78 Die Zahl der Proben war infolge der vielen verschiedenen, schnell wechselnden Auffhrungen und der gleichzeitigen Operneinstudierungen insgesamt sehr gering, was im besonderen fr Gastspiele, aber auch fr Neuinszenierungen galt.79 Generalproben mit Kostmierung, vollstndigem Bhnenbild und technischen Effekten wurden gemeinhin berhaupt nicht abgehalten. In der Theaterleitung, dem schon erwhnten Hoftheaterkomitee, vernderte sich die personelle Situation mit dem neuen »vorsitzenden Mitglied« Kammerherrn und Geheimen Rat Ferdinand Freiherr von Trckheim, der die Aufgaben des »wegen Krnklichkeit« ausgeschiedenen du Halls am 11. Dezember 1827 bernahm.80 Fuchs setzte große Hoffnungen in den neuen Theatervorstand, attestierte ihm einerseits eine fundierte literarische Bildung, andererseits aber auch praktische Kompetenz und Sachkenntnisse, die er durch das mehrjhrige Studium anderer Bhnen gesammelt habe.81 Trckheim sei die geeignete Person, betont Fuchs, um als »Mittler zwischen dem Allerh.chsten Hofe und dem Theater-Personale« zu fungieren.82 Wenngleich Trckheim diese Rolle besser ausfllte als sein Vorgnger und ein Jahr spter zum alleinigen Theaterleiter mit der offiziellen Amtsbezeichnung Oberzeremonienmeister aufstieg,83 war sein Einsatz fr das Hoftheater nicht mit 77 78 79 80
Didaskalia, 2. 5. 1826, Nr. 122. Vgl. Ute Daniel: Hoftheater (s. Anm. 19), S. 136. StA Da Abt. D8 Nr. 59/3. Eckhart G. Franz: Vorbemerkung (s. Anm. 42), S. IVf. Großherzoglich-Hessische Zeitung, 25. 12. 1827. 81 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 211. 82 Ebd. 83 Eckhart G. Franz: Vorbemerkungen (s. Anm. 42), S. V. Das Hoftheaterkomitee wurde aufgel.st und an seine Stelle trat ab 23. Oktober 1829 die Großherzoglich Hessische Hoftheater-Administration. Dem Oberzeremonienmeister von Trckheim waren der mittlerweile zum »Scenerie-Direktor« aufgestiegene Franz Grner als Konsulent, Carl August Franck als Sekretr sowie Friedrich Bopp fr das Rechnungswesen beigeordnet. Deutlich wird, daß sich strukturell in der Theater-
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einschneidenden Vernderungen verbunden. Das Sprechtheater, dem Trckheim nach der Aussage Fuchs besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ,84 profitierte allerdings von der neuen Theaterleitung. Hinzu kam, daß aufgrund einer lnger andauernden Krankheit des Großherzogs zwischen Mrz und Juli 1828 keine Opern aufgefhrt wurden, was die Proben- und Arbeitssituation fr das Schauspiel verbesserte. Vor allem das Engagement bekannter Gastschauspieler, die teilweise fr lngere Zeit an das Hoftheater gebunden werden konnten, machte die Dramenauffhrungen in der Folgezeit attraktiver, steigerte die Besucherzahlen und fhrte zu einer auch von der Theaterpublizistik nachdrcklich konstatierten Erfolgsphase, die allerdings nur bis zum Winter 1828/1829 anhielt. Die »singende Muse ging nun mit der sprechenden Hand in Hand, und jeder Verstndige freute sich dessen«, resmiert die Didaskalia.85 Von einem tiefergreifenden organisatorischen oder inhaltlichen Wandel kann hier allerdings keine Rede sein. Den Spielplan bestimmte nach wie vor das Genre des »brgerlichen Rhrstcks«, dessen Handlung meist im Kreis des Familienlebens angesiedelt war.86 Die Sphre des Brgertums hatte sich infolge der sozialen Vernderungen seit dem 18. Jahrhundert nun endgltig auch als Unterhaltungsmedium auf der Bhne quantitativ durchgesetzt. Den Handlungsverlauf bestimmten brgerliche Verhaltensnormen wie Gehorsam, Fleiß, Sparsamkeit, Arbeitsmoral, die in einem rhrseligen Schlußeffekt kulminierten, bei dem die Tugend – oft auch finanziell – belohnt, das Laster hingegen gebhrend bestraft wurde. Moral und Verm.gen standen sich in zahlreichen Werken als Entsprechungen gegenber. Der glckliche Ausgang besttigte demnach die Ordnung und Ideale der brgerlichen Verhltnisse, im besonderen die Autoritt und Wirtschaftskompetenz des Hausvaters.87 Doch der moralische Rigorismus und die Rektifikation des unerwnschten Verhaltens im huslichfamiliren Kontext, wie es sich bei Iffland in ußerst ausgeprgter Form immer wieder zeigte, stieß beim Darmstdter Publikum keinesfalls anhaltend auf Gegenliebe: »Referent kann nicht umhin, noch die Bemerkung anzufgen, daß auch heute wieder die bekannten Klagen gegen
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leitung nichts verndert hatte, sondern lediglich eine »Machtkonzentration« – sieht man vom Großherzog ab – bei von Trckheim vorlag. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 211. Didaskalia, 12. 8. 1828, Nr. 225; 13. 9. 1828, Nr. 257. Schon eine Vielzahl der Dramentitel im Darmstdter Spielplan deutet auf den huslichen Bereich hin: »Die deutsche Hausfrau«, »Dies Haus ist zu verkaufen«, »Der Ehemann auf Schleichwegen«, »Der Ehrgeiz in der Kche«, »Der Hausfrieden«, »Der husliche Zwist«, »Quartettchen im Hause«. Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), passim. Vgl. dazu Horst Albert Glaser: Das brgerliche Rhrstck. – Stuttgart 1969, S. 10 sowie die ltere Arbeit von Arthur Eloesser: Das brgerliche Drama, seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert. – Berlin 1898, S. 173.
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die Ifflandschen dramatischen Produkte sich vernehmlich in Logen und Parterre ausgesprochen haben. Bei aller trefflichen Charakteristik wird doch die Breite, in der sich die Figuren der Ifflandischen Dramen bewegen, in die Lnge widrig, und es geh.rt frwahr eine große Liebhaberei und eine geprfte Geduld dazu, fnf ganze Akte hindurch diesen Familienscenen eine anhaltende Aufmerksamkeit zu schenken.«88 Der beklagten »Lnge« und »Breite« versuchte die Theaterleitung in Darmstadt dadurch zu begegnen, daß zahlreiche kurze und anspruchslose Einakter ins Programm genommen wurden. Außerdem boten andere Autoren dieses Genres, vor allem Kotzebue, eine topographische oder historische Ausweitung des Handlungsrahmens, ohne aber den familiren Bereich und die damit verbundenen normativ-moralischen Themen zu vernachlssigen. Kotzebues Umgang mit moralischen Angelegenheiten war jedoch von anderer, liberalerer Prgung als der Ifflands, was ihn bereits mehrfach dem Vorwurf der Unsittlichkeit ausgesetzt hatte.89 Der Rezensent der Didaskalia erwhnt jedoch fast erleichtert in der Besprechung des Lustspiels Das Intermezzo, oder: Der Landjunker: »Mit diesem moralischen F.hn bleiben wir diesmal glcklich verschont, so nahe uns auch die Gefahr rckt.«90 Kotzebues dramatische Arbeiten und ihre Auffhrungen im Darmstdter Theater sind in der Didaskalia allerdings keineswegs unumstritten. Angeprangert werden ein gewisser Anachronismus, da die Stcke nicht mehr dem Geschmack der Zeit entsprchen91 oder auch in der Anlage insgesamt »h.chst fehlerhaft«92 seien. Noch abflliger ußert sich das Blatt zu Kotzebues Schutzgeist, einer dramatisierten, im 10. Jahrhundert spielenden Legende, die in pathetischen Versen weitschweifig mrchenhafte Details ausbreitet und auf den sonst charakteristischen gedrngten Handlungsablauf verzichtet. Das Ganze sei ein »ber alle Maaßen verunglcktes Machwerk«, und der Rezensent bedauert, daß die gelungenen Dekorationen, Kostme und Darstellungen »an ein so geschmackloses Unding verschwendet« worden seien.93 Gegen Ende der 1820er Jahre zeichnet sich allmhlich die Tendenz ab, daß neben einer als widrig und damit ermdend empfundenen Dramaturgie auch die massive Betonung des Sentimentalen und Rhrseligen verstrkt auf Desinteresse bei den Zuschauern st.ßt. Dennoch, generell fand sich das Darmstdter Publikum bei den Auffhrungen der Dramen Kotzebues 88 Didaskalia, 2. 5. 1826, Nr. 122. 89 Vgl. Doris Maurer: August von Kotzebue. Ursachen seines Erfolges. Konstante Elemente der unterhaltenden Dramatik. – Bonn 1979, S. 230 ff. 90 Didaskalia, 7. 5. 1825, Nr. 127. 91 Ebd., 4. 5. 1825, Nr. 124. 92 Ebd. 93 Ebd., 8. 4. 1826, Nr. 98.
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zahlreich ein, und die Vorstellungen erfllten die Erwartungen, denn der massenhaft produzierende Dramatiker »reizt das Zwergfell [sic], bezweckt eine angenehme Unterhaltung, und man verlßt befriedigt das Schauspielhaus, weil man einen frohen Abend verlebt hat, deren uns die rauhe Wirklichkeit leider so wenige gewhrt.«94 An die Tradition Kotzebues knpfte eine Reihe der meist unmittelbar vor 1800 geborenen und in Darmstadt im untersuchten Zeitraum aufgefhrten Bhnenautoren wie Johanna von Weißenthurn, Charlotte Birch-Pfeiffer und Ernst Raupach an. Die Hessischen Bl2tter ußern sich insbesondere zu den Werken Raupachs sehr wohlwollend, bescheinigen ihm sowohl fr die frhen Trag.dien als auch fr die Lustspiele Originalitt und literarische Eigenstndigkeit, was zumindest bei letzteren angesichts der bekannten Stilelemente und der von Kotzebue bernommenen dramaturgischen Effekte berrascht.95 Auch der Rezensent der Didaskalia sieht in den Schleichh2ndlern, einem Possenspiel Raupachs, eine gelungene Arbeit und fhrt, bildungsbrgerlich seinen Sachverstand zur Schau stellend, aus: »Auch hier hat das Stckchen gefallen, auch hier ist man der Meinung, daß Raupach im Soccus sich natrlicher und glcklicher bewege, als im Kothurn.«96 Wenngleich das Darmstdter Publikum insgesamt dem Soccus, also dem leichten Schuh der Kom.die, Prioritt beimaß, ist im Hinblick auf Bchners Theaterrezeption Raupachs Trauerspiel Die Leibeigenen, oder Isidor und Olga von besonderem Interesse. Hier wie auch in der Trag.die Der Paria von Michael Beer werden als Themen soziale Diskriminierung und die Mißachtung der menschlichen Wrde von gesellschaftlichen Außenseitern aufgegriffen. Hauschild hat auf diese Dramen verwiesen und Karl Vi[tor widersprochen, der in seiner Bchner-Monographie von 1949 erklrt, bei Woyzeck handele es sich um »das erste Armeleute-Drama in deutscher Sprache.«97 Festzuhalten ist vorab, daß die beiden Trauerspiele durch die Auffhrungen im Darmstdter Hoftheater in Bchners Erfahrungsbereich lagen. Konkrete und fundierte Rckschlsse fr die Arbeit an Woyzeck lassen sich daraus aber zunchst nicht ziehen, da die Bezugspunkte zwischen den Leibeigenen, dem Paria und Woyzeck ber einen sehr allgemeinen, bergeordneten thematischen Rahmen kaum hinausreichen. Bei Raupachs Leibeigenen kann strenggenommen von einem eigentlichen »Armeleute-Drama« keine Rede sein. Die Handlung spielt in Rußland und ist im aristokratischen Milieu angesiedelt. Den 94 Ebd., 4. 5. 1825, Nr. 124. 95 Hessische Bl2tter, 3. 2. 1831, Nr. 15. Der Rezensent fhrt aus: »Raupach ist ein Dichter, der seinen eigenen Weg betreten hat: also ein origineller Kopf: also eine literarische Seltenheit.« 96 Didaskalia, 12. 5. 1829, Nr. 132. 97 Karl Vi[tor: Georg Bchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. – Bern 1949, S. 205. Vgl. dazu Hauschild 21997, S. 681.
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Kern des Konfliktes bildet eine in ihrer Anlage recht konventionelle Liebesgeschichte: Der cholerische, aber labile Frst Wolodimir liebt Grfin Olga, die ihrerseits aber den Halbbruder Wolodimirs, Isidor, zu heiraten beabsichtigt. Isidors Mutter war eine Leibeigene des frheren Frsten, der es versumt hatte, seinem Sohn einen Freibrief auszustellen, was Wolodimir unverfroren ausnutzt, indem er seinen Kontrahenten demtigt, ihn einsperren lßt und die Heirat mit Olga erpreßt. In einem Duell finden schließlich sowohl Wolodimir als auch Isidor den Tod. Die bekannten Elemente der unterhaltenden Dramatik wie Spannung, Rhrung, Trauer, zrtliche Liebesszenen werden hier allerdings auf einen eher ungew.hnlichen Themenbereich appliziert; auffllig ist auch die zahlreiche Verwendung von Bibelzitaten. Ihnliches gilt fr den »Paria« Michael Beers, der zwar die Armut Gadhis und seiner Frau Majas zeigt und sich gegen die Mißachtung der Menschlichkeit wendet, dem Geschehen aber durch das exotische Dekor gleichzeitig auch ein mrchenhaftes, unwirkliches Moment verleiht. Die dsteren sozialen Realittsindikationen, die Bchner in Woyzeck aufzeigt, sind indessen sehr weit von den kritischen Entwrfen Raupachs und Beers entfernt. Daß sie dennoch von Bchner rezipiert wurden und schemenhaft thematische Anregungen boten, ist freilich nicht auszuschließen. Einzugehen ist im folgenden noch auf das sogenannte klassische Schauspielrepertoire des Darmstdter Hoftheaters. Im 18. Jahrhundert hatte ein Prozeß eingesetzt, der zur Einteilung der Dramatik in »hohe« und »niedere« bzw. »erhebende« und »unterhaltende« oder prononcierter, in »Kunst« und »Nichtkunst« fhrte.98 In der Theaterpublizistik wird das Erscheinen anspruchsvollerer Dramen auf dem Spielplan zwar im Grundsatz sehr begrßt, doch gleichzeitig mit einem Qualittspostulat verbunden; die Rezensenten verstehen sich nicht selten als Pfleger und Propagandisten eines klassischen Repertoires von Rang. Bei ihren Besprechungen zeichnen sich deutlich zwei Themenschwerpunkte ab: Einerseits wird das mangelnde Publikumsinteresse beklagt, denn bei den meisten dieser ohnehin nicht sehr zahlreichen Vorstellungen blieb das Darmstdter Theater regelmßig weitgehend leer. Andererseits mißbilligen die Berichterstatter hufig die Qualitt der Auffhrungen, wobei sich die Kritik sowohl auf die unzureichende szenische Realisation als auch auf entstellende Texteingriffe erstreckt. In der Besprechung von Goethes Iphigenie vom 2. Dezember 1830 bemerken die Hessischen Bl2tter, daß in Deutschland allemal klassische Werke existieren, es aber an klassischen Schauspielern und einem klassischen Publikum noch fehle.99 Hinsichtlich des kleinen Interessentenkreises fragt der 98 Vgl. Roswitha Flatz: Das Bhnen-Erfolgsstck des 19. Jahrhunderts. – In: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. – Dsseldorf 1980, S. 301 f. 99 Hessische Bl2tter, 2. 12. 1830, Nr. 24.
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Rezensent: »Fehlt es vielleicht an demjenigen Grade an Bildung, welcher n.thig ist, um ein sthetisches Ganzes fhlen zu k.nnen? Oder haben wir etwa zu viel Sinn und Achtung fr hohe Meisterschaft, als daß uns die Lust anwandeln k.nnte, Erzeugnisse derselben durch lkkenhafte und entstellende Darstellung vor unseren Augen und Ohren unkenntlich gemacht zu sehen?«100 Die Kritik auf der szenischen Ebene reicht von mangelnder Vorbereitung – fr die Darmstdter Erstauffhrung von Schillers Don Carlos am 20. Januar 1831 waren lediglich zwei Proben angesetzt101 – ber inadquate Besetzungen bis hin zu einer mangelhaften, fr diese Dramen unangemessenen Darstellungsweise. Zu Shakespeares Macbeth bemerken die Hessischen Bl2tter gewieft, die »Trag.die […] soll allerdings Mitleid und Schrecken erregen; aber manche Trag.den nehmen diese Theorie fr ihre eigene Person in Anspruch.«102 Einen anderen Schwerpunkt setzt die Kritik an der Darbietung von Schillers Don Carlos, die als eint.nig und infolge von Fehlbesetzungen als standardisiert beschrieben wird: »[…] so zogen die Planeten auf unsicherer Bahn ohne Licht und Wrme an unserem Horizont vorber, und wir saßen dunkel da und kalt.«103 Wenn Bchner am 28. Juli 1835 an die Familie in Darmstadt ber die »Idealdichter«, zu denen er Schiller rechnet, schreibt, »daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben« (MA, S. 306), so m.gen zu dieser Einschtzung neben der Leseerfahrung auch Darmstdter Theaterbesuche beigetragen haben. Eingriffe in die Textgestalt waren an der Tagesordnung und durch die Verhltnisse der Bhne determiniert. Eine Rolle spielte dabei die politische Zensur, ferner Vorstellungen von Dezenz und Anstand, Auffhrungstraditionen sowie die rumlichen, technischen, finanziellen und personellen M.glichkeiten.104 Auf weitreichende Texteingriffe, die das Drama bis zur Unkenntlichkeit verndern konnten, wurde in Darmstadt zumeist durch die Nennung des Bearbeiters im Spielplan und auf dem Programmzettel aufmerksam gemacht. Fr Shakespeares Heinrich IV. verfaßte beispielsweise Dismas Fuchs eigens eine den Darmstdter Verhltnissen angemessene Fassung, bei Calder\ns Dame Kobold und Das Leben ein Traum sowie Kleists K2thchen von Heilbronn griff man auf bereits vorhandene Bearbeitungen zurck.105 100 101 102 103 104 105
Ebd. Ebd., 20. 1. 1831, Nr. 9. Ebd., 30. 11. 1830, Nr. 23. Ebd., 20. 1. 1831, Nr. 9. Vgl. dazu Meyer: Aufkl2rung (s. Anm. 38), S. 151. Nach zahlreichen Beanstandungen durch das Darmstdter Publikum, die sich gegen den Schauspieler und Regisseur Grner richteten, sah sich die Didaskalia im Januar 1827 zu einer Apologie veranlaßt: »Es ist sehr befremdend, und kann
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Anhand der Rezension von Schillers R2ubern, deren Darmstdter Erstauffhrung erst 1831 erfolgte, wird allerdings deutlich, daß Texteingriffe allein das subversive, aufrhrerische Potential dieses Werkes nicht ausreichend mildern konnten. Der Rezensent der Hessischen Bl2tter betont die gefhrliche Wirkung, die von diesem Drama besonders fr »jugendliche, lebhafte Gemther«106 ausgehe. Außerdem sei der Zeitpunkt der Auffhrung ungeeignet, da man gegenwrtig »ohnedieß Frechheit so gerne mit Freiheit verwechselt, gesetzliche Schranken nicht achtet und nach Selbsthlfe, Selbstrache strebt.«107 Das Darmstdter Theater will der Verfasser obendrein als »Staatsanstalt« verstanden wissen, welche auf die Gesinnung und Tugend der Zuschauer wirke: »Deshalb kein Wort mehr von der Vorstellung der Ruber, welche die erste und letzte dieses Stckes seyn drfte […].«108 3.2. Theaterrezeption im Umkreis von Pdagog und Lesekreis Den engeren zeitlichen Rahmen fr Bchners Darmstdter Theaterrezeption bildet die gymnasiale Schulzeit, in die gewiß die Vielzahl der Theaterbesuche fiel. Zwischen dem neuhumanistischen Großherzoglichen Gymnasium, dem sogenannten Pdagog, und dem Darmstdter Hoftheater bestand ein – wenn auch in mancher Hinsicht eher implizites und nicht selten gebrochenes – Beziehungsgeflecht. Nach Hauschilds Angaben waren es vor allem Familien der stdtischen Oberschicht, also Staatsbeamte, Gelehrte, Geistliche sowie Militrangeh.rige, die ihre S.hne am Pdagog unterrichten ließen und das geforderte Schulgeld ohne gr.ßere Schwierigkeiten aufbringen konnten.109 Diese Familien bildeten gleichzeitig auch den Großteil der Theaterbesucher, so daß insgesamt von einer gewissen Vertrautheit mit den Darmstdter Bhnenverhltnissen sowohl bei den Eltern als auch zunehmend bei den meisten ihrer Kinder auszugehen ist. Daß Gesprche gerade bei den literarisch interessierten Schlern immer wieder um diesen sinnlichen und oft anekdotenreichen Themengegenstand kreisten, ist durchaus anzunehmen. Neben den Deklamationsbungen, die seit dem Sommersemester 1825 immer wieder auf dem Lehrplan fr den Deutschunterricht stan-
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nur von dieser irrigen Ansicht herrhren, daß man eben Grnern so hufig die Verstmmelung der Stcke vorwirft, der doch hierin sich weniger zu Schulden kommen lßt, als irgend ein anderer Regisseur.« Begrndet wird die Notwendigkeit von Eingriffen mit der bermßig langen Spieldauer vieler Dramen und der begrenzten Konzentrations- bzw. Belastungsfhigkeit des Publikums. Didaskalia, 6. 1. 1827, Nr. 6; 8. 1. 1827, Nr. 8. Hessische Bl2tter, 29. 4. 1831, Nr. 48. Ebd. Ebd. Hauschild 21997, S. 112 f.
den,110 kommt der Auseinandersetzung mit klassischen Dramen im Sommersemester 1830 fr den hier diskutierten Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung zu. »Von den Schlern vorgelesen und von dem Lehrer zur Erklrung der Theorie des Dramas benutzt« wurden Goethes Iphigenie auf Tauris und Schillers Jungfrau von Orleans, welche beide in dieser Zeit am Hoftheater aufgefhrt wurden. Die Premiere der Iphigenie, die gleichzeitig die Darmstdter Erstauffhrung war, fand etwa zeitgleich mit Semesterbeginn am 26. Mrz 1830 statt, die Jungfrau von Orleans wurde als Neuinszenierung am 17. Dezember gespielt.111 Auch wenn sich fr den Franz.sischunterricht nicht mit Sicherheit sagen lßt, ob bzw. wann Bchner an diesem teilgenommen hat, sollen die nachweisbaren Theaterreferenzen kurz dargelegt werden. Den Unterricht des Franz.sischlehrers Friedrich Bender dominierten die Werke von Jean-Pierre Claris de Florian, die ber mehrere Semester hinweg gelesen, »dictirt, corrigirt und declamirt« wurden. Im Wintersemester 1827/1828 ließ Bender franz.sische Kom.dien bearbeiten, zu denen Les deux billets geh.rte. Das Hoftheater zeigte im Frhjahr 1828 eine deutsche Fassung von Anton Wall mit dem Titel Die beiden Billets.112 Ebenfalls zur Auffhrung kamen das Lustspiel Der gutherzige Alte nach Florian113 sowie Werke MoliYres, die gleichermaßen als Unterrichtsgegenstand behandelt wurden. Hervorzuheben ist, daß dem Unterricht am Pdagog insgesamt die Rolle einer methodischen Basisvermittlung fr die analytische und interpretative Auseinandersetzung mit dramatischer Literatur zukam. Sieht man von den rhetorischen Deklamationsbungen ab, bot aber erst das Theater die M.glichkeit, den dramatischen Text als Lesestck in ein vollstndig szenisch realisiertes Drama zu transformieren. In der vermutlich im Herbst oder Winter 1829/1830 entstandenen Schlerrede Bchners ber den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer findet sich neben den bekannten Rbernahmen aus Fichtes Reden an die deutsche Nation und Ernst Ludwig Posselts Gedenkrede eine bemerkenswerte, m.glicherweise durch die Darmstdter Theaterverhltnisse motivierte Sequenz. Die Vorfahren, die fr Religions- und Glaubensfreiheit starben, lßt Bchner in einer annhernd theatralischen, alle zeitlichen Dimensionen einschließenden rhetorischen Szene zu Wort kommen: »Rettet auch unsre Ehre, rufen sie euch zu, laßt 110 Vgl. zu diesen Angaben wie auch zu den folgenden das »Verzeichnis der vom SS 1825 bis einschließlich WS 1830/31 in den Klassen Bchners abgehandelten Lektionen und Lehrgegenstnde« in: Gerhard Schaub: Georg Bchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schlerarbeiten. – Frankfurt a. M. 1975 (Regensburger Beitrge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 3), S. 57 – 67. 111 Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 240 u. 253. 112 Ebd., S. 215. 113 Ebd., S. 223.
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unsre Kmpfe nicht zum eitlen vorberrauschenden Possenspiele werden, zeigt, daß das Blut, was wir fr euch versprtzten, in euren Adern wallt.« (MA, S. 25.) Ein altruistisches Vorgehen historischer Gr.ße, so das nachdrcklich-mystische Postulat der Vorfahren, das sich in die Stimme des Redners mischt, solle nicht durch kleinmtiges, egozentrisches Z.gern zum schnell vergnglichen und unbedeutenden »Possenspiel« degradiert werden. Der hier pejorativ gebrauchte theatralische Gattungsbegriff »Posse« bezeichnet »aus dem Fr[an]z.[.sischen] bersetzte kom.[ische] Einakter«, in deren Tradition »einzelne d[eu]t[sche]. Produktionen der Zeit um 1800 (A. v. Kotzebue) und in der ersten Hlfte des 19. Jh.s (E. Raupach, H. Laube)« standen.114 Eben diese dominierten, wie gezeigt, den Darmstdter Spielplan. Selbst das Attribut »vorberrauschend« lßt sich als eine direkte Anspielung auf die zeitgen.ssische Auffhrungspraxis lesen, da Einakter nicht isoliert aufgefhrt wurden, sondern in Abfolge, so daß nicht selten in Darmstadt an einem Abend zwei oder gar drei verschiedene Possen bzw. Lustspiele ber die Bhne gingen. Die dazwischenliegenden Pausen wurden in der Regel mit musikalischen Intermezzi ausgefllt, welche oft aus einem Gesamtzusammenhang herausgel.st waren. Als exemplarische Programmgestaltung kann das Arrangement vom 7. Februar 1826 gelten, wie es bei Fuchs angefhrt ist: »Zum Erstenmale: Gnserich und Gnschen. P.[osse] in 1 A.[kt] nach dem Franz.[.sischen] des Favart, von C. Blum, mit einer Ouvertre von Wilh. Mangold und Liedern von Ferd. Neukufler. Hierauf spielte H[er]r. Kammermusikus L. Schl.sser ein Violin-Concert, eigener Composition, und Variationen von Manseder. Zum Beschluß, zum Erstenmale: Der Br und der Bassa. P.[osse] in 1 A.[kt] nach Scribe, von C. Blum.«115 Die auf den Publikumsgeschmack und das einfache Unterhaltungsbedrfnis ausgerichtete Programmgestaltung gipfelte in der isolierten – und damit die Konzentration und Ausdauer wenig beanspruchenden – Auffhrung einzelner Akte eines Schauspiels oder in der Hinzufgung eigens entworfener Szenen, die allzu anstrengende, komplexe Werke erst ansprechend machten.116 Sieht man Bchners Iußerung als Reflex auf diese Theaterrealitt, lassen sich daraus zwei nicht unwesentliche Feststellungen ableiten, ohne diese knappe, unter Umstnden auch topisch zu denkende Sequenz inhaltlich berbewerten zu wollen. Zum einen liegt hier ein 114 Gnther Schweikle/Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. – Stuttgart 21990, S. 360. 115 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 192. Noch deutlicher im Hinblick auf das wenig nachhaltige »Vorberrauschen« ist Fuchs Angabe zum 4. Dezember 1827, an dem zwei Lustspiele und eine Posse von A. von Kotzebue und K. W. Contessa zur Auffhrung kamen: »Der husliche Zwist. Hierauf: Die Zerstreuten. Zum Beschluß: Das Quartettchen im Hause.« Ebd., S. 208. 116 Vgl. ebd., S. 206 u. 216 f.
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Hinweis auf eine kritische Theaterrezeption in Darmstadt vor, zum anderen verarbeitet Bchner diese Theatererfahrung, indem er die seichte Welt der komischen Unterhaltungsbhne den historisch bedeutsamen Entwicklungen als nichtiges, aber Gefahr bergendes Zerrbild gegenberstellt, das implizit auch die Gegenwart der spten 1820er Jahre charakterisiert.117 Der dramatische Gattungsbegriff »Possenspiel« in der Schlerrede bildet den Ausgangspunkt fr eine ganze Reihe von vergleichbaren stilistischen Wendungen in der spteren Korrespondenz. Der Auftritt des polnischen Generals und Freiheitshelden Ramorino in Straßburg wird ebenso zur »Kom.die« degradiert wie die gegenwrtigen politischen Verhltnisse im allgemeinen (MA, S. 273, 277). Aus Darmstadt schreibt Bchner im Dezember 1833 an August Stoeber, daß Frsten und Liberale ihre »Affenkom.die« auf dem Karren spielen, den das arme Volk geduldig schleppe (MA, S. 285). Immer wieder werden mit Hilfe dieser theatralischen Begriffe politische oder agitatorische Tuschungen, Unrecht und selbstgefllige Schaustellerei dekuvriert, und zwar weitgehend unabhngig von der politisch-ideologischen Couleur.118 Auch im Brief an Wilhelmine JaeglU vom Mrz 1834 gebraucht Bchner Theatermetaphorik, bezieht diese aber auf sich selbst: »Will ich etwas Ernstes tun, so komme ich mir vor, wie Larifari in der Kom.die; will er das Schwert ziehen: so ists ein Hasenschwanz« (MA, S. 290). Im Kontext von Bchners Darmstdter Theaterrezeption ist auch der Kreis von Schlern zu bercksichtigen, die im Frhjahr 1828 zusammenkamen, um zunchst ihren literarischen Interessen nachzugehen. Das zentrale Dokument, welches ber den Lesekreis Auskunft gibt, ist die retrospektive Mitteilung Ludwig Wilhelm Lucks an Karl Emil Franzos. Luck berichtet am 11. September 1878: »Ich glaube, es ist von den erwhnten beiden Brdern [gemeint sind Friedrich und Georg Zimmermann, die Enkel des ehemaligen Gymnasialdirektors Johann Georg Zimmermann, T. S.], die uns andere mit ihrer Begeisterung fr Shakespeare ansteckten, ausgegangen, daß wir uns verabredeten, in dem sch.nen Buchwald bei Darmstadt an Sonntagnachmittagen im Sommer die Dramen des großen Briten zu lesen, die uns die anregendsten und 117 Eine Verbindung von Zeitgeist und Possenspiel wird auch in der Didaskalia konstruiert. Am 12. Mai 1829 konstatiert der Rezensent, daß »der Zeitgeist selbst die Welt zu Possen forcirt« und schließt daran die Frage an: »wenn der Dmon des Jahrhunderts, ein abgeschwchter Mars, durch unsere Gauen schleicht, um zu kommandiren, und die S.hne des Biedersinns zu Schleichhndlern zu pressen, wird denn die Muse ihn unter den Pantoffel zwingen, wenn sie in Schlappen ihm nachklappert, oder gar barfuß ihm nachschleicht? Die Sache ist wohl zu ernsthaft, um possenhaft erscheinen zu drfen.« (Didaskalia, 12. 5. 1829, Nr. 132.) 118 Vgl. Walter Hinderer: Kom,die (s. Anm. 4), S. 192 f.
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teuersten waren, als den ›Kaufmann von Venedig‹, ›Othello‹, ›Romeo und Julia‹, ›Hamlet‹, ›K.nig Richard III.‹ usw.« (MA, S. 373). Zur gleichen Zeit, im Frhsommer 1828, begann am Darmstdter Hoftheater ein Shakespeare-Zyklus, fr den angesehene Schauspieler wie die von Bchner spter erwhnte Therese Peche, Carl Seydelmann und Carl (August) Devrient als Gastdarsteller engagiert waren. Am 1. Juni stand Heinrich IV., am 17. desselben Monats sowie am 10. August Romeo und Julia und schließlich am 1. Juli Der Kaufmann von Venedig auf dem Spielplan.119 Zimmermann konstatiert zum Verhltnis von Lesekreis und Hoftheater: »Es ist wohl nicht zuviel vermutet, daß diese Shakespeare-Begeisterung damals durch gleichzeitige Theaterbesuche bestrkt, vielleicht sogar entscheidend angeregt worden ist.«120 Stellte der Literatur- und Rhetorikunterricht am Pdagog das Rstzeug fr die Auseinandersetzung mit Texten verschiedener Gattungen bereit, so war die schulische Beschftigung gleichzeitig auch immer mit einer bestimmten Auswahl, mit Normen, Pflichten, Leistungsmessungen sowie erzieherischen Zielvorstellungen verbunden, denen die Interessen der Schler mitunter diametral gegenberstanden. Gerade in bezug auf die Dramen Shakespeares, die nicht zum Unterrichtsgegenstand in Bchners Klasse geh.rten, bemerkt Luck: »Diese gemeinsamen wahren Geistesgensse bei jugendlicher Empfnglichkeit bewahrten uns allerdings vor Trivialitt und Roheit […]. Es erstarkte das Bedrfnis, in das Wesen der Dinge einzudringen, uns demgemß auszubilden und zu handeln. Allerdings, fr die Gewissenhaftigkeit der Gymnasiasten war dergleichen nicht f.rderlich […]« (MA, S. 373). Hier manifestiert sich eine Opposition gegenber dem schulischen Unterricht, denn bis zum »Wesen der Dinge« konnte nach Luck scheinbar nur durch eigenstndiges Selbststudium außerhalb des Pdagogs vorgedrungen werden, was zwar eine mangelnde »Gewissenhaftigkeit« zur Folge hatte, diese aber wurde willig in Kauf genommen. Der Lesekreis grenzte sich also vom Pdagog ab, doch auch das Theater ist wohl kaum als ein nur positiv besetztes, Anregungen vermittelndes Gegenbild zu beschreiben. »Das Bewußtsein des erworbenen geistigen Fonds«, berichtet Luck ber Bchner, »drngte ihn fortwhrend zu einer unerbittlichen Kritik dessen, was in der menschlichen Gesellschaft oder Philosophie und Kunst Alleinberechtigung beanspruchte oder erlistete« (MA, S. 374). Wie bereits ausgefhrt, nahm gerade das Theater in erster Linie durch seine frstliche Rberformung, namentlich durch Kontrolle und Manipulation, eine Form von knstlerischer Alleinberechtigung und Monopolstellung in Anspruch. Folgt man Luck, so drfte Bchners »unerbittliche[r] Kritik« auch dieser Aspekt kaum entgangen sein. Der Lesekreis aber 119 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 216 – 218. 120 Erich Zimmermann: Schauspieler (s. Anm. 9), S. 145.
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stellte einen eminenten Freiraum zur Verfgung, eine Art unkontrolliertes, weitgehend gleichberechtigtes Forum, in dem weder eine schulisch noch staatlich verordnete bzw. beeinflußte Dramenrezeption – in Anstzen vielleicht auch szenische Realisation – erfolgen konnte. 3.3. Die »alte Bekanntin« Therese Peche Am 15. Mai 1836 berichtete Eugen Boeckel in einem Brief an den Straßburger Freund Bchner ber seine Reise durch verschiedene europische Stdte und die dort gesammelten, vornehmlich medizinischen Erfahrungen. Den Gegenpol zu der an pathologisch-morbiden Details Gefallen findenden Darstellung der mitunter strapazi.sen medizinischen Arbeit bilden Iußerungen ber die Theater in Prag und vor allem in Wien: »Theater haben wir fnfe, drei sind ziemlich schlecht. Zwei sind vorzglich gut – Die italienische Oper am Krntner-Tor u. das Burgtheater, dieses letzte ist wohl das beste fr Schauspiel, seit ich in Teutschland bin, bin ich ein Liebhaber vom Theater, ich gehe w.chentlich 2 – 4 mal hinein. L.we, D. l. Roche, Costenoble, Anschtz, d. anmutige Me Rettich, Me Peche, u. Melle Mller sind ausgezeichnet« (MA, S. 348 f.).121 Bchner, der in Straßburg soeben seine Dissertation abgeschlossen hatte und nach eigener Aussage »einen vollen Winter und ein halbes Frhjahr nicht aus seinen 4 Wnden gekommen« (MA, S. 318) war, geht in seinem Antwortbrief lediglich im letzten Satz knapp und mit einer uneindeutigen Anspielung auf die weltlufigen Theaterberichte des Freundes ein: »_ propos, du machst ja ganz sthetische Studien, Dem. Peche ist eine alte Bekanntin von mir« (ebd.). Ein besonderes Interesse an der Wiener Theaterszene bekundet er in jedem Fall nicht. Bchner rekurriert mit der Erwhnung Therese Peches – eine andere M.glichkeit kommt nicht in Betracht – auf ihre acht Jahre zurckliegenden Gastspiele am Darmstdter Theater, an die sich ein Engagement bis zum Juli 1829 anschloß.122 Die 1806 in Prag geborene Schauspielerin hatte 1826/27 in Bonn mit ihrer Darstellung der Julia in Shakespeares Trag.die große Aufmerksamkeit erregt. August Wilhelm Schlegel zeigte sich begeistert und setzte sich fr ein Engagement der Peche in Hamburg mittels eines Empfehlungsschreibens ein, das die Didaskalia am 21. August 1829 abdruckte.123 Anlaß dafr war eine negative Beurteilung ihrer Darmstd121 Die gleiche thematische Gegenberstellung findet sich auch in Boeckels Brief aus Wien vom 18. Juni 1836: »Morgens besuche ich den Hospital, da gibt es viele Variationen u. interessante Gegenstnde. Abends gehe ich .fters in das treffliche Burgtheater […].« (MA, S. 352.) 122 Ausfhrlich dazu Erich Zimmermann: Schauspieler (s. Anm. 9), S. 133 – 150. 123 Didaskalia, 21. 8. 1829, Nr. 233.
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ter Leistungen in einem nicht genannten Blatt, der die Didaskalia, ohne »dem Autorittsglauben das Wort zu reden«,124 das Urteil Schlegels als dem »anerkannt erste[n] Kunstrichter der Nation«125 gegenberstellte. Schlegels herzliches Schreiben, in dem sich emotiv die Faszination fr die zarte Jugendlichkeit und das schauspielerische Talent vermischen, versichert: »Sie sind berufen, die Werke wahrhaft großer Dichter durch ihre Darstellung zur Erscheinung zu bringen […]. Sie besitzen alles Wesentliche und Ihr natrliches Gefhl wird Sie am richtigsten leiten.«126 Nicht zuletzt die Zuneigung Schlegels fhrte dazu, daß Therese Peche in Hamburg engagiert wurde und ihre insgesamt erfolgreiche Darstellungskunst weithin Beachtung fand.127 Der 1828 vollzogene Wechsel von Hamburg in die enge hessische Residenzstadt berrascht in diesem Zusammenhang und lßt sich nicht allein durch die teilweise kritischen Pressestimmen erklren. Im Frhsommer 1828 traf Therese Peche gemeinsam mit dem bisher in Kassel engagierten Schauspieler Carl Seydelmann in Darmstadt ein, wo sie am 17. Juni wiederum in der Rolle der Julia als Gastdarstellerin erfolgreich debtierte.128 Es folgten Auftritte als Mirindola [Mirandolina] in einer bearbeiteten Fassung von Goldonis La Locandiera, als Kthchen in Kleists – ebenfalls bearbeitetem – Ritterschauspiel, als Kunigunde in Hans Sachs von Johann Ludwig Ferdinand Deinhardstein und als Porzia in Shakespeares Kaufmann von Venedig, gemeinsam mit Carl Seydelmann. Am 29. Juni verlor Therese Peche schließlich ihren Gaststatus und wurde im Rollenfach »erste Liebhaberin« zum festengagierten Ensemblemitglied des Darmstdter Hoftheaters.129 Zu den Auffhrungen von 124 125 126 127
Ebd. Ebd. Ebd. Heine hatte Therese Peche in Hamburg als Schauspielerin erlebt und sich in eine undurchsichtige Beziehung zu ihr verstrickt. Im Brief vom 30. Oktober 1827 an Karl August Varnhagen von Ense teilt er mit, daß er Hamburg verlassen habe, sich »pl.tzlich loßreißend aus spaßhaften Verhltnissen. Es heißt dort ich sey in die Schauspielerin Peche verliebt, sterbensverliebt«, was Heine jedoch leugnet. An Friedrich Merckel schreibt er am 7. November: »Der Stern von Sevilla [gemeint ist Therese Peche als Estrella in Lope de Vegas Der Stern von Sevilla, T. S.] htte mein Unstern werden k.nnen.« Heine setzte sich im April 1828 nochmals fr die Peche ein, indem er Merckel – erfolglos – bat, eine Theaterkorrespondenz aus Hamburg fr das Morgenblatt fr gebildete St2nde zu schicken, um eine zuvor erschienene, intrigante und negative Kritik ber die Peche zu relativieren. Heinrich Heine: Briefe. S2kularausgabe. Briefe 1815 – 1831. Bd. 20. – Hrsg. von der Nationalen Forschungs- und Gedenksttte der klassischen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. – Berlin, Paris 1970, S. 304 f., 311 u. 327. Vgl. auch Gustav Karpeles: Stern (s. Anm. 18), S. 995 f. Mißverstndlich ist Zimmermanns Aussage ber die Bemhung Heines im April 1828. Erich Zimmermann: Schauspieler (s. Anm. 9), S. 135. 128 Didaskalia, 30. 6. 1828, Nr. 182. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 216. 129 Ebd., S. 217.
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Kleists K2thchen bemerkt die Kritik, daß dieses Stck bislang in der Residenzstadt nicht spielbar gewesen sei, da eine Schauspielerin als Hauptperson gefehlt habe: »Nun, da das Frulein Therese Peche engagirt worden, ist jener Fehler glcklich getilgt, und eine fhlbare Lcke in unserem Repertoire ausgefllt.«130 Die Begeisterung des Publikums verdichtete sich in den folgenden Wochen zum Personenkult. Die Didaskalia druckte Ende August eine eingesandte panegyrisch-triviale Dichtung mit dem Titel »Frulein Therese Peche, als sie die Julie in Romeo darstellt«. Darin heißt es u. a.: »Meisterin, nimm meinen Dank, ihn / zahlet des Mitgefhls Perle, / Denn nur wer selber empfand, der malt / die Empfindung wie Du!«131 Im November arbeitete Therese Peche direkt mit dem Großherzog bei der Einstudierung von Wolffs musikalischem Schauspiel Preciosa zusammen, da Ludewig wie blich die Orchesterproben bernommen hatte und die Bhnenmusik Webers dirigierte.132 Die »erste Liebhaberin« schien allerdings bei allem darstellerischen Erfolg an ihre stimmlichen Grenzen zu stoßen, denn der Rezensent macht darauf aufmerksam, daß »Dem. Peche […] ihre schwere Aufgabe, die Arie ausgenommen, zur gr.ßten Zufriedenheit des Publikums« l.ste.133 Im Hinblick auf Bchners Theaterbesuche lßt sich festhalten, daß er mit Sicherheit eine, vermutlich aber mehrere der erwhnten Auffhrungen in Darmstadt besucht hat. Darber hinaus war die Peche 1829 wenige Male in kleinen Unterhaltungsstcken zu sehen, die fr Bchners Theaterrezeption ebenfalls in Betracht kommen. Seit Beginn des Jahres hatte sich die Zahl ihrer Auftritte aber aus verschiedenen Grnden außerordentlich stark reduziert. Zum einen war das bisher enge, vielleicht auch intime Verhltnis zwischen ihr und Ludewig empfindlich gest.rt. Der Großherzog wandte sich jedenfalls wieder verstrkt der Oper zu, wo die Darmstdter Erstauffhrung von Spontinis Nurmahal aufwendig vorbereitet wurde. Zum anderen litt Therese Peche spter an einer chronischen Halsentzndung, die Auftritte unm.glich machte.134 Als ihr Anfang Juli 1829 unerwartet sechs Rollen bertragen wurden, lehnte sie drei davon ab und berief sich auf ihre nicht wiederhergestellte Gesundheit, was sie durch ein rztliches Attest besttigen konnte. Der Konflikt spitzte sich zu, von rztlicher Seite wurde ihr nun nervliche Gereiztheit bescheinigt, die den Vorstellungsablauf gefhrden k.nne. Am 10. Juli bat Therese Peche, nachdem sich die Arbeitsbedingungen fr sie drastisch verschlechtert hatten, um ihre Entlassung.135 130 131 132 133 134 135
Didaskalia, 12. 8. 1828, Nr. 225. Ebd., 26. 8. 1828, Nr. 239. Vgl. Erich Zimmermann: Schauspieler (s. Anm. 9), S. 138. Didaskalia, 14. 11. 1828, Nr. 319. Erich Zimmermann: Schauspieler (s. Anm. 9), S. 143. Ebd., S. 143 f.
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Hauschild nimmt vermutlich diese Erkrankungen zum Anlaß, um zu erwgen, daß Bchners Vater »als Arzt der Peche fungierte, und sich beide [gemeint sind offensichtlich G. Bchner und Th. Peche, T. S.] .fters begegnet sind«,136 was wiederum die Bezeichnung »alte Bekanntin« im Brief an Eugen Boeckel erklre. Thomas Michael Mayer hat jedoch bereits richtiggestellt, daß es nicht Ernst Bchner war, der die Peche behandelte, sondern zunchst Medizinalrat Bernhard Huth und spter dann Leibarzt Franz von Hessert.137 Zu einer oder gar mehreren Begegnungen zwischen Bchner und der Peche ist es im Zusammenhang mit ihren Arztbesuchen mit Sicherheit nicht gekommen. Auch weitere Spekulationen darber, wann und unter welchen Umstnden ein Zusammentreffen stattgefunden haben k.nnte, scheinen wenig aussichtsreich und angebracht. Wenn Bchner dennoch von der »alten Bekanntin« spricht, ist diese Wortwahl wohl vor allem als Reaktion auf Boeckels passionierte Weltlufigkeit und sensualistische Lebensart zu lesen, der die einseitige Straßburger Studierzimmerexistenz mit »fatale[r] Arbeit« (MA, S. 317) und Krankheitsmetaphorik gegenbersteht. Bchner gibt sich kompensatorisch, gleichzeitig aber auch gewitzt als Theaterkenner aus und beschreibt die ihm h.chstwahrscheinlich allein durch Darmstdter Auffhrungen bekannte Schauspielerin gewandt mit doppeldeutiger, unscharfer Terminologie, die die M.glichkeit einer pers.nlichen Bekanntschaft nahelegt oder zumindest offenlßt. Auch hier arbeitet Bchner mit einer »Klartextlcke«,138 mit deren Hilfe er die wenig aussagekrftigen, vornehmlich auf Adoration fixierten und dem Darmstdter Panegyrikus infolgedessen verwandten Ausfhrungen Boeckels durch eine geheimnisvolle Bekanntschaft mit Therese Peche noch berbietet und damit dessen Theaterrezeption ironisch kommentiert. 3.4. »Die Leute, […] die in den Logen im Theater sitzen […]«139 Freikarten und Publikum Wenn einzelne Indizien sowohl aus dem schulischen als auch aus dem außerschulischen Bereich Bchners Vertrautheit mit den Darmstdter Theaterverhltnissen belegen, so ist nunmehr die Frage nach der Anzahl und Regelmßigkeit der Theaterbesuche sowie ihren Modalitten von 136 Hauschild 21997, S. 103. So auch Jrgen Seidel: Georg Bchner. – Mnchen 1998, S. 23. 137 Thomas Michael Mayer: Jan-Christoph Hauschilds Bchner-Biographie(n). Einwendungen zu Methode, Ergebnissen und Forschungspolitik. – In: GBJb 9 (1995 – 99), S. 409, Anm. 89. 138 Vgl. dazu Thomas Michael Mayer: »Wegen mir k,nnt ihr ganz ruhig sein…«. Die Argumentationslist in Georg Bchners Briefen an die Eltern. – In: GBJb 2 (1982), S. 258 u. 260 f. 139 Legendre im Jacobinerklub, Dantons Tod I/3 (MBA III.2, S. 13).
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Belang. Hauschilds Votum diesbezglich ist deutlich: »Daß Bchner schon in seiner Darmstdter Zeit, als Gymnasiast, zu den hufigeren Theaterbesuchern geh.rte, kann als sicher gelten, und zwar nicht nur, weil sein Vater, seiner gehobenen Stellung wegen, vermutlich Freikarten erhielt.«140 Die nicht abwegige Spekulation, Bchner habe Freikarten durch seinen Vater erhalten – auch Fuchs spricht ganz allgemein von »vielen freien EntreUs«141 – , lßt sich anhand der Verzeichnisse des Darmstdter Theaters allerdings nicht verifizieren. Weder in der »Liste derjenigen Personen, welche den freien Eintritt im Großh[erzog]l.[ichen] Theater mit Billets auf das Parterre genießen«142 noch bei den Freipltzen in den Logen143 ist der Name Bchner verzeichnet. Das gleiche gilt fr das »Verzeichniß derjenigen Personen, welche die Proben mit Allerh.chster Erlaubniß besuchen drfen.«144 Vor allem die beilufige Erwhnung von Theaterbesuchen in Briefen von Bchners Eltern145 legt jedoch die Vermutung nah, die Familie k.nnte im Besitz eines Theaterabonnements gewesen sein. Doch auch in diesem Fall findet sich in den Vertrgen fr das »Logen- und Parterre-Abonnements«146 des Darmstdter Theaters kein Beleg. Familie Bchner geh.rte also weder dem Kreis der Abonnenten noch dem der Freikartenempfnger an, was natrlich in keiner Weise gegen regelmßige Theaterbesuche spricht, zumal die Eintrittspreise in Darmstadt im Vergleich mit anderen Husern nicht sehr hoch waren. Anhand der Abonnementsverzeichnisse und Freikartenlisten lassen sich konkrete Aussagen ber die Personengruppen treffen, die regelmßig das Theater besuchten, das Fundament des gesamten Publikums bildeten und damit einen Teil von Bchners Theatererfahrung ausmachten. Vermerkt sind in den Abonnementsverzeichnissen der Name der Person, in der Regel ihre berufliche Ttigkeit sowie Anzahl, Lage und Preis der abonnierten Pltze, woraus Rckschlsse auf die Sozialstruktur des Publikums zu ziehen sind. Die Platzverteilung im Zuschauerraum kam insgesamt einem verdichteten Abbild der stndischen bzw. sozialen Verhltnisse im Großherzogtum gleich.147 An erster Stelle der 140 Hauschild 21997, S. 103. 141 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 263. Vgl. auch Karl von Holtei: Vierzig Jahre. Bd. 4. – Breslau 21859, S. 201. 142 StA Da Abt. D8 Nr. 73/5. 143 Ebd. 144 Ebd. 145 Brief der Mutter vom 30. Oktober 1836: »Wie Dein Brief ankam den 27ten biegelte ich gerade das letzte Stck, Vater war im Theater […]« (MA, S. 357). Brief des Vaters vom 18. Dezember 1836 (MA, S. 360; vgl. oben). 146 StA Da Abt. D8 Nr. 73/5. 147 Der im folgenden exemplarisch beschriebene »Vertrag des Logen- und ParterreAbonnements« bezieht sich auf den »1.ten Monat des XI.ten Abonnements-Jahrs. 1829/30.« StA Da Abt. D8 Nr. 73/5.
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brokratisch genormten tabellarischen Liste erscheint »S. K.nigl. Hoheit der Großherzog«, ihm stand die Loge Nr. 1 im ersten Rang, die zentrale Frstenloge, selbstverstndlich kostenfrei zur Verfgung. Bis zur Logennummer 26 folgt, von wenigen Ausnahmen wie dem etablierten Oberbaurat Georg Moller abgesehen, die h.fische Gesellschaft bzw. adelige Honoratioren, darunter Herr von Biegeleben,148 verschiedene Mitglieder der Familie von Nordeck zur Rabenau, General von Follenius, der Geheime Rath von Wedekind sowie Staatsminister du Thil. Interessant ist, daß die Großherzogin ber eine eigene Loge mit sieben Pltzen verfgte, die ihr sogar mit dem blichen Preis von 6 fl. pro Logenplatz in Rechnung gestellt wurden. Nach Fuchs Bericht kam der Großherzogin, die vor ihrer Krankheit eine regelmßige Besucherin war, nicht zuletzt eine disziplinierende Funktion zu: »Nie fiel, selbst bei berflltem Hause, die geringste Unordnung vor, nie st.rte irgend ein greller Ausbruch aufgeregten Muthwillens oder Mißbehagens den Gang einer Vorstellung.«149 Bei der weiteren Sitzverteilung im ersten Rang zeigt sich deutlich, daß ausgewhlte einflußreiche Personen aus dem h.heren Brgertum in diesen vornehmlich aristokratischen Kreis integriert waren. Zu ihnen geh.rte der Kabinettsekretr Schleiermacher, aber auch Knstler wie die Kammersngerin Krger. Von den insgesamt 278 im ersten Rang zur Verfgung stehenden Sitzen waren 202 im Abonnement vergeben – 90 davon als Freipltze. Die 112 zahlenden Besucher brachten damit einen Umsatz von 672 fl., was angesichts der enormen Gesamtkosten die marginale Bedeutung des Abonnements fr den Theaterhaushalt offenbart.150 Fr die brigen Logen- und Parterrepltze kann von einem Abonnement eigentlich keine Rede sein, da, vernachlssigt man wenige Einzelerscheinungen, das Verzeichnis keine zahlenden Besucher, sondern nur Empfnger von Freikarten auffhrt. Aristokraten finden sich auf diesen Pltzen außerhalb des ersten Ranges keine. Vornehmlich waren es Theaterangeh.rige wie Hofkapellmeister Thomas, Musikdirektor Mangold samt Familie sowie verschiedene Sngerinnen, denen diese Begnstigung zuteil wurde. Das Fehlen einer eigentlichen Theatermiete fr den zweiten Rang k.nnte erklren, warum Familie Bchner, die nach den Briefstellen eher zu den gewohnheitsmßigen Theaterbesuchern zu rechnen ist, kein kostengnstiges Abonnement unterhielt. Ferner lßt sich vermuten, daß trotz der Zugeh.rigkeit Ernst Bchners zur Darmstdter Honoratiorenschicht die 148 Dabei handelt es sich vermutlich um den Vater von Max von Biegeleben (1813 – 1899), der gemeinsam mit Bchner das Darmstdter Pdagog besuchte und in Gießen dann Burschenschaftsmitglied wurde. Vgl. Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 132 u. 176 sowie den Brief Bchners an die Familie vom 15. Mrz 1836 (MA, S. 314). 149 Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 230. 150 Vgl. ebd., S. 263.
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Familie nicht zum exklusiven gesellschaftlichen Kreis der Personen im ersten Rang geh.rte. Freien Eintritt fr das Parkett erhielten außer den bereits genannten Personen eine Vielzahl von Hofbediensteten, besonders diejenigen aus der unmittelbaren Umgebung des Großherzogs, so beispielsweise Leibkutscher, Leibjger und Leibschneider. Generell lßt sich sagen, daß die Platzverteilung nicht starr und unvernderlich war, sondern berufliche, gesellschaftliche oder politische Karrieren sich auch im Wechsel des Theaterplatzes, d. h. im Aufstieg in eine h.here, dem Großherzog nhergelegene Platzgruppe widerspiegeln konnte. Besonders eindrucksvoll zeigt sich diese Form von sozialer Mobilitt natrlich im Hinblick auf die vergebenen Freipltze, da hier die Entscheidung ber die jeweilige Platzkategorie nicht vom Abonnenten und seinen finanziellen M.glichkeiten, sondern vom Großherzog selbst abhing, der Freikartengesuche pers.nlich genehmigte bzw. ablehnte.151 3.5. Zum Tod des Mzens, Wandlungsprozesse und die Aufl.sung des Hoftheaters Als Ludewig I. Anfang April 1830 starb, war der Theateradministration und auch einem Großteil des Personals rasch bewußt, daß der Fortbestand des Hoftheaters nur durch weitreichende Reformmaßnahmen gesichert werden k.nne. Die Mißstnde hatten sich gegen Ende der 1820er Jahre verschrft, unverhltnismßige Entgelte, verschiedene Formen von Gnstlingswirtschaft oder auch Unregelmßigkeiten wie volle Gehaltszahlungen an Personal, das sich bereits im Ruhestand befand, bestimmten die Situation.152 Die Folge war ein untragbares Ausgabenvolumen, das allein durch die ambitionierte finanzielle Untersttzung Ludewigs aufgebracht werden konnte.153 Von seinem Sohn und Nachfolger Ludwig II. war eine derart mzenatische Kulturpolitik jedenfalls nicht zu erwarten. Zunchst wurde das Theater fr die staatlich verordnete Trauerzeit von zw.lf Wochen geschlossen und die von Trckheim gezeichnete Trauerordnung dem Theaterpersonal vorgelegt.154 Im Vordergrund stand eine fr Damen und Herren gesondert aufgefhrte Bekleidungsvorschrift, die im festgelegten Turnus wechselte.155 Außerdem wurden Anweisungen fr die Teilnahme an den Beisetzungsfeierlichkeiten ge151 Vgl. StA Da Abt. D8 Nr. 73/5. 152 Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 242. Hermann Kaiser: Hoftheater (s. Anm. 14), S. 41. 153 Karl Theodor von Kstner: Jahre (s. Anm. 19), S. 64 u. 72. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 71. 154 StA Da Abt. D8 Nr. 108/8. 155 Ebd.
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geben, der Zutritt zur Stadtkirche war beispielsweise nur mit Einlaßkarte gestattet. Des weiteren macht die Mitteilung quasi als zeitliche Orientierungshilfe fr das Programm auf die zum Trauerzeremoniell geh.renden Glockenzeichen aufmerksam.156 Diese Elemente finden auch bei Valerios Darlegung seines Herrscherbildes Erwhnung: »Nun Sie sollen K.nig werden, das ist eine l[u]stige Sache. […] man kann schwarze Frcke und weiße Halsbinden zu Staatsdienern machen, und wenn man stirbt, so laufen alle blanken Kn.pfe blau an und die Glokkenstricke reißen wie Zwirnfaden vom vielen Luten. Ist das nicht unterhaltend?« (MBA VI, S. 109.) Die analoge Hervorhebung von Ausstattungsdetails des Kleiderzeremoniells in der Trauerordnung ist auffllig; vom 6. bis 26. April 1830 waren die Herren verpflichtet zu tragen: »Kleidung von schwarzem Tuch, der Rock mit drei Trauerklappen, wovon die erste mit einem, die zweite mit zwei, und die dritte mit drei umgeschlagenen Knopfl.chern […] Die Weste mit einer Klappe ber die Kn.pfe.«157 In der Anweisung fr die Zeit vom 18. Mai bis zum 17. Juni ergeben sich zudem Rbereinstimmungen auf der Wortebene: »Blau angelaufene Degen und Schnallen«158 waren in dieser Phase vom mnnlichen Personal anzulegen. Valerios Replik verfgt somit ber einen Realittsgehalt, der im Kontext von Theater und allgemeinem Hofzeremoniell steht. Die Trauerordnung bzw. ihre Umsetzung bildet hier mit großer Wahrscheinlichkeit das Modell fr Bchners Textgestaltung. Noch im April wurden erste Maßnahmen zur effizienten Umgestaltung des Hoftheaters vorgenommen. Dazu setzte Ludwig II. Kommissionen ein, denen neben Oberzeremonienmeister Trckheim u. a. auch der neuberufene, aus Leipzig kommende Intendant Karl Theodor Kstner angeh.rte.159 Bevor jedoch durchgreifende Neuregelungen vorgenommen werden konnten, mußte das unentbehrliche finanzielle Fundament, gleichsam die Grundvoraussetzung fr die weitere Theaterarbeit, gesichert sein. Doch gerade das erwies sich als brisantes Problem, denn die H.he der dafr notwendigen Zahlungen aus der Zivilliste war noch ungewiß, da deren Umfang nach dem Tod Ludewigs verfassungsgemß neu festgesetzt werden mußte.160 Das Vorgehen der 156 157 158 159
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 242 f. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 72. 160 Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 92. Auf die ausgedehnten Verhandlungen und die daraus resultierende Unsicherheit und Gerchtebildung hinsichtlich der Zukunft des Hoftheaters nimmt die Didaskalia Anfang August Bezug: »Noch immer ist man hier, in Betreff der Vernderungen, die unserm Theaterwesen bevorstehen sollen, nicht ins Klare gekommen. Wo sich so verschieden-
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Regierung offenbarte in dieser Frage wenig Weitsichtigkeit, denn Ende Juni forderte sie gegenber der zweiten Kammer des Landtags, daß die bisherige Zivilliste nicht nur im wesentlichen beibehalten, sondern in einer Reihe von Fllen erh.ht werden sollte. Anmaßend war vor allem die geußerte Erwartung, daß smtliche Schulden in H.he von zwei Millionen Gulden, die der Erbprinz Ludwig angesammelt hatte, vom Staatshaushalt bernommen oder die Zivilliste um einen angemessenen Tilgungs- und Verzinsungsbetrag angehoben werde.161 Daß in diesem Ansinnen ein enormes Konfliktpotential lag, bei dem es auch um ganz grundstzliche Machtfragen und -demonstrationen ging, lag auf der Hand. Besonders der neu in die zweite Landtagskammer eingetretene Verwandte Bchners, Ernst Emil Hoffmann, wandte sich entschieden gegen eine Erh.hung der Zivilliste und riet insbesondere zu Einsparungen beim Hoftheateretat.162 Die brgerlichen Abgeordneten in der Stndeversammlung waren insgesamt weder uneingeschrnkte Befrworter des Theaters noch gab es Bestrebungen, seine Verwaltung dem Hof streitig zu machen. Im Hinblick auf die Theaterleitung und -administration kann von einer »Verbrgerlichung« auch im Revolutionsjahr 1830 in Darmstadt keine Rede sein. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Frage, in welcher Form das Theater fortbestehen sollte, auch im Kreis der Familie Bchner, vor allem bei Zusammenknften mit Ernst Emil Hoffmann, thematisiert wurde. Die Zivilliste wurde schließlich am 1. September unwesentlich gekrzt angenommen, allerdings ohne die geforderte Rbernahme der privaten Schulden.163 Fr das Hoftheater bedeutete das eine wesentliche Reduzierung des Etats um 110.000 fl. auf 140.000 fl., wovon der Großherzog 100.000 fl. aus der Zivilliste bernahm.164 Die zu erzielenden Einnahmen waren damit auf die betrchtliche Summe von 40.000 fl. festgesetzt. Durch die Kabinettsordre vom 10. August 1830 wurde eine General-Theater-Intendanz eingerichtet, die sich aus Trckheim und Kstner zusammensetzte und die Aufgaben der zuvor aufgel.sten Hoftheater-Administration und des Hofkapell-Musik-Komitees bernahm.165 Die so entstandene Doppelspitze hatte jedoch den Charakter einer Notl.sung,
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artige Interessen durchkreuzen, wo so Vieles geprft, bercksichtigt und geordnet werden muß: da lßt sich ein endliches Resultat so schnell nicht herbeifhren.« (Didaskalia, 3. 8. 1830, Nr. 215.) Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 92 f. Vgl. ebd., S. 93 sowie Siegfried Bttner: Die Anf2nge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du Thilsche System. – Darmstadt 1969, S. 160 ff. u. 248. Erich Zimmermann: Freiheit (s. Anm. 35), S. 94. Eckhart G. Franz: Hof (s. Anm. 19), S. 162. Karl Theodor von Kstner: Jahre (s. Anm. 19), S. 72. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 74. Ebd., S. 72. Eckhart G. Franz: Vorbemerkungen (s. Anm. 42), S. V.
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die durch eine mangelhafte Koordination unumgnglich geworden war. Kstners Berufung nach Darmstadt war auf besondere Initiative der Großherzogin Wilhelmine erfolgt, die sich verstrkt mit Theaterangelegenheiten befaßte.166 Ludwig II. hatte allerdings bereits Trckheim die Beibehaltung der Intendanz zugesichert, so daß sich zwei prdestinierte Theaterleiter gegenberstanden, was fr die infolge des stark gekrzten Etats unvermeidliche Kostensenkung nicht gerade f.rderlich war und zu Konflikten hinsichtlich administrativer und knstlerischer Fragen fhrte.167 Auch beim Theaterpersonal und beim Publikum zeichnete sich in der Folgezeit im Hinblick auf die doppelte Theaterleitung eine teilweise rauhe Formen annehmende Polarisierung ab.168 Das bisherige Darmstdter »Hof-Opern-Theater«, welches nun die offizielle Bezeichnung »Großherzogliches Hoftheater« trug, nahm seinen Spielbetrieb am 1. September 1830 mit Goethes Egmont wieder auf, nachdem wesentliche Bereiche neu organisiert und personelle Vernderungen vorgenommen worden waren. Dazu geh.rten u. a. eine Umwandlung der Abonnementsbedingungen, die Reduzierung der Hofkapelle und des Chors sowie eine erhebliche Verminderung der Besoldung.169 Auch die Anzahl der Solisten und Schauspieler wurde leicht verringert, wobei der doppelte Einsatz von Sngern, die sowohl fr die Oper als auch fr das Sprechtheater engagiert wurden, eine bedeutende Rolle spielte.170 Im Hinblick auf Bchner, der am 30. Mrz 1831 das Pdagog verließ, und seine Theaterrezeption ist die Frage nicht unwesentlich, inwiefern mit der Wiederer.ffnung des Hoftheaters eine Aufwertung des Schauspiels verbunden war, worauf Knispel – sehr bemht um eine vorsichtige Stellungnahme – hinweist: »Die einseitige Begnstigung schien zu schwinden und fr das Schauspiel eine sch.nere Zeit anzubrechen.«171 Zweifellos deuten neben der neuen Titulatur verschiedene Maßnahmen auf einen Prestigegewinn des Schauspiels hin. Mit Karl von Holtei wurde fr die Oper und das Sprechtheater ein Regisseur berufen, der eindeutig literarisch, weniger musikalisch orientiert 166 Karl Theodor von Kstner: Jahre (s. Anm. 19), S. 62 f. 167 Ebd., S. 64. 168 Holtei beschreibt in seinen Lebenserinnerungen die Situation: Mit der Ernennung von zwei Intendanten »war der Keim zur Zwietracht, Kabale und Feindschaft fr Direktion, Personale und Publikum gelegt. Und dieser Keim ging in der Sonne strahlender Hofgunst, in dem wechselnden Wetter kleinstdtischer Klatschereien so ppig auf, daß er die besten Absichten, den redlichsten Willen hoch berwuchs. Alles, was vom alten Stamme beim Theater geblieben war, geh.rte zu Kstners Gegnern und hing an Herrn v. T.« Karl von Holtei: Jahre (s. Anm. 141), S. 189. 169 Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 73. 170 Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 247 ff. 171 Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 74.
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war.172 Auch der Umbau des Zuschauerraums, in dem u. a. nur fr Schauspiele geeignete Proszeniumslogen eingerichtet wurden, weist in diese Richtung.173 Die Spielplangestaltung spricht dagegen nicht fr einen grundstzlichen Wandel, denn obgleich Schillers R2uber und Don Carlos neben weiteren anspruchsvolleren Werken in Darmstadt erstaufgefhrt wurden, berwogen weiterhin solche Dramen, die vorrangig auf das Unterhaltungsbedrfnis abgestimmt waren. Eine derartige Programmgestaltung war schon allein wegen der erforderlichen Kasseneinnahmen unumgnglich. Im Hinblick auf die knstlerischen Leistungen verdeutlichen die Theaterberichte der Hessischen Bl2tter, daß gerade im erweiterten anspruchsvollen Repertoire erhebliche Defizite unterschiedlicher Art auszumachen waren.174 Dismas Fuchs betont darber hinaus den gleichzeitigen Qualittsanstieg im Bereich des Musiktheaters.175 Auch wenn Fuchs nicht expressis verbis ausfhrt, daß diese Entwicklung mit dem Ende der direkten Einflußnahme Ludewigs I. in Verbindung stand, scheint es sich dabei doch um den zentralen Faktor zu handeln. Ferner legt das umfangreiche, teilweise v.llig neuerarbeitete Opernrepertoire, in das nun vermehrt auch die komische Oper aufgenommen wurde, anschaulich eine eminente Leistungsfhigkeit dar, was auch die Theaterpublizistik besttigt. Bei differenzierter Betrachtung wird demnach deutlich, daß von einem prgnanten qualitativen Wandel des Sprechtheaters nicht auszugehen ist. Vielmehr wuchs vor allem durch die Bemhungen der Großherzogin Wilhelmine die allgemeine Wertschtzung der Schauspielarbeit oder umgekehrt, mit Ludewigs Tod war der Oper eine geschmacks- und meinungsbildende Autoritt verlorengegangen. Trotz der eingeleiteten und zum Großteil bereits vollzogenen Reformmaßnahmen blieb die .konomische Lage des Theaters problematisch. Der neue Etat und der großherzogliche Zuschuß erwiesen sich binnen kurzem als zu eng bemessen, und Ludwig II. war nicht bereit, den defizitren Theaterbetrieb langfristig aufrechtzuerhalten.176 Am 172 Die Aussagen Kaisers und Haases, Holtei sei in Darmstadt ein vielgespielter Theaterautor gewesen, sind allerdings bertrieben. Von Holtei wurde vor seiner Berufung lediglich ein Drama, whrend seiner Darmstdter Intendanz drei Arbeiten aufgefhrt, die bis auf eine Ausnahme ohne Wiederholung blieben. Hermann Kaiser: Hoftheater (s. Anm. 14), S. 42. Yorck A. Haase: Theater (s. Anm. 10), S. 85. 173 Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 74. 174 Holtei berichtet, daß B.rne, der sich 1830 kurz in Darmstadt aufhielt, eine Auffhrung von Lessings Minna von Barnhelm besucht habe und sich anschließend beklagte ber »die Langeweile, die ihm unsere matte Auffhrung des Lessingschen Lustspiels verursacht.« Karl von Holtei: Jahre (s. Anm. 141), S. 196. 175 Dismas Fuchs: Hoftheater (s. Anm. 42), S. 260. 176 Vgl. Karl Theodor von Kstner: Jahre (s. Anm. 19), S. 72.
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26. Januar verfgte er nach einigem Z.gern schließlich die Aufl.sung des Hoftheaters, die am 30. Juni 1831 vollzogen und durch eine neu einberufene Kommission abgewickelt werden sollte.177 Die Didaskalia schließt ihre Theaterberichte ber die beiden letzten aufgefhrten Werke, das Lustspiel Leichtsinn aus Liebe von Bauernfeld und – traditionsgemß – Aubers Stumme von Portici, mit einer insgesamt positiven Bilanz der letzten zehn Monate und fhrt abschließend aus: »So konnte der Schmerz, von einem Institute zu scheiden, das uns bei kaum einjhriger Dauer mit dem abwechselndsten Genssen in Oper wie Schauspiel durch den außdauernden Fleiß unterhalten und erfreut hatte, nur ein inniger, tiefgefhlter seyn!«178
4. Ferien, Krankheit, Prolog der Flucht Bchners Aufenthalte in Darmstadt nach 1831 Zeit fr Theaterbesuche? Nachdem Bchner im Herbst 1831 Darmstadt verlassen hatte, um in Straßburg sein Medizinstudium aufzunehmen, beschrnkten sich die Aufenthalte in der Residenzstadt auf wenige Wochen bzw. Tage. Es handelt sich dabei bekanntlich um Ferienbesuche, einen Krankheitsaufenthalt sowie den lngeren Zeitabschnitt unmittelbar vor der Flucht nach Straßburg um den 6. Mrz 1835.179 Fr eine m.gliche Theaterrezeption in Darmstadt nach 1831 kommt demnach eine berschaubar kleine Zahl von Veranstaltungen in Betracht, zumal es nach der offiziellen Schließung des Hoftheaters keinen regelmßigen Spielbetrieb gab. Wieder eingerichtet wurden dennoch eine Hoftheateradministration und eine Hofkapell-Musik-Direktion, die im Geschftsbereich Freiherrn von Trckheims verblieben.180 Kstner war allein mit der Aufsicht ber das Theater betraut worden, nahm aber im Februar
177 Fr die Theaterangestellten ergaben sich fr die Zeit nach dem 30. Juni 1831 folgende Konsequenzen: Im Dienst verblieben neben wenigen Personen mit administrativen und technischen Aufgaben das Chor- und Orchesterpersonal. Neun Schauspielern und Sngern wurde ein Ruhegehalt bewilligt, fnf erhielten vorbehaltlich fr die Zeit bis zu einem neuen Engagement ein Gnadengehalt; die Zahlungen beliefen sich jeweils etwa auf die Hlfte der bisherigen Besoldung. Das brige Theaterpersonal wurde entlassen. Vgl. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 81 f. Holtei hatte das Darmstdter Theater gemeinsam mit seiner Frau aufgrund der fr sie nicht lnger hinnehmbaren Arbeitsverhltnisse und Parteienkmpfe bereits im Mai 1831 verlassen. Vgl. Didaskalia, 27. 5. 1831, Nr. 147 u. 28. 5. 1831, Nr. 148. 178 Ebd., 4. 7. 1831, Nr. 186. 179 Vgl. Thomas Michael Mayer, in: GB I/II, S. 367 – 394. 180 Eckhart G. Franz: Vorbemerkung (s. Anm. 42), S. V.
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1833 das eintrgliche Angebot an, die Intendanz des Mnchner Hoftheaters zu bernehmen.181 In Darmstadt standen seit Ende 1831 Konzerte der von der Aufl.sung des Theaters verschont gebliebenen Hofkapelle und des Chors im Vordergrund, fr die einzelne Gesangssolisten verpflichtet wurden. Auch Opern- und Ballettauffhrungen finden sich, wenn auch eher selten, im Programm des Hauses.182 Dazu kamen unterhaltende Gastspiele wie beispielsweise das des »berhmten Prestigateur[s] Hrn. B. Bosco«,183 der in einem Vorstellungszyklus seine »berraschenden natrlichen Wunder«184 bestaunen ließ. Erfolgreich waren auch die in den festlich gestalteten Theaterrumen neuerdings veranstalteten Maskenblle.185 Im Winter 1833/1834, in dem sich Bchner zum Auskurieren seiner Krankheit in Darmstadt aufhielt, reorganisierten zwei Theaterunternehmer fr den Zeitraum von fnf Monaten regelmßige Opern-, Possen- und Lustspielauffhrungen,186 die aber inhaltlich und funktionell ber das bereits dargestellte Repertoire nicht hinausgingen und im Hinblick auf Bchners Theatererfahrung keine entscheidenden Indizien liefern. Ohnehin ist in dieser Zeit schon allein aus Krankheitsgrnden nicht von einer regen Theaterrezeption auszugehen. Bedeutend scheint ein Ereignis unmittelbar vor Bchners Flucht nach Straßburg zu sein. Die Didaskalia geht ausfhrlich auf eine theatralische Vorfhrung whrend des am 4. Mrz im Hoftheater veranstalteten Masken- und Faschingsballs ein. Nach der Ankunft des großherzoglichen Paares nahte sich der Mittelloge ein seltsames Gefhrt: »Es war ein offener Wagen, mit Pferden bespannt, worauf Reiter saßen. Im Wagen lagen in altmodischer Tracht vier Masken als Automaten und auf Vor- und Rcksitz befanden sich ebenfalls deren vier […] die vier sitzenden Automaten wurden aufgezogen; wie allmhlich durch den mchtigen Schlssel und den einwirkenden Dampf beseelt, hoben sie sich empor: setzten die Instrumente an und begannen zu blasen, zu trommeln u. dgl. […].«187 Auch die anderen Automaten kamen zum Einsatz: »Man stellte sie hin, der Schlssel knarrte in ihren Rcken, sie bekamen dadurch die erforderliche Selbststndigkeit und automatische Mndigkeit und machten im Tempo ihr Kompliment.«188 Rein181 182 183 184 185 186 187
Karl Theodor von Kstner: Jahre (s. Anm. 19), S. 89 f. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 83 f. Didaskalia, 6. 9. 1831, Nr. 249. Ebd. Hermann Knispel: Hoftheater (s. Anm. 16), S. 85 f. Ebd., S. 87 f. Vgl. Yorck A. Haase: Theater (s. Anm. 10), S. 85. Didaskalia, 9. 3. 1835, Nr. 68. Vgl. auch Eckhart G. Franz (Bearbeitung): Georg Bchner und seine Zeit. Ausstellung der Hessischen Staatsarchive 1987. – Darmstadt 1987, S. 45. 188 Didaskalia, 9. 3. 1835, Nr. 68.
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hard Pabst und vermutlich im Anschluß an ihn auch Hauschild sehen in diesem Darmstdter Karnevalsspektakel, bei dem Menschen Automaten imitierten, eine inspirierende Vorlage fr den maskierten Auftritt von Lena, Leonce sowie der Gouvernante und Valerio in III/3 des Lustspiels (MBA VI, S. 121 ff.).189 Whrend es sich bei Pabst jedoch um eine behutsam formulierte, im brigen nicht publizierte These handelt und er an anderer Stelle sogar selbstkritisch von »Mutmaßungen« spricht, ist sich Hauschild seiner Sache ziemlich sicher: »Deutlich« sei Valerios Einfall einer Automaten-Maskerade von der Vorfhrung im Hoftheater inspiriert.190 Bei allen deutlichen Parallelen – sogar die ironisch gebrochene Aussage Valerios, die hohe Bildung der Automaten-Dame alias Lena ußere sich durch das Singen aller neuen Opern, ließe sich als rumliche und kontextuale Bezugnahme dechiffrieren – wre vorerst zu klren, ob Bchner tatschlich am Karnevalsball teilgenommen haben kann. Bedenken gegen diese stillschweigend angenommene Voraussetzung sind allerdings angemessen. Eine Verhaftung Bchners war allersptestens nach der Vorladung zum Verh.r in das Darmstdter Arresthaus, zu der er nicht selbst erschien, sondern statt dessen seinen Bruder Wilhelm schickte, nur noch eine Frage der Zeit. Besonders in den letzten Tagen vor der Flucht qulte Bchner stndig die »Angst vor Verhaftung und sonstigen Verfolgungen«, wie er im Brief an die Familie aus Weißenburg am 9. Mrz schreibt (MA, S. 298). Laut der insgesamt glaubwrdigen Aussage Wilhelm Bchners stand sogar eine Fluchtleiter fr den Fall bereit, daß die »Hscher kmen« (MA, S. 380). In Anbetracht dieses Zustands ist der Besuch eines Karnevalvergngens wenig wahrscheinlich, zumal dort mit einiger Sicherheit gerade die Personen anzutreffen waren, die Bchner zur Flucht nach Frankreich trieben.191 Rberzeugen kann im Kontext der vorliegenden Zeugnisse auch nicht der immerhin denkbare, wenngleich sophistisch anmutende Einwand, Bchner k.nnte sich listig und mit ußerster Verstellung demonstrativ gerade zu diesem Zeitpunkt im Theater der Darmstdter Zffentlichkeit gezeigt haben, um eine unangreifbare Integritt zur Schau zu tragen. Vielmehr ist fr diesen Zeitraum erh.hter Bedrohung von einem allgemeinen Rckzug Bchners aus jeder Zffentlichkeit auszugehen, der wahrscheinlich »nicht riskie-
189 Reinhard Pabst: Die Schießscharten des elfenbeinernen Turms: Politische Anspielungen in Bchners »Leonce und Lena«. Referat auf dem Zweiten Internationalen Georg Bchner Symposium 1987 (Typoskript); vgl. Hauschild 21997, S. 676. 190 Ebd. 191 Zu Bchners Situation in diesem Zeitraum ußert sich ausfhrlich Thomas Michael Mayer: Georg Bchners Situation im Elternhaus und der Anlaß seiner Flucht aus Darmstadt Anfang M2rz 1835. – In: GBJb 9 (1995 – 99), S. 33 – 92, hierzu bes. S. 53 f. u. 79 f.
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ren wollte, etwa auf der Straße verhaftet zu werden und damit zugleich noch einen Außenstehenden zu kompromittieren.«192 Daneben spricht aber noch ein weiterer Anhaltspunkt dafr, daß die Maskenszene aus Leonce und Lena nicht unbedenklich auf das Schaustck im Hoftheater zurckzufhren ist. Die Automaten-Metapher findet sich nmlich bereits im sogenannten Fatalismus-Brief von (gegen Ende Januar) 1834, in dem Bchner seiner Verlobten Wilhelmine JaeglU niedergeschlagen berichtet: »Seit ich ber die Rheinbrcke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefhl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen« (vgl. MA, S. 289).193 Offensichtlich ist freilich die Divergenz zwischen dem sensitiv-depressiven Ton des Briefes und der ins Komische gewandelten Replik Valerios, bei der die Sprechkompetenz im Vordergrund steht: »[…] daß ich vielleicht der dritte und merkwrdigste von beiden [Automaten, T. S.] bin […] worber man brigens sich nicht wundern drfte, da ich selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß, so daß es h.chst wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden l ß t , und es eigentlich nichts als Walzen und Windschluche sind, die das Alles sagen« (MBA VI, S. 121). Hier scheint zumindest noch ein anderes Vorbild anzuklingen: das einer Sprachmaschine. Eine solche wurde zum ersten Mal 1781 von Wolfgang von Kempelen der Zffentlichkeit vorgestellt und stieß in den folgenden Jahren auf ein breites Interesse und weite Verbreitung.194 Valerios Beschreibung der mechanischen Komponenten seiner vermeintlichen Sprachsteuerung im obigen Zitat ist nahezu deckungsgleich mit derjenigen Kempelens, der von Blasebalg, R.hren und Klappen spricht.195 Kempelens Apparatur berschritt die bisher gltige und anhand der Sprachfhigkeit gezogene Trennlinie zwischen menschlichem Organismus und knstlichem Automat. Neben dem »Verlust« der Seele berichtet der angefhrte Brief Bchners ebenso von einer zeitweiligen Sprachlosigkeit: »Und ich ließ dich warten! Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die 192 Ebd., S. 87. 193 Vgl. auch Thomas Michaels Mayers Ausfhrungen zum Verhltnis von Werk und Briefwechsel, in: GBJb 2 (1982), S. 276. 194 Vgl. dazu Peter Jaumann: Mimesis versus Poiesis? Zur Dialektik von Natur, Kunst und Mechanismus in der Aufkl2rung. – In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-undDrang-Studien 5 (1995), S. 151 f. J.rg Jochen Berns: Zeremoniellkritik (s. Anm. 27), S. 233 f. Auch Jean Paul geht satirisch-kritisch auf die blasphemische Eigentmlichkeit der Sprachmaschine Kempelens ein. Vgl. die durchaus thematische Parallelen zur Automatenszene in Leonce und Lena aufweisenden Ausfhrungen Pauls mit dem Titel »Unterthnigste Vorstellung unser, der smmtlichen Spieler und redenden Damen in Europa, entgegen und wider die Einfhrung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschine«. – In: Jean Pauls S2mtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, 1. Abt., Bd. 1 (Satirische Jugendwerke). Hrsg. v. Eduard Berend. – Weimar 1927, S. 275 – 292. 195 Vgl. Peter Jaumann: Mimesis (s. Anm. 194), S. 152.
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Feder in die Hand, aber es war mir unm.glich, nur ein Wort zu schreiben« (MA, S. 288). Die Automaten-Metapher steht also sowohl im Brief als auch im Lustspiel den Begriffen »Seele« und (selbstbestimmte) »Sprache« als konstitutive Elemente des Menschlichen gegenber. Nicht erst der Karnevalsball im Hoftheater – an dem Bchner mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht teilgenommen hat – war demnach n.tig, um eine inspirierende Vorlage fr die Automatenszene in Leonce und Lena zu schaffen, wenn auch ein konkreter Nachweis, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Zusammenhang Bchner auf eine Apparatur wie die Sprachmaschine aufmerksam geworden sein k.nnte, noch zu erbringen wre. Die Vorstellung im Hoftheater und die ausfhrliche Berichterstattung der Didaskalia verweisen zumindest auf ein anhaltendes Publikumsinteresse an menschenhnlichen Automaten und damit auf deren Popularitt. Deutlich werden hier in jedem Fall auch die Grenzen und problematischen »Grauzonen«, in der sich die Bezugnahme von Darmstdter Theatererfahrung und spterer literarischer Verarbeitung bewegt. Fr das Darmstdter Theater zu Georg Bchners Zeit ergibt sich zusammenfassend das Bild einer unter h.fischer Obhut stehenden Unterhaltungsinstitution oder – pointierter – eines Dienstleistungsbetriebs, dem Adel und Brgertum ihre kulturelle Versorgung berließen. Das .ffentliche Vergngen war somit monopolisiert und direkt der staatlichen Kontrolle unterworfen.196 Angesichts der beschriebenen Verhltnisse, die in hnlicher Form auch an anderen Husern anzutreffen waren und die deutsche Theaterlandschaft bestimmten, verwundert es kaum, daß im jungdeutschen und junghegelianischen Schrifttum die illiberale Institution des Hoftheaters allgemein skeptisch betrachtet, wenn nicht sogar prononciert abgelehnt wurde. Durch den anspruchslosen Publikumsgeschmack und den auf diesen nach kommerziellen Gesichtspunkten ausgerichteten Spielplan, so die weitverbreitete Einschtzung, trage das Hoftheater zu einem erheblichen Teil die Schuld am Verfall des Dramas.197 Laube ußert sich hierzu in der Einleitung zu Monaldeschi unmißverstndlich: »Die unglckliche Idee, mit dem Begriffe Hoftheater auch Begriffe der Hofetikette zu verbinden, hat unabsehbare Folgen […] grundstzlich wrde der konsequente Begriff des Hoftheaters, welcher ber Leben und Tod des deutschen Dramas entscheidet, das heutige Drama nur zum bedeutungslosen Spiele werden lassen.«198 196 Vgl. Reinhart Meyer: Aufkl2rung (s. Anm. 38), S. 167. 197 Vgl. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit (s. Anm. 40), S. 340. 198 Heinrich Laube: Einleitung zu Monaldeschi. – In: Heinrich Hubert Houben (Hrsg.): Heinrich Laubes gesammelte Werke. Bd. 23 (Dramatische Werke I). – Leipzig 1909, S. 19.
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Bchner schrieb kurz nach der Publikation von Dantons Tod, sein Kunstverstndnis erluternd und rechtfertigend, an die Familie: »Wenn man mir brigens noch sagen wollte, der Dichter msse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht […]« (MA, S. 306; vgl. auch S. 144). Die Kritik Bchners zielt hier offenbar nicht allein auf das klassische Ideendrama, sondern richtet sich darber hinaus gegen die moralische Schaubhne und damit gegen das hohle Pathos, die realittswidrigen Stilisierungen und die thematische Begrenztheit des biedermeierlichen Theaterbetriebs insgesamt. Fokussiert werden sowohl Schiller und seine Epigonen als auch die inhaltlichen und szenischen Ideale des dumpf moralisierenden Bhnen-Erfolgsstcks der Restaurationszeit im allgemeinen. Darauf spielen auch Camilles Worte an, die das produktionsprogrammatische Muster und die Isthetik dieser sittlich-idealistischen Unterhaltungsdramatik offenbaren: »Nimmt Einer ein Gefhlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hnde und Fße, frbt ihm das Gesicht und lßt das Ding sich 3 Acte hindurch herumqulen, bis es sich zulezt verheirathet oder sich todtschießt […]« (MBA III.2, S. 37). Bereits Wender hat darauf hingewiesen, daß »ein Dramenheld, der »›sich zulezt […] todtschießt‹«, wohl eher in einem romantischen Stck der Bchnerzeit figuriert, ganz abgesehen von der Frage, ob »›3 Acte‹ typisch sind fr ein klassizistisches Ideendrama.«199 Im Darmstdter Spielplan findet sich neben den zahlreichen komischen Einaktern eine auffllig große Anzahl von dreiaktigen Lustspielen bzw. Lustspielbearbeitungen wie u. a. Raupachs Laßt die Todten ruhn, Schillers Rbersetzung Der Neffe als Onkel, Albinis Zu zahm und zu wild, Lebruns Zwei Freunde und ein Rock, Voß Die Sprchlein. Außerdem sind im Repertoire einige dreiaktige als Drama oder Schauspiel bezeichnete Arbeiten verzeichnet, darunter auch Holteis Majoratsherren.200 Vor diesem Hintergrund lassen sich Bchners dramatische Arbeiten als dezidierte Gegenentwrfe zum biedermeierlichen Theaterbetrieb lesen, die sich durch ihre thematischen, intellektuellen, sthetischen, aber auch szenisch-bhnentechnischen Ansprche den zeitgen.ssischen Theaterverhltnissen konsequent versperrten. Sie trugen weder dem vorherrschenden Publikumsgeschmack und dessen Dezenzschwelle Rechnung, noch waren sie aufgrund ihrer gesellschaftlich-politischen Tendenz in 199 Herbert Wender: Kunstgeschehen (s. Anm. 7), S. 232, Anm. 27. 200 Vgl. Dismas Fuchs: Tagebuch (s. Anm. 42), S. 193, 198, 202, 205, 231 u. 253.
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einer staatlich gelenkten oder staatlich kontrollierten Theaterinstitution auffhrbar. Bereits die Publikation von Dantons Tod im Ph,nix mit den von Gutzkow vorgenommenen Texteingriffen, schließlich das Verbot der Buchausgabe 1835, aber ebenso auch die von Interpolationen geprgte Editionsgeschichte von Leonce und Lena sowie Woyzeck verdeutlichen die zensur-, geschmacks- und dezenzbedingten Probleme, die sowohl einer Ver.ffentlichung als auch Auffhrungen – selbst in »bereinigter« Form – entgegenstanden. Gutzkows Stellungnahme zur Auffhrbarkeit von Dantons Tod ist eindeutig: Sie sei grundstzlich unm.glich, »weil man Haydns Sch.pfung nicht auf der Drehorgel leiern kann.«201 Eduard Devrient ußert sich zur Anlage der Figuren und kommt zu dem Schluß, mit den »bloß skizzierten Charakteren«, den »bloßen Redereien« htten die Schauspieler »wenig […] zu tun.«202 Bchners Theaterrezeption war demnach gebrochen: Sie ergnzte zwar durchaus Leseerfahrungen oder regte zur Lektre an, bot Vorlagen unterschiedlicher Art und konstituierte einen theaterpraktisch-technischen Erfahrungshorizont, konzeptionell wandte er sich in seinen Arbeiten jedoch entschieden von der restriktiven und affektierten Welt des Hoftheaters ab.
201 Zitiert nach Hauschild 1985, S. 182. 202 Ebd. Es dauerte tatschlich bis zur Jahrhundertwende, also bis zur Sptphase der letzten Hoftheater, bevor die Dramen Bchners zur Auffhrung kamen: Leonce und Lena wurde am 31. Mai 1895 in einer Freilichtauffhrung des Intimen Theaters in Mnchen, Dantons Tod am 5. Januar 1902 in Berlin und Woyzeck schließlich am 8. November 1913 im Residenztheater in Mnchen uraufgefhrt. Vgl. Walter Hinderer: Bchner-Kommentar zum dichterischen Werk. – Mnchen 1977, S. 84, 130 u. 174.
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»Ha, kannst du mir vergeben, Porcia?« Interpretationsanstze im Kontext der Shakespeare-Anspielungen in Dantons Tod1
Von Sabine Dissel (Hamburg)
Die Anzahl der Shakespeare-Anspielungen in Dantons Tod ist bekanntermaßen außerordentlich groß. So bezeichnet die Marburger BchnerAusgabe2 die »Intensitt von Bchners Shakespeare-Aneignung« als »ungew.hnlich«, obwohl die »europische Dramatik […] in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts insgesamt stark durch Shakespeare geprgt« worden sei.3 Entsprechend lassen sich rund achtzig eindeutige und m.gliche Anregungen identifizieren, die die MBA im Erluterungsteil zu Dantons Tod verzeichnet.4 Es kann hier also nicht darum gehen, neue Referenzstellen mit Anspielungsstatus zu prsentieren, sondern darum, mit diesem inzwischen bekannten Material weiterzuarbeiten und anhand einiger ausgewhlter Beispiele zu zeigen, wie Bchner nicht allein verwandte Stoffe fr die eigene dichterische Gestaltung verwertete, sondern wie sich gerade aus den oft nur geringfgigen Abweichungen von der Vorlage die Weichen fr die Interpretation stellen. Die breite Prsenz bestimmter Passagen aus Shakespeares Dramen in Dantons Tod erfllt offensichtlich mehrere Funktionen. Bei den hufig vermutlich aus dem Gedchtnis zitierten Stellen handelt es sich manchmal um virtuoses Spiel; es gibt jedoch auch die Beispiele der Szenenkonzeption, bei denen mit dem vorliegenden Ausgangstext gearbeitet worden sein muß, wo ber einen lngeren Abschnitt hinweg und mit außerordentlicher sprachlicher Nhe Material in Bchners Text eingeflossen ist, ja sogar ber gr.ßere Textrume hinweg strukturelle Parallelen zu verzeichnen sind. Hier handelt es sich um die regelrechte Assimilation einer Ausdrucksfhigkeit, um die Entwicklung des eigenen Stils und der Fhigkeit, dramatische Strukturen zu schaffen anhand 1 Der vorliegende Aufsatz entspricht meinem Vortrag anlßlich der Jahresversammlung der Georg Bchner Gesellschaft am 30. Juni 2001 in Gießen. 2 Bchner, Georg: S2mtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Bd. 3.2, Dantons Tod (Text, Editionsbericht). – Darmstadt 2000. Im folgenden MBA abgekrzt. 3 MBA, Bd. 3.2 (Editionsbericht), S. 213. 4 Im Erluterungsband (3.4) der MBA sind alle hier bearbeiteten Beispiele als Anmerkungen zu den entsprechenden Repliken aufgefhrt.
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der Verarbeitung von favorisierten Vorbildern. Vermutlich wurde ganz hnlich der Technik des Studiums und Exzerpierens der historiographischen Quellen gearbeitet, entsprechend dem »schulblichen Imitatio«Verfahren.5 Die Frage – und hier manifestiert sich eine weitere Funktion – , die sich unweigerlich aus dem Umstand quantitativer Flle bei textlicher Nhe ergibt, lautet: Ist das Erkennen der literarischen Vorlagen beabsichtigt? Zuweilen hat es den Anschein, daß der Dichter geradezu auf eine Identifikation, die ja fr einzelne Shakespeare-Sequenzen schon von der frhen Bchner-Forschung geleistet wurde,6 spekuliert. Fr diese These scheint mir die signalhafte Nennung von Shakespeareschen Figuren zu sprechen. In der zweiten Szene des ersten Aktes ruft der fr seine Ttigkeit als Theatersouffleur bekannte Simon aus: »Ha, kannst du mir vergeben, Porcia?« (R. 88),7 eines von drei in dieser Szene bernommenen Elementen aus Julius C2sar. Simon zitiert hier offensichtlich in abgewandelter Form Cassius betroffene Reaktion auf die Nachricht vom Tode der Frau des Brutus: »Ha! Portia!«8 mit der Intention, deren Loyalitt auf sein ihm nun beistehendes Weib zu beziehen. Mit seinem sich direkt anschließenden leicht variierten Hamlet-Zitat: »Schlug ich dich? Das war nicht meine Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnsinn that es. / Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind / Hamlet thats nicht, Hamlet verlugnets« (R. 88 / Hamlet V/2) ergibt sich ein Anspielungszusammenhang, der zunchst einmal auf der Figurenebene funktioniert. Als zustzliche Information kommt hier die ganze Tragik der Tode Ophelias und Polonius, Laertes Schwester und Vater, zum Tragen. Die emphatische Sprache Hamlets, der seine Schuld dem Wahnsinn anlastet, wird im Munde Simons zu aufgeblasener, dem vergleichsweise nichtigen Anlaß des Streits mit seiner Gemahlin nicht angemessener Sprache. Dieser Kontrast evoziert eine ußerst komische Wir5 Beschrieben in Kap. 1.2.2.4 der MBA, Bd. 3.2, S. 209 – 211. 6 Seit Anfang des 20. Jh.s wurden besonders die Volksszenen in Julius C2sar und die Jack-Cade-Szenen in Heinrich VI., 2. Teil sowie Hamlet als Vorbilder genannt. Siehe: Landsberg, Hans: Georg Bchners Drama ›Dantons Tod‹. – Phil. Diss. Berlin 1900, S. 32 f.; Landau, Paul: Georg Bchners Leben und Werke. – In: Dedner, Burghard (Hrsg.): Der widerst2ndige Klassiker. Einleitungen zu Bchner vom Nachm2rz bis zur Weimarer Republik. – Frankfurt a. M. 1990, S. 289 (Bchner-Studien, Bd. 5); Vogeley, Heinrich: Georg Bchner und Shakespeare. – Phil. Diss. Marburg 1934; Mayer, Thomas Michael: »An die Laterne!« Eine unbekannte ›Quellenmontage‹ in Dantons Tod (I,2). – In: GBJb 6 (1986/87), 1990, S. 145 ff. 7 Dantons Tod wird zitiert nach der MBA. 8 Die Werke Shakespeares werden zitiert nach der auch von Bchner benutzten Rbersetzung von August Wilhelm Schlegel, hier in folgender Ausgabe: Shakespeares Werke in zw,lf Teilen. Rbersetzt von A. W. von Schlegel und L. Tieck. Mit einer biographischen Einleitung von Rudolph GenUe. – Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. o. J.
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kung. Dadurch, daß hier zudem eine in Zitaten redende Figur von den anderen nicht verstanden wird, entsteht fr das erkennende Publikum ein weiteres komisches Moment. Kann aber von einem Rezipienten, der diese Komik wahrnimmt, nicht zugleich erwartet werden oder ist er nicht sogar aufgefordert, den Horizont Hamlet oder Julius C2sar als Sinnzusammenhang fr das gesamte Drama mitzudenken? Denn die Bedeutung solcher kleinen definitiven Rbernahmen besteht darin, Aufschluß ber die anderen m,glichen Anregungen im Umkreis zu gewhren. Mit dem durch die Namensnennung akzentuierten Hinweis auf ein bestimmtes Shakespeare-Drama in Kombination mit einer Vielzahl weiterer Entlehnungen intendiert der Autor eine Horizonterweiterung seines Textes, der, soweit eine Identifikation des Zitates erfolgt, nun vor der Folie des Anspielungstextes gelesen werden kann. Betrachten wir also zunchst Julius C2sar. Da die Trag.die, die weniger eine Geschichte ihrer Titelfigur als die des Verschw.rers Brutus ist, ebenfalls um inhaltliche Komponenten wie politische Machtkmpfe in einer Republik, Volksverhalten, tyrannische Figuren, Alptraum, Mord und Intrige, aber auch um die philosophischen Fragen des Rechts und der Tugend im Staate kreist, muß sie sich Bchner als Vorbild und Studienobjekt geradezu aufgedrngt haben. Aus dieser thematischen Verwandtschaft der beiden Dramen erklren sich die weitlufigen Entsprechungen einzelner Handlungsteile, welche unweigerlich auch Folgen fr die Gesamtkomposition von Dantons Tod nach sich ziehen. Diesen kommt zwar nicht der Stellenwert der historiographischen Quellen zu, der gestalterische Einfluß ist dennoch unverkennbar. In jener Szene I/2, in der der Name Porcia fllt, erscheinen noch zwei Elemente aus Julius C2sar: der fast vollzogene Lynchmord an dem jungen Menschen, in Anlehnung an die Episode mit dem Dichter Cinna; gleich im Anschluß der Auftritt Robespierres, der das Volk geschickt fr sich einnimmt, entsprechend der Rede des Antonius in III/2, welcher unauffllig versucht, bei den Brgern die Stimmung fr einen Rachefeldzug gegen Csars M.rder zu schren. Die Danton-Szene I/6 weist fnf weitere Anklnge an Julius C2sar auf, von denen zwei hier von Bedeutung sind: zunchst der nchtliche Streit zwischen Robespierre und Danton vor dem Hintergrund des ebenfalls zur Nachtzeit stattfindenden Zwiegesprchs zwischen Brutus und Cassius. Die Unterredungen hneln einander hinsichtlich der Themen: Tugend und Laster, insbesondere Bestechung, sowie Rechtfertigung des T.tens im Namen des Rechts. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, daß die Unterredung bei Shakespeare mit einer Vers.hnung endet, zwischen Robespierre und Danton der Bruch jedoch endgltig ist. Im Anschluß an diese Besprechung rechtfertigt Robespierre, zuerst vor sich selbst, dann vor seinen Mitstreitern, den geplanten Mord an Danton: »Ists denn so nothwendig? Ja, ja! die Republik! Er muß weg.« (R. 185.) Par55
allel erklrt auch Brutus, zunchst allein, spter vor den Mitverschworenen, den Tod Csars im Sinne der Allgemeinheit fr notwendig: »Es muß durch seinen Tod geschehen. Ich habe / Fr mein Teil keinen Grund auf ihn zu zrnen, / Als frs gemeine Wohl.« (II/1.) Nun folgen ein gleiches und ein entgegengesetztes Argument: St. Just bzw. Brutus halten es fr geboten, dem Anschlag die Weihe eines Opfers zu verleihen, um die Tatsache des Mordes zu berspielen. Aber St. Just will die »Glieder« (das sind die Anhnger Dantons) mitvernichten, wohingegen Brutus Mark Anton, »ein Glied des Csar«, nicht zu »zerstkken« trachtet. »B r u t u s. Zu blutge Weise, Cajus Cassius, wrs, Das Haupt abschlagen und zerhaun die Glieder, Wie Grimm beim Tod und Tcke hinterher. Antonius ist ja nur ein Glied des Csar. Laßt Opferer uns sein, nicht Schlchter, Cajus. […] Zerlegen laßt uns ihn, ein Mahl fr G.tter, Nicht ihn zerhauen wie ein Aas fr Hunde. […] Dadurch wird Notwendig unser Werk und nicht gehssig; Und wenn es so dem Aug des Volks erscheint, Wird man uns Reiniger, nicht M.rder nennen.« »S t. J u s t. Wir mssen die große Leiche mit Anstand begraben, wie Priester, nicht wie M.rder. Wir drfen sie nicht zerstcken,
[Soweit scheint es der gleiche Gedanke zu sein, dann jedoch kommt die Begrndung:] all ihre Glieder mssen mit hinunter.« (R. 195.)
Das Bild des weitgehend intakt belassenen Leichnams erfhrt bei Bchner eine Umdeutung in genau jenem gehssigen Sinne, den Brutus zu vermeiden versuchte. Die einzelnen Glieder werden nicht abgehackt, aber nicht, um sie zu verschonen, sondern um sie mit dem Haupt als Ganzes zu vernichten. Die Kenntnis der Vorlage rckt Robespierre und die Seinen hier in ein schlechtes Licht. Vor dem Hintergrund dieser entscheidenden Abweichung von Brutus vergleichsweise humanem Verhalten, die Csartreuen zu schonen, erscheint die Skrupellosigkeit und Hrte der Jakobiner, insbesondere des St. Just, noch deutlicher herausgestellt.9 Eine weitere zynische Verkehrung begegnet mit der 9 Vgl. Kott, Jan: The guillotine as a tragic hero. Julius Caesar and Bchners Dantons Death. – In: ders: The Gender of Rosalind. Interpretations: Shakespeare, Bchner, Gautier. – Evansten, Illinois 1992, S. 66 f.: St. Just »repeats almost exactly Brutus words, which Shakespeare took from Plutarch«. Kott sieht in dieser Rbernahme jedoch eine lineare Weiterfhrung und Steigerung und vernachlssigt die Bedeutung des Gegensatzes: »Bchner completes Shakespeares unfinished thought.«
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Aufnahme des berhmten Csar-Ausspruchs: »Brutus, auch du?« Es ist ein Satz, den ein Verratener an seinen M.rder richtet. Daß gerade Robespierre, der mit St. Just bert, wer »weg« muß, diesen Satz in den Mund gelegt bekommt: »Also auch du Camill?«, entlarvt im Umkehrschluß ihn als Verrter und M.rder. Untersttzt wird diese Vermutung, betrachtet man ein Beispiel aus Macbeth. Fr die bei Robespierre in I/6 auftretenden Alptraum- und Gewissenssequenzen hat Bchner z. T. auf die gleichen Grundlagen zurckgegriffen wie fr Danton. Beide plagen sich, Danton wegen der Septembermorde, Robespierre, whrend er die Vernichtung seines Gegners plant, in Anlehnung an Worte der Lady Macbeth10 mit Vorstellungen von nicht zu stillendem, sie als M.rder anklagendem Blut: »R o b e s p i e r r e. […] Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag soviel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlgt immer durch.« (R. 185.)
Bezeichnenderweise lehnt Bchner die darauf folgende VersuchungsSentenz, in der die personifizierte Nacht im Traum die verfhrerischb.sen Gedanken empfngt, an Macbeth Reflexionen vor der Ermordung des K.nigs an: »M a c b e t h. […] Jetzt auf der halben Erde Scheint todt Natur, und den verhangnen Schlaf Qulen Versuchertrume.« (II/1.) »R o b e s p i e r r e. […] Die Nacht schnarcht ber der Erde und wlzt sich im wsten Traum. Gedanken, Wnsche kaum geahnt, wirr und gestaltlos, die scheu sich vor des Tages Licht verkrochen, empfangen jezt Form und Gewand und stehlen sich in das stille Haus des Traums.« (R. 185.)
Vor dem Hintergrund dieser Verbindung liegt die Vorstellung nahe, daß auch Robespierre eine Art feigen K.nigsmord begeht, was nicht ohne Konsequenzen fr die Interpretation bleibt, denn impliziert es nicht – bei aller objektiven Darstellung der »Banditen der Revolution«11 – , daß zum einen der, trotz seiner Laster, bessere Volksfhrer vernichtet wird und zum anderen auch der ›tugendhafte‹ Robespierre in seiner tyrannischen Herrschsucht so etwas wie ein K.nig sein will? Die Qualitt einer Anspielung liegt darin, auf welche Weise sie den Sinnzusammenhang erweitert. Hier wre in letzter Konsequenz sogar eine, in der Forschung nicht immer unumstrittene, definitive Ablehnung der Jako10 »L a d y M a c b e t h. Meine Hnde / Sind blutig wie die deinen« (II/1) sowie: »Wie, wollen diese Hnde denn nie rein werden?« (V/1.) – »D a n t o n. Was streckt es nach mir die blutigen Hnde?« (R. 331) und »Will das denn nie aufh.ren?« (R. 313.) 11 An die Familie. Straßburg, 28. Juli 1835. – In: Bchner, Georg: Werke und Briefe. Mnchner Ausgabe (MA). – Mnchen 1988, S. 305.
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biner und im Gegenzug zumindest Sympathie fr die Sache Dantons abzuleiten.12 Weiterhin ist zu beobachten, daß die aus den einzelnen ShakespeareDramen empfangenen Anregungen weitgehend thematisch zuzuordnen sind. Whrend Macbeth – wie gerade gesehen – in erster Linie Material fr die Alptraum- und Gewissensthematik geliefert hat, konnte Bchner in Heinrich VI., 2. Teil und Julius C2sar beispielsweise den Komplex Volksverhalten und Intrige studieren, Romeo und Julia lieferte Vorlagen fr verschiedene Aspekte der Liebesthematik, die von Frivolitten ber Liebesleid bis hin zum Selbstmord aus Liebe reichen usw. In diesem Sinne greifen alle Rbernahmen aus K,nig Lear, die sich smtlich aus drei bestimmten Szenen (nmlich III/6; IV/6; V/3) rekrutieren, in irgendeiner Form das Thema Wahnsinn auf. Sei es nur, daß Edgars Spruch: »Gott erhalte dir deine fnf Sinne! (zu Lear in III/6) mit Julies Worten: »Gott erhalte dir deine Sinne, Georg« (R. 324) aufgenommen wird. Zunchst erfllt sich erneut die Funktion des Studienobjekts; Bchner bedient sich bewußt einzelner Sequenzen als Vorlage, um einen psychologischen Prozeß zu gestalten. Bei der Aufgabe, den Wahnsinn bzw. die Anflge geistiger Umnachtung der Figur Lucile darzustellen, bot es sich an, auf den geistig zunehmend verst.rten K.nig Lear als Vorbild zurckzugreifen. Wichtiger als die adaptierende Darstellung bestimmter Facetten oder Stadien des Wahnsinns wie etwa Luciles Gedankenhaschen13 ist in diesem Zusammenhang, daß Bchner Elemente aus Lears verwirrten Reden auch fr andere, nicht als umnachtet anzusehende Figuren verwendet. Um den Kontrast zu demonstrieren, sei einer der Monologe Lears aus der bereits angefhrten Szene IV/6 hier im Ganzen wiedergegeben: »L e a r. – Ja, jeder Zoll ein K.nig – Blick ich so starr, sieh, bebt der Untertan. – Dem schenk ich das Leben; was war sein Vergehn? 12 Siehe z. B. Wender, Herbert: Der Dichter von Dantons Tod. Ein ›Verg,tterer der Revolution‹. – In: Georg Bchner 1813 – 1837. Revolution2r, Dichter, Wissenschaftler. – Basel, Frankfurt a. M. 1987, S. 223 (Katalog Darmstadt). Wender behauptet dort, »daß der Grundriß der weltanschaulichen Auseinandersetzung in Dantons Tod die Annahme nahelegt, in St. Justs großer Rede komme Bchners eigene naturalistische Position in wichtigen Zgen zum Ausdruck.« 13 Die Szene IV/6 in Shakespeares Drama stellt die ausgeprgte Verwirrung des K.nigs sehr breit dar. An einer Stelle heißt es: »L e a r. Kommt! wenn ihrs haschen wollt, so mßt ihrs durch / Laufen haschen. […] (Er luft fort.)« Auch Lucile versucht am Ende ihrer an den gefangenen Camille gerichteten Rede, einen Gedanken einzufangen: »L u c i l e. […] Da, da ists. Ich will ihm nachlaufen, komm, sßer Freund, hilf mir fangen, komm! komm! (Sie laft weg.)« (R. 602.) Bchner hat hier nicht nur ein Charakteristikum geistiger Verwirrung, genauer den Rckfall in eine naive Kindlichkeit, bernommen, sondern auch die Regieanweisung, da auch er das ›Gedankenhaschen‹ als Abgang der Figur verwendet.
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Ehbruch! Du sollst nicht sterben – Tod um Ehbruch, – ? – Nein! Der Zeisig thuts, die kleine goldne Fliege, Vor meinen Augen buhlt sie. Laßt der Begattung Lauf! – denn Glosters Bastard Liebte den Vater mehr, als meine T.chter, Erzeugt im echten Bett. Dran, Unzucht! Frisch auf, denn ich brauch Soldaten. – Sieh dort die ziere Dame, Ihr Antlitz weissagt Schnee in ihrem Schoß; Sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg, H.rt sie die Lust nur nennen; Und doch sind Iltis nicht und ppge Stute So ungestm in ihrer Brunst. Vom Grtel nieder sinds Centauren, Wenn auch von oben Weib; nur bis zum Grtel Sind sie den G.ttern eigen; jenseit alles Geh.rt den Teufeln, dort ist H.lle, Nacht, Dort ist Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch, Verwesung – pfui, pfui, pfui! – Pah! Pah! – Gieb etwas Bisam, guter Apotheker, Meine Phantasie zu wrzen.«
Zunchst ist vermutlich Lacroix Ausspruch in I/5: »man sollte vorsichtig seyn und sie [die Mdel] nicht einmal in die Sonne sitzen lassen, die Mcken treibens ihnen sonst auf den Hnden, das macht Gedanken« (R. 127) durch die Passage: »Der Zeisig thuts, die kleine goldne Fliege, / Vor meinen Augen buhlt sie« inspiriert. Auch der Dramenbeginn rekurriert auf diesen Monolog, womit Bchner gleich im ersten Satz die Freizgigkeit von Zeit und Milieu der Handlung inszeniert. »L e a r. […] Sieh dort die ziere Dame, Ihr Antlitz weissagt Schnee in ihrem Schooß; Sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg […].« »D a n t o n. Sieh die hbsche Dame, wie artig sie die Karten dreht! ja wahrhaftig sie verstehts, man sagt sie halte ihrem Manne immer das coeur und andren Leuten das carreau hin.« (R. 1.)
Fr eine Rbernahme spricht zudem, daß Bchner die Formulierung »die Karten hlt« erst spter zu »dreht« korrigiert und somit – das »dreht sich weg« aufnehmend – dem Wortlaut bei Shakespeare noch nher kommt. Er verwendet diesen Teil aber auch als Einleitung, um im Verlauf des Gesprchs mit Julie bereits das Desillusionierende zwischenmenschlichen Empfindens und Agierens als einen Grundtenor des gesamten Dramas zu demonstrieren. Wenn Julie, anknpfend an diese Rede Dantons, fragt, ob er an sie glaube, und an ihn appelliert, 59
daß er sie kenne, antwortet Danton mit einem Bild, das in hnlicher Form ebenfalls bereits in K,nig Lear erscheint: »L e a r. Nun laßt sie Regan anatomieren und sehn, was in ihrem Herzen brtet.« (III/6.) »D a n t o n. […] Einander kennen? Wir mßten uns die Schdeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.« (R. 5.)
In einen neuen Kontext gebracht, kommt es zu einer Bedeutungsverschiebung des Wahnsinnsgedankens. Die hier zitierten und smtlich seinen verwirrten Reden zuzurechnenden Worte Lears wirken in hnlicher Form im Munde Dantons oder anderer Figuren durchaus nicht abwegig, sondern scheinen vielmehr dem Wahnsinn ihrer Umstnde angemessen zu sein. Wenn dramatische Personen die Worte und Gedanken eines Verrckten gebrauchen, selbst aber ansonsten in keiner Weise als unzurechnungsfhig gekennzeichnet sind, lßt dies nur einen Schluß zu: Das Problem liegt außerhalb der Figuren, es ist in der Situation, in ihren Umstnden begrndet,14 so z. B. in der Isoliertheit menschlicher Existenz, wobei die Geschlechterbeziehungen auf einer frivolen Ebene ins Leere laufen, und im »grßlichen Fatalismus«15 des Revolutionsgeschehens, so daß fr die Involvierten letztlich die Grenze zwischen Faßlichkeit und Wahn fließend wird und in ein universelles Leiden mndet. In Bchners Umsetzung teilt sich das Thema Wahnsinn also in die beiden Aspekte: differenzierte psychologische Darstellung bestimmter Formen geistiger Umnachtung (fr die Figur Lucile) und kritische Auseinandersetzung mit dem Revolutions- bzw. Zeitgeschehen. Das soeben angesprochene universelle Leid zeigt sich erneut in Anlehnung an Lear, welcher kurz vor dem Ende (in V/3), durch den Tod seiner Tochter Cordelia wieder zu Bewußtsein gebracht, ausruft: »Htt ich eur Aug und Zunge nur, mein Jammer / Sprengte des Himmels W.lbung!« Bei der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden eigenen Sterben entwirft Danton ein hnliches Bild »eines kosmischen Jammers«,16 in dem er ebenfalls das eigene Leid in den Kontext eines universellen Leidens, eines Jammers des Himmels, stellt: »Wie schimmernde Thrnen sind die Sterne durch die Nacht gesprengt, es muß ein großer Jammer in dem Aug seyn, von dem sie abtrufelten.« (R. 570.) Eine andere Form des Umgangs mit schicksalsbedingtem Schmerz verk.rpert Glosters Bemerkung: »Besser, ich wre verrckt« (IV/6), die 14 Vgl. Bchners Bemerkung im Brief an die Familie, Gießen, im Febr. 1834: »weil wir durch gleiche Umstnde wohl Alle gleich wrden, und weil die Umstnde außer uns liegen.« (MA, S. 285.) 15 An die Braut, Gießen [gegen Ende Januar] 1834 (MA, S. 288). 16 MBA, Bd. 3.4, Erl. zu R. 570, S. 220 bzw. 173 f.
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mit Dantons Ausspruch: »Man hat mir von einer Krankheit erzhlt, die einem das Gedchtniß verlieren mache« (R. 312) – beides, um die Realitt nicht erkennen zu mssen – korrespondiert. In der unaufhaltsam sich drehenden Revolutionsmaschine bleiben den Beteiligten also anscheinend nur zwei Optionen: zu weinen oder den Verstand zu verlieren. In jedem Fall ist ihnen zunehmend die M.glichkeit zu handeln verwehrt. Die zudem in seiner Pers.nlichkeitsstruktur begrndete Handlungsunfhigkeit Dantons kristallisiert sich schon zu Beginn des Dramas heraus, besonders im Vergleich mit einer Passage aus dem 2. Teil Heinrichs VI. In der Szene III/2 findet sich Suffolks Todeseuphemismus, bei dem er das Sterben im Schoß der Geliebten als angenehmen Tod beschreibt, der eher einem sßen Schlaf gleiche: »S u f f o l k. Ich kann nicht leben, wenn ich von dir scheide; Und neben dir zu sterben, wr es mehr Als wie ein sßer Schlummer dir im Schooß? Hier k.nnt ich meine Seele von mir hauchen, So mild und leise wie das Wiegenkind, Mit seiner Mutter Brust im Munde sterbend.«
Ganz hnlich verwendet Bchner das Bild des friedlichen Todes im Schoß der Frau, geht aber ber Suffolks Darstellung hinaus, indem er Julie in allen Einzelheiten mit einem Grab identifiziert: »D a n t o n. […] Wenn das ist, lieg ich in deinem Schooß schon unter der Erde. Du sßes Grab, deine Lippen sind Todtenglocken, deine Stimme ist mein Grabgelute, deine Brust mein Grabhgel und dein Herz mein Sarg.« (R. 12.)
Auch die Motivationen differieren in starkem Maße, denn whrend Suffolk aus Angst vor dem Verlust der K.nigin berhaupt erst mit dem Gedanken an seinen Tod spielt, ist Danton des Lebens selbst berdrssig. Obwohl er Julie ›besitzt‹, kann er sie nur noch als seinen einzigen Ort der Ruhe und besten Platz zum Sterben begreifen. Ganz im Gegensatz zu den weiblichen Figuren ist fr Danton die Liebe nicht mehr das Thema, das die Frage ber Leben und Tod aufwirft, sondern der unausweichliche Gang menschlicher Existenz an sich. Hier liegt auch eine unterschiedliche psychologische Verfassung zugrunde. Wer sich aus Liebeskummer fr den Tod entscheidet, handelt emotional und zielgerichtet und somit eigenverantwortlich. Dantons Denken aber wird von fatalistischer Hoffnungslosigkeit und Sinnleere bestimmt, wodurch er auch letztlich in die Handlungsunfhigkeit gert. Daß der Irrsinn des Revolutionsgeschehens zum Teil auch kuriose Blten treibt, konnte Bchner ebenfalls im Rckgriff auf Shakespearesche Szenen darstellen. Die Kombination von Humor und Grausam61
keit, von Komik bei v.lliger Gleichgltigkeit gegen Leid und Tod, begegnet auch z. B. in dem grotesken Auftritt der M.rder des Clarence in Richard III. (IV/I), der ebenfalls sein Echo in Bchners Drama hervorgerufen hat. Die beiden erscheinen mit einem h.chst albern anmutenden Wortspiel gegenber Clarences bisherigem Gesprchspartner Brakenbury auf dem Handlungsboden: »E r s t e r M . r d e r. He! wer ist da? B r a k e n b u r y. Was willst du, Kerl? wie bist du hergekommen? E r s t e r M . r d e r. Ich will Clarence sprechen, und ich bin auf meinen Beinen hergekommen.« (I/4.)
In Dantons Tod (IV/4) heißt es analog, jedoch den Witz noch ausdehnend: »S c h l i e ß e r. Wer hat euch herfahren geheißen. 1. F u h r m a n n. Ich heiße nicht herfahren, das ist ein kurioser Namen. S c h l i e ß e r. Dummkopf, wer hat dir die Bestallung dazu gegeben? 1. F u h r m a n n. Ich habe keine Stallung dazu kriegt, nichts als 10 sous fr den Kopf.« (R. 585 – 588.)
Bei den M.rdern in Richard III. handelt es sich um komische Gestalten, die auf sehr vergngliche Weise (vor dessen Ohren!) debattieren, ob sie den Mord an Clarence nun begehen oder das Gewissen siegen lassen sollen. Auch die zwei Fuhrleute im Danton verk.rpern seltsame, von niemandem ernst genommene Kuze, die aber gleichwohl ein ›todernstes‹ Handwerk ausben, da sie die Gefangenen zum Schafott transportieren. Das Trgerische liegt in der Illusion der Harmlosigkeit, welche die vorbergehende Hoffnung des Rezipienten auf ein ›gutes Ende‹ nhrt. Wenn jedoch die Gewißheit eintritt: es wird dieses gute Ende nicht geben – die M.rder t.ten Clarence mit leichter Hand, die Fuhrleute werden Danton und die Seinen zur Hinrichtung fhren – , stellt sich ein Effekt der Ernchterung ein. Bei Bchner erscheint diese Desillusionierung jedoch gesteigert, weil sie sich durch die beiden hart gegeneinander kontrastierenden Teile dieser Szene mit einem Anflug von Zynismus mischt. Vor dem realen Leid der um Camilles Schicksal trauernden Lucile beschw.rt der demonstrative Humor im Gesprch der Fuhrleute einen noch entsetzlicheren Schrecken herauf, da das Leid des Einzelnen der Nichtigkeit und Lcherlichkeit preisgegeben wird. Das heißt, Shakespeares Technik des comic relief, also dem Zuschauer in einer grausamen Szene durch komische Elemente Erleichterung zu verschaffen, funktioniert bei Bchner mit entgegengesetzter Zielsetzung und Wirkung, denn hier steigert die Komik das Entsetzen, und das Leid erstickt jeden Anflug von Erleichterung. Was bleibt, ist ein grausamer, kalter, das individuelle Menschenleben nicht achtender Determinismus. 62
Dieser Gedanke fhrt abschließend noch einmal zu einem Beispiel aus dem von Simon zitierten Hamlet: In der letzten Szene von Dantons Tod werden uns die Henker in ihrem im Vergleich zu den Fuhrleuten erst recht t.dlichen Gewerbe vorgefhrt; ihr Agieren wurde durch die beiden Totengrber im Hamlet inspiriert: »E r s t e r To t e n g r b e r. […] (Er grbt und singt:) In jungen Tagen ich lieben tht, Das dnkte mir so sß. Die Zeit zu verbringen, ach frh und spt, Behagte mir nichts wie dies.« (V/1.) »1. H e n k e r. (steht auf der Guillotine und singt:) Und wann ich hame geh Scheint der Mond so scheeh« (R. 658).
Der Totengrber wie der Henker verfallen in ihrer Arbeitsroutine in eine unangemessene Fr.hlichkeit und geben sich mit Behagen dem Singen eines einfachen, zudem noch romantischen Liedchens hin. Whrend aber dieses in Gegenwart des Todes piettlose Verhalten bei Shakespeare noch eine Mißbilligung mit Hamlets Worten erfhrt: »Hat dieser Kerl kein Gefhl von seinem Geschft? Er grbt ein Grab und singt dazu«, fehlt bei Bchner diese bergeordnete korrigierende Instanz. Der fehlende Respekt vor einem Menschenleben, der zynisch anmutende Frohsinn, die Klte, mit der der Tod als Geschft wie jedes andere betrieben wird, stehen bei Bchner ganz selbstverstndlich und unverrckbar da.17 Dieser Unterschied verdeutlicht noch einmal die grundstzliche Tendenz in Dantons Tod, den Niedergang humaner Werte und den Niedergang des Wertes eines Menschen vorzufhren. Anhand einiger Beispiele habe ich auf Konsequenzen fr die Interpretation aufmerksam gemacht, wenn ein Vergleich mit der Vorlage, insbesondere in den spezifischen Abweichungen, zu einer bestimmten Bewertung der handelnden Personen und der Situation in Bchners Drama fhrt. Ich erinnere zusammenfassend noch einmal an Robespierres ›K.nigsmord‹ vor dem Hintergrund von Macbeth, an die Gnadenlosigkeit der Jakobiner den politischen Gegnern gegenber im Gegensatz zum gemßigten Verhalten des Brutus und an den ›Wahnsinn‹ des 17 Schon Vogeley (vgl. Anm. 5) sieht hier eine Steigerung des »grauenhafte[n] Grundton[s]«, allerdings bereits deshalb, »weil der Henker im Gegensatz zum Totengrber […] eine grauen- und grollerregende Gestalt ist. Denn er verkrzt das Leben in unnatrlicher Weise; es handelt sich nicht um eine Strafe, sondern um die Aktion und Exekution einer politischen Tyrannei, die sich durch Andersdenkende in ihrem Bestande bedroht fhlt. Der Totengrber dagegen« steht »im Dienste einer Macht […], des Todes, ber den der Mensch keine Gewalt hat.« (S. 43.)
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Revolutionsgeschehens, im Zuge dessen die wirren Worte eines Lear pl.tzlich angemessen erscheinen. Ferner seien noch einmal die bei Bchner selbstverstndliche, bei den Totengrbern in Hamlet kritisierte Piettlosigkeit der Henker genannt sowie Dantons idealisierende Vorstellung vom Tod im Schoß der Geliebten, der nicht wie bei Heinrich VI., 2. Teil aus Liebesleid, sondern aus Sinnleere herbeigesehnt wird. Schließlich der Umstand, daß Bchner den Humor der M.rder in Richard III. zwar im Dialog der Fuhrleute aufnimmt, dann jedoch die komische Situation durch die Verknpfung mit der Tragik von Luciles Leiden in weitaus strkerem Maße kippen und ins Gegenteil umschlagen lßt. Er benutzt also nicht nur die eigene Kenntnis der Shakespeare-Dramen als Hilfestellung fr die Gestaltung seines Werkes, sondern kalkuliert offenkundig ebenso die potentielle Shakespeare-Kenntnis des Lesers oder Zuschauers mit ein, um die Charakterzeichnung seiner Figuren zu vertiefen und zugleich pointiert gerade auf die Kontraste im Verhalten der handelnden Personen sowie der der Handlung zugrunde liegenden Situationen zu verweisen. Eine derartige Kenntnis konnte man im zeitgen.ssischen brgerlichen Bildungshorizont durchaus erwarten; die wichtigsten Shakespeare-Dramen drften prsent gewesen sein.18 Bchner stellt sich somit nicht allein in die sthetische Tradition Shakespeares, sondern lßt durch die Abwandlung der Vorlagen das inhaltlich und literarisch Neue entstehen.
18 Siehe Stellmacher, Wolfgang: Bchner und Shakespeare. – In: Fisher, Richard (Hrsg.): Ethik und Jsthetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. – Frankfurt a. M., Berlin [u. a.] 1995 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 52), S. 445: »Shakespeare blieb in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts, was er im 18. Jahrhundert geworden war: ein Dauerthema der aktuellen Literaturdebatten, ein Faktor der knstlerischen Selbstbesinnung bei nahezu allen prominenten Vertretern der deutschen Literatur.« Stellmacher zitiert weiter aus Theodor Wilhelm Danzels Aufsatz Shakespeare und noch immer kein Ende von 1850: »›Shakespeare geh.rt unter die Modefragen der jngst vergangenen Jahrzehnte.‹ Shakespeare war nach Danzel einer der ›obligaten Gegenstnde des literarischen Gesprchs.‹«
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Republikanische Motive in Georg Bchners Dantons Tod Von Hans H. Hiebel (Graz)
Das »Republikanische Drama«1 eines Voltaire, Gottsched oder Bodmer2 kleidet Staatskritik ins Gewand der mythisierten Heroen und Tyrannen der R*mischen Republik; seine wichtigsten Gestalten sind: der sittenstrenge Gesetzgeber Marcus Portius Cato; Cato von Utica, der sich t*tet, als er sich von C0sar umringt sieht; seine Tochter Porcia, Gemahlin des C0sarm*rders Marcus Junius Brutus, die sich nach dem Tod ihres Mannes das Leben nimmt; der 0ltere Brutus, Lucius Junius Brutus, der seine S*hne, die die K*nigsherrschaft anstrebten, get*tet haben soll; Arria und ihr Mann P0tus, der einer Verschw*rung gegen Kaiser Claudius verd0chtigt wird, worauf die beiden sich das Leben nehmen; Lucrecia, die sich nach der Sch0ndung durch Sextus Tarquinius, den Sohn von Tarquinius Superbus, umbringt; Virginia, die von ihrem Vater Virginius get*tet wird, damit sie vor den Nachstellungen des Appius Claudius bewahrt bleibt; und auf der Gegenseite: der abtrnnige Catilina, die Tyrannen Caesar, Tiberius, Appius Claudius und Sextus Tarquinius.3 In diesen Dramen stehen ideale Freiheitshelden und 1 »Republikanisches Drama« wird hier als Terminus fr jene dramatische Untergattung verwendet, deren Motive, Figuren und Tendenzen aus der – wesentlich vom Historiker Plutarch tradierten – Darstellung der R*mischen Republik stammen und im 18. Jahrhundert dann in den Dienst neuzeitlicher republikanischer Vorstellungen gestellt wurden. 2 Wichtige republikanische Texte waren: Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato. – Leipzig 1732 (nach den Vorlagen von Addisons Cato von 1713 und Eustache DeschampsD Cato von 1715); Johann Jacob Bodmer: Polytimet, ein Trauerspiel. – Zrich 1760; ders.: Julius Caesar, ein Trauerspiel. 1763; Marcus Brutus, ein politisches Trauerspiel. 1768; Tarquinius Superbus [u. a. Dramen] 1768; Thrasea Ptus. 1769; Voltaire: Brutus, La Mort de C sar, Mahomet ou Le Fanatisme; Lessing: Emilia Galotti (was eigentlich bereits eine kritische Revision des republikanischen Dramas darstellt); Schiller: Fiesco, Kabale und Liebe. 3 Die im wesentlichen durch Plutarch tradierten historisch-mythischen Topoi des Republikanismus umfassen en dJtail: – Caesar, Gajus Julius: 100/102 – 44 v. Chr.; als Konsul bergeht er 59 v. Chr. den Senat, im Febr. 44 wird er Diktator auf Lebenszeit; galt als Muster eines »Tyrannen«; 44 v. Chr. fallen die Opfer der Verschw*rung von Brutus u. Cassius. – Cato, Marcus Porcius d. N., i. e. Cato major: 234 – 149 v. Chr.; sittenstreng, der altr*mischen Tradition verpflichtet, ge-
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unwandelbare, absolute Tyrannen einander diametral gegenber wie die Engel den Teufeln in der Moralit0t oder wie die M0rtyrer den Tyrannen im barocken Trauerspiel. Erst mit Lessing beginnt die Menschen0hnlichkeit solcher Engel und Teufel. In Emilia Galotti parodiert Lessing das Schl0chter-Ethos des Virginius, der zum »ersten besten Metzger-Messer greift«,4 um seine Tochter zu t*ten, deren Jungfr0ulichkeit ihm lieber ist als ihr Leben. Schiller setzt diese Anthropomorphisierung und Psychologisierung fort, obwohl er Lessings Realismus zugunsten einer barock-opernhaften Gestik und einer krassen Schwarz-Weiß-Malerei wieder verl0ßt. Nicht die einzelnen Figuren, wohl aber die Lager der Teufel und Engel werden nun ambivalent, uneindeutig. Schiller zeigt, wie rasch sich ein republikanischer »Brutus« in einen machtbegierigen »Catilina« (486 f.)5 verkehren kann. Sein Fiesco handhabt einen geheimgehaltenen Umsturzplan mit artistischer Bravour. Er spielt – wie sp0ter Mussets Lorenzaccio – vor den Herrschenden den »Epikur0er« (652) und macht der Gr0fin Julia, der Schwester des Tyrannen Gianettino Doria, zum Schein den Hof, um die regierende Partei der Doria ber seine republikanischen Absichten zu t0uschen. Selbst seinen Freunden, den Republikanern, und sogar seiner eigenen Frau, gen die griechische Kultur eingestellt. – Cato, Marcus Porcius, i. e. Cato Uticensis/Cato von Utica: 95 – 46 v. Chr.; Selbstmord nach dem Sieg C0sars in Utica, Urenkel des Cato maior. – Lucrecia: erstach sich, weil sie vom Prinzen Sextus Tarquinius, dem Sohn von Tarquinius Superbus, gesch0ndet worden war. – Porcia: bis 43 v. Chr., Tochter des Cato von Utica und Gemahlin des C0sarm*rders Brutus; sie t*tet sich nach dem Tod ihres Mannes. – Brutus, Marcus Junius: 85 – 42 v. Chr.; Mitverschw*rer gegen C0sar, C0sarm*rder. – Brutus, Lucius Junius: altr*m. Konsul, nach der Sage verantwortlich fr die Abschaffung der K*nigsherrschaft/Tyrannis der Tarquinier und fr die Errichtung der Republik; 509 v. Chr. zu einem der zwei Konsuln gew0hlt; verurteilte seine beiden S*hne zum Tode, weil sie die K*nigsherrschaft wiederherstellen wollten. – Catilina: 108 – 62 v. Chr.; 63 v. Chr. an einer Verschw*rung beteiligt; er wandelt sich vom Republikaner zum tyrannischen Politiker, der Macht und Alleinherrschaft anstrebt (der Historiker Sallust berichtet ber ihn in seinem Werk &ber die Verschw)rung des Catilina). – Tiberius: r*mischer Kaiser, vom Historiker Tacitus als Tyrann kritisiert. – Paetus, Caecina: 42 n. Chr.; der Verschw*rung gegen Kaiser Claudius verd0chtigt u. zum Tod verurteilt. Seine Gattin Arria ersticht sich und reicht P0tus den Dolch weiter mit den Worten: »Paete, non dolet« (Paetus, es schmerzt nicht). – Decemvirn: altr*m. Gruppe strenger Gesetzgeber (einer davon ist Appius Claudius). – Virginius: r*mischer Plebeier, der seine Tochter Virginia t*tete, um sie vor der Nachstellungen des Appius Claudius zu retten, was das Fanal zum republikanischen Aufstand darstellte und zum Sturz der Regierung von Claudius fhrte. 4 Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. – Stuttgart 1986, S. 164. 5 Friedrich Schiller: Fiesco. – In: ders.: Smtliche Werke. Hrsg. v. G. Fricke u. H. G. Goepfert. 5 Bde. – Mnchen 1958/59, Bd. 1, S. 486 f. Zitatnachweise aus Fiesco im Text unter Nennung der Seitenangabe.
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Leonore, verr0t er nichts. Nachdem die Tochter des Republikaners Verrina von Gianettino Doria vergewaltigt (661 ff.)6 und der Senat Genuas durch ihn außer Kraft gesetzt worden ist (675 ff.), fordern die Republikaner den Umsturz. Da ist fr Fiesco der Zeitpunkt gekommen, die »Larve herabzureißen« (690): Er gibt preis, daß er die Rebellion l0ngst vorbereitet hat (693). Doch der aufrechte, aber »dstere« Verrina prophezeit von Anfang an: »Den Tyrannen wird Fiesco strzen, das ist gewiß. Aber Fiesco wird Genuas gef0hrlichster Tyrann werden, das ist gewisser!« (697.) Und Fiesco entscheidet sich (in Schillers erster Fassung) fr den »Herzog« und gegen den »Republikaner« (695 u. 698 f.). Verrina, der ›Unbestechliche‹, strzt den Abtrnnigen ins Meer. Schillers Un-Eindeutigkeit ergibt sich dadurch, daß er dem Lager der Tugenhelden einen Catilina, den Verr0ter Fiesco, zugesellt und dem Lager der Tyrannen einen Ehrenmann, Andrea Doria, den integren Grnder der Signoria, der Senatsversammlung, ein ›Schaf im Wolfspelz‹, eine Reinkarnation des weisen Konsuls Lucius Brutus. Andrea ist der ganze Gegensatz zu seinem Neffen Gianettino, dem Tyrannen und Frauensch0nder nach dem Muster des Appius Claudius bzw. des althergebrachten poetologischen Rezepts »sex and crime« … Zudem ist aber auch der »erhabene Verbrecher« (622) Fiesco keine eindeutige Figur mehr. Mit seinen Aufspaltungen sprengt Schiller unbersehbar die simplistische, bin0re Logik der Antithese Freiheitsheld/Tyrann. Lessing und Schiller bereiten so dem Republikanischen Trauerspiel sein Ende; Bchner aber schreibt ihm mit Dantons Tod den Nekrolog. W0hrend bei Schiller republikanische Moral ausschließlich ins Wanken ger0t, wenn der ›Wille zur Macht‹ sich regt, ist fr Bchner die Fragwrdigkeit des Republikanismus zur Selbstverst0ndlichkeit geworden; ja, von »Pervertierung« k*nnte man sprechen, wenn die »blutig[en]«, »liederlich[en]«, »cynischen[en]« »M0nner der Revolution«7 – so Bchner – sich auf Brutus, Cato, Virginius u. a. beziehen. Der heroische Republikanismus bei Robespierre und seinem Gefolge wie auch seine Parodie bei den Dantonisten ist keineswegs fingiert, erfunden; sie entsprechen – wie h0ufig bei Bchners faktennahen Werken – den historischen Tatsachen (wie vor allem die Marburger Ausgabe8 von 6 Das Virginia-Motiv tritt noch einmal, in radikalisierter Form, auf in Kleists Hermannsschlacht, in der die gesch0ndete Hally aus kriegstechnischen Grnden in 15 Teile zerstckt wird; vgl. Heinrich von Kleist: Smtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. 2 Bde. – Mnchen 1977, Bd. 1, S. 588 f. 7 Georg Bchner: Smtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. Werner R. Lehmann (Hamburger Ausgabe). 2 Bde. – Hamburg 1967 [Bd. 1] und 1971 [Bd. 2], zitiert als HA mit Bandangabe und Seitenzahl. Zit. HA II, S. 438. 8 Georg Bchner: Smtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Georg Bchner: Dantons Tod. 4 Bde. Bd. 3.1: Text, bearb. v. Thomas Michael Mayer; Bd. 3.2:
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Dantons Tod demonstriert9). Aus dem prinzipientreuen Verrina wird der fanatische »Mahomet« (M 62, R 504, DT 60) und »Blutmessias« (M 29, R 213, DT 38) Robespierre, aus dem epikureischen Artisten Fiesco der aus verzweifeltem Defaitismus hedonistische Bonvivant Danton. Gibt es in Schillers Stck nur einen Schauspieler, Fiesco, so sind bei Bchner alle Personen zu Rollenspielern geworden; in Dantons Tod erweist sich die gesamte Wirklichkeit als ein Schauspiel: Das republikanische Stck, das die Revolution0re von 1794 zu Paris auffhren, nennt Robespierre bekanntlich »erhabne[s] Drama der Revolution« (M 14, R 99 b, DT 26). Und der Souffleur heißt: Republikanismus. Doch genauer betrachtet, erweist sich dieses »erhabne Drama« als bittere Kom*die, ja als b*se Farce (allerdings als »Farce« mit »tragischem« Ausgang, da aus Theater Realit0t und aus Fiktion Faktizit0t werden). Das heroische Selbstverst0ndnis der Akteure der Revolution steht nach Bchner in einem grotesken Mißverh0ltnis zum geschichtlichen Geschehen; ihr Pathos erweist sich als erborgtes angesichts einer Wirklichkeit, in der, Bchner zufolge, der »Einzelne nur Schaum auf der Welle [ist], die Gr*ße ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein l0cherliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz«.10 Mit dem heroischen Zeitalter ist nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Theodor Vischer die M*glichkeit des epischen und auch des dramatischen Helden unwiederbringlich vergangen. Nur mehr im Verbrecher – also in pervertierter Form11 – und vorzglich im Text, Editionsbericht, bearb. v. Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer; Bd. 3.3: Historische Quellen, bearb. v. Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. Eva-Maria Vering; Bd. 3.4: Erluterungen, bearb. v. Burghard Dedner unter Mitarbeit v. Eva-Maria Vering u. Werner Weiland. – Darmstadt 2000; im folgenden zitiert als MBA mit Band- und Seitenangabe, der emendierte Text von Dantons Tod in Bd. 3.2 als M ohne Bandangabe plus Seitenzahl (in 3.2), die Nummer der Replik wird unter der Sigle R angegeben. Daneben wird aber auch zitiert: Thomas Michael Mayers Edition in: Peter von Becker (Hrsg.): Georg Bchner: Dantons Tod. – Frankfurt a. M. 1980; zitiert im Text als DT mit Seitenangabe nach Nennung der Marburger Ausgabe. – Freilich ist hier in Rechnung zu stellen, daß Bchner den Eltern gegenber ein wenig taktisch argumentieren drfte, um seinen Realismus und seine Kraftausdrcke zu legitimieren und akzeptabel zu machen. 9 Vgl. vor allem MBA 3.4, Erluterungen, und MBA 3.3, Quellen. 10 Brief, Gießen, gegen Ende Januar 1834; vgl. HA II, S. 425 f.; zur Datierung s.: GBHK, S. 133 – 135. 11 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: 6sthetik oder Wissenschaft des Sch)nen. – Zit. in: Eberhard L0mmert u. a.: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620 – 1880. – K*ln, Berlin 1971, S. 339: »Ein zweites Mittel ist die Aufsuchung der grnen Stellen mitten in der eingetretenen Prosa, sei es der Zeit nach [Revolutionszust0nde u. s. w.], sei es dem Unterschiede der St0nde, Lebensstellungen nach« [Adel, herumziehende Knstler, Zigeuner, R0uber u. dergl.].
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Kriminalroman12 k*nnen Autonomie und Tatendrang des Heros wiedererscheinen, oder wenn die gesetzlich-normativ geregelte »Prosa« der Verh0ltnisse13 durchbrochen wird vom vorbergehenden Zwischenspiel eines »Krieges« oder einer »Revolution«,14 die die ›versteinerten Verh0ltnisse zum Tanzen‹ bringt. Die »Tat«15 als Konstituens des Heros steht bei Bchner zwischen beiden Polen: zwischen Revolution und Verbrechen (d. h. Terrorismus). Andererseits sind Bchners Revolutionshelden in gewissem Sinn nur mehr ›Maulhelden‹: Sie bewegen sich von einem heroischen Epigramm zum n0chsten, ganz der historischen Wirklichkeit der Revolutionsfhrer und ihrer heroice dicta entsprechend. Damit erweist sich das »erhabne Drama der Revolution« in der Tat als Theaterstck: als Masken- und Rollenspiel. Seine melodramatische Theatralik rhmt auch Danton, freilich in ironisch-zynischer Weise: Das Sterben durch die »Guillotine« sei effektvoller als der langweilige Tod aus Altersschw0che: »Es ist noch vorzuziehen, sie [die Leute] treten mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen und k*nnen im Abgehen noch hbsch gesticuliren und die Zuschauer klatschen h*ren. Das ist ganz artig und paßt fr uns, wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden.« (M 32, R 226, DT 39 f.) Das Drama, das Bchners Helden und auch die Akteure von 1794 auffhren, ist ein ›Republikanisches Trauerspiel‹: Seine Aktionen und vor allem Sprche sind den Heroen der R*mischen Republik bzw. des republikanischen Dramas Voltaires, Gottscheds sowie Bodmers und teilweise auch Lessings und Schillers abgeschaut und der sch*nen Bipolarit0t des Held-Tyrann-Gegensatzes nachempfunden. Als habe er Bchner gelesen, schrieb Marx kongenial im Achtzehnten Brumaire: »[D]ie Revolution von 1789 – 1814 drapierte sich abwechselnd als r*mische Republik und als r*misches Kaisertum«, ihre Helden »vollbrachten in dem r*mischen Kostme und mit r*mischen Phrasen 12 Vgl. Heinz Schlaffer: Epos und Roman. Tat und Bewußtsein. Jean Pauls Titan. – In: ders.: Der BArger als Held. – Frankfurt a. M. 1973, S. 15 – 50, S. 48 f. (»die verbrecherischen Varianten der Tat« im »R0uber- und Kriminalroman«). 13 G. W. F. Hegel, zit. bei Schlaffer: Der BArger als Held, S. 32. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen Aber die 6sthetik. – In: ders.: Werke in zwanzig Bnden. – Frankfurt a. M. 1970, Bde. 13, 14 u. 15, bes. Bd. 13, S. 197 (»Prosa im menschlichen Dasein«), u. Bd. 15, S. 392 (»zur Prosa geordnete Wirklichkeit«). 14 Vgl. Schlaffer: Der BArger als Held, bes. S. 40 – 42; Schlaffer bezieht sich dort (Anm. 32, S. 40) auf Hegels Satz ber die »Zeiten brgerlicher Kriege«, »in denen die Bande der Ordnung und Gesetze sich auflockern oder brechen«. Vgl. auch Hegel: Vorlesungen Aber die 6sthetik, Bd. 13, S. 251 (»die großen Interessen der Revolution«, »das Tble und B*se, Krieg, Schlachten, Rache«). Vgl. auch Friedrich Theodor Vischer: 6sthetik, S. 339 (»Revolutionszust0nde«, »R0uber« u. a.). 15 Vgl. Schlaffer: Der BArger als Held, S. 15 u. passim.
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die Aufgabe ihrer Zeit«. Nach der Revolution sei das »auferstandene R*mertum« allerdings verschwunden: »unheroisch, wie die brgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Brgerkriegs und der V*lkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Tberlieferungen der r*mischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbstt0uschungen, deren sie bedurften, um den brgerlich beschr0nkten Inhalt ihrer K0mpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der H*he der großen geschichtlichen Trag*die zu halten.«16
In Dantons Tod lassen sich nun drei verschiedene Gattungsformen der angedeuteten Theatralik ausmachen: Trauerspiel, Parodie und Farce; dazu passend die drei Stilarten: genus grande, genus medium und genus humile: – 1. Das heroische, aber erborgte Pathos der Partei Robespierres (im hohen, erhabenen Stil), 2. die ironisch-geistreichen und parodistischen Epigramme der Dantonisten (im mittleren, tropenreichen Stil) und 3. die unfreiwillige Komik der Schwank-Szenen und Farcen mit dem Souffleur Simon und anderen Sansculotten (im niederen, komisch-derben Stil). Vereinfacht gesagt: Die Gattung Trag*die schl0gt um in die Gattung Kom*die, die sich sozusagen in zwei Schichten gliedert: die komisch-parodistische Karikatur der Phrasen der Robespierristen durch die Partei Dantons und die derb-komischen bzw. farcenhaften – nach Shakespeares Volksszenen modellierten – Szenen, in denen zumeist der Souffleur Simon den Ton angibt. Das erhabene Trauerspiel erweist sich als bittere Kom*die im schw0rzesten Humor – und am Ende als sarkastische Farce. Meine These ist, daß Bchner 1) zeigt, wie im Munde der Revolution0re um Robespierre die republikanischen Sprche mit ihrem »erhabnen« Pathos zur Legitimierung und Aufrechterhaltung der »Terreur«, des »Schreckens« (M 15, R 99 d, DT 27), der sogenannten »Schreckensherrschaft«,17 bentzt werden; 2) zeigt, daß die Dantonisten dieses Spiel durchschauen, ironisieren und im geistreich-komischen genus medium parodieren, und 3) bewerkstelligt, daß in den komischen, genauer: derb-komischen, farcenhaften Volks-Szenen U la Shakespeare die Aktionen der Revolution0re in radikaler Weise, aber ungewollt, persifliert werden, indem das Volk das Pathos und Rollenspiel der heroischen Akteure zu imitieren sucht (und der Souffleur Simon sozusagen das Schauspielen ›schauspielt‹). 16 Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. – In: DT, S. 147 – 149, hier zit. S. 148. 17 Vgl. die Darstellung der Phase der »Terreur«, der »Schreckensherrschaft« mit »Wohlfahrtsausschuß« und »Revolutionstribunal« im Jahr 1794, bei Albert Soboul: Die Große Franz)sische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789 – 1799). – Frankfurt a. M. 1973, bes. S. 343 ff.
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1. Das »erhabne Trauerspiel« der Robespierre-Partei im pathetischen genus grande Indem Robespierre der ultra-extremen Fraktion der HJbertisten (d. h. der Anh0nger HJberts) vorwirft: »Sie parodirte das erhabne Drama der Revolution um dieselbe durch studirte18 Ausschweifungen bloß zu stellen« (M 14 f., R 99 b, DT 26), spricht er seinem eigenen Tun den Stil des genus grande, d. h. der Trag*die, zu. Dieses »erhabne Drama« wird im wesentlichen vom Wohlfahrtsausschuß und vom Revolutionstribunal inszeniert. Robespierre, St. Just und die brigen Mitglieder des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses werden von ihren Gegnern nach dem Muster der zehn alt-r*mischen Gesetzgeber19 der Republik als die »Decemvirn« (M 6, R 19, DT 15; M 65, R 523, DT 62) bezeichnet. Cato der Nltere, der sittenstrenge Marcus Porcius Cato, sowie Marcus Brutus und vor allem Lucius Brutus, der seine S*hne opferte, sind ihre wichtigsten Vorbilder. Danton dagegen verachtet allD die »gespreizte[n] Katonen« (M 7, R 30, DT 22).20 Als der kalte Logiker des Terrors, St. Just, den »vulkanische[n] Ausbruch« (M 46, R 370 a, DT 49) der Revolution und damit die geplante Hinrichtung der Dantonisten verteidigt, schließt er seine Rede mit den Worten: »Alle geheimen Feinde der Tyrannei, welche in Europa und auf dem ganzen Erdkreise den Dolch des Brutus unter ihren Gew0ndern tragen, fordern wir auf dießen erhabnen Augenblick [der Vernichtung der Gegner] mit uns zu theilen.« (M 47, R 370 k, DT 50) [Herv. H. H.] Doch Bchner entlarvt die Maskerade und das vollmundige Pathos des Eiferers St. Just in indirekter Weise: »Die Revolution ist wie die T*chter des Pelias; sie zerstckt die Menschheit um sie zu verjngen« (M 47, R 370 h, DT 50), l0ßt er St. Just sagen, der mit seiner falschen Darstellung des Mythos sich und die Zuh*rer betrgt: Die beabsichtigte »Verjngung« gelingt n0mlich im zitierten Mythos den T*chtern des Pelias berhaupt nicht.21 Robespierre, der »Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird« (M 29, R 213, DT 38), l0ßt nicht nur Feinde, sondern auch Freunde im Namen der Republik hinrichten. Anl0ßlich seiner Hetz-Rede gegen die Dantonisten, zu welchen auch sein Schulkamerad Camille Desmoulins 18 »studirt« ist hier offensichtlich im Sinne von »erfundenen und gesucht-bertriebenen Behauptungen« verstanden. 19 Gemeint sind die 10 Decemvirn, die 450 v. Chr. das Tafelgesetz aufstellten. Der Wohlfahrtsausschuß hatte 9 – 12 Mitglieder. 20 Vgl. hierzu die Anmerkung zu Dantons Tod, in: MBA 3.4, S. 48 (ernsthafter Mann »von strengen Sitten«). 21 Vgl. Edward Tripp: Reclams Lexikon der antiken Mythologie. – Stuttgart 1974, S. 415.
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z0hlt, sucht er »eine Miene zu machen, wie Brutus, der seine S*hne opfert«. (M 22, R 155, DT 33.) Zu dieser Anspielung auf Lucius Brutus (der seine beiden S*hne, die die Herrschaft der Tarquinier wiederherzustellen trachteten, zum Tode verurteilte) paßt, daß Billaud (ein Mitglied des Wohlfahrtsausschusses) Robespierre in Anspielung auf Voltaires republikanisches Drama Mahomet ou le Fanatisme einen »impotenten Mahomet« (M 62, R 504, DT 60) nennt, d. h. in ihm einen zwar »impotenten«, aber doch militanten Fanatiker sieht. Als sich Robespierre entschließt, auch Camille zu ›opfern‹, sagt er voll Selbstmitleid zu sich selbst: »Also auch du Camill?« (M 29, R 208, DT 38), Caesars dictum »Auch du mein Sohn Brutus«22 abwandelnd. Robespierre stilisiert sich zum vom Freund Verratenen, ohne zu bemerken, daß seine halb unbewußte Verkehrung – wie die unfreiwilligen Verdrehungen des Souffleurs Simon – im Grunde die Wahrheit spricht: Robespierre stellt sich zurecht auf die Seite Caesars, der in der republikanischen Tradition als das Symbol der Tyrannis schlechthin galt. An anderer Stelle beruft sich Dumas, einer der beiden Pr0sidenten des Revolutionstribunals – wie Robespierre – auf Lucius Junius Brutus, um sich selbst heroischen Opfermut zu attestieren. Dumas hat seine Frau denunziert: »Das Revolutionstribunal wird unsere Ehescheidung aussprechen, die Guillotine wird uns von Tisch und Bett trennen.« (M 68, R 548, DT 63.) »[D]u bewunderst Brutus?«, fragt Dumas einen Mitbrger, um dann fortzufahren: »Muß man denn […] r*mischer Consul seyn und sein Haupt mit der Toga verhllen k*nnen um sein Liebstes dem Vaterlande zu opfern?« (M 68, R 552, DT 64.) Doch Bchner, der die »M0nner der Revolution« zeigen m*chte, »wie sie waren, blutig, liederlich, energisch und cynisch«,23 macht die Unmenschlichkeit DumasD unmißverst0ndlich deutlich; dies vor allem durch den Kontrast zur vorhergehenden Szene, in der Julie sich dazu entschließt, ihrem Mann Danton in den Tod zu folgen (M 69, R 555, DT 63). Wieder ist es der Kontext des schein-heroischen Diktums, die Andeutung des Zynismus, die das Epigonale der Sprache und das Kostmhafte der heroisch-erhabenen Rolle DumasD ent-larven. Neben den Idolen der R*mischen Republik werden auch deren Gegenbilder und Schreckfiguren beschworen. In einem implikationsreichen, d. h. sowohl anspielungs- als auch elisionsreichen24 Satz nimmt 22 »Brutus, auch du? – So falle C0sar!« Shakespeare: Julius Caesar III/1. – In: ders.: Smtliche Werke, 4 Bde. – Darmstadt 1984, Bd. 3, S. 367 (»Et tu, Brute!«). 23 Georg Bchner: Brief vom 5. Mai 1835 (HA II, S. 438). 24 Vgl. zu Bchners Verfahren der Implikation, d. h. der anspielungsreichen Elisionen bzw. Auslassungen auch: Hans H. Hiebel: Allusion und Elision in Georg BAchners Leonce und Lena. Die intertextuellen Beziehungen zwischen BAchners Lustspiel und StAcken von Shakespeare, Musset und Brentano. – In: Burghard
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Robespierre Bezug auf Camille Desmoulins, der in der Zeitung Le Vieux Cordelier den »Wohlfahrtsausschuß« und seine Schreckensherrschaft, die »Terreur«, attackiert hatte, indem er auf »Tacitus« und seine Kritik der Tyrannei des Tiberius25 verwies: »Man hat vor Kurzem auf eine unversch0mte Weise den Tacitus parodirt, ich k*nnte mit dem Sallust26 antworten und den Catilina travestieren […]« (M 16, R 99 g, DT 27). Robespierre stellt damit indirekt Danton als Catilina, d. h. als Renegat und Verr0ter – und nicht als Republikaner – hin. Demagogisch wie St. Just oder Robespierre benutzt auch BarrWre die Beschw*rungs-Formel »Catilina«, um kurzen Prozeß mit den Dantonisten machen zu k*nnen: »zu Rom wurde der Consul [gemeint ist Cicero, H. H.], welcher die Verschw*rung des Catilina entdeckte und die Verbrecher auf der Stelle mit dem Tod bestrafte, der verletzten F*rmlichkeit angeklagt.« (M 61, R 491, DT 59.) Ironisch verh*hnt BarrWre das Ansinnen, mit Danton »f*rmlich«, d. h. formalrechtlich, gesetzeskonform zu verfahren; ›Verbrechern‹ U la Catilina gegenber sei »F*rmlichkeit« – d. h. Form und Gesetz achtende Rechtm0ßigkeit – fehl am Platz.
2. Die humoristische Parodie der Dantonisten im epigrammatisch-geistreichen genus medium Auf die in gewissem Sinn handlungsl0hmenden, autoaggressiven Idole des Republikanismus – n0mlich auf Cato von Utica, die gesch0ndete Lucrecia, die von Appius Claudius verfolgte Virginia, auf Porcia, die Gemahlin des Marcus Brutus, und auf P0tus und Arria – berufen sich Robespierre und seine militanten Mitstreiter bezeichnenderweise kaum; das bleibt den »gem0ßigten« Revolution0ren (den von den »Ultras« bzw. »ExagJrJs« bek0mpften »modJrJs« und »indulgents«27) und den niederen Volksschichten vorbehalten. Aber entscheidend ist vor allem, daß sich die Partei der Dantonisten fast ausschließlich in ironischer Weise auf die Klischees des Republikanismus bezieht; sie zitiert entweder in parodistischer Absicht Sentenzen der Partei Robespierres oder Dedner und Gnter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg BAchner Symposium 1987. Referate. – Frankfurt a. M. 1990 (Bchner-Studien, Bd. 6), S. 353 – 378. 25 Vgl. Walter Hinderer: BAchner-Kommentar. – Mnchen 1977, S. 97 (schon Tacitus zielte mit dem historischen Hinweis bereits auf seine eigene Zeit). 26 Sallusts Beschreibung der Verschw*rung des Catilina ist hier auf den angeblichen (auf Catilina bezogenen und an Schillers Fiesco erinnernden) »Verschw*rer« Danton gemnzt. 27 Vgl. diese Bezeichnungen (Gem0ßigte, Moderantisten, modJrJs, indulgents, indulgence, ultras, exagJrJs, enragJs u. 0.) bei Albert Soboul: Revolution, S. 329, 333, 341 u. passim.
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sie setzt die Topoi des Republikanismus von sich aus ironisch zur Charakterisierung ihrer Gegner ein. W0hrend Robespierre im Nationalkonvent an seine Freunde und »heroische[n]« »Seelen« (M 45, R 369 h, DT 49) den Appell richtet, die geplante Hinrichtung der Dantonisten gutzuheißen, attackiert der Epikureer Danton grunds0tzlich alle Heroen, Idealisten und Moralisten: »Griechen und G*tter schrieen, R*mer und Stoiker machten die heroische Fratze.« (M 76, R 623, DT 69.) Stets kehren die Dantonisten das Theatralische, das Unecht-Maskenhafte, das Verlogene und das Pathetisch-Phrasenhafte am Gegner hervor: Der Gefangene Mercier formuliert gewissermaßen das ideologiekritische Programm der Dantonisten, wenn er die Sprache der revolution0ren Gleichmacher wie folgt kritisiert: »Die Gleichheit schwingt ihre Sichel […] die Guillotine republicanisirt! Da klatschen die Gallerien und die R*mer reiben sich die H0nde, aber sie h*ren nicht, daß jedes dießer Worte das R*cheln eines Opfers ist. Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verk*rpert werden.« (M 53, R 425, DT 54.)
Mercier meint also, daß das In-effigie-Theater der pathetischen »R*mer« (d. h. der sich republikanisch gebenden Extremisten) am Ende dazu fhrt, daß der Gegner »im Ernst«, d. h. leibhaftig, »erstochen« wird (M 32, R 226, DT 39 f.), daß aus Fiktion Wirklichkeit wird. In der dritten Szene des Dramas beziehen sich Anh0nger des HJbertisten Ronsin aus Lyon auf das republikanische Idol des Cato von Utica. Sie agitieren im Jakobinerklub gegen die praktizierte »Barmherzigkeit« (i. e. »Duldsamkeit«28) und fordern mehr revolution0re »Spannkraft«, sonst bliebe ihnen leider »nur der Dolch des Cato« (M 13, R 91, DT 26). In fr die Dantonisten typischer Weise berichtet sp0ter Lacroix ironisch-parodistisch: »Die Lyoner verlasen eine Proclamation, sie meinten es bliebe ihnen nichts brig, als sich in die Toga zu wickeln. Jeder machte ein Gesicht, als wollte er zu seinem Nachbar sagen: Paetus es schmerzt nicht!« (M 22, R 148, DT 33.) Lacroix macht sich also ber das pathetische Selbstmitleid der Lyoner lustig, das nur als Mittel zur Fortsetzung des Guillotinen-Terrors eingesetzt wird. Das Selbstopfer des Cato von Utica wird hier mit einem verwandten Topos verknpft: Die R*merin Arria hatte sich, nachdem ihr Gatte Paetus vom Kaiser Claudius wegen angeblicher Verschw*rungsabsichten verurteilt worden war, erdolcht und sterbend ihren Dolch mit den zitierten Worten (»Paetus es schmerzt nicht!«) an ihren Mann weitergereicht. Wie Lacroix bedient sich in der gleichen Szene Fabricius/Paris in ironischer Weise eines modisch-inflation0ren Topos des Republikanis28 Vgl. den Terminus »Duldsamkeit« bzw. »indulgence«, ebd.
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mus; er ist es, der von Robespierre berichtet, er habe eine Miene gemacht, »wie Brutus, der seine S*hne opfert« (M 22, R 155, DT 33). Passend bemerkt daraufhin Lacroix, daß die Jakobiner »die ganze r*mische Geschichte in ihrer Nadel fhlen« (M 23, R 161, DT 34) drften (d. h. sich geschmeichelt und erhaben vorkommen mßten), wenn Danton ihnen gegenber als »Gem0ßigter« (d. h. als ›Schw0chling‹) hingestellt werde. Die Dantonisten verwenden gewissermaßen die Topoi bzw. Klischees des Republikanismus spielerisch wie Coupons – w0hrend die Robespierristen sie ernsthaft, aber wie Falschgeld bentzen. Bchners Sinn fr rhetorische Pointen und sinnreiche Anspielungen kann sich im Rahmen dieser seiner Zitier-Kunst voll entfalten. Er l0ßt die Dantonisten einander die B0lle zuspielen: Lacroix, der weiß, daß der Moralist Robespierre das »Laster« fr »Hochverrath« (M 25, R 181, DT 35) h0lt, mahnt in der Marion- bzw. ProstituiertenSzene (I/5) seinen Freund Danton mit hintergrndigem Humor: »Gute Nacht Danton, die Schenkel der demoiselle guillotiniren dich, der mons Veneris wird dein tarpeiischer Fels.« (M 24, R 172, DT 34.) Der Fels des Kapitols, auf dem die Staatsfeinde Roms hingerichtet wurden, wird zur Metapher fr die Guillotine, die in diesem Kontext zweideutig auf die Schenkel und Scham-Hgel der Grisetten und zugleich auf den langen Arm Robespierres verweist. Wenig sp0ter versucht Lacroix, den lethargisch-resignierten Danton zum Handeln zu bewegen: »Du strzest dich durch dein Z*gern inDs Verderben […]« (M 30, R 218, DT 38), h0lt er dem Freund vor, der als eine Art Hamlet und Anti-Held das Drama in ein Anti-Drama verkehrt. Danton m*ge handeln, wenigstens durch Worte handeln, eine Rede halten. »Schreie ber die Tyrannei der Decemvirn, sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst du die Tribnen erschrecken […].« (M 30, R 218, DT 38 f.) Der Name »Brutus« als Evokation des Tyrannenm*rders schlechthin und der r*mische »Dolch« als erhabene Metapher fr Pike oder Pistole sollen wie quasi-poetische Zauber- und Beschw*rungsformeln von Danton demagogisch eingesetzt werden. Aber im Gegensatz zu den Parteig0ngern Robespierres verwenden Danton und die Seinen die republikanischen Kostme und Parolen im Bewußtsein, daß hier ein Maskenspiel mit geborgten Kleidern und Phrasen aufgefhrt wird, und verzichten – bis auf Dantons Schluß-Rede (M 54, R 432, DT 54 f.) – bewußt auf deren manipulative M*glichkeiten. Marx hatte im Achtzehnten Brumaire gezeigt, daß die franz*sischen Revolution0re der Vergangenheit »Namen, Schlachtparole, Kostm« entlehnt hatten, »um in dieser altehrwrdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzufhren«.29 29 Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire, S. 147.
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Bchners Revolution0re, genauer: seine Dantonisten, setzen eben diesen Gedankengang praktisch voraus, wenn sie die Klischees und Masken des Republikanismus in distanzierter und spielerischer Weise, glaubenslos, ja, parodistisch und polemisch einsetzen.
3. Farce und Schwank: Die derbkomischen Volksszenen im genus humile Die republikanischen Motive erfahren in den an Shakespeare orientierten Volksszenen Bchners eine weitere, dritte Art der Behandlung. Zum »erhabenen Trauerspiel« (genus grande) und der »epigrammatischen Parodie« (der intendierten Komik im genus medium) fgt sich eine derbkomische Strata im genus humile mit Elementen des Schwanks und der Farce (deren Witz l0ßt sich – weitgehend – nicht als von den Figuren intendierte Komik charakterisieren, wohl aber als vom Autor inszenierter beißender Humor). Der Rezipient ist aufgefordert, diese Schicht des kom*diantischen Umgangs mit den republikanischen Parolen als indirekte und unfreiwillige Parodie zu lesen und auf das angeblich »erhabne Drama der Revolution« zurckzubeziehen. Zur Schicht der derbkomischen Farce z0hlt eine Volksszene, die den gesamten Republikanismus als unreflektierte Modeerscheinung entlarvt: »Meine gute Jacqueline, ich wollte sagen Corn, wolltD ich Cor« (M 33, R 233, DT 40 f.), beginnt ein »Brger«, der offenbar vergessen hat, wie der neue – republikanisch-r*mische – Name seiner Frau lautet. »Cornelia, Brger, Cornelia« (M 33, R 234, DT 40 f.), kommt ihm Simon zu Hilfe. Die Mode der Umbenennung wird im folgenden komisch persifliert, wenn die Brger ber die allerneuesten Namen »Pike« (M 33, R 242, DT 40 f.), »Pflug, Robespierre« (M 33, R 244, DT 40 f.) r0sonieren. Simon setzt ebenfalls zu einem heroischen Dictum an und bricht dann aber, weil er im Begriff ist, etwas zu verdrehen, ab: »Ich sage Dir, die Brust deiner Cornelia, wird wie das Euter der r*mischen W*lfin, nein, das geht nicht. Romulus war ein Tyrann, das geht nicht.« (M 34, R 247, DT 41.) Dieser Versprecher macht gewissermaßen die Vertauschbarkeit der allzu leicht von der Zunge gehenden Topoi und Klischees deutlich, und demonstriert, wie leicht man sich quasi aus Versehen auf einen Tyrannen, z. B. Romulus, beruft, w0hrend man angeblich das Gegenteil beabsichtigt. Die Szene zeigt, wie rasch die Positionen des Brutus und Caesar, des Cato und des Catilina – je nach demagogischer Intention – wechseln k*nnen, und wie leicht die Revolution0re sich – im Namen von Freiheit, Tugend und Republik – vergreifen und versehentlich auf einen 76
Tyrannen beziehen – oder, umgekehrt, im Namen der »Republik« Tyrannei und Terror errichten. Wie ein Freudscher Versprecher verr0t Simons Satz ber die »r*mische W*lfin« das unbewußt erstrebte – oder zumindest unwillkrlich sich hinter dem Rcken der Akteure herstellende – Resultat der Revolution. Bereits in der zweiten Szene des Dramas wird in der Figur des Souffleurs Simon das Theatralische, Masken- und Phrasenhafte der Aktionen und heroice dicta der Revolution0re – freilich unwillentlich – auf den Begriff gebracht. Simon verwendet im Alltagsgespr0ch unentwegt Bruchstcke aus von ihm soufflierten Theaterstcken, zu denen, so muß man folgern, haupts0chlich republikanische Dramen geh*ren. Der Souffleur vollfhrt eine Art Eiertanz; unabsichtlich verdreht er die pathetisch-rhetorischen Versatzstcke und verwendet sie stets in v*llig inad0quater Weise. Simon prgelt seine Frau und beschimpft sie mit den Worten: »Du Kuppelpelz, du runzliche Sublimatpille, du wurmstichischer Sndenapfel!«, »Leute« – offenbar dem niedrigen Brgertum zuzuz0hlende Sansculotten – versuchen, die Streitenden zu trennen. Simon wehrt sich: »Nein, laßt mich R*mer, zerschellen will ich dieß Geripp! Du Vestalin!« (M 8, R 37, DT 22.) Simon verwechselt offenbar die virgines sanctae, die r*mischen Priesterinnen (nach altr*mischem Sprachgebrauch), mit Prostituierten. Er fragt nach seiner Tochter: »Wo ist die Jungfrau? sprich! Nein, so kann ich nicht sagen.« (M 9, R 41, DT 23.) Simon h0lt inne, als er die Diskrepanz zwischen Phrase und Wirklichkeit bemerkt, denn die Tochter geht eben jenem Gewerbe nach, das das Gegenteil von Jungfr0ulichkeit voraussetzt: »Nein, so kann ich nicht sagen.« Kurz bevor der v*llig betrunkene Souffleur »umsinkt«, wie es heißt, sagt er zu sich selbst: »Alter Virginius verhlle dein kahl Haupt. Der Rabe Schande sizt darauf und hackt nach deinen Augen. Gebt mir ein Messer, R*mer! (er sinkt um)« (M 9, R 43, DT 23). Simon stilisiert sich als Virginius, als jener Held, der seine Tochter lieber mit dem »ersten besten Metzger-Messer abschlachtet[e], und zwar im Namen von Freiheit, Tugend und Recht, als sie der Gewalt eines lsternen Tyrannen zu berlassen«.30 Aber dieses Maskenspiel ist der Wirklichkeit von 1794 g0nzlich unangemessen: Kein Appius Claudius verfolgt Simons Tochter, und vor allem: ihr Gewerbe verschafft dem Vater dasjenige, was Bchner zufolge die Revolution dem Volk nicht zu beschaffen vermochte: Brot. »Du Judas«, wirft daher Simons »Weib« ihrem Mann – in einem typisch Bchnerschen Chiasmus – vor, »h0ttest du nur ein Paar Hosen hinaufzuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bey ihr hinunterließen?« (M 9, R 55, DT 23.) Doch 30 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele, S. 164.
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ein weiteres Mal vergreift sich Simon im Theater-Fundus bzw. Kostmverleih des Republikanismus: »Ha Lucrecia! ein Messer, gebt mir ein Messer, R*mer! Ha Appius Claudius!« (M 10, R 56, DT 23.) Simon verwechselt Virginia mit Lucrecia und beide zusammen offenbar mit der Lebedame Lucrezia Borgia. Die r*mische Lucrecia hatte sich, entehrt durch Sextus Tarquinius – und nicht durch Appius Claudius – das Leben genommen – und so ihren Teil zur Abschaffung von K*nigtum und Tyrannis beigetragen. Virginius hatte seine Tochter Virginia get*tet, um sie vor Appius Claudius zu bewahren, und hatte so das Fanal zum republikanischen Aufstand gegeben. Aber beide Idole passen nicht in die Zeit der Franz*sischen Revolution! Der tatendurstige Simon, der unentwegt nach einem »Messer« ruft, sucht – genau wie Robespierre – nur einen Legitimationsgrund und eine quasi-poetische Schlachtparole fr kommende heroische, i. e. terroristische, Aktionen. Am Ende entschuldigt sich der inzwischen ernchterte Souffleur bei seiner Frau: »Ha, kannst du mir vergeben, Porcia?« (M 12, R 88, DT 25.) Indem er sein »Weib« zur »Porcia« macht, erhebt er sich selbst indirekt zum »Marcus Junius Brutus«, zum Caesar-M*rder (dessen Gemahlin nach der Niederlage ihres Mannes Selbstmord beging). Bezeichnenderweise nimmt gerade Simon, der sich hier als Brutus und Tyrannenm*rder versteht, sp0ter tats0chlich Danton, den angeblichen Verr0ter und ›Caesaristen‹, mit vaterl0ndisch-freiheitlichen Phrasen und Parolen auf den Lippen, gefangen! Simon entschuldigt seine Beschimpfungen und T0tlichkeiten seiner Frau gegenber mit einem Zitat aus Hamlet: »Schlug ich dich? Das war nicht meine Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnsinn that es. / Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind / Hamlet thatDs nicht, Hamlet verl0ugnetDs.«31 (M 12 f., R 88, DT 25.) Es handelt sich hier um eine komische Parallele zu den FatalismusSentenzen Dantons und Robespierres; Danton klagt bekanntlich ber das verh0ngnisvolle »Muß«: »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen« (M 41, R 339, DT 46) und Robespierre bekennt in einer schwachen Stunde: »sind wir nicht Nachtwandler, ist nicht unser Handeln, wie das im Traum, nur deutlicher, bestimmter, durchgefhrter?« (M 27, R 185, DT 36.) Die Simon-Szene wirft ein ironisches Licht auf diese FatalismusPassagen. Nicht der »Wahnsinn« motivierte Simons Tun, sondern der Alkohol, d. h. ein selbstverschuldeter Rausch. Augenscheinlich entziehen sich alle drei Figuren der eigenen Verantwortung durch den Hinweis auf jenseitige, unbeherrschbare Kr0fte: Schicksal, Somnambulismus, Wahnsinn. 31 Vgl. Shakespeare: Hamlet V/2. – In: ders.: Smtliche Werke, Bd. 3, S. 579.
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Die komische Simon-Szene ist entlarvend, indem sie den Blick sch0rft fr das gar nicht so komische Verhalten der Revolution0re, die Farce der Partei Robespierres. Der Gegensatz von (scheinbarer) Autonomie und Fremdbestimmtheit, aber auch von Selbstverantwortung und Schuldverschiebung, von Heroismus und realer Niedrigkeit oder Verbrechen, von Ehrbegriff und niedrigem Impuls, von republikanischem Universalismus und Privatinteresse, von Idealismus und materiellem Motiv, von Phrase und Wirklichkeit bzw. Maske und Wahrheit, diese Diskrepanzen – hier an einer Karikatur, Simon, demonstriert – beziehen sich implizit auch auf Robespierre und seine Anh0nger. Das wird nirgendwo deutlicher als am Ende der Simon-Szene (I/2), wenn Robespierre auftritt und den eben geschilderten Bildern der Verkommenheit – von S0ufern, Prostituierten, wankelmtigen Opportunisten, Sensationslsternen, Mordgierigen, den unbesch*nigten Vertretern des »Volks« – ein unangemessenes Pathos im genus grande, die r*mische virtus beschw*rend, entgegensetzt: »Armes, tugendhaftes Volk! Du thust deine Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschl0gen.« (M 12, R 82, DT 25.) (Simon versus Robespierre: Welche Chance fr einen Regisseur!) Selbstbetrug und Volksbetrug halten sich in Robespierres Worten die Waage. Die Verhaftung Dantons durch den stets betrunkenen Simon wird von Robespierre offenbar als ein solches »Opfer« und ein solcher »Blitzstrahl« und »Donnerschlag« gesehen, womit Robespierres Diktion und Simons Aktion sich wechselseitig ironisieren: »Volk du bist groß.« Es scheint kein Zufall zu sein, daß Bchner ausgerechnet jene Karikatur eines Republikaners, jenen Clown Simon, zu demjenigen auserw0hlt, der die Festnahme Dantons – des angeblichen Catilina oder Caesar – durchfhrt. Damit werden die scheinbar nur schwankhaften Szenen und Figuren jeder Harmlosigkeit beraubt; Simon und die Seinen greifen aktiv ins Revolutionsgeschehen ein, sind also nicht in einem Jenseits der Revolution oder in einem irrelevanten, untergeordneten bzw. ausgegrenzten Unterschichtsmilieu angesiedelt und auch nicht in einem dramaturgischen Jenseits quasi unbedeutend-dezentraler VolksSzenen und Schwank-Einlagen U la Shakespeare. Das »Volk« selbst greift ein, handelt ›revolution0r‹; ein Schauspieler bzw. Souffleur, ein Mann des Theaters wird zum Mann der ›Tat‹: Aus dem Drama wird Realit0t, aus dem Spiel »Ernst«. Aus der bloßen Bhnen- und Theaterwelt wird Realit0t, aus Fiktion Faktizit0t, aus der Theatergasse die wirkliche »Gasse«.32 32 Vgl. dazu Ulrike Dedners Vortrag zum Bchner-Symposion 2001; zu den verschiedenen Shakespeare-Bezgen vgl. Sabine Dissels Symposions-Beitrag ebd., beide abgedruckt im vorliegenden Band.
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Allerdings sind Simon und seine Brgersoldaten nur die Handlanger Robespierres; und Robespierre seinerseits ist wiederum nur der Handlanger unkontrollierter geschichtlicher Impulse: »es muß ja Aergernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergernis kommt. […] Puppen sind wir […] Schwerter, mit denen Geister k0mpfen, man sieht nur die H0nde nicht wie im M0hrchen« (M 41, R 339, DT 46), so lautet die vielzitierte, am Fatalismusbrief33 orientierte Replik Dantons. Man sieht nur die Handlanger, nicht den Marionettenspieler. Weshalb erfindet Bchner ausgerechnet einen Schauspieler, einen »Souffleur«, um seine Revolutionskritik zu lancieren? Weshalb h0lt er sich nicht an seine bliche Faktentreue? Es gengt nicht zu sagen, hier werde ein metafiktionaler, metadramatischer, selbtreferentieller, selbstreflexiver Diskurs ber das Theater eingefhrt; auch paßt die These vom »Theater im Theater«, vom »Spiel im Spiel« nicht umstandslos auf die Simon-Szenen, denn es handelt sich ja nur um Bruchstcke aus verschiedensten republikanischen Stcken, die Simon halb zitiert, halb nachspielt, halb auf seine Umgebung appliziert … Man muß seine Berufsbezeichnung – »Souffleur« – im emphatischen Sinn w*rtlich nehmen: Er ist der »Souffleur« des Republikanismus, er »souffliert« die Parolen und Phrasen des Republikanismus, vor allem: Er ist die Personifikation der republikanischen Einflsterungen, der literarischen Reminiszenzen. Es hat den Anschein, als sei der von Bchner beschworene »Marionettenspieler«, dessen H0nde man nicht erkennt, eben der Republikanismus … Wie schon Emilia und Odoardo Galotti werden Bchners Figuren gesteuert durch »literarische Reminiszenzen«,34 durch obsolet und inad0quat gewordene Axiome der Vergangenheit; Simon – als »Souffleur« – ist gewissermaßen die Allegorie solcher Reminiszenzen, die Allegorie des Republikanismus. Der Republikanismus ist der »Souffleur«, der sich den Revolution0ren ›souffliert‹, ohne daß diese der Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Rolle und Wirklichkeit gewahr wrden. Simon souffliert den Figuren auf der Bhne, was die literarische Tradition – wie in Lessings Emilia Galotti – den Akteuren des »erhabne[n] Drama[s] der Revolution« einflstert. Sie regiert das Marionettenspiel, das erst lachhafte Farce zu sein scheint und dann am Ende doch wieder schw0rzeste Trag*die. Im Unverst0ndnis des Souffleurs wird in komischer Weise karikiert, was auch die Akteure des »erhabne[n] Drama[s] der Revolution« auszeichnet: das Miß- und Unverst0ndnis in der Applikation des Gewesenen aufs Gegenw0rtige – und das »Gehabtsein« von der berholten Tradition, vom inad0quaten My33 Vgl. Anm. 10. 34 Peter Horst Neumann: Der Preis der MAndigkeit. &ber Lessings Dramen. – Stuttgart 1977, S. 43 f.
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thos, vom undurchdachten Klischee, von der »Phrase«. Karikiert wird auch die Leugnung von Verantwortung, Schuldf0higkeit, Zurechnungsf0higkeit, indem Schuld und Verantwortung dem »Wahnsinn« bzw. dem Alkohol angelastet werden (Simon), dem fatalen Schicksal – Danton – und dem traumhaften Somnambulismus allen Handelns – Robespierre – zugeschrieben werden. Zum Schluß ein Blick auf die Verhaftungsszene selbst: Simon strmt mit den »Brgersoldaten«, der Revolutions-Miliz, das Haus Dantons: »Ich werde vorangehn, Brger. Der Freiheit eine Gasse! Sorgt fr mein Weib! Eine Eichenkrone werdD ich ihr hinterlassen.« (M 42, R 348, DT 46 f.) Just dem Hanswurst der Kom*die berantwortet Bchner die Festnahme Dantons; in seinem Mund mssen die vaterl0ndischrepublikanischen Parolen – zitiert aus der lyrischen Tradition der Befreiungskriege35 – den Charakter unfreiwilliger Komik annehmen. Das scheinbar heroische Pathos Simons wird durch eine Entgegnung eines Brgers (hier in intendierter Komik) unmittelbar ins L0cherliche gezogen: »Eine Eichelkron? Es sollen ihr ohnehin jeden Tag Eicheln genug in den Schooß fallen.« (M 42, R 349, DT 47.) »Vorw0rts Brger, Ihr werdet Euch um das Vaterland verdient machen« (M 42, R 350, DT 54), f0hrt Simon unbeirrt fort, wieder eine »Phrase« gebrauchend, deren »Verk*rperung« (M 53, R 425, DT 54), um Merciers Wort zu wiederholen, die Hinrichtung Dantons sein wird: »Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen« (M 53, R 425, DT 54). Die von Simon »gesprochenen« Phrasen – von Brutus, Porcia, Virginius, Appius Claudius, von Freiheit, Vaterland und Eichenkrone (dem Symbol fr Ehre und Tugend), spiegeln aber nur – in karikierter Form – die Phrasen Robespierres und der »Decemvirn« vom Wohlfahrtsausschuß.36 Ihre »Verk*rperung« verwandelt die aus dem Trauerspiel, dem republikanischen, hervorgegangene sarkastische Farce wieder zurck ins tragische Trauerspiel. Trag*die wurde Kom*die, aus der Kom*die wie35 Vgl. Ingo Fellrath: »Der Freiheit eine Gasse!« Eine stoff- und wirkungsgeschichtliche Anmerkung zu Dantons Tod«. – In: GBJb 7 (1988/89), S. 282 – 296. 36 Vgl. Reinhold Grimm: Spiel und Wirklichkeit in einigen Revolutionsdramen. – In: ders.: Nach dem Naturalismus. – Kronberg 1978, S. 141 – 185, hier bes. S. 147 (»Simons Tiraden sind zwar Parodie, aber beileibe nicht, wie man geglaubt hat, stilistische. Was sie persiflieren, ist vielmehr von Anfang an jenes ›erhabne Drama der Revolution‹, das von Robespierre w*rtlich berufen wird und das er und s0mtliche Revolution0re, auch Danton, mit ihren klassischen Gesten und Zitaten spielen.«). Die Dantonisten w0ren indessen, wie oben gezeigt, von der Partei Robespierres zu unterscheiden auf Grund des ironisch-zitathaften und spielerischen Umgangs mit den Topoi der »R*mer«-Rhetorik. Vgl. auch Giorgio Dolfini: »Die R*merrhetorik im Munde Simons ist lediglich die letzte Verfallsstufe der republikanisch-revolution0ren Rhetorik.« Zit. ebd.
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der Trag*die. Aus dem republikanischen Trauerspiel wurde ein »erhabne[s] Drama«, das sich in b*se Parodie und schließlich bitterste Farce verkehrte, um schließlich wieder von der fatalen Kom*die in ein katastrophales Trauerspiel zu fhren.
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Zwischen Idee und Leib Georg Bchners weltanschauliche Stellung in Dantons Tod
Von Koji Taniguchi (Kyoto) 1. Einleitung »Ich werde zwar immer meinen Grundstzen gemß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedrfniß der großen Masse Umnderungen herbeifhren kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Thorenwerk ist. […] Ihr k.nnt voraussehen, daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und revolutionren Kinderstreiche nicht einlassen werde.« (HA II, S. 418)
So heißt es im letzten der Briefe, die von Bchners heranreifenden politischen Anschauungen whrend seines ersten Aufenthalts in Straßburg zeugen. Als solcher zeigt er deutlich die erreichte theoretische Erkenntnisstufe, zu der Bchner durch die neuartigen Erfahrungen in Frankreich gelangt war. Hier kulminiert aber auch die Auseinandersetzung mit den beiden einander entgegengesetzten Ideensystemen, die sich in den letzten zwei Jahren in seinem Inneren vollzogen hatte: mit dem deutschen subjektivistischen Idealismus Fichtescher Prgung einerseits, dessen voluntaristische Ethik ihn von Jugend auf dazu angehalten hatte, »immer meinen Grundstzen gemß« zu handeln, und dem franz.sischen Materialismus auf der anderen Seite, dem zufolge der Wille des Menschen sich den physischen, physiologischen und gesellschaftlichen Zwngen beugen muß. Obwohl sich diese Konfrontation in dem Brief hauptschlich auf den Bereich der revolutionren Strategie beschrnkt, geht es hier doch um das eigentliche philosophische Prinzip, das Denken und Tun eines Menschen von Grund auf bestimmt. Zwar scheint hier die materialistische Denkweise zu dominieren, und es steht außer Zweifel, daß Bchner mit allen Krften die materialistische Weltanschauung zur Grundlage seines Denkens zu machen versuchte, aber recht fragwrdig bleibt doch, ob es Bchner wirklich gelungen ist, sich von dem idealistischen Denken endgltig frei zu machen, wie es in der Bchnerforschung manchmal behauptet wird. Denn es gibt in Dantons Tod thematisch wichtige Stellen, an denen die idealistische und die materialistische Tendenz miteinander in Konflikt geraten, ohne daß die eine ber die andere einen definitiven Sieg 83
feiert. Es ist folglich angebracht, zuerst einmal einen kurzen Rckblick auf Bchners idealistische Periode zu werfen.
2. Das philosophische Fundament des Gymnasiasten Bchner Seitdem Werner R. Lehmann vor rund vierzig Jahren ans Licht brachte, daß Bchners Schulaufsatz Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer in großer Rbereinstimmung mit Fichtes Reden an die deutsche Nation steht, ist Fichtes entscheidender Einfluß auf den Gymnasiasten Bchner in der Forschung bekannt. Lehmann zufolge bernahm Bchner von Fichte vor allem den Begriff der »Tathandlung«, nach dem die Welt als ein vom »Ich« hervorzubringender, unendlich sch.pferischer Prozeß anzusehen ist, auf den sich der Glaube sowohl an eine vernunftgemße Entwicklung der Geschichte als auch an eine freie Gestaltung des Menschenlebens sttzt.1 Dieser Umstand deutet bereits an, woher Bchners lebhaftes Interesse an Fichte stammt. Der Philosoph, auf den nach Engels Worten2 auch die deutschen Sozialisten stolz sein konnten, begeisterte ihn – wie seinerzeit H.lderlin3 – als Kmpfer fr den Fortschritt der Menschheit. Gewiß ist es einleuchtend, daß der junge Bchner eine Zeit lang »alle entscheidenden Phnomene […] mit den Kategorien, die die Fichtesche Philosophie ihm zur Verfgung stellt«,4 betrachtet, beurteilt und bewertet hat, aber sein Verhltnis zu Fichte braucht nicht derart schematisch als Umschlag vom blinden Enthusiasmus zur totalen Abkehr, wie Lehmann es ausdrckt, angesehen zu werden, sondern sollte eingeschrnkt auf den konkreten Aspekt der revolutionren Interessen Bchners beurteilt werden. Von den Einflssen Fichtes auf Bchner scheinen in dieser Hinsicht zwei Faktoren besonders wichtig, auf die Lehmann nicht direkt hinweist. Der eine betrifft das oben erwhnte ethische Postulat, immer 1 Vgl. Werner R. Lehmann: Prolegomena zu einer historisch-kritischen BchnerAusgabe. – In: Gratulatio. – Hamburg 1963, S. 202. 2 Vgl. Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. – In: MEW, Bd. 19, S. 188. 3 Hinsichtlich H.lderlins Bemerkung ber Fichte in einem Brief an Hegel, Fichte sei »ein Titan«, schreibt Manfred Buhr: »H.lderlins Urteil ist sicher nicht frei von Rbertreibung. Es wird noch getragen von jener Begeisterung, die er als junger Student des Tbinger Stifts gemeinsam mit Hegel und Schelling fr die Franz.sische Revolution empfand. Er sah auf der Grundlage dieser Begeisterung folgerichtig in Fichte eine Pers.nlichkeit, die in Wort, Schrift und Tat den Idealen der Franz.sischen Revolution in Deutschland Ausdruck verlieh. Und er hatte damit gar nicht so unrecht.« Vgl. Manfred Buhr: Revolution und Philosophie. Die ursprngliche Philosophie Johann Gottlieb Fichtes und die Franz,sische Revolution. – Berlin 1965, S. 24 f. 4 Lehmann, S. 199.
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»meinen Grundstzen gemß« zu handeln. Im Schulaufsatz Cato von Utika rhmt Bchner Cato deswegen, weil der R.mer »nur eine Rolle spielen, nur in einer Gestalt sich zeigen, nur in das, was er als wahr und recht erkannt hat, sich [habe – K. T.] fgen« (HA II, S. 31) k.nnen. Auch Fichte legt in Ueber Belebung und Erh,hung des reinen Interesse fr Wahrheit Wert auf eine vergleichbare Maxime: »Uebereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, sowie Widerspruch in unserem Denken Irrthum und Lge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem h.chsten Gesetze: sey stets einig mit dir selbst!«5 Die These der Absolutheit des transzendentalen Ichs, die der Philosoph hier so khn vertritt, leitet sich in erster Linie von dem revolutionren Pathos her, jede Fremdbestimmtheit, einschließlich sozialer Unterdrckung, sowohl theoretisch wie praktisch rigoros zurckzuweisen. Bekanntlich bietet diese These im Vormrz dem burschenschaftlichen Radikalismus eine philosophische Grundlage fr die Aktionen zum Umsturz der alten Ordnung unter den sozial-wirtschaftlich ungnstigsten Bedingungen. Der hier am Anfang zitierte Brief liefert den Nachweis, daß Bchner an der Fichteschen Maxime noch bis kurz vor seiner Rckkehr nach Deutschland festhlt. Nicht zuletzt sollte man auch die oft bersehene anti-sensualistische Position, die Bchner damals mit Fichte teilte, nicht getrennt von der Tradition der revolutionren Geistesstr.mungen sehen. In Helden-Tod greift Bchner aufs heftigste den Alltagsmenschen an, »dem sein Selbst das H.chste ist, sein Wohlseyn der einzige Zweck, der jedes h.heren Gefhls unfhig und verlustig der wahren Menschen-Wrde, seine Vernunft nur gebraucht um thierischer als das Thier zu seyn. Dießer schndliche Egoismus ist eins der charakteristischen Kennzeichen der damaligen Zeit.« (HA II, S. 12 f.) Bchner bezeichnet hier die Epoche nach der Reformation, d. h. die anbrechende Neuzeit, als eine Zeit des Egoismus, und diese Bezeichnung deckt sich mit Fichtes Geschichtskategorien. In Die Grundzge des gegenw2rtigen Zeitalters teilt der Philosoph die Menschengeschichte in fnf Entwicklungsstufen ein und apostrophiert die dritte Stufe, seine Gegenwart, als das Zeitalter vollstndiger Schuld, wo »der blosse, reine und nackte Egoismus«6 herrsche. Seinem Urteil zufolge habe der Egoismus seine philosophischen Wurzeln im Empirismus und Sensualismus, die beide auslndische 5 Fichtes gesammelte Werke wurden zum ersten Mal von Immanuel Hermann Fichte im Jahr 1834 herausgegeben (vgl. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs: J. G. Fichte – Bibliographie. – Stuttgart 1968, S. 42). Deshalb kann Bchner nur Einzelwerke studiert haben, die Lehmann aber nicht nennt. Im folgenden Text wird benutzt: Johann Gottlieb Fichtes s2mtliche Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. – Berlin 1845 – 46 (Nachdruck Berlin 1965); hier Bd. 8, S. 344. 6 Fichte, Bd. 7, S. 66.
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Ideologien seien. Diesen stellt Fichte Luthers spiritualistischen Asketismus als echt deutsches Denken entgegen und ruft die deutsche Nation dazu auf, sich durch den Spiritualismus zu erneuern und der Menschheit dazu zu verhelfen, auf die vierte Stufe zu gelangen, auf der die Vernunft endlich zur Geltung kommen werde. Natrlich l.st sich Bchner frhzeitig von dem chauvinistischen Element bei Fichte.7 Trotzdem ist es sehr zweifelhaft, ob er damit auch die anti-sensualistische Tendenz verwarf, von der er einmal so tief geprgt worden war. Wie Heine in Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland feststellte und Marx spter in Die heilige Familie przisierte, war damals eine asketische Tendenz in den sozialkritisch-revolutionren Theorien noch vorherrschend, was sich wiederum an Buonarrotis Conspiration pour LTgalitP dite de Babeuf ablesen lßt. Ferner sollte man auch nicht außer acht lassen, daß Rousseau, der reprsentative asketische Demokrat, zu den Autoren geh.rte, aus deren Werken sich Bchner viel zu eigen gemacht hat.
3. Das intensive Studium des franz.sischen Materialismus und Sensualismus in Straßburg Die Anhaltspunkte, die dazu dienen k.nnen, Bchners weltanschauliche Umorientierung whrend des ersten Aufenthalts in Straßburg nachzuvollziehen, sind geringer als zu seiner Gymnasialzeit. Aber auch darunter gibt es ein Dokument, das die Vermutung nahelegt, daß sich Bchners Gedanken nach wie vor um den Pol Fichtescher Philosophie drehen. Es ist das Protokoll der »Eugenia«, worin sich stellenweise Aussagen im Fichteschen Ton finden, die h.chstwahrscheinlich von Bchner selbst stammen. Am wichtigsten ist darunter das Protokoll vom 28. Juni 1832, in dem Bchner Huß, Ravaillac und Sand »in eine Reihe«8 stellte. Diese Passage ber die drei durch die enorme Energie ihrer religi.sen Schwrmerei miteinander vergleichbaren Personen bezeugt unmißverstndlich den Einfluß der geschichtsphilosophischen Ansicht Fichtes, daß sich die Menschen, die sich fr hohe Ideen, religi.se inbegriffen, begeistern, zuletzt durchsetzen werden.9 Wie Fichte maß Bchner dem religi.sen Fanatismus eine außerordent7 Gelegentlich weist man Fichte die Vertreterstellung des militanten Wortfhrers des deutschen Nationalismus zu. Man sollte aber nicht außer acht lassen, daß in der Fichte-Forschung oft hypothetisch Babeufs Beeinflussung auf Fichte behauptet wird. Die Pararellstellen zwischen babeuvistischer Literatur und Fichtes Der geschlossene Handelsstaat stammen jedenfalls aus dem Umstand, daß beide Ideologen ihren Ideenursprung Rousseau verdanken. Vgl. Buhr, S. 79. 8 Thomas Michael Mayer: Das Protokoll der Straßburger Studentenverbindung ›Eugenia‹. – In: GBJb 6 (1986/87), S. 368. 9 Vgl. Fichte, Bd. 7, S. 390.
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liche Bedeutung bei. Wahrscheinlich blieb er bei dieser Meinung bis zuletzt, schrieb er doch noch aus dem Exil in Straßburg an Gutzkow in einem fast lehrmeisterlichen Ton, daß es fr die Mobilisation der großen Masse »nur zwei Hebel [gibt], materielles Elend und religi,ser Fanatismus« (HA II, S. 455). Zugegebenermaßen verweisen Rousseau und Buonarroti auf die dem religi.sen Eifer innewohnende potentielle Explosivkraft, aber diesen Gedanken hat Bchner primr von Fichte, wie sein Schulaufsatz Helden-Tod eindeutig demonstriert. Gleichwohl lßt sich schon im folgenden Jahr (1833) ein unbersehbares Anzeichen einer grundlegenden Wende in seinem Denken erkennen. Es ist der vielzitierte Brief an die Familie, in dem Bchner zum mißglckten Sturmangriff auf die Frankfurter Hauptwache vom 3. April 1833 Stellung nimmt. Bchner betrachtet hier bereits die gesellschaftlichen Phnomene pauschal vom Standpunkt des Klassenkampfes aus. Er hebt ausdrcklich hervor, daß das Gesetz sich zwar fr die allgemeingltige Gerechtigkeit ausgebe, seine wesentliche Funktion aber darin bestehe, die untere Schicht der Gesellschaft zu unterdrkken, weil das feindliche Verhltnis zwischen Arm und Reich unberwindbar sei. Entsprechend erklrt er den Staat fr einen Gewaltapparat, der dazu dient, das Volk durch Gesetz und Militr niederzuhalten. Diese Charakterisierungen fhren logischerweise zu einer revolutionren Strategie, die einen Umsturz einfach durch massive Gewalt zu bewerkstelligen sucht. Wahrscheinlich ist Bchner zu dieser radikalen Auffassung infolge der neuen Erfahrungen gelangt, die er erwarb, als er die regen politischen Bestrebungen, die die franz.sischen Republikaner gegen die reaktionren Maßnahmen der Juli-Monarchie entfalteten, mit praktischem Interesse aufmerksam verfolgte und die Publikationen ihrer Organisationen bei jeder Gelegenheit eifrig studierte. Vermutlich hat das medizinische Studium, das er an der Universitt betrieb, auch dazu beigetragen, die materialistische Denkweise in den Vordergrund treten zu lassen. Sein Hauptfach war die vergleichende Anatomie, also die Wissenschaft, »avec laquelle seule on peut lever la plapart des voiles qui dUrobent lAme _ la curiositU de nos regards et de nos recherches«,10 wie La Mettrie es formuliert. Ferner scheint es gesichert zu sein, daß er sich in dieser Phase mit der materialistischen und sensualistischen Literatur der franz.sischen Enzyklopdisten eingehend beschftigte, obwohl er den Sensualismus bereits im Schulaufsatz -ber den Selbstmord erwhnt hatte (HA II, S. 21). Ohne Zweifel sollte dieses Studium das idealistische Weltbild Fichtescher Prgung allmhlich unterminieren. Ob und inwieweit es ihm tatschlich gelang, sich von der Macht dieses
10 Julien Offray de La Mettrie: Œuvres philosophiques. Texte revu par Francine Markovits. Bd. 1. – Paris 1987 (London 1751), S. 167.
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Philosophen loszureißen, lßt sich an den folgenden Themenkreisen des Dramas Dantons Tod veranschaulichen.
4. Sensualismuskontroverse a) Danton versus HelvUtius In Dantons Tod werden immer wieder Argumentationen der franz.sischen Enzyklopdisten aufgegriffen, um die relevanten Themenkomplexe zu konstituieren. Einer davon umfaßt die Problematik des Sensualismus. Wie oben gesehen, bedeutete dem Gymnasiasten Bchner der Sensualismus nichts weiter als eine Gesinnung des P.bels, dessen Wesen fr ihn in schndlichem Egoismus lag. Dennoch erregt das Theaterstck den Eindruck, als ob der Dichter unterdessen sein Urteil v.llig gendert habe, denn es treten hier mehrere Personen auf, die offensichtlich fr den Sensualismus pldieren. So bezeichnet es Thomas Payne, tatschlich bekannt als ein Deist, in der Debatte mit Mercier als sein Motto: »Was wollt ihr denn mit eurer Moral? Ich weiß nicht ob es an und fr sich was B.ses oder was Gutes giebt […]. Ich handle meiner Natur gemß, was ihr angemessen, ist fr mich gut und ich thue es und was ihr zuwider, ist fr mich b.s und ich thue es nicht […]« (HA I, S. 49)
Die zweite Hlfte von dem, was Payne hier ußert, stimmt insofern mit den diesbezglichen Definitionen von HelvUtius oder Holbach berein. HelvUtius erlutert in De lhomme, dem reprsentativen Werk des franz.sischen Sensualismus, sein Credo katechismusartig wie folgt: »D. En qualitU de sensible, que doit faire lhomme? R. Fuir la douleur, chercher le plaisir. Cest _ cette recherche, cest _ cette fuite constante quon donne le nom damour de soi.«11 In demselben Buch behauptet der Franzose, ebenfalls vom sensualistischen Standpunkt aus, ber die Moral, daß »nos vertus, comme nos talents, sont Ugalement dUpendants de la diversitU de nos tempUraments«.12 Jede Handlung des Menschen wird ihm zufolge von der Eigenliebe angetrieben; das Gute und das B.se ist schließlich von der Empfindung des Subjekts abhngig, d. h. von dem »Temperament« des einzelnen Menschen (stattdessen benutzt Bchner die Kategorie »Natur«). Von einigen geringfgigen Unterschieden abgesehen, vertritt Holbach in SystÞme de la nature dieselbe Ansicht.13 11 Claude Adrien HelvUtius: De lhomme, de ses facultPs intellectuelles et de son Pducation. – In: Œuvres complWttes de M. HelvPtius. Nouvelle Udition, corrigUe et augmentUe sur les manuscrits de lauteur, avec sa vie et son portrait. – London 1781, S. 459. 12 HelvUtius, S. 215. 13 Im Gegensatz zu HelvUtius zeigt sich Holbach eher skeptisch gegenber der M.glichkeit, das Temperament des Menschen zu ndern. Er besteht sogar auf
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Insoweit drfte man annehmen, daß die sensualistische Lehre der franz.sischen Enzyklopdisten den Iußerungen von Payne und Danton, der ebenfalls zu einem eifrigen Verfechter des Sensualismus umgestaltet ist, zugrunde liegt. Stellt man hingegen die erste Hlfte von Paynes obiger Rede den Texten der franz.sischen Sensualisten gegenber, klingt sie sehr problematisch. Payne beschrnkt sich zunchst darauf, die Moral an und fr sich in Zweifel zu ziehen, Danton aber treibt diesen Skeptizismus auf die Spitze. Ihm gelingt es in der Auseinandersetzung mit Robespierre, diesen in Verlegenheit zu bringen, indem er dessen politische Operationsbasis, die transzendentale Moralitt, mit der Assertion prinzipiell verneint, daß er selbst eigentlich weder Tugend noch Laster anerkenne, denn alle Menschen seien im Grunde nur Epikureer, wobei Jesus Christus, der sich geopfert habe und die Menschheit mit seinem Blut habe erl.sen wollen, keine Ausnahme bilde. Von entscheidender Bedeutung ist es, daß Danton hier die Existenz von Moral kurzerhand ablehnt. Natrlich erkennt auch HelvUtius eine transzendentale Moral nicht an, aber er bedient sich eines anderen Verfahrens, wenn er gegen Rousseau, den Meister Robespierres, argumentiert. Rousseau erklrte in Emile die Idee der Tugend fr angeboren, weil es sonst nicht zu erklren sei, warum ein guter Brger sich fr die Wohlfahrt der Gesellschaft opfern wolle. HelvUtius stellt Rousseaus Prsumtion in Abrede, indem er ihn nachdrcklich auf die Aposterioritt dieser Idee aufmerksam macht: »Personne, rUpondrai-je, na jamais concouru, _ son prUjudice, au bien public. Le heros citoyen qui risque sa vie pour se couronner de gloire, pour mUriter lUstime publique, et pour affranchir sa patrie de la servitude, cUde au sentiment qui lui est le plus agrUable. Pourquoi ne trouveroit-il pas son bonheur dans lUxercice de la vertu, dans lacquisition de lestime publique et des plaisirs attachUs _ cette estime? […] Pourquoi M. Rousseau nieroit-il ici que linterÞt est le moteur unique et universel des hommes?«14
Gewiß nimmt sich HelvUtius hier genauso wie Danton vor, den moralischen Asketismus zugunsten des hedonistischen Prinzips umzudeuten, dessenungeachtet verneint er jedoch nicht die Moral selbst. Whrend Danton in der Opferbereitschaft des Revolutionrs nichts als den niederen Trieb sieht, andere schlechter zu finden als sich selbst, gilt sie HelvUtius als ruhmreiche Tugend par excellence. Der Unterschied in der Meinung, daß die Verschiedenheit der Temperamente notwendig zum zwischenmenschlichen Streit fhre (vgl. Anm. 25, Bd. 1, S. 181). Ihm dient aber der Milieudeterminismus als Deus ex machina, der ihm zu der Schlußfolgerung verhilft, daß alles B.se letzten Endes durch gesellschaftliche Erziehung ausgerottet werden kann. 14 HelvUtius, S. 217.
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den Aussagen dieser zwei »Sensualisten« wird noch deutlicher, wenn sie zum Begriff der brgerlichen Freiheit Stellung nehmen. Was Danton und seine Gruppe darunter verstehen, scheint die herrschende Vorstellung treu widerzuspiegeln, welche der Franz.sischen Revolution zum Durchbruch verhalf. Zum Beispiel faßt HUrault den Beweisgrund, auf den sich Danton beim Angriff auf Robespierre sttzt, bereits am Anfang des Dramas sarkastisch zusammen: »Wir Alle sind Narren es hat Keiner das Recht einem Andern seine eigenthmliche Narrheit aufzudringen.« (HA I, S. 11.) Gelinder gesagt, wrde das heißen: was du selbst nicht willst erleiden, das fge keinem andern zu. Das entspricht gerade dem wesentlichen Inhalt des vierten Artikels der Deklaration der Menschen- und Brgerrechte von 1789. HelvUtius aber meint in De lhomme, daß diese Regel fr den Menschen, fr den eine moralische Maxime Sinn macht, unbefriedigend sei. Er sagt: »il [dieser Mensch – K. T.] napperXoit enfin dans cet axiome tant vantU de la morale actuelle: ›Ne fais pas _ autrui, ce que tu ne voudrois pas qui te fat fait‹ quune maxime secondaire, domestique, et toujours insuffisante pour Uclairer les citoyens sur ce quils doivent _ leur patrie. Il substitue bientct _ cet axiome, qui lui dUclare: ›Le bien public, la suprÞme Loi‹«.15 Whrend die Dantonisten sich bei der Er.rterung der Moral mit der Verbotsbestimmung begngen und die Tugend wie eine private Geschmackssache betrachten, ist fr HelvUtius die Moral unzertrennbar mit dem sozialen Glck verknpft, und zwar unter der Voraussetzung, daß sie primr allgemeingltig ist. Der junge Stendhal, der in De lhomme der rigorosen Morallehre begegnete, die ihn fr sein Leben begleiten sollte, gesteht: »Moi, jhonore du nom de vertu, lhabitude de faire des actions pUnibles et utiles aux autres.«16 Die Tatsache, daß der historische Philippeau, einer der Dantonisten, in seinem Testament ebenfalls HelvUtius humanistischen Moralismus erwhnt, ist in Unsere Zeit17 registriert. Bchner waren die moralischen Ansprche dieses Sensualisten, die er mit Holbach und Diderot gemeinsam hat, keinesfalls unbekannt. Zugegeben, daß Danton Robespierre die sensualistische Lehre absichtlich in einem zynisch aggressiven Ton erlutert, um den Rivalen zu rgern und seine verborgenen Gedanken in Erfahrung zu bringen, aber im Gegensatz zu HelvUtius findet sich in dem, was er und Payne in diesem Zusammenhang zu erkennen geben, auch nicht der geringste Anhaltspunkt fr eine Allgemeingltigkeit der Moral. Daraus kann man vermutlich auf Bchners Intention schließen, aus dem Sensualismus den ethischen Nihilismus herauszudestillieren. 15 HelvUtius, S. 464. 16 Jules C. Alciatore: Stendhal et HelvPtius. Les sources de la philosophie de Stendhal. – GenYve 1952, S. 182. 17 Vgl. UZ, Bd. 12, S. 125.
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Aber um die Strategie, die Bchner hierfr anwendet, im ganzen zu begreifen, muß nun eine andere Sensualistin mit in Erwgung gezogen werden: die Hetre Marion. b) Marion versus Fichte Von den Personen, die im Drama nacheinander sensualisitische Ansichten ußern, ist Marion sicherlich am provokativsten. Ihre an Danton gerichtete spontane Erzhlung, in der sie ihr bisheriges Leben rekapituliert, ruft schrittweise einen beklemmenden Eindruck hervor. Ihre zgellose Wollust habe den Tod ihres Geliebten, vielleicht auch den ihrer Mutter verursacht, was sie aber dennoch nicht dazu veranlasse, ihr Verhalten zu ndern, weil ihre Natur nun einmal so sei. Schwerlich kann man wohl im alltglichen Leben solch einen Menschen ausfindig machen. Haftet dieser Frau nicht eher etwas dem Menschen Fremdes, ja sogar das Marionettenhafte einer abstrakten Idee an? Man muß nur einmal Marions Worte mit Fichtes Sensualismuskritik vergleichen. Marion schildert ihr konstantes Lebensgefhl so: »Die andern Leute haben Sonn- und Werktage, sie arbeiten sechs Tage und beten am siebenten, sie sind jedes Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerhrt und denken jedes Jahr auf Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon. Ich kenne keinen Absatz, keine Ver2nderung. Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochnes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom.« (HA I, S. 22. Kursiv von K. T.)
Fichte charakterisiert seinerseits in den Reden das Bewußtsein der seiner Auffassung nach dem Empirismus und Sensualismus verfallenen Menschen seiner Zeit folgendermaßen: »Die erste, zu allererst der Zeit nach sich entwickelnde Grundart des Bewusstseyns ist die des dunklen Gefhls. Mit diesem Gefhle wird am gew.hnlichsten und in der Regel der Grundtrieb erfasst als Liebe des Einzelnen zu sich selbst […]. So lange der Mensch fortfhrt also sich zu verstehen, so lange muss er selbstschtig handeln, und kann nicht anders; und diese Selbstsucht ist das einige Beharrende, sich Gleichbleibende und sicher zu Erwartende in dem unaufh,rlichen Wandel seines Lebens.« (Kursiv von K. T.)18
Einer anderen Parallelstelle begegnet man zudem in Marions Worten kurz davor. Marion gibt ihrer eigenen Gefhlslage folgenden Ausdruck, bevor der ertrunkene Mann, der sexuelle Begierde in ihr geweckt hatte, in einem Korb unter ihren Augen vorbeigetragen wird: »Den Abend saß ich am Fenster, ich bin sehr reizbar und hnge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zusammen, ich versank in die Wellen der Abendr.the.« (HA I, S. 22.) Diese Selbstanalyse paßt wiederum mit 18 Fichte, Bd. 7, S. 302.
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Fichtes Sinnlichkeitskritik in Beitr2ge zur Berichtigung der Urtheile des Publikums ber die Franz,sische Revolution, seiner Verteidigungsschrift der Franz.sischen Republik, inhaltlich zusammen. »Ohne die Ausbung des ersteren [des Rberwindens der Sinnlichkeit – K. T.] k.nnte er [der Mensch – K. T.] auch nicht einmal wollen; seine Handlungen wrden durch Antriebe ausser ihm, wie sie auf seine Sinnlichkeit wirken, bestimmt; er wre ein Instrument, das zum Einklange in das grosse Concert der Sinnenwelt gespielt wrde, und jedesmal den Ton angbe, den das blinde Fatum auf ihm griffe.«19 (Kursiv von K. T.) Daneben muß auch auf folgendes Rcksicht genommen werden: Die hier benutzte Metapher des Musikinstruments stellt fr Fichte einen schmachvollen Zustand des Menschen dar, in den er dadurch verfllt, daß ihm die Freiheit der Selbstbestimmung zwangsweise entzogen wird oder er sie selber verwirft. Diese Metapher erscheint bei Bchner nicht nur in einem Brief inmitten des kritischen Seelenzustandes vom Frhjahr 1834, sondern in eben demselben Sinnzusammenhang auch in den Szenen in der Conciergerie von Dantons Tod. So betrachtet, kann man mit guten Grnden vermuten, daß Bchner Marions Charakter aus Fichtes antisensualistischen Darlegungen zusammensetzte und sie demnach nichts anderes sein soll als der personifizierte Sensualismus. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Bchner dieser Hetre ein romantisch versch.nertes Korsett gibt, was vom Fichteschen Standpunkt aus ganz und gar unvorstellbar wre. In Bchners Schilderungsweise erkennt Thomas Michael Mayer eine starke, und zwar natrliche Neigung Bchners zur Sinnlichkeit. Mayer greift als ein Indiz dafr auf den Erinnerungsbericht eines Mitschlers zurck: Bchner habe whrend des Sommers 1831, d. h. kurz nach dem Abitur, einen ganzen Tag im Wald »am Herzen der Geliebten« verbracht. Mayer vermutet, daß es sich bei dieser »Geliebten« nicht, wie Bchnerforscher gew.hnlich aufgrund der innigen Liebe dieses Dichters zur Natursch.nheit annehmen, um Natursymbolik handelt, weil es sich bei den Orten, deren Namen er dem Kameraden geheimnisvoll zugeflstert hat, um »amour.s-verschwiegene Pltze« handelte. Daraus zieht Mayer den Schluß, daß Bchners »Sensualismus« »kaum eine bloße Lesefrucht«20 sei. Sicher ist das eine khne Hypothese, aber wenn man an die berwuchernden erotischen Elemente in Dantons Tod denkt, scheint seine Behauptung nicht nur reine Spekulation zu sein. In diesem Drama werden verschiedene Ttigkeiten des Menschen denn auch hufig, zuweilen in berraschender Weise, mit dem Geschlechtsverkehr assoziiert, was vermuten lßt, daß die sexuelle Thema19 Fichte, Bd. 6, S. 89. 20 Thomas Michael Mayer: Georg Bchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk. – In: GB I/II, S. 365. Vgl. hierzu korrigierend dann T. M. Mayer: Bausteine und Marginalien. – In: GBJb 1 (1981), S. 192.
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tik in Bchners Gedanken eine beraus große Rolle einnahm. Diderot bemerkt ironisch, HelvUtius Lehre in De lhomme, die alles auf den Grundsatz des Vergngens bezieht, habe ihren Ursprung in der Lsternheit des Verfassers selbst.21 Von Diderots Standpunkt aus mßte der Sensualismus auch fr Bchner eigentlich ein adquates Gedankensystem gewesen sein. Wom.glich bewog Bchner seine eigene Neigung zur Sinnlichkeit unwillkrlich dazu, Marion das reizendste Aussehen zu verleihen. Außerdem k.nnte man auch die Hypothese aufstellen, daß Bchners naturwissenschaftlich-antiteleologischer Satz: »Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da« (HA II, S. 292) eine enorme anthropologische Bedeutungsbreite besitzt, so daß Marions heikle Existenz darunter gleichermaßen subsumiert werden kann. Dem jungen Dichter, der kompromißlos nach einem absoluten Prinzip suchte, um die Menschheit von jedwedem Mangel endgltig zu befreien, schwebten vermutlich manche Ideen in noch unausgegorenem Zustand vor, und anarchistische Gedanken waren zweifellos darunter. Insoweit ist logischerweise sogar eine Interpretation m.glich, die – auch um den Preis der historischen Realitt willen – in Marion und den Dantonisten eine sexuell-emanzipatorische Funktion erkennen will. Aber man kann trotz alledem nicht leugnen, daß in Dantons Tod noch immer die idealistische Liebesauffassung beibehalten wird, die Bchners Freund Muston in seinem Memoire andeutet: Bchner »hat sich in einer Art mystischen Anbetung in ein gefallenes Mdchen verliebt, das er auf die Stufe von Engeln zu erheben trumte.«22 Diese Episode ist insofern bedeutsam, als Bchner dieses Mdchen auf eine Weise verehrte, die, vom Charakter der Marion-Figur aus beurteilt, berraschen muß. Konnte berhaupt der Agitator des Hessischen Landboten, der die auf Kosten verarmter Bauern in sinnlichem Vergngen schwelgenden Leute aufs heftigste angegriffen hatte, den blinden Genuß glattweg bejahen? Sicher sieht es auf den ersten Blick so aus, als bliebe Marion von der Kritik des Autors verschont, aber Bchner gibt ihr eine Schlsselstellung bei seinem Versuch, das Problematische des Sensualismus bloßzustellen. Im Gegensatz zur Marie in Woyzeck, die nach dem Treuebruch von Schuldgefhlen und Reue gepeinigt wird, ist Marion quasi als die Libido schlechthin dargestellt, die sich allen gesellschaftlichen und moralischen Normen zum Trotz durchsetzen will. Da es fr sie auf eins hinausluft, »an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen« (HA I, S. 22), steht sie auf demselben Niveau des ethischen Relativismus wie Danton und Payne; ihr abnormes Naturell treibt sie aber weiter zum ethischen 21 Vgl. Denis Diderot: Œuvres complWtes. Bd. 2. – Paris 1875 (Liechtenstein 1966), S. 312. 22 Heinz Fischer: Georg Bchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Bchner-Fund. – Mnchen 1987, S. 273 f.
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Nihilismus. Wie oben gesehen, hngt das Urteil ber B.ses und Gutes nach HelvUtius vorerst vom Temperament des einzelnen Menschen ab, so daß der Tugendbegriff im wesentlichen rein subjektiv konzipiert wird. Vielleicht war sich HelvUtius der subjektivistischen Wesenszge seiner Morallehre bewußt, so daß er mit seiner geschickten Argumentation ihre Mngel verdecken wollte; er hlt nmlich die Unterschiede angeborener Temperamente unter den Menschen fr so geringfgig, daß sie durch schulische und soziale Erziehung durchaus aufzuheben seien. Infolgedessen beteuert er in letzter Instanz: »Tous peuvent en avoir la mÞme idUe«.23 Eben diese prstabilierte Harmonie zwischen Objektivitt der Tugend und Subjektivitt des Temperaments zerst.rt Marion durch ihr absonderliches Naturell, indem sie feststellt: »Meine Natur war einmal so, wer kann da drber hinaus?« (HA I, S. 22.) Somit kann man Bchners Taktik in dieser Hinsicht deutlich durchschauen. Einerseits lßt er Danton und Payne ihr Credo als Sensualisten formulieren, in dem jedoch die moralischen Forderungen von HelvUtius bzw. Holbachs Lehrsatz gnzlich weggelassen sind. Andererseits differenziert er am Beispiel Marion die einzelnen Temperamente insoweit, daß eine Vermittlung nicht mehr m.glich zu sein scheint. Durch dieses doppelte Verfahren will er die Ketten der Logik, die bei HelvUtius die Interessen der Individuen und die der Gesellschaft miteinander verbinden sollen, sprengen. Dadurch er.ffnet sich dem Leser die Aussicht auf eine Welt, worin moralische Maximen verschwinden und jeder Mensch seinen Eigennutz als Gemeininteresse oder gar als Gerechtigkeit bezeichnet, so wie Laflotte seinen Verrat mit der signifikanten Ausrede rechtfertigt: »Der Schmerz ist die einzige Snde und das Leiden ist das einzige Laster, ich werde tugendhaft bleiben.« (HA I, S. 56.) Wahrscheinlich hat Bchner den bourgeoisen Charakter des Sensualismus deutlich erkannt, whrend HelvUtius, in dem den Enzyklopdisten gemeinsamen Optimismus befangen, ihn nicht einmal ahnte. Dantons Tod enthlt in diesem Sinne die Prophezeihung, daß der Sensualismus als solcher dazu beitrgt, den harten Kampf der egoistischen Interessen der Menschen in der brgerlichen Gesellschaft hervorzubringen, indem er die unumschrnkte Befriedigung ihrer Begierden legitimiert. Es kann nicht bezweifelt werden, daß Bchner eine Ideologie auf ihre ethische Gltigkeit hin zu prfen pflegte. Um dies auch dichterisch zu tun, konfrontierte er den franz.sischen Sensualismus bzw. Materialimus mit dem deutschen Idealismus. Gew.hnlich wird bei diesem Konflikt nur der Sieg der ersteren hervorgehoben, so wie in Woyzeck der naturgetreue materialistische Moralbegriff des Musketiers den voluntaristischen des Hauptmanns und Doktors bertrumpft. Aber Bchner verwendet ebenso das umgekehrte Verfahren. Wie an Marions Mo23 HelvUtius, S. 464.
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nolog zu sehen, legt er den Aussagen der Sensualisten im Drama Dantons Tod manchmal Fichtes Texte zu Grunde, um ihnen eine ironische Schattierung zu geben. Ein weiteres Beispiel dafr bietet Dantons Angriff auf Robespierre. Fichte charakterisierte nmlich in Die Grundzge des gegenw2rtigen Zeitalters die routineartige Beweisfhrung, von der die Sensualisten bei der Kritik an den Idealisten Gebrauch machen, und schrieb: »In Absicht der Sittlichkeit wird es [das dritte Zeitalter – K. T.] das fr die einzige Tugend anerkennen, dass man seinen eigenen Nutzen bef.rdere […]; und fr das einzige Laster, seines Vortheils zu verfehlen. Es wird behaupten, – und da es ihm nicht schwerfallen kann, fr jede m.gliche Handlung eine unedle Triebfeder zu finden, indem es ja das Edle durchaus nicht kennt, – es wird sogar beweisen, dass wirklich alle Menschen, die jemals gelebt haben und leben, also gedacht und gehandelt haben, und dass es berhaupt gar keinen anderen Antrieb im Menschen gebe, als den des Eigennutzes […]. Es wird mit unaussprechlichem Mitleid und Bedauern herabsehen auf die frheren Zeitalter, in denen die Menschen noch so bl.dsinnig waren, durch ein Gespenst von Tugend und durch den Traum einer bersinnlichen Welt den ihnen schon vor dem Munde schwebenden Genuss sich entreissen zu lassen«.24
Solch scharfe T.ne kann man bei HelvUtius bzw. Holbach nirgends vernehmen. Es kann als sicher gelten, daß Danton auf dem Hintergrund eben dieser Formulierung Robespierre attackiert. Aus diesem Sachverhalt leitet sich wenigstens die folgende Vermutung ab: In der Sensualismuskontroverse steht Bchner nicht vorbehaltlos auf der Seite seines Danton, sondern er beurteilt diese Ideologie zugleich auch vom Fichteschen Standpunkt aus.
5. Atheismus Was die theologische Diskussion am Anfang des dritten Aktes anbetrifft, so hlt Bchner anscheinend an dem atheistischen Standpunkt fest. Zum Beispiel entspricht Paynes Theologiekritik derjenigen von Holbach in SystÞme de la nature in hohem Maße. An der zweiten These des englischen Theologen Clarke: »Un Þtre indUpendant et immuable a existU de toute UternitU«, bt Holbach folgende Kritik: »si cet Þtre [Gott – K. T.] a crUU la matiere ou enfantU lunivers, il fut un tems od il voulut que cette matiere et cet univers existassent, et ce tems fut prUcedU dun autre tems od il avoit voulu quils nexistassent point encore.«25 Daraus schließt Holbach: »par consUquent il ne peut Þtre appellU immuable 24 Fichte, Bd. 7, S. 30 f. 25 Paul-Henri-Thiry Baron DHolbach: SystÞme de la nature ou des loix du monde physique et du monde morale. Bd. 2. – London 1770 (GenYve 1973), S. 102 f.
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quant _ sa faXon dexister.«26 Der Beweismethode Holbachs, auf Gott den Begriff der Zeit und der Inkonsistenz anzuwenden, um logische Widersprche aufzudecken, folgt Payne im Drama exakt. Zudem st.ßt man kurz danach auf weitere analoge Ausdrcke. In bezug auf Clarkes fnfte These: »LÞtre qui existe par lui-mÞme doit Þtre infini et prUsent par-tout«, schreibt Holbach: »Si Dieu pUnYtre la matiere, il est matUriel et se confond avec lunivers, dont il est impossible de le distinguer; et par une suite nUcessaire Dieu ne peut jamais se sUparer de la matiere; il sera dans mon corps, dans mon bras […].«27 Im Drama meint Payne, wenn die Sch.pfung ewig sei, werde »der liebe Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Tripper haben« usw. (HA I, S. 47.) Paynes Formulierung klingt hier ein bißchen zu kraß, wie es bei Bchner .fters geschieht, aber sie wurde h.chstwahrscheinlich von der Beweisfhrung Holbachs angeregt. Festzuhalten wre jedenfalls, daß der Dichter bei der Theologiekritik derselben Argumentation wie der franz.sische Materialist folgt. Doch wenn Payne das Gesprch fortsetzt, um seine atheistische Stellungnahme nher zu begrnden, kommt eine betrchtliche Abweichung von Holbach zum Vorschein. Payne grndet seine Rberzeugung letzten Endes auf den Umstand, daß nur der Verstand Gott beweisen k.nne, das Gefhl sich aber gegen ihn emp.re, und daß der Schmerz demzufolge der »Fels des Atheismus« sei. Fr Bchner bedeutet es schon eine extreme Absurditt, daß die Sch.pfung mit dem Schmerz beladen ist, wobei fr ihn »Schmerz« der Inbegriff aller menschlichen Leiden, einschließlich des Todes, bedeutet. Wie schon gesehen, ist der Schmerz auch fr die sensualistischen Materialisten sicherlich das B.se, aber Vergngen und Schmerz betrachten sie letztlich als naturgesetzliche Phnomene wie Anziehungs- und Abstoßungskraft. Schmerz und Tod sind allemal »dans lordre de la nature«,28 wie Holbach schreibt. Der Schmerz sei insofern sogar ntzlich, als »[u]n Þtre que son organisation rend sensible, doit, daprYs son essence, fuir tout ce qui peut endommager ses organes, et mettre son existence en danger.«29 Konnte Bchner eine solche sachlich physiologische Schmerzauffassung akzeptieren, indes er seinen Payne in der Debatte den letzten Trumpf folgendermaßen ausspielen ließ: »Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Sch.pfung von oben bis unten«? (HA I, S. 48.) Diese Worte bezeugen erneut Bchners unvers.hnliches Begehren nach einem absoluten Prinzip, um den Menschen von allen Leiden der Welt in extenso und entschieden zu erl.sen. 26 27 28 29
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Holbach, Bd. 2, S. 103 f. Ebd., S. 107. Holbach, Bd. 1, S. 61. Ebd., S. 64.
Im Brief an die Eltern vom Februar 1834 steht ein diesbezglich bedeutsames Bekenntnis: »Man nennt mich einen Sp,tter. Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darber, daß er ein Mensch ist, wofr er ohnehin nichts kann, und lache dabei ber mich selbst, der ich sein Schicksal theile.« (HA II, S. 423.) Dieser Abschnitt deutet an, daß Bchner sich immer eines allmchtigen Wesens bewußt war und gelegentlich nicht anders konnte, als ber die Machtlosigkeit der Mitmenschen und seiner selbst, sowie die Kmmerlichkeit der menschlichen Existenz zu lachen. Das Gestndnis bekundet eben seinen Wunsch, aus dem Anziehungsbereich des Materialismus herauszutreten und zeigt seinen hybriden Rbermut, sich von der Beschrnktheit der menschlichen Konstitution befreien zu wollen. Diese Einstellung hngt sicherlich mit der Idee der »Tathandlung« von Fichte zusammen, die sich aus seinem Bewußtsein nicht einfach verdrngen ließ.
6. Der Konservatismus der franz.sischen Enzyklopdisten Niemand wird bestreiten, daß Bchner zu den von Grund auf kmpferischen Naturen geh.rt, die ihre Ansprche um jeden Preis durchzusetzen trachten und es entschieden ablehnen, an die Wirklichkeit, die sich ihrem Gebot nicht unterordnen will, Konzessionen zu machen. Die franz.sischen Enzyklopdisten neigen im Gegensatz dazu zum Kompromiß. Ein kennzeichnendes Beispiel dafr bietet Holbachs philosophisches Hauptwerk SystÞme de la nature. Im 11. Kapitel mit dem Titel »Du systÞme de la libertU de lhomme« versucht er energisch, die angebliche Willensfreiheit des Menschen abzustreiten, und zwar aufgrund der streng deterministischen Feststellung: »Nous sommes bien ou mal, heureux ou malheureux, sages ou insensUs, raisonnables ou dUraisonnables, sans que notre volontU entre pour rien dans ces diffUrens Utats.«30 Trotzdem unternimmt Holbach im nchsten Kapitel, »Examen de lopinion qui prUtend que le systÞme du fatalisme est dangereux«, jh eine vollstndige Wendung in seiner Darlegung und schreibt jetzt dem Menschen selbst die unumschrnkte Verantwortlichkeit fr seine eventuellen Taten zu. Das besagt jedoch keinesfalls, daß es Holbach gelungen ist, Notwendigkeit und Freiheit in dialektischer Beziehung aufzuheben. Sowohl das betreffende Kapitel wie das ganze Werk gewhrt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafr. Woher kommt dieser krasse Widerspruch? Der Schlssel zur L.sung dieser Frage liegt vermutlich in der folgenden Passage des 12. Kapitels: 30 Ebd., S. 187.
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»On nous dit en effet que, si toutes les actions des hommes sont nUcessaires, lon nest point en droit de punir ceux qui en commettent de mauvaises, ni mÞme de se fecher contre eux […]. Je rUponds […] quand mÞme on supposeroit que cette action fat leffet dun agent nPcessitP, limputation peut avoir lieu. Le mUrite ou le dUmUrite que nous attribuons _ une action, sont des idUes fondUes sur les effets favorables ou pernicieux qui en rUsultent pour ceux qui les Uprouvent«.31
Hier ermahnt Holbach quasi sich selbst zur Vorsicht: Wenn man alle Delikte fr notwendig anshe, dann mßte man alle Verbrecher freisprechen, was selbstverstndlich die soziale Ordnung aus den Fugen geraten ließe. Um dieser Gefahr vorzubeugen, sollte die Kriminalitt nicht der Ursache, sondern der Wirkung nach beurteilt werden. Whrend sich Bchner bemht, die Verantwortlichkeit des Menschen unter den vorgegebenen Bedingungen konsequent zu bestimmen, nimmt Holbach einfach zur Fiktion der Willens- und Entscheidungsfreiheit des Menschen Zuflucht, fr die sein strikt deterministisches Dogma eigentlich keinen Raum lßt. Die Freiheit des Menschen ist ihm daher schließlich nichts anderes als eine Art »kategorischer Imperativ«. Anders ausgedrckt: Holbach trennt hier Theorie und Praxis schroff voneinander. Mit dieser inkonsequenten Haltung steht Holbach aber nicht allein. AndrU Lichtenberger bezeichnet in Le socialisme au XVIIIe siWcle, dem klassischen Werk, das fr Durkheim und Soboul eine bedeutende Grundlage zur Erforschung der sozialistischen Geistesstr.mungen des 18. Jahrhunderts darstellte, die theoretischen Vorst.ße der franz.sischen Enzyklopdisten in toto als »une spUculation de morale qui na pas de valeur pratique.«32 Freilich sind die Enzyklopdisten alle berzeugte Atheisten bzw. Materialisten. Um mit dem Payne des Dramas zu sprechen, wagten sie es »mit Gott […] zu verderben« (HA I, S. 48). Dennoch sollte es nicht bersehen werden, daß sie »den K.nigen«, d. h. der weltlichen Macht gegenber eine andere Einstellung hatten. Daß HelvUtius spontan vor der Zffentlichkeit Abbitte tat, als sein Werk De lhomme wegen seines sozialkritischen Inhalts vom Pariser Appellationsgericht zur Verbrennung bestimmt wurde, ist hierfr exemplarisch. Bei Holbach war es sein konservatives Lebensprinzip, das eigene Interesse mit dem anderer Leute, auch mit der herrschenden Schicht der Gesellschaft, in harmonisches Einvernehmen zu bringen,33 was ihn dazu zwang, seinen deterministischen Erkenntnissen ihre revolutionre 31 Ebd., S. 224 f. 32 Vgl. AndrU Lichtenberger: Le socialisme au XVIIIe siWcle. Ttude sur les idPes socialistes dans les Pcrivains franZais du XVIIIe siWcle avant la RPvolution. – Osnabrck 1970, S. 268. 33 Holbach beteuert: »Etre vertueux, cest donc placer son intUrÞt dans ce qui saccorde avec lintUrÞt des autres« (Bd. 1, S. 317).
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Schrfe zu nehmen, indem er dem Menschen a priori die Verantwortlichkeit fr sein Tun zusprach.34 La Mettrie sagt in SystWme d Epicure: »Moins dUlicat en amitiU, en amour etc., plus aisU _ satisfaire et _ vivre, les dUfauts de confiance dans lami, de fidUlitU dans la femme et la maitresse, ne sont que de lUgers dUfauts de lhumanitU, pour qui examine tout en Physicien […]. Le MatUrialisme est lantidote de la Misantropie«.35 Hier ist die fr die franz.sischen Enzyklopdisten typische selbstgengsame Haltung deutlich ausgeprgt. HelvUtius Grundsatz »fuir la douleur, chercher le plaisir« luft letzten Endes darauf hinaus, den Ursachen des Schmerzes im privaten wie im .ffentlichen Leben m.glichst aus dem Weg zu gehen und ernsthafter Auseinandersetzung mit sozialen Problemen praktisch auszuweichen. Im Grunde genommen ist dies nichts als der beschauliche, private Eudmonismus Epikurs. Hier zeigt sich eben die bourgeoise Grenze ihrer theoretischen Leistungen, wie ich im SensualismusAbschnitt bereits konstatiert habe. Man muß sich daran erinnern, daß fr Bchner die Einheit von Theorie und Praxis, auf die Fichte vor allem Nachdruck gelegt hat, ein entscheidend wichtiges Anliegen war, und daß er Intellektuelle an ihrem Verhltnis zum Volk und dessen »heiligem Geist« zu messen pflegte, wie der Brief vom Februar 1834 ausweist. Die kompromißbereite Mentalitt der franz.sischen Philosophen bedeutete ihm wahrscheinlich eine Art von »Aristocratismus« (HA II, S. 423), der vornehmlich den Genuß der wohlhabenden Leute verteidige.36 Unbestreitbar bernahm Bchner viel von ihnen, aber bei nherer Betrachtung stellt sich die Differenz zwischen den beiden Seiten besonders in den Kernaussagen heraus. Das liegt in erster Linie daran, daß es dem franz.sischen Materialismus, der sich noch auf einer vormarxistischen Stufe befand, an der Einsicht in die Subjektivitt, d. h. in die menschliche Praxis mangelte. Man geht kaum fehl, wenn man annimmt, daß Bchner bei allen Angriffen auf den Idealismus manchmal auf Fichtes Philo34 Lichtenberger beschreibt: »Dailleurs, leurs dUclamations nentrafnent pas la demande de rUformer trYs nombreuses, ni surtout bien hardies; quand ils ont lair dÞtre violents, cest que leur sensibilitU les entrafne, et les correctifs sont nombreux. Enfin, ces questions ne tiennent quune place restreinte dans leur œuvre et ils ne dUdaignent pas de se contredire frUquemment.« (S. 268.) Man kann annehmen, daß das 12. Kapitel von SystÞme de la nature eben diese »place restreinte« betrifft. 35 La Mettrie, S. 369 f. 36 Holbach schreibt ber die Armut: »Lindigence tend tous les ressorts de lame, elle est mere de lindustrie; cest de son sein que lon voit sortir le gUnie, les talents, le mUrite auxquels lopulence et la grandeur sont forcUes de rendre hommage. Enfin les coups du sort trouvent dans le pauvre un roseau flexible qui cede sans se briser.« (Bd. 1, S. 345.) Aus dieser Passage kann man mutmaßen, daß die Misere des dritten Standes von vornherein außerhalb seines Gesichtskreises lag.
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sophie, die Hypostasierung menschlichen Denkens bzw. menschlicher Praxis, zurckgriff.
7. Diderots Unsterblichkeitslehre In der Diskussion der Dantonisten im Kerker sagt Philippeau feierlich, die Ruhe sei in Gott. Diese orakelhafte Erklrung veranlaßt Danton zu der merkwrdigen Entgegnung: »[Die Ruhe ist – K. T.] Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die h.chste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer!« (HA I, S. 61.) Dantons Klage klingt hier befremdlich. Allerdings schreibt Holbach in SystÞme de la nature in apodiktischer Weise: »rien ne naft et ne meurt dans la nature«.37 Daß sich die Materie, Aufl.sung und Verbindung wiederholend, in ewiger Bewegung befindet, ist eine selbstverstndliche Tatsache fr den Materialisten. Trotzdem, wenn wir einmal sterben, muß doch auch unser Bewußtsein erl.schen, und wir werden zu Nichts. Jedoch dachte Diderot, ein bedeutender Vertreter des franz.sischen Materialismus, anders. Zieht man Diderots seltsame Unsterblichkeitslehre in Betracht, so wird die Widersprchlichkeit in Dantons Klage zu einem wesentlichen Teil aufgel.st. Diderot nahm nmlich an, daß das Gefhl ein Attribut der Materie sei. In Tlements de physiologie behauptet er: »le cœur, les poumons, la rate, la main, presque toutes les parties de lanimal vivent quelque temps sUparUes du tout. La tÞte mÞme sUparUe du corps voit, regarde et vit. Il ny a que la vie de la molUcule, ou sa sensibilitU qui ni cesse point. Cest une de ses qualitUs essentielles. La mort sarrÞte l_.«38
Seiner Vorstellung zufolge kann der Tod, wenn er schon einem Organismus das Leben nimmt, dessen Molekle nicht ebenso zerst.ren, und die Gefhle, die das Lebewesen bislang empfand, bleiben in ihnen erhalten. Diese esoterische Lehre von der Unsterblichkeit nennt Diderot, wie sich spter zeigen wird, »douce«. Hingegen ist sie fr Danton ußerst grausam. Im zweiten Akt bringt er im Monolog auf dem Weg zur Flucht den Gedanken zum Ausdruck, sein Gedchtnis sei sein Erzfeind, er hoffe, daß der Tod vielleicht noch krftiger wirke als eine Krankheit, »die einem das Gedchtniß verlieren mache.«39 (HA I, S. 39.) 37 Ebd., S. 40. 38 Denis Diderot: Œuvres complWtes. Hrsg. v. Herbert Dieckmann u. Jean Varloot. Bd. 17. – Paris 1987, S. 44. 39 Die philologischen Bezge dieser Iußerung Dantons sind, wie die seiner vorhergehenden bizarren Klage ber die Unsterblichkeit, bisher noch nicht geklrt worden. Aber die folgende Passage in Rousseaus Du contrat social scheint darauf einen Einfluß ausgebt zu haben: »Ce nest pas que, comme quelques maladies
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Hier kommt es Danton auf die Erinnerung an den Septembermord an, die in der darauffolgenden Szene pl.tzlich wieder lebendig wird und ihn bis ins Tiefste erschttert. Dies veranschaulicht, wie sehr er sich vor dieser Reminiszenz frchtet. Diderots Unsterblichkeitslehre gemß wrden jedoch die Atome, aus denen sich Dantons K.rper zusammensetzt, sogar noch nach seinem Tod von dem peinigenden Gefhl dieser Erinnerung nicht entbunden und auf ewig gemartert werden. Dantons Worte beim Gesprch in der Conciergerie, wie etwa »[…] wer an Vernichtung glauben k.nnte! dem wre geholfen« (HA I, S. 61), oder »[d]as Nichts hat sich ermordet« (HA I, S. 61), verleihen in erster Linie seiner Verzweiflung Ausdruck, daß er keine Rettung mehr finden werde, angeblich selbst nach dem Tod nicht. In derselben Szene vergleicht Camille die Welt mit dem ewigen Juden, der nicht sterben kann, was ebenfalls genau in diesen Sinnzusammenhang paßt. Schließlich sucht Danton nur noch in der Hoffnung Trost, daß er nach der Hinrichtung vielleicht bei Julie Ruhe finden k.nne. »D a n t o n. O, Julie! Wenn ich a l l e i n ginge! Wenn sie mich einsam ließe! Und wenn ich ganz zerfiele, mich ganz aufl.ste – ich wre eine Handvoll gemarterten Staubes, jedes meiner Atome k.nnte nur Ruhe finden bey ihr.« (HA I, S. 61)
Es kann als sicher angenommen werden, daß dieses absurde Gestndnis abermals aus Diderot stammt, denn Diderot schrieb an seine Freundin Sophie Volland ber das ewige Leben nach dem Tod: »O ma Sophie, il me resteroit donc un espoir de vous toucher, de vous sentir, de vous aimer, de vous chercher, de munir, de me confondre avec vous, bouleversent la tÞte des hommes et leur ctent le souvenir du passU, il ne se trouve quelquefois dans la durUe des Utats des Upoques violentes od les rUvolutions font sur les peuples ce que certaines crises font sur les individus, od lhorreur du passU tien lieu doubli, et od lUtat, embrasU par les guerres civiles, renaft pour ainsi dire de sa cendre, et reprend la vigueur de la jeunesse en sortant des bras de la mort.« (J. - J. Rousseau: Du contrat social ou principes du droit politique. – Paris 1978, S. 48.) Rousseaus Formulierung von den »Krankheiten, die den Kopf der Menschen verwirren und ihnen das Gedchtnis der Vergangenheit rauben«, entspricht der obenerwhnten Stelle vollkommen. Darber hinaus verdient Rousseaus eigentmliche Anschauung von der Revolution hier Beachtung. Er vergleicht die Geschichte eines Volkes mit dem Lebensgang des Menschen und steht der M.glichkeit sehr skeptisch gegenber, daß sich das alte Volk durch die Revolution verjngt. Gleichwohl rumt er auch einem alten Volk eine geringe Chance ein, daß sein Staat, wie z. B. Sparta zu Lykurgs Zeiten, jugendliche Krfte wiedererlange, nachdem er erst durch Brgerkriege niedergebrannt, sich aber den Armen des Todes entrissen habe, sozusagen aus der Asche wiedererstanden sei. Vielleicht dachte Bchner an diese Passage des Du contrat social, als er seinem St. Just den Mythos von Medea mit beißender Ironie in den Mund legte. Beabsichtigte er, mit dem Bild des zerstckelten Leibes des alten Pelias die Unm.glichkeit oder Sinnlosigkeit der Revolution darzulegen? Dabei ist es natrlich nicht zu entscheiden, ob sich seine Negation auf die jakobinische Revolution beschrnkte oder nicht.
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quand nous ne serons plus! Sil y avoit dans nos principes une loi daffinitU, sil nous Utoit rUservU de composer un Þtre commun, si je devois dans la suite des siYcles refaire un tout avec vous, si les molUcules de votre amant dissous venoient _ sagiter, _ se mouvoir et _ rechercher les vctres Uparses dans la nature! Laissez-moi cette chimYre; elle mest douce; elle massureroit lUternitU en vous et avec vous.«40
In bezug auf den Tod nimmt Diderot eine Sonderstellung unter den franz.sischen Enzyklopdisten ein. Fr diese war der Tod lediglich das Ende eines organischen Lebens, poetischer gesagt, der ewige Schlaf, wie La Mettrie schreibt: »on se sent mourir, comme on se sent dormir, ou tomber en foiblesse, non sans quelque voluptU.«41 Dagegen hielt Diderot viel von der Idee der Unvergnglichkeit des menschlichen Seins. Das bedeutet, daß »perhaps he had not gone so far down the path of atheistical materialism as many believed.«42 Die Hypothese, daß Bchner beim Studium des franz.sischen Materialismus auf Diderots Unsterblichkeitstheorie gestoßen sei und sie ins Drama einbezogen habe, weist darauf hin, daß sich Bchners Interesse unausgesetzt auf die Unsterblichkeitsthematik richtete, obwohl sie fr Danton die Ursache aller Qual ausmacht. Die Ewigkeit ist bereits einer der Kernbegriffe der Schulaufstze Bchners gewesen. So schrieb er in Helden-Tod: Der Mensch, der im »Kampfe mit seinem Schicksale« alles einsetzt, erkauft sich »mit dem kleinen Reste des Lebens […] Unsterblichkeit« (HA II, S. 7). Nach Rudi Dutschke scheidet dieser Begriff den Dichter von dem Materialisten, weil er als das Ziel des Lebens nicht »ein befreiendes oder befreites gesellschaftliches Da-sein«43 wie Marx setzt, sondern die Unsterblichkeit. Insofern dieser Begriff ein Rberbleibsel des idealistischen Stoizismus ist, bedeutet dieser Umstand, daß Bchner sich noch um diese Zeit mit der idealistischen Philosophie auseinandersetzte.
40 Denis Diderot: Correspondance II. Recueillie, Utablie et annotUe par George Roth. – Paris 1956, S. 284. 41 La Mettrie, S. 376. 42 John McManners: Death and the Enlightenment. Changing Attitudes to Death among Christians and Unbelievers in Eighteenth-century France. – New York 1981, S. 166. 43 Rudi Dutschke: Georg Bchner und Peter-Paul Zahl, oder: Widerstand im -bergang und mittendrin. – In: GBJb 4 (1984), S. 17.
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Der relative Zuwachs revolutionrer Wirklichkeit in Georg Bchners Revolutionsdrama Dantons Tod Von Ulrike Dedner (Tbingen)
Im dritten Jahr der Grande RUvolution berichtet der deutsche Revolutionsbeobachter Johann Friedrich Reichardt aus Lyon ein verst.rendes Theatererlebnis in die Heimat: »Das Theater ward am Ende zu einer f.rmlichen Clubsession; es wurden Motionen gemacht und pour et contre opinirt.«1 Was war vorgefallen? Eine vermeintlich harmlose Operette hatte ber mehrere Wochen die Gemter der Lyoneser citoyens erhitzt. Schon die im Titel Le Club des bonnes gens anklingende Jakobinerparodie war dazu angetan, das Stck zu einem Politikum ersten Ranges zu machen. Daß die Verspotteten den gegen sie gefhrten Angriff zudem erst mit erheblicher Verz.gerung begriffen, steigerte die Schmach ins Unertrgliche, so daß sich der aufgestaute Zorn schließlich bei laufender Vorstellung gegen die Schauspieler entlud. Daraufhin kam es auch im Publikum zu Tumulten, die in den handgreiflichen Austrag der politischen Fraktionskmpfe mndeten. In eben diesem Moment befand sich der zitierte Reichardt unter den Zuschauern. Wie sein Landsmann Joachim Heinrich Campe war er ins Mutterland der Revolution gereist, um als sympathetisch begeisterter Zuschauer von den »großen, wunderbaren Schauspiele[n]«2 auf Frankreichs politischer Bhne nach Deutschland zu berichten. Ausgerechnet im Theater, aus dessen Bereich die sthetische Beschreibungssemantik der Revolution als ›Schauspiel‹ entlehnt ist, fand sich Reichardt nun seiner angestammten Zuschauerrolle beraubt und unfreiwillig in einen entfesselten politischen Disput involviert, der ber die Theaterrampe hinweg noch den vermeintlich sicheren Zuschauerraum ergriff. Reichardts ernchternde Konfrontation mit der Realitt des revolutionren Theaters, in dem der furor politicus umstandslos die sthetische 1 J. Frei [d. i. Johann Friedrich Reichardt]: Vertraute Briefe ber Frankreich auf einer Reise im Jahr 1792 geschrieben. – Berlin 1792, S. 326. 2 Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. Mit Erluterungen, Dokumenten und einem Nachwort v. Hans-Wolf Jger. – Hildesheim 1977, S. 1.
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Veranstaltung und ihre institutionalisierte Trennung von Zuschauern und Protagonisten sprengen konnte, darf dabei exemplarische Bedeutung beanspruchen. Denn aus dem Schock, den der erklrte Revolutionsfreund an seinem gleichsam symbolischen Ort im Zuschauerraum erlebt, lßt sich ein tiefgreifender Unterschied zwischen der deutschen und der franz.sischen Wahrnehmung der Revolution erhellen. Das Fallen der Theaterrampe steht stellvertretend fr jene vollstndige Durchdringung des Politischen und des Isthetischen, die fr die Konstitutionsform der revolutionren Zffentlichkeit in Frankreich insgesamt charakteristisch ist und als theatralische Praxis den politischen Enthusiasmus der Revolutionsreden ebenso imprgniert wie die przise choreographierten Revolutionsfeste3 und ritualisierten Hinrichtungen auf der ›Blutbhne‹ geheißenen Guillotine.4 Ein solcher Distanzverlust konnte nicht im Sinne des besonnenen Beobachters Reichardt sein, nach dessen Vorstellung die Revolution ein wrdiges Schauspiel bleiben sollte, das sich aus der Zuschauerloge ungefhrdet an Leib und Leben ergriffen bewundern ließ. In einer aufschlußreichen Selbststilisierung muß Reichardt deshalb versuchen, zumindest nachtrglich die souverne Beobachterrolle zu restituieren. Durch den beherzten Gebrauch der distanzierenden Lorgnette will er sich im und gegen den allgemeinen Tumult behauptet haben: »Ich stand in dem ersten Rang Logen, und sah, wie gew.hnlich, durch die Lorgnette […] so dachte man vielleicht, ich wollte einige aussuchen, um sie anzuzeigen. Deshalb schrie man: [ bas la lorgnette! (weg mit der Lorgnette!) und wenn ich sie einmal nicht vor die Augen hielt: prenez donc la lorgnette, Monsieur! (Nehmen Sie doch die Lorgnette!). Aber im Parterre h.rte W** Viele sagen: laissUs [sic] le faire, il a lair dun Utranger (laßt ihn nur, er scheint ein Fremder zu seyn).«5
Die Abarbeitung des bedrohlichen Theatererlebnisses stellt auf dieser sekundren, deutlich inszenierten Ebene aber nicht allein die bedrohte Souvernitt des Zuschauers wieder her; folgt man seiner Schilderung, so hat sich der unerschrockene auslndische Beobachter darber hinaus 3 Breit dargestellt findet sich dieser Aspekt der Revolution bei Mona Ozouf: La fÞte rPvolutionnaire 1789 – 1799. – Paris 1976; vgl. auch Inge Baxmann: Die Feste der Franz,sischen Revolution. Inszenierungen von Gesellschaft als Natur. – Weinheim, Basel 1989 und Gerhart von Graevenitz: ›Die Herrscheradvente der Franz,sischen Revolution‹. – In: ders.: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. – Stuttgart 1987, S. 165 – 171. 4 Vergleiche v. a. den dritten Teil ›Le thP\tre de la guillotine‹ in der einschlgigen Studie von Daniel Arasse: La Guillotine et limaginaire de la Terreur. – Paris 1987, S. 109 – 164. 5 J. Frei [d. i. Johann Friedrich Reichardt]: Vertraute Briefe ber Frankreich (s. Anm. 1), S. 334 f.
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noch den Beifall der revolutionren Nation erworben, die (in vollstndiger Verkehrung der Ausgangskonstellation) als fasziniertes Publikum den unerschtterlichen deutschen Rberblick akklamiert: »Auch gefiel es ihnen, daß ich mich nicht an ihr Rufen kehrte, und die rechten Schreier nur immer genauer und schrfer lorgnirte. Am Ende ward ich vom Parterre f.rmlich applaudirt.«6
Den von Reichardt in seiner schockierenden Konfrontation mit dem Revolutionstheater tapfer verteidigten Zuschauerstatus wird man in Deutschland geschichtsphilosophisch berh.hen. Im Jahre 1798 auf das sich vollendende Revolutionsdezennium zurckblickend, hat etwa Immanuel Kant geltend gemacht, daß nicht die politische Revolution im Nachbarland jenes bedeutungsschwere »Geschichtszeichen« gewesen sei, das der ganzen Menschheit ihr aufgeklrtes »Fortschreiten zum Besseren« verbrgen k.nne, sondern »die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen .ffentlich« bezeugt habe: »Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend oder Greueltaten dermaßen angefllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glcklich auszufhren hoffen k.nnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen wrde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemtern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Iußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als die moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.«7
Damit wird die von Reichardt idealtypisch verk.rperte Distanz des Zuschauers als unabdingbare Voraussetzung jener »geistigen Revolution« (Fichte) des deutschen Idealismus lesbar, der bekanntermaßen fr sich beanspruchte, jenseits der ernchternden historischen Realitt in effigie die Erhabenheit der menschlichen Bestimmung zu bewahren und zu besttigen. Auch in Georg Bchners Revolutionsdrama Dantons Tod (1834/35), mit dem ich mich im folgenden beschftigen werde, kommt der aus deutscher Perspektive als h.chst befremdlich empfundenen Rberlagerung des Isthetischen mit dem Politischen offensichtlich eine zentrale Bedeutung zu; so etwa, wenn Robespierre in seiner – den Tod Dantons, d. i. die Handlung des Dramas antizipierenden – Rede vor dem Jakobinerklubb (I,3) zur Legitimation revolutionrer Gewalt das Gattungs6 Ebd., S. 335. 7 Immanuel Kant: Der Streit der Fakult2ten. – In: ders.: Werke in zw,lf B2nden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 11. – Frankfurt a. M. 1964, S. 357 f.
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muster des »erhabne[n] Drama[s]« (S. 14)8 aufruft. Es handelt sich hierbei um ein historisch verbrgtes Robespierre-Zitat,9 mit dem jene nachhaltige Dramatisierung der revolutionren Zffentlichkeit in den Text gebracht wird, die – wie exemplarisch an Reichardts Verarbeitung seines Theaterschocks gezeigt werden konnte – fr die deutsche Rezeption zum Ansatzpunkt sowohl der Kritik an der Revolution wie auch ihrer idealistischen Rberbietung geworden war. Dies vorausgesetzt, erscheint es naheliegend, das bis heute bekannteste deutsche Revolutionsdrama auch aus dem Horizont einer spezifisch deutschen Revolutionsrezeption zu lesen, d. h. nach einer dem Stck eingeschriebenen Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung der Franz.sischen Revolution in der deutschen literarischen und philosophischen Tradition zu fragen. Dabei werde ich I. die in Dantons Tod omniprsente Schauspielmetaphorik untersuchen, II. das sogenannte Kunstgesprch (II,1) und die darin entwickelte poetologische Fragestellung diskutieren, um III. schließlich ausgehend von der einschlgigen Simon-Szene (I,2) eine Deutung der dramaturgischen Umsetzung des ›Revolutionsschauspiels‹ in Bchners eigenem Drama zu versuchen.
1. Das metaphorische Feld des Theaters Die bereits zitierte dritte Szene des ersten Aktes von Dantons Tod zeigt einen agitierenden Robespierre, der in seiner Rede vor dem Jakobinerclub das »erhabne Drama der Revolution« (S. 14) beschw.rt und dabei in revolutionstypischer Manier die politische Aktion und deren (im doppelten Sinne) dramatische Deutung miteinander amalgamiert. Der politisch-ideologische Konflikt, den die Jakobiner jngst mit den HUbertisten ausgetragen haben und das Exempel, das sie im folgenden an den Dantonisten statuieren werden, wird hier also mit Hilfe sthetischer Kategorien gedeutet bzw. von solchen prludiert. In Robespierres Formulierung ist der t.dliche Konflikt der Jakobiner mit den sogenannten »inneren Feinde[n] der Republik« (S. 14) als ein Geschichtsdrama legitimiert, das – so zeigt es das Gattungsattribut »erhaben« an 8 Dantons Tod wird zitiert nach der Ausgabe: Georg Bchner: Dantons Tod. Marburger Ausgabe (MBA), Bd. 3.2 (Text, Editionsbericht). Bearbeitet von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. – Darmstadt 2000. Zitatnachweise erfolgen mit Angabe der Seitenzahl im fortlaufenden Text des Aufsatzes. 9 Bchner zitiert hier aus Robespierres am 5. Februar 1794 im Konvent gehaltenen Rede -ber das Prinzip der politischen Moral nach Carl Strahlheims Die Geschichte Unserer Zeit, Bd. 12. – Stuttgart 1828, S. 45. Im Original lautet die Wendung »le drame sublime de la rUvolution«. – In: Archives Parlementaires de 1787 [ 1860. Bd. 84. – Paris 1962, S. 335.
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– dem Trag.dienmuster folgt. Es ist deshalb konsequent, daß seine Rede in dem »große[n] Beispiel« (S. 17) kulminiert, das er der Republik (als Reprsentanz des Allgemeinen) mit der Guillotinierung der Dantonisten verspricht. In Robespierres totalitrem Gebrauch der Theatermetaphorik bestimmen sich die staatlichen Suberungen letztlich zum »Beweis auf die Absolutheit der dramatischen Form als Bildungsgesetz der Geschichte«,10 wenn die blutige Durchsetzung des Allgemeinen qua Zirkelschluß wiederum aus der trag.dialen Form selbst legitimiert wird. In Robespierres Theatermetaphorik fallen Auslegung und Produktion von Geschichte zusammen, wie es sprachlich aufs ußerste verdichtet die Genitivkonstruktion vom »erhabne[n] Drama der Revolution« ausspricht, in der die Revolution zugleich als grammatisches Subjekt und Objekt des Dramas fungiert. Danton durchschaut und benennt den t.dlichen Inszenierungscharakter des »erhabne[n] Drama[s]«, als dessen Opfer er fallen soll. Gegen Robespierres aggressive Inanspruchnahme des sinnvollen, seine Protagonisten exkulpierenden Geschichtsdramas reduziert sich das Revolutionsgeschehen fr den bei Bchner von Beginn an zutiefst resignierten Danton auf ein ebenso sinnloses wie prdeterminiertes Spielen. Einschlgig ist der vielzitierte Satz: »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!« (S. 41) Nach dem Abbau der als ideologisch verworfenen Sinnstiftungsstrukturen bleibt die schiere Theatralik zurck, der man nicht entrinnen kann: »[…] wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden« (S. 32). Das Theater imprgniert die revolutionre Wirklichkeit so vollstndig, daß allein der Tod afiktionalen Charakter hat – erstochen wird man »im Ernst« – , womit der Einbruch des heteronomen Realen bis zum letzten Lebensaugenblick aufgeschoben ist. Die Revolution erscheint bei Danton damit in den Horizont eines deterministisch aufgefaßten Welttheaters gerckt, in dem das Fatum bermchtig waltet. Daß Danton seine kritische Einsicht in die Theatralizitt der revolutionren Politik mit dem ihr eigenen ideologischen Kurzschluß von Revolution und Trag.dienschema wiederum im Wortfeld des Schauspiels formuliert, beinhaltet aber offenkundig die sthetische Distanzierung einer Grenzerfahrung. Es darf als symptomatisch gelten, daß Danton sich gerade im Kontext der von ihm mitverantworteten Septembermorde als Marionette und fremdbestimmter Spieler imaginiert und dadurch sublimiert, daß mit dem Telos der Geschichte auch die Legitimation des eigenen Handelns verfllt, das nichtsdesto10 Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes. Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Bchners Drama »Dantons Tod« unter Bercksichtigung der »Letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus. – Tbingen 1991, S. 50.
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weniger als traumatische Schuld wiederkehrt. Dantons Formulierung seiner Erfahrung im Zeichen des topischen Welttheaters betreibt deren sthetische Distanzierung, entschlgt sich dabei aber gerade der historischen Dimension dieser Erfahrung. Die Implikationen einer solchen Haltung lassen sich exemplarisch an Dantons sarkastisch-resignativem AperXu ber die Blutbhne der Revolution ablesen, auf der das gnzlich im Zeichen ubiquitren Spielens stehende Leben letztlich ein angemessenes Ende finde: »D a n t o n. Was liegt daran? […] Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben? Es ist noch vorzuziehen, sie treten mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen und k.nnen im Abgehen noch hbsch gesticuliren und die Zuschauer klatschen h.ren. Das ist ganz artig und paßt fr uns, wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden.« (S. 32)
Die sthetische Distanznahme bleibt aufs engste mit dem verklammert, was sie ertrglich machen will. Bis in den Wortlaut der indifferenten Er.ffnungsformel ›Was liegt daran‹ gibt sie unfreiwillig das Echo auf St.-Justs programmatische Legitimation der revolutionren Gewalt im Nationalconvent: »Was liegt daran ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben?« (S. 46) Danton ist also keineswegs jener souverne Metazuschauer der revolutionren Inszenierung, der er zu sein glaubt, sondern im Gegenteil t.dlich von der negativen Dynamik des Geschichtsverlaufs betroffen, die den abhngigen Spieler erbarmungslos mit sich fortreißt: »[…] die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder« (S. 22). Mit Robespierres affirmativer Rede vom »erhabne[n] Drama der Revolution« (S. 14) und Dantons kritischer Reflexion auf dessen offenliegenden Inszenierungscharakter sind in Dantons Tod zwei Auffassungen des Dramatischen umrissen, die sich ber die Kategorie des Spielbewußtseins grundstzlich unterscheiden. Beide Reden vom Revolutionstheater stehen jedoch fr eine unzulngliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie gleichzeitig konstituieren helfen. Das heißt, mit Michael Voges Rberlegungen zur Theatermetaphorik in Dantons Tod formuliert: »Ihre Verwendung [die der Theatermetaphorik, U. D.] indiziert also nicht nur hellsichtig das Fehlen historisch angemessener Formen des politischen Handelns [Robespierre]; sie zeugt [in Dantons umfassendem Spielbewußtsein] zugleich vom Unverm.gen, diesen Mangel als politischen zu begreifen.«11
11 Michael Voges: Dantons Tod. – In: Interpretationen. Georg Bchner. – Stuttgart 1990, S. 36.
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Gemeinsam ist beiden Konzeptionen, daß sie die ungel.ste soziale Frage, d. i. den außer Kontrolle geratenen Antrieb der revolutionren Dynamik, verfehlen. Das mit der Franz.sischen Revolution gegebene menschheitsgeschichtliche Versprechen bleibt in ihrer Ideologisierung wie in der distanzierenden Isthetisierung unabgegolten. Ins Zentrum von Bchners Drama rckt mit dem Unabgegoltenen der Großen Revolution aber zugleich die poetologisch relevante Frage, welche Strategien der Text einsetzt, um als Revolutionsdrama nicht selbst jene als fragwrdig erkannte Isthetisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit fortzuschreiben. Mit einer Formulierung von Camille Desmoulins aus dem sogenannten Kunstgesprch (II,3) steht zur Debatte, ob und wie es die Kunst bewerkstelligen kann, die Menschen »aus dem Theater auf die Gasse« zu setzen (S. 37).
2. Die Entdeckung einer poetologischen Herausforderung im Kunstgesprch Angestoßen wird das Kunstgesprch vom letzten Satz der vorausgehenden Promenadenszene, den es reflektiert. Er lautet: »Aber gehn Sie ins Theater, ich rath es Ihnen.« (S. 36) Dieser Gesprchsfetzen provoziert Camille Desmoulins zu einer emphatischen Verteidigung der Unmittelbarkeit menschlicher Erfahrung, zu vehementem Protest gegen deren unablssige sthetische Rberformung durch seine Zeitgenossen: »C a m i l l e. […] Sie vergessen ihren Herrgott ber seinen schlechten Copisten. Von der Sch.pfung, die glhend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, h.ren und sehen sie nichts. Sie gehen ins Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Gesch.pfen: wie gew.hnlich!« (S. 37)
Der kurze Monolog setzt mit einer literaturimmanenten Schelte der Produktion und Rezeption klassizistischer Kunst ein, ihrer »fnffßigen Jamben« und ihrer Obsession durch das »Ideal« (S. 37). Sein eben zitierter zweiter Teil macht jedoch deutlich, daß sich Camilles Kritik nicht in innersthetischen Fragen ersch.pft, daß es ihm keineswegs darum geht, der zeitgen.ssischen Kunstpraxis etwa durch Erneuerung des Arsenals ihrer knstlerischen Sujets oder Ausdrucksmittel aufzuhelfen. Das Verhltnis von Kunst und Wirklichkeit wird weit grundstzlicher problematisiert, und zwar dahingehend, daß die Kunst als bloßes Wirklichkeitssurrogat erscheint, das den Blick auf das unmittelbar Gegenwrtige verstellt, blind fr dessen Sch.nheit macht: »Sezt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbrmliche Wirklichkeit!« (S. 37) 109
»Theater« und »Gasse« stehen dabei stellvertretend fr den von Desmoulins exponierten Antagonismus von Kunst und Wirklichkeit. Diesen Antagonismus versucht er in einer Volte aufzul.sen, die Gerhard Kurz treffend »Pathos der ›Gasse‹«12 genannt hat: Zunchst identifiziert Camille die »Gasse« mit der unablssig sich erneuernden Sch.pfung Gottes, vor der das sekundre menschliche Kunstschaffen notwendig verblassen muß. Es bleibt in Anlehnung an Heines Deutung des Pygmalion unfruchtbar.13 Indem Camille gegen seine »schlechten Copisten« (S. 37) den creator mundi ausspielt, erhlt seine Abdankung der Kunst eine besondere Wendung; die Kunst wird verworfen, um an ihrer Statt »die Sch.pfung als Kunst und den ›Herrgott‹ als ihren Sch.pfer zu feiern.«14 Bildet das Theater den expliziten, so bildet die sthetische Kategorie des Erhabenen den impliziten Gegenstand des Kunstgesprchs. Camilles vitalistische Vereinigung von Leben und Kunst beschw.rt das Erhabene durchaus traditionell im Paradigma der berwltigenden Sch.pfung. Mit Dantons anschließender Bezugnahme auf David, den offiziellen Maler der Franz.sischen Revolution und den Regisseur ihrer Feste, kommt sodann das zeitgen.ssische, die Revolutionskunst charakterisierende »sublime de la fUrocitU«15 in den Blick, das ihrem prominentesten Vertreter nachgerhmt wurde und zu dessen ikonographischer Verewigung des ermordeten Marat paradigmatisch Charles Baudelaire anmerken wird: »[…] cruel comme la nature, ce tableau a tout le parfum de lidUal«.16 Rber dem tragischen Untergang des Einzelnen soll im Angesicht des Todes das Allgemeine siegreich aufscheinen. Und so lßt sich die Sequenz der Davidschen Erhabenheitsbilder, vom Schwur der Horatier bis zum kleinen Barra, beschreiben als eine Folge von »exempla virtutis, denen der Schrecken des Todes anhaftet, in dessen Angesicht sie vollbracht werden«.17 Hier setzt Dantons Analyse der Revolutionskunst an, die produktionssthetisch nach dem Verhltnis fragt, in das der Knstler sich zu seinem Gegenstand bringt: 12 Gerhard Kurz: Guillotinenromantik. Zu Bchners Dantons Tod. – In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 110 (1991), S. 567. 13 Vgl. MBA, Bd. 3.4 (Erluterungen), S. 130 f. 14 Gerhard Kurz: Guillotinenromantik (s. Anm. 12), S. 565 f. Damit eignet dem Sch.pfergott die Bedeutung des Originalgenies, was Camilles Preis der un-vermittelten Erfahrung als Rekurs auf das sthetische Modell des ›Sturm und Drang‹ durchsichtig macht. Auf der Ebene des Bchnerschen Textes wird die Beschw.rung von Unmittelbarkeit somit selbst als sthetisch vermittelte kenntlich gemacht. 15 Aglaia I. Hartig: Die erhabene Republik. Zur Pathosgeschichte der Revolution. – In: Merkur 43 (1989), S. 806. 16 Charles Baudelaire: Le MusPe classique du Bazar Bonne-Nouvelle. – In: ders.: Œuvres complWtes. Hrsg. v. Claude Pichois. Bd. 2. – Paris 1976, S. 410. 17 Aglaia I. Hartig: Die erhabene Republik (s. Anm. 15), S. 807.
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»D a n t o n. Und die Knstler gehn mit der Natur um wie David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltbltig zeichnete und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in dießen B.sewichtern.« (S. 37)
An Davids Einfall, die »letzten Zuckungen« der Opfer der Septembermassaker in Kunst zu bannen, bricht exemplarisch die ganze Ambivalenz des Grausam-Erhabenen auf. Da sich der gewaltsame Tod jener »B.sewichter« schlechterdings nicht zum Exemplum verklren kann, wird an ihm unverstellt sichtbar, was auch an der Basis von Davids berhmten Darstellungen der Revolutionsmrtyrer Le Pelletier und Marat steht, dort aber vollstndig unter der Aureole des Heroischen verschwindet: die in Agonie sich windende, leidende Kreatur. Wenn Danton die beispiellose Kaltbltigkeit Davids zur Disposition des Knstlers verallgemeinert – »Und die Knstler gehn mit der Natur um wie David […]« (S. 37) – , scheint damit allerdings eine latente Gefhrdung der Kunst als solcher anvisiert, die Bchner auch im Lenz reflektiert, wenn vom versteinernden »Medusenhaupt« gesprochen wird.18 Will man eine Rbertragung versuchen, wre der Medusenblick im Kunstgesprch des Danton als Indifferenz des Knstlers gegen seine lebendigen Gegenstnde umgesetzt, der damit das bereits mit dem Medusasignal versehene politische Versprechen Collot dHerbois einl.st: »Die Bsten der Heiligen [Marat und Chalier, U. D.] werden […] wie Medusenhupter die Verrther in Stein verwandlen.« (S. 14) In voller Tragweite stellt sich das von Danton fokussierte Problem der Kunst als t.dlicher Fixierung eines lebendigen Zusammenhangs – und sei es in seinen letzten »Zuckungen« – somit dort, wo es die Kunst tatschlich mit der »Gasse« aufnimmt und nicht ein abstraktes »Gefhlchen, eine Sentenz, einen Begriff« (S. 37) einkleidet. Allerdings entspricht die Wirklichkeit der Pariser »Gasse« des Revolutionsjahres 1793, wie Danton sie schildert, keineswegs der großartigen Vision, die Camille gegen das wirklichkeitsentfremdende Theater ausgespielt hatte. Camilles »Pathos der Gasse« erweist sich vielmehr selbst als Sublimation einer tatschlich »erbrmliche[n] Wirklichkeit«, in der auf der eben noch zum permanenten Sch.pfungswunder verklrten Gasse die entfesselte Revolution ihre blutigen Opfer abldt: »[…] die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden«! (S. 37) Das Verhltnis von Theater und Gasse stellt sich in Bchners Dantons Tod also komplexer dar als in der Figurenperspektive Camille 18 Georg Bchner: Lenz. Studienausgabe. Im Anhang: Johann Friedrich Oberlins Bericht »Herr L……« in der Druckfassung »Der Dichter Lenz, im Steintale« durch August St.ber und Auszge aus Goethes »Dichtung und Wahrheit« ber J. M. R. Lenz. Hrsg. v. Hubert Gersch. – Stuttgart 1984, S. 15. (Vgl. Collot in Dantons Tod I,3.)
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Desmoulins mit ihrer einfachen Entgegensetzung von Lebensflle und Wirklichkeitsentfremdung.
3. Das Theater betritt die Gasse: Simon, der Souffleur Unternehmen wir einen zweiten Versuch, uns der Gasse zu nhern: In der »Eine Gasse« berschriebenen zweiten Szene des ersten Aktes betritt in Gestalt des Souffleurs Simon das Theater selbst die Gasse. Mit dem nahezu vollstndig aus literarischen Reminiszenzen montierten Souffleur,19 der »aus […] Versatzstcken des Antikekults und der Literatur«20 zu bestehen scheint, ist bewußt die Grenze zur Kunstfigur berschritten. Simon artikuliert sich in einer Weise, die ihn als szenische Umsetzung des von Camille kritisierten Theaters erscheinen lßt; er inkarniert gewissermaßen die gescholtene »Marionette, wo man den Strick hineinhngen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bey jedem Schritt in fnffßigen Jamben krachen« (S. 37). Es ist der antikisierende Gestus der großen Politik, die am Szenenende in der Person Robespierres selbst auftreten wird, an dem, wie an besagtem »Strick«, Simons heroische Drapierung seiner lebensweltlichen Misere hngt. Ganz im Bann von Robespierres republikanischem Tugendkult deutet der berauschte, respektive alkoholisierte Brger der RPpublique une et indivisible die Elendsprostitution seiner Tochter im Horizont des Virginia- und Lukretia-Stoffes und droht darber – beide verwechselnd und vermischend – zum »[a]lte[n] Virginius« (S. 9) zu werden: »Ha Lucrecia! ein Messer, gebt mir ein Messer, R.mer! Ha Appius Claudius!« (S. 10) Der antikisierenden Inkantation Robespierres im Jakobinerklub unmittelbar vorgeschaltet, unterminiert das in seiner Fallh.he komische Pathos Simons unwiderstehlich dasjenige des »Unbestechlichen« (S. 12). Die Unangemessenheit von Simons aus dem Theater erborgten, den prosaischen Verhltnissen der Gasse vollstndig unangemessenen heroischen Reden macht Robespierres Inanspruchnahme der normativ hochbesetzten Rollenmuster aus der Antike als Inszenierung kenntlich. In Simon, der spterhin seiner Umwelt die Stichworte soufflieren wird, unter denen »das Einzelne […] sich dem Allgemeinen [fgen muß]« (S. 33), hat die jakobinische Revolution einen getreuen Propagator. Fr die Konstruktion des Bchnerschen Textes charakteristisch ist dabei, wie in Simons Identifikation mit den republikanischen Tugendhelden eine spezifische Rberlagerung von historischem und literarischem Zitat gestiftet wird. Im Sinne einer dPformation professionelle ruft der Souffleur die zum Repertoire der jakobinischen Revolution 19 Vgl. MBA, Bd. 3.4 (Erluterungen), S. 49 – 53 u. 67 f. 20 Gerhard Kurz: Guillotinenromantik (s. Anm. 12), S. 558.
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geh.rigen klassischen Tugendmythen aufflligerweise in ihren literarischen Bearbeitungen durch das deutsche Drama auf.21 Die historischkritische Marburger Ausgabe weist hier w.rtliche Zitate aus Lessings Emilia Galotti (VI,7) und Schillers Fiesko (I,10) nach, wo diese auf die Virginia-Tradition rekurrieren. Damit sind aber Adaptationen des republikanischen Mythos anzitiert, die ihn als eine problematische Isthetisierung des Politischen zurckweisen, welche im Sieg der poetischen Gerechtigkeit dem historisch Kontingenten Sinn zuspricht.22 Im Fiesko, um auf den zweiten bei Bchner zitierten Fall nher einzugehen, wird das republikanische Tugendmodell zwar im ersten Moment der Emp.rung erinnert, dann aber zugunsten der politischen Verschw.rung aufgegeben: »Nein! Noch ist Gerechtigkeit in Genua!«23 Damit scheint das im Virginia-Stoff prsente Konglomerat aus Politischem und Isthetischem in diesem frhen Drama zunchst in Richtung der konkreten Tat aufgel.st. Im spteren Teil des Schillerschen Oeuvres wird es vorzglich die Formgebung sein, die eine strikte Grenzziehung zwischen beiden Bereichen etabliert. Dies ist mit Blick auf Simons Verwendung des gehobenen – durch apokopiertes Endungs-e24 noch zustzlich markierten – Versmaßes, das den Souffleur gewissermaßen bei jedem Schritt im Jambus der deutschen Klassik chzen lßt, von besonderem Interesse. Gerade der Versifikation spricht Schiller ja fundamentale Bedeutung fr die Abgrenzung des Isthetischen vom Wirklichen zu: »Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Production noch dieses große und bedeutende, daß er, indem er alle Charactere und alle Situationen nach Einem Gesetz behandelt, und sie, trotz ihres innern Unterschiedes in Einer Form ausfhrt, er dadurch den Dichter und seine Leser n.thiget, von allem
21 Vgl. Gisbert Ter-Neddens Deutung von Lessings Privatisierung des Virginia-Mythos. – In: ders.: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. – Stuttgart 1986. 22 Hans Hiebel hat in seinen ebenfalls in diesem Band publizierten Rberlegungen zu den republikanischen Motiven in Dantons Tod dargelegt, wie der Kredit des sogenannten Republikanischen Dramas, das das Vorbild der R.mischen Republik in den Dienst neuzeitlicher republikanischer Vorstellungen stellt, im Laufe des 18. Jahrhunderts von Voltaire, Gottsched oder Bodmer zu Lessing und Schiller verfllt, die Staatskritik im antik-mythisierenden Gewand mithin an Attraktivitt verliert. Vgl. auch Kurt W.lfel: Prophetische Erinnerung. Der klassische Republikanismus in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts als utopische Gesinnung. – In: Jean Paul-Studien. Hrsg. v. Bernhard Buschendorf. – Frankfurt a. M. 1989, S. 316 – 359. 23 Friedrich Schiller: Die Verschw,rung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel. – In: ders.: Werke (Nationalausgabe). Hrsg. v. Edith und Horst Nahler. Bd. 4. – Weimar 1983, S. 32. 24 »S i m o n. Nein, laßt mich R.mer, zerschellen will ich dieß Geripp! Du Vestalin!« (MBA, Bd. 3.2, S. 8.)
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noch so characteristisch-verschiedenem etwas Allgemeines, rein menschliches zu verlangen.«25
Schiller hat die Fragwrdigkeit des poeto-politischen republikanischen Mythos in einem sthetisch fundierten Allgemeinen aufl.sen wollen. Bchner dagegen konfrontiert in der Kunstfigur Simon dieses sthetische Allgemeine scharf dem kontingenten Realen. Simons situationsunangemessene versifizierte Rede »skularisiert« – um hier der sprachkritischen Deutung von Reiner Niehoff zu folgen – das Schillersche »Erkenntnispathos idealistischer Isthetik«, indem sie dessen »kompensatorischen Effekt«26 hervortreibt. Fllt dem Souffleur – auf Robespierre und seine Revolution bezogen – einerseits der ideologiekritische Part zu, das poetische Pathos zu brechen, mit dem die revolutionre Politik die schlechte Wirklichkeit fortwhrend berschreibt, wird in Dantons Tod darber hinaus auch das Pathos des Isthetischen selbst angegriffen – und zwar in seinem Anspruch, die fragwrdige Emphase des Politischen in der Kunst zu substituieren. Diese Kritik der idealistischen Position hat ihrerseits ein Widerlager, das nicht mit dem Einspruch des verdrngten Realen in seiner Negativitt zu verrechnen ist. Georg Bchners Drama wird hier zwei Transzendierungsstrategien profilieren, mit denen ich mich abschließend eingehender befassen will. Betrachten wir zunchst die Mikrostruktur des Textes: Eine entscheidende Quelle, aus der Simons Dramen-Potpourri sich speist, und die m.glicherweise ebendiese Funktion erfllt, ist der Dramatiker Shakespeare. So scheint etwa Simons vergebliche Suche nach einem ›ehrbaren‹ Ausdruck fr seine Tochter, die sich am Zivilstandsregister entlang tastet, von Maaß fr Maaß grundiert zu sein: »S i m o n. Wo ist die Jungfrau? sprich! Nein, so kann ich nicht sagen. Das Mdchen! nein auch das nicht; die Frau, das Weib! auch das, auch das nicht! nur noch ein Name! oh der erstickt mich! Ich habe keinen Athem dafr.« (S. 9)
Whrend Simon hier vor dem treffenden Ausdruck verstummt, wird bei Shakespeare Klartext geredet: »L u c i o. Gndiger Herr, es wird wohl ein Schtzchen seyn, denn die sind gew.hnlich weder Mdchen, Wittwen, noch Frauen.«27 Und auch die Simons Klage abschließende beschmte Stockung des Atems hat ein Vorbild bei Shakespeare. Sie kann als Variation der komisch-emphatischen Beteuerung gelten, die Falstaff 25 Schiller an Goethe am 24. 11. 1797. – In: ders.: Werke (Nationalausgabe). Hrsg. v. Norbert Oellers und Frithjof Stock. Bd. 29. – Weimar 1977, S. 160. 26 Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes (s. Anm. 10), S. 76. 27 William Shakespeare: Maaß fr Maaß. – In: ders.: Dramatische Werke. Rbersetzt v. August Wilhelm von Schlegel, ergnzt und erlutert v. Ludwig Tieck. 9 Tle. Bd. 5. – Berlin 1831, S. 364.
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in K,nig Heinrich IV. seiner Schimpfkanonade folgen lßt: »[…] o htt ich nur Odem zu nennen was dir gleicht!«28 Whrend Simon sich das Unertrgliche verschweigen muß, sind die von Falstaff beklagten Grenzen seiner Zornentladung physischer Natur. Beachtet man den Shakespeareschen Subtext dieser Stze, die sich damit nur auf der Oberflche Simons verzweifelt komischen VirginiaBeschw.rungen integrieren, erscheinen letztere auch literaturimmanent gebrochen. In den Shakespeare-Passagen schafft sich im Sinne eines innerliterarischen Korrektivs subversiv ein anderer Teil des dramatischen Repertoires Geh.r. Er bringt zur Sprache, was sowohl die ideologische Selbstinszenierung der Revolution als auch die idealistische Kunst ausscheiden mssen. Fassen wir zusammen, welche bedeutungskonstituierenden Schichten sich in der unfreiwillig komischen Figur des Souffleurs Simon berlagern: Auf einer ersten Ebene wird – ganz im Sinne der deutschen Revolutionsrezeption – die ideologische Theatralizitt des politischen Tugendheroismus der Revolution problematisiert. Zweitens wird eine Dramenliteratur kritisiert, die die revolutionre Isthetisierung des Politischen als ideologisch distanziert, um sie dann aber ihrerseits nur im Bereich einer autonomen Isthetik aufzuheben. Dieser Angriff luft drittens ber die subversive Einspeisung einer kontrren literarischen Tradition. Damit ist erneut die binre Perspektive von Camille Desmoulins gesprengt, in der die Wirklichkeit als unproblematisches Apriori gelten konnte, der die Menschen erst durch die Kunst (als Verstellung eines unmittelbaren Zugangs) entfremdet werden. Simons offene und verdeckte Repertoirezitate setzen das Drama als Drama also gezielt in ein Verhltnis zur literarischen Tradition. Diese Pointierung der sthetischen Vermitteltheit, die ich an unterschiedlichen Beispielen behandelt habe, erfllt in Dantons Tod die Aufgabe, das im Kunstgesprch aufgedeckte Dilemma explizit zu machen: Die Kunst als sthetische Einstellung auf den Gegenstand bedeutet eine immer schon vollzogene Distanzierung von diesem. Der Akt der sthetischen Abstandnahme muß aber gerade dort als besonders fragwrdig erscheinen, wo die Revolution – und dafr steht der mit Thermidor gewhlte Ausschnitt ihrer Geschichte – aus der Perspektive ihres Scheiterns vergegenwrtigt wird, wo also das von ihr und in ihr produzierte Leiden in den Mittelpunkt rckt. Offensichtlich ist es Bchner gerade um dasjenige zu tun, was die spezifisch theatralischen Formen revolutionrer Produktion von Wirklichkeit bzw. deren sthetisierende Rezeption verfehlen mssen: die Revolution in ihrer existentiell-materiellen Dimension. 28 William Shakespeare: K,nig Heinrich IV. – In: ders.: Dramatische Werke, bersetzt v. August Wilhelm Schlegel. Neue Auflage. 8 Tle. Bd. 6. – Berlin 1821, S. 75.
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Ich will mich nun dem zweiten, die Makrostruktur des Textes betreffenden Verfahren zuwenden, das es nach meiner These erlaubt, im per definitionem fiktionalen Drama dennoch zur Wirklichkeit der »Gasse« vorzustoßen – und dies ohne die sthetische Mittelbarkeit des Textes zu unterschlagen. Es wird sich im Gegenteil zeigen, daß gerade die Akzentuierung dieser Mittelbarkeit den im Titel meiner Rberlegungen angekndigten ›relativen Zuwachs an revolutionrer Wirklichkeit‹ erm.glicht. Hierbei lßt sich ein Effekt der bekannten theatralischen Spiel-im-Spiel-Form ausnutzen, die m. E. konstitutiv fr die Gesamtstruktur von Dantons Tod ist. Daß sie in der breiten Literatur zu Bchners Revolutionsdrama bislang keine Beachtung gefunden hat, mag damit zusammenhngen, daß hier kein veritables, d. h. sichtbares Theater auf dem Theater aufgeschlagen wird, sondern das Theater in der Gestalt des Souffleurs Simon als dramatische Rede auftritt. Diese Modifikation ist Bchners poetologischem Interesse geschuldet, »Theater« und »Gasse« szenisch kurzzuschließen. Die Theaterpraktiker haben die Spiel-im-Spiel-Struktur dennoch frh erkannt und in ihren Inszenierungen umgesetzt.29 Die Spiel-im-Spiel-Struktur vorausgesetzt, stellt sich aber sogleich eine andere Frage, ob diese nmlich nicht gnzlich ungeeignet sei, um zur Wirklichkeit der »Gasse« vorzustoßen? Tendiert der Autothematismus des Theaters, der die Knstlichkeit der Unternehmung ausstellt, nicht vielmehr zur Entstofflichung des dramatischen Plots und in eins damit zur Abschwchung des Wirklichkeitsbezugs? Scheinbar gesttzt wird ein solcher Zweifel durch die These einer neueren Interpretation von Dantons Tod, die die im Spiel-im-Spiel akzentuierte unausweichliche Verhaftung im Isthetischen im Handstreich zur poetischen Entmchtigung der schlechten Realitt positiviert, wenn das Drama den hellsichtig diagnostizierten »Todesgehalt der vorgestellten geschichtlichen Epoche […] unterminiert und entmchtigt hat, indem es das Geschehen als Dichtung vorstellt.«30 Eine solche Deutung muß auf der Ebene des im Danton kritisierten sthetischen Mythos der Deutschen und seiner idealistischen Spielphilosophie stehenbleiben, den Theodor W. Adorno in den folgenden, fr 29 Ich danke Wolfram Viehweg fr seine wertvollen Hinweise auf die einschlgige Inszenierung von Gustav Grndgens an den Hamburger Kammerspielen 1928 und Otto Falckenbergs zweite Mnchner Inszenierung aus dem Jahr 1937. Fr die Bhnenbilder von Johannes Schr.der und Eduard Sturm, auf die ich spter noch zurckkommen werde, vgl. Wolfram Viehwegs reich bebilderte Inszenierungsgeschichte von Georg Bchners »Dantons Tod« auf dem deutschen Theater. – Mnchen 1964. 30 Bernhard Greiner: Des vers: Wurmfraß und Verse der Revolution. Bchners Weg zur Dichtung in Dantons Tod. – In: Franz Link (Hrsg.): Tanz und Tod in Kunst und Literatur. – Berlin 1993, S. 225.
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unsere Argumentation einschlgigen Rberlegungen zum defizitren Verhltnis von autonomem Spiel und historischer Praxis exorziert hat: »Das Verhltnis des Spiels zur Praxis ist komplexer als in Schillers Isthetischer Erziehung. Whrend alle Kunst einst praktische Elemente sublimiert, heftet sich, was Spiel ist in ihr, durch Neutralisierung von Praxis gerade an deren Bann, die N.tigung zum Immergleichen, und deutet den Gehorsam […] in Glck um. Spiel in der Kunst ist von Anbeginn disziplinr, vollstreckt das Tabu ber den Ausdruck im Ritual der Nachahmung, wo Kunst ganz und gar spielt, ist vom Ausdruck nichts brig.«31
Sofern die Kunst in ihrem Bereich das realiter verweigerte Gelingen substituiert, muß sie restaurativen Tendenzen Vorschub leisten. In einer dialektischen Volte lßt sich das Spiel jedoch fr eine Kunst retten, die ihrer »geschichtlichen N.tigung […] mndig [zu] werden«32 folgt: »Ist Kunst so wenig ganz ohne Spiel denkbar wie ganz ohne Wiederholung, so vermag sie doch den furchtbaren Rest in sich als negativ zu bestimmen.«33
Diese M.glichkeit bietet prominent die Spiel-im-Spiel-Form, deren strukturelle Koordinaten ich mit Bezug auf Dantons Tod umreißen will: Mit dem Auftritt des Souffleurs Simon kommt es zu einer Verdoppelung der realen Auffhrungssituation. Die zeit-rumliche Begrenzung des eingelegten Spiels (auf Szene I,2) erm.glicht es fr das Gesamtstck zwischen dem Binnenspiel – in unserem Fall der historischen Akteure, vertreten durch ihr komisch herabgestimmtes Pendant Simon – und dem Rahmen – den Zuschauern aus dem Volk – zu unterscheiden. Binnenspiel und Rahmen lassen sich in ihrem Verhltnis zueinander wie zum Ganzen ins Auge fassen. Dabei entsteht eine gegenlufige Bewegung: Einerseits wirkt das als solches markierte Spiel desillusionierend, indem es den Kunstcharakter des Gesamtdramas ins Bewußtsein hebt, also den Fiktionsvertrag des Illusionstheaters bricht, der uns veranlaßt, dem auf der Bhne Vorgestellten fr die Dauer der theatralischen Veranstaltung Wirklichkeit zuzusprechen. Gleichzeitig aber bewirkt die bewußte Akzentuierung der Knstlichkeit des Binnenspiels relational einen (graduellen) Wirklichkeitszuwachs des Rahmens.34 Hier liegt das epistemologische Potential der Spiel-im-Spiel-Form. 31 Theodor W. Adorno: Jsthetische Theorie. – In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. – Frankfurt a. M. 1970, S. 470. 32 Ebd., S. 469. 33 Ebd., S. 470. 34 Fr die strukturelle Beschreibung der Spiel-im-Spiel-Form siehe Joachim Voigt: Das Spiel im Spiel. Versuch einer Formbestimmung an Beispielen aus dem deutschen, englischen und spanischen Drama. – G.ttingen 1954; J.rg Henning Kokott: Das Theater auf dem Theater im Drama der Neuzeit. – K.ln 1968; Manfred Schmeling: Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur Vergleichenden Literaturkritik. – Rheinfelden 1977; besonders Werner Wolf, der sich systematisch fr das Phnomen Spiel-im-Spiel in politischen Kontexten interessiert: Spiel im Spiel und Poli-
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Wie wir gesehen haben, macht der Auftritt Simons das »erhabne Drama der Revolution« von Anfang an als Revolutionstheater kenntlich, das im Horizont des Gesamtstckes nun seinerseits als Spiel-imSpiel erscheint. Die Simon-Szene wird damit zu einem Spiel-im-Spiel in zweiter Potenz. Aus dem Blickwinkel des Bchnerschen Dramas sind die historischen Schaupltze der Revolution – der Jakobinerklub (I,3), der Nationalkonvent (II,7), das Revolutionstribunal (III,4), der Wohlfahrtsausschuß (III,6) und der Revolutionsplatz selbst (IV,7 u. 9) – zur Theaterkulisse fr Robespierres Inszenierung geworden. Im Gegensatz zu Robespierre durchschaut Danton die hier profilierte Theatralizitt der revolutionren Politik. Indem er seine Kritik aber wiederum im Medium des Isthetischen formuliert, kann auch er den umfassenden Inszenierungszusammenhang der von Camille Desmoulins eingangs beklagten »Guillotinenromantik« (S. 5) nicht transzendieren. Die bekannten Protagonisten der Franz.sischen Revolution bestreiten in Dantons Tod also das Binnenspiel, whrend die Straßenszenen als Rahmen fungieren. Das impliziert aber, daß aufgrund der strukturellen Organisation des Gesamtstckes gerade die historisch nicht bzw. nur am Rande bezeugten Gestalten relativ, d. h. gegenber dem Binnenspiel, an realistischer Eindringlichkeit gewinnen. Damit ist das im »Kunstgesprch« problematisierte Phnomen der sthetischen Mittelbarkeit gerade fr einen relativen Zuwachs an Wirklichkeit produktiv gemacht. Mit strukturellen Mitteln wird in Dantons Tod jenes Mißverhltnis »zwischen Armen und Reichen« hervorgetrieben, das sich im Hunger des Pariser Revolutionsvolks materialisiert und das nach Bchners Rberzeugung »das einzige revolutionre Element in der Welt«35 darstellt. Daß dieser relative Zuwachs an Wirklichkeit schließlich selbst revolutionr genannt werden kann, legitimiert sich dadurch, daß auf Simons erborgten heroischen Moralismus in Szene I,2 nach »Inhalt und Rhetorik dieser Repliken«36 die agitatorische Sprache des Hessischen Landboten antwortet. Den verbalen Angriff gegen die revolutionre Misere fhren jene Brger, die als nchterne Zuschauer gerade noch Simons revolutionsberauschtem Auftritt beigewohnt haben. Ihre Agitation hlt den realen Sachverhalt der Elendsprostitution fest und zielt dabei auf die auch unter der Revolution fortbestehende Dichotomie von Arm tik. Zum Spannungsfeld literarischer Selbst- und Fremdbezglichkeit im zeitgen,ssischen englischen Drama. – In: Poetica 24 (1992), S. 163 – 194 sowie Ulrike Dedner: Deutsche Widerspiele der Franz,sischen Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im selbstbezglichen Spiel von Goethe bis Drrenmatt. – Tbingen 2003. 35 Georg Bchner: S2mtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hrsg. v. Henri Poschmann. Bd. 2. – Frankfurt a. M. 1999, S. 400. 36 Vgl. MBA, Bd. 3.4 (Erluterungen), S. 53.
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und Reich. Der Begriff Brger scheint hier nicht stndisch verwendet zu sein, sondern partizipiert »an der revolutionren Wortbedeutung des ›citoyen‹ als des politisch aktiven Brgers«.37 Mit der »Beinahe-Laternisierung« eines vermeintlichen Aristokraten (noch immer Szene I,2) durch das auf der »Gasse« zusammenstr.mende hungernde Volk haben die in diesem Sinne als Brger Titulierten eine revolutionre Aktion provoziert, die sich zwar nicht im Ausmaß der Grausamkeit von den institutionalisierten Guillotinierungen unterscheidet, wohl aber durch ein Moment von Spontaneitt. Die aufgebrachte Menge kann noch im letzten Moment von der Hinrichtung absehen, als das Opfer den Angriff auf sein Leben mit der »aufklrenden Replik« pariert:38 »Meinetwegen, ihr werdet deßwegen nicht heller sehen!« (S. 11) Diese Souvernitt der Entscheidung hat nichts von der blutigen Schaulust der Guillotinierungen, die das hungrige Volk zum passiven Zuschauer herabstuft und deutlich als Symptom der ungel.sten sozialen Frage inszeniert ist. »E i n We i b m i t K i n d e r n. Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz!« (S. 78)
Dem spontanen Volkszorn fehlt auch jene hierarchische Trennung von Zuschauern und Handelnden, die als republikanisches Revolutionstheater die Massen paralysiert und von der paradigmatisch Robespierres die Emotionen kanalisierender Auftritt zeugt, der das eben noch handelnde Revolutionsvolk als bloßen Zuschauer auf die Bnke des Jakobinerklubs bannt. Gustav Grndgens hat diesen Befund in der Revolutionstribunalszene seiner Hamburger Inszenierung kongenial als Theater auf dem Theater umgesetzt: Eine von links vorne nach rechts hinten gebaute Balustrade teilte die Bhne in zwei Bereiche. Der rechte war erh.ht. Auf ihm saßen die Mitglieder des Tribunals wie auf einer Bhne. Hinten auf der Spielflche stand in der Form eines riesigen Pyramidenstumpfes eine weitere Bhne, auf der sich Danton mit ausgreifender Geste produzierte. Im linken tieferen Teil der Spielflche, zwischen den beiden Bhnen, war als Publikum das Volk von Paris untergebracht und zwar unsichtbar fr das Publikum im Theater, das nur gereckte Fuste und hochgeworfene Mtzen sehen konnte.39 37 Ebd., S. 50. 38 Vgl. dazu Burghard Dedner: Legitimationen des Schreckens in Georg Bchners Revolutionsdrama. – In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 343 – 380, hier S. 351. 39 Vgl. Wolfram Viehweg: Georg Bchners »Dantons Tod« auf dem deutschen Theater (s. Anm. 29), Abb. 47, die den Entwurf des Bhnenbildners Johannes Schr.der fr die Revolutionstribunalszene der Grndgensschen Inszenierung an den Hamburger Kammerspielen zeigt.
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Dieser historisch korrekten Reduktion des Volkes auf die reaktive Statisterie kontrastiert in Dantons Tod die momenthaft aufscheinende revolutionre Dimension eines aufbegehrenden Volkes. Daß diese auch bei Bchner sogleich hinter dem abgewirtschafteten republikanischen Revolutionstheater verschwindet, schmlert die mit den Mitteln des selbstbezglichen Spiels akzentuierte Dringlichkeit einer ausstehenden sozialen Revolution nicht.
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Robespierre als »impotenter Mahomet« Bemerkungen zu einer Szene in Bchners Dantons Tod III/6
Von Hermann Patsch (Mnchen)
Mit der enormen Entwicklung der Bchner-Forschung in der zweiten Hlfte des vergangenen Jahrhunderts ist das unvergleichliche Anspielungspotential in Bchners Werk immer deutlicher geworden; eine differenzierte Deutung ohne dessen Bercksichtigung ist gar nicht mehr denkbar. Daß man Bchners Werke ohne Hilfe durch einen – im Fortlauf der Editionen immer umfnglicher werdenden – Zeilenkommentar nicht verstehen kann, ist allerdings gleichzeitig auch ein Zeichen fr den historischen Abstand, den der gegenwrtige Leser nicht einfach berspringen kann. Es ist der Kunst der Interpreten – oder der Theaterregisseure – zu danken, wenn wir das gelegentlich nicht mehr merken. Besonders reich ist das Anspielungs- und Zitatmaterial im Danton des 21-jhrigen Autors. Fr dieses Drama hat die Textphilologie in Lesung und Kommentierung Hervorragendes getan. Das muß hier im Einzelnen nicht belegt werden. An einer kleinen Stelle im III. Akt, 6. Szene, die die Interpreten bereits mehrfach beschftigt hat, soll das Verstndnis einer Phrase ber die bisherige Erklrung hinausgefhrt werden.1 Dabei werden der Blick auf die Handschrift und eine differenzierte Untersuchung des zeitgen.ssischen Verstndnisses des islamischen Propheten eine entscheidende Rolle spielen.
I. Die Szene, die die Charakterisierung »impotenter Mahomet« fr Robespierre enthlt, beginnt mit dem Gesprch der Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, die sich darber einig sind, daß der inzwischen gefangengesetzte Danton und seine Anhnger beseitigt werden mssen, ohne schon zu sehen, wie das bewerkstelligt werden soll. Als St. Just herausgerufen wird, um eine Denunziation entgegenzunehmen, berbieten sich Billaud-Varennes, Collot dHerbois und BarrYre in zyni1 Die Textlesungen sowie die historischen Informationen entnehme ich der Marburger Bchner-Ausgabe (MBA). Der Bezug auf frhere Ausgaben und Forschungsbeitrge bleibt auf das Notwendigste beschrnkt.
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schen Kommentaren ber das Sterben im Gefngnis St. Pelagie. Collot beantwortet die Bittschrift einer Gefangenen um einen baldigen Tod mit dem Satz »Brgerin, es ist noch nicht lange genug, daß du den Tod wnschest« (R. 480), was BarrYre fr gut gesagt lobt. St. Just will die Denunziation zur Vernichtung der Dantonisten benutzen und findet fr die z.gernden Mitglieder des Convents das medizinische Bild, diese seien ebenso »krank« wie Danton und frchteten die gleiche »Kur« (R. 490). In dem folgenden Gesprch ohne St. Just (R. 493 – 504) deutet BarrYre das Bild der Kur ins Sexuelle um: »Sie werden noch aus der Guillotine ein specificum gegen die Lustseuche machen. Sie kmpfen nicht mit den Moderirten [d. h. mit den gemßigten Mitgliedern des Konvents wie Danton], sie kmpfen mit dem Laster« (R. 493), »Robespierre will aus der Revolution einen H.rsaal fr Moral machen und die Guillotine als Katheder gebrauchen« (R. 495). Diese Unterstellung entspricht keinesfalls der Lebensweise der drei Sprecher, die vielmehr gemeinsam in Clichy – in einem dem Leser nicht erklrten Ort des Lasters – verkehren, wenngleich BarrYre andeutet, er werde zur Zeit von einem Arzt wegen Syphilis behandelt und k.nne deshalb solange nicht mehr hinkommen. Aus diesem sexualmedizinischen Befund erklrt sich, warum er auf das Wort »Kur« so emotional reagiert hatte. Beide Gesprchspartner amsieren sich in krftigen Sprchen ber diesen seinen Zustand. BarrYres achselzuckende Bemerkung, der »Tugendhafte«, also Robespierre, drfe davon nichts erfahren (R. 503), kommentiert Billaud mit der Sentenz »Er ist ein impotenter Mahomet« (R. 504 nach gegenwrtiger Lesung). Der allein zurckbleibende BarrYre, der den anderen Wohlfahrtsausschuß-Mitgliedern bis dahin verbal nichts schuldig geblieben war, wiederholt auf einmal voller Abscheu (»Die Ungeheuer!« R. 505) und fr den Leser berraschend die briefliche Antwort Collots auf die Bittschrift der Gefangenen und bekennt ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber auch ihm geht es nur darum, seinen Kopf zu retten. Der Eindruck des Lesers, der sexuell get.nte Trialog unterbreche die Handlung und wirke wie ein Einschub, besttigt sich im Blick auf die Handschrift. Hier kann man an der Schrifttype und der Weiterfhrung am Manuskript-Rand erkennen, wie die kleine Szene aus dem gr.ßeren Zusammenhang heraus als Nebenzweig entstanden und in der abschließenden Sentenz ihr Ziel gefunden hat. Bchner hatte nach der Regiebemerkung »St. Just ab.« den Trialog zwischen BarrYre, Collot und Billaud zunchst mit der Aussage BarrYres begonnen (bis »nicht mit den Moderirten.«), dann aber zwei halbe Manuskriptseiten freigelassen, um zunchst das bis dahin Gesagte durch BarrYres abschließenden Monolog »(allein.) Die Ungeheuer!« beurteilen zu lassen, in dem dieser sich von den anderen Sprechern distanziert. Nach dem Ende dieser 122
logischen Gesprchsfolge hat er mit anderer Feder die Lcke mit dem neuen Text gefllt, wobei ihm aber der geplante Platz nicht ausreichte, so daß er auch den Rand benutzen mußte.2 Dieses nachtrglich formulierte Gesprch der drei Mnner erwchst zwar aus dem vorher Gesagten, unterbricht aber den Gedankengang, den BarrYre dann wieder aufnehmen muß. Bchner war es wichtig, die drei Sprecher durch die sexuellen Anzglichkeiten zu charakterisieren (wodurch sie sich in nichts von der Gruppe um Danton unterscheiden). Ebenso deutlich ist, daß dieser besondere Gedankengang auf die Sentenz zusteuert, die den prgnanten Abschluß der Einfgung bildet: »Er [Robespierre] ist ein impotenter Mahomet.« Aus diesem Zusammenhang muß der Satz gedeutet werden. Dem Handlungsverlauf hat Bchner mit dieser Einfgung geschadet. Der Leser muß sich bei BarrYres Ausruf »Die Ungeheuer!« auf eine lngst verklungene Iußerung zurckbesinnen, die, wie der Fortgang sogleich verrt, mit dem kleinen soeben beendeten Gesprch nichts zu tun hatte. Diesen logischen Bruch hat Bchner riskiert, weil er der Mahomet-Sentenz nicht widerstehen konnte.3 Die Editionsgeschichte hat an dieser Stelle eine eindrckliche Entwicklung gezeigt, die zugleich ein Beispiel fr den unvermeidlichen Zirkel von Lesung und Deutung darstellt. Die Lesungen als »Masonet« (im Sinne von Freimaurer) durch Ludwig Bchner 1850 bzw. als »Masoret« (im Sinne von Pedant oder Wortklauber) durch Thieberger und Bergemann 1953, die beide erhebliche Interpretationsschwierigkeiten hervorriefen,4 wurden schließlich durch die Konjektur Beißners abgel.st, hier »Mahomet« zu lesen, was einsichtiger deutbar 2 Diese Einfgung hat der Hrsg. durch Fettdruck und ein diakritisches Zeichen kenntlich gemacht (MBA III.1, Differenzierte Umschrift, S. 257 f.; vgl. MBA III.1, Genetische Darstellung, S. 456 – 458). In MBA III.2, Text, Editionsbericht, spricht er von »Ausfllung« (S. 269). 3 Das erklrt auch, warum Bchner das verstmmelte Gesprch in Gutzkows Ausgaben, in dem diese Phrase fehlt, im Dedikationsexemplar fr Johann Wilhelm Baum mit einem emp.rten »defect« versah (vgl. MBA III.1, S. 502). 4 Vgl. Richard Thieberger: Georges Bchner. La Mort de Danton. PubliUe avec le texte des sources et des corrections manuscrites de lauteur (Travaux et Memoires des Instituts FranXais en Allemagne 2). – Paris 1953, S. 122, die Deutung S. 146; Georg Bchners Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Neue, durchgesehene Ausgabe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. – Wiesbaden 1958, S. 65, mit Rechtfertigung S. 624 (die Ausgabe von 1953 war mir nicht erreichbar). Die Berufung Bergemanns auf Jean Paul fr seine Deutung (S. 660), die viel Eindruck gemacht hat, war unsachgemß. Das Beispiel ist wirklich verblffend. Aber Quintus Fixlein, der Theologe ist und darum natrlich den hebrischen Bibeltext mit der Masora kennt, m.chte ein deutscher »Masoreth« (so!) werden und Luthers Bibelbersetzung mit einer christlichen Masora versehen (Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein. Zweiter Zettelkasten. – In: ders.: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. Bd. 7. – Mnchen, Wien 1975, S. 81 f.). Das ist h.chst witzig erfunden, bleibt aber auf die Bibel bezogen, was fr den Begriff »Masoret« einzig sinnvoll ist.
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schien.5 Seit Thomas Michael Mayer zeigen konnte, daß in der Tat in Bchners Bezugsquellen Robespierre gelegentlich mit Mohammed (zeitgen.ssisch: Mahomet) verglichen wurde,6 braucht ber diese Lesung kein Streit mehr zu herrschen, sie ist gesichert.7 Aber die Kombination mit dem Adjektiv »impotent« ist in diesen Quellen nicht zu finden, im Gegenteil, »impotent« ersetzt offenbar sehr gezielt das dort vorkommende Adjektiv »neu« (»neuer Mahomet«), und so bleibt die Frage, welche Bedeutung die Phrase »impotenter Mahomet« als Charakterisierung Robespierres haben kann. Beißner deutet so: »Der Sinn ist klar. Robespierre htte tausendfache Gelegenheit zu den hier in Rede stehenden Ausschweifungen – nicht bloß wie irgendein Muselman: ihm stnde der gr.ßte Harem zu Gebote, wie dem Propheten selber! Aber er ist nicht fhig dazu. Er ist ein impotenter Mahomet, und die Tugend des Tugendhaften ist ohne Verdienst.«8 Aber es geht in der gedeuteten Textstelle nicht um ungenutzte Gelegenheiten zu Ausschweifungen, so wichtig der Hinweis auf den Harem des Propheten ist, sondern um Impotenz, und das paßt nicht. Auch ist der Zusammenhang von Impotenz und dem islamischen Propheten noch nicht geklrt. Mit Recht hat Werner R. Lehmann zudem kritisiert, daß unbeantwortet bleibt, ob Billauds Replik als Zustimmung oder als eine verchtlich machende Abschwchung zu betrachten sei: »Ach, laß gut sein, Bar[r]Yre, Robespierre ist ja nur ein impotenter Mahomet. Oder hat es den Sinn: Du hast recht, Bar[r]Yre, wir mssen auf der Hut sein, denn Robespierre ist ein Mahomet – ?«9 Und mit doppeltem Recht hat Lehmann fr die Gewinnung einer Antwort einen geistes- und dichtungsgeschichtlichen Sinn gefordert, der zur Zeit Bchners verstanden und ohne gr.ßere Schwierigkeiten nachvollzogen werden konnte. Wie k.nnte ein solcher aussehen? Lehmann hat in einem scharfsinnigen Beweisgang zu zeigen versucht, daß Bchner, der als Schler Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation gelesen und genutzt hatte, an dieser Stelle dessen Deutung Mohammeds als religi.sen Fanatiker im Kopf gehabt habe. Zugleich weist er nach, daß Fichte – wie dieser selbst andeutet – seine Kenntnis aus Goethes VoltaireRbersetzung von 1802 (Mahomet. Trauerspiel in fnf Aufzgen, nach 5 Friedrich Beißner: Kleiner Beitrag zum Bchner-Text. – In: Neophilologus 44, 1960, S. 17 – 20. 6 Vgl. MBA III.3, S. 242 f. u. 313; MBA III.4, S. 200. Mercier schreibt »Mahomet«, Friederich in Unsere Zeit »Mahomed«. 7 Merkwrdigerweise hat die Ausgabe des Reclam-Verlages [RUB 6060] von 1983 noch 2002 die berholte Lesung »Masoret« beibehalten. 8 Beißner (wie Anm. 5), S. 19. 9 Werner R. Lehmann: Robespierre – ›ein impotenter Mahomet‹? Geistes- und wirkungsgeschichtliche Beglaubigung einer neuen textkritischen Lesung. – In: Euphorion 57, 1963, S. 210 – 217, hier S. 212.
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Voltaire) gewonnen hatte. Der Blick auf Voltaires Drama (von 1741) erlaube dann den Rckschluß auf Bchners Rberzeugung, daß auch fr ihn Danton »dem religi.sen Fanatismus seines Widersachers« unterlegen sei. »Bchner wußte, wer diesen Hebel bedient, der wird siegen, gleichviel ob er im Recht ist oder im Unrecht.«10 Das Tertium Comparationis zwischen dem »Blutmessias« Robespierre (R. 206 u. 213) und dem blutrnstigen Mohammed – nach Voltaire (bzw. Goethe) der »Mann der Menschenblut mit Lust vergießt«11 – sei die Grausamkeit, der Blutdurst. So erscheine es sinnvoll und begrndet, Robespierre als »Mahomet« zu bezeichnen – und, wird man ergnzen drfen: zu frchten. Aber welche Bedeutung hat dann der Hinweis auf die Impotenz? »[D]as unterscheidet ihn von dem erotomanen Gottesvieh Voltaires«.12 Hierzu weist Lehmann auf Dantons Spott, Robespierre habe noch »bey keinem Weibe geschlafen« (R. 176). Lehmann scheint also das Adjektiv »impotent« in seiner ursprnglichen medizinisch-leiblichen Bedeutung verstehen zu wollen. Der gesuchte hermeneutische Horizont der Phrase Bchners ergibt sich ihm aus dem durch Fichte vermittelten Mohammed-Bild des franz.sischen Aufklrers in der Rbersetzung Goethes,13 mit der zustzlichen Annahme, daß dieser Horizont zur Zeit Bchners verstanden und ohne gr.ßere Schwierigkeiten nachvollzogen werden konnte. Das klingt – ganz unabhngig davon, ob Fichtes Darstellung richtig interpretiert ist14 – nicht berzeugend. 10 Ebd., S. 215. 11 Mahomet III/8, V. 1129. – In: Goethes Werke, Sophien-Ausgabe I/9. – Weimar 1891 [ND: dtv Mnchen 1987], S. 326. 12 Lehmann, S. 216. 13 Ganz so deutet im Anschluß an Lehmanns Hinweis auf Fichte auch Adolf Beck: Unbekannte franz,sische Quellen fr ›Dantons Tod‹ von Georg Bchner. – In: Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts 1963, S. 489 – 538, hier bes. S. 514 – 519: »Robespierre ist ein moralischer, politischer, vielleicht gar religi.ser Apostel und Prophet, – doch einer, dessen zelotisches Sendungsbewußtsein gipfelt in fanatischem Machtwillen, der zu tyrannischem, dmonischem Vernichtungswillen werden kann.« (S. 515.) Im Unterschied zu Lehmann lßt Beck das Adjektiv »impotent« fr den »Apostel-Tyrannen« (S. 518) vollstndig außen vor, was ja in der Tat mit dieser Charakterisierung nicht gekoppelt werden kann. – Auch wenn Becks Behauptung, Bchner habe sich auf J. Vilates Causes secrWtes und MystWres de la mWre de dieu dPvoilPs bezogen, als widerlegt gelten muß (Thomas Michael Mayer), so bleibt doch der Nachweis einer Polemik gegen Robespierre als eines »nouveau Mahomet« in der Revolutionsliteratur – auch dies als Folge des voltaireschen Dramas – wichtig. (Als Vorlage fr Unsere Zeit scheinen Vilates Schriften nicht gedient zu haben; in MBA III.3, S. 92, sind sie im Quellenverzeichnis nicht erwhnt.) 14 Lehmanns Fichte-Deutung ist seiner gewnschten Rbertragung auf Bchners Robespierre-Gestalt geschuldet. Fichte spricht von Mohammed begrifflich keinesfalls als von einem religi.sen Fanatiker, sondern von seinem »gewaltigen und krftigen Eigendnkel«, er sei eine der »ungemeinen Naturen, die da berufen sind, das dunkle, das gemeine Erdenvolk zu leiten«, und diese »Grille«, um sie »vor sich selbst als g.ttlichen Ruf zu rechtfertigen«, ohne Bedenken mit aller Gewalt
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II. Die Deutung Robespierre-Mahomets als Fanatiker, Schwrmer, Betrger, Despot hat sich in den Kommentaren durchgesetzt,15 sie ist etwa durch den Hinweis auf Kant noch vertieft worden.16 Sie entspricht dem aufklrerischen Mohammed-Bild, fr das Voltaire oder Pierre Bayle17 stehen. Das muß auf jeden Fall bercksichtigt werden. Aber daneben gibt es das christlich-apologetische, das Mohammed als Lgenpropheten und Wstling sieht.18 In der Sptaufklrung – etwa bei Gibbon19
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durchsetzt. Es geht Mohammed bei Fichte nicht um seine religi.se Sendung, sondern um seinen »schwrmerische[n]« Egoismus. Bei den Deutschen als einem »ursprnglichen Volke«, das es ernst meine mit der Verteidigung seiner Selbstndigkeit, htte Mohammeds »Grille« folglich nicht siegen k.nnen. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Ungekrzte Ausgabe. – K.ln o. J. [ca. 1960], S. 135 f. (Achte Rede.) Fichte deutet den zugegebenermaßen literarischen (!) Protagonisten – »nicht den wirklichen der Geschichte, ber welchen ich kein Urteil zu haben bekenne, sondern den eines bekannten franz.sischen Dichters« – in seinem nationalpolitischen Sinne als negative Folie. Bchner wollte aber keine literarische, sondern eine wirkliche Gestalt auf die Bhne stellen. Ob er sich von Fichtes sekundrem Mohammed-Bild hat beeinflussen lassen, ist doch ganz unwahrscheinlich. (Der Nachweis Lehmanns, daß Fichte bei der Wendung »das dunkle, das gemeine Erdenvolk zu leiten« nahezu w.rtlich Goethe zitiert – wie Anm. 11, Mahomet II/5, V. 681, S. 305, dort »Menschenvolk« – , bleibt wichtig fr die Voltaire-Rezeption.) – Zur Zurckweisung einer FichteRezeption im Danton vgl. auch Thomas Michael Mayer: Bchner und Weidig – Frhkommunismus und revolution2re Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. – In: GB I/II, S. 16 – 298, hier S. 229. Vgl. Erl2uterungen und Dokumente. Georg Bchner: Dantons Tod. Hrsg. v. Josef Jansen. – Stuttgart 1969/1977 [RUB 8104], S. 38 (»doktrinrer Fanatiker und Schlchter aus ideologischem Wahn«); MA, S. 513 (»Schwrmer, Fanatiker, Visionr«); bei Poschmann unter Berufung auf die historiographische Hauptquelle Unsere Zeit eingeschrnkt auf »Lgen und Betrug« (P I, S. 564). Walter Hinderer: Bchner-Kommentar zum dichterischen Werk. – Mnchen 1977, S. 118 f. Herrn Peter Baylens, weiland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und Critisches W,rterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche bersetzt […] von Johann Christoph Gottscheden. Dritter Theil. – Leipzig 1743 [ND: Hildesheim 1977], S. 258 – 275. Eine kirchengeschichtliche Arbeit zur Deutung der Mohammed-Gestalt scheint es nicht zu geben. Vgl. die knappe Rbersicht zum Islam allgemein in Alter Kirche, Mittelalter, Reformation und Aufklrung bei Reinhard Leuze: Christentum und Islam. – Tbingen 1994, S. 2 – 7. Bei Ludwig Hagemann: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen. – Darmstadt 1999 ist das Aufklrungskapitel (S. 96 – 103) das am wenigsten ausgearbeitete. Es fehlt eine Untersuchung zur Orientalistik an den Universitten zur Goethe-Zeit. Der fnfte Band von Edward Gibbons History of the Dicline and Fall of the Roman Empire, abgeschlossen 1786, wurde sogleich bersetzt. Das Kapitel ber Mohammed ver.ffentlichte K. (= Christian Gottfried K.rner). – In: Der Teutsche Merkur vom Jahre 1789 [Hrsg. v. C. M. Wieland], S. 70 – 93 u. 217 – 242: Mahomet. Ein Fragment aus Gibbons Fortsetzung seiner Geschichte vom Unfall [so!] und Untergang des R,mischen Reichs. (Die unten zitierte Anmerkung zur Sexua-
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und Herder20 – wird Mohammed eher als Staatslenker und von seiner Sendung berzeugter Religionsstifter gesehen, dem man mit der Alternative »Schwrmer oder Betrger« nicht beikommen k.nne.21 Schließlich gibt es noch Goethes privates Bild, in dem der islamische Prophet als Genie gedeutet wird.22 Das Stichwort »Mahomet« sprach nicht von selbst, weckte unterschiedlichste, u. U. sehr differenzierte Assoziationen. Welcher Tradition folgte Bchner? Bestimmten ihn auch hier seine Quellen? Der aufklrerische Hintergrund der Mohammed-Deutung erklrt die spezielle Wendung auf die Impotenz Robespierres nicht, fr die in jedem Fall eine weitergehende Deutung gesucht werden muß. Wenn es zutrifft, daß Bchner den Mahomet-Titel fr Robespierre aus den von ihm benutzten Quellen bezog, ist wichtig, in welchem Sinn er dort gebraucht wurde. Anlßlich des Kults des H.chsten Wesens, der Robespierre unbehaglich war, schreibt Mercier: »Robespierre en fut jaloux […]. Il crut quil pouvoit jouer le rcle de Mahomet, et rUintUgrer lEtre-SuprÞme dans tous ses droits.«23 Die Gleichsetzung mit dem islamischen Propheten – freilich als »parodiste du lUgislateur de la Mecque« – wird also in Neid und Machtanspruch gesehen. In Unsere
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litt ist ausgelassen.) Hier konnte jeder zeitgen.ssische Leser – also etwa Goethe – Mohammed als »Genie« und »Knstler« bezeichnet finden (S. 85). – Vgl. die h.chst informative Darstellung Gibbons Muhammad von Reinhard Schulze (in: Edward Gibbon: Der Sieg des Islam. Aus dem Englischen v. Johann Sporschil. Mit einem Essay von Reinhard Schulze. – Frankfurt a. M. 2003, S. 321 – 363 (Die Andere Bibliothek). Vgl. Buch 19, Kapitel IV: »Reiche der Araber« in Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Vierter Theil. – Riga, Leipzig 1791, in dem es von Mohammed heißt: »Sein Leben und der Koran selbst zeigen, wie glhend seine Phantasie gewesen, und daß es zum Wahn seines Prophetenberufs keines knstlich abgeredeten Betrugs bedorft habe.« (Herders S2mmtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 14. – Berlin 1909, S. 425 – 428, hier S. 426.) Herder kannte Gibbon (s. Anm. S. 330). Wenn der ungenannte, sich auf Lessing berufende Rberarbeiter des Bayleschen Lexikons fr kirchliche Zwecke diesen so wiedergibt: »Die Frage: War Mahomet Schwrmer oder Betrger? ist schwer zu beantworten.« (Peter Bayle historischkritisches W,rterbuch im Auszuge neu geordnet und bersezt. Erster Theil fr Theologen. [O. Hrsg.] – Lbeck 1779, S. 318 – 350, hier S. 322), so entspricht das keineswegs Bayles Darstellung, sondern weist auf Gibbons historisch argumentierende Darstellung voraus. Insgesamt referiert er dann doch die Betrger-Hypothese (S. 324), verbunden mit der gewohnten Denunziation als »ausschweifende[r] Wollstling« (S. 343). Das gilt von dem jugendlichen Hymnus »Mahomets Gesang«, dem dramatischen Fragment Mahomet bis zu der respektvollen Darstellung in dem »Mahomet«Kapitel der Noten und Abhandlungen zu besserem Verst2ndnis des West-,stlichen Divans. Siehe: Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. Hrsg. v. Karl Eibl, Fotis Jannidis u. Marianne Willems. Der junge Goethe. S2mtliche Werke, Briefe, Tagebcher und Schriften bis 1775. Bd. 1. – Frankfurt a. M., Leipzig 1998, hier S. 738 – 740 (Kommentar), mit Zitat aus Dichtung und Wahrheit: »Mahomet […], den ich nie als einen Betrger hatte ansehen k.nnen«! Zitiert nach MBA III.3, S. 313.
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Zeit wird unterstellt, daß Robespierre seit dem Fest des H.chsten Wesens mit dem Gedanken schwanger gegangen sei, sich fr einen »Gottgesandten« zu halten, und auch entsprechende Verehrung geduldet habe, womit er sich der Gefahr aussetzte, »als ein neuer Mahomed [so!] hingestellt zu werden, der seine Herrschaft auf Lgen und Betrug grnden wolle.«24 Im gleichen Zusammenhang werden dem »Tyrannen« »lcherliche Schwche und Feigherzigkeit« unterstellt. Das hier reproduzierte Mohammed-Bild ist, wie nicht anders zu erwarten, das der Aufklrung.25 Die Analogie zwischen Robespierre und Mohammed stellt eine Doppeldeutigkeit und Unausgeglichenheit der jeweiligen Gestalt zur Verfgung, die aber nicht – wie bei Bchner – mit sexuellem Gehalt gefllt wird. Bchner hat ja das Adjektiv »neu« nicht bernommen – dann wre ein Verstndnis leicht – , sondern hat es durch »impotent« ersetzt. Die Phrase kann durch den Hinweis auf das aufgeklrte Mohammed-Bild allein nicht abgeleitet werden. Das fr Bchner zeitgen.ssische Konversationslexikon von 1830 vermischt auf eigentmliche Weise das aufgeklrte mit dem oben angedeuteten christlich-polemischen Mohammed-Bild und fhrt so nher an die rtselhafte Phrase heran. Der ungenannte Autor kombiniert unausgeglichen die Vorstellung des Betrgers mit der des religi.sen Schwrmers und Wstlings: »Daß er [Mohammed] aufrichtig in seinem Eifer, den G.tzendienst abzuschaffen und eine reinere Lehre zu verbreiten, verfuhr, obgleich er diese Absicht durch Tuschung und Betrug zu erreichen suchte, wird man leicht glauben.«26 »Am wahrscheinlichsten hlt man ihn fr einen religi.sen Schwrmer.«27
Dieser Aspekt wird mit dem des fragwrdigen moralischen Charakters des Propheten, der die allgemeine Unwissenheit seiner Landsleute ebenso geteilt habe wie deren Sinnlichkeit, aufgefllt: »Die Schwche der Beziehung auf das weibliche Geschlecht nahm bei M[ohammed] mit den Jahren und dem Ansehen, das er gewann, zu.« »Tugendhaft im christlichen Sinne war M[ohammed] keineswegs […]. Er war dabei unlugbar ein Wollstling.«28
24 Zitiert nach MBA III.3, S. 242 f. Der Begriff »neuer Mahomet«, den Bchner kennzeichnenderweise nicht bernimmt, findet sich auch bei Vilate (s. Beck, wie Anm. 13, S. 515 f.). 25 Den gleichen aufklrerischen Hintergrund wird man auch fr das spter – in R. 618 – zitierte Bild Robespierres als eines Nero annehmen k.nnen. 26 Allgemeine deutsche Real-Encyklop2die fr die gebildeten St2nde. (Conversations-Lexikon.) Siebenter Band. Siebente Originalauflage. (Zweiter durchgesehener Abdruck.) – Leipzig 1830, Art. »Mohammed« (so!), S. 444 – 448, hier S. 444. 27 Ebd., S. 447. 28 Ebd., S. 446 u. 448.
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Dieser sexuelle Aspekt, wie er in der Phrase Bchners – wenn auch im Modus der Verneinung – widerklingt, stammt aus dem christlich-apologetischen Mohammed-Bild, wie es etwa – wenn auch zeitlich fernab liegend – durch Voltaires Zeitgenossen Zedler bezeugt wird: Die neue Religion des »Welt-beruffene[n] falsche[n] Prophet[en]« komme den »Lsten und sndlichen Begierden des Fleisches« entgegen. »Die Vielweiberey schickt sich sehr wohl fr die Orientalischen V.lcker, die zur Unzucht sehr geneigt sind, darinnen auch Mahommed seinen GlaubensGenossen ein gut Exempel gab, sintemal er 21, oder wie andere wollen, 26 und nach andern nur 17 Weiber gehabt, und ber den noch 4 Kebs-Weiber.«29
Wie immer der historische Befund gewesen sein mag, so ist eindeutig, daß fr diese Darstellung – auch zur Zeit Bchners – Mohammed gerade nicht als impotent, sondern als besonders potent galt. Das konnte man schon bei Bayle lesen, fr den Mohammed voller »Geilheit« gewesen war, da er den »Beyschlaf rasend« geliebt habe.30 Der aufgeklrte Philosoph kann sich gar nicht genug tun, Nachrichten ber das sexuelle Verm.gen des Propheten aufzuhufen. Dieser habe »sich gerhmt, daß er alle Nchte den richtigen Pflichten des Ehstands ein Gengen thte, und durch ein besonderes Vorrecht die Strke von vierzig Mannspersonen, bey dergleichen Vorfllen erhalten habe.« »[…] es sey Mahomets Strke so groß gewesen, daß er seine eilf Weiber in einer Stunde bedienen k.nnen.«31
Zu diesem Zwecke habe ihn der Engel Gabriel die Zubereitung eines die Krfte zum Beischlaf strkenden Gerichts gelehrt: »Er hat sich gerhmt, von dem Engel Gabriel gelernet zu haben, daß die Tugend dieses Gerichtes in Strkung der Lenden bestehe. […] Nachdem er nun auf Befehl des Engels davon gegessen hatte, ist er so stark geworden, daß er sich wider vierzig schlagen k.nnen; bey einer andern Gelegenheit hat er vierzigmal mit Frauenspersonen zu thun gehabt, ohne daß er mde geworden.«32
29 [Johann Heinrich Zedler:] Grosses vollst2ndiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Knste […]. Bd. 19. – Halle, Leipzig 1739 [ND: Graz 1961], Art. »Mahomet, Mohammed, Muhammet«, S. 482 – 490, hier S. 489. Vgl. den Art. »Mohamedanischer Glaube« (S. 508 – 515), wo es heißt, der Islam vertrete lediglich einen »Schein der E[h]rbarkeit und […] Tugend«, »welche[r] im Gegentheil darinnen sich gar sehr verrth, daß sie viel Weiber zu heyrathen und die Sclavinnen zu seiner Wollust zu gebrauchen, erlaubet« (S. 510 f.). Das Gebude der Religion des »Lgenprophet[en]« (S. 512) grnde auf »Lgen« (S. 515). 30 Bayle (wie Anm. 17), S. 258. 31 Ebd., S. 265. Das Beispiel der elf Ehefrauen bringt Bayle aus zwei verschiedenen (christlichen) Quellen. 32 Ebd., S. 272. Das Rezept des aphrodisischen Gerichtes wird vorsichtshalber nur in lateinischer Sprache wiedergegeben.
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Selbst Gibbon kann dem Zitat dieser Tradition – wenn auch nur in einer Anmerkung – nicht widerstehen, wenn er sie natrlich fr eine »Sage« hlt. Sein Rberlieferer reduziert die Zeugungskraft Mohammeds auf die von dreißig Mnnern, mit der er in einer Stunde elf Frauen befriedigen k.nne; ein anderer – der Muslim Abulfeda in seinem Buch ber das Leben des Propheten – gedenke des Ausrufes des Vetters Ali, als dieser den Leib nach dem Tode wusch: »O Prophet, dein Glied ist wahrlich zum Himmel aufgerichtet!«33 Diese Tradition ber die besondere Geschlechtskraft Mohammeds sei abschließend in der Darstellung eines Islamforschers aus dem Jahr 1865 referiert, nach der die Wrdigung dieser außergew.hnlichen Eigenschaft als innerislamische Apologie (also nicht als christlich-islamfeindliche Denunziation) zu lesen sei: »Die Moslime waren schon frh darauf bedacht, ihn zu rechtfertigen, und dies wrde ihnen viel weniger Schwierigkeiten gemacht haben, wenn auch nur eine seiner spteren Ehen fruchtbar gewesen wre. […] Das Prophetenthum, fgen die Glubigen hinzu, ist eine so schwere Aufgabe, daß Gott dem Propheten im Liebesgenusse einen Ersatz gewhrte. Er stattete ihn daher mit gr.ßerer Kraft aus, als dreißig gew.hnliche Mnner zusammengenommen besitzen. Sie vergessen nicht, den Abraham, David und Salomon zu nennen. […] Durch diese Beispiele beweisen sie, daß Excesse im Liebesgenuß ein Vorzug der Propheten sei.«34
Das Wissen um diese Tradition der besonderen Potenz Mohammeds war Ende des 19. Jahrhunderts etwa noch bei Fontane lebendig.35 Man begegnet ihr ber zwei Jahrhunderte hin. Und sie lßt so eindeutig wie m.glich erkennen, daß die rde Phrase »impotenter Mahomet« keine unbedachte Bemerkung ist, sondern bewußt und abfllig eine contradictio in adiecto, einen Selbstwiderspruch formulieren will.
33 Gibbon (wie Anm. 19, Ausgabe 2003), S. 96, mit Anmerkung. (Zu den von Gibbon genutzten arabischen Quellentexten – in Rbersetzung – vgl. Schulze: Gibbons Muhammad, in: Gibbon, a. a. O., S. 345.) 34 A. Sprenger: Das Leben und die Lehre des Mohammad. Nach bisher gr.sstentheils unbenutzten Quellen bearbeitet. Dritter Band. – Berlin 1865, S. 87. 35 Vgl. Fontanes scherzende Briefbemerkung an seine Frau vom 2. Sept. 1874: Seine »Hetzjagd« erlaube ihm »Zartheiten und Aufmerksamkeiten« nicht. »Nun giebt es ja einzelne Gottbegnadete, die es dann doch leisten und nicht blos große Feldherrn und Staatsmnner sondern auch große Gatten und Vter sind, aber sie sind rar, mssen sehr gute Nerven und wie Muhamed, die Kraft von 30 Mnnern haben.« (Theodor Fontane. Der Dichter ber sein Werk. Hrsg. v. Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wieth.lter. Bd. 2. – Mnchen 1977 [dtv 6073], S. 634.) Das gleiche Bild wiederholt Fontane acht Jahre spter in einer Theaterbesprechung. Vgl. Hermann Patsch: Aischa auf der Schaukel. Zu einer m,glichen literarischen Anregung fr Fontanes Effi Briest. – In: Fontane Bl2tter 64, 1997, S. 116 – 123.
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III. An dieser Stelle wird wichtig, was die Betrachtung der Handschrift erbracht hatte. Bchner hatte nach dem Abgang St. Justs fr eine kleine Nebendebatte Platz gelassen, die ihm dann lnger als geplant geriet, weil er den zynisch-sexuellen Disput auf die Charakterisierung Robespierres zulaufen und ihn erst mit ihr beenden lassen wollte. Collot und Billaud hatte er drastische Zoten im Blick auf die »Lustseuche« Syphilis von sich geben lassen, verzwickt und wie stets bei diesem Thema geradezu esoterisch – daß es sich bei der »reizenden Demahy« (R. 502) um eine vermutlich angesteckte und ansteckende Grisette handelt, kann der Leser ja wie vorher die Bedeutung von »Clichy« (R. 499) nur ahnen36 – , und hatte den achselzuckenden Hinweis BarrYres auf den »tugendhaften« Robespierre mit der Zote des »impotenten Mahomet« gekr.nt. Damit ist die Bedeutung deutlich geworden: Billaud wie die anderen Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses fhren hinter dem Rcken Robespierres ein ausschweifendes Leben und mßten durch den »Tugendhaften«, fr den das Laster »Hochverrath« (R. 181) ist, eigentlich wie die lasterhaften Dantonisten gefhrdet sein. Aber sie halten Robespierre fr einen M.chtegern, fr einen zahnlosen Tiger (um ein modernes, unsexuelles Bild zu gebrauchen), der ihnen, wenn sie es – wie natrlich – klug anfangen, nicht gefhrlich werden kann. In dieser Begriffskombination steckt alle Verachtung: Robespierre, der wie ein Despot erscheint, der ber Leichen geht wie der voltairesche Mahomet, ist doch in Wahrheit kraft- und saftlos. Wer »bey keinem Weibe geschlafen« hat (R. 176), kriegt nicht einmal Syphilis, die Krankheit, durch die sich ein echter Mann und Revolutionr erweist. Er ist, so erklren es die eigenen Leute drastisch, zugleich auch politisch am Ende. Bchner hat mit dieser zynischen Charakterisierung auf den Fortgang der politischen Handlung angespielt, die sein Drama nicht mehr vorfhrt, die aber jeder Leser kennen muß: Die Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses werden Robespierre (mit St. Just) fallen lassen, Danton wird ihn – wie er geweissagt hat (R. 612) – mit sich auf die Guillotine »ziehen« k.nnen. Den amoralischen Hintergrund fr die politische Entscheidung hat Bchner entgegen seiner Bezugsquelle, die Bereicherung annimmt,37 selbst geschaffen. Nur fr diesen paßte die Sottise. 36 Daß sich an dieser Stelle auf eine noch fehlende Ergnzungsquelle rckschließen lasse, ist in MBA III.3, S. 4, zu Recht vermutet. Die Andeutungen in Unsere Zeit (MBA III.3, S. 241 f.) decken das Gesprch nicht ab, zumindest nicht den Hinweis auf die Demahy. 37 Vgl. Unsere Zeit: »Welche Grnde Barrere, Billaud-Varennes […] hatten, Robespierre zu hassen, lßt sich mehr errathen, als mit Bestimmtheit angeben. […] Dazu kam noch, daß sich beide auffallend bereichert hatten, – ein unverzeihliches Verbrechen in Robespierres Augen« (MBA III.3, S. 244).
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Bchner hat die Phrase vom »impotenten Mahomet« – wenn er sie nicht selbst entwickelte oder einer Apophthegmen-Sammlung verdankt38 – vermutlich dem Studentenwitz entnommen. Das ist das Milieu, das von Alter und Bildung her solche anzglichen Wortspiele goutiert. Sie gewinnt ihre Drastik daraus, daß sie Unm.gliches kombiniert: die Verneinung der christlich-apologetischen Darstellung Mohammeds als eines superpotenten Wstlings und die aufklrerische Enttarnung als eines Fanatikers, Gewaltmenschen und Betrgers. Robespierre mag der neue Mohammed (gewesen) sein, wie die Referenzquelle zur Franz.sischen Revolution vorschlgt, aber dann nicht im Besitze bermßiger Manneskraft. Damit ließ sich zugleich auch sein politisches Scheitern ins Bild fassen. Bchner konnte der Zote, die er bei dem Stichwort »Mahomet« – anders als die Aufklrer (und die modernen Kommentatoren) – assoziierte, nicht widerstehen, obwohl sie den Zusammenhang der Handlung einen Augenblick lang unterbricht. Sie geh.rt zu dem sexuellen Anspielungspotential, zu den »Veneria« (Gutzkow), die seit dem pornografischen Bild von »cœur« und »carreau« in der allerersten Iußerung Dantons ein unbersehbares Grundmuster des Dramas ausmachen.39
38 Vgl. zum denkbaren Rckschluß auf eine solche Sammlung MBA III.3, S. 3. 39 Vgl. Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. -ber die Liebe bei Georg Bchner. – In: GB I/II, S. 299 – 326; auch Peter von Becker: Die Trauerarbeit im Sch,nen. – In: ders.: Georg Bchner. Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufs2tzen und Materialien. – Frankfurt a. M. 21985, S. 75 – 90.
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Lenzens und Werthers Leiden Zur Demontage eines sthetischen Modells
Von Gerhard Friedrich (Turin) I. »[N]un will ich von seinem Charakter mehr in Resultaten als schildernd sprechen, weil es unm.glich wre, ihn durch die Umschweife seines Lebensganges zu begleiten, und seine Eigenheiten darstellend zu berliefern.«1
Die hier von Goethe behauptete »Unm.glichkeit« einer Schilderung oder Darstellung des Charakters von J. M. R. Lenz – denn um ihn geht es in dieser Bemerkung aus Dichtung und Wahrheit – ist von Georg Bchner mit seiner Erzhlung Lenz praktisch widerlegt worden, da ihm gerade das gelang, was Goethe fr unm.glich hielt: Lenz – in einem streng begrenzten Ausschnitt – »durch die Umschweife seines Lebensganges zu begleiten«. Der Autor von Dichtung und Wahrheit kann nicht beschreiben – und das macht er in seiner Bemerkung so unbewußt wie schlagend deutlich – , weil er sich nicht dazu in der Lage sieht, ein Leben am Rande der Gesellschaft, wie das von Lenz, in seinen »Eigenheiten« auch nur wahrzunehmen – was hieße, den »Lebensgang zu begleiten«. Es kommt hier darauf an zu verstehen, daß nicht etwa Unkenntnis und Informationsmangel zu dieser eingestandenen »Unm.glichkeit« fhren – so war Lenz vor und nach seinem Aufenthalt im Elssser Steintal bei Goethes Schwager Schlosser in Emmendingen (Baden) zu Gast, der sicher ein hervorragender »Informant« htte sein k.nnen – , sondern eine strukturelle Wahrnehmungskonditionierung durch die Weimarer h.fische Kultur,2 die gesellschaftliche Rnder und an diesen 1 J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Teil 3, Buch 14. – In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bnden. Hrsg. v. Erich Trunz. – Hamburg 1960 [Goethes Werke], Bd. 10, S. 7. 2 So wird in der folgenden Bekundung Goethes aus seiner Schrift Literarischer Sansculottismus (1795) seine bis an die Grenze der Selbstverleugnung – als Autor und als Frankfurter Patriziersohn – gehende Identifikation mit dem feudalabsolutistischen Status quo in Deutschland deutlich: »Aber auch der deutschen Nation darf es nicht zum Vorwurfe gereichen, daß ihre geographische Lage sie eng zusammenhlt, indem ihre politische sie zerstckelt. Wir wollen die Umwlzungen nicht wnschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten k.nnten.« (J. W. Goethe: Literarischer Sansculottismus. – In: Goethe. Berliner Ausgabe. Hrsg. v. Siegfried Seidel. – Berlin 1960 ff., Bd. 17, S. 322.)
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verlaufende Biographien sich in Unschrfe verlieren ließ. Die Wahrnehmung des Randes als »fern«, »undeutlich« und letztlich »inkonsistent« teilt sich in dem Ausdruck »Umschweife« mit. Er leugnet weder Dramatik noch Leiden »im Unwesentlichen«, spricht ihnen aber Gewicht und Bedeutungsgehalt ab und legitimiert damit die eigene, tatschlich kulturell bedingte Unfhigkeit sich auf Einzelheiten und Besonderheiten dieser fernen Region anteilnehmend einlassen zu k.nnen. Die »Resultate«, in denen sich Goethe nur in der Lage sieht, ber Lenzens Charakter »sprechen« zu k.nnen, sind Urteile, die aus der Perspektive eines Zentrums politischer und kultureller Hegemonie dem peripheren Leiden jede Konsistenz und »Eigentlichkeit« absprechen: »Auf diese Weise war er zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine Liebe wie sein Haß waren imagin2r [Herv. G. F.], mit seinen Vorstellungen und Gefhlen verfuhr er willkrlich, damit er immerfort etwas zu tun haben m.chte. Durch die verkehrtesten Mittel suchte er seinen Neigungen und Abneigungen Realitt zu geben, und vernichtete sein Werk immer wieder selbst; und so hat er niemanden den er liebte, jemals gentzt, niemanden den er haßte, jemals geschadet […].«3
Und mit dem Gestus des literaturabsolutistischen Normensetzers4 teilt Goethe den ihm bewußten Grund der Uneigentlichkeit Lenzschen Leidens, Liebens und Hassens mit: »und so litt er im allgemeinen von der Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen sein sollte [Herv. G. F.] […].«5 Lenzens Leiden steht ihm – nach Goethe – nicht mehr zu, da es nach seiner allgemeingltigen Transformation in Poesie in Gestalt des Werther, nach seiner Isthetisierung, in dieser Form als aufgehoben zu gelten hatte. Dies ist, wohl selten so deutlich und auch drastisch formuliert, das Raisonnement der »Kunstperiode« mit seiner Unterordnung des lebendigen Phnomens gegenber seiner knstlerischen Reproduktion, die als h.here Wirklichkeit galt. 3 Ebd., S. 8. 4 Das Bild von Goethe als absolutem »Dichterfrsten« gebraucht Heinrich Heine: »Solche Dichter gleichen den absoluten Frsten, die den Menschen keinen selbststndigen Wert beimessen, sondern ihnen selber, nach eigenem Gutdnken, ihre h.chste Geltung zuerkennen. […] Ein absoluter Dichter, der ebenfalls seine Macht von Gottes Gnade erhalten hat, betrachtet in gleicher Weise diejenige Person seines Geisterreichs als die wichtigste, die er eben sprechen lßt, die eben unter seine Feder geraten, und aus solchem Kunstdespotismus entsteht jene wunderbare Vollendung der kleinsten Figuren in den Werken Homers, Shakespeares und Goethes.« (Heinrich Heine: Die romantische Schule. – In: ders.: Werke und Briefe in zehn B2nden. Hrsg. v. Hans Kaufmann. – Berlin, Weimar 21972 [Heine-WuB], Bd. 5, S. 54.) 5 Ebd., S. 7.
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Nach dieser Logik muß ein Autor, der sein Leben nicht in der Konsequenz erfolgreicher Isthetisierungen zu organisieren weiß, und das hieße, daß er, was an Lebensanspruch in Kunstform gegossen wurde, als erledigt und abgelegt betrachtet, um sich sodann erfolgreich mit der schlechten Wirklichkeit zu arrangieren, im notwendigen Umkehrschluß auch als Knstler unbedeutend gewesen sein. So kam es zu Goethes eklatantem Fehlurteil: »so muß es dem Verfasser um so angenehmer sein, daß ein entschiedener Gegensatz sich ihm anbietet, indem er nach Lenzen von Klingern zu sprechen hat. Beide waren gleichzeitig, bestrebten sich in ihrer Jugend mit und neben einander. Lenz jedoch, als ein vorbergehendes Meteor, zog nur augenblicklich ber den Horizont der deutschen Literatur hin und verschwand pl.tzlich, ohne im Leben eine Spur zu hinterlassen; Klinger hingegen, als einflußreicher Schriftsteller, als ttiger Geschftsmann, erhlt sich noch bis auf diese Zeit.«6
Die Abwertung von Lenzens literarischer Bedeutung wird nicht explizit ausgesprochen – der »Meteor« ist doch immerhin ein bewegendes Bild – , sondern als impliziter Umkehrschluß nahegelegt: er hat »im Leben« keine Spur hinterlassen, und wer kein »ttiger Geschftsmann« ist, kann wohl auch kein »einflußreicher Schriftsteller« sein. Noch in Bchners Todesjahr (1837) und zwei Jahre vor der Ver.ffentlichung seines Lenz durch Karl Gutzkow wurde Goethes nachgelassenes Blatt Besuch in Sesenheim 1779 von J. P. Eckermann und F. W. Riemer unter dem Titel Lenz ver.ffentlicht.7 Nun war schon Tiecks dreibndige Lenz-Ausgabe erschienen (1828), und so war die Grundlage einer m.glichen literarischen Neubewertung des inzwischen vergessenen Lenz gegeben, gleichzeitig setzt sich in dem »nachgelassenen Blatt« seine Denunziation als »falsch« Leidender und Hypochonder fort. Die Perspektive des »Zentrums«, die am »Rande« nur unwesentliches Treiben wahrnehmen kann, und die der »Kunstperiode«, die wirklichem Leiden seinen Wirklichkeitsgehalt abspricht, weil es ber die literatursthetisch zugestandene Periode hinaus dauert, macht sich noch in der Zeit der Niederschrift und Ver.ffentlichung von Bchners Lenz geltend: »Er hatte sich unterdessen in seiner gew.hnlichen Weise verliebt in sie [Friederike Brion, G. F.] gestellt […]; und da sie nunmehr gewarnt und scheu seine Besuche ablehnt und sich mehr zurckzieht, so treibt er es bis zu den l2cherlichsten Demonstrationen des Selbstmordes, da man ihn denn fr halbtoll erklren und nach der Stadt schaffen kann.« [Herv. G. F.]8 6 Ebd., S. 12. 7 Goethes poetische und prosaische Werke in zwei B2nden. Hrsg. v. J. P. Eckermann u. F. W. Riemer. – Leipzig 1836/37, Bd. 2, S. 645. 8 Ebd.
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Bchner konnte diesen 1837 ver.ffentlichten Lenz Goethes, der sich in diesem Zitat wie eine, freilich unbeabsichtigte, Persiflage der finalen Sequenz seines Lenz liest – »Am folgenden Morgen bei trbem regnerischem Wetter traf er in Straßburg [auch Goethes »Stadt« ist Straßburg, G. F.] ein.«9 – nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Daß er aber seinen Lenz, neben anderen Schreibanlssen, auch als Antwort und Gegenentwurf zu Goethes Lenzportrait in Dichtung und Wahrheit mit seinen ethischen und sthetischen Implikaten abfaßte, kann als sicher gelten. Ein Hinweis auf Dichtung und Wahrheit findet sich in einem Brief Gutzkows an Bchner, in dem dieser ihn an das Projekt einer »Novelle Lenz« erinnert.10 »Was G.the von ihm [Lenz, G. F.] in Straßburg erzhlt, die Art, wie er eine ihm in Commission gegebene Geliebte zu schtzen suchte, ist [an sich] schon ein sehr geeigneter Stoff.«11 Die in »Commission gegebene Geliebte« erweist sich bei Goethe als die eines livlndischen Barons: »Der ltere Baron ging fr einige Zeit ins Vaterland zurck, und hinterließ eine Geliebte, an die er fest geknpft war. Lenz, um den zweiten Bruder, der auch um dieses Frauenzimmer warb, und andere Liebhaber zurckzudrngen, und das kostbare Herz seinem abwesenden Freunde zu erhalten, beschloß nun selbst sich in die Sch.ne verliebt zu stellen, oder, wenn man will, zu verlieben.«12
Und auch hier dieses Motiv des Fingierens, der falschen Leidenschaften, des Inkonsistenten und Wesenlosen der Emotionen und letztlich aller Lebensußerungen, das sich wie ein roter Faden durch alle Iußerungen Goethes zu Lenz zieht. Das Bild von Lenz wird nach dem Isthetisierungsgebot der »Kunstperiode« desintegriert, da er es nicht vermochte, seine Lebensansprche in sthetischer Form stillzustellen, ber die kanonischen sthetischen »L.sungen« hinaus weiterlitt, insofern auch als Poet ineffizient sein mußte, und darber hinaus noch auf die tolle Idee kam, aus seiner dichterischen Produktion Forderungen an die Realitt abzuleiten. Reformvorschlge fr das Militrwesen, wie sie auch sein Drama Die Soldaten enthlt, einem wirklichen »Kriegsmini-
9 Georg Bchner: Lenz. Studienausgabe. Hrsg. v. Hubert Gersch. – Stuttgart 21998, S. 31. Im folgenden unter der Sigle [Lenz] angefhrt. 10 Von Karl Gutzkow an Georg Bchner, 6. Februar 1836. Zit. nach: Georg Bchner: S2mtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei B2nden. Hrsg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen (P I), Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente (P II). – Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169). Hier: P II, S. 429. 11 Ebd. 12 J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. – In: Goethes Werke, Bd. 10, S. 8.
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ster« unterbreiten zu wollen, erscheint Goethe als der Gipfel der Tollheit: »Rbrigens lebte er, wie seine Z.glinge, meistens mit Offizieren der Garnison, wobei ihm die wundersamen Anschauungen, die er spter in dem Lustspiel Die Soldaten aufstellte, m.gen geworden sein. […] auch hatte er wirklich dieses Fach nach und nach so im Detail studiert, daß er, einige Jahre spter, ein großes Memoire an den franz.sischen Kriegsminister aufsetzte, wovon er sich den besten Erfolg versprach. […] Er aber hielt sich berzeugt, daß er dadurch bei Hofe großen Einfluß gewinnen k.nne, und wußte es den Freunden schlechten Dank, die ihn, teils durch Grnde, teils durch ttigen Widerstand, abhielten, dieses phantastische Werk, das schon sauber abgeschrieben, mit einem Brief begleitet, kuvertiert und f.rmlich adressiert war, zurckzuhalten, und in der Folge zu verbrennen.«13
Das »phantastische Werk«, das aus der Dichtung als Forderung auf die Wirklichkeit zurckkommt, mußte verbrannt werden. Es wird deutlich, daß der eigentliche Skandal, der zum Verbrennen des Lenzschen Schreibens fhrte, sich nicht an konkreten Einzelheiten seines Inhalts festmachte – nicht zuflligerweise ging Goethe auf diese nicht im geringsten ein – , sondern im Tatbestand der Grenzberschreitung gesehen wurde. Lenzens, das Verbrennen verdienende Regelverstoß bestand darin, daß er Dichtung und Wirklichkeit in einem Verhltnis nach dem Prinzip der kommunizierenden R.hren begriff und danach handelte – die Vertreter der »Kunstperiode« – hier Goethe – hingegen setzten die beiden Sphren in ein kompensatorisches Verhltnis zueinander,14 und das verlangte ihre rigorose Trennung. Die sthetisch kompensierende, stellvertretende Abhandlung von Lebensansprchen und -entwrfen kann nur funktionieren, wenn sie in einer Art von diesseitigem Jenseits15 rigoros von der Sphre des Lebens und realen Handelns abgetrennt bleibt.16 13 Ebd. 14 Der ltere Goethe sieht den Schreibanlaß zum Werther explizit in der Hoffnung auf eine therapeutische Wirkung der sthetischen Kompensation. 1820 ußerte er: »Als der Dichter den Werther geschrieben, um sich wenigstens pers.nlich von der damals herrschenden Empfindsamkeitskrankheit zu befreien«. (J. W. Goethe: -ber Goethes Harzreise im Winter. – In: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 17, S. 597.) 15 So ußerte Goethe 1805 in seinem Winckelmann-Aufsatz: »Ist es [das Kunstwerk, G. F.] einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirkung vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die h.chste hervor: […] [es] erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen ber sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab und verg.ttert ihn fr die Gegenwart, in der das Vergangene und Knftige begriffen ist.« (J. W. Goethe: Winckelmann. – In: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 19, S. 487.) 16 Auch in diesem Sinne kann die kanonische Kantische Formulierung gelesen werden, daß unter verschiedenen Arten des Wohlgefallens »das des Geschmacks am Sch.nen einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen sei;
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Dieses Axiom der »idealistischen Periode« hat Lenz verletzt. Deswegen wurde er ausgestoßen, an den Rand verwiesen. Goethe selbst hat ihn aus Weimar entfernen lassen (Ende November 1776); die konkreten Umstnde des Eklats sind bis heute ungeklrt. Es ist nicht auszuschließen, daß auch bei diesem Umstand seine Reformplne fr das Militrwesen eine Rolle spielten.17 An Herder schrieb Lenz zum Abschied: »ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landlufer, Rebell, Pasquillant […] Wie lange werdet ihr noch an Form und Namen hngen«.18 Isthetischen Idealismus und unkritische Unterordnung unter politische Macht wirft Lenz hier seinen ehemaligen Mitstreitern des Sturm und Drang vor. Ein Jahr spter – mitausgel.st durch den Tod von Goethes Schwester Cornelia,19 erlitt Lenz seinen psychischen Zusammenbruch.20 Der nun schon als psychisch krank eingestufte Lenz wird von Freunden und ehemaligen Mitangeh.rigen des Straßburger Kreises des Sturm und Drang, wie z. B. Schlosser, Goethes Schwager, und vor allem auch von Kaufmann zunehmend als Last, als Fall empfunden, mit dem man nicht umzugehen wußte, da seine »Verrckung« auch das eigene Arrangement mit der Lebenswirklichkeit in Frage zu stellen drohte, und auf recht rde Art ins Steintal zum als Philanthropen bekannten Pastor Oberlin abgeschoben.21 So stand Lenz noch auf der Liste der zu Kauf-
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denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab.« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 57. – Frankfurt a. M. 1974, S. 123.) Vgl. P I, S. 804. Es bleibt zu berlegen, inwieweit Goethes Rede von Lenzens Projekten fr den franz.sischen Kriegsminister nicht Projekte chiffriert, die fr den Weimarer Großherzog bestimmt waren – wie auch sein Bericht ber die Geliebte des livlndischen Barons, die Lenz sozusagen stellvertretend »bernommen« htte, sehr an das von Goethe unterstellte Verhltnis zwischen Lenz und Friederike Brion erinnert. Goethe wird seine Motive fr den Titel Dichtung und Wahrheit gehabt haben. Zit. nach: P I, a. a. O. Cornelia, Schwester Goethes und Gattin von J. G. Schlosser, starb am 8. Juni 1777 in Emmendingen nach der Geburt ihres zweiten Kindes. Als Lenz vom Tode Cornelias erfuhr, schrieb er an J. K. Lavater: »Mir fllt diese Lcke nichts – ein edles Wesen von der Art auf der Welt weniger kann sie einen schon verleiden machen.« Zit. nach: Burghard Dedner u. a. (Hrsg.): »Lenzens Verrckung«. Chronik und Dokumente zu J. M. R. Lenz von Herbst 1777 bis Frhjahr 1778. – Tbingen 1999 [Dedner 1999], S. 60. Ein erster Hinweis auf Lenzens ernste Geistesst.rung findet sich in einem Brief vom November 1777: »[…] daß unser gute Lentz […] sich itz, wie ich so eben von Lavatern vernehme, in gantz verrcktem Zustand befinden soll.« 15. November 1777. [Zrich], Johann Heinrich Fssli an Jakob Sarasin [Basel]. Zit. nach: Dedner 1999, S. 87. »Was Lenz thun wird, wollen wir sehen. Oberlin ist der Mann und vielleicht der einzige Mann, der ihn, wenn sein Kopf es erlaubt, Geschmack an einer anhaltenden und ntzlichen Arbeit beybringen kan.« 6. Februar 1778. Colmar. Gottlieb Konrad Pfeffel an Jakob Sarasin [Basel]. Zit. nach: ebd., S. 144.
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manns Hochzeit am 2. Februar 1778 eingeladenen Freunde;22 wurde dann aber, offensichtlich unvorhergesehenerweise, nach einer gemeinsamen Reise mit Kaufmann von der Schweiz nach Emmendingen, vom elsssischen Rheintal aus alleine und zu Fuß in die Vogesen geschickt (ca. 60 km),23 wo er, man weiß es, am 20. Januar bei Oberlin eintraf. Es ist wahrscheinlich, daß die Entscheidung, Lenz bei Oberlin unterzubringen, erst in Emmendingen gefaßt wurde, nachdem Lenz hier den Arzt von Cornelia Goethe, diesen ihres Todes beschuldigend, ttlich angegriffen hatte.24 Der berstrzte, um nicht zu sagen panische Charakter dieser vorletzten Exilierung Lenzens wird auch deutlich aus dem Tatbestand, daß Oberlin Lenzens Eintreffen nicht korrekt angekndigt wurde25 und er auch nicht ber dessen psychische Verfassung informiert worden war. Nach Lenzens ersten Strzen in den Brunnentrog beruhigt sich Oberlin noch: »Gottlob, sagte ich, daß es wÆeiteræ nichts ist; Herr K… liebt das kalte Bad auch, und Herr L… ist ein Freund von Hn. K…«.26 Whrend Kaufmanns Besuch im Steintal beginnt Oberlin skeptisch zu werden: »Es kam mir dies alles etwas bedenklich vor, wollte da nicht fragen, wo ich sah daß man geheimnisvoll wre, nahm mir aber vor meinen Unterricht weiter zu suchen.«27
In Lenz als »Geheimnis«, und zu diesem wird er im Gefolge des Versuchs seiner »Entsorgung«, offenbart sich unmittelbar die kulturgeschichtliche Dimension seiner Krankheit. Sie besttigt sich darin, daß »Lenzens Verkehrtheit« als symptomatisch fr das Scheitern des Sturm und Drang nicht als sthetisches, aber als kulturgeschichtliches Phnomen, als Gestus jugendlicher Rebellion und als Lebensentwurf wahrgenommen wurde.28 Die Abschiebung Lenzens, sein Verstecken war, gewissermaßen antizipatorisch, die praktische Umsetzung von Goethes sthetischem Imperativ bezglich der »Zeitgesinnung, welche durch die 22 Vgl. ebd., S. 112. 23 Vgl. ebd., S. 31. 24 Vgl. hierzu: Ariane Martin: Die Ereignisse vor dem 20. Januar 1978. Jacob Michael Reinhold Lenz »religiose Paroxismen« in Zrich und Emmendingen. – In: GBJb 9 (1995 – 99), 2000, S. 173 – 187. 25 Bewußte Irrefhrung kann man Kaufmann allerdings unterstellen, denn Oberlin schrieb in seinem Bericht Herr L……: »Ich fragte ihn [Lenz, G. F.] ob er der Theolog wre, von dem mir Hr. K… htte sagen lassen? ›Ja‹, sagte er, […].« (J. F. Oberlin: Herr L……. Zit. nach: Lenz, S. 37.) 26 Ebd., S. 36. 27 Ebd., S. 37. 28 »Ich hoffe aber doch, der gute Lenz werde wider zurecht kommen und dann sollte man ihn nach Hause jagen, oder ihm einen bleibenden Posten außmachen. Singularitten, Bruder, und Paradoxie machen immer physisch oder moralisch unglklich.« 24. November 1777. Colmar. Gottlieb Konrad Pfeffel an Jakob Sarasin [Basel]. Zit. nach: Dedner 1999, S. 89.
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Schilderung Werthers abgeschlossen sein sollte« und sie bef.rderte mit Lenzens Quarantne den pathologischen Zustand, den sie mit ihr zu bessern vorgab, oder tatschlich zu verbessern hoffte, die aber sicher dazu diente, Lenz aus dem Verkehr zu ziehen. Von daher ist Lenzens Verrcktheit nicht irgendwie sinnbildlich fr gr.ßere Zusammenhnge, sondern als direkt und konkret kulturgeschichtlich erzeugt zu begreifen. Unter dem Gesichtspunkt der literaturgeschichtlichen und biographischen Bezge, in die Georg Bchner sich mit der Wahl des Sujets bewußt setzte, besteht die zentrale Operation in seinem Lenz darin, Goethes Perspektive auf Lenz und das in ihm reprsentierte lebenspraktische Scheitern des Sturm und Drang umzukehren. Nicht das Leben hat Ansprche nach den »Vorleistungen« sthetisch-kathartischer L.sungsangebote abzutreten, sondern im gleichzeitigen Festhalten an diesen Ansprchen prsentiert Bchner ihre sprachgewaltige Poetisierung als den sch.nen Schein, der sie ist. Wenn Goethe von der Unm.glichkeit einer konkreten Darstellung von Lenzens Leben ausging, so bewies Bchner das Gegenteil. Er konnte das, auch begnstigt durch den glcklichen Fund des OberlinBerichts in Straßburg, vor allem, weil er in seiner Wahrnehmung die Rnder nicht ausblendete, sondern sie in das Zentrum seines Interesses rckte. Er lßt seinen Lenz selbst Kaufmann gegenber diese Perspektive verteidigen.29
II. Es ging Bchner aber um weit mehr, als um eine Wrdigung der Biographie, eine Rettung Lenzens. Es ging ihm um eine Wiederaufnahme der Diskussion der nunmehr in Goethes Urteil als abgeschlossen geltenden Wertung des Sturm und Drang, »jene berhmte, berufene und verrufene Literaturepoche«.30 In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts besteht er darauf: keiner der von den jungen Intellektuellen und Autoren der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts eingeklagten Ansprche auf Selbstbestimmung und Subjektwerdung ist inzwischen eingel.st worden – alles bleibt zu tun. Bchner wiederbelebt in seinem Text aus dem Deutschland Metternichs, dem Deutschland der Karlsbader Beschlsse, das aber gleichzeitig Zeitzeuge der Pariser Juli-Revolution ist, eine 60 Jahre zuvor abgebrochene, vorrevolutionre31 Linie der deutschen Li29 »Dieser Idealismus ist die schmhlichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen […].« (Lenz, S. 14.) 30 J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Teil 3, Buch 12. – In: Goethes Werke, Bd. 10, S. 519. 31 »Vorrevolutionr« bezogen auf die Franz.sische Revolution.
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teraturgeschichte und berprft zugleich kritisch ihre Konsistenz. Lenz ist auch ein großes literaturgeschichtliches Experiment. Ein erstes Indiz fr Bchners Intention, seinen Lenz nicht primr als biographischen, wie es Gutzkow32 und August Stoeber33 nahe legen, sondern als literaturgeschichtlich interessierten und argumentierenden Text und als poetische Neusch.pfung abzufassen, ergibt sich aus Bchners Nicht-Verwendung von lebensgeschichtlichen Daten und pers.nlichen Begebenheiten Lenzens, die ihm in seinen Quellen durchaus zur Disposition standen. Schon der erste Satz der ersten von Gutzkow herausgegebenen Druckfassung des Lenz34 verschweigt Informationen, die Bchner verfgbar waren: »Den 20. ging Lenz durchs Gebirg.«35 Bchner kannte die przisen historisch-geographischen Koordinaten, die der Satz vorenthlt. Der »20.« war der 20. Januar 1778 und das »Gebirg« waren die Vogesen. All das geht aus dem Bchner vorliegenden Bericht Oberlins hervor. Die Unbestimmtheit dieses Eingangssatzes ist von verschiedenen Herausgebern des Lenz, bis zur Lehmannschen Ausgabe von Bchners Werken (1974), offensichtlich als dermaßen unertrglich empfunden worden, daß sie, abweichend vom Erstdruck, wenigstens die Bestimmung des Monats hinzugefgt haben.36 Um einen anderen, diesmal indirekten lebensgeschichtlichen Bezug auf den Komplex Lenz-Goethe, den Bchner vorenthlt, handelt es sich bei Oberlins Aufzeichnung: »Er [Lenz, G. F.] schrieb einige Briefe […]. In dem einen an eine Adeliche Dame in W….r schien er sich mit Abbadona zu vergleichen, er redete vom ›Abschied‹ […]«.37 32 Gutzkow interpretiert Bchners Absichten in einer Fußnote als Herausgeber wohl sehr nach seinem Verstndnis: »Bchner wollte eine eigenthmliche und authentische Beziehung Lenzens zu G.thes Friederike (von Sesenheim) darstellen«. Zit. nach: P I, S. 849. 33 Fr Stoeber bestand die »wahre Quelle« fr Lenz Wahnsinn in dessen unglcklicher Liebe zu Friederike. Vgl. ebd., S. 850. 34 Diese erste Druckfassung des Lenz in: Telegraph fr Deutschland, Nr. 5 – Nr. 14. – Hamburg 1839 (es liegt kein Manuskript vor), gilt der heutigen Bchnerforschung bereinstimmend als die dem Manuskript nahestehendste Textgestalt. Vgl. hierzu das Nachwort von Hubert Gersch, in: Lenz, S. 63 – 69. 35 Lenz, S. 5. 36 Bergemann ergnzt in seiner Ausgabe (Leipzig 1922) zu »Den 20. Hartung«, in spteren Fassungen (z. B. Leipzig 1940) heißt es: »Den 20. Jaenner […]«. Vgl. Fritz Bergemann (Hrsg.): Georg Bchners S2mtliche Werke und Briefe. – Leipzig 1922, S. 83 [B 1922]; auch bei Lehmann ist zu lesen: »Den 20. Jaenner […]«. Vgl. Georg Bchner: S2mtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. Werner R. Lehmann. – Mnchen 21974 [HA], S. 2. 37 J. F. Oberlin: Herr L…… . Zit. nach: Hubert Gersch u. a.: Der Text, der (produktive) Unverstand des Abschreibers und die Literaturgeschichte. – Tbingen 1998, S. 19.
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Nach bereinstimmender Auffassung der Kritik handelt es sich bei der »Dame in W….r« (d. i. Weimar) um Charlotte von Stein. Hier schon ist der indirekte Bezug auf Goethe greifbar. Deutlicher noch wird er in der Rede von »Abbadona« und vom »Abschied«. Lenzens Selbstvergleich mit Abbadona, einem der verstoßenen Engel in Klopstocks Messias, greift das Motiv aus seinem Brief an Herder: »ausgestoßen aus dem Himmel […]«38 wieder auf. In diesem Brief ußerte er sich folglich mit gr.ßter Wahrscheinlichkeit zu seiner, von Goethe veranlaßten, Vertreibung aus dem »Himmel« Weimar. Hier werden konkrete lebensgeschichtliche Anlsse von Lenzens Krise mit Hnden greifbar, und es ist erklrungsbedrftig, daß Bchner, der ansonsten fast alle Details zu Lenzens Aufenthalt in Waldbach aus Oberlins Bericht bernimmt, diese Lenz zeitgeschichtlich vernetzenden und so auch seine Biographie individualisierenden Bezge nicht in seinem Text verarbeitet. Es ging ihm offensichtlich darum, seinem Lenz eine gewisse, dem eigenen Kenntnisstand nicht entsprechende, Anonymitt zu erhalten. Eine Anonymitt, die es Bchner erleichtert, ein Einzelschicksal zum Symptom zu verallgemeinern und Lenz gerade durch die Beschrnkung auf die Details eines begrenzten Lebensabschnittes, die als solche Abstraktion produziert, zugleich als historische und als Kunstfigur wiedererstehen zu lassen.39 Und Bchner, der Lenz als Autor kannte, bevor er von dessen Aufenthalt bei Oberlin erfuhr, belßt es in seinem Lenz bei dessen Eintreffen in Waldbach bei dem wortgetreu aus Oberlins Bericht bernommenen: »ist Er nicht gedruckt?«40 Mehr erfhrt der Leser an dieser Stelle nicht ber Lenz Werk.41 Bchner, der im Mrz 1834 in einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine zwei Strophen aus Lenz Gedicht Liebe auf dem Lande zitiert, einem Gedicht, das das Leiden der von Goethe verlassenen Friederike nachempfindet, das Tieck nicht in seine Lenz-Ausgabe (1828) aufgenommen hatte und das Bchner folglich nur in der Ausgabe in Schillers Musen-Almanach fr das Jahr 1798 kennen konnte, beschrnkt sich in seinem Text auf die Iußerung einer flchtigen Lenz-Kenntnis Oberlins. Offensichtlich ging es ihm nicht um die 38 Vgl. Anm. 18. 39 In eben diesem Verfahren konkretisiert sich Bchners Beharren auf der Rberlegenheit des Dichters gegenber dem Geschichtsschreiber, die darin besteht, daß der Dichter »uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft«. Georg Bchner: An die Familie, 28. Juli 1835. Zit. nach: P II, S. 410. 40 Lenz, S. 7. Im Grade seines Wissens zu Lenzens Leben und Werk geht der Erzhler Bchner nirgends ber Oberlin hinaus, eher bleibt er unterhalb dessen – beschrnkt sich also in der Makrostruktur nicht nur in Anfang und Ende, sondern auch in der »Reichweite« seines Lenz auf die Grenzen seiner Primrquelle. 41 Im folgenden »Kunstgesprch« erwhnt Lenz selbst zwei seiner Dramen: den Hofmeister und Die Soldaten als Beispiele der von ihm vertretenen Isthetik.
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biographisch orientierte Rekonstruktion weder des Lebens noch des Werks des historischen Lenz und doch stellt er – ganz gegen Goethes Ermessen – einen Abschnitt dieses Lebens in seinen authentischen Eigenheiten dar. Der Name »Friederike« kommt in Bchners Lenz nur einmal vor: »Lenz rannte durch den Hof, rief mit hohler, harter Stimme den Namen Friederike mit ußerster Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen […].«42
Und Bchner unterlßt einen weiteren ihm zur Disposition stehenden, wenn auch nur assoziativen, Bezug auf den Friederike-Komplex, der diesen als entscheidenden Ausl.ser von Lenzens Krise htte nahe legen k.nnen. Oberlin erwhnt in seinem Bericht den Namen des kleinen Mdchens, das Lenz sowohl in titanenhafter Anmaßung seiner Gottgleiche als auch als verzweifelten »Gottesbeweis« in Fouday vom Tode zu erwecken versuchte. Sie hieß Friederike,43 und Bchner erwhnt diesen Namen nicht. Das heißt konkret, da ein Manuskript eben nicht vorliegt, in der ersten Druckfassung erscheint er nicht im Text. In anderen Ausgaben wurde er von den Herausgebern, wie die Monatsangabe Jaenner im Eingangssatz, hinzugefgt. Sowohl Bergemann als auch Lehmann erweitern den Text des Erstdrucks: »Am 3. Hornung h.rte er, ein Kind in Fouday sei gestorben« um den Relativsatz: »[…] ein Kind in Fouday sei gestorben, das Friederike hieß [Herv. G. F.]«.44 Die Hinzufgung des Namens »Friederike« seitens dieser Herausgeber reflektiert die gleiche Haltung dem Text gegenber wie auch schon die Hinzufgung des Monatsnamens im ersten Satz. Es geht darum, die biographische Konkretheit des Textes zu erh.hen, die Anonymitt des Protagonisten m.glichst aufzuheben, den Lenz, wie auch schon Gutzkow und Stoeber, vor allem als biographischen Text zu lesen, whrend es Bchner, ganz im Gegenteil hierzu, um die Verallgemeinerung eines Einzelschicksals zu gehen schien. Diese Herausgeberpraxis hat eine adquate Rezeption des Lenz wohl fr einige Jahrzehnte behindert. Fr die Leiden von Bchners Lenz sollte, so wenig wie seine Verbannung aus Weimar, keine unglckliche individuelle Liebe als entscheidendes ausl.sendes Moment figurieren, es sollte fr ihn keine Charlotte – Friederike existieren. Sein Leiden hat keinen Namen mehr, wie es das von Werther noch hatte, es ist Leiden am Weltzustand: »Das All war fr ihn in Wunden; er fhlte tiefen unnennbaren Schmerz davon.«45 Gegen 42 Lenz, S. 24. 43 »Ich erfuhr ferner daß Hr. L., […] den 3. Hornung ein zu Fouday soeben verstorbenes Kind, das Friederike hieß, aufwecken wollte, welches ihm aber fehlgeschlagen.« (J. F. Oberlin: Herr L……. Zit. nach: Lenz, S. 38.) 44 Vgl. B 1922, S. 99 u. HA I, S. 27. 45 Lenz, S. 12.
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Oberlins religi.se Tr.stungsversuche lßt Bchner ihn einwenden: »aber ich, wr ich allmchtig, sehen Sie, wenn ich so wre, und ich k.nnte das Leiden nicht ertragen, ich wrde retten, retten […].«46 Lenzens Leiden wird als unmittelbar universell und nicht mehr individuell verursacht empfunden und ausgesprochen. Es vollzieht sich in lebensund literaturgeschichtlich mehrfach vermittelter Nhe und zugleich in epochaler Ferne zu dem Werthers. Der historische Lenz steht Goethes Werther so nahe, daß er ihn in einer, in die vom Hamburger Hauptpastor Goeze ausgel.ste Debatte um die Unmoralitt von Werthers Selbstmord eingreifenden Schrift verteidigt:47 »Werthers Verdienst ist, daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fhlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.«48 [Herv. im Orig., G. F.]
Lenz hebt hier als entscheidende Leistung von Goethes Werther dessen emotionale Authentizitt, die Entdeckung und den Ausdruck von »Leidenschaften […], die jeder […] fhlt«, hervor, deren Lebensnhe also und nicht ihre kompensatorische Isthetisierung im »Werk«. Er selbst identifizierte sich v.llig mit Werther und bekennt sich in seinen Briefen zur Moralit2t zu dieser begeisterten Identifikation: »[…] da mir als ichs las die Sinne vergingen, ich ganz in seine Welt hineingezaubert mit Werthern liebte, mit Werthern litt, mit Werthern starb […]«.49 Ja, er versucht Goethes Text in seiner eigenen literarischen Produktion variierend fortzuschreiben und nhert sich ihm so, daß er sein Romanfragment Der Waldbruder (1776)50 – d. i. Einsiedler, der Titel reflektiert eine Situation soziokultureller Isolation – mit dem Untertitel ein Pendant zu Werthers Leiden verfaßt.51 Der »Werther« dieses aus der Korrespondenz verschiedener Briefschreiber sich zusammensetzenden Fragments heißt »Herz« und wird innerhalb des Textes auch explizit 46 Ebd., S. 29. 47 J. M. R. Lenz: Briefe zur Moralit2t der Leiden des jungen Werthers. Sie wurden von Lenz am 1. 3. 1776 in der Deutschen Gesellschaft in Straßburg vorgetragen, waren jedoch schon ein Jahr vorher in Goethes Hand, der sie im Mrz 1775 an F. H. Jacobi weiterleitete. Dieser riet vom Druck ab (!). Die Briefe wurden erst 1918 ver.ffentlicht. 48 Ders., ebd., in: J. M. R. Lenz: Werke und Schriften. Bd. 1. – Stuttgart 1966 [LenzWuS, Bd. 1], S. 393. 49 Ebd., S. 390. 50 Von Goethe 1797 in den Horen herausgegeben. 51 Dieser Untertitel geht wohl auf Lenz selbst zurck. In einem Brief an H. Ch. Boie vom 11. Mrz 1776 kndigt er »einen kleinen Roman […], der einen wunderbaren Pendant zum Werther geben drfte« an. Zit. nach: J. M. R. Lenz: Erz2hlungen. Hrsg. v. Friedrich Voit. – Stuttgart 1988 [Lenz-Erz2hlungen], S. 128.
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als Werther-Variante identifiziert.52 Darber hinaus trgt er eindeutig autobiographische Zge.53 Briefpartner dieses Werther-Lenz ist der als Goethe identifizierbare weltklug-zynische Rothe. Dieser Lenzsche »Werther« allerdings ist ein von allen verlachter Narr54 und Don Quichotte, und der Sch.pfer des »Ur-Werthers«, Rothe-Goethe, fordert ihn auf, von seiner auf Tuschungen und Verwechslungen beruhenden sentimentalen Verstiegenheit abzulassen, um sich einer beschrnkteren, aber bergenden Realitt zu ergeben: »Die Selbstliebe ist immer das, was uns die Kraft zu anderen Tugenden geben muss, merke dir das, mein menschenliebiger Don Quischotte! […] selbst die heftigste Leidenschaft muss der Selbstliebe untergeordnet sein, […] komm zu uns, ich will gern die zweite Rolle spielen, wenn ich dich nur zum brauchbaren Menschen machen kann. Was fehlte Dir bei uns? Du hattest Dein mßiges Einkommen, das zu Deinen kleinen Ausgaben hinreichte, […] Was fehlte Dir bei uns? Liebe und Freundschaft vereinigten sich, Dich glcklich zu machen, Du schrittest ber alles das hinaus in das furchtbare Schlaraffenland verwilderter Ideen.«55
Schon in diesem Text erscheint ein »verrckter Werther«, den der Sch.pfer (Rothe-Goethe) des Werthers auffordert, in die »Normalitt« zurckzukehren. Auf die Lebensgeschichte Lenzens bezogen k.nnte das bedeuten, daß Lenz, sich mit dem »Rber-ich« Goethe identifizierend, in Herz als pathologischem Individuum sein selbstkritisches Bild entwirft, aber auch das Gegenteil ist m.glich: eine Kritik an Goethes Verrat des Wertherideals. Nicht Herz als Verrckter, sondern Rothe als Zyniker und Opportunist. Da der Text Fragment geblieben ist, bleibt eine definitive Entscheidung im Bereich der Spekulation. Hier kommt es darauf an hervorzuheben: Im Waldbruder gibt Lenz sein Selbstbildnis als verrckt ausgegrenzte Werther-Figur, als Vertreter einer »Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen sein sollte«.56 Es soll nicht versucht werden, den Waldbruder als weitere Quelle fr Bchners Lenz in Anspruch zu nehmen – auch wenn Bchner diesen, den Lenzschen Dramen gegenber sekundren Text, wie 52 »Wissen Sie auch wohl, dass wir hier einen neuen Werther haben, noch wohl schlimmer als das […]. Kurz, es ist der junge Herz […].« (J. M. R. Lenz: Der Waldbruder. – In: Lenz-Erz2hlungen, S. 41.) 53 »Hufig genug sind solche [autobiographischen, G. F.] Bezge auch nur zu evident: so reflektiert das Geschehen in Der Waldbruder Lenzens unglcklich-verunglckte Leidenschaft zu Henriette von Waldner […]«. (Lenz-Erz2hlungen, S. 148.) 54 »Ha, ha, ha, ich lache mich tot, lieber Rothe. […] Die ganze Liebe des Herz, die Sie mir so romantisch beschrieben haben, ist ein rasendes Qui pro quo.« (Ebd., S. 34.) »Rothe an Herz: Aber, Herz, bist du nicht ein Narr, und zwar einer von den gefhrlichen […].« (Ebd., S. 35.) 55 Ebd., S. 38 f. 56 Vgl. Anm. 5.
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auch das Gedicht Liebe auf dem Land, durchaus gekannt haben kann. Es gibt dafr keine im philologischen Sinn exakten Anhaltspunkte. Unabhngig davon kann der Waldbruder allerdings, in einem weitergefaßten literaturgeschichtlichen Verstndnis, als eine Art Vermittlungsglied zwischen Goethes Werther und Bchners Lenz verstanden werden.
III. Lenz stattet seinen »Herz-Werther« als verlachten Narr und komische Figur, dessen Lieben und Leiden auf einer Tuschung – einem »Qui pro quo«57 – beruhen, mit eben jenem Signum des Uneigentlichen und Inkonsistenten – gegenber der »Eigentlichkeit« der Trag.die des Goetheschen Werthers – aus, mit dem Goethe selbst sein Lenz-Bild in Dichtung und Wahrheit versehen hat. Die Figur des komischen Werther und die des historischen Lenz nhern sich so auf sowohl biographischer (Dichtung und Wahrheit) als auch auf literarisch vermittelter autobiographischer Ebene (Der Waldbruder) fast bis zur Rberlagerung einander an. Wenn Georg Bchner dieses vertrackte Amalgam wahrgenommen hat, konnte er kaum ber Lenz schreiben, ohne sich auch zumindest implizit auf Werther zu beziehen, da nicht nur Goethe Lenz, sondern scheinbar dieser selbst sich als aus seiner Zeit gefallenen – und von daher auch mit den Insignien des Komischen versehenen – Werther interpretierte. Lenz war, auch fr sich selbst, zu einer minderen Werthervariante geworden – die Kunstfigur zum Interpretationsschlssel des lebendigen Individuums, das Leben zum minderen Widerschein des Kunstwerks. Bchners sthetisches Credo, das er gerade im und durch Lenz im »Kunstgesprch« mit Kaufmann formulieren lßt, kehrt diese Perspektive radikal um: »Ich verlange in allem Leben, M.glichkeit des Daseins, und dann ists gut«.58 Gerade diese Umkehrung, als Rckverwandlung des sthetisierten in einen lebendigen Lenz, verlangt, daß Lenz die Konnotation des verlachten Narren, das war der konkrete Modus seiner Isthetisierung, verliert, und – paradoxerweise – seinem literarischen Urbild, und das ist nichts weniger als Werther, in nichts nachsteht. Er mußte ihm als Kunstfigur ebenbrtig scheinen, um als wirklich existierendes autonomes Individuum aus seinem Schatten treten zu k.nnen. An dieser Stelle bleibt zunchst festzuhalten, daß Bchners Versuch einer Wrdigung Lenzens in hohem Maße durch literarsthetische Interferenzen kompliziert und konditioniert wurde. 57 Vgl. Anm. 54. 58 Lenz, S. 14.
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Von hier aus wird Bchners Bemhen um eine gewisse, unterhalb seines Kenntnisstandes von Einzelheiten aus Lenzens Leben bleibende, Abstraktion und kreativen Raum schaffende Anonymitt seines Lenz besser verstndlich. Lenz war, nachdem er sich selbst im Waldbruder als zweitrangigen Werther portraitiert hatte, unabhngig von den biographischen Quellen, zunchst gegen den ihn erdrckenden kanonischen Werther, als diesem zumindest ebenbrtige Kunstfigur zu rehabilitieren. Dieser Herausforderung hat sich Bchner gestellt; den Anschein von Epigonentum riskierend. So erklrt sich – bei aller generellen Nhe des Bchnerschen Textes zu seiner Hauptquelle, dem Oberlin-Bericht, die v.llige Unabhngigkeit vor allem der Eingangssequenz der Erzhlung (bis zu Lenz Eintritt ins Pfarrhaus) von dieser Vorlage und seine Nhe zu Goethes Werther. Bchner greift zunchst den Topos des getuschten und sich tuschenden, des nrrischen Werther auf: »Mdigkeit sprte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. […] Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er htte die Erde hinter den Ofen setzen m.gen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunterzuklimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er msse alles mit ein paar Schritten ausmessen k.nnen.«59
Hier erscheint Lenz als der die Welt auf den Kopf stellende Narr, als den Goethe ihn in Dichtung und Wahrheit und er selbst sich im Waldbruder (das qui pro quo-Motiv!) prsentiert hatten, Titanismus als Realittsverlust – eine Karikatur des Sturm-und-Drang-Genies. Doch schon im nchsten Satz wechselt Bchner das Register und mißt sich an einem der H.hepunkte der neueren deutschen Literatur. Nicht mehr ein sekundres Wertherderivat, sondern der Werther selbst wird zum Bezugspunkt seines Schreibens:60 »Nur manchmal, wenn der Sturm das Gew.lk in die Tler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heranbrausten, in T.nen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflchen zog, so daß ein helles, blendendes Licht ber die Gipfel in die Tler schnitt; oder wenn der Sturm das Gew.lk abwrts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den 59 Lenz, S. 5. 60 Auf die »Wertherabhngigkeit« der folgenden Sequenz hat auch Burghard Dedner hingewiesen. Darber hinaus weist er einzelne krzere, ber den ganzen LenzText verteilte »wertherabhngige« Stellen nach. Vgl. Burghard Dedner: Bchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese. – In: GBJb 8 (1990 – 94), 1995 [Dedner 1995], S. 61 f.
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Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengelute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm, und kleine W.lkchen auf silbernen Flgeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit ber das Land hin glnzten und blitzten, riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwrts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er msse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag ber der Erde, er whlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nchtern, fest, ruhig als wre ein Schattenspiel vor ihm vorbergezogen, er wußte von nichts mehr.«61
In seinem Brief vom 10. Mai schreibt Werther: »Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich den sßen Frhlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße. Ich bin allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die fr solche Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so glcklich, mein Bester, so ganz in dem Gefhle von ruhigem Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet. Ich k.nnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein gr.ßerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft und die hohe Sonne an der Oberflche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und nher an der Erde tausend mannigfaltige Grschen mir merkwrdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzhligen, unergrndlichen Gestalten der Wrmchen, der Mckchen nher an meinem Herzen fhle, und fhle die Gegenwart des Allmchtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des All-liebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trgt und erhlt; mein Freund! wenns dann um meine Augen dmmert und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhen wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: ach k.nntest du das wieder ausdrcken, k.nntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt; dass es wrde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes! – Mein Freund – Aber ich gehe darber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.«62
Es mag Zufall sein, daß die beiden Ich-Entgrenzungserfahrungen ihrer Protagonisten wiedergebenden Sequenzen aus Lenz und Werther praktisch gleichlang sind. Die Wortanzahl differiert um nur 12 Worte: 273 Worte Bchner, 261 Worte Goethe.63 61 Lenz, S. 5 f. 62 J. W. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. – In: Goethes Werke, Bd. 6, S. 9. 63 Die Zitatlngen ergeben sich aus der Struktur der Texte. Bei Goethe handelt es sich einfach um den vollstndigen Brief Werthers vom 10. Mai; bei Bchner ist sie
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Ob Bchner diese quantitative Entsprechung seiner EntgrenzungsSequenz mit der des Werther-Briefs vom 10. Mai bewußt gesucht hat oder nicht, bleibt im Bereich der Spekulation. Unabhngig davon kann aber festgestellt werden, daß diese Lngengleichheit auf der textualen, materiellen Ebene dem inneren Verhltnis der beiden Zitate zueinander entspricht. Es handelt sich um ein Spiegelungsverhltnis. Es ist bekannt, daß das spiegelbildliche Abbild seinem Original gegenber identisch erscheint, zugleich aber dessen Umkehrung prsentiert und eben ber keine vom Original unabhngige Existenz verfgt. In beiden Texten setzt das Entgrenzungserlebnis mit einer Konditionalkonstruktion ein. Ein bestimmter Zustand der umgebenden Natur und seine Wahrnehmung wirken als Ausl.ser der ekstatischen All-Umarmung der hochsensiblen Subjekte Werther und Lenz. Dieser Ausl.ser, die entscheidende conditio, ist in beiden Texten der gleiche. Bei Goethe: »Wenn das liebe Tal um mich dampft […]«; bei Bchner: »wenn der Sturm das Gew.lk in die Tler warf, und es den Wald herauf dampfte […]«. Dieses erste »wenn« leitet in beiden Texten ein crescendo von Konditionalkonstruktionen ein. Sie stimmen demnach in ihrer syntaktischen Struktur – wie in ihrer Lnge – berein. Dann der Ausl.ser, das Naturphnomen, das alles folgende erst in Bewegung setzt: es »dampft« in beiden Texten. Das »Dampfen« ist bedeutsam als Phnomen, das den Rbergang des Wassers von einem Aggregatzustand in einen anderen anzeigt: vom flssigen in den gasf.rmigen. Das Rbergehen von einem Zustand in einen anderen, die Transformation, die auf die innere universelle Verwandtschaft der Phnomene verweist, die dem geniezeitlichen Subjekt anzeigt, daß Alles Eins und Eins Alles ist, prdestiniert das »Dampfen« zu seiner Ausl.serfunktion. Da Bchner allerdings kein geniezeitliches Subjekt war, kann davon ausgegangen werden, daß er in diesem Beginn seiner Entgrenzungs-Sequenz tatschlich Anleihe bei Goethes Werther gemacht hat. Eine parallele Struktur in beiden Texten weist auch der ekstatische Kulminationspunkt der All-Erfahrung der Werther-Lenz auf: beide versenken sich ins All als Mikrokosmos. Goethe: »ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und nher an der Erde tausend mannigfaltige Grschen mir merkwrdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzhligen, unergrndlichen Gestalten der Wrmchen, der Mckchen nher an meinem Herzen fhle, und fhle die Gegenwart des Allmchtigen«.
Und Bchner: vom – eindeutig identifizierbaren – Beginn und Ende der Lenzschen Entgrenzungserfahrung bestimmt.
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»alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag ber der Erde, er whlte sich in das All hinein, […]; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern«.
Werther liegt »nher an der Erde«, Lenz »lag ber der Erde«; der eine »zwischen Halmen«, der andere im »Moos«, und beiden wird die »Welt«/die »Erde« »klein«. Die »kleine Welt«, der Mikrokosmos, reflektiert im pantheistischen Weltbild die individueller Erfahrung und intimer Nhe zugngliche Totalitt des Universums, die unmittelbare Erfahrung Gottes zwischen »Halmen« oder im »Moos«. Wer aber will behaupten, Bchner sei Pantheist gewesen? Er bietet ein virtuelles Bild, und dieses htte – als Werther-Spiegel – ohne sein Original keine Autonomie; und wie das Spiegelbild transformiert er sein Original hintergrndig. Bchner legt großen Wert darauf, die All-Erfahrung seines Lenz als rauschhaften Ausnahmezustand darzustellen, als subjektive Verfassung, die sich nur selten einstellt und die insofern keine Lebensm.glichkeit reprsentieren kann. Seine Entgrenzungs-Sequenz beginnt mit »Nur manchmal […]« und schließt: »Aber es waren nur Augenblicke […]«. Es war Bchner so wichtig, die Begrenztheit der ekstatischen Passage hervorzuheben, daß er seine auktoriale Distanz als Erzhler inmitten dieser ansonsten von erlebter Rede und Figurenperspektive gekennzeichneten Sequenz hervorhebt, also auch erzhltechnisch ein heterogenes Element einfhrt. Die Beobachtungen »Nur manchmal« und »Aber es waren nur Augenblicke« sind nur aus der distanzierteren Erzhler- und nicht aus der in dieser Textpassage ansonsten bestimmenden – distanzlosen – Figurenperspektive m.glich. Bchners Verhltnis zum Werther-Vor-Bild ist demnach widersprchlich und ist eben in diesem Sinne nicht als »Nachempfindung«, sondern als Bespiegelung zu identifizieren: er nhert sich ihm sprachmchtig bis ins Innerste der Subjektivitt des Sturm und Drang an, um sich gleichzeitig von ihm zu distanzieren. Aber auch innerhalb der zitierten Stellen selbst bestehen neben den beobachteten Rbereinstimmungen signifikante Unterschiede. Bchner betont die Gewaltttigkeit dieses Verschmelzungsprozesses von Ich und All, eine Gewalt, die das Ich zu zerreißen droht. Die entfesselte Natur erscheint im Bild einer Schlachtbeschreibung: »bald wie fern verhallende Donner, […] wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein […] sein blitzendes Schwert […] zog, so daß ein helles, blendendes Licht […] in die Tler schnitt«.64 Sein 64 Gelegentlich wird auf einen autobiographischen Fundus dieser Naturbilder aus den Vogesen hingewiesen. In einem Brief an die Familie beschreibt Bchner eine Wanderung mit Freunden durch die Vogesen. Die Naturbeschreibung in diesem
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Lenz erleidet die Vereinigung als Ekstase, die in einen krampfartigen Anfall bergeht: »riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwrts gebogen, Augen und Mund weit offen, […] es war eine Lust, die ihm wehe tat«. Die sich schon hier andeutende K.rperlichkeit der Lenzschen Ekstase, ihre Beschreibung auch in der Wahrnehmung k.rperlicher Schmerzen, fehlt in Goethes Text v.llig. Werther leidet hier darunter, daß er nicht sthetisch produktiv werden kann: »ach k.nntest du das wieder ausdrcken«. Ihm gelingt die gefhlsmßig-subjektive Aneignung der Totalitt – unter der Lenz auch k.rperlich leidet – , aber nicht deren sthetische Reproduktion, er leidet an einem Mangel der Distanz gegenber den eigenen Empfindungen, die knstlerischem Schaffen erforderlich ist, nicht wie Lenz an den Empfindungen als solchen. Bei Goethe leidet »der Knstler«, bei Bchner »der Mensch«. Bchner prsentiert seinen Lenz hier, wie der historische Lenz selbst es in seinem Waldbruder schon autobiographisch vorexerziert hatte, als Werther-Variante.65 Allerdings nicht als nrrisch-komischen, weil ber die von Goethe gesetzten sthetischen Grenzen anachronistisch hinausgefallenen Werther, sondern als kranken, als verwundeten Werther, dessen Leiden vom literarsthetischen Phnomen zum pathologischen Tatbestand geworden ist. In diesem Sinne ist Bchners Lenz auf jeden Fall der Wirkungsgeschichte von Goethes Werther zuzurechnen, ist aber gleichzeitig auf Quellen beruhender, dokumentierter Krankheitsbericht. Die physische Wirklichkeit der Leiden macht den illusionren Charakter, die Unm.glichkeit ihrer literarsthetischen Aufhebung deutlich, und zwar in dem Sinne, daß es hier eines Arztes anstatt eines Literaten bedrfte. Bchner gestaltet literarisch die Grenzen der Literarisierung des Schmerzes. So erklrt sich das Oszillieren seines Textes zwischen »poetischer Fiktion« und »Krankheitsbericht«. Brief stimmt mit der im Lenz in ihrer Multidimensionalitt tatschlich berein. Tiefendimension und stellenweise schwindelerregende vertikale Gliederung der Landschaftsbilder und Naturphnomene, wie auch die an Bhnenbildgestaltung erinnernde Arbeit mit Licht- und Beleuchtungseffekten finden sich in beiden Texten: »Pl.tzlich trieb der Sturm das Gew.lke die Rheinebene herauf, zu unserer Linken zuckten die Blitze, und unter dem zerrissenen Gew.lk ber dem dunklen Jura glnzten die Alpengletscher in der Abendsonne.« (Georg Bchner: An die Familie. Aus Straßburg nach Darmstadt, 8. Juli 1833. – In: P II, S. 369.) Was in dem Brief allerdings v.llig fehlt, ist die gewaltttige Aggressivitt der Phnomene – diese kann als spezifisch fr den Lenz-Text angesehen werden. 65 Hubert Gersch weist im Nachwort zu seiner Studienausgabe des Lenz auf den dem Bchner-Text immanenten Werther-Bezug hin, belßt es allerdings bei der Feststellung einer Parallelitt der »Leidensgeschichten«. Das entscheidende Moment der Bchnerschen Werther-Kritik entgeht ihm: »Bchner will den abgewandten Rsonnements Goethes ber einen ›Un- oder Halbbeschftigten‹ […] die nahegehende, nachvollziehbare Darstellung einer katastrophalen ›Leidensgeschichte‹ entgegenhalten, die in intendiertem Vergleich mit den Leiden des jungen Werthers zu lesen ist – als Geschichte einer Entwicklung zu innerem Tod und angepaßtem Dasein.« (Hubert Gersch: Nachwort. – In: Lenz, S. 81.)
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Das Motiv der »Gewalt […] dieser Erscheinungen« taucht allerdings auch schon bei Goethe auf. Die Ambivalenz der Ich-Entgrenzung – zwischen Ekstase und Ich-Aufl.sung in einem total gefaßten »All«, das in seiner grenzenlosen Ununterschiedenheit hinter dem Rcken des emphatischen Subjekts unversehens sich als »Nichts«, als Abstraktion von aller Wirklichkeit entpuppt – , diese Tendenz zur Entropie des Subjektes ist in Goethes Text keimhaft vorhanden; Bchner entwickelt sie bewußt im Fall Lenz, die Ich-zerst.rende Wirkung des konsequent zu Ende durchgefhrten frhbrgerlichen Titanismus unter den Bedingungen einer generell begrenzenden und im besonderen das Subjekt Lenz ausgrenzenden Lebenswirklichkeit. Wenige Zeilen nach der Entgrenzungspassage wird es Lenz »entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes t.nte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren«.66
Direkt an die literarische Tradition des Sturm und Drang anknpfend, liefert Bchner auf den ersten zwei Seiten seines Lenz dessen literarisch – nicht theoretisch-diskursiv – durchgefhrte Kritik als literarsthetische Revolution, in der das emphatisch anverwandelte »All« nur Chiffre des »Nichts«67 sein konnte und die sthetische die praktische Aneignung der Wirklichkeit verheerend schdigte, ja ausschloß und zur Dissoziation von Ich und Welt, zum »Wahnsinn« fhrte:68 »Es war […], als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.«69
IV. Erst vor dem Hintergrund dieser literarisch-praktisch durchgefhrten Kritik der Ich-All-Verschmelzung als essentieller, der Isthetik des 66 Lenz, S. 6. 67 Auch Dieter Arendt erkennt diese negative Dialektik, wenn er schreibt: »Solche Gestik […] ist das genaue Bild fr die Ich-Philosophie des Idealismus, der in Fichtescher Ausprgung bereits whrend seiner Entstehung ironisch als Nihilismus kritisiert worden war von Jacobi. […] Lenz spiegelt einen Idealismus, dessen ›Riss‹ zwischen illusionistischer Idee und widerstndiger Wirklichkeit sich nun aufdeckt in der Gespaltenheit der Person. Der idealistische Geist als subjektives Allgefhl st.ßt auf die Grenze und Gr.ße der objektiven Realitt; die idealistischgenialische Subjektivitt des Knstlers, das titanische Bewusstsein des kreativen Geistes erweist sich als Rbermut und Rberheblichkeit und erfhrt um so empfindlicher die eigene Ohnmacht und Hilfsbedrftigkeit.« (Dieter Arendt: Der poetische Nihilismus in der Romantik. – Tbingen 1974, S. 179.) 68 »Lenzens Angst und der drohende Wahnsinn sind nicht die Voraussetzungen fr seine verzerrte Sicht der Welt, sondern die notwendige Folge des sich entleerenden Idealismus.« (Ebd.) 69 Lenz, S. 6.
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Sturm und Drang zugrundeliegender Dynamik werden die von Bchner-Lenz im »Kunstgesprch« Kaufmann gegenber vertretenen kunsttheoretischen Positionen und ihre literaturgeschichtlichen Referenzen verstndlich. Es ist tatschlich nicht ganz einfach zu verstehen, worauf, in literaturgeschichtlichem Sinne, Bchner sich in diesem Streitgesprch nun eigentlich bezieht. Der Disput zwischen Kaufmann und Lenz beginnt: »man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhnger davon, Lenz widersprach heftig.«70 Bchner, der in diesem einleitenden Satz gegenber seiner Figur Lenz klar als Erzhler hervortritt, indem er die historische Distanz zwischen erzhlter Zeit und Erzhlzeit hervorhebt: »damals« definiert somit als Beginn einer »idealistischen Periode«, als deren »Anhnger« Kaufmann gilt, den Zeitraum um 1778. Um diese Zeit allerdings beginnt keine neue literaturgeschichtliche Periode, deren Anhnger Kaufmann htte sein k.nnen, und Christoph Kaufmann war nicht nur einer der »damals« bekanntesten Reprsentanten des Sturm und Drang und der geniezeitlichen Bewegung in der Schweiz, sondern gerade auf ihn geht der Name der Bewegung, eben »Sturm und Drang«, zurck! Es war Kaufmann, der Klingers anfnglich Der Wirrwarr71 betiteltes Drama in Sturm und Drang (1777 uraufgefhrt!) umbenannte und der so, gewollt oder ungewollt, der literarischen Epoche ihren Namen gab. H. Poschmann, der ebenfalls um 1778 keine »idealistische Periode« beginnen sieht, meint in seiner Ausgabe der Werke Bchners, Bchner habe eben den Beginn der Klassik (d. i. »idealistische Periode«) um ca. ein Jahrzehnt vorverlegt, um seinen Lenz der idealistischen Isthetik die Leviten lesen lassen zu k.nnen, und freilich sei Kaufmann der denkbar Ungeeignetste, um als »Anhnger« der von Poschmann als »Klassik« interpretierten »idealistischen Periode« auftreten zu k.nnen: »Ein Indiz mehr dafr, wie wichtig es Bchner war, die vorgebliche Rekonstruktion des folgenden Kunstgesprchs in dem sonst authentischen Rahmen der Erzhlung unterzubringen«.72 Das scheint uns zu lebhafte Herausgeberphantasie zu sein. Den Beginn der »Klassik« um ein Jahrzehnt vorverlegen, den Namensgeber des »Sturm und Drang« als »Anhnger« der klassisch-romantischen Periode zu prsentieren, und das alles, um das »Kunstgesprch« »in dem sonst authentischen Rahmen der Erzhlung« (der besteht, im Sinne von 70 Ebd., S. 14. 71 Geschrieben 1776, Urauffhrung als Sturm und Drang im April 1777 – weniger als ein Jahr vor Lenzens Aufenthalt bei Oberlin. 72 P I, S. 834.
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Quellennhe zu Oberlins Bericht, schon im Werther-Bezug auf den ersten beiden Seiten der Erzhlung nicht) »unterzubringen«. Vielleicht gibt es weniger spekulative L.sungen der gegebenen Unstimmigkeiten. Und wenn es in diesem Gesprch tatschlich ausschließlich um den Sturm und Drang ginge? Und Bchner Kaufmann, ohne ihm Gewalt anzutun, ganz einfach als Vertreter der Periode auftreten ließe, der er tatschlich ihren Namen gegeben hat? Und wenn Bchners »idealistische Periode« mit der Verbreitung des Namens »Sturm und Drang« (1777), dem Jahr von Lenzens Verstoßung aus dem »Weimarer Himmel«, der Periode der beginnenden »Domestizierung« der literarischen Rebellion zum »Kunstwerk«, begonnen htte? Welche Position aber vertritt dann Lenz, der traditionellerweise gegenber dem von Bchner so prsentierten »Idealsthetiker« Kaufmann als Reprsentant des Sturm und Drang angesehen wird, was er literaturgeschichtlich ohne weiteres war. Die Frage ist also: welcher Sturm und Drang? Oder: welche Rolle erfindet Bchner fr Lenz als »Dissident« innerhalb des Sturm und Drang? Bchner beginnt Lenzens Argumentation mit einem zweimaligen »Er sagte« und betont so seine eigene Distanz als Erzhler und die Authentizitt des Erzhlten. Schon im zweiten Satz wechselt die Perspektive zu der der erlebten Rede: »Ich verlange in allem Leben«.73 Dieser Perspektivwechsel charakterisiert die Erzhlstrategie whrend des ganzen Kunstgesprchs – die Figurenperspektive dominiert allerdings. Es entsteht so der Eindruck einer Partizipation des Erzhlers an den Auffassungen seiner Figur, bei gleichzeitiger Achtung ihrer historischen Autonomie. Der Kern der Lenz-Bchnerschen Kunstauffassung wird sofort zu Beginn dieser Sequenz ausgedrckt: »Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir k.nnen wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, M.glichkeit des Daseins, und dann ists gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es sch.n, ob es hßlich ist, das Gefhl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe ber diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.«74
Der Gebrauch des Konjunktiv I im zweiten Teil des mit »Ich verlange« beginnenden Satzes betont auch hier die Autonomie der Figur Lenz gegenber dem Erzhler, whrend in seiner ersten Hlfte die Figurenperspektive vorherrscht. Daß hier tatschlich Bchner Lenz seine Stimme leiht, wird deutlich, wenn man mit einem Brief Bchners an die Eltern vergleicht:
73 Lenz, S. 14. 74 Ebd.
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»Wenn man mir brigens noch sagen wollte, der Dichter msse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben«.75
Beide Zitate stimmen w.rtlich berein im »lieben Gott, der die Welt (gewiß/wohl) gemacht hat, wie sie sein soll.« Hier handelt es sich wohl um eine strategische Formulierung auf der Suche nach dem gr.ßtm.glichen Konsens. Vor allem ging Bchner nicht davon aus, in der »besten aller m.glichen Welten« zu leben – das muß hier nicht gesondert dokumentiert werden – , und im weiteren verweist das Attribut »liebe« zu »Gott« selbst schon auf den rhetorischen Charakter der Formulierung. Der »liebe Gott« entstammt der Kindersprache, ist Ausdruck einer naiven Glubigkeit, auf die Bchner sich sowohl im Kontext seines Briefes als auch des Lenz nur rhetorisch-zitathaft, wenn nicht ironisch, beziehen kann. Im Klartext geht es um das von Bchner/Lenz aufgestellte Realittspostulat. Die Kernaussage beider Zitate ist: das entscheidende Kriterium in Kunstfragen ist die Authentizitt des Lebens, des Lebendigen. Die zentrale Kategorie ist »das Leben«. Die sthetischen Kategorien »sch.n« und »hßlich« haben keinen Belang gegenber dem als solchen nicht sthetischen Kriterium »lebendig«. »[…] daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe ber diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Rbrigens begegne es uns nur selten, in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern t.nt es einem ganz, in G.the manchmal entgegen.«76 Und in seinem Brief schreibt er an die Eltern: »Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.«77 Dieser zweimalige positive Bezug auf Goethe und Shakespeare fhrt tatschlich ins Zentrum der Isthetik des Sturm und Drang. In seiner Rede Zum Sch2kespears Tag begeistert sich der junge Goethe: »Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schkespears Menschen. […] Ich schme mich oft vor Schkespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke, das htte ich anders gemacht! Hintendrein erkenn ich, daß ich ein armer Snder bin, daß aus Schkespearen die Natur weissagt und daß meine Menschen Seifenblasen sind, von Romanengrillen aufgetrieben.«78 75 76 77 78
Georg Bchner: An die Familie. 28. Juli 1835. Zit. nach: P II, S. 411. Lenz, S. 14. Vgl. Anm. 75, ebd. Johann Wolfgang Goethe: Zum Sch2kespears Tag (entstanden 1771). – In: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 17, S. 187.
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Goethes »von Romanengrillen« aufgetriebene »Seifenblasen« entsprechen Bchners »Marionetten mit himmelblauen Nasen«. Beide Bilder stehen gleichermaßen fr Unnatur und Manierismus und Goethes Shakespeare-Verehrung ist der Bchners und seine emphatische Naturanrufung ist dem Bchnerschen Lebenspathos sehr nah. In diesem Sinne stellt Bchner Goethe Shakespeare zur Seite. Im Sinne des naturnahen, des »naiven« Dichters. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß Bchner seine Goetheverehrung im Lenz relativiert: »[…] in Goethe manchmal«. Auch fr Lenz ist die Lebendigkeit, die Osmose von Kunst und Leben, das entscheidende Kriterium fr die Beurteilung eines literarischen Textes. In seinem Essay -ber G,tz von Berlichingen kontrastiert er die Qualitt des G,tz gegenber der franz.sischen klassizistischen Trag.die: »Wo ist der lebendige [Herv. im Orig., G. F.] Eindruck [der klassizistischen Trag.die, G. F.], der sich in Gesinnungen, Taten und Handlungen hernach einmischt, der prometheische Funken der sich so unvermerkt in unsere innerste Seele hineingestohlen, dass er wenn wir ihn nicht durch gnzliches Stilliegen in sich selbst wieder verglimmen lassen, unser ganzes Leben beseligt; das also sei unsere Gerichtswaage nach der wir auch mit verbundenen Augen den wahren Wert eines Stcks bestimmen.«79
Entscheidendes Kriterium fr die Wertung eines Kunstwerks – hier der Trag.die – ist die M.glichkeit des Rbergangs, der Permeabilitt von der Kunst zum Leben, die Wechselwirkung, es liegt diesem sthetischen Urteil also ein dynamisch-pragmatisches und kein statisch-formales Modell zugrunde. Es wird deutlich, inwiefern hier implizit eine der Kantischen, idealistischen, Isthetik entgegengesetzte Position bezogen wird. Das Kantische »interessenlose Wohlgefallen« definiert sich geradezu durch seinen antipragmatischen Gestus; es ist absolut und bleibt kontemplativ in sich geschlossen und sein ideales Vorkommen k.nnte nur in der Wahrnehmung der kompensatorischen Negation des »Lebens« als reiner Form bestehen. Die beginnende »idealistische Periode« wre von daher nicht als primr historisch-chronologische Kategorie, sondern als gnoseologisch-methodologischer Komplex zu verstehen, als der – relativ zeitunabhngige – idealistische Ansatz im kunsttheoretischen Denken, den Bchner systematisch kritisiert, wobei dessen geschichtliche Eingebundenheit ein sekundrer Gesichtspunkt ist. Nicht zuflligerweise stammen die im Kunstgesprch als Reprsentanten einer »Idealsthetik« genannten Kunstwerke durchaus nicht aus den 70er oder 80er 79 J. M. R. Lenz: -ber G,tz von Berlichingen (entstanden 1774/75, Erstdruck: Berlin 1901). – In: Lenz-WuS, Bd. 1, S. 380.
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Jahren des achtzehnten Jahrhunderts und auch nicht aus Deutschland.80 Der Ausgangspunkt des Sturm und Drang mit seinem Natur- und Lebensenthusiasmus, der die Grenzen zwischen Kunst und Natur illusionr einebnete, das prometheische Knstlerindividuum als gotthnlichen Originalsch.pfer proklamierte, so einen Wesensunterschied zwischen Kunst-Natur und Gottes-Natur bestritt und folglich durchs einzelne Leben immer Universalitt spannen mußte, konnte dies ohne die Isthetisierung des Individuums, wie z. B. im Spiegelspiel Makro-Mikrokosmos in der zitierten Werther-Passage, nicht leisten. Der Aufruf zur absoluten Natur verkehrte sich so, hinter dem Rcken der Beteiligten, in die Isthetisierung des Individuums als Behlter kosmischer Ausmaße. Also innerhalb des Sturm und Drang selbst findet sich die Ambivalenz von Naturpathos und Isthetisierung, die im »Kunstgesprch« »Idealismus« heißt. Als Reprsentanten dieses »Idealismus der Isthetisierung«, vereinfachend zur »idealistischen Periode« historisiert, kann Bchner den Strmer und Drnger Kaufmann in das »Kunstgesprch« einfhren, ohne damit, wie Poschmann meint, die Klassik um ein Jahrzehnt vorverlegen zu mssen. Bchners Lenz hingegen vertritt die, beim Worte genommen, letztlich antisthetische Position des jungen Goethe in seiner Shakespeare-Rede: »Natur, nichts als Natur!« mit radikaler Konsequenz; mit einer Konsequenz, die auch ber die Positionen des historischen Lenz hinausgeht. Bchner greift Grundpositionen des Sturm und Drang auf und radikalisiert sie, indem er sie gegen idealsthetische Tendenzen verschiedener Kunstrichtungen und -perioden, eingeschlossen die des Sturm und Drang selbst, in Gestalt Kaufmanns, abgrenzt. Im Gesprchsverlauf lßt Bchner seinen Lenz ein Spannungsverhltnis von Kunst und Leben zu dem absoluten Antagonismus von »Tod und Leben« zuspitzen: »Wie ich gestern neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei Mdchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und die andre so sorgsam bemht. Die sch.nsten, innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man m.chte manchmal ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu k.nnen, […] Die sch.nsten Bilder, die schwellendsten T.ne, gruppieren, l.sen sich auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Sch.nheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblttert, verndert, man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen stellen und auf Noten ziehen […].«81 80 Kaufmann nennt »[…] einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna […].« (Lenz, S. 15.) 81 Lenz, S. 14 f.
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Die Wahrnehmung von Sch.nheit erscheint hier essentiell gebunden an die Lebendigkeit des Wahrgenommenen. Entscheidendes Kriterium ist die lebendige Metamorphose der Erscheinungen, ihre Dynamik in der Zeit. Gerade diese aber wird durch ihre sthetische Reproduktion, die wesentlich als Prozeß der Fixierung charakterisiert wird, zerst.rt. »Kunst« produziert jedoch nicht nur das Paradox, gerade das zu zerst.ren, was sie schaffen will: »Sch.nheit«, sie vernichtet darber hinaus auch das »Leben«, das hier praktisch als Synonym von Sch.nheit gilt. Sowohl das Bild des Lebendiges in Stein verwandelnden »Medusenhauptes« als auch das der Abgestorbenes konservierenden »Museen« assoziiert das »Kunstwerk« mit Tod. Lenz antwortet auf Kaufmanns Einwand, »[…] daß er in der Wirklichkeit doch keine Typen fr einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden wrde. Was liegt daran, […] ich muß gestehen, ich fhle mich dabei sehr tot […].«82 Natur- und Lebenspathos des Sturm und Drang werden an diesem Punkt von Bchners Lenz soweit radikalisiert, daß jede vom Leben unterschiedene Werksthetik als solche als zerst.rerisch, als lebensfeindlich wahrgenommen und damit letztlich ein spezifisches Existenzrecht des »Knstlerischen« gegenber dem »Leben« negiert wird. In diesem Sinne handelt es sich bei Bchners theoretischem Entwurf im »Kunstgesprch« um eine radikale Anti-Isthetik. – Nicht zuflligerweise beschreibt Lenz kein Bild in seiner »Beschreibung« des Bildes »Christus und die Jnger von Emmaus«, sondern erzhlt die entsprechende Episode aus dem Evangelium.83 Er »revitalisiert« so das »Werk«, gibt ihm die Dynamik und Handlung, die nur in der Dimension des Lebens bestehen. An die Stelle traditioneller sthetischer Kategorien treten die der Authentizitt und der Intensitt der Wahrnehmung des Lebendigen. Als Voraussetzung der Verwirklichung dieser Qualitten gelten, im Gegensatz zur dominanten Linie der Isthetik des Sturm und Drang mit ihrem prometheischen Mittelpunktsindividuum, gerade die Marginalitt und v.llige Bedeutungslosigkeit der/des darzustellenden Menschen: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel […]. Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentmliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hßlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Sch.nen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom 82 Ebd., S. 15. 83 Vgl. ebd.
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Iußern hineinzukopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht.«84
Es ist eine Art von naturrechtlich-ethischem Fundamentalismus, der hier an die Stelle sthetischer Normen tritt. Das menschliche Leben als solches, als letzter und absoluter Wert wird um so eindringlicher gewrdigt, desto unansehnlicher/unbedeutender seine als darstellenswert erachteten Vertreter sind. In dieser Logik geht es nicht mehr um die Gestaltung von Individuen als Individuationen, d. h. als Bedeutungstrgern von »Seinsollen«, von M.glichkeiten, Idealen oder Utopien, sondern – in diesem Sinne ganz eindimensional – um die Darstellung von beliebigen Vertretern der Gattung als »Sein«, die als solche alle gleich gelten, und gerade die Marginalitt der Figuren bringt als »kleinster gemeinsamer Nenner« der Gattung den vorgeschobensten Posten der Verteidigung des »Humanum« zum Ausdruck. Von hier aus werden die von Bchner gebrauchten negativen Superlative verstndlich. Der »Geringste«, das »unbedeutendste Gesicht« – es geht um mehr, als um rhetorische Eindringlichkeit – , der Gedankengang ist systematisch: gerade in der Authentizitt der Darstellung seiner minimalen Verwirklichung, erm.glicht durch die partizipierende Intensitt der Wahrnehmung (»man muß die Menschheit lieben«) – besteht die gr.ßtm.gliche Wrdigung »des Menschen« als absolutem Wert. Der derart wahrgenommene »rudimentale Mensch« kann sein Subjekt-Sein nur erleiden und ist vor allem genau wahrgenommener lebendiger K.rper in seinen Manifestationen, Lebensußerungen und, da im Grenzbereich seiner Existenzm.glichkeit beobachtet, Verletzungen. In Lenzens Iußerungen im »Kunstgesprch« betont Bchner die K.rperlichkeit, die Physis als wesentliches Merkmal des nach seiner Auffassung zu beschreibenden Menschen. Er spricht von physiologischen Phnomenen, von »Zuckungen« und »Leben«, von »Muskeln« und »Puls«, von »schwellen und pochen«. In seiner Probevorlesung -ber Sch2delnerven kritisiert Bchner den »teleologischen Standpunkt«85 in der Naturphilosophie: »Sie [die »Grundansicht« des »teleologischen Standpunktes«, G. F.] kennt das Individuum nur als etwas, das einen Zweck außer sich erreichen soll, und nur in seiner Bestrebung, sich der Außenwelt gegenber teils als Individuum, teils als Art zu behaupten.«86
Dieser Position hlt Bchner entgegen: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; 84 Ebd., S. 14 f. 85 G. Bchner: -ber Sch2delnerven. Probevorlesung. Zit. nach: P II, S. 157. 86 Ebd.
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sondern sie ist in allen ihren Iußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.«87
Dieses Pathos der Unmittelbarkeit, der bedingungslosen Anerkennung eines in sich selbst grndenden und in diesem Sinne absoluten Seins mag Bchners Fhigkeit, Phnomene in ihrer Geschichtlichkeit wahrzunehmen, kompromittiert haben, auf jeden Fall hat es ihn dazu befhigt, mit v.lliger Unvoreingenommenheit und ußerster Genauigkeit wahrzunehmen. »Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da« – diese Maxime gilt auch fr Bchners kunsttheoretische Ausfhrungen im Lenz. Das Pathos der Unmittelbarkeit sucht keine »Wahrheit hinter den Dingen«, die dargestellten Menschen »verk.rpern« nichts als ihren K.rper; Symbol, Metapher, ja jegliche Zeichenhaftigkeit als solche bis hin zum konkretesten Zeichen, dem Abbild, wird vom Pathos der Unmittelbarkeit kompromittiert, das Bild als solches ist Verrat am Sein:88 genau das lßt Bchner seinen Lenz im zugespitzten Antagonismus: Kunst – Leben = Tod – Leben (Kunst als »Medusenhaupt«), ausdrcken. Auf Basis dieser naturphilosophischen Grundposition ist kein Raum fr sthetische Kategorien, und Bchner selbst fhrt das im Kunstgesprch mit radikaler Konsequenz vor. Wie Bchner in der Eingangssequenz seines Lenz gestalterisch ber den Werther hinausgeht, indem er Lenz durch die sthetisch-subjektivistische Totalittsaneignung hindurch ins Nichts gelangen lßt und das Werthersche Leiden an der Unfhigkeit einer sthetischen Reproduktion von All-Erfahrung im Lenzschen Leiden als Krankheit (»Wahnsinn«) »ver-k.rpert«, so lßt er ihn im Disput mit Kaufmann, Vertreter einer autonomen Werksthetik, das Ende der Kunst als gltiger Form von Wirklichkeitsaneignung berhaupt verknden. Bchner lßt seinen Lenz wenigstens diskursiv vernichten, was den historischen Lenz, neben Vaterbeziehung und religi.ser Krise,89 vernichtet hat: den Primat einer autonomen Isthetik gegenber »dem Leben«, das er dieser gegenber als absoluten Wert verteidigt. So blendet Bchner in seiner Erzhlung zwar ihm bekannte, konkrete destruktive Lebensumstnde Lenzens aus, vor allem dessen Verstoßung aus dem »Weimarer Himmel«, lßt sie aber andererseits, vermittelt in der Radikalitt von Lenzens Reaktion, die der historische Lenz so nie formuliert hat, als Antisthetik prinzipienhaft verallgemei87 Ebd., S. 158. 88 Nur als »verdoppeltes Sein«, durch die Authentizitt des Dokuments kann es fr Bchner »gerettet« werden. 89 Vgl. zu diesem Aspekt die ausfhrlich dokumentierte Arbeit von Carolin SelingDietz: Bchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls »religi,ser Melancholie«. – In: GBJb 9 (1995 – 99), 2000, S. 188 – 236.
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nert und vom Einzelschicksal des Individuums Lenz abgel.st, in seinen Text eingehen. Unter diesem Gesichtspunkt geh.rt Lenz zur Reihe der Positionsbestimmungen innerhalb des kunsttheoretischen Denkens in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts, die – von Hegels Theorem von der »Aufl.sung der romantischen Kunstform«90 bis zu Heines Verdikt vom Ende der »Kunstperiode«91 – derart auf die beginnende Industrialisierung und die generelle Beschleunigung der Entwicklung von brgerlichen Gesellschaftselementen, mit einem Wort: auf den Beginn der Moderne reagierten. Heine bemerkte etwas melancholisch: »Die h.chste Blte des deutschen Geistes: Philosophie und Lied – die Zeit ist vorbei, es geh.rte dazu die idyllische Ruhe, Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung – der Gedanke ist nicht mehr uneigenntzig, in seine abstrakte Welt strzt die rohe Tatsache. – Der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemtserschtterung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlendampf verscheucht die Sangesv.gel, und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht.«92
Was Bchners Kritik der »Kunstperiode« allerdings von der von Autoren des Jungen Deutschland, wie Heine und B.rne, unterscheidet, ist zum einen ihre nicht nur diskursive, sondern – vor allem in der Eingangssequenz des Lenz – ihre auch literarische Durchfhrung, und dann die Ausblendung des expliziten Bezugs auf Goethe. Zwar ist in Bchners Transformation der Werther-Figur in den kranken Lenz der indirekte Bezug auf Goethe prsent, aber eben implizit. Heine und B.rne fassen ihre Kritik der Isthetik der »Kunstperiode«, wie auch Bchner, im Bild der Kunst als Abt.tung, als Versteinerung von Lebendigem und beziehen diese Kritik vor allem auf die Werke Goethes. Fr Heine sind die Goetheschen Menschen »unglckliche Mischungen von Gottheit und Stein«,93 B.rne ist nicht weniger explizit: »Goethe schlug Mignon tot mit seiner Leier und verherrlichte ihr Andenken mit den sch.nsten Liedern. Die Tote versprach er sich 90 Vgl. G. W. F. Hegel: Die Aufl,sung der romantischen Kunstform. – In: G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig B2nden. – Frankfurt a. M. 1970, Bd. 14: Vorlesungen ber die Jsthetik II, S. 220 ff. 91 Auch Heine registriert, bezogen auf die – vor allem Goethesche – Isthetik der Kunstperiode die »Leben« versteinernde Wirkung der »Kunst«: »Sonderbar! diese Antiken mahnten mich an die Goetheschen Dichtungen, die ebenso vollendet ebenso herrlich, ebenso ruhig sind […], daß ihre Starrheit und Klte sie von unserem jetzigen bewegt warmen Leben abscheidet, […], daß sie keine Menschen sind, sondern unglckliche Mischungen von Gottheit und Stein.« (Heinrich Heine: Die romantische Schule. – In: Heine-WuB, Bd. 5, S. 51.) 92 Ders.: Aphorismen und Fragmente. – In: Heine-WuB, Bd. 7, S. 407. 93 Vgl. Anm. 91.
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zu lieben.«94 Und an anderer Stelle: »Aber fr Goethe war ein Kunstwerk der Sarg einer Idee«.95 In Lenz hingegen gilt Goethe – »manchmal«, und das ist wohl auf den vor-weimarschen Goethe zu beziehen – noch im »Kunstgesprch« als positives Beispiel einer spontanen und lebensnahen Kunst neben Shakespeare und den »Volksliedern«. Wo Bchner, wie in der Eingangssequenz, Goethe kritisiert, handelt es sich um praktische und implizite Kritik, der direkte Bezug wird vermieden. Das korrespondiert zum einen der, aus den oben genannten Grnden vorgenommenen, Ausblendung biographischer Bezge auf Goethe im Aufbau der Lenz-Figur, ergibt sich also aus der von Bchner verfolgten Erzhlstrategie. Zum anderen fhrt der nicht autorenbezogene Charakter der von Lenz gegenber Kaufmann vertretenen Position, bei aller Nhe zu der von Heine und B.rne, zu deren Radikalisierung. Es geht Bchner eben nicht darum, die Isthetik eines bestimmten Autors zu kritisieren, sondern jegliche Werksthetik, Kunst als solche ist ihm bilderstrmerisch suspekt.
V. Bchner schreibt, im Unterschied zu Heine und B.rne, nicht als Literaturkritiker, sondern als Kulturrevolutionr. Die Radikalitt seiner Haltung gegenber der des Jungen Deutschland ußerte Bchner in einem Brief an Karl Gutzkow: »Rbrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde [des Jungen Deutschland, G. F.] scheinen mir nicht grade den klgsten Weg gegangen zu sein. […] Ich glaube, man muß […] die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.«96
Nach dieser Maxime konnte fr Bchner der entscheidende leitende Gesichtspunkt im eigenen Schreiben nur der der Wirklichkeitsnhe und der Authentizitt sein, denn alle vorhandenen sthetischen, literaturgeschichtlichen, gattungstheoretischen und sonstigen Normen und Kriterien geh.rten der herrschenden Kultur der »abgelebten modernen Gesellschaft« an und hatten fr ihn keine Verbindlichkeit. Insofern befand sich Bchner in einem Verhltnis maximaler Freiheit gegenber ihm bekannten und zur Verfgung stehenden literarischen Traditionen, Modellen und Genreformen. Er konnte virtuos mit ihnen spielen wie in Leonce und Lena oder in der Eingangssequenz des Lenz. Er konnte sie 94 Ludwig B.rne: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. – In: Ludwig B,rne. Hrsg. v. Inge und Peter Rippmann. – Dsseldorf 1964, Bd. 2, S. 855. 95 Ebd., S. 865. 96 Georg Bchner: An Karl Gutzkow, Anfang Juni 1836. – In: P II, S. 440.
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aber auch mißachten, verletzen oder literarisch modellierte Fiktion und Dokument souvern mischen, wie in Lenz und berhaupt allen seinen Texten. Dies ist Bchners Grundverhltnis zur »literarischen Form«, und man sollte sich von ihm keine Konsequenz oder Kohrenz nach deren Maßgaben erwarten. Das fr ihn entscheidende Kriterium, dem sich jeder formale Gesichtspunkt unterzuordnen hatte, blieb immer die Herstellung des h.chsten Grades an Authentizitt des Lebendigen, das als absoluter Wert begriffen, wie dies bei Bchner geschah, den Keim einer Desintegration seines Abbildes in sich trgt,97 da das Bild nicht die Sache selbst ist. Hierin kann das Grundparadox Bchnerschen Schreibens gesehen werden. Dieser Widerspruch sollte neben den entscheidenden biographischen Umstnden – Zeitmangel aufgrund wissenschaftlicher Arbeitsverpflichtungen, Exilsituation, frher Tod – als sozusagen endogenes Agens zur Wertung des unvollendeten, bruchstckhaften Zustandes bedeutender Texte wie des Woyzeck und eben auch des Lenz mit in Betracht gezogen werden. Das bedeutet, Bruchstckhaftigkeit und Heterogenitt der Texte nicht ausschließlich und in jedem Fall aus ungnstigen externen Bedingungen, als Ergebnisse ußerlich verursachter Behinderungen zu erklren und sie damit implizit an einem unausgesprochenen und damit auch unausgewiesenen Modell von Vollendung und Homogenitt zu messen, sondern darauf zu reflektieren, inwieweit und wo sie durch Bchners Schreibintention selbst erzeugt worden sind. Das hieße, sie nicht in jedem Fall und ausschließlich als defizitre Phnomene vor einer implizit oder auch unbewußt bleibenden positiven Folie zu werten, sondern sie gegebenenfalls auch, ohne Bezug auf ein irgendgeartetes Sein-Sollen, als textuelle Tatbestnde zu akzeptieren und – wenn m.glich – zu verstehen. Hubert Gersch hat 1981 eine bis zum gegenwrtigen Zeitpunkt andauernde Debatte um die Textkonstitution des Lenz ausgel.st.98 Es kann in diesem Rahmen nicht darum gehen, diese Anstze in ihren Einzelheiten nachzuvollziehen, es soll aber versucht werden, exemplarisch Kritik an ihrer Methode zu ben. 97 So zum Beispiel, wie im »Kunstgesprch« selbst das Gemlde »Christus und die Jnger von Emmaus« in die Erzhlung des Lukasevangeliums verwandelt wird. 98 Hubert Gersch: Lenz. Textkritik, Editionskritik, Kritische Edition. Diskussionsvorlage fr das »Internationale Georg Bchner Symposium« Darmstadt 25. – 28. Juni 1981. Die hier begonnene Debatte wurde fortgesetzt vor allem in der Arbeit von Burghard Dedner: Bchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese (Dedner 1995, S. 3 – 68) und in der Kritik dieses Beitrags durch Herbert Wender und Dedners Antwort auf diese Kritik: Herbert Wender: Zur Genese des LenzFragments. Eine Kritik an Burghard Dedners Rekonstruktionsversuch. – In: GBJb 9 (1995 – 99), 2000, S. 350 – 370 und Burghard Dedner: Zur Genese des Lenz-Fragments. Aus Anlaß von Herbert Wenders Kritik. – In: ebd., S. 371 – 377.
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Zunchst ist problematisch, daß ihr Ausgangspunkt in Wahrscheinlichkeitsannahmen und Analogieschlssen und nicht in gesicherten Tatbestnden besteht. Ausgangspunkt von Burghard Dedners Argumentation ist eine briefliche Iußerung von Karl Gutzkow: »So denk ich auch noch mit den Bruchstcken des Lenz auf den Seligen zurckzukommen […]. Die Bruchstcke vom Lenz«.99 Dieses Zitat ist fr Dedner ausreichend zur Formulierung seiner Hypothese, Gutzkow habe in der Form von Wilhelmine JaeglUs Abschrift kein wenn auch lckenhaftes, so doch insgesamt fortlaufendes und homogenes Manuskript vorgelegen, sondern ein Ensemble von Bruchstcken, die im wesentlichen nicht die – nur an zwei Stellen unterbrochene – Kontinuitt der uns bekannten Erzhlung Lenz reprsentierten: »Aufgrund dieser Iußerungen ist zu vermuten, daß Wilhelmine JaeglU an Gutzkow ›Bruchstcke des Lenz‹ geschickt hat, daß dieser daher ihr gegenber bei dem Namen blieb [Lenz, G. F.], aber seinerseits Vernderungen im Sinn der Verknpfung der Bruchstcke vornahm.«100 Dedner zieht diesen Schluß, obwohl, wie auch er bemerkt,101 Gutzkow bezglich des Lenz hufiger die Qualifikation »Fragment« – im Singular – gebraucht. Der Terminus »Fragment« betont gegenber dem der »Bruchstcke« die wesentliche infrastrukturelle Einheit eines, wenn auch nicht vollstndigen, Manuskriptes; das allerdings ist fr Dedner kein Grund, seine Hypothese zu problematisieren. Er hat sich fr die in nur einem Briefzitat vorkommende Qualifikation der »Bruchstcke« entschieden. Die eigentliche Begrndung fr diese Entscheidung besteht in einem Analogieschluß von der Handschriftensituation des Woyzeck auf die des Lenz. Und um Analogienbildung kann es sich nur handeln, denn eine Handschrift oder Handschriften des Lenz liegen eben nicht vor! »Man stelle sich vor, Franzos htte nach der Ver.ffentlichung des WozzeckFragments die Woyzeck-Bruchstcke vernichtet. Wahrscheinlich wre es unm.glich, aus seiner gegltteten und stark bearbeiteten Fragment-Fassung den handschriftlichen Bestand zu rekonstruieren. Man stelle sich umgekehrt vor, Wilhelmine JaeglU htte die ›Bruchstcke‹ zu Lenz aufbewahrt und wir k.nnten sie edieren. Es ist zu vermuten, daß dann der von Gutzkow edierte und uns einzig vorliegende Lenz einen hnlichen Status erhielte wie Franzos Wozzeck; er wre als Dokument einer langen und erfolgreichen Wirkungsgeschichte noch immer interessant, fr historisch-kritische Editionen jedoch belanglos.«102
99 Zit. nach: Dedner 1995, S. 5. 100 Ebd., S. 6. 101 »In der Zffentlichkeit blieb Gutzkow bei dem die Einheit akzentuierenden Singular [d. i. ›Fragment‹, G. F.].« (Ebd., S. 5.) 102 Ebd., S. 6.
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Im Kern dient diese gesamte hypothetische Analogiekonstruktion nur dazu, die »Bruchstcke« des Lenz als Tatbestand einfhren zu k.nnen – nach dem Prinzip: innerhalb einer expliziten Hypothese ist eine weitere implizite Hypothese als solche weniger kenntlich. Das ist kein unbedingt korrektes Verfahren. Ein Rest von Skrupeln lßt Dedner die Lenz-»Bruchstcke« in Anfhrungszeichen setzen; das ndert jedoch nichts daran, daß er sie von der Hypothese zum Tatbestand, der sie nicht sind, bef.rdert und im Folgenden als solchen behandelt. Dedners entscheidendes Argument fr eine Besttigung der Bruchstck-Hypothese aus einer konkreteren Beobachtung des Textes selbst ist der unterschiedlich hohe Grad an Quellenabhngigkeit (d. h. von Oberlins Bericht Herr L……) zwischen erstem und zweitem Teil des Lenz: »Wer das letzte Drittel von Bchners Lenz, die Partien also, die von den vier Tagen zwischen Oberlins Rckkehr von seiner Reise und Lenz Abtransport nach Straßburg erzhlen, parallel liest mit den entsprechenden Partien von Oberlins Bericht ›Herr L……‹, wird schnell feststellen, daß weite Teile der Schlußpartien – beginnend mit dem Bericht von Oberlins Rckkehr von seiner Reise – eine Abschrift von Oberlins Text mit leichter redaktioneller und erzhltechnischer Bearbeitung darstellen. Dagegen handelt es sich bei den davorliegenden Textteilen um berwiegend bchnereigenen Text, der nur gelegentlich durch eingefgten Oberlin-Text unterbrochen wird. Es ist mehr als unwahrscheinlich, daß ein Autor, nachdem er im Schreiben seines eigenen Textes bereits eine eigene Themen- und Erzhlkonzeption entwickelt hat, sich gegen Schluß wieder auf die Ebene des Abschreibens von Fremdtext begibt. Wer die Textgenese des Lenz rekonstruieren will, darf also vermuten, daß die Schlußpartien vor den uns vorliegenden Anfangspartien niedergeschrieben wurden und daß sich die Bruchstelle in der Nhe der Erzhlung von Oberlins Rckkehr […] befindet.«103
Es ist berraschend, daß Dedner es fr »mehr als unwahrscheinlich« hlt, in einem Bchner-Text k.nnten, vom Autor auch so gewollt, heterogene Elemente und unterschiedliche Gemengelage in der Mischung von fiktionalen und dokumentarischen Sequenzen vorzufinden sein, ist doch gerade dies ein entscheidendes Charakteristikum aller Bchner-Texte vom Hessischen Landboten bis zum Woyzeck. Entscheidende Voraussetzung fr Dedners Annahme, die Zunahme des »Abschreibens von Fremdtext« gegen Ende der Erzhlung, wobei dies auf die finale Sequenz gerade nicht zutrifft, k.nne nur zu erklren sein, indem man diesen Teil als »frhe«, d. h. unfertige Arbeitsstufe identifiziert, besteht in seiner Unterstellung, nur der erste, scheinbar ausgearbeitetere Teil reprsentiere Bchners »Themen- und Erzhlkonzeption«. Diese Annahme beruht auf einem Modell von gestalterischer Ho103 Ebd., S. 7 f.
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mogenitt und Geschlossenheit, dem das gesamte Bchnersche Denken und Schreiben entgegensteht. Es wird deutlich, daß die um m.glichst weitgehende Handschriftentreue und kritische Edition bemhten rekonstruierenden Philologen der 90er Jahre paradoxerweise von den gleichen Voraussetzungen ausgehen wie die lteren Bchner-Editoren104 bis in die 60er Jahre hinein, die um Glttung und Sch.nung »ihres« Bchner bemht waren: von einem, im Fall der »Jngeren«,105 implizit und unreflektiert bleibenden, eher banalen Modell sthetischer Kohrenz und Geschlossenheit. Es ist erstaunlich, wie sehr die Ausfhrungen Bergemanns (1922) denen Dedners gleichen: »[…] daß nur dem ersten Teil von Bchners Fragment der Wert eines dichterischen Originales beigemessen werden kann, im weiteren Verlauf hingegen die Erzhlung sich immer mehr in einen den Oberlinschen Bericht referierenden Ton verliert, ja zuweilen sogar diese Quelle geradezu ausschreibt: offenbar handelt es sich nur um einen ersten Entwurf des Dichters.«106
Der Unterschied zwischen »Alten« und »Jungen« besteht darin, daß die »Alten«, sich ihres sthetischen Modells, des »dichterischen Originales«, bewußt, »ihren« Bchner diesem positiv anzunhern versuchten. Bei den »Jungen« wirkt das Modell eher unreflektiert und implizit als Folie, vor der die dieser nicht konformen Texte als Bruchstcke wahrgenommen werden und insofern als solche deutlich ausgezeichnet werden sollen. Also gerade in der Diskriminierung der »Bruchstcke« als solcher wird das implizit bleibende Modell sthetischer Homogenitt wirksam. Von daher erklrt sich die in einigen Editionsvorschlgen beobachtbare Tendenz zu Dissoziation und Desintegration des Textes.107 Angesichts der ihr zugrundeliegenden »Folie« haftet derartigen Vorschlgen etwas durchaus Selbstqulerisches an. 104 Hier denken wir vor allem an Karl Emil Franzos, Paul Landau, Fritz Bergemann und Werner R. Lehmann. 105 Weniger als um tatschliche Herausgeber handelt es sich hier um Theoretiker einer textkritischen Edition. Zu diesen zhlen Hubert Gersch, Jan-Christoph Hauschild, Burghard Dedner und – etwas behutsamer – Herbert Wender. 106 B 1922, S. 783. 107 So htte Gersch rigoroserweise auch den h.chstwahrscheinlich von Gutzkow stammenden Titel – eben Lenz – streichen wollen und hlt ihn »nur trotz ›erheblicher Bedenken‹ fr zulssig«. Zit. nach: P I, S. 795. Burghard Dedner schlgt vor, eine von ihm »Berichtspassage« genannte Sequenz (27.8 – 29.32, die Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf die Lenz-Studienausgabe von H. Gersch, a. a. O.) aus dem Text auszugliedern und in die – zu schaffenden – Paralipomena zu Lenz aufzunehmen, da dieser Teil, sozusagen als Lagerraum, nur Material zusammenfasse, das Bchner in anderen Textteilen noch habe verarbeiten wollen. Vgl. Dedner 1995, S. 68. Dedner begrndet seinen Vorschlag damit, daß sich diese Passage stilistisch und in der Zeitbehandlung vom Textumfeld unterscheide – also damit, daß sie ein Element von Heterogenitt darstellt: sie zeichne sich aus durch »hohe Raffungsintensitt« und die »Tendenz zur zeit-
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Damit soll natrlich nicht behauptet werden, Bchner htte mit dem Lenz ein druckfertiges Manuskript hinterlassen. Es ist nunmehr allgemein bekannt, daß das nicht der Fall war. Es geht um die Wertung feststellbarer Lcken, wie der unmittelbar der Schlußsequenz vorangehenden, und im Text verbliebener offensichtlicher Arbeitsnotizen Bchners – wie »Siehe die Briefe«, der sich die »Berichtspassage« anschließt. Gersch und Dedner werten feststellbare Lcken, ohne den Begriff zur Diskussion zu stellen, als »Arbeitslcken«; mit gleichem Recht k.nnten sie jedoch auch, wie H. Poschmann erwgt, als »Rberlieferungsdefekt[e]«108 interpretiert werden. Worin besteht der Unterschied? Das Konzept »Arbeitslcke« interpretiert diese Stellen als Indizien fr den insgesamt unfertigen und inkonsistenten Charakter des vorliegenden Textes als Ergebnis eines im wesentlichen nicht abgeschlossenen Arbeitsprozesses. Die Annahme von »Rberlieferungsdefekten« hingegen nimmt diese Stellen zur Kenntnis, ohne sie zu Symptomen einer generellen Unfertigkeit des Textes zu verallgemeinern. Wer, wie Dedner, davon ausgeht, daß Bchner seine »eigene Themenund Erzhlkonzeption« nur im ersten Teil des Lenz entwickelt hat und »sich gegen Schluß wieder auf die Ebene des Abschreibens von Fremdtext begibt« (s. o.), kann vorhandene Lcken nur als symptomatisch fr generelle Unfertigkeit, wesentliche Unabgeschlossenheit des Arbeitsprozesses interpretieren. Nicht weil dies nachgewiesen wre, sondern weil es das eigene implizite sthetische Modell nicht anders zulßt. Wenn man hingegen davon ausgeht, daß Bchner seinen Lenz im Anfangsteil bewußt aus der literarischen Gestaltung entlßt und ihn aus der wertherhnlichen Kunstfigur durch die Antinomien des Sturm und Drang hindurch in den wirklichen kranken Lenz transformiert, der, wie oben ausgefhrt, nicht mehr des Literaten, sondern vielleicht des Seelsorgers und sicherlich des Arztes bedarf, dann verndert sich mit diesem Paradigmenwechsel notwendigerweise auch Bchners Primr-
losen Verallgemeinerung« (vgl. ebd., S. 9, Anm. 22). Im wesentlichen geht es darum, daß Bchner diese Passage tatschlich aus dem chronologischen Fluß des Oberlinschen Textes heraushebt, um fr einen Moment in genauer und systematischer Beschreibung der psychischen Verfassung Lenz einzuhalten. Nicht zuflligerweise beginnt dieser Teil so: »Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden, […]«. In: Lenz, S. 27, Z. 8. Der Mediziner Bchner gibt eine zusammenfassende und distanzierte Beschreibung von Lenzens Krankheitszustand. Zweifellos geschieht hier etwas v.llig anderes als z. B. in der Eingangssequenz, und folglich unterscheiden sich auch Erzhlperspektive und Schreibweise von denen des Beginns. Wre dies ein ausreichender Grund, vom Bruchstckcharakter dieser Sequenz auszugehen, mßten auch Bchnertexte wie Der Hessische Landbote und Dantons Tod nur stckweise herausgegeben werden. 108 P I, S. 795.
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quelle. Diese ist nicht mehr der literarisch-fiktionale Text Die Leiden des jungen Werther, sondern Oberlins Bericht Herr L…… . Da dieser eben von dem wirklichen kranken Lenz berichtet, wird Bchner ihm nun nher rcken, an ihm entlang schreiben, wie er vorher am Werther »entlanggeschrieben« hat, und das nicht, weil er sich hier auf einer nur prliminaren Arbeitsstufe befindet, sondern weil sich das als Konsequenz dessen, was im »literarisch ausgearbeiteten« ersten Teil geschieht, ergibt. Wie weiter oben gezeigt wurde, lßt Bchner das sthetisch-gestalterische Moment, in dem Dedner die »Erzhlkonzeption« fr den ganzen Lenz sieht, sich selbst dialektisch aufheben. Die von Dedner u. a. beobachtete Heterogenitt in der Makrostruktur des Textes (Eingangssequenz/Mittelteil) ist also zunchst als wesentlich konzeptionelle einzustufen und nicht als Ergebnis eines abgebrochenen Arbeitsprozesses.
VI. Im Gegensatz zu den hier referierten Positionen der »textkritischen Edition« kann im Verhltnis von Eingangs- und Schlußsequenz gerade das sich Schließen eines Zirkels, wenn nicht formale, so doch konzeptionelle Geschlossenheit beobachtet werden. »Sie entfernten sich allmhlig vom Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in das Abendrot hob, und auf deren warmer Flut die roten Strahlen des Abend spielten; ber die Ebene hin am Flusse109 des Gebirges lag ein schimmerndes bluliches Gespinst. Es wurde finster, je mehr sie sich Straßburg nherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstnde dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie, die Erde war wie ein goldner Pokal, ber den schumend die Goldwellen des Monds liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstnde sich in der Finsternis verloren.«110
Dieser Abschluß der Erzhlung in an Bedeutungsgehalt hochaufgeladenen Naturbildern lßt spontan auf die strmerische All-Natur-Umarmung des Beginns zurckblicken und sogleich feststellen, daß das Einzige den Passagen Gemeinsame das Vorkommen von Natur- und Landschaftsbildern ist. Zunchst hat sich die Erzhlperspektive fundamental verndert. Nicht mehr die Lenz zum Subjekt der Wahrnehmung machende Figurenperspektive, sondern die von Lenz eindeutig geschiedene Perspekti109 So – und nicht, wie zu vermuten wre, »Fuße« – im Gutzkowschen Erstdruck des Lenz. Sptere Herausgeber – bis zu Lehmann – haben in »Fuße« »verbessert«. »Flusse« – obwohl ungew.hnlich – hat in diesem Kontext seine Plausibilitt, da es im Bild der »Welle«, des Wassers bleibt. 110 Lenz, S. 30 f.
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ve des auktorialen Erzhlers ist bestimmend. Die negative Dialektik der Ich-Entgrenzung hatte Lenz schon zu Beginn ins »Nichts« entlassen, universelle Flle hatte sich in Leere verkehrt, »er hatte nichts« und hat damit auch die Fhigkeit einer relativ autonomen subjektiven Reprsentation der ußeren Wirklichkeit verloren. Daher seine hufig von Bchner hervorgehobene Angst vor der Dunkelheit als Angst vor existentiellem Allein-Sein in der Welt. In genau diesem Zustand finden wir ihn am Ende der Erzhlung. Natur erscheint hier nicht mehr als alterego des ekstatischen Subjekts. Es bleibt offen, inwieweit es sie berhaupt wahrnimmt: »Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang«. »[K]ein Drang« nimmt als endgltige Zurcknahme, als spiegelbildliche Umkehrung, direkten Bezug auf die Sturm-und-Drang-Evokation des Beginns. Nur in der Eingangssequenz »drngt« es in Lenz, in diesem Sinn gebraucht Bchner das Verb an keiner weiteren Stelle der Erzhlung: »Anfangs drngte es ihm in der Brust […]; es drngte in ihm«.111 So erscheint tatschlich der Anfang im Ende aufgehoben – nichts weist ber die zirkulre Geschlossenheit dieser Struktur hinaus. Sofern zwischen Lenz und der Natur keinerlei Dynamik mehr besteht, sind die Naturbilder der zitierten Schlußpassage nicht mehr Momente seiner Subjektivitt; sie sind nur als illustrierter Kommentar des Erzhlers zu Lenzens Verfassung, als eine Art von Versinnbildlichungsversuch eines inneren Zustandes aus der Perspektive eines anderen Subjekts – »Seelenlandschaft« – zu lesen. Signifikant ist die beobachtbare tendenzielle Aufl.sung klarer Konturen in Flut und Wellen. Die eigenartigen Wasserbilder, bis hin zum tendenziell oxymorischen »Flusse des Gebirges«, transformieren Landschaft in Chiffren innerer Leere. Die Unbegrenztheit, die undefinierte Anfangs- und Endlosigkeit der Flut, der Welle, und mehr noch des Meeres, k.nnen als ikonographische Assoziationen eines unartikulierten, unterschiedslosen Universalen die Unendlichkeit als Nichts und die leere Grenzenlosigkeit des vom Realittsbezug abgeschnittenen Subjekts veranschaulichen.112 111 Ebd., S. 5. 112 Harald Schmidt hat in seiner bemerkenswerten Arbeit Melancholie und Landschaft. Die psychotische und 2sthetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Bchners »Lenz«. – Opladen 1994, die Aufhebung des Isthetischen in diesen Landschaftsbildern analysiert: »Lenzens Tagtraumvisionen und die ihnen material zuzuordnende Bildbeschreibung des Kunstgesprchs sowie das Schlußtableau nhern sich stark einer gegenstands- und raumlosen, ja abstrakten Naturreprsentation. […] [Es] entziehen sich die entmaterialisierten Naturreprsentationen, sofern sie Lenzens lustvollen Entgrenzungsvisionen entwachsen, aber jenen Kriterien, von denen als entscheidenden Konstituenten nicht nur des landschaftlichen, sondern des sthetischen Raums berhaupt auszugehen war: denen der Freiheit und der Distanz des Subjekts der Natur gegenber. Im Unterschied zum Entfremdungs- und Zivilisationsprodukt ›Landschaft‹ kommt in den Tag-
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Lenz selbst hatte im Verlaufe der Erzhlung, unmittelbar der »Httenszene« vorausgehend, diese Wahrnehmung des »Alles als Nichts«: »Er wurde still, vielleicht fast trumend, es verschmolz ihm alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen Himmel und Erde, es war ihm als lge er an einem unendlichen Meer, das leise auf- und abwogte. Manchmal saß er, dann ging er wieder, aber langsam trumend.«113
Im Unterschied zur Schlußsequenz ist es hier nicht der Erzhler, der sich in Bildern Lenzens verschlossenem Inneren anzunhern versucht, sondern der leere Lenz selbst tritt hier noch in ein Spiegelungsverhltnis zur Natur als unendlichem Nichts und gibt damit dem Erzhler des Endes den Bildkodex zur Dechiffrierung von Lenzens nunmehr hermetischer Subjektivitt vor. Hier kommt ein letztes Mal die zwischen Bchner und seinem Lenz bestehende Komplizenschaft, ja intime Nhe zum Ausdruck. Bchner kennt auch Lenzens Trume. Im Tagtraum – bezeichnenderweise in einem halbbewußten Zustand – gelingt Lenz noch, sich der ersehnten Einheit mit dem Universum zu nhern, allerdings um den Preis der Aufgabe seines Subjektstatus. Nicht die zivilisatorische Abgrenzung eines Kultur- gegen einen Naturraum ist hier Voraussetzung einer spezifisch menschlich-subjektiven (praktischen oder sthetischen) Aneignung der Natur, sondern ein tendenzielles Eintauchen in ihre allumfassende Homogenitt (»Flut, Meer«), deren ununterscheidbares Moment das ehemalige Subjekt wird. Hier vollzieht sich die Aufhebung der zivilisationsschaffenden Trennung von Kultur und Natur, von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt, und das Individuum findet in seinem unterschiedslosen Aufgehen in der Sch.pfung, in v.lliger Umkehrung der prometheischen Hybris des geniezeitlichen Subjekts, zu unmittelbar-kreatrlicher, sinnlicher Einheit mit dem Universum. Die Sehnsucht nach dem Verschwinden des Subjekts in der Natur, der regressive Wunsch nach der Aufhebung aller Trennungen, der letztlich Todeswunsch ist, bleibt Lenz als Weg aus seiner existenziellen Isolation: »[…] es msse ein unendliches Wonnegefhl sein, so von dem eigentmlichen Leben jeder Form berhrt zu werden; fr Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in trumen Lenzens ein distanzloser Naturgenuß zum Zuge, dem ein deutlich psychopathisches Substrat eignet. Unterschiedlich ausgeprgte narzißtische Regressionen grundieren die Naturerlebnisse Lenzens; […] ablesbar an der durchgehenden Wasser- und Wellenmetaphorik der entmaterialisierten Natur [machen sich] imaginre Regressionen auf den primrnarzißtischen Zustand geltend, in dem die Subjekt- und Objektreprsentanzen weitgehend aufgel.st sind. Die Isthetizitt dieser distanzlosen, regressiven Naturbezge definiert sich nurmehr ber ihren Genußcharakter und ihre landschaftsanaloge Reprsentation der ganzen, harmonischen Natur.« (S. 375.) 113 Lenz, S. 17 f.
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sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.«114
Diese Tendenz zur Aufl.sung des Subjekts kann als eine Konstante im Schaffen Bchners,115 letztlich Resultat seiner radikalen Aufhebung der traditionellen Dichotomien Leib/Seele, K.rper/Geist, beobachtet werden. Sie findet sich in Lenz auch in anderer Form: in der Bildfeindlichkeit des Lebens- und Seinspathos im Kunstgesprch, denn ber die Verdoppelung der Welt im Bild und im wesentlich darber vermittelten Selbstbildnis konstituiert sich das Subjekt gegenber der Objektwelt. So kann Lenzens »bilderstrmerische« Position gegenber Kaufmann auch als mit seiner konstitutionellen Subjektschwche korrelierend betrachtet werden, als deren Rbersetzung in sthetischen Diskurs. Seine – und Bchners – Antisthetik wre dann zu begreifen als Beharren auf der M.glichkeit subjektloser Gestaltung als Ergebnis eines sich selbst verdoppelnden Seins, ohne die Produktion von Bildern. Was bleibt, ist das Insistieren auf dem Dasein in seiner Authentizitt: »Ich verlange in allem Leben, M.glichkeit des Daseins, und dann ists gut«.116 Es bliebe zu berlegen, inwieweit dieses Bchnersche Minimalprogramm in »Kunstsachen«117 fr eine – in seiner Analyse118 – subjektlose Zeit verstanden werden muß, als komplementr zu seiner Hoffnung auf die knftige Formation eines radikal neuen kulturellen (und politischen) Subjekts: »Ich glaube man muß […] die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen […]«.119 114 Ebd., S. 13. 115 Auch in anderen Werken Bchners – hier sei vor allem an Dantons Tod gedacht – finden sich Spuren dieser konstitutionellen Schwche des Subjekts. Die Dantonsche Maitresse Marion verliert sich tatschlich – denn bei Lenz bleibt dies ein Sehnen – in der Homogenitt des All-Flusses: »M a r i o n. […] Den Abend saß ich am Fenster, ich bin sehr reizbar und hnge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zusammen, ich versank in die Wellen der Abendr.te. […] Ich kenne keinen Absatz, keine Vernderung. Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochnes Sehnen und Fassen, eine Glut, ein Strom.« Der seiner Subjektrolle und der Geschichte mde Danton sehnt sich nach der Ausl.schung seiner Subjektivitt in sensualistischer All-Verschmelzung. Er antwortet Marion: »D a n t o n. Ich m.chte ein Teil des Ither sein, um dich in meiner Flut zu baden, um mich auf jeder Welle deines sch.nen Leibes zu brechen.« (P I, S. 28.) Die Aufgabe des Subjekts, resultierend auch aus Dantons – und Bchners – Verzweiflung an der Geschichtsohnmchtigkeit der Subjekte, lßt diese geschichtsjenseitige sensualitisch-regressive Utopie der mit allen K.rpern des Universums in der AllFlut intim verbundenen K.rper aufscheinen. 116 Lenz, S. 14. 117 Ebd. 118 Hier sei nur verwiesen auf seinen vielzitierten »Fatalismusbrief« von Januar 1834 (vgl. P II, S. 377 f.; zur Datierung vgl. GBHK, S. 133 – 135) und auf die diesem entsprechende Wertung der Geschichtsohnmchtigkeit der Protagonisten der Franz.sischen Revolution in Dantons Tod. 119 Vgl. Anm. 96.
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Die kritische Perspektive aufs Subjekt in Bchners Lenz1 Von Hans Otto R.ßer (Guxhagen)
»Es gibt unausweichliche Verhngnisse; es gibt in der Literatur jedes Landes Menschen, die das Wort guignon in geheimnisvollen Zeichen in die gewundenen Falten ihrer Stirn geschrieben haben. Vor einiger Zeit wurde den Gerichten ein Unglcklicher zugefhrt, auf dessen Stirne die seltsamen Worte pas de chance einttowiert standen. […] In der Literaturgeschichte gibt es hnliche Schicksale. Man sollte meinen, der blinde Engel der Vergeltung htte sich gewisser Menschen bemchtigt, um sie aus Leibeskrften auszupeitschen, zur Erbauung der anderen.«2 »Es wird immer einen Breton gegen Artaud, einen Goethe gegen Lenz, einen Schiller gegen H.lderlin geben, um die Literatur mit einem Rberich zu berziehen und zu sagen: Achtung, nicht weiter! Keine Taktlosigkeit! Werther ja, Lenz nein!«3
1. Vorbemerkung Worin die Gesellschaftskritik in Bchners Lenz besteht, ist eine immer wieder gestellte und insoweit »klassische« Frage der BchnerForschung. Es ist hier nicht der Ort, die disparaten, oft auch desperaten Antworten darauf zu sichten und zu diskutieren. Gew.hnlich stellen sie ab auf Lenzens Verhltnis zu seinem Vater und die Normen, die dieser vertritt, generell auf die Routine und dadurch »Langeweile« erzeugende Normalitt brgerlichen Alltagslebens, auf die Religion als Inhalt des Lenzschen Wahnsinns, schließlich noch auf den Idealismus. Schwierig wird es immer dann, wenn mit Rckgriff auf diese gesellschaftlich-moralischen und ideologisch-geistesgeschichtlichen Faktoren der Lenzsche Wahnsinn erklrt werden soll. Immerhin haben noch andere unter der Miserabilitt des deutschen 1 Fr Hinweise und Anregungen danke ich Dietmar Voss. 2 Charles Baudelaire: Edgar Allan Poe. Sein Leben und seine Werke. – In: ders.: S2mtliche Werke/Briefe in acht B2nden. Bd. 2 [ChB II]. – Mnchen 1983, S. 260. 3 Gilles Deleuze, FUlix Guattari: Anti-^dipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. – Frankfurt a. M. 1977 [Deleuze/Guattari], S. 173.
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brgerlichen Alltagslebens des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelitten, ohne daß sie verrckt wurden. Und auch bekennende Idealisten waren in der Regel durchaus alltagstauglich.4 Wenn man, was gewiß sinnvoll ist, die Frage nach der Gesellschaftskritik entlastet von der im Text nicht beantworteten Frage nach den Ursachen der Lenzschen Krankheit, bleibt das Problem, daß die genannte Art der Gesellschaftskritik eher sprlich, in Spuren im Text existiert. Whrend Hinderer diese Schwierigkeit dadurch zu umgehen versucht, daß er den Aspekt der Gesellschaftskritik durch den der ›existentiellen Krise‹ bei Lenz ›ergnzt‹,5 vertritt der vorliegende Aufsatz die These, daß die Gesellschaftskritik in Bchners Lenz existiert als Kritik des brgerlichen Subjektes sowohl als eines ideologischen Konzeptes als auch als praktischer, wenn auch nur problematisch lebbarer Form individueller Vergesellschaftung. Die Figur des Lenz ist im Text dabei sowohl Sprachrohr dieser Kritik, etwa im »Kunstgesprch«, als auch Objekt, an dem diese Kritik entfaltet wird, indem sie Lenz als jemanden zeigt, der durch die Antagonismen brgerlicher Subjektivitt zerrissen wird und der bis an die Grenzen dieser Vergesellschaftungsform geht und sie dadurch sichtbar macht. Der vorliegende Aufsatz fokussiert nicht die spezifischen pathologischen Formen der Lenzschen ›Zerrissenheit‹; es geht nicht um einen weiteren Beitrag zur »differentialdiagnostischen Musterung« des Protagonisten. Durch die spezifisch pathologischen Formen der Lenzschen ›Zerrissenheit‹ hindurch interessieren hier die Durchblicke auf die gesellschaftlich bedingten Widersprche des Subjekts, einmal auf den Widerspruch im selbsterhaltungsrelevanten, vorgeblich rationalen Steuerungszentrum des Subjekts zwischen Selbsterkenntnis und Verdrngung, Selbstbehauptung und Anpassung an gesellschaftliche Verhltnisse und zum andern Widersprche in der Wunschproduktion der Subjekte, vor allem im Blick auf Entgrenzungswnsche der Subjekte. Bchners Text untergrbt die Autonomieillusionen des Subjektes und konfrontiert sie mit einem »subversive[n], alles Bestehende befra4 Hingegen benutzt Andreas Pilger die Formulierung von »idealistischen Vorstellungen« bedeutungsgleich mit ›Wahnvorstellungen‹: Die »idealistische Periode« in ihren Konsequenzen. Georg Bchners kritische Darstellung des Idealismus in der Erz2hlung Lenz. – In: GBJb 8 (1990 – 94), 1995 [Pilger 1995], S. 122. – Diese Gleichsetzung findet sich bereits bei Dieter Arendt: Georg Bchner ber Jakob Michael Reinhold Lenz oder: »die idealistische Periode fing damals an«. – In: Burghard Dedner, Gnter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Bchner Symposium 1987. Referate. (Bchner-Studien, Bd. 6.) – Frankfurt a. M. 1990 [Dedner/Oesterle], S. 328 u. 329. 5 Vgl. Walter Hinderer: Pathos oder Passion: Die Leiddarstellung in Bchners »Lenz«. – In: Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift fr Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Alexander von Bormann. – Tbingen 1976, S. 491.
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gende[n] Verlangen«.6 Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn zugleich ist der Text in Momenten hellsichtig gegenber den Grenzen und Ambivalenzen dieses Verlangens – wie schon Dantons Tod. Wom.glich liegt darin die anhaltende provozierende Aktualitt des Textes.
2. Lenz im »Kunstgesprch« oder: Inwiefern ist der Idealismus »die schmhlichste Verachtung der menschlichen Natur«? Galt etwa noch fr Hans Mayer das »Kunstgesprch« im Lenz als quasi direkte Intervention des Autors Bchner in den Erzhlfluß mit der Funktion, seine »Kunsttheorie«, seine »sthetische[n] Anschauungen« »bekenntnishaft« darzulegen,7 wird hier die These vertreten, daß das »Kunstgesprch« davon disponiert wird, was in der gesamten Erzhlung thematisch ist: Konzept und Praxis des brgerlichen Subjektes, seiner Wirksamkeit, seiner Widersprche und Grenzen, seines Zerbrechens. Freilich scheint auf den ersten Blick bereits die Abschnittsbezeichnung »Kunstgesprch« nicht ganz unproblematisch zu sein. Einmal handelt es sich, sieht man von Kaufmanns Hinweis auf den »Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna« ab, nicht um ein Gesprch im strengen Sinn, sondern eher um einen Monolog Lenzens. Zum anderen scheint der sthetisch-kunsttheoretische Charakter von Lenzens Iußerungen fragwrdig, stellt er doch scheinbar die Gltigkeit des sthetischen Codes mit seiner Unterscheidung von »sch.n« und »hßlich« in Frage: »Ich verlange in allem Leben, M.glichkeit des Daseins, und dann ists gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es sch.n, ob es hßlich ist, das Gefhl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe ber diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.« (S. 14, Z. 10 – 14.)8 Dieser Verabschiedung von »sch.n« und »hßlich« als »Kriterium in Kunstsachen« widerspricht allerdings, daß Lenz wenige Zeilen spter Texte und Bilder als quasi medusenhafte Momentaufnahmen aus einer »unendliche[n] Sch.nheit« bestimmt, »die aus einer Form in die andre tritt« (S. 15, Z. 6 f.). Will man es nicht beim einfachen Konstatieren solcher Widersprche belassen, wird man einen genaueren Blick auf 6 Volker Braun: Die Verh2ltnisse zerbrechen. Was werden wir die Freiheit nennen? Rede zur Verleihung des Bchner-Preises vor der Deutschen Akademie fr Sprache und Dichtung. – In: FAZ vom 30. 10. 2000 [Braun 2000], S. 56. 7 Hans Mayer: Georg Bchner und seine Zeit. – Frankfurt a. M. 1972 [H. Mayer], S. 294 u. 414. 8 Einfache Seitenverweise mit Zeilenangaben beziehen sich auf: Georg Bchner: Lenz. Studienausgabe mit Quellenanhang und Nachwort. Hrsg. v. Hubert Gersch. – Stuttgart 1984.
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Lenzens Iußerungen in »Kunstsachen« werfen mssen. Dabei zeigt es sich, daß Lenzens Monolog in sich dialogisch, mehr noch, daß er als Kampfplatz organisiert ist, wo Lenz von ihm aufgezhlten Positionen der »idealistischen Periode« seine eigenen Ansichten entgegenstellt. Diese erhalten nur in dieser Kampfstellung, in dieser Opposition ihren Sinn, damit in gewisser Weise die Hegemonie idealistischer Isthetik anerkennend, wirken aber sofort mißverstndlich oder einseitig mechanistisch, naturalistisch, schließlich kunstfremd, wenn sie nicht mehr als »Gegenwort« (Celan) erkennbar bleiben, sondern aus ihrem oppositionellen Kontext herausgel.st und isoliert als bekenntnishafte Zitate prsentiert werden. Lenz benennt vier Positionen idealistischer Isthetik, auf die sich seine eigenen Iußerungen kritisch beziehen lassen. Eine Generalcharakteristik idealistischer Isthetik, zugleich Lenzens Hauptvorwurf: Sie verklre die »Wirklichkeit« (S. 14, Z. 6 f.). Damit zusammen geht Kaufmanns affirmativer Hinweis, »daß er in der Wirklichkeit doch keine Typen fr einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden wrde« (S. 15, Z. 19 – 21). Verklrung lßt sich demnach als Herstellung, Konstruktion einer Sch.nheit verstehen, deren Maß nicht in irgendeiner Wirklichkeit liegt, sondern in einem Ideal. Um den notwendigen Blick auf Schiller hier schon vorwegzunehmen: Zur Idealisierkunst des Dichters geh.rt es u. a., »die in mehrern Gegenstnden zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln«.9 Lenz hlt dem entgegen: »Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir k.nnen wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen.« (S. 14, Z. 7 – 10.) Und daran schließt sich die bereits zitierte Iußerung ber das »einzige Kriterium in Kunstsachen« an. Was als isoliertes Zitat als Verabschiedung des spezifisch sthetischen Codes verstanden werden k.nnte,10 bekommt nunmehr im polemischen Kontext der Kritik der idealistischen Isthetik einen gnzlich anderen Sinn. Es wird hier nmlich deutlich, daß Lenz nicht das Unterscheidungskriterium »sch.n« und »hßlich« an sich verabschiedet, sondern nur insoweit, als es als Selektionsinstrument fr knstlerische Stoffe fungieren soll, also bestimmte Wirklichkeitsbereiche als fr die knstlerische Aneignung ungeeignet ausgrenzt. Hingegen gilt fr Lenz, »das Gefhl, daß 9 Friedrich Schiller: -ber Brgers Gedichte. – In: ders.: S2mtliche Werke. Bd. 5: Philosophische Schriften. Vermischte Schriften. – Mnchen 1972 [Schiller-SW], S. 683. 10 Etwa von Mark W. Roche: Die Selbstaufhebung des Antiidealismus in Bchners Lenz. – In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 107 (1988), Sonderheft, S. 136 – 147, der behauptet, Bchners »sthetische Theorie« laufe hinaus »auf eine Verneinung der Kunst sowie der Sch.nheit« (S. 139 f.).
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was geschaffen sei, Leben habe, stehe ber diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen« (S. 14, Z. 12 – 14). Man mßte jedoch das Gesagte przisieren: das einzige Kriterium in Sachen Auswahl der Stoffe. Die »Gestalten« der nach idealistischer Isthetik geschaffenen Werke sind »Holzpuppen« (S. 14, Z. 20). Diese Kritik gleicht der Camilles an marionettenhaften, allegorischen Charakteren in Theaterstcken.11 Am Bild der »Holzpuppe« wird zunchst so viel verstndlich: Die literarischen »Gestalten« werden von außen und von oben motiviert und gesteuert, nach Ideen oder einer »bloße[n] Empfindung des Sch.nen« (S. 15, Z. 15 f.), bleiben also Gestalten ohne (Unter-)Leib. Diese Konstruktion nach Idealen oder Gefhlen konfrontiert Lenz mit dem Programm, »in das eigentmliche Wesen jedes einzudringen«, jeden zu »verstehen« (S. 15, Z. 12 f. u. 14). Der Vorwurf des Mechanismus, der sklavischen Nachahmung dessen, was ist, kann von Lenz an die idealistische Adresse zurckgegeben werden: »man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Iußern hineinzukopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht.« (S. 15, Z. 16 – 19.) Daß diese sthetische Freisetzung des je eigentmlichen Wesens einer Gestalt nicht durch einfache Nachahmung m.glich wird, sondern eine spezifische sthetische Arbeit, einen spezifischen sthetischen Sinn erfordert, variiert Lenz in verschiedenen Formulierungen: eindringen, verstehen, sich »in das Leben des Geringsten« senken (S. 14, Z. 21 f.), die »in fast allen Menschen« gleiche »Gefhlsader« freilegen (S. 14, Z. 27), indem man die mehr oder weniger dichte »Hlle« durchbricht, »Aug und Ohren dafr haben« (S. 14, Z. 29). Lenz koppelt nunmehr, und das ist sicherlich der H.hepunkt der Polemik, die sthetische Kontroverse mit einer moralischen: »Dieser Idealismus ist die schmhlichste Verachtung der menschlichen Natur.« (S. 14, Z. 20 f.) Dagegen ben.tigt auch die an sich objektive sthetische Sensibilitt realistischer Kunst eine moralische Sttze: »Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentmliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu hßlich sein, erst dann kann man sie verstehen […].« (S. 15, Z. 11 – 14.) Schließlich macht Lenz noch ein wirkungssthetisches Argument geltend. Whrend Kunst nach Maßgabe idealistischer Isthetik »eine bloße Empfindung des Sch.nen« (S. 15, Z. 15 f.) vermittle, Lenz selbst sich angesichts der von Kaufmann genannten Werke der bildenden Kunst »sehr tot« fhle (S. 15, Z. 23), seien ihm der Dichter und der 11 Vgl. Dantons Tod II,3. – In: Georg Bchner: Werke und Briefe. Mnchner Ausgabe [MA]. – Mnchen, Wien 1988, S. 95.
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bildende Knstler »der liebste, der mir die Natur am wirklichsten gibt, so daß ich ber seinem Gebild fhle […]« (S. 15, Z. 25 f.). Nach dieser Darstellung der Lenzschen Iußerungen zur Kunst lßt sich verstehen, worauf der Vorwurf beruht, der Idealismus sei die »schmhlichste Verachtung der menschlichen Natur«. Der Idealismus selektiert und zensiert Teile menschlicher Kreatrlichkeit und schließt sie aus dem Bereich knstlerischer Darstellbarkeit aus. Dieser Ausschluß wird von Lenz mit einer sozialen Perspektive verknpft, redet er doch vom »Leben des Geringsten« (S. 14, Z. 22 f.), von den »prosaischsten Menschen« (S. 14, Z. 26). Nun kennt aber die klassische idealistische Isthetik keine Stndeklausel. Aber nicht nur deshalb ist Lenzens Idealismuskritik er.rterungsbedrftig. Sie ist abstrakt in ihrem Ausschlußvorwurf und lßt die Frage unbeantwortet, warum klassische idealistische Isthetik welche Teile menschlicher Kreatrlichkeit als nicht kunstwrdig verdrngt. Hier kann ein Blick auf Schiller nachhelfen, Bchners Lieblingsfeind in Sachen Isthetik.12 Den Inbegriff des »Idealdichters« hat Schiller erstmals in der Rezension -ber Brgers Gedichte 1791 umrissen. Schiller stellt dort angesichts der Aufspaltung der »Seelenkrfte« der modernen Individuen in Vernunft und Einbildungskraft und angesichts der gesellschaftlichen Spaltung in Elite und Masse13 die Frage nach M.glichkeit und Funktion der Kunst. Schiller traut der Kunst ernsthaft zu, die getrennten »Seelenkrfte« zu »harmonischem Bunde«14 zusammenzufhren und dabei die »Volksmasse« und die »Kenner« zu interessieren,15 wenn es dem Dichter gelingt, seine Individualitt zu veredeln und »zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzulutern«16 sowie dann von solcher allgemein gewordenen Individualitt geprgte Kunstwerke zu schaffen. Das soll ihm gelingen, wenn er sich auf solche Stoffe beschrnkt, »die dem Menschen als Menschen eigen sind«, »durch reine Scheidung dessen, was im Menschen bloß menschlich ist«.17 Dieser Operation gibt Schiller drei Dimensionen. Erstens soll sich der Stoff von allen »positiven und knstlichen Verhltnissen« scheiden, »gleichsam den verlornen Zustand der Natur zurckrufen«.18 Dieser reduktionistische, wenn man so will geschichtlich-regressive Aspekt spielt jedoch nicht die dominierende Rolle; das Wort »gleichsam« wre zu unterstreichen, um nicht den fr Schiller dominierenden Ge12 13 14 15 16 17 18
Vgl. Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 (MA, S. 306). Schiller: -ber Brgers Gedichte (Schiller-SW, S. 677 u. 678). Ebd., S. 677. Ebd., S. 682. Ebd., S. 678. Ebd., S. 680. Ebd.
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sichtspunkt zu bersehen, nmlich – zweitens – , schon im Bewegungsverb »sich hinauflutern« deutlich, die je positiv gegebenen Formen gesellschaftlicher Verhltnisse und Individualitt, eben das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben.19 Hinzu kommt die in der Dichterindividualitt zunchst vollzogene und ber die Werke verallgemeinerte »Reinigung der Leidenschaft«, mit der sich der Dichter zum »aufgeklrten verfeinerten Wortfhrer der Volksgefhle«, zum »Herrn« der »Affekte« macht, indem er den »rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch« der Leidenschaften blockiert und die Leidenschaften dadurch veredelt.20 »Das Idealsch.ne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes, durch eine Selbstttigkeit m.glich, welche die Rbermacht der Leidenschaft aufhebt.«21 Jetzt kann deutlicher werden, was der Vorwurf, der Idealismus sei »die schmhlichste Verachtung der menschlichen Natur«, konkret besagt. Die »Verklrung«, die der Idealismus betreibt, beruht auf einer dualistischen Anthropologie, die den Menschen in menschliche und tierische Anteile aufspaltet. Damit sind von vornherein Teile menschlicher Sinnlichkeit negativ besetzt und zum Ausschluß, zur Unterdrkkung und Verdrngung vorgesehen. Das betrifft nicht nur die rokokohaften Kindereien, die Schiller Gottfried August Brger zu Recht vorhlt, es betrifft jedes starke Gefhl, jede Leidenschaft, vor allem jede Ekstase. Ekstatische Gefhle sind fr Schiller die temporre Aufhebung nicht nur der Pers.nlichkeit, sondern des Menschseins.22 Er kennt sie nur in der negativen Form des Außer-sich-Seins, das er – verrterisch und doppeldeutig – bestimmt als »Zustand der Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung«.23 Selbstttigkeit und Selbstlosigkeit k.nnen fr den Brger nicht zusammengehen. Die pessimistische dualistische Anthropologie Schillers hat bekanntlich starke gesellschaftliche, genauer psychosoziale und politische Implikationen. Angesichts der bedrohlichen inneren »tierischen« Anteile der Individuen richtet sich der brgerliche Verdacht gegen all diejenigen, die nicht in die (Selbst-)Disziplinierungsfunktionen brgerlicher, berufsbezogener Individualittsformen eingestellt sind: Menschen in vorbrgerlichen Verhltnissen (die »Wilden«, die »Barbaren«), Frauen, Kinder, vor allem aber – vis _ vis der Franz.sischen Revolution – die unteren Volksklassen, die ihre »rohe[n] gesetzlose[n] Triebe«, zumal 19 20 21 22
Ebd., S. 683. Ebd., S. 681. Ebd., S. 686. Schiller: -ber die 2sthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (Schiller-SW, S. 345). 23 Ebd.
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»nach aufgel.stem Band der brgerlichen Ordnung«, »mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung« zu fhren versuchen.24 Darin ist zugleich die Notwendigkeit des Staates der brgerlichen Gesellschaft begrndet. Der allgemeine, idealische Mensch ist sein Trger, Citoyen: »Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird reprsentiert durch den Staat; die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannigfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet.«25 Gegenber dieser theoretischen Konstruktion blieben optimistischmonistische Anthropologien des Brgertums schon aus hegemonialen Grnden minoritr und marginal. Herders Anthropologie etwa – »Schon als Tier hat der Mensch Sprache«, seine Sinne sind »allgemeinere Sinne der Welt«, die »ganze Disposition seiner Natur« ist »Besonnenheit«26 – fhrte eher auf Ideen gesellschaftlicher Selbstorganisation als auf die Notwendigkeit des Staates. Damit blieb sie selbst auf ihrem ureigensten Terrain der Geschichtsphilosophie gegenber der Linie Kant-Fichte-Hegel chancenlos, konnte allenfalls als »b.ses Gewissen« (Mehring) dieser Entwicklung fungieren. Wenn Bchner eher der Denkrichtung Herders zuzuschlagen ist, enthllt sich vielleicht genau an diesem Sachverhalt der Sinn der geistesgeschichtlichen Verortung Bchners durch Walter Benjamin. Er verbindet Bchners »anthropologischen Materialismus« mit der »Erfahrung der Srrealisten«, denen seit Bakunin wieder ein radikaler Begriff von Freiheit in Europa zu verdanken sei.27 Nun wird es die wenigsten Leserinnen und Leser Bchners erschttern, daß mit ihm kein Staat zu machen ist. Dennoch bleiben selbst bei Ausklammerung der Staatsproblematik seine explizit sthetischen Iußerungen ein Problem. Bchners Isthetik hat ihren Focus einzig in der Leiblichkeit der Individuen. Das macht ihre Strke aus gegenber der Gewalt und den Beleidigungen und Erniedrigungen, die die Individuen, die K.rper, in und von den ideologischen und repressiven Apparaten sptfeudaler und brgerlicher Gesellschaften und ihrer Staaten erfahren. Dies ist aber die Strke einer Ein-Punkt-Isthetik. Fragen, mit denen sich Schiller oder Hegel herumgeqult haben, Fragen nach M.glichkeit und Funktion von Kunst angesichts bloß zuflliger Vermittlung der Individuen in brgerlicher Gesellschaft oder angesichts realer Abstraktheit gesellschaftlicher Prozesse gegenber den Individuen sind fr Bchner so 24 Ebd., S. 321. 25 Ebd., S. 318. 26 Wolfgang Proß: Johann Gottfried Herder: Abhandlung ber den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. – Mnchen o. J. [ca. 1978], S. 9, 26 u. 29. 27 Walter Benjamin: Der Srrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europ2ischen Intelligenz. – In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,1. – Frankfurt a. M. 1972, S. 309 u. 306.
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wenig Thema expliziter Er.rterung, daß es wirklich fragwrdig ist, von der »Bchnerschen Kunstauffassung«, gar von »Bchners Kunsttheorie« zu reden.28 Kehren wir nochmals, um das Problem zu verdeutlichen, zurck zu Camilles Invektive gegen das Marionettenhafte ›seines‹ zeitgen.ssischen Theaters. Konfrontiert man sie mit Dantons Einsicht: »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kmpfen, man sieht nur die Hnde nicht, wie im Mrchen«,29 dann wirkt Camilles Abwehr der Allegorie in Kunstsachen ebenso naiv, wie es Dantons regressiver Wunsch angesichts der Einsicht in seine politische Chancenlosigkeit ist: »Wr es ein Kampf, daß die Arme und Zhne einander packten! aber es ist mir, als wre ich in ein Mhlwerk gefallen und die Glieder wrden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So mechanisch get.tet zu werden!«30 Das Stck ist nicht nur klger als seine Figuren, es ist auch klger als die expliziten sthetischen Iußerungen seines Autors.31 Halten wir zunchst das Hauptergebnis der Kritik idealistischer Subjektkonstruktionen fest: Die Aufspaltung menschlicher Sinnlichkeit in »menschliche« und »tierische« Sinnlichkeit ist theoretisch problematisch, sie dient praktisch der fraglosen Unterdrckung von Teilen menschlicher Sinnlichkeit, und sie blockiert die ernsthafte Auseinandersetzung mit Widersprchen des Subjekts, da eben Anteile dieses Subjektes von vornherein als nicht-»menschliche« ausgeschlossen werden. Dies resmiert sich eben im Vorwurf der »schmhlichsten Verachtung der menschlichen Natur«.
3. Das Versagen der Natursthetik beim Gang durchs Gebirge 1799 lßt Schiller in seinem berhmten Gedicht Der Spaziergang32 einen Stadtbewohner aus »des Zimmers Gefngnis und dem engen Gesprch« auf einem Spaziergang in die Natur fliehen. Dies fhrt ihn ber eine liebliche Auenlandschaft durch ein Waldstck hinauf auf 28 29 30 31
H. Mayer, S. 424 u. 294. Dantons Tod II,5 (MA, S. 100). Ebd., S. 118. Zur Allegorie als der Abstraktheit moderner Lebensverhltnisse angemessenen knstlerischen Form vgl. Heinz Schlaffer: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Zweite, um eine Nachbemerkung erweiterte Aufl. – Stuttgart, Weimar 1998. – Dieser Aspekt wird ignoriert bei Rudolf Drux: »Holzpuppen«. Bemerkungen zu einer poetologischen ›Kampfmetapher‹ bei Bchner und ihrer antiidealistischen Stoßrichtung. – In: GBJb 9 (1995 – 99), 2000, S. 237 ff. 32 Schiller: Der Spaziergang. – In: ders.: Werke und Briefe. Hrsg. v. Georg Kurscheidt. Bd. 1. – Frankfurt a. M. 1992, S. 34 – 42.
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einen Berg. Von der sch.nen in der erhabenen Natur angekommen, ergießt sich »unabsehbar« vor seinen Blicken »die Ferne«: »Endlos unter mir seh ich den Ither, ber mir endlos, / Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab.« Den Schrecken der Erhabenheit muß er aber nicht durch eine Reflexion auf den Unterschied zwischen seiner physischen Ohnmacht und seiner geistigen Gr.ße berwinden, gibt es doch einen touristenfreundlichen »gelnderten Steig«, der den Wanderer »sicher« trgt; Schillers Wanderer ist nicht der erste vor Ort, von dem aus er mit einem doppelten Blick zurcksieht, der das Wahrgenommene in seiner Gegenwart und seiner Geschichtlichkeit zugleich sieht. In diesen Blick geschichtlicher Reflexion gert das »glckliche Volk der Gefilde«, das noch nicht zur Freiheit erwacht, sondern noch ganz in Natur eingelassen ist (und deshalb Landschaft als sthetisches Phnomen nicht kennt), vor allem aber die Stadt. Nicht allein ihre zivilisierende Wirkung wird rekapituliert, nicht allein der »Bund« der Stdtebewohner wird erinnert, auch ihr »Streit«, der in der Gegenwart gesellschaftsgefhrdende Qualitten annimmt. Rber diese schwarze gesellschafts- und geschichtsphilosophische Reflexion gert das lyrische Ich in unwegsame Zdnis. Isolationsngste befallen es, werden aber durch Reflexion auf die Natur als Quell ewiger Erneuerung, somit als Garanten geschichtlicher Hoffnung berwunden. Ob die Entzweiung von Gesellschaft und Natur im sthetischen Naturerlebnis tatschlich kompensiert oder ob die Entzweiung der Gesellschaft selbst im Naturerlebnis als Mangel bewußt wird,33 braucht hier nicht diskutiert zu werden. Unstrittig sind die Voraussetzungen sthetischer Wahrnehmung der Natur als Landschaft: die praktisch wahr gewordene »Freiheit fr den Menschen mit der Stadt und mit der Wissenschaft und Arbeit der modernen Gesellschaft«,34 dies aber nicht nur wie bei Ritter als geschichtlich-zivilisatorische Voraussetzung an sich, sondern so, daß das Subjekt natursthetischer Wahrnehmung in den subsistenzsichernden Individualittsformen der »modernen Gesellschaft« integriert ist, also nicht nur an sich die »Sicherheit«35 des Stadtbewohners und Staatsbrgers genießt, etwa in der Anlage verkehrstauglicher Straßen zu Ausflugspunkten und ihre touristische Feinerschließung durch Wanderwege, sondern so, daß auch seine individuelle, selbstndige Reproduktion in den vorhandenen Berufs- und Bettigungs33 Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Jsthetischen in der modernen Gesellschaft. – In: ders.: Subjektivit2t. Sechs Aufs2tze. – Frankfurt a. M. 1974 [Ritter 1974]; Wolfgang Riedel: Der Spaziergang. Jsthetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller. – Wrzburg 1989 [Riedel 1989]. 34 Ritter 1974, S. 161. 35 Zur »Sicherheit« als dem «h.chsten sozialen Begriff der brgerlichen Gesellschaft« vgl. Karl Marx: Zur Judenfrage. – In: ders., Friedrich Engels: Werke. Bd. 1. – Berlin 1972, S. 365 f.
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formen gesichert ist. Nur dann hat es die materiellen Mittel und die innere Ruhe, zugleich auch das Bedrfnis, bei natursthetischen »Betrachtungen« zu verweilen und »unter dieser mssigen und liberalen Betrachtung den sthetischen Eindrcken sich hingeben« zu k.nnen.36 Anders als Schillers Spaziergnger ergeht es dem Mann, der den 20. [Januar] durchs Gebirg ging. Rber die Schreibweise der ersten Seiten des Lenz, nach Dedners plausibler Rekonstruktion die letzte Bearbeitungsstufe des Textes durch Bchner,37 ist viel geschrieben worden. Es handelt sich nicht nur um eine »Verschrnkung«38 von auktorialer Erzhlweise und Innenansicht der Figur Lenz im Modus erlebter Rede, eine wesentliche Funktion dieser Verschrnkung ist die Erzeugung eines Kontrastes. Der auktoriale Erzhler entwirft das Bild einer sthetisch zur Landschaft gewordenen Natur, und zwar das Bild einer wesentlich erhabenen Landschaft der Bergwelt. Es handelt sich um Naturbilder, die beim lyrischen Ich des Schiller-Gedichtes Vorstellungen der Endlosigkeit evozieren, Schwindelgefhle und Schaudern, also um die sthetische Konstruktion des Mathematisch-Erhabenen und des Praktisch- oder Dynamisch-Erhabenen.39 Und es scheint so, daß der Erzhler genau diese standardisierte, kollektive Reaktion bei seinen brgerlichen Leserinnen und Lesern hervorrufen, ja provozieren will, schreibt er doch an anderer Stelle und direkt vereinnahmend an die Leser gerichtet ber die »mchtige Ruhe, die uns ber der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen schmelzenden Sommernchten berf2llt […].« (S. 9, Z. 9 – 11; Herv. H. O. R.) Um so schrfer wirkt dann der Kontrast, den Lenzens Reaktion darstellt. Sie wird mit Rcksicht auf die eben angefhrte Textstelle als aus brgerlicher Kollektivwahrnehmung herausfallend gezeigt, als Reaktion eines, der nicht mehr dazugeh.rt. Dabei ist sich Lenz der Zugeh.rigkeit zu seiner Klasse durchaus noch bewußt. Genau notiert er die soziale Differenz zur Naturwahrnehmung der vorbrgerlichen Schicht der Talbewohner, denen die Bergwelt ein Ensemble praktischer Zwecke und die bisweilen rtselhafte Umwelt dafr ist: »Wie den Leuten die Natur so nahetrat, alles in himmlischen Mysterien; aber 36 Johann Gottlieb Fichte: Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie. – In: ders.: Fichte Gesamtausgabe I.6. Werke 1799 – 1800. – Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 348. 37 Burghard Dedner: Bchners Lenz: Rekonstruktion der Textgenese. – In: GBJb 8 (1990 – 94), 1995 [Dedner 1995], S. 3 ff. 38 Henri Poschmann: Georg Bchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. – Berlin, Weimar 1983, S. 166. – Zur Schreibweise, mit Verweisen auf die einschlgige Literatur, vgl. Inge Diersen: Bchners Lenz im Kontext der Entwicklung von Erz2hlprosa im 19. Jahrhundert. – In: GBJb 7 (1988/89), 1991, S. 91 ff. 39 Riedel 1989, S. 39 f., mit Belegen aus Burke, Addison, Bodmer, Kant und Schiller.
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nicht gewaltsam majesttisch, sondern noch vertraut!« (S. 10, Z. 12 – 14.)40 Whrend diese ›Leute‹ ein Gefhl der Erhabenheit angesichts der winterlichen Berglandschaft noch nicht herausbilden k.nnen, gelingt dies dem brgerlichen Intellektuellen Lenz nicht mehr. Seine Sinne haben sich verrckt, insbesondere der fr die Wahrnehmung des Erhabenen konstitutive Sinn fr Distanz. Es ist ihm alles so dicht, eng, »er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunterzuklimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er msse alles mit ein paar Schritten ausmessen k.nnen« (S. 5, Z. 6, Z. 17 – 21). Seine Gefhle reichen von Gleichgltigkeit (S. 5, Z. 9) bis schließlich abends zu Einsamkeit und Angst (S. 6, Z. 26 – 28). Die Darstellung beschrnkt sich dabei nicht nur auf die Ebene der Wahrnehmung, fr die die Sprache klassischer Natursthetik keine Gltigkeit mehr besitzt. Antiklassisch ist auch die Darstellung von Lenzens Leiblichkeit whrend seiner Wahrnehmungsdissoziationen.41 Bchners Lenz zeigt in mehrfacher Hinsicht die Partialitt klassischer Natursthetik. Sie gilt nicht nur nicht fr vorbrgerliche Schichten und ihre Lebensweisen; dies war bereits ihren Protagonisten wie Schiller klar bewußt. Sie ist aber auch nicht schlicht universalisierbar auf dem Boden der »modernen Gesellschaft« und einer »Freiheit«, die den Menschen »aus der Macht der Natur befreit und sie als Objekt seiner Herrschaft und Nutzung unterwirft«.42 Bchners Text erweist den pauschalen Bezug auf brgerlich heraufgefhrte Fortschritte der Produktivitt und auf damit verbundene disponible Zeit fr Individuen, Muße, als unspezifisch. Isthetische Naturwahrnehmung, sei sie kompensatorisch oder kritisch, setzt als Subjekte Individuen voraus, die in subsistenzerhaltende Individualittsformen brgerlicher Gesellschaft integriert sind. Auf die Stabilisierung dieser Subjekte – sei es in der Herstellung von Zufriedenheit und Vers.hnung, sei es in der Festigung von, wie man heute sagen k.nnte, Kritik- und Konfliktfhigkeit – ist sthetische Naturwahrnehmung funktional bezogen. Wer, wie es Goethe mit Lenz tut, zu den »Un- oder Halbbeschftigten« zhlt,43 hat 40 Bemerkenswerterweise wird die »Natur« zum Agens der Reaktion gemacht. Im brigen besteht ein Widerspruch zwischen der Behauptung des Mysteri.sen und der Vertrautheit. Die Rede von den »himmlischen Mysterien« ist eine Idyllisierung der Naturgewalt durchs brgerliche Subjekt. 41 Vgl. Michael Feldt: Jsthetik und Artistik am Ende der Kunstperiode. Textanalytische, kunstphilosophische und zivilisationsgeschichtliche Untersuchungen zur Prosa von Goethe, E. T. A. Hoffmann, Heine und Bchner. – Heidelberg 1982, S. 314. 42 Ritter 1974, S. 161. 43 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Teil III, Buch 14. – In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 B2nden. Bd. 10: Autobiographische Schriften II. – Mnchen 1998, S. 8.
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keine Muße, sondern leere Zeit im Rberfluß. Er hat vor allem nichts, was Eindrcke sch.ner Natur stabilisieren k.nnten.44 Nur an sich gewhrt brgerliche Gesellschaft »Sicherheit«, niemals fr alle. Denen sie nicht zuteil wird, ist mit einem »gelnderten Steig« wenig geholfen. Wahrscheinlicher, als den Gedanken an den sozialen Absturz zu verdrngen oder ertrglicher zu machen, k.nnte der Blick in die »ewige Tiefe« diesen Gedanken auf eine wom.glich unertrgliche Weise evozieren.
4. Anstrengungen des »Erhaltungstriebes« gegen den horror vacui Burghard Dedner hat in einer aufwendigen philologischen Analyse des Lenz-Textes plausibel gemacht, daß er, so wie er von Gutzkow prsentiert wurde, drei Arbeitsstufen enthlt. Die erste Arbeitsstufe wird durch die als Strukturquelle fungierende Oberlin-Vorlage bestimmt, die Bchner nur durch einzelne Einfgungen modifiziert. Sie beginnt in der Studienausgabe Hubert Gerschs auf der Seite 23, Z. 5 und reicht bis zum letzten, wiederum eigenstndig Bchnerschen Absatz des Textes Seite 30, Z. 23. In diesen Abschnitt ist eine lngere Passage eingebaut, die wahrscheinlich die zweite Arbeitsstufe darstellt (S. 27, Z. 8 – S. 29, Z. 32). Hier versucht Bchner den chronikalen Stil der Vorlage zu verlassen und probiert verschiedene Typologien bzw. Symptomatologien fr Lenzens Wahnsinn aus. Damit dient sie als Reservoir fr die dritte Arbeitsstufe, die den eigenstndigsten Status hat und den ganzen 44 Im Gegensatz zu diesen Ausfhrungen stehen die Thesen von Pilger 1995. Pilger sieht im »Kunstgesprch« einen ironischen Spiegel fr Lenz. Dieser sei nur in der Theorie Materialist, in der Praxis aber Idealist (S. 106). Dazu geh.rt auch die Behauptung, Lenz habe im Gang durchs Gebirge ein »Erhabenheitserlebnis«, bei dem er seine »Rberlegenheit« erfahre (S. 112 f.). Bchners Darstellung selbst stehe »dabei in der langen Tradition erhabener Naturmotivik« (S. 113). Diese These, flankiert von einschlgigen Stellen aus Isthetiken der Erhabenheit, aber nur drftig mit Belegen aus dem Text versehen, wird nun schrittweise zurckgenommen. Auf S. 115 gilt: »Fr seinen Lenz ist das Erhabene nur eine punktuelle Erfahrung […].« Auf S. 117 heißt es schließlich: »Fr Lenz jedoch gibt es keine erhabene Reaktion.« Und whrend Pilger anfangs noch feststellt, zu Lenzens »Erhabenheitserlebnis« geh.re das Gefhl der »Rberlegenheit«, spricht er gegen Ende des Aufsatzes von der »Erinnerung an die unangenehme Wanderung durch das Gebirge« (S. 124). – Die derzeit wohl ausfhrlichste Untersuchung der Naturbeschreibungen im Lenz kommt – mit Rcksicht auf psychiatrische Analysen Hubert Tellenbachs – zu dem Ergebnis, daß die meisten Passagen der Naturbeschreibungen nicht als Landschaftsschilderungen gelten k.nnen, sondern als »Evokationen melancholischer« (oder psychotischer) »Raumerlebensst.rungen«: Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und 2sthetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Bchners »Lenz«. – Opladen 1994 [Schmidt 1994], S. 168, vgl. bes. S. 162 – 193.
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ersten Teil des Textes umfaßt (S. 6, Z. 1 – S. 23, Z. 4). Bchner breitet hier die dominierende Symptomatik der Lenzschen Krankheit aus, den horror vacui, und schildert Lenzens Versuche, diesem Gefhl der Leere zu entkommen. Nicht bernommen werden – seis aus der ersten, seis aus der zweiten Arbeitsstufe – komisch-skurrile Zge des Lenzschen Verhaltens, die als ›fixe Ideen‹ deutbar sind, nicht bernommen wird das Motiv der Langeweile, vor allem aber der vormrzlich forcierte Atheismus. Daher hlt Dedner diese Motive im Lichte der dritten Arbeitsstufe fr »konzeptionell berholt«.45 Folgt man ihm hierin, haben sich damit auch viele Versuche, den gesellschaftskritischen Charakter des Lenz-Textes an genau diesen Motiven (vor allem dem der Langeweile und des Atheismus) festzumachen, berholt, sind zu Makulatur geworden. Entgegen Julian Schmidts frhem Verdikt »Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unknstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativitt des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz«,46 folgt Bchners Darstellung des Lenzschen Wahnsinns einer klaren Logik. Im Einklang mit einem Urteil des historischen Lenz, wonach die »U n e m p f i n d l i c h k e i t«, die »Stumpfheit der Seele« das »allergr.ßte Unglck« sei,47 sieht Bchners Text im Gefhl der Leere und der davon erzeugten Angst, Unruhe und Starrheit die Hauptst.rung Lenzens. Lenz leidet an einer emotionalen, libidin.sen Austrocknung, die ihn von der Gleichgltigkeit (S. 5, Z. 9) bis hin in einen »Starrkrampf« (S. 11, Z. 23) und schließlich in die »kalte Resignation« (S. 30, Z. 24) fhrt. Das Gefhl der Leere verbindet sich mit dem der Einsamkeit (S. 6, Z. 23). Umwelt und Selbst entrealisieren sich in seinem Bewußtsein zum Traum (S. 7, Z. 33 – 36; S. 8, Z. 3).48 Lenz stemmt sich mit verzweifelten Versuchen der Selbstvergewisserung und Selbsterhaltung gegen die Erfahrung des innerlichen Absterbens. Selbst das Zufgen von Schmerzen wird ihm, wie es im Lied der Gemeinde heißt, zum »Gewinst« (S. 11, Z. 34). So bringt er sich selbst Schmerzen bei und strzt sich nachts in den Brunnen, spricht, singt, rezitiert Shakespeare, verbringt halbe Nchte im Gebet, greift nach jeder Zerstreuung, fordert schließlich Oberlin auf, ihn mit Gerten zu schlagen, um doch nur Bruderksse zu ernten, unternimmt halbherzige Selbstmordversuche.49 45 Dedner 1995, S. 68. 46 In: Die Grenzboten 10 (1851), zit. bei Gerhard Schaub: Georg Bchner. Lenz. Erl2uterungen und Dokumente. – Stuttgart 1987, S. 96. 47 Zit. bei Dedner 1995, S. 43, Anm. 55. 48 Vgl. auch S. 9, Z. 17 ff.; S. 22, Z. 33 f.; aus der »Berichtpassage« S. 27, Z. 12 f., Z. 35; S. 28, Z. 15. 49 S. 8, Z. 6 – 10; S. 9, Z. 27 – 29, Z. 32 f.; S. 19, Z. 34; S. 20, Z. 9; S. 24, Z. 7 – 14; S. 25, Z. 23 – 25; S. 26, Z. 32 f.; S. 28, Z. 24 f., Z. 29, Z. 20 ff.
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Es ist nun von großer Bedeutung, wie der Erzhler Lenzens Versuche der Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung begrifflich faßt. Was Lenz tut, um sich vor der Erstarrung seines Innenlebens zu retten, tut er zwar mit Bewußtsein, doch gezwungen durch einen innerlichen Instinkt (S. 27, Z. 14 f.). Selbsterhaltung ist ein »dunkler Instinkt« (S. 8, Z. 6), ein »Trieb der geistigen Erhaltung« (S. 28, Z. 35): »Eigentlich nicht er selbst tat es, sondern ein mchtiger Erhaltungstrieb« (S. 28, Z. 21 f.). Ohne schon wirklich eigens thematisch zu werden, wird hier als Beobachtung, als Behauptung ein wichtiger Befund registriert. Whrend dem popularphilosophischen Mainstream der Aufklrung Rationalitt noch gnzlich ungebrochen als Organ der Selbsterhaltung galt, wird nun das Moment der Nichtrationalitt, das bereits am kollektiven Subjekt der brgerlichen Revolution notiert worden ist,50 zugleich am individuellen Subjekt der brgerlichen Gesellschaft wahrgenommen. Freuds Beobachtung, daß Selbsterhaltungstriebe Partialtriebe sind und vieles gerade am Kern des Ichs unbewußt ist,51 wird von Adorno einer gesellschaftstheoretischen Erklrung zugefhrt: Gerade weil die Subjekte brgerlicher Gesellschaft gegenber ihrem wesentlichen Vermittlungszusammenhang als »abgespaltenes Fr-sich-Sein« existieren, wird ihre Rationalitt »weithin heteronom und erzwungen und muß darum mit Unbewußtem sich vermischen, um nur einigermaßen funktionsfhig zu werden«. So wird das Ich als Bewußtsein Gegensatz zur Verdrngung wie als selbst Unbewußtes verdrngende Instanz. »Um in der Realitt sich behaupten zu k.nnen, muß das Ich diese erkennen und bewußt fungieren. Damit aber das Individuum die ihm aufgezwungenen, vielfach unsinnigen Verzichte zuwege bringt, muß das Ich unbewußte Verbote aufrichten und selber weithin sich im Unbewußten halten. […] Die Erkenntnisleistung, die vom Ich um der Selbsterhaltung willen vollzogen wird, muß das Ich um der Selbsterhaltung willen immer wieder zugleich auch sistieren, das Selbstbewußtsein sich versagen.«52 Brgerliche Individuen, Subjekte, sind erst prekr gesellschaftliche und prekr vernnftige, sie stecken zugleich in der problematischen Naturgeschichte des Privatmenschen. Dies Wissen wird hier nicht erwhnt, um Bchner abstrakt zu einem Vorlufer zu stilisieren. Ginge es allein um Bchners terminologisch prgnante Beobachtung, wre vielleicht nichts weiter zu tun, als diese Prgnanz zu notieren. Sie mit der dargestellten Formation des Wissens 50 In Dantons Tod erscheint die Revolution als Teil der Naturgeschichte. 51 Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. – In: ders.: Studienausgabe. Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. – Frankfurt a. M. 1975, S. 248 u. 229. 52 Theodor W. Adorno: Zum Verh2ltnis von Soziologie und Psychologie. – In: ders.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik. – Frankfurt a. M. 1975 [Adorno 1975], S. 106 u. 122.
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in Verbindung zu bringen, lßt sich nur rechtfertigen, wenn es im Text ber Terminologisches hinaus in der Sache selbst Anschlußm.glichkeiten gibt. Dazu geh.rt zunchst Lenzens Erkenntnis, daß seine Selbstvergewisserungsversuche letztlich zum Scheitern verurteilt sind: »Lenz fiel das aufs Herz, er hatte, um seiner unendlichen Qual loszuwerden, sich ngstlich an alles geklammert; er fhlte in einzelnen Augenblicken tief, wie er sich alles nur zurechtmachte […].« (S. 17, Z. 10 – 13.)53 Vor allem aber wird die Dialektik des brgerlichen Ichs thematisch, wo Kaufmann den im »Kunstgesprch« selbstvergessenen Lenz unter die kalte Dusche seiner Moralpredigt stellt. Kaufmann – wom.glich mit die Brustbehaarung freigebender Hemd.ffnung – erzhlt Lenz von einem Brief des Vaters, der ihn zu seiner Untersttzung zurck nach Livland wnscht, und konfrontiert Lenz mit den Normen eines brgerlich-ttigen Lebens: »Kaufmann sagte ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unntz verliere, er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr.« (S. 16, Z. 22 – 24.)54 Lenzens heftige Reaktion: »Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? […] Ich wrde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! […] Es ist mir jetzt ertrglich, und da will ich bleiben; warum? warum? Eben weil es mir wohl ist; was will mein Vater? kann er mir geben? Unm.glich! Laßt mich in Ruhe.« (S. 16, Z. 25, Z. 30; S. 17, Z. 1 – 4.) Diese Stelle, gern als Beleg herangezogen fr die im Lenz-Text enthaltene Kritik des brgerlichen Alltags und seiner krank machenden Wirkung, ist in einem hohen Maß abstrakt, denn man erfhrt zwar, daß Lenz befrchtet, zuhause in Livland »toll« zu werden, man erfhrt aber wenig bis nichts – Lenz zweifelt daran, daß ihn sein Vater tatschlich wirksam untersttzen wird (»was […] kann er mir geben?«) – darber, warum er glaubt, dort »toll« zu werden. An Lenzens Strke, an seiner Selbstbehauptung erscheint hier als ein Moment der Schwche, daß sie bloße Abwehr bleibt. Es gelingt ihm nicht, seine Affekte kommunizierbar zu machen. Nicht konkreter ist Lenzens Kritik an der Zweck-Mittel-Verkehrung im brgerlichen Alltag, besonders im Arbeitsprozeß: »Immer steigen, ringen und so in Ewigkeit alles was der Augenblick gibt, wegwerfen 53 Dies ist ein immanenter Grund dafr anzunehmen, daß die Behauptung, diese Versuche, der Gefhlsleere zu entkommen, seien »die glcklichsten« (S. 29, Z. 27 f.), bei einer weiteren Bearbeitung getilgt worden wre, zumal vorher schon die Momente der mit glckhafter Aufl.sungserfahrung verbundenen Empfindung des »Mitleid[s] mit sich selbst« »seine seligsten Augenblicke« genannt werden (S. 29, Z. 12). 54 Die Formulierung »und dergleichen mehr« begegnet auch am Ende einer Vorhaltung Oberlins. Handelt es sich um eine Arbeitslcke des Autors oder um die Parteinahme des Erzhlers, der damit indirekt die Qualitt solcher Vorhaltungen kritisch kommentiert?
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und immer darben, um einmal zu genießen; drsten, whrend einem helle Quellen ber den Weg springen.« (S. 16, Z. 34 ff.; S. 17, Z. 1.)55 Man kann die provozierende Wirkung dieser Iußerung ermessen, wenn man bedenkt, daß die quasi geheiligte Grundlage brgerlicher Existenz, die Arbeit an sich, in Frage gestellt wird, denn »es ist im Arbeiten die Differenz der Begierde und des Genusses gesetzt; dieser ist gehemmt, und aufgeschoben […]«.56 Man kann die Zweck-MittelStruktur der Arbeit sozial-konkret unterschiedlich kritisieren, etwa daß sich Individuen in Arbeitsprozessen verschleißen, ohne zum Genuß zu kommen; das ist die in Dantons Tod zur Sprache gebrachte, von den Dantonisten nasermpfend registrierte sansculottische Arbeitserfahrung.57 Oder man kann fordern, daß der Arbeitsprozeß selbst genußreich, zumindest interessant und lohnend wird. Aber die Zweck-MittelRelation der Arbeit berhaupt zugunsten einer Feier des intensiven »Augenblicks« in Frage zu stellen, ist eine Position, die in keine soziale Perspektive, wie immer sie aussehen mag, integrierbar ist. »Das Richtige wird falsch, zur Narrheit oder Schuld.«58 Man kann diese provokatorische »Narrheit« verstehen, wenn man weiß, welche Zumutungen in Livland auf Lenz warten. Darber aber schweigt der Text. Es mag sein, daß Bchner auch an dieser Stelle weiter gearbeitet htte, z. B. unter Einbeziehung Lenzscher Briefe. Fr die Leser des Textes aber, sofern sie an einer Begrndung der Lenzschen Behauptung interessiert sind, bleibt nur der Schritt ber den Text hinaus. Der Bezug auf textexternes Wissen ist nicht ohne Probleme, zumal Bchners Prosa – etwa was die Person Christoph Kaufmanns angeht59 – weniger dokumentarisch verfhrt, als viele meinen. Andererseits ist die Frage nach der Begrndung von Lenzens Befrchtung unabweisbar. Man k.nnte angesichts dieser Lage auf eine Rechtfertigung der Bercksichtigung textexterner Aspekte zurckgreifen, die Gadamer mit Rcksicht auf Celans Berlin-Gedicht ber Pl.tzensee und die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg vorgetragen hat. Auf die Lenz-Prosa bertragen k.nnte man, Gadamer paraphrasierend, sagen: Wer Lenzens biographische Daten, insbesondere im Blick auf die Beziehung zu seinem Vater, nicht kennt, der weiß eben im Sinne dieser Prosa nicht genug. Die Prosa will, daß man das 55 Vgl. Dantons Tod II,2 (MA, S. 93). 56 G. W. F. Hegel: System der Sittlichkeit. – In: ders.: Frhe politische Systeme. Hrsg. u. kommentiert v. Gerhard G.hler. – Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, S. 21. 57 Vgl. Dantons Tod I,2 u. I,5 (MA, S. 74 u. S. 84 f.). 58 Adorno 1975, S. 120. 59 Vgl. Timm Menke: Zwei Thesen zur Rezeption und Krankheit von J. M. R. Lenz. [Menke 1994)] – In: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): »Unaufh,rlich Lenz gelesen …«. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. – Stuttgart, Weimar 1994 [Stephan/Winter], S. 29.
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weiß.60 Sie will, daß man es weiß, wom.glich aus dem prgnanten Grund, daß sie selbst es (aufgrund der gewhlten Erzhlweise) nicht sagen kann. Danach lßt sich hier zumindest folgendes andeuten: Lenz wre, htten sich die Wnsche seines Vaters erfllt, in Livland zum Bttel einer deutschen Oberschicht geworden, die die Masse der Bev.lkerung, die »undeutschen« Letten und Esten, nicht nur materiell ausbeutete, sondern auch rassistisch unterdrckte. Als Pfarrer wre er sogar mit der Ausfhrung der vom Landadel verhngten Leibesstrafen betraut gewesen.61 Als Studienabbrecher htte Lenz, die Untersttzung seines Vaters vorausgesetzt, Lehrer an einer stdtischen Schule werden k.nnen oder sich als Hofmeister in die Abhngigkeit von einem Landadligen begeben mssen. Eine feste Lehrerstelle htte seine materielle Situation so weit verbessert, daß er htte heiraten k.nnen. Damit wre zumindest ein Teil seiner »materielle[n] und erotische[n] Doppelnot«62 beseitigt gewesen, und seine »psychosexuellen Schwierigkeiten«63 wren geringer geworden. Der Preis: Aufgrund des ideologischen Drucks des Vaters und des sozialen Umfeldes sowie aufgrund der Arbeitsbelastung htte er das Schreiben erheblich einschrnken mssen; an die Publikation von Schriften mit der Brisanz des Hofmeisters oder der Soldaten wre nicht zu denken gewesen. Auf der anderen Seite dieser Bilanz stnde nun: Auf jeden Fall am von Lenz hoch libidin.s besetzten Schreiben festhalten, trotz fehlender Subsistenz, trotz fehlender Erfolge auf dem literarischen Markt, also bei Fortdauer der »materiellen und erotischen Doppelnot« – ohne Aussichten auf eine grundlegende Verbesserung der Situation. Diese Zwangslage, um nunmehr wieder zum Prosa-Text zurckzukehren, erklrt Lenzens Schwanken angesichts der Konfrontation mit brgerlichen Selbsterhaltungsimperativen. Hat er in der verstimmenden Unterredung mit Kaufmann noch die libidin.se Ressource des »Kunstgesprchs« hinter sich – »er war rot geworden ber den Reden […]. Er hatte sich ganz vergessen« (S. 16, Z. 18, Z. 19 f.) – , trifft Oberlin nach seiner Rckkehr auf einen Lenz, der schon auf Oberlins Abreise mit Angst reagiert hatte (S. 17, Z. 21) und zermrbt ist vom Umherirren in der Gegend, vom gescheiterten Erweckungsversuch und von den stetigen »religi.sen Qulereien« (S. 21, Z. 17).
60 Hans-Georg Gadamer: Wer bin ich und wer bist du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge ›Atemkristall‹. – Frankfurt a. M. 1973, S. 127. 61 Vgl. hierzu und zum folgenden Sigrid Damm: V,gel, die verknden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. – Berlin, Weimar 1985 [Damm 1985]. 62 Heinrich Bosse: Berufsprobleme der Akademiker im Werk von J. M. R. Lenz. – In: Stephan/Winter, S. 45. 63 Menke 1994, S. 33.
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In dieser Stimmung trifft ihn Oberlins Ermahnung, »sich in den Wunsch seines Vaters zu fgen, seinem Berufe gemß zu leben [sic! H. O. R.], heimzukehren. Er sagte ihm: Ehre Vater und Mutter u. dgl. m.« (S. 23, Z. 11 – 13.) Lenz zeigt jetzt deutlich Wirkung: Er gert »in heftige Unruhe«, st.ßt »tiefe Seufzer« aus, weint, sieht sich von Gott verdammt. »Doch mit mir ists aus! Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der ewige Jude.« (S. 23, Z. 13 ff.) Man kann sagen, Lenz ist in seiner Abwehr der Anmutung von Selbsterhaltung als Anpassung gespalten. Er bernimmt die stigmatisierende religi.se Deutung der Anpassungsverweigerung. Die »Leere« erscheint als Gottferne, das Leiden der Krankheit als berechtigte Strafe fr diese Schuld.64 Dennoch trifft diese ideologisch bekundete Anpassungsbereitschaft auf eine Grenze, auf der Lenz nicht so vehement wie gegenber Kaufmann, aber dennoch unmißverstndlich klar beharrt. Gegen Oberlins Aufforderung heimzukehren spricht er, unter Trnen zwar und abgebrochen: »Ja, ich halt es aber nicht aus […].« (S. 23, Z. 16.) Lenz steht zwischen ausweglosen Alternativen. Geht er den Weg abverlangter Selbsterhaltung, wrde er in einer Selbstzerst.rung enden, die seine libidin.se Austrocknung ist: im Verzicht aufs Schreiben. Hlt er am Schreiben fest, gefhrdet er seine Subsistenz und die Befriedigung seiner sexuellen Bedrfnisse. Auch die Selbstbehauptung gegen den vterlichen, im weitesten Sinn gesellschaftlichen Erwartungsdruck wrde in die Selbstzerst.rung fhren. Diese Zwangslage nennt der Text przise, wenn er feststellt: »es war als sei er doppelt und der eine Teil suchte den andern zu retten […].« (S. 28, Z. 22 – 24.)65 In solchen Zwangslagen versagt jede Kalkulation im Sinne einer Bilanzierung der Pros und Kontras. Hier entscheidet die Gewalt der Wunschproduktion. Sie erweist sich strker als die Verdrngungs- und Anpassungsbereitschaft des Ichs. In der Perspektive eines realittstchtig angepaßten Normal-Ichs verkehrt sich Lenzens Anpassungsverweigerung zur IchSchwche. Das ist nicht ganz falsch, wenn man akzeptiert, daß unter dem Druck antagonistischer Realitt das Ich unbewußte Verbote errichten muß, um realittstchtig zu bleiben. Lenzens Ich-Schwche gegenber seiner Wunschproduktion wre dann genauer zu bestimmen als Schwche seiner Verdrngungs- und Anpassungsleistung. Lenz verweigert die Unterwerfung unter den Ernst des Lebens. Das k.nnte man 64 Dedner 1995, S. 60. 65 Das Verfangensein in dieser Zwangslage ist der Grund dafr, daß Lenz – obwohl objektiv ›Außenseiter‹ – niemals so sprechen wrde, wie Deleuze/Guattari ihren ›Wunsch-Schizo‹ sprechen lassen (S. 358): »Ich bin keiner der Euren, ich bin auf ewig von niederer Rasse, ich bin ein Tier, ein Neger.« Auch Bchners Lenz kommt im Anti-^dipus bereits auf der ersten Seite zu Ehren (vgl. S. 7), ohne daß sich Deleuze und Guattari im Ernst auf den Text einlassen wrden.
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unreif nennen, vielleicht sogar unzivilisiert. Schließlich lßt sich Zivilisation auch verstehen als Tausch ursprnglicher Glcks- und Befriedigungsm.glichkeiten oder -erwartungen gegen Sicherheit und gedmpfte Leidenschaften.66 Das mag sogar der historische Lenz so gesehen haben. In einem Brief an Johann Kaspar Hirzel vom 26. November 1777 gibt er einen beeindruckenden Einblick in die Fatalitt seiner libidin.sen Besetzung des Schreibens, die er »fatale Schriftstellerverhltnisse« nennt. Sie macht er verantwortlich fr seine Unfhigkeit, Rblichkeiten des Zusammenlebens Rechnung zu tragen und kompromißbereit (oder schlicht h.flich) auf Differenzen zu reagieren: »Mein Aufenthalt in dem Hause des Herrn Pfarrer Lavaters sollte mich freylich in meinen Reden und Handlungen ein wenig frsichtiger gemacht haben, wenn man bey einem dringenden Herzen nur frsichtig bleiben k.nnte und ich durch fatale Schriftstellerverhltnisse hinaufgeschraubt, alle politischen Reservationes mentales fr Cruditten in meinem Gewissen zu halten, nicht beruffen gewesen wre.«67 Da wir Heutigen den Tauschvorgang, der Zivilisation entstehen lßt, so wenig umstandslos bejubeln k.nnen wie seine Verweigerung, muß der Deutlichkeit halber gesagt werden: Lenzens Schwche seiner Verdrngungs- und Anpassungsleistung ist durchaus auch kognitiv qualifizierbar. Lenz kennt den Preis der Anpassung zu gut, um ihn zu entrichten. Da seine Gegenspieler in dieser Frage einen blinden Fleck haben,68 ist er aber auch nicht gezwungen, die Risiken eines von seiner 66 So G.tz Eisenberg: Amok – Kinder der K2lte. -ber die Wurzeln von Wut und Haß. – Reinbek bei Hamburg 2000 [Eisenberg 2000], S. 181. 67 Zit. nach B. Dedner, H. Gersch, A. Martin (Hrsg.): »Lenzens Verrckung«. Chronik und Dokumente zu J. M. R. Lenz von Herbst 1777 bis Frhjahr 1778 (Bchner-Studien, Bd. 8). – Tbingen 1999, S. 90, Dokument 34. 68 Diesen blinden Fleck gibt es nicht nur bei Kaufmann und Oberlin, sondern auch bei vielen Bchner-Interpreten. So redet Friedrich Vollhardt: Das Problem der ›Selbsterhaltung‹ im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlaßschriften Georg Bchners. – In: Dedner/Oesterle, S. 17 ff., von der »Alternative von Vernichtung und Selbsterhaltung« im »literarischen Werk Bchners« (S. 23), so als sei fr Lenz in der ›Selbsterhaltung‹ die Vernichtung nicht schon inbegriffen. Sabine Kubick sieht »Lenz solange nicht verloren«, »als der ›Trieb der geistigen Erhaltung‹ […] noch in ihm wachgehalten wird« (zit. aus: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Bchners. – Stuttgart 1991, S. 49). Irgerlich indes sind, angesichts der hier vorgestellten Aporien der Selbsterhaltung, vor denen Lenz steht, Stigmatisierungen wie die Rede von »Lenzens pathologischer Charakterschwche« in Menke 1984 (Timm Reiner Menke: Lenz-Erz2hlungen in der deutschen Literatur. – Hildesheim, Zrich, New York 1984, S. 24) oder von »psychotischer Ichschwche« (Harald Schmidt: Schizophrenie oder Melancholie? Zur problematischen Differentialdiagnostik in Georg Bchners »Lenz«. – In: Zeitschrift fr deutsche Philologie 117 (1998), S. 533), denn sie differenzieren nicht zwischen der Erkenntnisleistung und den Verdrngungsleistungen des Ichs, treffen so Lenzens Resistenz gegen Verdrngung und denunzieren das eigensinnige Beharren auf seinem Glcksanspruch als pathologisch. Auf der anderen Seite
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Wunschproduktion bestimmten Lebens zu reflektieren und zu thematisieren. Er hat das Pech, in dieser Hinsicht die falschen Freunde zu haben. Seine Unfhigkeit, seine Affekte kommunizierbar zu machen, st.ßt allenthalben auf Schweigen. So kann sich bei ihm der Realismus des Wunsches mit antirealistischen Hoffnungen und Sezessionismus unaufl.sbar verbinden. Was in geschichtlicher Perspektive eine »aktive Utopie par excellence« sein mag: die »Einheit von Wunsch und Arbeit«,69 kann im Horizont lebensgeschichtlicher Entscheidungen Lenzens keine lebbare Alternative darstellen. Dafr gibt es nicht nur externe Grnde, fatale Schriftstellerverhltnisse, diesmal in einem .konomischen Sinn zu verstehen, sondern, wie in den folgenden Abschnitten zu zeigen sein wird, zugleich auch interne, psychische.
5. »Da rauschte die Quelle« Momente lustvoller Entgrenzung und ihre Blockierung 1801 moniert Herder, nachdem er kurz zuvor die wohlttig-zivilisierende Wirkung des Marktes gepriesen hat, die Schattenseiten der neuen, sich auch unter deutschen Bedingungen partiell entwickelnden Zkonomie unter dem Titel Von den Gefahren der Vielwißerei und Vielthuerei. Das bezieht sich zunchst auf den literarischen Markt, der »Jnglinge wider Willen zu Wolkendieben« mache. Dann aber fhrt Herder allgemein fort: »Unsre Zeit luft so schnell […]. Der sogenannte Kunstfleiß, die ins Fieber gejagte Industrie der Menschen bringt in wilden Trumen bunte Ungeheuer hervor, die dem verwirrten tollen Geschmack unsrer Zeitgenossen das flchtige Vergngen des Unerh.rten, des Niegesehenen, des Neuen geben, ihre Sinne aufreizen und mit dem Verderbniß des guten Geschmacks wenigstens die Gewinnsucht befriedigen.«70 Erst die Romantik wird sich als literarische Str.mung ganz auf die freigesetzte Dynamik unendlicher Bedrfnisentwicklung beziehen, selbst wenn die Romantiker ihre Figur der unendlichen Sehnsucht, frustriert von der Enttuschung, die die Erfllung von Wnschen beblind ist Jochen H.rischs Behauptung: »Gegen die vterlich-symbolische Rbermacht regt sich der ›Trieb der geistigen Erhaltung‹«, so als sei dieser Trieb nicht auch der Motor der Einpassung der Individuen in die bestehenden Verhltnisse. Komischerweise findet sich diese Behauptung in einem Aufsatz, der »die sthetisch-schizoide Entgrenzung des Identittsbegriffes berhaupt« propagiert! (Jochen H.risch: »Den 20. Januar ging Lenz durchs Gebirge«. Zur Funktion von Dichtung im Anti-^dipus. – In: Rudolf Heinz, Georg Christoph Tholen (Hrsg.): Schizo-Schleichwege. Beitr2ge zum Anti-^dipus. – Bremen [1981], S. 13 – 24, hier S. 20 u. 16.) 69 Deleuze/Guattari, S. 390. 70 Johann Gottfried Herder: Von den Gefahren der Vielwißerei und Vielthuerei. – In: Herders S2mtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 30. – Berlin 1889, S. 279 f.
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reiten kann, in die Predigt wunschloser Entsagung berfhren und stillzustellen versuchen. Hegel wird den .konomischen Kern der brgerlichen Gesellschaft »System der Bedrfnisse« nennen. Die »Vervielfltigung der Bedrfnisse und Mittel«, schließlich die »Zerlegung und Unterscheidung des konkreten Bedrfnisses in einzelne Teile und Seiten«, »etwas durchaus Unersch.pfliches und ins Unendliche Fortgehendes«,71 auf der Ebene der Individuen: »die Wunschmaschine ist reine Vielheit«,72 erscheinen als die ›Liebesblicke der Waren‹, die die Subjekte zur Verschwendung animieren, whrend sie doch diese Verschwendung ihrer Disziplin als Produzenten unterstellen sollen. Diese widersprchlichen Handlungsaufforderungen der verschiedenen Bereiche kapitalistischer Zkonomie soll die »Pers.nlichkeit« integrieren,73 eben das rechtsfhige, zurechnungsfhige Subjekt der brgerlichen Gesellschaft. In moralischer Hinsicht entspricht diesen Integrationsanforderungen ein brgerlicher Aristotelismus, der die Einzelnen aufruft, zwischen Geiz und Verschwendung die Mitte zu halten. Wem diese Integrationsleistung nicht gelingt, wer den ›Liebesblicken der Waren‹ erliegt und nicht bezahlt oder den Kreditrahmen und die Haushaltskasse sprengt, gar in Fußgngerzonen Geldscheine an Passanten verteilt, wird zum Fall des Straf- und Zivilrechtes oder ein Fall fr die Psychiatrie. Nun ist die kapitalistisch freigesetzte Dynamik der Bedrfnisse durchaus nicht auf die Warenstr.me begrenzt. Libidin.s besetzbar sind schließlich alle existierenden Umwelten.74 Aber auch da, wo es gar nicht mehr, jedenfalls nicht ausschließlich um .konomisches Kalkl geht, etwa im Naturgenuß oder in der Liebe, gibt es die Aufspaltung der Wunschproduktion brgerlicher Subjekte zwischen Selbstbehauptung und dem Wunsch nach bedingungsloser Hingabe und Aufl.sung der Subjektgrenzen. Auch hier befindet sich das Subjekt in einer Antinomie: Verliebt lßt es sich von der Liebe »schwach« und »blind« machen, d. h. es gibt dem Wunsch nach bedingungsloser Hingabe, leidenschaftlicher Verausgabung nach – und m.chte dennoch »Herr seiner Sinne« bleiben wollen. Adorno hat diesen Widerspruch illustriert am Schicksal der Liebe unter dem Aspekt der Scheidung und ihrer .konomischen Imperative. Was Signum der Intimitt war, bedingungslose Hingabe, angstfreies Zulassen von Schwche usw., kann im letzten 71 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. – In: ders.: Werke in 20 B2nden. Bd. 7. – Frankfurt a. M. 1970 [HW VII], § 190, S. 348; § 191, S. 349. 72 Deleuze/Guattari, S. 54. 73 HW VII, § 36, S. 95. 74 Deleuze/Guattari, S. 377. – Rberzogen ist die Behauptung: »Der Wunsch ignoriert den Tausch, er kennt nur den Diebstahl und die Gabe.« (S. 238.) Trfe sie zu, wre die Regulierung des Wunsches durch die »Reterritorialisierungsarbeit« von Staat und Privateigentum nur als permanenter Terror vorstellbar.
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Gefecht des Ehekrieges »zum grausamen Requisit des Preisgegebenseins« werden.75 Diese knappe Skizze soll gengen, um die Problematik des dritten Zustandes, dem Lenz ausgesetzt ist, besser zu verstehen. Denn whrend die verzweifelten Versuche instinktiver Selbsterhaltung nach Lenzens eigener Diagnose letztlich scheitern, kennt er darber hinaus die Erfahrung punktueller Beruhigung in nicht erzwingbaren ekstatischen Momenten, in Momenten ihn berwltigender lustvoller Aufl.sungsgefhle, in Momenten lustvoller Selbstvergessenheit. Diese Momente berfallen ihn, fallen ihm zu; sie sind als »seine seligsten Augenblicke« (S. 29, Z. 12) nicht intendierbar,76 sie sind einzig aufrufbar als »Erinnerungen« an »eine Glut in sich« (S. 21, Z. 20, Z. 19). Diese Weisen erlebter oder imaginierter Entgrenzungen des Ichs, lustvoller Verflssigung und Aufl.sung von Ich-Strukturen sind zu unterscheiden von Aufl.sungs- und Fragmentierungsngsten. Whrend man sich Erfahrungen lustvoller Aufl.sungen und Entgrenzungen als Rberschreitungen, Transgressionen des Ichs vorstellen kann, ist die angstbesetzte Durchlssigkeit der Selbstgrenzen das Resultat einer schwachen Ausbildung von Ich-Strukturen und eines Mangels an IchGefhl. Bei ihrer Fragmentierung entsteht das Gegenteil eines ekstatischen Gefhls, nmlich die »Leere« der Gefhlslosigkeit. Das prominenteste Beispiel fr die Gefhle lustvoller Verflssigung und Aufl.sung von Ich-Grenzen ist wohl Lenzens Predigt-Erfahrung, die Erfahrung der Gemeinde. Sie wird vorbereitet durch die Wahrnehmung einer ›christlich imprgnierten‹ Landschaft vor der Predigt: »Ein Sonnenblick lag manchmal ber dem Tal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Gelute, es war als l.ste sich alles in eine harmonische Welle auf.« (S. 11, Z. 11 – 14.) Im Gottesdienst sind es »Menschenstimmen«, die sich »im reinen hellen Klang« begegnen, »ein Eindruck, als schaue man in reines durchsichtiges Bergwasser« (S. 11, Z. 19 – 21). Whrend der Predigt l.st sich Lenzens »Starrkrampf«, er fhlt seinen Schmerz, zugleich bemchtigt sich seiner ein »sßes Gefhl unendlichen Wohls« (S. 11, Z. 24 f.). Nach dem Got75 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem besch2digten Leben. – Frankfurt a. M. 1982 [Adorno 1982], S. 30. – Natrlich kennt die brgerliche Gesellschaft, nicht erst, seit sie sich als »Spaßgesellschaft« maskiert hat, so etwas wie »Reservate der Sinnlichkeit«, die den Individuen das angstfreie Ausleben ihrer Wnsche gestatten, weil sie als Reservate Schutzzonen darstellen. Der entlastende Schutz resultiert aus der Gewalt (Krieg) oder aus dem Geld. Daß »das Abenteuer um die Ecke liegt«, gibt der genannten Antinomie der Wnsche andere Bewegungsformen, beseitigt sie aber nicht. 76 Der Wunsch ist »ein ziel- und intentionslos funktionierendes molekulares Phnomen« (Deleuze/Guattari, S. 443). Hingegen scheint Schmidt 1994, S. 340, der Meinung zu sein, Lenzens Verschmelzungserlebnisse ließen sich intendiert herbeifhren.
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tesdienst schließlich verbinden sich Schmerzgefhle mit erotischen Phantasien: »Jetzt, ein anderes Sein, g.ttliche, zuckende Lippen bckten sich ber ihm aus, und sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Str.me brachen aus seinen Augen, er krmmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm als msse er sich aufl.sen, er konnte kein Ende finden der Wollust […].« (S. 12, Z. 3 – 9.) Weitere Beispiele sind Lenzens Selbstvergessenheit im »Kunstgesprch« (S. 16, Z. 19 f.). Schon bei seiner Ankunft in Waldersbach, als er »von seiner Heimat« erzhlt, wird er ruhig, »er war weg, weit weg« (S. 7, Z. 20, Z. 25 f.). Dieses Gefhl stellt sich auch ein in personalen Erfahrungen – beim Blick in das »ruhige[n] Auge« Oberlins (S. 9, Z. 12), schließlich auch in der Natur. Im verschneiten Wald berfllt ihn ein »Weihnachtsgefhl«, »er meinte manchmal seine Mutter msse hinter einem Baume hervortreten, groß, und ihm sagen, sie htte ihm dies alles beschert« (S. 10, Z. 27 – 31). Schließlich sind noch die sich direkt anschließende Strahlenvision (S. 10, Z. 32) und das ozeanische Gefhl im Gebirge zu erwhnen (S. 17, Z. 32 – 36). Die Vorstellung der schenkenden Mutter verdient eine besondere Hervorhebung. Bedenkt man, wie wenig die Lenz-Forschung ber Lenzens Kindheit und ber seine Mutter, von der nur ein einziger Brief erhalten ist, weiß,77 kann man nur bewundern, daß und wie Bchner die Mutter in den Text einfhrt. Wenn auch nur imaginr, steht die Mutter als Gegen-Bild zum (realen, von Kaufmann vertretenen) Vater. Sie ist entmaterialisiert zur Erinnerung und (Wunsch-)Vorstellung. So deutlich schwcher als der Vater, »groß« allein in der Imagination, real ohnmchtig reprsentiert sie doch eine Erfahrung des Glcks, das auf einer Zuwendung beruht, die idealiter (wenn auch nicht immer in der Praxis) nicht nach dem Prinzip des Iquivalententausches von Leistung und Gegenleistung funktioniert. Der am 20. [Januar] durchs Gebirge gegangen ist, wurde an einem 23. Januar geboren. Nachdem das Erzhlgeschehen deutlich den ersten beiden Tagen in Waldbach zugeordnet werden kann, heißt es danach »eines Morgens« (S. 10, Z. 3 f.) und vor der »Weihnachtsgefhl«-Passage »des Morgens« (S. 10, Z. 14). So ist nicht auszuschließen, daß ihn die Vorstellung von der schenkenden Mutter an seinem Geburtstag berkommt, daß das »Weihnachtsgefhl« durch ein »Geburtstagsgefhl« verstrkt wird. Geburtstagsgeschenke, wie immer berformt vom Gedanken der Belohnung, sind per se Zuwendungen, die als materielle zugleich psychische reprsentieren und die mit der Belohnung von Leistungen nichts zu tun haben. Sie kommen uns darum zu, weil wir so, wie wir sind, da sind. Sie sind Weisen 77 Siehe Georg-Michael Schulz: J. M. R. Lenz. – Stuttgart 2001, S. 16.
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der Affirmation unseres Daseins. Darauf, auf diesen bejahenden und uns deshalb beglckenden Beziehungserfahrungen beruht die M.glichkeit, stabile Ich-Strukturen herauszubilden, und darauf beruht nicht nur unsere Vorstellung von Glck – ein »etwas, das allen in die Kindheit scheint« (Bloch) – , sondern darauf beruht auch die Fhigkeit, Glck zu empfinden. Es ist die fr glckliches Leben konstitutive Erfahrung kindlicher Bindungen, die den Formulierungen von den »Erinnerungen«, von der Suche nach einer »Glut in sich« eine przise Bedeutung gibt. Daß Lenz ber dem Erzhlen »von seiner Heimat« »ruhig« wird, daß er »weg, weit weg« war, hat nichts mit Heimweh in einem gngigen Sinn zu tun, sondern verweist auf die (frh-)kindliche Verankerung der »Glut in sich« und darauf, daß »Erinnerungen« diese libidin.sen Ressourcen momenthaft »wecken«, mobilisieren k.nnen. Sie sind (noch) funktionsfhige Sttzpunkte psychischer Lebendigkeit, Oasen der Wrme in der Eiswste absterbender Gefhle. Przise und subtil zugleich ist aber Bchners Prosa noch in einer anderen Hinsicht. Handfest-dokumentarischer Realismus k.nnte versucht sein, die Unterwerfung der Mutter unter den Vater, ihre Komplizenschaft mit ihm anhand einmontierter Zitate aus dem einzigen erhaltenen Brief zu belegen: »Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswrdigen Dinge vertifen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was will aus Dir werden? ich billige alles was Papa geschrieben hat.«78 Dieser Ausschnitt allein wrde jedoch die Komplexitt der Botschaft dieses Briefes verfehlen. Er ist eben nicht nur ein Dokument mtterlicher Unterwerfung und vorbehaltloser Komplizenschaft mit dem Vater. Denn ber das Bekenntnis zur »Wahrheit« des Vaters hinaus und im Unterschied zu der in diesem Sinn bloß ›wahren‹ Botschaft des Vaters, die Kaufmann berbringt, dokumentiert der Brief zugleich eine anrhrende Zrtlichkeit, die unbedingte und vorbehaltlose Liebe der Mutter und ihre brennende Sehnsucht nach dem geliebten Sohn. Diese Doppeltheit der Botschaft existiert freilich nicht in einem bloßen Nebeneinander oder als einfacher Widerspruch, sondern strukturiert. Sie zeigt eine Machtanordnung: Die mtterliche Liebe ist schwcher als die vterliche Wahrheit und muß sich ihr daher unterwerfen. Bchners Text spielt diese Machtanordnung auf eine sehr subtile Weise an. Die schwache, sich unterwerfende Mutter ist semantisch explizit gar nicht prsent. Sie erscheint, im Gegenteil, »groß«. Die Machtanordnung steckt vielmehr in der Weise ihrer Prsenz. Gegenber der realen, imperativischen Macht des Vaters bleibt sie eben nur eine im hohen Grad wunschbesetzte Vision. 78 Zit. nach Damm 1985, S. 26.
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Die Unterwerfung mtterlicher Liebe und Frsorge unter die Imperative vterlicher »Wahrheit« ist nichts Individuell-Zuflliges, das allein Lenz betrfe. Folgt man Theweleit, ist sie paradigmatisch fr mnnliche Sozialisation in patriarchalischen Gesellschaften und verantwortlich fr die Erzeugung einer ambivalenten Haltung von Jungen/Mnnern gegenber Wnschen nach Liebe und Zuwendung. Wenn Kinder Abhngigkeit und Frsorge vor allem mit Frauen erfahren, Unabhngigkeit und Freiheit aber mit Mnnern verbinden, wird das, was sie ersehnen: liebevolle Bindungen, zugleich mit Schwche assoziiert. Sehnsucht vermischt sich mit Angst vor Schwche und daraus resultierender Abwehr. Die Aufspaltung zwischen Selbsterhaltung und Wunschproduktion bleibt der Wunschproduktion nicht ußerlich, sondern strukturiert ihre Dynamik um: Entgrenzungswnsche mischen sich mit Machtwnschen (oder Wnschen nach Beherrschtwerden). »Jeder normale Junge […] wird mehr oder weniger in eine Verachtung der Mutter/des Mtterlichen hineingezwungen, wenn er realisiert, daß jene mtterlichen Zge, die ihn nhrten, die ihn gehalten haben, die ihn angeregt und entwickelt haben, einfach ausgel.scht werden k.nnen und ausgel.scht werden durch die Ansprche mnnlich dominierter gesellschaftlicher Institutionen […]. Die Attraktionen der Mutter sind zu schwach – lernt der Junge, zu schwach, um woanders damit zu berleben. Wer an ihnen festhlt, wird ausgelacht. – Mtter bemerken das in aller Regel. […] Aber was bleibt ihnen zu tun? Sie nehmen in der Regel die Gesetze als gegeben hin und bekmpfen sie (aus dem Gefhl der Machtlosigkeit heraus) nicht. Der Junge, der die mnnlichen Regeln und Gesetze vielleicht gar nicht annehmen will […], findet sich in der Falle, wenn er sich von der mtterlichen Macht jetzt verlassen sieht: tief enttuscht, wenn er bemerkt, daß sie nicht in der Lage ist, den Forderungen des Vaters, Lehrers, Trainers oder Chefs etwas entgegenzusetzen. […] Eines spteren Tages wird er sich rchen. Rache nehmen an der mtterlichen Verheißung von Strke und Selbstndigkeit. Mnner haben ihn gelehrt, wo die Mutter sich in den Gebuden der mnnlichen Hierarchien befindet: ganz unten. Und er wird sie treten fr ihre Schwche, fr den Mangel an durchgehender Macht in ihr und ihrer Arbeit. Mttern gelingt es nicht, ihre S.hne zu schtzen vor den grausamen Ansprchen und Zugriffen der Vter und anderer Mnner: Das ist der springende Punkt, der Punkt, der nicht vergeben wird – wie alle Angriffe von schwachen S.hnen/Mnnern gegen schwchere Mtter/ Frauen zeigen.«79
79 Klaus Theweleit: M2nnliche Geburtsweisen. Der m2nnliche K,rper als Institutionenk,rper. – In: ders.: Das Land, das Ausland heißt. Essays, Reden, Interviews zu Politik und Kunst. – Mnchen 1995, S. 58 f.
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Theweleits Perspektive kann einen weiteren Aspekt der Subtilitt von Bchners Prosa verdeutlichen. Daß der Text die Ohnmacht der Mutter nicht semantisch expliziert, sondern sie im Wunschbild ihrer Gr.ße versteckt und andeutet, ist kohrent damit, daß Lenz sich zwar unter dem Zwang mnnlicher Eifersucht von Friederike abwendet, aber diese Abwendung nicht in Verachtung und Aggression berfhrt, sondern beklagt. Dasselbe lßt sich ber sein Verhltnis zur Mutter sagen, die nicht zufllig auch im Kontext der Friederike-Episode erwhnt wird: »o gute Mutter, auch die liebte mich« (S. 23, Z. 31). In einem Moment wahnsinniger Hellsichtigkeit realisiert Lenz, daß er selbst sich von liebevollen Bindungen abgeschnitten hat, ohne sich eingestehen oder erkennen zu k.nnen, warum er es getan hat. Im Modus der Trauer macht sich noch einmal die Kraft seiner lebendigen, libidin.sen Ressourcen geltend, bevor sie (auch durch ihn selbst) abget.tet werden. Lenzens Ambivalenz gegenber Bindungs- und Entgrenzungswnschen wird in der Prosa nicht nur gezeigt, er thematisiert sie auch gesprchsweise mit Oberlin: »Die einfachste, reinste Natur hinge am nchsten mit der elementarischen zusammen, je feiner der Mensch geistig fhlt und lebt, um so abgestumpfter wrde dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht fr einen hohen Zustand, er sei nicht selbststndig genug, aber er meine, es msse ein unendliches Wonnegefhl sein, so von dem eigentmlichen Leben in jeder Form berhrt zu werden; fr Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.« (S. 12, Z. 36; S. 13, Z. 1 – 10.) Weit davon entfernt, dies zwingend als eine Naturmystik,80 gar als Naturphilosophie81 verstehen zu mssen, spricht Lenz ber die libidi80 So Hans-Jrgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Bchner. – Mnchen 1980 [Schings 1980], S. 70. 81 Vgl. Schings 1980, S. 72 u. 78; Menke 1984, S. 50. Wie wenig der elementare Sinn damit zu tun hat, um so mehr jedoch mit Erfahrung, freilich einer spezifischen, muß man Germanisten wohl ber den Umweg literarischer Vermittlung nahezubringen versuchen. Bei Baudelaire heißt es ber eine Erfahrung des Haschischrausches, die den elementaren Sinn mit einer spezifisch knstlerischen Fhigkeit verschrnkt: »Mitunter verschwindet das Bewußtsein der Pers.nlichkeit, und jene Objektivitt, wie sie den pantheistischen Dichtern eigen ist, entwickelt sich in so anormalem Maße, daß ihr ber der Betrachtung der Außendinge euer eigenes Dasein vergeßt und alsbald in sie hineinverschwindet. Euer Blick fllt auf einen sch.ngewachsenen Baum, der sich im Winde biegt; in wenigen Sekunden wird, was im Geist eines Dichters nur ein sehr natrlicher Vergleich wre, in eurem Gemt eine Wirklichkeit. Zuerst schreibt ihr dem Baum eure Leidenschaften zu, eure Sehnsucht oder eure Melancholie; sein Ichzen und Schwanken wird das eure, und bald seid ihr der Baum. Ebenso ist der Vogel, der hoch im Blauen schwebt, euch zuerst ein Zeichen fr das unsterbliche Verlangen, ber den menschlichen Dingen zu schweben; schon aber seid ihr der Vogel selber.« (Baudelaire: Die knstlichen Paradiese. Opium und Haschisch. – In: ChB VI, S. 77; vgl. auch die Erfahrung eines Opiumessers, ebd., S. 86.)
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n.se Besetzung von Naturobjekten. Dem, was hier ›elementarischer Sinn‹ genannt wird, das Berhrtwerden vom ›eigentmlichen Leben jeder Form‹, korrespondiert im »Kunstgesprch« die Formulierung vom Eindringen ›in das eigentmliche Wesen jedes‹ als elementare Qualifikation fr knstlerische Hervorbringungen. Die Pointe liegt jedoch darin, daß Lenz in seinen Ausfhrungen ber den ›elementarischen Sinn‹ genau jene ideologische Topik von ›hoch‹ und ›niedrig‹ bernimmt, die er im »Kunstgesprch« vehement zurckweist, weil sie in den Kernbereich des dort bekmpften Idealismus fhrt. Diese Unterstellung unter die Hegemonie idealismustrchtiger Ideologeme ist um so verwunderlicher, als sich Lenz aktuell keinem Rechtfertigungszwang ausgesetzt sieht. Gibt er noch angesichts Oberlins Moralpredigt auf der diskursiv-ideologischen Ebene den von Oberlin propagierten Ideologemen recht, um scheinbar dezisionistisch auf seinem widerstndigen Trotzdem zu beharren, bewegt sich Lenz hier v.llig unprovoziert und spontan im Raum brgerlicher Ideologie. Das betrifft die soziale Dimension seiner Iußerung, die ungebrochen brgerliche Klischees ber die ›Einfachen‹, die ›weniger oder gar nicht Zivilisierten‹ verbreitet, und es betrifft zentral die subjekttheoretische Dimension, denn Lenzens zentrales Argument gegen den ›elementarischen Sinn‹, von dem er immerhin vermutet, er msse ein ›unendliches Wonnegefhl‹ bereiten, lautet, dieser Sinn sei »kein hoher Zustand, er sei nicht selbststndig genug«. Um nochmals auf Baudelaire zurckzukommen: Die Erfahrung des Rausches, schreibt er, ber Balzacs spr.de Zurckweisung einer Haschischgabe berichtend, besteht in einer »Abdankung [des] Willens« und ist so unvereinbar mit der »Liebe zur Wrde«.82 Lenzens Beharren auf dem Standpunkt brgerlicher Identitt ist indes nicht nur ideologisch bedingt, sondern gewinnt seine Vehemenz aus Erfahrung. Der ›elementarische Sinn‹ der Verschmelzung bereitet eben nicht nur ›Wonnegefhle‹, er bereitet auch Angst davor, daß es mit der Aufl.sung der psychischen Kommandozentrale des Ichs keinen Weg mehr zurck zur personalen Identitt geben mag, daß das Individuum rettungslos ins Undifferenzierte zurckfllt.83 Zffnung des Ichs und 82 Ebd., S. 99. 83 Was hier als Gefahr notiert wird, ist bei Schmidt durchgngig Raster fr die Er.rterung von Lenzens Entgrenzungserlebnissen. Sie kommen bei Schmidt als »Phantasien«, ußerst selten als »Wunschproduktionen« (Schmidt 1994, S. 336) zur Sprache, und niemals ohne das Adjektivattribut »regressiv«. Dies ist Resultat seiner Identifikation von Tiefenpsychologie mit beinhartem Freudianismus, fr die bis ins Literaturverzeichnis anti-.dipale Positionen Tabu sind. Auf derselben Linie argumentiert Martina Kitzbichler: Aufbegehren der Natur. Das Schicksal der vergesellschafteten Seele in Georg Bchners Werk. – Opladen 1993, z. B. S. 90 f. – Zu Freuds Unverstndnis von Entgrenzungswnschen vgl. Klaus Theweleit: M2nnerphantasien. Bd. 1: Frauen, Fluten, K,rper, Geschichte. – Frankfurt a. M. 1982, S. 209 – 220 u. 258 – 297.
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rckhaltlose Hingabe bedeuten immer auch eine Selbst-Preisgabe. Wer seine Panzerung ablegt, macht sich verletzbar, der »kann nicht widerstehen«, der »wird schwach«. Glck hat, um einen Gedanken Adornos aufzugreifen, wer damit keine Strke provoziert.84 Fhigkeit und Bereitschaft zu rckhaltloser Hingabe sind unaufhebbar an das Risiko gebunden, damit an den, die oder das Falsche(n) zu geraten. Lenzens Angst wird deutlich an einer Iußerung in der »Berichtspassage«: »dachte er an eine fremde Person, oder stellte er sie sich lebhaft vor, so war es ihm, als wrde er sie selbst, er verwirrte sich ganz […]« (S. 27, Z. 30 – 32). Die Bereitschaft und Fhigkeit zur Empathie und angstmachende Identittsdiffusion berlagern sich und werden ununterscheidbar. Das, was Lenz wirklich momenthaft beruhigt, die Erfahrung lustvoller Aufl.sung der Grenzen des Subjekts, beunruhigt ihn gleichzeitig zutiefst, ist ihm nicht nur ideologisch verdchtig, sondern ngstigt ihn aus Erfahrung, nicht zuletzt, weil er sie von Symptomen seines Leidens nur schwer oder nicht trennen kann. Wenn es aber bei dem, was ihn ngstigt, um eine notwendige professionelle Fhigkeit des Knstlers und Schriftstellers geht, eben um die Versenkung »in das Leben des Geringsten«,85 heißt das: Lenzens Existenz, die Verbindung von Wunsch und Arbeit in der literarischen Produktion, wird eben nicht nur von außen, von Kaufmann und Oberlin als Protagonisten der Anpassung, in Frage gestellt, sondern Lenzens Ich enthlt in sich selbst Anteile, die ihm seine schriftstellerische Existenz suspekt machen und die seine schriftstellerische Produktivitt blockieren. Bevor darauf abschließend zurckzukommen ist, muß die Bedeutung dessen festgehalten werden, daß Bchner Lenzens Skepsis gegen Entgrenzungswnsche und -erfahrungen nicht nur aus einem ideologischen Standpunkt, sondern auch aus Erfahrungen herleitet. Diese Differenziertheit bezeugt die knstlerische Objektivitt des Textes. Es geht ihm weder um die Denunziation des Selbsterhaltungstriebes noch um die Idyllisierung von Entgrenzungs- und Verschmelzungswnschen. Zwar erscheint der Selbsterhaltungstrieb unter den Existenzbestimmungen brgerlicher Gesellschaft und Individualittsformen als Trger von Egoismus und Opportunismus und vermittelt insoweit ihre Reproduktion, aber auch Entgrenzungswnsche sind nicht ›unschuldig‹ oder gar 84 Vgl. Adorno 1982, S. 255. 85 Baudelaire nennt die Kunst die »heilige Prostitution der Seele«: »Der Dichter genießt jenes unvergleichliche Vorrecht, nach Belieben er selbst und ein anderer zu sein. Wie jene irrenden Seelen, die nach einem K.rper auf der Suche sind, schlpft er, wenn es ihn gelstet, in eines jeden Rolle.« Diese ›Vermhlung‹ mit der Menge verschaffe ihm die »glhende[n] Gensse, deren der wie eine Truhe verschlossene Egoist und der molluskenhaft in sich verkapselte Trge auf ewig beraubt sind«. (Baudelaire: Le Spleen de Paris/Gedichte in Prosa. – In: ChB VIII, S. 149 u. 151.)
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per se ›subversiv‹. Im Gegenteil: Brgerliche Gesellschaft als »System der Bedrfnisse« kann sich nicht spontan reproduzieren, sondern bedarf als Vermittlungsinstanz des Staates der brgerlichen Gesellschaft. Die reproduktionsrelevante Funktionalitt staatlichen Handelns beruht aber auf der ›Tanszendierung‹ der individualistischen Logik des Iquivalententausches. Der Staat kann als Staat der brgerlichen Gesellschaft nur fungieren, wenn er als Garantiemacht zu denen, deren Rechte er garantiert, nicht selbst noch in ein rechtliches Verhltnis tritt. Das Rechtssystem ist gegenber den einzelnen nicht-reflexiv.86 Der Staat ist keine Aktiengesellschaft, der »Gesellschaftsvertrag« ist nicht nach dem Modell eines privatrechtlichen Vertrages zu denken. Das ist Konsens aller klassischen Staats- und Sozialphilosophie von Hobbes bis Hegel und zeigt sich letztlich nicht nur in der Stunde der letzten Instanz vor Gericht, sondern prgnant im Recht des Staats, seine Brger im Ernstfall zu opfern. Die brgerliche Gesellschaft bedarf eben nicht nur des Bourgeois, sondern auch des Citoyen, der den Bourgeois in sich zurckdrngen, vergessen oder gar verbrennen soll, indem er – letztlich – seiner Aufopferung im Namen der Staatsraison zustimmen soll. Das begrndet ein ideologisches Interesse des Staates an solchen Verhltnissen, in denen Verhaltensweisen der »Selbstlosigkeit« (siehe Schiller) erzeugt, ben.tigt und momenthaft gelebt werden, den Privat- und Intimverhltnissen der Individuen. Die dort propagierten und bisweilen gelebten Verhaltensweisen k.nnen zum sozial-emotionalen ›Unterfutter‹ des Citoyen, zum Rohstoff der ideologischen Macht des Staates werden. Deshalb werden diese Verhltnisse im Horizont staatlicher Interessen als »ideologische Staatsapparate« konzipiert, um den oft beargw.hnten Begriff Louis Althussers87 zu verwenden, der in diesem Zusammenhang eine prgnante, nicht-empiristische Bedeutung bekommt. Sinnfllig ist dieser Zugriff geworden in der Rede von der Familie als der »Keimzelle des Staates«. Hegel hat das Interesse des Staates an der Familie auf diesen Punkt gebracht: »Die Piett der Familie ist von dem Staate aufs h.chste zu respektieren; durch sie hat er zu seinen Angeh.rigen solche Individuen, die schon als solche fr sich sittlich sind (denn als Personen sind sie dies nicht) und die fr den Staat die gediegene Grundlage, sich als eins mit einem Ganzen zu empfinden, 86 Vgl. hierzu prinzipiell Burkhard Tuschling: Rechtsform und Produktionsverh2ltnisse. Zur materialistischen Theorie des Rechtsstaates. – Frankfurt a. M. 1976, bes. S. 79 ff. 87 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. – Hamburg, Westberlin 1977. – Zu Recht sprechen Deleuze und Guattari immer von der Reterritorialisierung der Wunschproduktion durch Privateigentum und Staat, denn es geht eben nicht nur um die Unterwerfung von Wnschen unter den ›Sinn des Habens‹, sondern auch um die Ausbeutung und Kanalisierung von ›Selbstlosigkeitswnschen‹.
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mitbringen.«88 Wer sich diesem ideologischen Zugriff nicht blind ausliefern will, braucht Kriterien, z. B. zur Beurteilung des »Ganzen«, mit dem man sich »als eins empfinden« soll. Offenbar gibt es diesen klaren Blick nicht ohne funktionierendes Eigeninteresse, offenbar gibt es auch keine gelingenden, glckhaften Entgrenzungserfahrungen ohne ausgebildetes Ich, whrend Regressionen Aufl.sungswnsche in (Selbst-) Ausl.schungswnsche berfhren. Anders als bei der Reterritorialisierung der Wunschproduktion im beschriebenen Sinn der ideologischen Besetzung der psychischen Energien ›von oben‹ findet eine Aush.hlung psychischer Strukturen von unten insbesondere dann statt, wenn gesellschaftliche Integrationsmechanismen nicht mehr verfangen. Machen schwach ausgebildete IchStrukturen Individuen einerseits flexibel fr konsumistische Integration und kompatibel fr ideologische Unterwerfung, erodieren solche flachen Anpassungsmuster unter Bedingungen sozialer Desintegration um so leichter und schneller zu Prozessen auch psychischer Desintegration, in deren Verlauf Fragmentierungsngste, Angst vor der Aufl.sung ohnehin fragiler Ich-Strukturen und die unkontrollierte Freisetzung von nur unzulnglich sozialisierten Antriebspotentialen eine gefhrliche Dynamik entfalten k.nnen.89 Auch hier gilt: Der Wegfall der Panzerung des autoritren Charakters ist per se noch keine Emanzipation. Wenn die Fragmentierung des Ichs zu einer »Liquidation des Ichs« (Adorno) fortschreitet, bleibt tatschlich nur noch ein »elementarischer Sinn«, der Wonnegefhle allein in Verbindung mit Aggressionen, Wut und Zerst.rung zulßt. Die sthetische Qualitt der Bchnerschen Prosa besteht nicht zuletzt darin, auf diese Problematik hinzufhren (ohne sie freilich zu entfalten).
6. Warum resigniert Lenz? Die Erklrungsabstinenz erzhlender Prosa macht aus ihr ein Reservoir von Fragen.90 Gegenber Bchners Text ließe sich die Frage stellen: Warum fllt Lenz in »kalte[r] Resignation« (S. 30, Z. 24)? Darauf sind viele Antworten m.glich. Weil er unter einem weiteren Krankheitsschub leidet, k.nnte man sagen. Oder auch dies: Was kann ein Einzelner, geschwcht zumal, gegen so viele Bewacher ausrichten? Es gibt aber noch eine Antwort, wenn man diese Frage mit einer anderen verbindet. Es wurde bereits festgestellt, daß Lenz zwar die 88 Hegel: Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte (HW XII, S. 60). 89 Vgl. Eisenberg 2000, bes. S. 49 ff. 90 Zum theoretischen Hintergrund vgl. Walter Benjamin: Kunst zu erz2hlen. – In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IV.1. – Frankfurt a. M. 1972, S. 436 ff.
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Anmutungen und Zumutungen Kaufmanns und Oberlins mehr oder weniger vehement zurckweist, jedoch mit keinem Wort seine schriftstellerische Obsession, mit keiner Silbe seine schriftstellerische Existenz verteidigt. Wenn man nun fragt, warum Lenz auf diese Verteidigung verzichtet, wird die im vorigen Abschnitt notierte Selbstblockade seiner Wunschproduktion, die zugleich eine Selbstblockade seiner knstlerischen Produktivitt ist, als Grund seiner Resignation wichtig. Deutlicher als in der distanzierten Iußerung ber den ›elementarischen Sinn‹, deutlicher auch noch als in der knappen Iußerung ber den Pers.nlichkeitsverlust durch Empathie wird diese Blockade der Wunschproduktion in den Friederike-Episoden des Textes. Zentral sind sie deshalb, weil Lenz in einer von ihnen seinen Anteil am Scheitern dieser Liebe reflektiert und ihn bestimmt als Selbstblockade durch mnnliche Selbstbehauptung, mnnliches Ehrgefhl, nmlich durch Eifersucht (S. 23, Z. 19). Eifersucht »opfert« den »Engel« »auf«, mehr noch, wird als Selbstschdigung erkennbar, als Aufopferung eigener Bedrfnisse und Wnsche, denn ausdrcklich hlt Lenz daran fest: »ich liebte sie, sie wars wrdig« (S. 23, Z. 30 f.). Dennoch »opfert« er sie »auf«, weil sie »noch einen andern« »liebte« (S. 23, Z. 30). Die Passage ist geradezu exemplarisch fr Deleuzes und Guattaris These von der »Reterritorialisierung« der Wunschproduktion »durch die knstliche Einheit eines Besitz- oder Eigentums-Ich«.91 Wichtig an ihr ist aber nicht nur Lenzens Eingestndnis einer Selbstblockade seiner libidin.sen Besetzungen, wichtig ist auch, wie sie artikuliert wird. Denn Lenz spricht diese Abt.tung aus, ohne sie sich wirklich einzugestehen. Vielmehr verkehrt er die Ich-erzeugte Abt.tung seines Liebeswunsches zum Tod der anderen: »das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel.« (S. 27, Z. 1 f.) Mehr noch, der Tod der anderen wird zu einem T.tungsdelikt: »Ich bin ein M.rder.« (S. 23, Z. 31 f.) An dieser Selbstbezichtigung ist, nach der bisherigen Darstellung, etwas dran, freilich im bertragenen Sinn. Wenn Friederike, wie Lenz sagt, ihn liebte und er sie trotz seiner Gegenliebe aus Eifersucht verlassen hat, dann ist Lenzens Abt.tung seiner eigenen Liebe zugleich die von Friederikes Liebe. Lenz teilt diesen Zusammenhang mit und verrtselt ihn zugleich fr sich und
91 Deleuze/Guattari, S. 92. – V.llig zu Recht macht Reuchlein auf die Bedeutung dessen aufmerksam, daß Bchner den folgenden Satz aus Oberlins Bericht nicht bernommen hat: »die Ehe hatte ich ihr versprochen, hernach verlassen«, weil dies eine Verschiebung von der Wunschblockade hin in den Bereich der Moral bedeutet htte. Vgl. Georg Reuchlein: »… als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm«. Zur Geschichtlichkeit von Georg Bchners Modernit2t: Eine Arch2ologie der Darstellung seelischen Leidens im »Lenz«. – In: Jahrbuch fr Internationale Germanistik 28 (1996), H. 1, S. 96, Anm. 132.
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seinen Zuh.rer. So bleiben »Hieroglyphen, Hieroglyphen« (S. 27, Z. 3).92 Wenn nun der Sinn fr Liebe eine spezifische Wunschproduktion ist, Teil des Sinns fr Empathie berhaupt, steht nicht nur Lenzens Lebensglck zur Disposition, sondern auch seine sthetische Produktivitt; sie wird an ihren Grundlagen libidin.s ausgetrocknet. Daher kann es in der Schlußpassage des Textes heißen: »er war vollkommen gleichgltig« (S. 30, Z. 27 f.), und: »keine Ahnung, kein Drang«, »kein Verlangen« (S. 31, Z. 3, Z. 11). Das aber bedeutet auch: Lenz fllt selbst hinter die in sich problematischen Selbsterhaltungsanstrengungen zurck. Keine Anpassung ans Realittsprinzip brgerlichen Alltagslebens liegt bei ihm vor, sondern eine libidin.s nicht gesttzte, eben resignative Mimikry an brgerliche Verkehrsformen. »Er schien [Herv. H. O. R.] ganz vernnftig, sprach mit den Leuten; er tat alles wie es die andern taten […].« (S. 31, Z. 8 f.) Daher artikuliert auch der berhmte Schluß – »sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.« (S. 31, Z. 11 f.) – keine Kritik des brgerlichen Alltagslebens an sich, denn Lenz bewegt sich nicht in dessen Individualittsformen, ist nicht in sie integriert. Eine Kritik des Alltagslebens liegt dann vor, wenn man nicht nur seine Integrations-, sondern auch seine Ausschlußmechanismen im Blick behlt. Der Skandal, den die Schlußpassage andeutet, besteht nicht in einer – ohnehin unm.glichen – Integration Lenzens, auch nicht in seiner – ohnehin unm.glichen – Zwangsintegration, sondern darin, daß jemand wie Lenz weder gebraucht noch vermißt werden wird. Lenz ist das zufllig gewordene Individuum der brgerlichen Gesellschaft, der »Privatmensch«, dessen »nackte Existenz« zur »Privatsache« wird.93 Nicht Bchner-philologisch gesprochen, sondern mit Bchner gegenwrtiges Hinausfallen aus den gesellschaftlich blichen Subsistenzformen bedenkend: »Aus der Masse der Geretteten fllt, unauffllig, geruschlos, der ›Ausgegrenzte‹, […] ein berflssiger Mensch.«94 So Dahinleben ist Leben im chronischen Unglck.
92 Abstrakt, weil den Kontext ignorierend, sind Interpretationen der HieroglyphenIußerung als Beginn der Sprachlosigkeit (Menke 1984, S. 23) oder als »halluzinatorische Erfahrung einer sinn-losen Welt« (Gerhard P. Knapp: Georg Bchner. 3. Aufl. – Stuttgart,Weimar 2000, S. 146). 93 Braun 2000 (s. Anm. 6). 94 Ebd. – Volker Brauns Text wurde »vor Erfurt« geschrieben. »Kalte Resignation« ist das Stichwort, unter dem das Ende der Bchnerschen Prosa steht. »Klte« k.nnte zur Signatur einer Gegenwart werden, in der wir uns befinden, ohne ermessen zu k.nnen, was uns noch erwartet. Wenn Eisenbergs Befunde in Amok – Kinder der K2lte stimmen, kann man sagen: Bchners Lenz hat jetzt erst seine Zeitgenossenschaft gefunden. Das wre gut fr die Bchner-Rezeption, aber schlecht fr die Gesellschaft.
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»Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik« Anmerkungen zu Georg Bchners Spinoza-Rezeption
Von Gideon Stiening (Mnchen)
Aus den leidenschaftlich gefhrten Debatten ber den genauen Gehalt und die daraus resultierende Bedeutung der Philosophie Spinozas und des sogenannten Spinozismus,1 die im Anschluß an die Publikationen Friedrich Heinrich Jacobis in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts gefhrt worden waren,2 kristallisierten sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zwei grundlegend neue Formen einer Spinoza-Rezeption heraus. War die Aufnahme, vehemente Kritik oder enthusiastische Feier des Spinozismus durch die Sptaufklrung, die Weimarer Klassik, die Romantik oder den frhen Idealismus zumeist noch in methodisch ungeregelter Form vor allem durch die religionspolitischen Dimensionen des Atheismusvorwurfes bestimmt worden, strebten im 19. Jahrhundert wenigstens zwei Momente, die insbesondere bei Jacobi noch ununterschieden ineinander verwoben waren,3 deutlich auseinander. Eine der hier angesprochenen Rezeptionsweisen lßt sich anschaulich mit einer Passage aus einem Brief Zelters an Goethe vom September 1821 darstellen, in der es heißt: »Eine neue Oper: ›Der Freischtz‹ von Mar. V. Weber, geht reißend ab. […] Die Musik findet großen Beifall und ist in der Tat so gut, daß das Publikum
1 Zur Differenz der Philosophie Spinozas vom »Spinozismus« des spten 18. Jahrhunderts vgl. Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. – Frankfurt a. M. 1974, S. 19. Zur behutsamen Aufhebung der seit Timm kanonischen, abstrakten Trennung beider Begriffsbereiche vgl. Gideon Stiening: »Werden Sie lieber ganz sein Freund«. Zur Bedeutung von Lessings Spinoza-Rezeption. – In: Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas (1942 – 1997). Hrsg. v. Eva Schrmann, Norbert Waszek u. Frank Weinrich. – Stuttgart-Bad Cannstadt 2002, S. 193 – 220. 2 Vgl. dazu auch Detlev Ptzold: Spinoza – Aufkl2rung – Idealismus. Die Substanz der Moderne. – Zweite erweiterte Aufl. Assen 2002. 3 Trotz Jacobis Forderung nach prziser Textexegese der Philosophie Spinozas lag in der Vermengung seiner eigenen Theoreme und (beispielsweise antisemitischer) Vorurteile mit der Darstellung der Philosophie Spinozas ein wesentlicher Grund fr den Erfolg seines antirationalistischen Feldzuges; vgl. dazu Timm: Gott und die Freiheit, S. 136 – 225.
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den vielen Kohlen- und Pulverdampf nicht unertrglich findet. Von eigentlicher Leidenschaft habe vor allem Geblse wenig gemerkt. Die Kinder und Weiber sind toll und voll davon; Teufel schwarz, Tugend weiß, Theater belebt, Orchester in Bewegung, und daß der Komponist kein Spinozist ist, magst Du daraus abnehmen, daß er ein so kolossales Werk aus obengenanntem Nihilo erschaffen hat.«4
Die Verwendung des von Jacobi als »Geist des Spinozismus« bestimmten und dadurch popularisierten Grundsatzes des a nihilo nihil fit,5 das explizit als spinozanischer Terminus bezeichnet wird, und zwar zur ironischen Bewertung des Sujets der Weberschen Oper, belegt, wie weit bestimmte Theorieelemente der Philosophie Spinozas in den allgemeinen Sprachgebrauch der brgerlichen Bildungsschichten des frhen 19. Jahrhunderts eingedrungen waren. Vor allem der humorvolle Einsatz, der den Komponisten gerade wegen der kritisierten Inhaltsschwche des Librettos zum Spinoza-Gegner erklrt, zeigt, wie wenig von dem angstbesetzten und verbissenen Umgang mit Spinoza6 der vorhergegangenen Jahrhunderte zumindest auf der Ebene privater Korrespondenz verblieben war.7 Die zweite im frhen 19. Jahrhundert sich durchsetzende neue Form der Spinozarezeption lßt sich nicht nur an der großen Zahl von Vorlesungen ber die Philosophie des niederlndischen Rationalisten ablesen, die an den deutschen Universitten gehalten wurden,8 sondern 4 Brief vom 5. Sept. 1821, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. Hrsg. v. Hans-Gnter Ottenberg u. Edith Zehm in Zusammenarbeit mit Anita Golz, Jrgen Gruß, Wolfgang Ritschel u. Sabine Schfer. – Mnchen 1991 (Johann Wolfgang Goethe: S2mtliche Werke nach den Epochen seines Schaffens. Hrsg. v. Karl Richter. Bd. 20.I), S. 667. 5 Friedrich Heinrich Jacobi: -ber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Imgard-Maria Piske bearbeitet v. Marion Lauschke. – Darmstadt 2000, S. 24; zur Bedeutung dieses Grundsatzes innerhalb der Philosophie Jacobis, aber auch der Spinozas vgl. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. – Mnchen 2000, S. 93 – 101. 6 Vgl. hierzu u. a. Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frhaufkl2rung in Deutschland 1680 – 1720. – Hamburg 2002. 7 Daß im spten 19. Jahrhundert eine Beschftigung mit dem philosophischen Spinozismus wieder problematisch wurde, zeigt am Beispiel Kuno Fischers Ulrich Vogel: »Die Philosophie will ihr Meisterstck machen…«. Spinoza, Pantheismus und Philosophie bei Kuno Fischer. – In: Societas rationis. FS fr Burkhard Tuschling. Hrsg. v. Dieter Hning, Gideon Stiening u. Ulrich Vogel. – Berlin 2002, S. 351 – 381. 8 Ulrich Johannes Schneider: Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung 1800 – 1850. – In: Spinoza in der europ2ischen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Hanna Delf, Julius H. Schoeps u. Manfred Walther. – Berlin 1994, S. 305 – 331, hat nachgewiesen, daß zwischen 1810 und 1850 mehr als 20 Veranstaltungen ber die Philosophie Spinozas in den Vorlesungsverzeichnissen der 19 deutschen Universitten angekndigt wurden; vgl. auch ders.: Philosophie und Universit2t. Historisierung der Vernunft im 20. Jahrhundert. – Hamburg 1999, S. 257 – 275.
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auch an der Flle von Dissertationen, die ber Spinoza in dem Zeitraum zwischen 1810 und 1850 – insbesondere ber dessen Verhltnis zur Philosophie Descartes – geschrieben wurden.9 Beide Formen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas sind Produkte der in dem genannten Zeitraum einsetzenden Professionalisierung philosophiehistorischer Forschung.10 Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts verstand sich diese Betrachtungsweise als eigenstndiger Zweig der Philosophie, und zwar im Sinne einer exakten Wissenschaft, die sich daher auch als selbstndige akademische Disziplin etablierte.11 Schon weit vor der Publikation der Hegelschen Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie,12 dem heute noch bekanntesten Kompendium einer philosophiegeschichtlichen Darstellung jener Zeit, sind derartige, bisweilen umfangreiche Abhandlungen zur Philosophiegeschichte zu verzeichnen.13 Entscheidend ist hierbei der Sachverhalt, daß es dem Gros dieser Philosophiegeschichten um eine wissenschaftlich profunde Rekonstruktion des Spinozanischen Systems ging und nicht mehr primr um eine unmittelbar systematische Auseinandersetzung bzw. philosophische oder theologische Widerlegung desselben. An beiden hier vorgestellten, fr das 19. Jahrhundert neuen Rezeptionsformen, der wissenschaftlichen Er.rterung im Rahmen philoso9 Vgl. dazu Ulrich Johannes Schneider: Spinozismus als Pantheismus. Anmerkungen zum Streitwert Spinozas im 19. Jahrhundert. – In: Praxis – Vernunft – Gemeinschaft. Auf der Suche nach einer anderen Vernunft. Hrsg. v. Volker Caysa u. Klaus-Dieter Eichler. – Weinheim 1994, S. 163 – 177; Schneider: Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung, S. 329, sowie ders.: Philosophie und Universit2t, S. 276 – 290. 10 Zu den substanziellen Umwlzungen, d. h. tatschlichen Revolutionen im Philosophieverstndnis der Zeit vgl. schon Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung. – Meisenheim 1968 sowie Andrks Ged.: Philosophie zwischen den Zeiten. Auseinandersetzungen um den Philosophiebegriff im Vorm2rz. – In: Philosophie und Literatur im Vorm2rz. Der Streit um die Romantik (1820 – 1854). Hrsg. v. Walter Jaeschke. – Hamburg 1995, S. 1 – 39. 11 Vgl. dazu Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Aus dem Franz.sischen bersetzt v. F. Wimmer. Bearbeitet u. mit einem Nachwort versehen v. Ulrich Johannes Schneider. – Darmstadt 1990, spez. S. 217 – 243. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. K. L. Michelet. 3 Bde. – Berlin 1833 – 1836. 13 Vgl. dazu das elfbndige Werk von Wilhelm Gottlieb Tennemann: Geschichte der Philosophie. – Leipzig 1798 – 1819, dessen Autor als einer der Grndervter der akademischen Philosophiegeschichte zu bezeichnen ist. Dieses Kompendium diente Bchner als Grundlage seiner philosophischen Studien. Zu Tennemann vgl. Schneider: Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung, S. 313 u. 320, sowie Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte, S. 254 – 266, vor allem aber Horst Schr.pfer: Der Entwurf zur Erforschung und Darstellung einer evolution2ren Geschichte der Philosophie von Wilhelm Gottlieb Tennemann. – In: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hrsg. v. Friedrich Strack. – Stuttgart 1994 [im folgenden zitiert als Schr.pfer 1994], S. 213 – 230.
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phiehistorischer Darstellungen sowie der ironischen Anspielung auf spezifische spinozanische Theoreme im Diskurs des brgerlichen common sense, hat Georg Bchner teilgehabt: Als angehender Dozent der Zricher Universitt14 fertigte der Doktor der Philosophie15 einerseits umfangreiche Skripte ber Descartes und Spinozas Philosophie an, die er einer Vorlesung »ber die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza«16 zugrunde legen wollte.17 Andererseits setzte Bchner fr das Verstndnis einiger Passagen seiner Dramen Dantons Tod und Leonce und Lena jene allgemeine Kenntnis ber spezifische Theoreme der Philosophie Spinozas18 voraus, die auch der Briefpassage Zelters zugrunde liegt. Nachdem Bchners Position zur Philosophie Spinozas, die er im Rahmen seiner poetischen Werke entfaltet, in der Forschung des .fteren in den Blick genommen worden ist, m.chte ich im folgenden diesen Sachverhalt von den philosophiehistorischen Studien ausgehend betrachten. Denn eine den Argumentationsverlauf des gesamten Spinoza-Skripts differenziert verfolgende Analyse19 vermag – so meine 14 Schon frher hatte sich Bchner dem eingehenden Studium der Philosophie, und zwar in Gießen ab Ende 1833, gewidmet; vgl. dazu Thomas Michael Mayer: Zur Datierung von Georg Bchners philosophischen Skripten und Woyzeck H3,1. – In: GBJb 9 (1995 – 99), S. 281 – 329, bes. S. 296 u. 308 [im folgenden zitiert als Mayer 2000]. 15 Bchner promovierte allerdings im Fach Naturgeschichte bzw. Vergleichende Anatomie mit einer Arbeit ber das Nervensystem der Barbe; vgl. dazu Udo Roth: Georg Bchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten H2lfte des 19. Jahrhunderts. – Tbingen 2004 (Bchner-Studien, Bd. 9), S. 18 ff. 16 An den Bruder vom 2. September 1836. – In: HA II, S. 460; zu Bchner als Philosophiehistoriker vgl. Gideon Stiening: Sch,nheit und ^konomie-Prinzip. Zum Verh2ltnis von Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte bei Georg Bchner. – In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 95 – 121. 17 Zur Stellung dieser Vorlesungsskripte innerhalb der Philosophiegeschichtsschreibung des frhen 19. Jahrhunderts in methodologischer Hinsicht vgl. Gideon Stiening: »Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie.« Die Entstehung der Philosophiegeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert als akademische Disziplin und die Rolle der Schulbildung am Beispiel Georg Bchners. – In: Das Projekt der Nationalphilologien in der Disziplingeschichte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Lutz Danneberg, Wolfgang H.ppner u. Ralf Klausnitzer. – Berlin 2004, S. 246 – 268 [i. D.]. 18 Zur spezifischen Spinoza-Rezeption in Dantons Tod vgl. Gideon Stiening: Georg Bchner und die Philosophie. – In: Der Deutschunterricht 6/2002 (Themenheft Georg Bchner), S. 47 – 57. 19 Eine philosophisch-systematische Beschftigung mit den Skripten Bchners unterblieb bisher nahezu vollstndig. Dies gilt auch fr die in ihrer Annahme einer grundlegenden Philosophiekritik Bchners voreingenommene, vor allem aber im Hinblick auf ihre analytischen Durchdringung der Philosophie Spinozas unzureichende Arbeit von Seiji Osawa: Georg Bchners Philosophiekritik. Eine Untersuchung auf der Grundlage seiner Descartes- und Spinoza-Exzerpte. – Marburg 1999.
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These – ein nicht nur schrferes, sondern auch durchaus anderes Bild dieser Rezeption und ihrer Bedeutung fr Bchner zu entwerfen.
I. Das insgesamt 176 Seiten umfassende Skript zur Philosophie Spinozas,20 das Bchner mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum Herbst 1836 anfertigte,21 lßt sich in drei thematische Abschnitte untergliedern.22 Dabei macht den ersten Teil eine eigenstndige Rbersetzung und abschnittsweise Kommentierung des ersten Buches der Ethica, ordine geometrico demonstrata Baruch de Spinozas aus (HA II, S. 227 – 266). Den zweiten Teil konstituiert eine differenzierte Darstellung des Tractatus de emendatione intellectus23 (HA II, S. 266 – 284), den Bchner als »Wissenschaftslehre« Spinozas bezeichnet, welche der Metaphysik der Ethik zugrundeliege.24 Der dritte, krzeste und offenkundig unabgeschlossene Teil (HA II, S. 284 – 291) bemht sich um eine allgemeine Bestimmung und Bewertung des Verhltnisses von Wissenschaftslehre und Metaphysik und darber hinaus der gesamten Systematik der Spinozanischen Philosophie. Fr alle drei Teile sind zunchst folgende allgemeine Charakteristika festzuhalten: Bchners wissenschaftliche Perspektive auf Spinoza ist insbesondere durch die Spinoza-Studie Wilhelm Gottlieb Tennemanns geprgt, die dieser im 10. Band seiner Geschichte der Philosophie ausgefhrt hatte.25 Zumal bei der Interpretation bestimmter einzelner Theorieelemente kann der Einfluß Tennemanns deutlich nachgewiesen werden. Außerdem zitiert Bchner insbesondere im letzten Teil des 20 Vgl. dazu in ersten – allerdings deutlichen hegelianisierenden – Anstzen Rodney Taylor: Perspectives on Spinoza in Works by Schiller, Bchner, and C. F. Meyer. Five Essays. – New York u. a. 1995, spez. S. 39 – 69: Georg Bchners Concept of Nature and its Relation to the Spinozan Absolute. 21 In den zwischen Jan-Christoph Hauschild: Georg Bchner. Biographie. – Stuttgart, Weimar 1993 [Hauschild 1993] und Thomas Michael Mayer: Zur Datierung von Georg Bchners philosophischen Skripten [Mayer 2000] ausgetragenen Streit um die genaue Terminierung der Niederschrift der philosophischen Skripte zu Descartes und Spinoza werde ich hier nicht eingreifen. Die dort behandelte Frage ist fr die folgenden philosophiehistorischen Rberlegungen (zur Methodologie der hier anvisierten Philosophiegeschichte vgl. Dominik Perler: Ein historisch gesch2rfter Blick auf die Philosophie der frhen Neuzeit. – In: Philosophische Rundschau 46, 1999, S. 43 – 55) auch nebenschlich. Es gengt zu wissen, daß eine Beschftigung Bchners mit der Philosophiegeschichte seit dem Herbst 1835 nachweisbar ist, weil er zu diesem Zeitpunkt in Briefen von seinem Vorhaben berichtet, an der Zricher Universitt Vorlesungen ber diesen Gegenstand zu halten. 22 Das ganze Skript ist abgedruckt in: HA II, S. 227 – 291. 23 Im folgenden abgekrzt als TIE. 24 Den Terminus »Wissenschaftslehre« (HA II, S. 271 u. ..) bernimmt Bchner aus der Schrift Johannes Kuhns. 25 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 374 – 495.
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Skripts aus der Abhandlung des Marburger Philosophiehistorikers (insbesondere HA II, S. 286 – 291). Weitere, allerdings qualitativ und quantitativ geringere Einflsse sind durch die Arbeiten von Johannes Kuhn26 und Johann Friedrich Herbart27 zu bercksichtigen. Eine philosophisch originelle Spinoza-Interpretation ist dabei kaum einer Bchnerschen These zum Argumentationsgang der Ethik, des TIE sowie weiterer von Bchner herangezogener Schriften Spinozas28 zu attestieren.29 Gleichwohl kann durch die spezifische Auswahl, die Bchner aus den Analyse- und Interpretationsergebnissen Tennemanns, Kuhns und Herbarts ttigte, deren systematische Anordnung und Kritik sowie einige eigenstndige interpretative Thesen als das besondere Argumentationsziel des Philosophiehistorikers bei seiner Beschftigung mit Spinoza herausgearbeitet werden. Grundstzlich lßt sich zeigen, daß sich Bchner den entscheidenden Prmissen der erst jungen Disziplin der Philosophie als historischer Wissenschaft unterwirft, indem er zumeist um eine bewertungsfreie Analyse und Darstellung30 der Spinozanischen Systematik bemht ist.31 Gleichwohl ist dem Text durchaus ein Wider26 Johannes Kuhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit. Ein Versuch, das wissenschaftliche Fundament der Philosophie historisch zu er,rtern. – Mainz 1834. 27 Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Metaphysik, nebst den Anf2ngen der philosophischen Naturlehre. – K.nigsberg 1828. Zur philosophischen Differenz zwischen Bchner und Herbart in naturphilosophischer Hinsicht vgl. Udo Roth u. Gideon Stiening: »Um Mitternacht den Sonnenschirm gebrauchen.« Zur HerbartRezeption bei Johannes Mller, Emil Du Bois-Reymond und Hermann von Helmholtz. – In: Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarit2t im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. Andreas Hoeschen u. Lothar Schneider. – Wrzburg 2001, S. 203 – 228, spez. S. 204 – 206. 28 Bchner zitiert aus folgenden Schriften Spinozas: Principia philosophiae Cartesianae more geometrico demonstrata (HA II, S. 271), deren Vorrede von Ludovico Meyer (HA II, S. 269), Cogitata metaphysica (HA II, S. 228, 271 u. ..), Tractatus theologico-politicus (HA II, S. 268 – 270). 29 Daß fr einen Philosophen »Bchner gilt, daß er ›von der Forschung‹ […] erst ›noch zu entdecken‹« sei, wie Hauschild 1993, S. 528, mit Silvio Vietta meint, darf fglich bezweifelt werden. Eine philosophisch eigenstndige, systematisch innovative Leistung ist von Bchners Skripten nicht zu erwarten. Vgl. hierzu auch Gideon Stiening: Georg Bchner und die Philosophie, S. 47 f. Das enthebt jedoch weder den Bchner-Forscher noch den philosophiegeschichtlichen Betrachter der Spinoza-Rezeption des 19. Jahrhunderts einer systematischen Analyse des Bchnerschen Textes. 30 Zu den methodologischen Vorgaben Tennemanns hinsichtlich einer angemessenen, d. h. wissenschaftlichen Form der Philosophiegeschichtsschreibung vgl. die Studie von Schr.pfer 1994, spez. die auf S. 221 – 224 angegebenen Zitate. 31 Daher unterscheidet sich Bchners Spinoza-Betrachtung schon in methodischer Hinsicht deutlich von der Jacobis, der seine Darstellung der Philosophie Spinozas bisweilen ununterscheidbar mit seiner eigenen Philosophie verknpft; vgl. hierzu Thomas Horst: Konfigurationen des unglcklichen Bewußtseins. Zur Theorie der Subjektivit2t bei Jacobi und Schleiermacher. – In: Poetische Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philosophie in der Epoche Goethes und H,lderlins. – Stuttgart 1987, S. 185 – 206.
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legungsgestus zueigen;32 mehrfach (HA II, S. 267, 268 u. 284) meint Bchner einen »Widerspruch« der Argumentation Spinozas feststellen zu k.nnen. Fr den angehenden Dozenten der philosophischen Fakultt der Zricher Universitt ist mithin die wissenschaftlich exakte Beschftigung mit Spinozas Philosophie durch przise und differenzierte Texterfassung (mithilfe von Rbersetzung und Stellenkommentar) nicht nur Selbstzweck, sondern auch Mittel zur L.sung eigener religionsphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Fragestellungen, die ihm in der rationalistischen Philosophie erneut entgegentraten.33 Im folgenden sollen nunmehr die einzelnen Teile des Bchnerschen Skripts einer genauen Betrachtung unterzogen werden.
II. Bchner bersetzt – wie schon erwhnt – zunchst das gesamte erste Buch des Hauptwerkes Spinozas. Dabei k.nnen schon dieser Rbersetzung selbst einige Spezifika entnommen werden. Denn einerseits findet Bchner bisweilen Rbertragungen, die dem Original in besonderer Weise nahekommen. Andererseits lassen sich – und zwar durchaus hufiger – fehlerhafte,34 ja entstellende35 Rbersetzungen verzeichnen. 32 Vgl. dazu auch die wohl zwar hinsichtlich des kritischen Impetus, nicht aber bezglich dessen Gegenstand angemessene Beschreibung von Hans Mayer: Georg Bchner und seine Zeit. – Frankfurt a. M. 1972, S. 358 f.: »Weitaus bedeutsamer dagegen […] sind jene Hefte, in denen Bchner […] zur Welt Spinozas findet. Sofort scheint die Temperatur gleichsam verndert. War die Bereitwilligkeit, fr den Augenblick Descartes gleichsam nachzudenken, bei Bchner recht groß, so regt sich, bei Spinozas geometrischen Schlssen, sofort reger Protest. Bchner hat zwar nicht sein ›Klima‹, aber unter fremdem Himmel seine Grundfragen wiedergefunden.« Daß es ausgerechnet die geometrischen Schlsse nicht sind, die Bchners Protest hervorrufen, soll sich weiter unten noch zeigen. 33 Eine hnlich Funktion – wenngleich erheblich schrfer ideologiekritisch konturiert – erfllen auch die Descartes-Skripten Bchners, in denen er das »Grab der Philosophie« (HA II, S. 153) durch die cartesische Philosophie vorgezeichnet sah. Zu Bchner Descartes-Rezeption vgl. die Arbeiten von Silvio Vietta: Selbsterfahrung bei Bchner und Descartes. – In: DVjs 53 (1979), S. 417 – 428 und Friedrich Vollhardt: »Unmittelbare Wahrheit«. Zum literarischen und 2sthetischen Kontext von Georg Bchners Descartes-Studien. – In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 196 – 211. 34 So unterluft dem Rbersetzer bei der Anmerkung zu Lehrsatz 8 eine folgenschwere falsche Attributzuordnung, wenn er »cum finitum revera sit ex parte negatio & infinitum absoluta affirmatio existentiae alicuius naturae« bertrgt mit »Da die Endlichkeit eine Verneinung, die absolute Unendlichkeit aber die Affirmation der Existenz einer Sache ist, […].« Bedeutsam ist insbesondere das Fehlen der Partialitt der Negation sowie die verfehlte Zuordnung des Adjektivs »absoluta« zur Unendlichkeit. Bchner erkennt offenbar nicht, daß Spinoza mit dieser Bestimmung den Begriff der omnitudo realitatis nher erlutert. 35 So lßt Bchner zweimal die sicherlich schwer zu interpretierende Einschrnkung
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So meint Bchner die wichtige Bestimmung des intellectus, d. h. des Verstandesverm.gens bei Spinoza, durchgehend mit dem Terminus Vernunft bersetzen zu k.nnen.36 Auch die Kategorie des »in se esse«, deren konstitutive Bedeutung Bchner durchaus erfaßt,37 wird im Text des Beweises von Lehrsatz 5 mit Sein »an und fr sich« bertragen. Grundstzlich muß der Bchnerschen Rbersetzung – insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, daß ihm mit der ußerst przisen Tennemannschen Rbertragung der Ethik bis zum Lehrsatz 15 eine textnahe Vorgabe zur Verfgung stand38 – ein fehlerdurchsetzter und daher wom.glich vorlufiger Charakter attestiert werden. Dennoch liegt in dem Sachverhalt, daß Bchner berhaupt eine eigene Rbersetzung anfertigte, ein wesentlicher Aspekt des Skripts, weil er damit ein zentrales methodisches Postulat der philosophiehistorischen Wissenschaften nach exakter Textexegese erfllte.39 Dieses realisierte sich jedoch nicht nur durch die Rbersetzung, sondern auch durch unterschiedlich gestaltete eigene Anmerkungen zu einzelnen Textpassagen der Ethik. Neben vereinzelten Randbemerkungen40 und kurzen Verweisen auf andere Texte Spinozas (z. B. die Cogitata metaphysica bei def. 8) oder erluternden Fußnoten zu einzelnen Begriffen, die sich mehrfach auch anderer philosophischer Systeme bedienen (z. B. des Kantischen zur Erluterung des Begriffes Axiom41), macht den gr.ßten und wichtigsten Teil dieser Textbehandlung ein ausfhrlicher Kommentar zu den Lehrstzen 5 bis 15 von ETH. I aus. Die Grnde fr die auffllige Beschrnkung der umfangreichen Auseinandersetzung gerade auf diese Theoriestcke aus ETH. I mssen in dem
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von »extra intellectus« in prop. 4 und prop. 8, scholium stillschweigend unbersetzt. So bei der Rbersetzung von def. 4 (HA II, S. 227) und noch bei einer Paraphrase aus dem Tractatus theologico-politicus: »Da die Vernunft (intellectus) […]« (HA II, S. 268). Einmal nur (HA II, S. 283) verwendet er im Rahmen einer Paraphrase einer Tennemannschen Paraphrase von § 107 des TIE (vgl. Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 418 f.) die richtige Rbersetzung. Daraus lßt sich schließen, daß dem angehenden Philosophiehistoriker Bchner die durch Kant kanonisierte Differenz von Verstand und Vernunft offenkundig nicht gelufig war. Vgl. dazu seine Argumentation in: HA II, S. 236. Vgl. Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 425 – 438. Vgl. dazu Tennemanns unbedingtes Postulat des Quellenstudiums bei Schr.pfer 1994, S. 221 und die eindringliche Forderung von Herbart: Allgemeine Metaphysik, S. 160: »Dringend mssen wir dem Anfnger […] anempfehlen, die Ethik des Spinoza zu lesen; und sich nicht bloß auf Jacobis Darstellung von derselben zu verlassen.« So merkt Bchner bei der Rbersetzung von ETH. I, def. 2 an der Stelle: »[s]ic cogitatio alia cogitatione terminatur« fragend an, ob das Denken tatschlich »durch das Denken« begrenzt werden k.nne, was er letztlich verneint, wie der weitere Verlauf seiner Argumentation zeigt. Vgl. dazu: HA II, S. 228.
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Einfluß der Tennemannschen Interpretation gesucht werden. Denn auch fr den Marburger Philosophiehistoriker kommt einerseits dem Lehrsatz 5 konstitutive Bedeutung – und zwar fr das Scheitern des gesamten Systems Spinozas – zu,42 was auch Bchner zu begrnden versucht. Andererseits beendet Tennemann seine Rbersetzung der Ethik mit dem Text des Beweises von Lehrsatz 15 und begrndet dies damit, daß bis zu jenem Deduktionsschritt die wichtigsten Bestimmungen geleistet seien, so daß der Rest von Buch 1 auch hinreichend paraphrasiert werden k.nne.43 Im folgenden m.chte ich mich auf die Darstellung der drei von Bchner selbst gesetzten thematischen Schwerpunkte seiner den Text der Ethik kommentierenden Analyse und Interpretation beschrnken, weil diese zugleich drei wesentliche Widerlegungsstrategien Bchners ausfhren. Dazu geh.rt erstens die Auseinandersetzung um die in Lehrsatz 5 entwickelte Bestimmung: »In rerum natura non possunt dari duae, aut plures substantiae ejusdem naturae, sive attributi.«44
Spinoza verfolgt mit dieser eng mit dem vorhergehenden 4. Lehrsatz verbundenen Bestimmung das gegen Descartes gerichtete Ziel, die M.glichkeit einer Zuschreibung identischer Bestimmungen zu verschiedenen Substanzen auszuschließen.45 Schon Leibniz hat die Konsi42 Vgl. dazu Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 467f. 43 Ebd., Bd. 10, S. 438. Sowohl Tennemann als auch Bchner scheinen hiermit allerdings einem bedeutenden Irrtum aufzusitzen, denn auch fr ihre eigene Interpretation mssen sie auf die konstitutiven Lehrstze 26 und 28 zurckgreifen, weil erst in diesen der Versuch einer Ableitung der Endlichkeit aus der unendlichen Substanz unternommen wird. Dem weitverbreiteten Vorurteil, mit Lehrsatz 15 von Buch 1 sei der Grundzug der Spinozanischen Systematik entfaltet, leisten beide Interpreten Vorschub. Vgl. dagegen die Studie von Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. – Hamburg 1992, in der beispielsweise die besondere Funktion des Lehrsatzes 16 herausgearbeitet wird. 44 Spinozas Ethik wird zitiert nach Benedictus de Spinoza: Die Ethik. Lateinisch und deutsch. Revidierte Rbersetzung v. Jakob Stern. Nachwort v. Bernhard Lakebrink. – Stuttgart 1984. Abermals zeigt sich an Bchners Rbersetzung dieses von ihm so hoch bewerteten Lehrsatzes die Unzulnglichkeit seiner Rbertragungsarbeit, wenn er »In rerum natura non possunt dari« nicht mit »In der Natur der Dinge kann es nicht […] geben«, sondern mit »Es kann nicht […] geben« bersetzt. Die Rbertragung zeigt nmlich, daß Bchner mit der Formel ›in rerum natura‹ eine Vorstellung ontologischer Totalitt verband, whrend fr Spinoza zwischen »Omnia, quae sunt« (ETH. I, ax. 1) und der ›natura rerum‹ ein grundlegender Unterschied bestand. Auch Bchners Rbersetzung des Genitiv Singular attributi als Plural entstellt den Sinn der Argumentation Spinozas erheblich. 45 Zur Descartes-Kontroverse gerade in diesem Lehrsatz vgl. Konrad Cramer: Kritische Betrachtungen ber einige Formen der Spinozainterpretation. – In: Zeitschrift fr philosophische Forschung 31 (1977), S. 527 – 544.
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stenz dieses Theorems bestritten,46 und auch die neuere Forschung zu Spinozas Philosophie hat einerseits die Gltigkeit dieses Lehrsatzes bezweifelt,47 andererseits jedoch seine konstitutive Bedeutung fr das Beweisziel des ersten Buches der Ethik, nmlich die Einzigkeit der Substanz Gottes, herauszustellen versucht.48 Entscheidend ist nun, daß Bchners Argumente gegen die Haltbarkeit des Lehrsatzes – und einzig diese Destruierung versucht seine Anmerkung zu erreichen – gerade nicht einen internen bzw. logischen Beweis ausfhren oder gar die Auseinandersetzung mit Descartes berhren, sondern gewissermaßen ›transzendentalphilosophische‹ Einwnde formulieren, die deutlich auf den Interpretationen Tennemanns basieren. Denn zur Widerlegung der Bestimmung einer eindeutigen Zuordnung jedes Attributs zu genau einer Substanz setzt Bchner in zwei Schritten an: »Der Satz [Lehrsatz 5] beweist nur, daß wir zwei Dinge von gleichen Eigenschaften, wenn wir sie successive betrachten (um die Sache von der sinnlichen Seite zu nehmen) nicht von einander unterscheiden k.nnen, wir k.nnen aber dennoch wissen daß es zwei sind, wenn wir beyde zugleich sehen.« (HA II, S. 230.)
Dieses zunchst rein empirische Argument rekurriert dennoch implizit – vermittelt ber Tennemann – auf ein Theorem Kants. Denn dieser hatte im sogenannten ›Amphiboliekapitel‹ der Kritik der reinen Vernunft gezeigt, daß ein Gegenstand als Erscheinung, wenn er uns »mehrmalen, jedesmal aber mit eben denselben inneren Bestimmungen, (qualitas et quantitas) dargestellet wird«, nicht »Ein Ding […], sondern, so sehr auch in Ansehung derselben [Erscheinung] alles einerlei sein mag, […] doch die Verschiedenheit der ^rter dieser Erscheinung zu gleicher Zeit ein genugsamer Grund der numerischen Verschiedenheit des Gegenstandes (der Sinne) selbst« ist.49 Genau diese Ableitung fhrt auch 46 Vgl. dazu Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer. 2 Bde. – Hamburg 21966, Bd. 1, S. 361: »Fnfter Lehrsatz: […] Hier liegt, wie mir scheint, ein Fehlschluß vor. Denn es k.nnen sich zwei Substanzen durch ihre Attribute voneinander unterscheiden lassen, und dennoch irgend ein gemeinsames Attribut haben, wenn sie nur neben diesem noch andere, ihnen eigentmliche Bestimmungen besitzen: wenn also z. B. der Substanz A die Bestimmungen c und d, der Substanz B die Bestimmungen d und e zukommen.« 47 So Wolfgang Cramer: Spinozas Philosophie des Absoluten. – Frankfurt a. M. 1966, S. 58, unter Reproduktion des Leibnizschen Arguments. 48 Konrad Cramer: Kritische Betrachtungen, S. 531: »Lehrsatz 5 kommt somit innerhalb des Gedankengangs, mit dem Spinoza das Prinzip des Spinozismus zu begrnden unternommen hat, zentrale Bedeutung zu.« 49 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. v. Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme. – Hamburg 31990 [im folgenden zitiert als KrV], B 319 [Herv. v. mir, G. St.].
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Bchners These aus, die er allerdings als nur bedingt gltig wertet, da »sich hier aber Alles auf die Substanz allein« (HA II, S. 230) beziehe, die nach Spinoza der Anschauung nicht unmittelbar zugngig sei. Daß der junge Philosophiehistoriker trotz dieser Einschrnkung gerade auf dieses Theoriestck der Kritik der reinen Vernunft – und zwar abermals angeregt durch Tennemann50 – zurckgreift, er.ffnet der folgende Absatz seines Kommentars, der eine Differenzierung von »Unterscheiden-K.nnen« und »Denken« einer Substanz einfhrt. Dabei gesteht Bchner zwar zu, daß man zwei Substanzen mit denselben Attributen nicht unterscheiden k.nne, doch ließen sich solche Entitten als unterschiedene durchaus noch denken. Terminologisch basiert diese Distinktion auf der kantischen Unterscheidung von reiner und empirischer Verstandeserkenntnis, die Tennemann ebenfalls – allerdings mit einem durchaus von Bchners Ableitung abweichenden Resultat – auf den Lehrsatz 5 anwendet.51 Auf der Grundlage der von Kant im ›Amphiboliekapitel‹52 entwickelten Kritik des Leibnizschen Prinzips der Identitt des Nichtzuunterscheidenden, welches zwar fr eine reine Verstandeserkenntnis, mithin fr die Dinge an sich, nicht aber fr den Bereich der Erscheinungen und damit der empirischen Verstandeserkenntnis Gltigkeit habe, meint Tennemann dem Lehrsatz 5, dem das Leibnizsche Identittsprinzip zugrundliege, die Kohrenz absprechen zu k.nnen: »Außerdem liegt auch noch in dem fnften Satze ein anderer Fehlschluß verborgen, der mit dem Wesen des r a t i o n a l e n D o g m a t i s m u s ebenfalls sehr enge zusammenhngt, und aus welchem Leibnitzens G r u n d s a t z d e s N i c h t z u u n t e r s c h e i d e n d e n herfloß. […] Dieser Beweis sttzt sich auf den Grundsatz, daß dasjenige, was nicht unterschieden wird, auch nicht verschieden ist, und was nicht verschieden ist, eine und dieselbe Sache ist, welches nur in der Sphre des Denkens, aber nicht fr die Objectenwelt gilt.«53
Bchner geht es in seiner Anbindung an diese Tennemannsche Passage insbesondere um die Widerlegung eben jenes Rbergangs von einem Nicht-Unterscheiden-K.nnen zur daraus abgeleiteten Identittsbehauptung. Die Unm.glichkeit dieser Ableitung gilt ihm grundstzlich,
50 Sicher scheint, daß Bchner die Kantische Herkunft des Tennemannschen Arguments, das er – wie gesagt – noch einmal direkt zitiert (HA II, S. 286), unbekannt war. Eine dezidierte Kantkenntnis Bchners kann mithin ausgeschlossen werden, was schon die fehlende Unterscheidung von Verstand und Vernunft andeutete; vgl. dazu Anm. 36. 51 Vgl. dazu die von Bchner (HA II, S. 286) zitierte Passage aus Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 467. 52 KrV B 319 f., B 327 f. u. B 337 f. 53 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 467.
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das heißt auch im Bereich reiner Begriffsentwicklungen – ohne Rekurs auf die Eigenstndigkeit der Bedingungen sinnlicher Anschauung:54 »Spinoza verwechselt das unterscheiden und das sich denken k,nnen; nach den vorhergehenden Stzen k.nnen wir uns noch immer zwei Substanzen von gleicher Natur von denen jedes durch sich selbst begriffen wird, als nebeneinander existirend denken.« (HA II, S. 231.)55
Nicht nur aufgrund der nur mittelbaren Kenntnis der Kritik der reinen Vernunft, sondern insbesondere aufgrund der vorwiegend empiristischen Perspektive der Bchnerschen Argumentation drfte die eigenwillige Anbindung des ber Tennemann vermittelten Kantischen Arguments zustande gekommen sein. Entscheidend ist letztlich nur, daß fr Bchner mit diesem Einwand die Gltigkeit des in Lehrsatz 5 entwikkelten Theorems aufgehoben ist, womit er eindeutig die gesamte Systemkonzeption Spinozas fr unhaltbar erklrt: »Dieß Unterscheiden bezieht sich bloß auf einen k.rperlichen, aber nicht auf einen geistigen Akt, der Geist kann ja noch immer die Trennung machen, wenn es auch das k.rperliche Auge nicht im Stande ist. Auf dem transcendenten Standpunkte fragt es sich blos, k.nnen wir uns zwei oder mehrere gleiche Substanzen nebeneinander denken, und Spinoza giebt keinen Grund an der dieße M.glichkeit unm.glich machte.« (HA II, S. 247.)
Wie ein Teil der neueren Spinoza-Forschung56 schreibt Bchner nmlich diesem Lehrsatz eine aus den Definitionen und Axiomen nicht ableitbare und daher axiomatische Funktion zu, deren inhaltliche Inkonsistenz das gesamte Theoriegebude zum Einsturz bringt. Mehrfach57 rekurriert er auf die Unhaltbarkeit bestimmter Deduktionen aus der Fehlerhaftigkeit der in Lehrsatz 5 entfalteten Bestimmung: »Da Proposition V. falsch ist, kann ich auch den aus ihr abgeleiteten Grund nicht anerkennen« (HA II, S. 240).
Bchners Beweisziel bei der Widerlegung dieses Lehrsatzes und der aus ihm deduzierten Bestimmungen liegt dabei unbersehbar in einer Destruktion der Spinozanischen Demonstration der Einzigkeit der Substanz (prop. 14 und 15) und der damit verbundenen Existenz Gottes (prop. 11). Ebendiese Widerlegung der Beweisbarkeit des Daseins Got54 Hierin unterscheidet sich Bchner wiederum von Kants Argumentation; vgl. KrV B 326 f. 55 In einer korrigierten Lesung von Eske Bockelmann lautet diese Passage: »Spinoza verwechselt das unterscheiden und das sich denken k.nnen, nach den vorhergehenden Stzen k.nnen wir uns noch immer 2 Substanzen von gleicher Natur und deren jede durch sich selbst begriffen wird, als nebeneinander existirend denken.« Fr den Hinweis hierauf danke ich Thomas Michael Mayer. 56 Vgl. dazu Konrad Cramer: Kritische Betrachtungen, S. 531 – 533. 57 HA II, S. 232, 236, 241, 247 u. ..
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tes steht auch in den beiden weiteren thematischen Schwerpunkten seiner Analyse des 1. Buches der Ethik im Zentrum. Dies zeigt sich nmlich zweitens in den Kommentaren Bchners zum Lehrsatz 11 und dessen insgesamt drei Demonstrationen, in denen Spinoza zunchst die Existenz der Gottessubstanz, die an diesem Deduktionsschritt noch nicht als einzige bewiesen sein soll,58 belegt: »Deus, sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam, & infinitam essentiam exprimit, necessario existit.«59
Spinoza beweist diesen Lehrsatz in drei verschiedenen Anstzen: Im ersten, apriorischen Beweis bemht er das ontologische Argument,60 im zweiten beweist er die Existenz Gottes aus der uneingeschrnkten Gltigkeit einer bestimmten Version des principium rationis und im dritten fhrt er einen aposteriorischen Beleg an, dem er allerdings keine eigenstndige Beweiskraft beimißt. Bchner setzt sich dezidiert mit allen drei Beweisgngen auseinander. Dem ontologischen Gottesbeweis entgegnet er mit zwei Argumenten: Zwar sei man »durch die Lehre von dem, was in sich oder in etwas Anderm ist freilich gezwungen auf etwas zu kommen, was nicht anders als seyend gedacht werden kann« (HA II, S. 236). Doch bestehe kein zureichender Grund dafr, diese notwendig existierende Entitt zum »Vollkommnen« und damit Gott zu machen. Schon aus dieser Anmerkung ist abzulesen, daß Bchner einerseits aus der in Axiom 1 entwickelten Subsistenz- und Inhrenz-Theorie Spinozas den Beweis fr eine notwendige Existenz ableitet, weshalb er im 58 Vgl. dazu Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen, S. 42 – 49. 59 ETH. I, prop. 11. 60 Vgl. dazu Wolfgang R.d: Struktur und Funktion des ontologischen Arguments in Spinozas Metaphysik. – In: Revue internationale de philosophie 199 – 200 (1977), S. 84 – 100. Es kann an dieser Stelle nicht ausfhrlich darber diskutiert werden, ob Spinoza in diesem Beweis tatschlich das ontologische Argument in reiner Form verwendet. Vieles spricht – entgegen der Annahme R.ds – dafr, daß Spinoza nicht nur an dieser Stelle den ontologischen Gottesbeweis auf seine Kausalittskonzeption grndet, wie es hier in ETH. I, prop. 11, demo. 1 durch den Rckgriff auf den Lehrsatz 7, der die apagogische Beweisfhrung sttzen soll, deutlich wird, da in jenem Lehrsatz die Identitt von Wesen und Existenz fr die Substanz nicht durch den Vollkommenheitsbegriff, sondern mithilfe der causa sui begrndet wird. (Vgl. hierzu ausfhrlicher: Detlev Ptzold: Wandlungen des Kausalit2tsbegriffs. – In: Brigitte Falkenburg, Detlev Ptzold (Hrsg.): Verursachung. Rep2sentationen von Kausalit2t (Dialektik. Enzyklopdische Zeitschrift fr Philosophie und Wissenschaften 1998/2). – Hamburg 1998, S. 9 – 26. Hier: S. 17, sowie Gideon Stiening: Substanz und Grund bei Spinoza. – In: Societas rationis, FS fr Burkhard Tuschling. Hrsg. v. Dieter Hning, Gideon Stiening u. Ulrich Vogel. – Berlin 2002, S. 61 – 82). Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch allein, daß Bchner in diesem ersten Beweis von Lehrsatz 11 das ontologische Argument wiederzufinden meint: »Dießer Beweis luft ziemlich auf den hinaus, daß Gott nicht anders als seyend gedacht werden k.nnte.« (HA II, S. 236.)
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dritten Teil des Skripts dieses Axiom als den Anfang des ganzen Systems bestimmt (HA II, S. 285). Andererseits verbindet der junge Philosophiehistoriker mit dem Begriff der Vollkommenheit einzig die moralische »des Deismus«, wie er spter (HA II, S. 239) auch explizit ausfhrt. Von der Spinozanischen Definition der Vollkommenheit: »per realitatem, & perfectionem idem intellego« (ETH. II, def. 6) scheint Bchner entweder nichts zu wissen,61 oder sie als unsinnig zu verwerfen.62 Entscheidend an dieser Reduktion des Vollkommenheitsbegriffs auf moralische Perfektion ist, daß Spinoza mit der oben zitierten Definition zunchst die omnitudo realitatis meint, die zwar moralische Gte einschließt (ETH. I, prop. 32), sich jedoch keineswegs auf diese beschrnkt. Das Vollkommenheitsargument im Gottesbeweis bezieht sich bei Spinoza insbesondere auf den Ausschluß aller Negativitt aus der Gottessubstanz als absoluter Affirmation (ETH. I, def. 6, schol. u. prop. 8, schol. 1) und steht daher mit dem Satz des Widerspruchs in enger Verbindung; eine Ableitung, die der Kommentator Bchner allerdings nicht nachvollzieht. Diesem geht es vielmehr zunchst um die Widerlegung einer Beweisbarkeit der Existenz Gottes als moralisch vollkommener Instanz. Das zeigt sich noch bei einem Kommentar zum dritten Beweis des Lehrsatzes 11, wenn er zum Substanzbegriff Spinozas anfhrt: »Sie [die Substanz] ist fr ihn die Weltursache, worin Alles ist; sie ist ewig und unendlich, – aber sie ist nicht Gott, sie ist nicht das absolut vollkommne, moralische Wesen des Deismus, – sie ist nichts anders, als was jeder Atheist selbst, wenn er einigermaßen consequent verfahren will, anerkennen muß.« (HA II, S. 239 f.)
Anhand dieser Gleichsetzung der auf die Bestimmung der causa prima fokussierten Substanzkonzeption Spinozas mit einem kausal-deterministischen Atheismus soll zunchst nur die Ableitungsm.glichkeit der moralischen Vollkommenheit aus dieser so definierten Instanz destruiert werden. Bchners zweites Argument gegen den gesamten ontologischen Gottesbeweis geht allerdings einen Schritt weiter: Denn als Entgegnung auf die notwendige Annahme der von Spinoza in def. 6 von ETH. I geleisteten Bestimmung Gottes fhrt er folgendes an: 61 Und dies, obwohl schon in ETH. I, prop. 11, schol. die Identitt von Realitt und Vollkommenheit angedeutet wird, wenn Spinoza schreibt: »Res enim, quae a causis externis fiunt, […] quicquid perfectionis, sive realitatis habent, id omne virtuti causae externae debetur, […].« Bchner bersetzt diese Passage folgendermaßen: »Denn Dinge, welche von ußeren Ursachen hervorgebracht werden, […] m.gen sie noch so viel Vollkommenheit oder Realitt haben, so verdanken sie das Alles der Kraft der ußeren Ursache.« (HA II, S. 238 f.) Diese Rbersetzung hat jedoch nicht zu einer angemessenen Bestimmung des spinozanischen Vollkommenheitsbegriffs durch Bchner gefhrt. 62 Zur Frage der Kenntnisnahme der Bcher II – V der Ethik durch Bchner vgl. auch meine Ausfhrungen zur scientia intuitiva S. 232 f. und Anm. 101.
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»Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, so muß man auch das Daseyn Gottes zugeben. Was berechtigt uns aber, dieße Definition zu machen? D e r Ve r s t a n d ? Er kennt das Unvollkommne. D a s G e f h l ? Es kennt den Schmerz.« (HA II, S. 236 f.)
Die im ontologischen Argument konstitutive Annahme der absoluten Vollkommenheit Gottes, das heißt seine absolute, alle Negation ausschließende Positivitt (ETH. I, def. 6, schol.), wird nach Bchner durch das rational ermittelbare Faktum der Unvollkommenheit und das empfindbare Phnomen des Schmerzes deshalb problematisch, weil die Gottesinstanz als causa prima zugleich das von ihr kontradiktorisch Unterschiedene bewirken k.nnen soll. Unter der Voraussetzung der schon von Tennemann analysierten wesentlichen Identitt von Ursache und Wirkung63 in der Kausalittskonzeption Spinozas muß daher entweder das von dem menschlichen Erkenntnis- und Empfindungsverm.gen Ermittelte aufgrund seiner Negativitt zum Schein oder aber die Definition Gottes als absolute Vollkommenheit und damit der ontologische Beweis fr nichtig erklrt werden. Eben letzteres ist Bchners Intention, dessen spezifische Zielrichtung durch einen Vergleich64 seiner Argumentation mit der berhmten Aussage Thomas Paynes im Philosophiegesprch in Dantons Tod erkennbar wird: »Schafft das Unvollkommne weg, dann allein k.nnt Ihr Gott demonstriren, Spinoza hat es versucht. Man kann das B.se leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefhl emp.rt sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras, warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus.« (HA I, S. 48.)65
Schon fr die Dramenfigur Payne konnte der Verstand nur unter der Prmisse einer Verleugnung – das heißt der abstrakten Negation – des Unvollkommenen berhaupt Gott beweisen und scheiterte dennoch am Gefhl des Schmerzes. Der wesentliche und fr die Bedeutung des Spinoza-Skripts konstitutive Unterschied zu Dantons Tod besteht jedoch darin, daß der Schmerz nicht mehr als Beweis der Inexistenz Gottes fungiert, sondern 63 Vgl. dazu Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 466 u. 472 – 476. 64 Zum Zusammenhang beider Passagen vgl. – allerdings in anderer Interpretation – schon Burghard Dedner: Kynische Provokation und materialistische Anthropologie bei Georg Bchner. – In: Societas rationis. FS fr Burkhard Tuschling. Hrsg. v. Dieter Hning, Gideon Stiening u. Ulrich Vogel. – Berlin 2002, S. 290 – 309, spez. S. 294 ff. 65 Vgl. dazu auch Joachim Kahl: »Der Fels des Atheismus«. Epikurs und Georg Bchners Kritik an der Theodizee. – In: GBJb 2 (1982), S. 99 – 125 sowie Knut Forssmann: Das Philosophiegespr2ch in Dantons Tod von Georg Bchner. Versuch einer Interpretation. – In: Anuari de Filologia. Filologia Anglesa i Alemanya, Universitat de Barcelona 15 (1992), S. 133 – 148.
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als Beleg der Nicht-Demonstrierbarkeit dieser Existenz.66 Denn Verstand und Gefhl liefern hier nur Argumente gegen die Berechtigung »dieße[r] Definition«, sie widerlegen nicht Gottes Existenz, sie verunm.glichen nur eine positive Definition. Hinsichtlich der Inexistenz Gottes k.nnen jedoch auch sie keinerlei Beweise liefern. Als Fels des Atheismus fungiert das Gefhl des Schmerzes, das nach wie vor grundlegend fr eine Widerlegung des ontologischen Arguments ist, in diesem philosophiehistorischen Text Bchners nicht.67 Auch die Auseinandersetzung mit dem zweiten Beweis des Lehrsatzes 11 er.ffnet die gegenber Dantons Tod modifizierte Stoßrichtung der Argumentation. In diesem Beweis versucht Spinoza die Existenz Gottes aus einer bestimmten Version des Satzes vom zureichenden Grunde zu beweisen,68 nach welcher alle qualitativen und quantitativen Bestimmungen einer Folge in ihrem Grund analytisch enthalten sein mssen, um nicht irgendetwas aus dem Nichts zu erhalten und damit unbestimmt zu sein,69 was nicht nur die Gltigkeit des Satzes vom Widerspruch, sondern auch diejenige des principium rationis einschrnkte, wenn nicht gar vollstndig negierte. Schon in seinen Descartes-Skripten hat Bchner auf diesen Zusammenhang des nihilo-Argumentes mit einer spezifischen Ursachen- und Grundkonzeption reflektiert.70 Aus dieser konsequenten Anwendung des Satzes vom Widerspruch71 auf den Satz des Grundes72 folgert Spinoza, daß auch fr die 66 H. Mayer verhlt sich zu dieser Fragestellung eher ambivalent, wenn er S. 349 zunchst formuliert: »Rationale Erkenntnis Gottes oder Atheismus – das eine oder das andere. Eine Teil- oder Zwischenl.sung kann es fr Bchner nicht geben.« Zugleich behauptet er S. 355: »Bchner selbst verhlt sich, bei aller Anteilnahme, doch gleichzeitig auch ironisch-reserviert zu seinen streitenden Gesch.pfen, die die Gottlosigkeit ›n.tig haben‹ wie andere den Gottesglauben«. Vgl. auch Vietta: Selbsterfahrung bei Bchner und Descartes, S. 418 u. 425 f. 67 Daß es hier zwei Interpretationsm.glichkeiten des Verhltnisses beider Passagen zueinander gibt, liegt auf der Hand: Entweder meinte Bchner noch Anfang 1835, das Gefhl des Schmerzes k.nne tatschlich Gott widerlegen, und er lßt sich dann ab Juni 1836 von der ber Tennemann vermittelten Kantischen Version des Agnostizismus berzeugen – oder aber er hat die Position Paynes nie geteilt und lßt sie vielmehr eine Dramenfigur vorfhren. 68 Zur Problematik dieser analytischen Version des Satzes vom Grunde vgl. Stiening: »Werden Sie lieber ganz sein Freund«, S. 208 ff.; ders.: Substanz und Grund, S. 63 ff. sowie in Anstzen schon Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 472 – 474, insbesondere aber Michael Wolff: Der Satz vom Grund, oder: Was ist philosophische Argumentation? – In: Neue Hefte fr Philosophie 26 (1986), S. 89 – 114. 69 Vgl. dazu auch die brillante Argumentation bei Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 472 – 477, spez. S. 474. 70 Vgl. hierzu: HA II, S. 144 f. 71 Den Bchner in einem spteren Teil des Skripts (HA II, S. 285) auch tatschlich als Grundsatz des Spinozismus interpretiert. 72 Ein von Hegel gegen Jacobi formulierter Einwand trifft insofern auch und zunchst auf Spinozas Metaphysik zu, wenn er schreibt, Jacobi begreife »den Satz
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Nicht-Existenz einer Entitt der Grund in ihrem Begriffe zu suchen sein muß, indem er notwendigerweise einen Widerspruch inhriere. Als Beispiel whlt Spinoza die Vorstellung eines viereckigen Kreises, die einen Widerspruch enthlt, weshalb deren Gegenstand inexistent sei.73 Die wichtigste Konsequenz aus dieser Konzeption besteht nach Spinoza darin, daß Gott nur dann als inexistent gedacht werden k.nne, wenn sein Begriff einen Widerspruch enthalte. Als absolute Affirmation schließt die Gottessubstanz jedoch jeden Widerspruch, der als Unvollkommenheit Negativitt inhriert, per definitionem aus und existiert qua apagogischem Beweis daher notwendig. Bchners – auf der Grundlage einer Argumentation Herbarts74 – bemerkenswerte Entgegnung entwirft nun die Infragestellung der M.glichkeit eines Begrndungsverhltnisses zwischen Widerspruch und Nichtexistenz: »Es ist falsch, daß es fr das nicht Vorhandenseyn eines Dinges einen besondern Grund geben mßte; da aus etwas unm.glich nichts werden kann, so ist es auch unm.glich, daß ein Ding durch irgend etwas anderes an seinem Daseyn absolut verhindert werden k.nnte. Fr ein absolutes Nichts ist kein Grund oder keine Ursache m.glich, denn wre dieß der Fall, so mßten Grund oder Ursache die Vernichtung eines Dinges bewirken, was unm.glich ist. Das Nichts kann keine Wirkung seyn, weil es als der absolute Gegensatz des Seyns, etwas Seyendes nicht zur Ursache haben kann.« (HA II, S. 237 f.)
Bchner bestreitet mithin zunchst, daß im absoluten Grundsatz des Rationalismus, dem a nihilo nihil fit, das fieri eine begrndende und damit in Spinozas System kausale Relation enthalten k.nne. Das Nichts kann sich generell weder zu Etwas noch zu Nichts als Ursache oder als Wirkung verhalten.75 Bchners – in diesem Fall originelle – Analyse zielt daher in ihrem ersten Teil darauf ab zu belegen, daß die Unm.glichkeit und daher Inexistenz von Widersprchen in der Definition Gottes nicht als Grund seiner Existenz, mithin als Existenzbeweis fungieren k.nne. Die entscheidende Pointe dieser Rberlegungen besteht in einem zweiten Schritt jedoch darin, daß auch die Inexistenz Gottes nicht aus m.glichen Widersprchen zu beweisen sei: des Grundes als reinen Satz des Widerspruchs«; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivit2t in der Vollst2ndigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie. – In: ders.: Werke in 20 B2nden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. – Frankfurt a. M. 1986 [im folgenden zitiert als HW], Bd. 2, S. 287 – 433, hier S. 336. 73 ETH. I, prop. 11, demo. 2: »Cujuscunque rei assignari debet causa, seu ratio, tam cur existit, quam cur non existit.« 74 Vgl. Herbart: Allgemeine Metaphysik, S. 131. 75 Vgl. dazu die von meinen Rberlegungen grundstzlich abweichenden, gleichwohl produktiven Argumente bei Rodney Taylor: Bchners Danton and the Metaphysics of Atheism. – In: DVjs 69 (1995), S. 231 – 246, spez. S. 236 f.
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»Wenn es Grnde gegen das Daseyn Gottes giebt, so beweisen sie nicht, daß das als Gott definirte Wesen nicht existiren k.nne, sondern sie beweisen, daß wir durch nichts berechtigt sind eine solche Definition zu machen.« (HA II, S. 238.)
Diese bedeutendsten Reflexionen des gesamten Spinoza-Skripts entwerfen mithin zwei grundlegende Positionen: Zum einen fhrt – wie schon in der Anmerkung zu ETH. I, prop. 11, demo. 1 – die Widerlegung des Beweises vom Dasein Gottes nicht mehr zur Behauptung seiner Inexistenz (wie noch bei Payne in Dantons Tod), sondern sie dient einzig zur These der Unbeweisbarkeit und damit Unhaltbarkeit der Existenzbehauptung. Diese Argumentation steht unbersehbar in der ber Tennemann vermittelten Tradition der Kantischen Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen in der Kritik der reinen Vernunft,76 in der ebenfalls die theoretische Unbeweisbarkeit der Existenz Gottes entwickelt, daraus folgernd aber keineswegs dessen Inexistenz als bewiesen angenommen wird. Zum anderen aber lßt sich anhand dieser Passagen belegen, daß auch Bchner den von Spinoza als ewige Wahrheit bezeichneten Grundsatz des a nihilo nihil fit in jener grundstzlichen Funktion und systematischen Stellung sah, die schon Jacobi behauptet hatte. Insbesondere aber erkannte er den diesem ontologischen Prinzip zugrundliegenden Satz des Widerspruchs als wichtigste Grundlage, mithin obersten Grundsatz des Spinozanischen Rationalismus. Daß Bchner mit diesen zentralen Prmissen des Rationalismus schon lnger bekannt war, er.ffnet die qulende Reflexion des nur noch den Tod erwartenden Danton: »D a n t o n. Ruhe. P h i l i p p e a u. Die ist in Gott. D a n t o n. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers, als das Nichts und wenn die h.chste Ruhe Gott ist, ist nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der verfluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! und ich bin etwas, das ist der Jammer! Die Sch.pfung hat sich so breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet« (HA I, S. 61).
An dieser bedrckenden Konsequenz – jener Angst vor der Unsterblichkeit, die sich aus dem rationalistischen Grundsatz des a nihilo nihil fit speist77 – hat sich auch fr den Bchner der Spinoza-Skripte nichts 76 Vgl. KrV B 611 – 619. 77 Vgl. dagegen Michael Voges: Dantons Tod. – In: Interpretationen. Georg Bchner. – Stuttgart 1990, S. 47, der Dantons Reflexionen ber das Nichts einzig in ihren psychohistorischen Dimensionen betrachtet: »Das Nichts artikuliert noch immer das Bedrfnis nach einer Verdrngung der eigenen Geschichte […]. Die Hoffnung auf eine vollstndige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt.« Dabei unterschlgt Voges jedoch vollkommen die metaphysische Ebene der Argumente Dantons, die sich
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gendert, da er an Spinozas Argumentation in ETH. I, prop. 11, demo. 2 einzig den »falschen Schluß«78 aus dem a nihilo nihil fit kritisiert, nicht aber die Gltigkeit dieses Grundsatzes bestreitet. In hnlicher, die Anmerkungen zu den ersten beiden Beweisen zusammenfassender Weise verfhrt Bchner in seinem hier nur noch kurz zu erwhnenden Kommentar zum 3. Beweis von Lehrsatz 11, in dem er zunchst die aposteriorische Demonstration der Existenz Gottes auf das ontologische Argument zurckfhrt, welches jener vorausgesetzt sei.79 Insbesondere aber versucht der Kommentator nochmals zu beweisen, daß die Identifizierung der als »Weltursache« angemessen bestimmten Substanz mit dem moralischen Wesen des Deismus, das heißt die Erhebung des philosophischen Substanzbegriffes zum Theologumenon des gtigen Gottes, eine unabgeleitete und somit unhaltbare Annahme darstellt: »Hier h.rt der Philosoph auf und er verg.ttert willkhrlich das, was in sich und worin Alles ist.« (HA II, S. 240.)
Noch ein letzter thematischer Schwerpunkt in dem direkten Kommentar von ETH. I muß nunmehr drittens Erwhnung finden, um die gesamte Palette der Argumentationsstrategien des Philosophiehistorikers Georg Bchner zu erfassen. In seinem Kommentar zur umfangreichen Anmerkung des Beweises von Lehrsatz 15, in dem Spinoza die Unendlichkeit und daher Unteilbarkeit der Ausdehnung als Attribut der Substanz gegen Descartes und die gesamte philosophische Tradition zu beweisen versucht, bemht sich Bchner nmlich um einen dezidierten Gegenbeweis. Spinoza hatte die Unteilbarkeit der Ausdehnung mit ihrem der Substanz zugeh.rigen attributiven Status begrndet, welcher Unendlichkeit und damit Ausschluß aller Negativitt – das heißt Endlichkeit und damit Negation der Teilbarkeit – inhriere. Nachdem Bchner abermals die Grundlegung dieser Annahme auf die fr ihn ungltigen Bestimmungen von Lehrsatz 5 betont hat, versucht er die theoretische M.glichkeit eines unendlichen und dennoch aus Teilen bestehenden Ganzen zu entfalten.80 Bchner entwickelt dabei die gerade durch die Rbernahme der Spinozanischen Kategorie der Substanz offensichtlich unhaltbare Konzeption einer Pluralitt k.rperlicher Substanzen, die als intern unendlich und daher ungeschaffen zugleich exerst durch den impliziten Rekurs auf die rationalistische Tradition, speziell Spinozas, verdeutlichen lßt. 78 HA II, S. 276; zur wissenschaftstheoretischen Bedeutung des Nachweises eines Ableitungsfehlers fr Bchner vgl. meine Ausfhrungen weiter unten. 79 Auch diese Reduktion des kosmologischen Gottesbeweises auf das ontologische Argument ist bei Kant vorgegeben, vgl. KrV B 631 – 642. 80 Dabei scheint mir Bchner mit diesem Grundzug seines Vorschlags den neueren Rberlegungen von Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen, S. 80 – 89, spez. S. 83, durchaus nahezukommen.
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tern sich gegenseitig begrenzen sollen – allerdings beziehungslos. Diese relationslose Relation soll mit dem mathematischen Begriff der Parallelen, die sich nur im Unendlichen schneiden, veranschaulicht werden, wobei Bchner diesem Bild eines »unendliche[n] Meer[es] aus der Zahl nach unendlichen Quellen« (HA II, S. 248) den Status einer »philosophische[n] Deduction« deutlich abspricht.81 Unabhngig von der Haltbarkeit dieses Alternativentwurfes zeigt Bchners Versuch jedoch eine gegenber den beiden vorherigen Argumentationsweisen vernderte Strategie, und zwar durch die theoretische Rberbietung der Spinozanischen Systematik aus dieser selbst heraus. Das argumentative Ziel Bchners ist abermals, die Theorie der Einzigkeit der Substanz und deren damit verbundene G.ttlichkeit als unbeweisbar zu belegen. Zusammenfassend lassen sich somit in der Bchnerschen Textexegese der Lehrstze 5 bis 15 des 1. Buches der Ethik folgende Argumentationsverfahren festhalten: Neben einer Kritik mithilfe externer, ›transzendentalphilosophischer‹ Kriterien (prop. 5), die dem Einfluß Tennemanns geschuldet sein drften, versucht der Kommentar die interne Konsistenz der Spinozanischen Argumentation zu destruieren (prop. 11, demo. 1 – 3) sowie letztlich mit den Kategorien der analysierten Systematik selbst diese zu berbieten (prop. 15, schol.). Alle drei Strategien versuchen, den spinozanischen Beweis der Existenz Gottes zu widerlegen und dieses Theorem als unbeweisbar darzustellen. Das ist ›Bchners Ziel‹ in seiner Analyse von »Spinozas Ziel« (HA II, S. 266), wobei er eine wissenschaftlich exakte Begrndung in den genannten Verfahren zu liefern bemht ist.
III. Diese methodische Prmisse, welche die philosophiehistorische Beschftigung mit Spinoza als Wissenschaft ausweist, lßt den zweiten Teil des Skripts besonders interessant erscheinen. Denn in diesem Abschnitt betrachtet Bchner mithilfe einer Analyse des »tractatus de emendatione intellectus«82 die »Wissenschaftslehre« Spinozas, die sowohl die Prmissen als auch das Ziel und die Methode dieses Rationalismus in anschaulicher Weise prsentiere, »denn erst durch sie [die Wissenschaftslehre] erhlt die Metaphysik ihre wissenschaftliche Bedeutung« (HA II, S. 271). Doch hatte der Interpret mit der Bearbeitung
81 Rbrigens zeigt dieses Spiel mit den mathematischen und philosophischen Unendlichkeitsbegriffen, daß Bchner die przise Unterscheidung beider durch Spinoza (vgl. dazu Ep. VI) offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat. 82 Wie er durchgehend falsch zitiert, der korrekte Titel lautet nmlich: Tractatus de intellectus emendatione.
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gerade dieses Textes offenbar erhebliche Schwierigkeiten. Nicht nur sein bewertendes ResumUe am Schluß dieses Teils: »Ueberhaupt ist die ganze in dem tractatus de emend. angestellte Untersuchung h.chst mangelhaft und zum Theil verworren« (HA II, S. 284),
sondern auch die gegenber dem Kommentar der Ethik noch strkere Anlehnung an die Ergebnisse Tennemanns lassen auf diesen Sachverhalt schließen. Dennoch k.nnen anhand der Analyse und Interpretation gerade dieses Spinozanischen Textes durch Bchner – und zwar der Wahrheitstheorie und der allgemeinen Rationalittskonzeption – ußerst prgnante Positionsbestimmungen abgelesen werden. Dazu geh.rt zunchst die mehrfach im Text83 – allerdings nur thesenhaft – entfaltete Annahme des engen Begrndungsverhltnisses zwischen dem Cartesianismus und der Philosophie Spinozas: »Erst unter Voraussetzung des Cartesianismus erhlt, wie ich schon gesagt habe, der Spinozismus sein wissenschaftliches Fundament.« (HA II, S. 271.)
Bchner verbindet mit dieser in der zeitgen.ssischen Diskussion hufig diskutierten84 Behauptung zwei inhaltliche Komponenten: Zum einen fhre Spinoza die von Descartes deduzierte paradigmatische Funktion der Mathematik konsequent weiter (HA II, S. 270 f.). Zum anderen meint Bchner,85 daß der synthetischen Argumentationsmethode der Ethik die gesamte Ableitung Descartes vom cogito ergo sum bis zum Existenzbeweis Gottes (2. und 3. Meditation) zugrunde liege. Bchner begrndet diese These damit, daß dem durch das ontologische Argument als existierend bewiesenen Gott nur deshalb die Funktion eines obersten Grundsatzes, aus dem sich alles »herleiten lßt« (HA II, S. 276), zukommen k.nne, weil »immer die ganze Schlußreihe, die demselben im Cartesianischen System vorhergeht, vorausgesetzt« (ebd.) sei. Insofern kommt nach Bchner einerseits dem ontologischen Gottesbeweis bei Descartes und Spinoza die gleiche Funktion zu. Diese 83 Neben der oben zitierten Passage wird diese These noch an folgenden Stellen des Skripts wiederholt: HA II, S. 269, 276 f., 277 u. 285. 84 Vgl. dazu Schneider: Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung, S. 313 – 316, der beispielsweise Hegel und Bchners Gießener Philosophieprofessor Hillebrand nennt, sowie ders.: Philosophie und Universit2t, S. 264 – 272. Auch Heine berhrt in seiner – wohl von Hegel beeinflußten – essayistischen Darstellung der Philosophie Spinozas diesen Punkt: »So hat die Philosophie des Descartes keineswegs die des Spinoza hervorgebracht, sondern nur bef.rdert. Daher zunchst finden wir bei dem Schler die Methode des Meisters; dieses ist ein großer Gewinn. Dann finden wir bei Spinoza, wie bei Descartes, die der Mathematik abgeborgte Beweisfhrung.« (Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. – In: ders.: S2mtliche Schriften. Hrsg. v. Klaus Briegleb. 6 [in 7] Bde. – Mnchen 21975, Bd. 3, S. 505 – 641, hier S. 563. 85 Angeregt in diesem Falle durch Kuhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit, S. 86 – 87.
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kaum zu haltende Annahme86 basiert andererseits auf einer von Kuhn angeregten87 Interpretation der Wahrheitstheorie beider Rationalisten. Denn diese entfalte eine »Identittslehre« (HA II, S. 275, 277 u. 285), nach welcher die unmittelbare Identitt von Denken und Sein bei Descartes durch eine Ableitung vom cogito bis zum Beweis des Daseins Gottes nachgewiesen werde, bei Spinoza jedoch unausgefhrt vorausgesetzt sei: »Er [Spinoza] fngt an, wo Cartesius die Identitt des Gedankens mit seinem Object aus der Wahrhaftigkeit Gottes schließt. Cartesius war so gut als Spinoza Identittsphilosoph, wie es berhaupt jeder dogmatische Philosoph seyn muß. Spinoza setzt bestndig die Schlußreihe des Cartesius, vom cogito, ergo sum an, voraus, die er nicht wiederholte, weil er sie als erwiesen ansah, und er kann es nicht anders, wenn er die mathematische Evidenz, auf die er bestndig Anspruch macht, behaupten will.« (HA II, S. 277 f.)
Dabei verfngt sich Bchner jedoch in der Folge in den Fallstricken eines unbestimmten Voraussetzungsbegriffes. Hatte nmlich Kuhn behauptet, daß »Spinoza d[en] Mangel des Cartesianischen Systems [verbessere], indem er die Identitt des Denkens und Seins zur Voraussetzung erhob«,88 und Voraussetzung hier als ein unmittelbares Setzen jener Identitt verstanden, so begreift Bchner die Cartesische Deduktion der Wahrheitskonzeption als begrifflich vermittelte Voraussetzung fr das Spinozanische System. Daraus muß er im weiteren Verlauf seiner Interpretation jedoch schließen, daß das 6. Axiom, also die Identittskonzeption, »vor dem ganzen System« (HA II, S. 285) der Metaphysik Spinozas stehe, wodurch das zuvor als oberster Grundsatz bestimmte ontologische Argument, an dem »Alles, Wissenschaftslehre und Metaphysik, hngt« (HA II, S. 276), zu einem aus dem 6. Axiom von ETH. I abgeleiteten erklrt werden mßte. Damit befindet sich der Spinoza-Interpret Bchner in dem Dilemma, ein zirkulres Begrndungsverhltnis zwischen ontologischem Gottesbeweis und Wahrheitstheorie zu behaupten, das insbesondere seine im ersten, die Ethik kommentierenden Teil vollzogene Anstrengung einer Widerlegung des on86 Vgl. dazu den Aufsatz von R.d: Struktur und Funktion des ontologischen Arguments in Spinozas Metaphysik, sowie dessen vergleichende Studie Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel. – Mnchen 1992. 87 Vgl. dazu Kuhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit, S. 87. M.glicherweise hat sich Bchner bei diesem Sachzusammenhang auch von Heine beeinflussen lassen, der das Verhltnis von Denken und Sein bei Spinoza folgendermaßen referiert: »Der Gedanke ist am Ende nur die unsichtbare Ausdehnung und die Ausdehnung ist nur der sichtbare Gedanke. Hier geraten wir in den Hauptsatz der deutschen Identit2tsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist.« (Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 565.) 88 Kuhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit, S. 86 f.
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tologischen Arguments berflssig zu machen scheint. Bchner klrt diesen Widerspruch seiner Interpretation keineswegs auf,89 doch k.nnte die intensive Auseinandersetzung mit der Spinozanischen Theorie der »materiale[n] Wahrheit« (HA II, S. 275), die als kriterienlos verworfen wird,90 sowie der Abbruch des Skripts kurz nach der Erhebung der »Identittslehre« zum absoluten Grundsatz des Systems durch diese Schwierigkeiten – zumindest u. a. – veranlaßt worden sein. Die starke Anbindung der Philosophie Spinozas an den cartesischen Argumentationsgang, mit welcher der angehende Dozent der Philosophie offensichtlich vor allem in den aktuellen philosophiehistorischen Debatten zur Metaphysik Spinozas Position beziehen wollte,91 bringt ihn zugleich in erhebliche systematische Schwierigkeiten, deren L.sung oder Aufl.sung ihm nicht m.glich ist. Es lßt sich allerdings ein Argumentationshintergrund dieses Bchnerschen Analysedilemmas angeben, der zugleich ins Zentrum seiner Spinoza-Interpretation fhrt. Mehrfach wurde bereits betont, daß sich Bchner um eine begrifflich exakte Darstellung und Kritik der Spinozanischen Philosophie durch das gesamte Skript hindurch bemhte. Diese methodische Prmisse, die – neben dem Interesse, in der sich entwickelnden Wissenschaft der Philosophiegeschichtsschreibung zu ressieren – dem Anliegen Rechnung trgt, die Argumentation des Philosophiegesprches in Dantons Tod systematisch zu berprfen, verschafft der Auseinandersetzung mit der Philosophie Spinozas ihre besondere Bedeutung. Denn Bchner betont – entgegen nicht nur der romantischen Interpretation,92 sondern anders auch als das Gros der Philosophiehistoriker seiner Zeit93 – , daß das dem mathematischen 89 Auch nicht dadurch, daß er etwa diesen Zirkel als im System Spinozas selbst enthalten bezeichnen wrde. 90 HA II, S. 278: »Außer dem Erforderniß der Klarheit und Deutlichkeit giebt brigens Spinoza kein Kriterium der material wahren Ideen; er sagt nur, was eine wahre Idee sey, lerne man erst aus dem Besitz derselben kennen.« 91 Vgl. dazu nochmals Schneider: Spinoza in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung, S. 313 – 315. 92 Zur Rberwltigung Spinozas und seiner Transformation zum »gottbegeisterten Dichter« (Schlegel) oder zum »Schwrmer« (Schelling) vgl. die Studien von Martin Bollacher: Der Philosoph und die Dichter. Spiegelungen Spinozas in der deutschen Romantik. – In: Spinoza in der europ2ischen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Hanna Delf, Julius H. Schoeps u. Manfred Walther. – Berlin 1994, S. 275 – 288, sowie Hermann Timm: Die heilige Revolution. Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel. – Frankfurt a. M. 1978. 93 Nicht nur Hegel, der die »demonstrative Methode« Spinozas als ußerliche »Weise des verstndigen Erkennens« (vgl. Hegel: Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie III. – In: HW, Bd. 20, S. 163 – 165) kritisiert, oder etwa Heine, der die bei Descartes abgeborgte Beweisfhrung der Mathematik als »großes Gebrechen« bezeichnet, weil »[d]ie mathematische Form dem Spinoza ein herbes Iußeres gebe« (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 561), sondern auch der von Bchner in anderen Zusammenhngen zustimmend zitierte
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Paradigma verpflichtete Rationalittskonzept einer durchgngig begrifflichen Bestimmung allen Seins in der Philosophie Spinozas unhintergehbar sei: »[D]er Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik. Nur mathematisch gewisse Erkenntniß konnte ihn befriedigen […]. Zeigt ihm einen falschen Schluß und er lßt sein ganzes System fallen.« (HA II, S. 276.)94
Der mos geometricus ist nach dieser Argumentation dem Spinozanischen System mithin keineswegs ußerlich, sondern fr dieses geradezu konstitutiv. Hierin sah Bchner die Besonderheit und die »H.he des Spinozismus« (HA II, S. 273), die ihn vor allem von dem mystischen »Schauen aller Dinge in Gott« (HA II, S. 275) der Theorie Malebranches unterscheidet.95 Doch verbindet der Spinoza-Forscher mit dieser These keineswegs die Konzeption Jacobis, nach der Spinozas Rationalismus die konseKuhn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit, S. 110, verurteilt die »mathematische Form« und hinterfragt damit den wissenschaftlichen Status der Spinozanischen Ethik: »Jacobi hat den Spinozism von seiner wissenschaftlichen Seite berschtzt. […]. Man kann daraus erkennen, was hinter der ussern mathematischen Form der Spinozistischen Ethik fr eine innere Evidenz verborgen liege. Insgemein liess man sich durch diesen ussern Schein tuschen, und glaubte bei Spinoza ein durchgngig begreifliches, wahrhaft demonstratives System der Philosophie finden zu k.nnen. Es mag sonst alle Vorzge haben, aber diesen hat es nicht.« Ohne die Jacobischen Thesen zu teilen, vertrat Bchner jedoch offensichtlich die Annahme, daß das mathematische Paradigma dem Wissenschaftskonzept Spinozas keineswegs ußerlich war. 94 [Herv. v. mir, G. St.]. Bchner mißt dieser Formel offenbar eine besondere Bedeutung zu, denn sie wird an der obigen Stelle schon zum zweiten Mal ausgefhrt (zuvor schon HA II, S. 270). Es ist durchaus m.glich, daß er sich dabei von einer Formulierung Tennemanns (Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 374) anregen ließ, der von einem »Enthusiasmus fr die Speculation« bei Spinoza spricht. Fraglich erscheint mir hingegen die Zurckfhrung beider Formeln auf Jacobis Konzept eines »logischen Enthusiasmus«. Denn weder Bchners »Enthusiasmus der Mathematik« noch Tennemanns »Enthusiasmus fr die Speculation« – der brigens eher auf Lessings Begriff eines »Enthusiasmus der Spekulation« in dem seit 1795 bekannten Nachlaßtext -ber eine zeitige Aufgabe (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. 8 Bde. Hrsg. v. G. H. G.pfert u. a. – Mnchen 1970 – 1979, Bd. 8, S. 548 – 556) anzuspielen scheint – beabsichtigt eine Kritik der »Hybris universalen Wissens«, die in Spinozas Philosophie ihren H.he- und Endpunkt gefunden habe. Vielmehr scheinen beide Philosophiehistoriker den Wissenschaftsoptimismus Spinozas zu begrßen, wenngleich sie ihn auch nicht vollauf zu teilen verm.gen. Eine an Jacobi sich anlehnende allgemeine Rationalittskritik ist in keiner der Enthusiasmus-Formeln gemeint. 95 Vgl. dazu auch Konrad Cramer: Gedanken ber Spinozas Lehre von der AllEinheit. – In: All-Einheit. Wege des Denkens in Ost und West. Hrsg. v. Dieter Henrich. – Stuttgart 1985, S. 151 – 179, spez. S. 176: »Die Position der Alleinheit [sc. Spinozas rationalistische Metaphysik] ist im Gegenzug zur mystischen Schau der Indifferenz von Einem und Vielem gerade um willen der Eigenbedeutsamkeit des Vielen zu entwickeln.«
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quenteste Weise des Denkens und die Widersprche in seiner Philosophie mithin objektive Antinomien des rationalen Erkennens und Denkens berhaupt seien, welche nur durch jenen berhmten salto mortale in den Glauben bzw. das unmittelbare Wissen des Gefhls berwunden werden k.nnten.96 Im Gegenteil ist Bchner daran interessiert, die dem Spinozanischen System immanenten Widersprche nicht nur abstrakt zu benennen, sondern deren jeweilige Grnde zu belegen. Weil Bchner die rationalistischen Prmissen Spinozas in spezifischem Sinne teilte, werden die kritisierten Widersprche nicht als objektive berh.ht, sondern zumeist als subjektive Ableitungsfehler entlarvt, bei denen Spinoza »aus seinem eigenen System« herausgetreten sei (HA II, S. 286).97 Als Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker98 sah sich Bchner nmlich jenen rationalistischen Voraussetzungen wissenschaftlichen Argumentierens verpflichtet, die er hinsichtlich Spinozas als »Enthusiasmus der Mathematik« bezeichnete, wenngleich er bestimmte Grenzen dieses vorkritischen Rationalismus einklagte. Ein kurzer Seitenblick auf seine im Herbst 1836 an der Zricher Univer96 Dazu immer noch grundlegend Timm: Gott und die Freiheit, S. 135 – 225, sowie in einer Gegenkonzeption Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. – Mnchen 2000; vgl. jetzt auch Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hrsg. v. Birgit Sandkaulen u. Walter Jaeschke. – Hamburg 2004. 97 Insofern muß der Versuch, Bchner zum Jacobianer zu machen (vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Straßburger Gottesbeweise. Adolf Stoebers IdUes sur les rapports de Dieu _ la Nature (1834) als Quelle der Religionskritik Georg Bchners. – In: GBJb 7 (1988/89), S. 46 – 82, spez. S. 50, Anm. 11, wo von einem »auf Jacobi zurckgehenden Standpunkt Bchners« gesprochen wird), problematisch erscheinen, und zwar nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern insbesondere bezglich des Inhalts der Bchnerschen Spinoza-Interpretation und -Kritik. 98 Zur Bedeutung und inhaltlichen Struktur des Bchnerschen Wissenschaftsverstndnisses, und zwar sowohl in seiner wissenschaftstheoretischen Allgemeinheit als auch in bezug auf die sachliche Konkretisierung als Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker vgl. Stiening: Sch,nheit und ^konomie-Prinzip, spez. S. 119 – 121, sowie Udo Roth: Georg Bchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 383 ff. Deutlich anders, nmlich in der Tradition einer theologischen bzw. postmodern-romantischen Wissenschaftskritik interpretieren Bchner Peter Ludwig: »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«. Naturwissenschaft und Dichtung bei Georg Bchner. – St. Ingbert 1998 und Jrgen Schwann: Georg Bchners implizite Jsthetik. Rekonstruktion und Situierung im 2sthetischen Diskurs. – Tbingen 1997; beide Arbeiten k.nnen sich berufen auf den Standardaufsatz von Walter Mller-Seidel: Natur und Naturwissenschaft im Werk Georg Bchners. – In: Festschrift fr Klaus Ziegler. Hrsg. v. E. Catholy u. W. Hellmann. – Tbingen 1968, S. 205 – 232; zur Kritik an dieser Interpretationstradition des Bchnerschen Wissenschaftsverstndnisses vgl. Udo Roth u. Gideon Stiening: Gibt es eine Revolution in der Wissenschaft? Zu wissenschafts- und philosophiehistorischen Tendenzen in der neueren Bchner-Forschung. – In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 192 – 215.
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sitt gehaltenen Probevorlesung »Rber Schdelnerven« vermag die genaue Konstellation zwischen Bchners und Spinozas Rationalismus zu verdeutlichen: »Das Gesetz dieses Seins zu suchen, ist das Ziel der […] Ansicht, die ich die philosophische nennen will. […] Die Frage nach einem solchen Gesetze fhrte von selbst zu den zwei Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus de[s] Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei, zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahrnehmen, eine Brcke zu schlagen, muß die Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wste; sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grnen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurcklegen wird. […] War nun auch nichts absolut Befriedigendes erreicht, so gengte doch der Sinn dießer Bestrebungen [der Vernunftphilosophen, G. St.], dem Naturstudium eine andere Gestalt zu geben.« (HA II, S. 292 f.)
Der Anknpfungspunkt des Naturphilosophen Bchner hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seines Wissenschaftsverstndnisses bleibt eindeutig der Rationalismus der Vernunftphilosophen,99 der zwar dem »frischen grnen Leben« stets ußerlich bleiben muß, dessen Prmissen jedoch als heuristische Vorgaben oder Ideale »das Naturstudium« bef.rdern k.nnen.100 Als Philosophiehistoriker geht Bchner bei der Herausbildung der rationalistischen Grundstruktur der Spinozanischen Philosophie gar so weit, alle nicht-deduzierbaren, vor-rationalen Momente zu eliminieren, denn in der oben zitierten Passage zum Enthusiasmus der Mathematik heißt es erluternd, daß »von intuitiver Erkenntniß […] bey ihm [Spinoza] nicht die Rede« (HA II, S. 276) sein k.nne. Zwar zeigt sich an dieser falschen These ein weiteres Mal, daß Bchner weder Buch II 99 Vgl. hierzu anders Udo Roth: Georg Bchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 288 ff. 100 Bemerkenswert gerade an dieser Vorlesung ist Bchners Polemik gegen die »teleologische Methode«, mithin gegen einen auf die Natur angewandten Zweckbegriff: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken« (HA II, S. 292). Dabei weist der teleologiekritische Teil der Argumentation zwar deutliche Parallelen zu den Auslassungen Spinozas in dem von Bchner vollstndig bersetzen Appendix zu ETH. I auf, dennoch drfte eine systematische Anlehnung an Spinoza in diesem Falle nur schwer belegbar sein. Zwar wird – wie bei Spinoza – dem verworfenen Zweckbegriff die Universalitt der Kausalittsrelation entgegengestellt. Doch entspricht dieser Ursachenbegriff gerade nicht dem Spinozanischen, sondern eher dem herakliteischen logos-Begriff. Vgl. dazu Stiening: Sch,nheit und ^konomie-Prinzip, S. 104 – 106 und Udo Roth: Georg Bchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 254 f. Anders dazu: Peter Horn: »Ich meine fr menschliche Dinge msse man auch menschliche Ausdrcke finden«. Die Sprache der Philosophie und die Sprache der Dichtung bei Georg Bchner. – In: GBJb 2 (1982), S. 209 – 226.
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(prop. 40, schol. 2) noch Buch V der Ethik studierte101 und daher Spinozas Theorie der scientia intuitiva berhaupt nicht wahrnahm. Doch liegt der entscheidende Aspekt dieser Annahme in Bchners offensichtlichem Interesse, Spinozas Rationalismus von allen Elementen »mystischer Anschauung« frei zu halten. Erst aufgrund nmlich dieses Rationalismus, dessen wesentliche Prmissen Bchner – wie erwhnt – in bestimmtem Sinne teilen mußte, konnte die Metaphysik des Spinozismus zu einem inhaltlich herausfordernden Widerpart fr ihn werden.102 Dennoch birgt das Wissenschaftskonzept Bchners auch den Grund fr das oben beschriebene Analysedilemma, das sich im Verlauf des Skripts noch verschrfen sollte. Denn zu jener analytischen Durchdringung eines philosophischen Systems, das die philosophiehistorische Methodik der Zeit erforderte, geh.rte es, eine Prinzipiierung der Prmissen und Grundstze zu leisten, das heißt im Falle Spinozas eine Zurckfhrung der Pluralitt von Definitionen und Axiomen auf einen obersten Grundsatz. Schon Tennemann hatte das 6. Axiom von ETH. I als eine derartige Voraussetzung bestimmt, die »allen seinen Definitionen und Axiomen zum Grunde« liege.103 Bchners unterschiedliche Interpretationsanstze sind vor diesem Hintergrund als Prozeß der Suche nach jenem obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas zu werten, die nach den Thesen, diese Funktion habe der ontologische Gottesbeweis bzw. die Wahrheitstheorie des TIE inne, noch zu einer weiteren These gelangen wird. Diese wissenschaftstheoretische Vorgabe in der Analyse und Interpretation der Philosophie Spinozas bewirkt ein weiteres methodisch aufflliges Moment in der Darstellung des TIE: Bchner enthlt sich bei eindeutig mit politischen Implikationen behafteten Theoremen einer ideologiekritischen Bewertung. Weder bei der Darlegung des von Spinoza zu Beginn des TIE entwickelten Weges zur Glckseligkeit, der einzig ber die Abkehr vom Streben nach irdischen und daher vergnglichen Gtern und die Suche nach ewigen Wahrheiten einzuschlagen sei, noch bei der von Bchner im Original zitierten
101 Sptestens an dieser Stelle wird Bchners fehlende Kenntnisnahme von Buch II – V der Ethik Spinozas zur Gewißheit. Insofern erweist sich die Annahme Oesterles, »[i]m Werk Woyzeck gehen die moderne Physiologie- und Pathologielehre ein antiidealistisches Bndnis mit der in metaphysischem und ethischem Horizont argumentierenden spinozistischen Affektenlehre ein«, als irrig, da Bchner die im Buch III und IV der Ethik entfaltete Affektenlehre sicher nicht studiert hat; vgl. Gnter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ›voie physiologique‹ in Georg Bchners Woyzeck. – In: GBJb 3 (1983), S. 200 – 239, spez. S. 238. 102 Siehe abermals H. Mayer, S. 359. 103 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 464.
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Passage, die eine Rbertragung dieser Maxime auf die Gesellschaft formuliert,104 welche nach Spinoza so organisiert werden muß, daß m.glichst viele Menschen an jenem Weg zur Glckseligkeit teilhaben k.nnen, findet sich eine einschlgige Kritik dieser theokratischen Vorstellung. Am deutlichsten zeigt sich die Zurckhaltung Bchners am Referat der Gesellschafts- und Bildungstheorie des Tractatus theologico-politicus, der in einigen Auszgen zitiert wird. Spinoza vertritt hierin die These, daß Glauben und Wissen zwar absolut voneinander zu trennen seien und dabei der eigentliche Weg zur Glckseligkeit nur im wahren Wissen zu finden sei. Dennoch msse dieser Weg ein privilegierter der Wenigen bleiben und die »Menge« bedrfe zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung des biblischen Glaubens.105 Diese oftmals kritisierte Position, die einen Teil der derzeitigen Spinoza-Forschung dazu veranlaßt, Spinozas Philosophie insgesamt als Moment der Gegenaufklrung zu bestimmen,106 wird von Bchner in eher behutsamer, die theoretischen Widersprche des Konzepts beleuchtenden Weise bewertet: »Dieße Widersprche lassen sich leicht erklren, wenn man bedenkt, daß der tractatus theologico politicus zu einer Zeit erschien, wo Spinoza wohl die Grundlinien seines Systems gezogen haben mochte, aber wahrscheinlich noch nicht alle seine Consequenzen entwickelt hatte. Außerdem ist es wohl m.glich, daß er seine Gedanken noch nicht ganz unverhohlen auszusprechen wagte und dem Glauben noch Concessionen machte, die er spter zurcknahm.« (HA II, S. 270.)
Aus dieser geradezu als Entlastung Spinozas zu bezeichnenden Argumentation ist zu schließen, daß Bchner auch bei offenkundig ideologisch anfechtbaren Dimensionen des Spinozanischen Systems vor allem um eine analytische Erluterung der begrifflichen Zusammenhnge bemht ist, was schon die an wissenschaftlicher Exaktheit interessierte Kommentierung der Ethik zeigte. Die Iußerungen zu Spinozas politischer Rcksichtnahme gegenber »dem Glauben« sind zwar bemerkenswert, fallen dagegen kaum ins Gewicht. Zumal gegenber dem Descartes-Skript, das noch von ideologiekritischen Invektiven gegen die Philosophie berhaupt und das Cartesische System im besonderen durchsetzt war, charakterisiert sich das Spinoza-Skript zunchst durch 104 »[D]einde formare talem societatem, qualis est desideranda, ut quamplurimi quam facillime et secure eo perveniant.« (TIE, § 14.) 105 Vgl. dazu den Tractatus theologico-politicus, Kap. 14. 106 Vgl. dazu Winfried Schroeder: »Die ungereimteste Meynung, die jemals von Menschen ersonnen worden« – Spinoza in der deutschen Frhaufkl2rung. – In: Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas (1942 – 1997). Hrsg. v. Eva Schrmann, Norbert Waszek u. Frank Weinrich. – Stuttgart-Bad Cannstadt 2002, S. 121 – 138.
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sachlich analytische Strenge, auf deren Grundlage erst eine systematisch begrndende Kritik erfolgt.107 Dieses Charakteristikum des Spinoza-Skripts erweist sich auch bei Bchners Darstellung der ideologisch brisantesten Thematik des Spinozismus, den moralischen Bestimmungen von gut und b.se. Denn abermals werden zunchst die Argumente Spinozas aus TIE, § 12 paraphrasiert, nach denen »b,s und gut […] nur relativ gesagt werden« kann (HA II, S. 266).108 Sodann werden §§ 13 – 16 vollstndig aus dem Original zitiert. Bchner beurteilte diese Passagen zunchst als »bedeutendes Gestndniß, ganz im Sinne seines Systems«, indem sie »doch zugleich einen Widerspruch« enthielten: »Nur die menschliche Schwche, nur der Mangel an Erkenntniß macht, daß wir nach etwas Vollkommnem streben […]. Und doch, wie kann er [Spinoza] von menschlicher Schwche reden? Ebenso, wie er in seiner Metaphysik das Endliche aus dem Unendlichen, wie er das B.se aus unsern Vorstellungen herleitet.« (HA II, S. 267.)
Diese Problematik in der Konzeption Spinozas, berhaupt von Schwchen, das heißt von Bestimmungen, die mit Negativitt behaftet sind, sprechen zu k.nnen, unter der Voraussetzung, daß alles, was ist, von Gott – definiert als absolute Positivitt – hervorgebracht wurde, fhrt Bchner mithin zurck auf den grundlegenden Widerstreit dieser Metaphysik: den »ewige[n] Widerspruch zwischen dem, was ist in der Endlichkeit, und dem Ewigen, an das wir dasselbe zu knpfen suchen.« (HA II, S. 268.) Mit dieser Thematik, dem Verhltnis von Substanz und Modi, dem Unendlichen und Endlichen in der Metaphysik Spinozas, wird sich erst der letzte Teil des Skripts befassen. Schon an dieser Stelle jedoch versucht Bchner die Moralittskonzeption der Spinozanischen Philosophie, die noch in Dantons Tod im Zentrum der konventionellen Spinoza-Kritik Paynes stand, durch eine Reflexion auf die philosophischen Grundlagen zu erlutern. Im Skript von 1836 sind die ideologiekritischen Perspektiven aus Dantons Tod zunchst hinter die systematische Argumentation zurckgetreten. Das bedeutet nicht, daß Bchner von einer politischen Wertung der Philosophie generell Abstand genommen htte. Doch scheint der Philosophiehistoriker eine systematische Aus107 Vor allem mit seinem zweiten Argument, der Vorsicht Spinozas vor den Zensurinstanzen der Zeit, verwirklicht Bchner zudem eine weitere methodische Prmisse Tennemanns, der gefordert hatte, daß der Philosophiehistoriker auch allgemeingeschichtliche Bedingungsfaktoren der philosophischen Systeme fr eine vollstndige Interpretation zu bercksichtigen habe. Vgl. dazu Schr.pfer 1994, S. 221 u. 225 – 227. 108 So Bchners Rbersetzung von folgender Passage: »Quod ut recte intelligatur, notandum est, quod bonum et malum non, nisi respective, dicantur« (TIE, § 12).
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einandersetzung mit den »philosophischen Systeme[n] […] seit Cartesius«109 einer ideologiekritischen Bewertung voranstellen zu wollen. In eher konventioneller – von Goethe110 und Heine111 beeinflußter – Weise wird die Relativierung der Moralitt durch deren Erklrung aus der endlichen und daher beschrnkten Erkenntnisfhigkeit des Menschen und die Begrndung einer demgegenber anzustrebenden »Glckseeligkeit« im »Anschauen des Ewigen, Unvernderlichen« interpretiert durch jene »unendliche Ruhe«, die »ber den ersten Rissen des Spinozismus«112 liege. Noch dieser philosophisch legitimierte religi.se Quietismus reizt Bchner nicht zum vehementen Einspruch, sondern er bleibt konsequent bei seiner wissenschaftlichen Er.rterung der philosophischen Systematik des Spinozismus und einer begrndeten Erklrung der von ihm analysierten Widersprche. Eine politische Kritik philosophischer Positionen geh.rt nach zeitgen.ssischem Disziplinverstndnis nicht in den Rahmen einer philosophisch-historischen Rekonstruktion.113
IV. Dies zeigt sich auch bei einer Betrachtung des letzten, krzesten und unabgeschlossenen Teils des Skripts (HA II, S. 284 – 290), in dem der Interpret versucht, die in den ersten Abschnitten gewonnenen Ergeb109 Vgl. den Brief an den Bruder vom 2. September 1836 (HA II, S. 460). 110 Vgl. dazu die folgende Passage aus dem 16. Buch von Dichtung und Wahrheit, das Bchner nachweislich gelesen hat: »Ich erinnere mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit ber mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwrdigen Mannes durchbltterte.« Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. 14 Bde. Hrsg. v. Erich Trunz u. a. – Mnchen 1988, Bd. 10, S. 76. 111 Auch Heine bemhte diesen Topos: »Bei der Lektre des Spinoza ergreift uns ein Gefhl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe.« (Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 561.) Zu Heines Spinoza-Rezeption vgl. Willi Goetschel: Heines Spinoza: Ent/Mythologisierung der Philosophie als Projekt der Entzauberung und Emanzipation. – In: Aufkl2rung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hrsg. v. Joseph A. Kruse, Bernd Witte u. Karin Fllner. – Stuttgart, Weimar 1999, S. 571 – 585. 112 Bchner verwendet den Terminus Riß (HA II, S. 268) in zweifacher Bedeutung. Einerseits findet man jenen »Riß in der Sch.pfung von oben bis unten« (Dantons Tod, in: HA I, S. 48), der eine Zerrissenheit meint. Andererseits wird der Terminus in folgender Weise angewandt: »[…] eines Gesetzes der Sch.nheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die h.chsten und reinsten Formen hervorbringt.« (-ber Sch2delnerven, in: HA II, S. 292.) In dieser letzteren Bedeutung, die als Grundrisse zu bestimmen ist, sind auch die obigen »Risse des Spinozismus« gemeint; vgl. dazu schon Stiening: Sch,nheit und ^konomie-Prinzip, S. 108 f. 113 Vgl. hierzu Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte, S. 81 ff.
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nisse fr eine Darstellung der gesamten Systematik der Spinozanischen Philosophie zu verwerten. Doch gelangt Bchner in dieser Zusammenfassung darber hinaus auch zu neuen Ergebnissen. Hierbei bemht er sich zunchst, einen – bei Spinoza nicht explizit formulierten – »Uebergang von der Wissenschaftslehre zur Metaphysik« (HA II, S. 284) herzustellen, indem er die methodische Funktion der »Idee des h.chsten Wesens« (HA II, S. 285) im TIE mit der systematischen Position der Gottessubstanz in der Ethik korreliert.114 Ferner werden die Thesen zum Descartes-Bezug und der »synthetischen Methode« (ebd.) kursorisch wiederholt sowie die Kritik am »sehr unphilosophischen Beweis« des Lehrsatzes 5. Eine Bestimmung der Substanz-Attribut-Relation, durch die Bchner zu dem Ergebnis gelangt, daß »die Begriffe von Substanz und Attribut identisch« (ebd.) sind, knpft ebenfalls an Analyseergebnisse aus dem Kommentar zu ETH. I an.115 Im Zentrum dieser letzten Seiten des Skripts steht jedoch eine ausfhrliche Er.rterung des Substanzbegriffs, und zwar hinsichtlich seiner Funktion im Relationsgefge der Modi, das heißt das Verhltnis von Unendlichkeit und Endlichkeit bei Spinoza. Dazu bemht sich der Interpret, in einem erneuten Anlauf den Ausgangspunkt der Deduktionen, mithin den obersten Grundsatz der Philosophie Spinozas, festzulegen: »Das ganze System fngt eigentlich mit dem auf den Satz des ausschließenden Dritten gegrndeten 1. Axiom an« (HA II, S. 285).
Nach dem ontologischen Argument und der Wahrheitskonzeption des TIE liegt mit dieser These der dritte Versuch Bchners vor, den Deduktionsanfang Spinozas zu ergrnden. Dabei betont der Interpret zunchst das streng kontradiktorische Verhltnis der Bestimmungen des in se esse und des in alio esse, indem er einerseits auf den universellen und ausschließlichen Charakter dieser Bestimmungen aufmerksam macht, andererseits aber erkennt, daß eine bergreifende Bestimmtheit beider nicht ausgefhrt wird, denn, »[o]b ein Seyn berhaupt sey« (HA II, S. 285), wird bei Spinoza erst gar nicht gefragt. Daraus folgte jedoch, daß keiner denkbaren Entitt nach Spinoza entweder beide oder gar keine dieser Prdikationen zugeschrieben werden k.nnen. Eine sich 114 Vgl. dazu hnliche Ausfhrungen bei R.d: Struktur und Funktion des ontologischen Arguments in Spinozas Metaphysik, S. 92 – 97. Allerdings geht Bchner mit keinem Wort auf die doch erheblichen Unterschiede beider Werke Spinozas ein, die jene von ihm intendierte Korrelation nur bedingt erlaubt. Vgl. dazu die exzellente Studie von Ulrich Johannes Schneider: Definitionslehre und Methodenideal in der Philosophie Spinozas. – In: Studia Leibnitiana 13 (1981), S. 212 – 241. 115 Vgl. dazu: HA II, S. 236 u. 285.
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an diese zumindest implizit geleistete Bestimmung des Satzes vom Widerspruch als oberstem Grundsatz des Spinozanischen Systems116 anschließende Frage nach dem genauen Status dieses Gesetzes sowie dessen Bedeutung fr die zuvor analysierten Widersprche im weiteren Programm Spinozas wird von Bchner allerdings nicht mehr gestellt. Vielmehr hat der Interpret im Zusammenhang dieses Themas seine selbstndige Bearbeitungs- und Interpretationsleistung nahezu vollstndig zugunsten eines bloßen »Exzerpte[s] aus Tennemann und Herbart«117 aufgegeben, wobei es Bchner vor allem um die przise Analyse des Kausalitts- als des Substantialittsbegriffs Spinozas durch Tennemann118 geht, der festhielt: »Nach beyden Grundstzen kommt man von dem Endlichen nie auf das Unendliche und von dießem nie auf das Endliche. Es ist zwischen beyden eine Kluft, die Spinoza zu umgehen sucht, aber nie gnzlich verdecken konnte.« (HA II, S. 287.)
Hierin liegt fr Bchner – zumindest in diesem dritten Teil seines Skripts – offensichtlich der grundlegende Widerspruch des Spinozanischen Systems, aus dem sich alle weiteren von ihm zuvor analysierten Konzeptionsbrche ergeben. Jedoch wird weder diese Zurckfhrung noch die angestoßene Rberlegung der Bedeutung des Satzes vom Widerspruch in seiner universellen Gltigkeit fr diese ontologische Grundstruktur geleistet und kann aus dem vorhergehenden Text nur mehr in Andeutungen erschlossen werden.
V. Georg Bchners wissenschaftliche Rezeption der Philosophie Spinozas ist erklrtermaßen zu einem Teil seinem Interesse an einer universitren Laufbahn als Philosophiehistoriker zu verdanken. Die energische Intensitt der kritischen Bearbeitung lßt sich durch dieses ußere Faktum jedoch nicht erklren.119 Als Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker legte er seiner wissenschaftlichen Arbeit eine Rationalittskonzeption zugrunde, die – in unbegrenzter Version – auch die Spinozanische Philosophie konstituierte. Deshalb waltet in den Spinoza-Skripten des angehenden Dozenten der Philosophie das logische Gesetz des Widerspruchs (HA II, S. 141), wie es schon im Descartes-Skript heißt, auf dessen auch fr 116 Vgl. dazu auch Arthur Onken Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Rbersetzt v. Dieter Turck. – Frankfurt a. M. 1985, S. 184 – 211. 117 Vgl. hierzu auch Mayer 2000, S. 318 f. 118 Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10, S. 472 – 478; eine plausible empirische Erklrung dieses Sachverhalts bietet Mayer 2000, S. 319. 119 Vgl. hierzu auch Stiening: Sch,nheit und ^konomie-Prinzip, S. 101 – 104.
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Spinoza gltiger Grundlage der Gottesbeweis der Ethik in allen seinen Teilen widerlegt werden soll. Erst diese – zumindest partielle – Identitt der Voraussetzungen bewirkt die begriffliche Anstrengung, der sich Bchner in seinen Widerlegungen aussetzte. Dem Beweis vom Dasein Gottes – als moralisch absolut vollkommenem Wesen – sollte nicht mehr nur abstrakt, das heißt hier empirisch,120 der Schmerz des Menschen entgegengehalten werden, sondern Bchner wollte diese Demonstration als Konzept aus »falschen Schlssen« wissenschaftlich erweisen und dadurch begriffslogisch widerlegen. Die »Philosophie als Wissenschaft« (HA II, S. 137), die fr Bchner zu einer Wissenschaft der Philosophiegeschichte wurde, bewirkte nicht nur die dargestellten spezifischen Modifikationen seiner eigenen Auffassungen hinsichtlich des Systems Spinozas, sondern erm.glichte eine begrndbare Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen Philosophemen.
120 Vgl. dazu H. Mayer, S. 354.
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Woyzeck auf der Bhne Zu einer Inszenierungsgeschichte des Woyzeck Begrndung, Ergebnisse und Planung
Von Wolfram Viehweg (Krefeld)
In der Spielzeit 1913/14 und aus Anlaß des hundertsten Geburtstags Bchners erlebte der Wozzeck1 durch das Schauspielensemble der K.niglichen Bayerischen Hoftheater in einer Inszenierung Eugen Kilians am Mnchener Residenztheater seine Urauffhrung. Premiere war am 8. 11. 1913. In etwa verlßliche Zuschauerzahlen fr Woyzeck-Auffhrungen haben wir seit der Spielzeit 1975/76. Es besuchten demnach seither bis zum Ende der Spielzeit 1999/2000 in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in Zsterreich 1.043.509 Zuschauer und seit 1981 bis zum Ende der Spielzeit 1989/90 5.148 Zuschauer in der Deutschen Demokratischen Republik Vorstellungen des Woyzeck von professionellen Theatern.2 Es ist anzunehmen, daß viel mehr Menschen den Woyzeck durch eine Auffhrung im Theater kennenlernten, als allein durch die Lektre des Textes. Sie begegneten dem Woyzeck in einer Interpretation durch das Medium Theater. Eine Bhnengeschichte des Woyzeck hat, in chronologischer Folge der Inszenierungen, diese Interpretationen, mit denen die Auffhrungen vor das Publikum traten, in deren Gestalt der Woyzeck von ihm aufgenommen wurde, deren theatereigene knstlerische Mittel, sowie die Wandlungen, die die szenischen Interpretationen durch gesamtgesellschaftliche und politische, literarische und theatersthetische Entwicklungen erfuhren, darzustellen. Sie hat die Reaktionen der Theaterkritik in der Tagespresse auf diese szenischen Interpretationen des Woy1 Im Zusammenhang mit der Frhphase der Bhnenlaufbahn des Woyzeck schreiben wir den Namen so, wie Karl Emil Franzos ihn in seiner Ausgabe: Georg Bchners S2mmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel. u. hrsg. v. Karl Emil Franzos. – Frankfurt a. M. 1879 (F) gelesen hat. 2 Vgl. Wolfram Viehweg: Georg Bchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil. 1913 – 1918. – Books on Demand, Hamburg 2001, S. 3 ff. und Deutscher Bhnenverein (Hrsg.): Wer spielte was? Werkstatistik, 9. Jg. (1998/99), S. 121 und 10. Jg. (1999/2000), S. 108 f.
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zeck, die meinungsbildend in das Publikum hineinwirkten, zusammenzustellen und zu analysieren und die Reaktionen des Publikums vor Ort, im Theater, zu beschreiben. Indem sie das tut, hat sie auch Gelegenheit, die tiefgreifenden Vernderungen im Verhltnis des Theaters zur dramatischen Literatur, die in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzten und zu einer turbulenten Emanzipationsbewegung der szenischen Kunst von literarischen Werken gefhrt haben, am Beispiel des Woyzeck darzustellen. Eine Geschichte der Bhnenlaufbahn des Woyzeck wird, so verstanden, als Theatergeschichte zu einem Teil seiner Rezeptionsgeschichte. Trotz des reichen Aufgabenfeldes, das die Theatergeschichte bei der Bearbeitung und Darstellung der Bhnenlaufbahn des Woyzeck vorfindet, sind Vorarbeiten zu seiner Inszenierungsgeschichte selten. Eine Arbeit von Ingeborg Strudthoff, auf einer Berliner Dissertation aus dem Jahre 1945 fußend, trgt den anspruchsvollen Titel Die Rezeption Georg Bchners durch das deutsche Theater.3 Sie versucht eine Darstellung der Bhnenlaufbahn aller dramatischen Werke Bchners und reicht bis zum Jahre 1939. Von den 82 bis dahin erschienenen WoyzeckInszenierungen whlt sie neun aus, davon allein vier Berliner, die beiden Inszenierungen Victor Barnowskys von 1913 und 1920, die Max Reinhardts von 1921 und die Jrgen Fehlings aus dem Jahr 1927. Hinzu kommen je eine aus Mnchen – die Urauffhrung in sehr fehlerhafter Darstellung – , aus Wien (1921), Mannheim (1922), K.ln (1923) und Frankfurt am Main (1937), Auffhrungen aus einigen großen Theaterstdten also. Eine gltige Darstellung der Aufnahme des Woyzeck in der ganzen Weite des deutschsprachigen Theaters lßt sich so nicht gewinnen. Zudem waren Ingeborg Strudthoff unter den Umstnden der Zeit der Entstehung ihrer Arbeit wichtige Materialien unzugnglich. Die Arbeit war in ihrem Themenbereich ein erster Schritt und insofern eine Pioniertat, ist aber heute weitgehend berholt. Ich habe im Anhang zu einer Inszenierungsgeschichte von Dantons Tod4 eine inzwischen korrekturbedrftige Aufstellung der Woyzeck-Inszenierungen bis zum November 1961 gegeben. Die notwendigen Inderungen und Ergnzungen werden im Anhang des zweiten und des dritten Bandes der hier in Rede stehenden Inszenierungsgeschichte des Woyzeck vorgelegt. Dietmar Goltschnigg bercksichtigte in seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Bchners5 und neuerlich in seinem material- und ertragreichen Werk Georg Bchner und die Mo3 Ingeborg Strudthoff: Die Rezeption Georg Bchners durch das deutsche Theater (Theater und Drama, Bd. 19). – Berlin 1957. 4 Wolfram Viehweg: Georg Bchners »Dantons Tod« auf dem deutschen Theater. – Mnchen 1964, S. 386 f. 5 Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Bchners. – Kronberg/Ts. 1975.
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derne6 auch die Theaterrezeption des Woyzeck, hatte dabei aber in seinen literaturwissenschaftlich und nicht theatergeschichtlich ausgerichteten Arbeiten auch selektiv und ohne Bercksichtigung spezieller theatergeschichtlicher Quellen vorzugehen. Daß Theaterhistoriker sich trotz aller Anreize, die das Thema bietet, bisher nicht mit ihm befassen mochten, liegt zuv.rderst an der argen, zeitraubenden Mhsal beim Auffinden und Beschaffen des vielfltigen Quellenmaterials fr ein solches Unternehmen. Beim mehrfach geradezu abenteuerlichen Sammeln und Sichern des weit verstreuten, oftmals schwer zugnglichen Materials fr eine Inszenierungsgeschichte des Woyzeck in theaterund rezeptionsgeschichtlicher Absicht gab es manche Enttuschung, aber noch mehr unverhofftes Jgerglck, sodaß die Auswertung des Gefundenen und die Niederschrift ihrer Ergebnisse in Angriff genommen werden konnte. Das Gesamtprojekt umfaßt drei Bnde, von denen der erste die Zeit von der Urauffhrung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, der zweite die von 1918 bis 1945, der dritte die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Spielzeit 1999/2000 behandelt. Die tiefgreifenden politischen Vernderungen, die durch diese Einteilung markiert werden, beeinflußten entschieden auch die Interpretationen des Woyzeck auf dem Theater und die Haltung der Theaterkritik und des Publikums dem Werk gegenber. Der erste Band liegt vor, der zweite soll im Sommer 2005 erscheinen. Es zeigte sich berraschenderweise, daß keine der Auffhrungen des Woyzeck bis tief in die Fnfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hinein so gut dokumentiert werden konnte wie die Urauffhrung. Bei der Auswertung bisher unbekannten oder nicht hinreichend beachteten Quellenmaterials ergab sich manch neue Einsicht. Eugene Weber hatte im Jahre 1975 in einem Aufsatz Zur Urauffhrung von Bchners ›Woyzeck‹7 deren Textfassung als eine dramaturgische Arbeit allein Hugo von Hofmannsthals dargestellt. Diese Auffassung galt seither als gesichert. Weber nutzte als Quellenmaterial ein von ihm so bezeichnetes »Handexemplar Roller-Hofmannsthal«,8 das seither bis 2001 als verschollen galt, die Korrespondenz zwischen Hofmannsthal und dem Mnchener Generalintendanten
6 Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Bchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 1: 1875 – 1945. – Berlin 2001; Bd. 2: 1945 – 1980. – Berlin 2002; Bd. 3: 1980 – 2002. – Berlin 2004. 7 Eugene Weber: Zur Urauffhrung von Bchners »Woyzeck«. – In: Fr Rudolf Hirsch zum siebzigsten Geburtstag am 22. Dezember 1975. – Frankfurt a. M. 1975, S. 239 ff. 8 Der bedeutende Wiener Maler und Bhnenbildner Alfred Roller war von Hofmannsthal fr die Ausstattung der Wozzeck-Urauffhrung gewonnen worden.
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Clemens Freiherr von Franckenstein,9 einem Jugendfreund Hofmannsthals, dem er immer wieder hilfreich zur Seite stand, auch bei der Eroberung seines Mnchener Postens, und Briefe Rollers an Hofmannsthal.10 Nicht zugnglich waren ihm die Briefe Hofmannsthals an Roller.11 Diesen zufolge schickte Hofmannsthal am 26. 5. 1913 einen »Einrichtungsplan fr Woyzeck«12 des Mnchener Hoftheaterdramaturgen Karl Wollf an Roller mit der Bitte um dessen Stellungnahme, damit man »zu einem m.glichen Compromiss« mit Wollf in Sachen Spielfassung fr die Urauffhrung kommen k.nne. Hofmannsthal, der, seit dem Beginn der Mnchener Intendanz Franckensteins, vor der Zffentlichkeit sorgsam verborgen, als dessen geheimer Berater in Belangen des Schauspiels wirkte und als solcher auch die Urauffhrung des Wozzeck anregte, dieses Projekt intensiv f.rderte und als Schaltstelle zwischen Roller und dem Mnchener Hoftheater fungierte, hatte in einem Brief an Franckenstein vom 12. 5. 191313 nach Rcksprache mit Roller wegen der szenischen und technischen Ausstattung der Urauffhrung unter den Bedingungen, die das Mnchener Residenztheater bot, seit lngerem versprochene Vorschlge zu einer Spielfassung des Wozzeck gemacht. Diese Vorschlge Hofmannsthals verband Wollf mit den Ergebnissen seiner eigenen Bearbeiterttigkeit am Wozzeck in der Mnchener Dramaturgie. Diese Verbindung bertrug er in ein Exemplar der Franzos folgenden Bchnerausgabe von Rudolf Franz14 und schickte es an Hofmannsthal. Das war das Exemplar mit der Textfassung, die Hofmannsthal als »Einrichtungsplan des Dramaturgen« an Roller weiterreichte. Die beiden kamen berein, diesem »Einrichtungsplan« die dort gestrichenen letzten Bilder bei Franzos, die Kinderszene »Frher Morgen. Vor Mariens Haustr« und die Szene im Seziersaal 9 Vgl. Ulrike Landfester (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal – Clemens von Franckenstein. Briefwechsel 1894 bis 1928. – In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europ2ischen Moderne 5 (1997). 10 Vgl. Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Briefe Hofmannsthals, Alfred Rollers und Eugen Kilians zur Urauffhrung von Bchners »Woyzeck« am Mnchener Residenztheater, 1913. – In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europ2ischen Moderne 6 (1998). 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd., S. 118. 13 Vgl. Ulrike Landfester, S. 118. 14 Diese Ausgabe (Georg Bchner: Dramatische Werke. Mit Erklrungen hrsg. v. Rudolf Franz. – Mnchen 1912) hat zuletzt auch Hugo von Hofmannsthal fr seine dramaturgische Arbeit am Wozzeck genutzt, nachdem er zunchst nach einem Exemplar der Ausgabe von Paul Landau (Georg Bchners gesammelte Schriften. In zwei B2nden. Hrsg. v. Paul Landau. – Berlin 1909) gearbeitet hatte, in das er Rberlegungen zur Bhnenbearbeitung des Wozzeck und zum szenographischen System der Urauffhrung eintrug. Dies Exemplar befindet sich im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt am Main.
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wieder anzufgen. Hofmannsthal war, wie er Roller am 26. 5. 1913 schrieb, von den Mnchenern gebeten worden, ihnen den »Einrichtungsplan« »bald« zurckzusenden, und bat seinerseits Roller, ihm den Plan zu »retourniren.« Das tat Roller bereits mit einem Brief vom 28. 5. 191315 und fgte ihm ein weiteres Textexemplar der Ausgabe von Rudolf Franz bei, in das er den »Entwurf des Dramaturgen« unter Wiederaufnahme der beiden Schlußszenen eingetragen hatte. Dieses Exemplar und nicht, wie von mir vermutet,16 das von Roller in einem Brief an Hofmannsthal vom 27. 7. 1913 erwhnte,17 ist Webers »Handexemplar Roller-Hofmannsthal«.18 Die Textfassung dieses »Handexemplars Roller-Hofmannsthal« wurde zur Grundlage fr die endgltige Spielfassung der Mnchener Urauffhrung. Sie ist nicht – wie seit Webers Aufsatz allgemein angenommen – das Werk allein Hofmannsthals, sondern die Verschmelzung der Ergebnisse zweier zunchst unabhngig voneinander verlaufener Arbeitsprozesse zur Herstellung einer Bhnenfassung fr die Urauffhrung des Wozzeck bei Hofmannsthal und bei Wollf. Kilian setzte fr seine Inszenierung die im »Handexemplar Roller-Hofmannsthal« gestrichene, dort nur durch Musik angedeutete letzte Wirtshausszene wieder ein und strich die Bibelszene. Von Hofmannsthals dramaturgischer Arbeit am Wozzeck wußte er offenbar nichts.19 Das bislang als verschollen geltende Regiebuch Kilians und das bislang unbekannte Soufflierbuch fr die Mnchener Urauffhrung des Wozzeck20 erlaubten eine vollstndige Rekonstruktion der dort verwendeten Textfassung.21 Zudem zeigt das Regiebuch, daß Kilian der Handlung eine bhnendienliche, mit szenischen Mitteln dem Publikum eindrucksvoll zu verdeutlichende Struktur gibt, indem er die einzelnen Szenen streng, in linearer zeitlicher Abfolge untereinander verbindet, wobei er die Handlung ber vier Tage verteilt, auf die Abend- und Nachtstunden konzentriert, die Zeitspanne zwischen der Denunziation der Marie durch den Hauptmann bei Woyzeck und dem Mord Woyzecks an Marie im Vergleich zu Franzos signifikant verkrzt und so seiner Inszenierung, vom sechsten Bild ihrer insgesamt sechzehn Bilder ab, Geflle und Tempo in der Bewegung hin zur Katastrophe gibt.22 15 16 17 18 19 20 21 22
Vgl. Dietmar Goltschnigg 1998, S. 119 f. Vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 40. Vgl. Dietmar Goltschnigg 1998, S. 120. Es befindet sich im Besitz von Mrs. Marie Therese Miller-Degenfeld, Charlottesville, USA. Zur vorbereitenden Arbeit fr die Urauffhrung durch Hofmannsthal, Roller und Wollf auf dem dramaturgischen und szenographischen Felde vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 16 – 50. Beide befinden sich im Archiv des Bayerischen Staatsschauspiels in Mnchen. Vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 54 – 64. Vgl. ebd., S. 98 – 109.
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Wie sich herausstellte, sind smtliche Bhnenbildentwrfe Rollers zum Wozzeck, neun an der Zahl, und smtliche Figurinen erhalten, dazu sieben bislang unbeachtete Schreibmaschinenseiten: »Technische Bemerkungen zu Bchner: ›Wozzeck‹«. In ihnen gibt Roller Bild fr Bild genaue Anweisungen an den Malersaal, die Bhnentechniker, sogar an den Regisseur – an ihn vor allem in Sachen Beleuchtung – , wie er seine Entwrfe auf der Bhne umgesetzt sehen m.chte.23 Die »Technischen Bemerkungen« geben auch Auskunft ber das szenographische System, das bei der Urauffhrung des Wozzeck genutzt wurde und das eine schnelle Verwandlung der Szene bei offener Bhne – eine erhebliche Khnheit angesichts der Sehgewohnheiten des damaligen Theaterpublikums – gestattete. Man verwendete, bei sparsamstem Einsatz von Versatzstcken, eine flache Reliefbhne, nach hinten geschlossen durch eng hintereinander verhngte Prospekte, mit einer durch einfache Wnde mit Tr.ffnungen und flachen Balkonen darber rechts und links begrenzten Vorbhne.24 Das Regiebuch gibt nicht nur endgltigen Aufschluß ber die Textfassung der Urauffhrung und die Anordnung der Handlung auf einer »Zeitschiene«, sondern bietet auch durch zahlreiche Skizzen und Notate Kilians auf den Durchschußblttern Hinweise zum Einsatz und zur Positionierung der Versatzstcke, zur Verbindung der Szenen durch berleitende Klangelemente whrend der kurzen Umbauten – ein Verfahren, das auch Max Reinhardt 1921 in seiner Berliner Inszenierung verwenden wird – sowie zu den Arrangements, den Gngen und Positionen der Darsteller, insbesondere in den personenreichen Szenen im Wirtshaus und beim Aufmarsch des Zapfenstreichs. Die Analyse des Regiebuches, der »Technischen Bemerkungen« Rollers und seiner Bhnenbildentwrfe, von Iußerungen Wollfs und Kilians zum dramatischen Werk Bchners, insbesondere zum Wozzeck, schließlich der zahlreichen, anlßlich der Urauffhrung erschienenen Kritiken in der Tagespresse und in Zeitschriften ergibt, daß der Wozzeck als eine stimmungsstarke Symboldichtung fr ein von rtselhaften Mchten unabwendbar ber die Menschheit verhngtes Leiden in der Welt gespielt wurde. Wozzeck wird als Reprsentant der zum Leiden verfluchten Menschheit, noch kaum als Angeh.riger einer unterdrckten Klasse gesehen. Kilian inszeniert Stimmungen und Stimmungsbrche, er betont das Atmosphrische in stndig dunkler werdenden T.23 Alfred Rollers »Technische Bemerkungen zu Bchner: ›Wozzeck‹« sind abgedruckt in: Wolfram Viehweg 2001, S. 71 ff. 24 Vgl. dazu die vier Bhnenfotos zu den Szenen »Freies Feld. Die Stadt in der Ferne«, »Studierstube des Doktors«, »Straße vor Mariens Haus« und »Kaserne«. – In: Bhne und Welt 16 (1914), Nr. 10. Zur theatergeschichtlichen Entwicklung des Bhnensystems fr die Urauffhrung des Wozzeck, die Bhnenbildentwrfe und die Figurinen Rollers, seine »Technischen Bemerkungen« und das Regiebuch Kilians vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 67 – 98.
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nen. Er zeigt den Sturz des »Helden« in immer tiefere Finsternis. Er macht aus dem Wozzeck ein Abend- und Nachtstck. Fr heutige Verhltnisse geradezu unglaublich ist die Tatsache, daß Roller und Kilian vor Beginn der Probenarbeit keinerlei Konzeptionsgesprche gefhrt haben, daß Roller whrend der Probenarbeit offenbar nie in Mnchen war. Alle Kontakte Rollers zum Mnchener Theater liefen ber Hofmannsthal. Kilian bekam die Entwrfe Rollers zugestellt, hatte seine Inszenierung ihnen anzupassen und sie in die Bilder hineinzustellen. Aus heutiger Sicht schockierend ist die minimale Probenzeit, die Kilian fr Dantons Tod, den man der Urauffhrung voranstellte, und entsprechend wohl auch fr den Wozzeck selbst, zur Verfgung stand. Das im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek in Mnchen aufgefundene, bislang in der Forschung, soweit ich sehe, ungenutzte Tagebuch Kilians nennt als ersten Probentag fr den Danton den 25. 10. 1913. Am 8. November war Premiere.25 Der Wozzeck der Urauffhrung und zweier weiterer der vier Inszenierungen des Stckes vor dem Ende des Ersten Weltkrieges war Albert Steinrck. Er spielte den Wozzeck nicht als einen von Anfang an Gebrochenen, sondern ließ ihm viel physische, aber auch – wenngleich verworrene – innere Kraft zur Emp.rung, die jederzeit gefhrlich ausbrechen konnte. Steinrck hatte mit dem Mnchener Wozzeck einen weithallenden Erfolg. Er erkannte die Wirkm.glichkeiten der Rolle fr sein Gastspielrepertoire und nutzte sie. Er spielte den Wozzeck vom November 1913 bis zum Mai 1915 in drei verschiedenen Inszenierungen, im September 1919 nochmals im Neuen Theater in Frankfurt am Main mit der jungen Helene Weigel als Marie. Seine Gestaltung blieb lange Zeit Maßstab und Vorbild fr die Woyzeck-Darstellung. Steinrcks Leistung als Wozzeck wurde zu einem entscheidenden Faktor bei der Durchsetzung des Werkes auf dem Theater.26 Auch die Auffhrung als ganzes wurde ein reichsweiter Presseerfolg. Man bejubelte die »Auferstehung« der beiden Werke Bchners auf dem Theater, pries Steinrck und die Bhnenbilder Rollers. Nur wenige konservative Bltter, die Bchner nicht verzeihen mochten, daß er ein Revolutionr war, meldeten Vorbehalte an. V.llig ablehnend reagierte Erich Mhsam. Er bekam bei einem Auffhrungsbericht in seiner Zeitschrift Kain27 einen regelrechten Wutanfall, dies aber wohl zuv.rderst aus ideologischen und lokalen theaterpolitischen Grnden. 25 Zur Position Kilians und zu seinen Arbeitsbedingungen am Mnchener Hoftheater zur Zeit seiner Inszenierung des Wozzeck vgl. ebd., S. 50 – 54. 26 Zur Darstellung des Wozzeck durch Steinrck vgl. ebd., S. 113 ff., 144 ff., 173 ff. Zur Gestaltung der Marie durch Emma Berndl in der Urauffhrung vgl. ebd., S. 112 f. 27 Kain 3 (1913), Nr. 9.
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Der Premierenabend wurde nach allen vorliegenden Berichten auch ein Publikumserfolg, dann aber ließ der Besuch rapide nach. »Besuch miserabel«, notiert Kilian in seinem Tagebuch fr die dritte Vorstellung am 11. 11. 1913 und fr die am 18.11.: »Mssig besucht«. Dennoch zeigt eine handschriftliche Aufstellung aller Vorstellungen in dem aufgefundenen Soufflierbuch, daß die Inszenierung nicht, wie bisher angenommen, nach insgesamt 12 Vorstellungen in der Spielzeit 1914/15 vom Spielplan genommen wurde. Sie blieb dort vielmehr bis zum 21. 8. 1919 mit insgesamt 20 Vorstellungen. Ein Befund, den die Sammlung der Programmzettel des Mnchener Hoftheaters in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universitt zu K.ln besttigt. Am 16. 12. 1913 gab es am Lessingtheater in Berlin, ebenfalls aus Anlaß des 100. Geburtstags Bchners, unter der Regie von Victor Barnowsky die zweite Inszenierung in der Bhnenlaufbahn des Wozzeck, zusammen mit Leonce und Lena. Bisher unbekannt waren die in diesem Zusammenhang vorliegenden Akten der Theaterabteilung am K.niglichen Polizeiprsidium in Berlin,28 der Zensurbeh.rde also, die sich fr ihre Arbeit vom Mnchener Hoftheater eigens das Regiebuch Kilians schicken ließ, um dessen Spielfassung mit der der Beh.rde vom Lessingtheater vorgelegten zu vergleichen. Erstaunlicherweise hatte man nur – das allerdings reichlich – Einwnde gegen als derb und unsittlich empfundene Wendungen im Text. Die Tatsache, daß Wozzeck ein Angeh.riger der geschundenen Unterklasse war, kam den Zensoren ebensowenig in den Blick, wie das Erscheinungsbild des Militrs oder der brgerlichen Wissenschaft. Wohl aber erhob man noch in der Generalprobe amtlichen Protest gegen die Darstellung der Marie, namentlich in der Szene mit dem Tambourmajor (H4,6), ebenfalls aus Grnden der Sittlichkeit. Hier mußte das Theater Korrekturen vornehmen, mit katastrophalen Folgen fr die junge Schauspielerin Ilse Wehrmann, die kurz zuvor am Dsseldorfer Schauspielhaus unter Gustav Lindemann die Lena in Leonce und Lena mit großem Erfolg gespielt hatte und die das Lessingtheater unter gr.ßten Schwierigkeiten von den Dsseldorfern freigekmpft hatte. Sie wurde mit nicht geprobten Inderungen der Gestaltung ihrer Rolle in die Premiere geworfen und erlebte, v.llig verunsichert, bei ihrem Berliner Debut ein Waterloo. Es wre eine dankbare Aufgabe fr Theaterwissenschaftler, einmal der Frage nachzugehen, wie oft nicht ein literarisches Werk, sondern Schauspieler und Schauspielerinnen, wie im Falle Wehrmann, durch die Zensur zu Schaden gekommen sind. Barnowsky inszenierte den Wozzeck unter ausgiebiger Nutzung der Drehbhne fr schnelle Verwandlungen als einen stimmungsstarken, 28 Die Akten befinden sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam.
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balladenhaften Bilderbogen von Liebe, Leid und Tod des Mannes Wozzeck, Symbol allen schicksalhaft verhngten Elends der Menschheit in der Welt. Svend Gade schuf ihm dafr eine Ausstattung von starker realistischer Bildwirkung mit einer Art Freischtzwolfsschlucht als stndigem Rahmen. Steinrck war auch Barnowskys Wozzeck und wieder lenkte sein spektakulrer schauspielerischer Erfolg die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Werk Bchners als Bhnenstck und nicht allein als beachtenswerten literarischen Text. Hatte man in der Berliner Presse anlßlich der Inszenierung Barnowskys den Wozzeck als Erfllung einer weit verbreiteten Sehnsucht nach einer Verbindung von Naturalismus und Romantik auf der Bhne begrßt, als ein dramatisiertes Volkslied, erscheint Bchner bei einem Gastspiel des Lessingtheaters in Frankfurt am Main in mehreren Kritiken mit dem Wozzeck gar als ein zu Unrecht vernachlssigter hessischer Heimatdichter. Viel strker als in Mnchen sieht man nun in der Berliner wie in Teilen der Frankfurter Kritik auch die sozialkritischen Zge im Werk Bchners, ohne sie in den Vordergrund der Berichte zu stellen. In Frankfurt wie in Berlin war sich die Mehrheit der Kritiker einig, daß die Inszenierungen Barnowskys den Wozzeck und Leonce und Lena fr immer der »lebendigen deutschen Bhne erobert haben.«29 Es waren – merkwrdigerweise mit Ausnahme des sozialdemokratischen Vorw2rts – einige wenige Zeitungen der konservativen Richtung, die, bei viel Respekt vor dem Dichter, aus dramaturgisch-formalen Grnden, kaum aus politischen, Vorbehalte gegen den Wozzeck als repertoirefhiges Bhnenstck formulierten. Barnowskys Inszenierungen wurden am Premierenabend auch ein Publikumserfolg, der Wozzeck in seiner Gestalt als balladenhafter Bilderbogen, noch mehr aber Leonce und Lena als heiteres Spielwerk. In Frankfurt hingegen gab es zum ersten Male, wie spter noch so oft, Proteste im Publikum. In Unkenntnis der Person und der Werke Bchners sah eine Minderheit im Zuschauerraum in ihnen etwas Zeitgen.ssisches, fhlte sich durch Form und Inhalt provoziert und zur deutlichen Bekundung ihres Mißfallens aufgerufen. Demonstrativer Beifall der Mehrheit ließ aber auch das Frankfurter Gastspiel des Lessingtheaters zum Erfolg werden.30 Weitere Akten des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam zeigen, daß die Barnowskybhnen am 11. 11. 1916 nochmals bei der Zensurbeh.rde um die Freigabe des Wozzeck zur »Auffhrung im 29 Julius Bab, in: Die Gegenwart, Jg. 1914, Nr. 2, S. 21. 30 Zur Inszenierung Barnowskys und zu ihrer Wirkung in der Presse und beim Publikum vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 135 – 165.
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Lessing-Theater resp. Deutschen Knstler-Theater« eingekommen sind. Die Zensurbeh.rde reagierte hnlich wie 1913. Am 20. 11. 1916 erteilte man die Genehmigung, die aber von Barnowsky nicht genutzt wurde. Erst 1920, am Tage des Kapp-Putsches, gab es im Lessingtheater die Premiere der zweiten Inszenierung des Wozzeck durch Barnowsky. Am 5. 5. 1914 begann Albert Steinrck ein Gastspiel an der Wiener »Residenzbhne« mit Ibsens Baumeister Solness und mit dem Wozzeck in einer Inszenierung des Direktors der Residenzbhne, Arthur Rundt. Steinrck hatte sich den Wozzeck ausdrcklich gewnscht. Er hatte dessen Wirkm.glichkeiten als Gastspielrolle erkannt und brachte so den Wienern die Zsterreichische Erstauffhrung des Werkes. Rundt hat seine Inszenierung nach den Wnschen eines Stargastes, dem man gew.hnlich keine unn.tigen Belastungen bei der Darstellung bereits studierter und gespielter Rollen zuzumuten pflegte, wohl um Steinrck herum und in Anlehnung an die Mnchener Inszenierung und deren Interpretation des Stckes arrangiert. Die Wiener Theaterkritik sieht in der Auffhrung zuv.rderst eine versptete Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag eines vergessenen, aber bedeutenden Vorlufers der Moderne, namentlich des Naturalismus. Man betrachtet sie als interessantes Experiment. Eine Zukunft auf der Bhne mag man dem Wozzeck, ganz im Gegensatz zu Berlin und Frankfurt, nicht zubilligen. Die Vorbehalte, auch solche aus politischen Grnden, werden von betont konservativen Blttern viel deutlicher formuliert als in Berlin oder Mnchen. Das Publikum reagierte am Premierenabend gespalten. Es gab begeisterte Zustimmung und wtende Ablehnung. Letztere aus den gleichen Grnden wie in Frankfurt. Es war eine regelrechte Publikumsfehde, deren enragierte Parteien sich dann freilich im Beifall fr die wiederum bezwingende Leistung Steinrcks friedlich vereinten. Steinrck spielte den Wozzeck im Rahmen seines Gastspiels nur in drei Vorstellungen. Die letzte fand schon am 10. 5. 1915 statt. Durchgesetzt wurde der Wozzeck trotz des eindeutigen pers.nlichen Erfolges von Steinrck in Wien damit nicht. Das geschah erst 1921, als Eugen Kl.pfer als Woyzeck in einer eigenen Inszenierung im Raimundtheater gastierte. Ihre besondere Bedeutung gewinnt diese Zsterreichische Erstauffhrung des Wozzeck in ganz anderem Zusammenhang. Alban Berg hat mindestens eine der Vorstellungen besucht und dabei die Anregung zur Komposition seiner Oper Wozzeck gewonnen. Nun, da wir durch das Regiebuch Kilians die genaue Spielfassung der Mnchener Urauffhrung, die auch nach Wien bernommen wurde, und viele der szenischen Arrangements Kilians kennen, k.nnen wir feststellen, daß viele signifikante Eigenheiten in Bergs Textfassung sei250
ner Oper,31 die bislang als dramaturgische Erfindungen Alban Bergs galten, schon in Mnchen auftauchen und durch die Vermittlung Steinrcks auch in die Wiener Inszenierung und so an Berg gekommen sind. In der Szene I,5 bei Berg, »Straße vor Mariens Haus«, »verschwinden« der Tambourmajor und Marie »in der offenen Haustr.« Das ist ein wichtiges Inszenierungsdetail, das Kilian in der Urauffhrung verwendet hat. Ein weiteres signifikantes Detail in der Urauffhrung ist die Zusammenfhrung der Szenen »Kaserne« und »Kasernenhof«, bei Franz die 16. und die 17. Szene, zu einem Bild. So verfhrt auch Berg in seiner Szene II,5: »Wachstube in der Kaserne.« Wie in den Ausgaben von Franzos und Franz und auch in der von Paul Landau, nach der Berg arbeitete, werden in der Urauffhrung die Szenen H1,19 und H1,20 zu einer Szene »Waldweg am Teich« zusammengefaßt. In Mnchen wird Wozzecks Ausruf »Leute!— fort!« gestrichen. Er bleibt bei Kilian auf der Bhne und luft nicht weg, wie bei Landau vorgesehen. Auch bei Berg verlßt er die Bhne nicht. Wie die Urauffhrung und die Wiener Inszenierung, verzichtet Berg auf die Jahrmarktszenen und auf die Szene im Hof des Doktors. Wie Kilian in Mnchen, beginnt auch Berg seine Szene III,5: »Vor Mariens Haustr«, mit dem Reigen der Kinder. Wie Kilian zeigt auch Berg »Mariens Knaben auf einem Steckenpferd reitend.« Diese Inszenierungsdetails finden sich in der Ausgabe von Landau und auch bei Franzos und Franz nicht. Der kleine Sohn Mariens reitet dort »auf der Schwelle.«32 Beinahe wie eine Kuriositt erscheint eine bislang unbekannte Privatauffhrung in Leipzig aus dem Jahre 1915. Sie wurde von einem »Verein fr Literatur und Geistespolitik« mit Schauspielern des Leipziger Stadttheaters und des Leipziger Schauspielhauses in einer Inszenierung Lothar K.rners, eines Schauspielers am Stadttheater,33 als geschlossene Vorstellung fr seine Mitglieder im großen Saal der Wohnung des Feldoberpostmeisters des Heeres Domizlaff veranstaltet und noch einmal als Wohlttigkeitsveranstaltung fr die Kriegsfrsorge wiederholt. Wieder wurde der Wozzeck dem Publikum als Symbolstck fr das unabwendbar ber die Menschen verhngte Leiden vorgestellt, als solches von der Kritik aufgenommen und als ein literarisches Faszinosum gefeiert. Der Revolutionr Bchner, der sozialkritische Dichter, kam nirgendwo in den Blick.
31 Die Textfassung der Oper Bergs findet sich bei Attila Csampai und Dietmar Holland (Hrsg.): Alban Berg: Wozzeck. Texte, Materialien, Kommentare. – Reinbek bei Hamburg 1985. 32 Zum Gastspiel Steinrcks an der Wiener Residenzbhne vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 169 – 190. 33 Als einziger Nichtschauspieler wirkte der Dichter Franz Blei in der Rolle des Doktors mit.
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Die Auffhrung ist ein erstes Beispiel fr die 31 Jahre spter, nach dem Zweiten Weltkrieg, einsetzende Reihe von Woyzeck-Inszenierungen in kleinen, provisorisch als Spielsttten hergerichteten Rumen und Zimmertheatern.34 Was bislang zuwenig beachtet wurde: Es waren nicht die der Sozialdemokratie zuneigenden Schriftsteller des Naturalismus, die doch Bchner als ihr Vorbild verehrten, nicht deren F.rderer in den Theatern, nicht die Volksbhnenbewegung, die sich mit Erfolg bemhten, den Wozzeck, das erste Werk der deutschen dramatischen Literatur, das einen Mann der Unterschicht zu seinem »Helden« machte, auf die Bhne zu bringen. Es waren Knstler, die dem Adel und dem Bildungsbrgertum entstammten. Zuv.rderst Hofmannsthal, der prgende und fhrende Dichter der Wiener Moderne und Wahrer der Tradition. Dann Alfred Roller, ein Knstler aus brgerlichem Milieu. Beide stellten sich dem Unternehmen der Urauffhrung auch als Mzene zur Verfgung,35 da die Finanzlage an den k.niglichen Hoftheatern in Mnchen recht angespannt war. Schließlich Clemens Freiherr von Franckenstein, Knstler zwar, aber auch der letzte k.niglich bayerische Kavaliersintendant, und Dr. Eugen Kilian. Er war ein Brgerlich-Konservativer, Philologe, Reserveoffizier und Kriegsfreiwilliger des Jahres 1914. Hofmannsthal sah den Wozzeck als ein Werk an, mit dem sich Franckenstein und das Mnchener Hofschauspiel an ein gebildetes, an moderner Literatur interessiertes Publikum wenden sollten.36 In Berlin holte man scharenweise Dozenten und Studenten der Germanistik in die Premiere.37 Steinrck gastierte mit dem Wozzeck in Wien an einem kleinen, dem literarisch interessierten Publikum zugewandten Theater.38 In Leipzig ließ eine brgerliche, patriotische literarische Vereinigung den Wozzeck fr ein bildungsbrgerliches Publikum als knstlerisches wie als gesellschaftliches Ereignis spielen.39 Eine bildungsbrgerliche Vereinigung, die Literarische Gesellschaft, wollte das Mnchener Ensemble mit dem Wozzeck in Dresden sehen,40 eine bildungsbrgerliche Vereinigung, der Verein Frankfurter Kammerspiele, holte Barnowskys Inszenierung nach Frankfurt.41 Der Wozzeck galt, holte man ihn auf das Theater, als ein Stck fr ein brgerliches, literarisches Elitepublikum. So sah es auch Rilke,42 und bis tief in die Zwanzigerjahre hinein wurden Woyzeck-Auffhrungen 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Zu der Leipziger Inszenierung vgl. Wolfram Viehweg 2001, S. 190 – 195. Vgl. ebd., S. 31 u. 45 f. Vgl. ebd., S. 19 f. Vgl. ebd., S. 162 f. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 194. Vgl. ebd., S. 127 f. Vgl. ebd., S. 163 f. Vgl. ebd., S. 133.
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hufig durch Vortrge eingeleitet, mit denen man Leuten im Zuschauerraum, von denen man annahm, daß sie nicht zu dieser Elite geh.rten, die man aber nun nach 1918 verstrkt und mit volkspdagogischem Impetus an die Theaterkunst zu binden suchte, beim Verstndnis des Stckes auf die Sprnge und dem Woyzeck aus dem Eliteghetto helfen wollte. Dieses Elitepublikum war auch in den Großstdten nicht groß. Dennoch: Der Wozzeck hatte bereits bei der Mnchener Urauffhrung als lebenskrftiges Bhnenstck reichsweit in den Feuilletons freudige Rberraschung und Aufmerksamkeit hervorgerufen, sptestens mit der Berliner Inszenierung war er auf dem Theater durchgesetzt. Er hatte in Berlin Erfolg, und ein Werk, das in Berlin so gut angekommen war wie der Wozzeck, wurde auf den deutschen Bhnen nachgespielt. Freilich hatte er diesen Erfolg zu einem denkbar ungnstigen Zeitpunkt, in der letzten Friedensspielzeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Unter den Verhltnissen des Krieges aber gab es auf dem deutschen Theater – mit Ausnahme der Privatauffhrung in Leipzig – keinen Platz fr eine weitere Inszenierung des Wozzeck.43 Dennoch verschwand das Stck seit seiner Urauffhrung nicht mehr von der deutschsprachigen Bhne. Die Auffhrungsserie am Mnchener Hoftheater, dem spteren Nationaltheater, bildete eine Brcke ber die Kriegszeit hinweg. Die erste Wozzeck-Inszenierung nach dem Kriege, noch im Monat der Revolution mit Premiere am 30. 11. 1918 in K.nigsberg an Leopold Jessners Neuem Schauspielhaus, lag vor den letzten beiden Vorstellungen in Mnchen. Die Frhzeit der Bhnenrezeption des Wozzeck ist ausgeleuchtet. Der zweite Teil seiner Inszenierungsgeschichte (1918 – 1945) wird in Fortfhrung des Aufbaus des ersten und in gleicher Weise die Textfassungen, die Interpretation des Werkes in den Regiekonzeptionen, die szenographischen L.sungen, die Darstellung der Rollenfiguren und die Aufnahme der Inszenierungen in der Presse und beim Publikum behandeln. Dabei wird, soweit es das aufgefundene Material irgend gestattet, das gesamte deutschsprachige Theater in den Blick genommen werden. Einzelne, unter theater- oder rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten besonders interessierende Inszenierungen werden eingehender behandelt, so die Berliner Inszenierungen Victor Barnowskys (1920), Max Reinhardts (1921) und Jrgen Fehlings (1927), die Vorgnge anlßlich der Wozzeck-Inszenierung in Halle (1920) und der Inszenierung Ernst Hardts in Weimar (1923), die Inszenierung am Raimundtheater in Wien durch Eugen Kl.pfer (1921), Eugen Kilians zweite Wozzeck-Inszenierung in Kiel (1925) im Vergleich zur Mnchener Urauffhrung, Hans Schweikarts erste Woyzeck-Inszenierung an 43 Vgl. dazu ebd., S. 206 ff.
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den Mnchner Kammerspielen (1925) und die Auffhrung von Franz Theodor Csokors Bchners ›Woyzeck‹ – Versuch einer Vollendung mit dem Exl-Ensemble unter Eduard K.cks Regie am Raimundtheater in Wien (1928). Bei der Darstellung der Spielfassungen der Theater fr den Woyzeck ist zu zeigen, daß man jahrelang, auch nach dem Erscheinen der Ausgaben von Witkowski44 und Bergemann,45 in treuer Anhnglichkeit und unter stolzer Nichtachtung der Ergebnisse philologischer Forschung – die von der Theaterkritik durchaus geteilt wurde – an dem bhnenwirksamen Text von Franzos festhielt und dabei auch gerne die Szenenfolge Landaus benutzte. Spter kam die ebenfalls der Theaterpraxis nahestehende und aus ihr entwickelte Fassung Ernst Hardts46 zu einiger Wirkung. Nur vereinzelt bemhte man sich in den Zwanzigerjahren, die Ergebnisse literaturwissenschaftlicher Forschung auch fr das Theater zu nutzen, oder gar philologische Genauigkeit auch auf der Bhne walten zu lassen. Dies dann keineswegs immer zum Nutzen der theaterknstlerischen Wirkung. Die breite Auffcherung der Interpretationen, die das Werk nun nach der Revolution von 1918 auf dem Theater erfhrt, wird im zweiten Teil der Inszenierungsgeschichte des Woyzeck eingehend behandelt werden. Diese Konzeptionen l.sen einander nicht chronologisch ab, sie gelten nebeneinander, zeitweise mit der Dominanz der einen, zeitweise der einer anderen. Sie durchdringen einander oftmals in ein und derselben Inszenierung, wobei dann einer dieser Aspekte hervorgehoben und betont werden kann. Aufflliges Kennzeichen fr das zeitliche Nebeneinander unterschiedlicher Regiekonzeptionen sind die Wozzeck-Inszenierungen zweier nach ihrer weltanschaulichen Herkunft und nach ihrem knstlerischen Selbstverstndnis ganz und gar unterschiedlicher Wanderensembles. Die Dsseldorfer »Junge Aktion« verstand ihren Wozzeck als aktuelles, politisch-agitatorisches, linkes Kampftheater. Der zu seiner Zeit berhmte »Maskenwagen« Hans Holtorfs gab seinen Wozzeck als ein dem Passions- und Legendenspiel nahestehendes Symboldrama fr das schicksalhaft verhngte Menschheitsleid. Beide bereisten in den Jahren 1923 und 1924 fast gleichzeitig Deutschland. Sie, ihre Wozzeck-Inszenierungen und ihre Zielgruppen im Publikum, werden als Pole, zwischen denen sich die Woyzeck-Interpretationen auf dem Theater bewegten, vergleichend beschrieben. 44 Georg Bchner: Woyzeck. Nach den Handschriften des Dichters hrsg. v. Georg Witkowski. – Leipzig 1920. 45 Georg Bchners S2mtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Fritz Bergemann. – Leipzig 1922 (B 1922). 46 Georg Bchner: Woyzeck. Nach den neu entzifferten Handschriften fr Leser und Bhne hergestellt von Ernst Hardt. – Leipzig 1924.
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Mit der Auffcherung der Interpretationen des Woyzeck auf der Bhne – das soll im zweiten Teil seiner Inszenierungsgeschichte des weiteren gezeigt werden – mußte sich auch die Gestaltung der Rollen verndern. Der Woyzeck verwandelte sich von Steinrcks demtig hinnehmendem, aber immer noch kraftvollem und daher bedrohlichen Mann, ber den von Anfang an gebrochenen, leidenden, ber den seelisch Kranken, der den Widerspruch zwischen seiner Gefhls- und Vorstellungswelt und der ihn umgebenden Realitt nicht aushlt, darber wahnsinnig und zum M.rder wird, bis hin zu Walter Francks hoch empfindsamem Denker und Grbler 1927 in Berlin in der Inszenierung Jrgen Fehlings. Je sensibler und psychologisch komplexer der Woyzeck gestaltet wird, umso lebensgieriger, triebhafter die Marie bis hin zu Lucie Mannheim, der Partnerin Walter Francks, der zeitgen.ssische Presseberichte das »Kolorit des untermenschlichen Weibes«47 und eine »grelle Neigung zum Ordinren«48 nachsagen. Ganz langsam nur und Schritt fr Schritt l.st sich die Darstellung des Hauptmanns und vor allem die des Doktors vom charakterkomischen Fach mit Spitzweg- und E. T. A. Hoffmann-Gestalten als Vorbild und bringt die in ihnen angelegten gefhrlichen, inhumanen Zge ins Bild. Es wird zu zeigen sein, daß der Woyzeck, wie immer die Rolle von den Darstellern aufgefaßt wurde, von einer ganz besonderen Theaterwirksamkeit war, eine großartige und daher begehrte Aufgabe fr Mittelpunktschauspieler und solche, die es werden wollten und zum Teil auch wurden. Es gab keinen Woyzeck in den Zwanzigerjahren, der beim Publikum und in der Presse wirklich »durchgefallen« wre. Im Gegenteil wurde manche gefhrdete Vorstellung durch die Leistung des Woyzeck-Darstellers gerettet. Diese Wirkm.glichkeiten, die die Woyzeck-Rolle einem Schauspieler bot, haben entschieden und unbersehbar zur zgigen Entwicklung der Bhnenlaufbahn des Stckes beigetragen. Wesentlich und wichtig fr die Bhnenlaufbahn des Woyzeck nach dem Ersten Weltkrieg waren die technischen wie die knstlerischen Entwicklungen der Bhnenbildgestaltung in dieser Zeit. Als Beispiel fr den Stand der Szenographie in den Zwanzigerjahren, der es auch Theatern ohne große technische Ausstattung erlaubte, die vielbildrige Szenenfolge des Woyzeck ohne Unterbrechung durch langwierige Umbauten in einem der Handlungsfhrung des Woyzeck angemessenen Tempo auf die Bhne zu bringen, wird die gut dokumentierte Inszenierung Paul Legbands in Stuttgart am Schauspielhaus (1927) vorgestellt. Als einzige mir bekannt gewordene erhaltene geschlossene Folge von Entwrfen fr den Woyzeck durch einen reprsentativen Bhnenbild47 Martin Gruntmann: Neue Berliner Zeitung, 15. 12. 1927. 48 H. Rosenthal: T2gliche Rundschau, 15. 12. 1927, Abendausgabe.
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ner des szenischen Expressionismus werden die Arbeiten von Johannes Schr.der fr die Hamburger Kammerspiele (1927) besprochen. Es wird gezeigt werden, daß sich auch in der Theaterkritik der Tagespresse nach anfnglicher Skepsis, ja energischer Ablehnung Bchners und des Woyzeck aus dramaturgisch-formalen, sittlichen und politischen Grnden, eine rckhaltlose Anerkennung Bchners und seines Werkes als Vorbild und Vollendung der Moderne entwickelt. Es entsteht in der Pressekritik mit wenigen Ausnahmen ganz konservativer Bltter eine regelrechte Bchnereuphorie. Darzustellen ist aber auch, daß das Publikum dieser Entwicklung keineswegs in gleichem Tempo folgt. Es gibt immer wieder Opposition im Zuschauerraum bis hin zum lrmenden Skandal, was dann die Presse zu handfesten Publikumsbeschimpfungen veranlaßte. Fr die neudeutsch »Trendsetter« genannten Kreise in den Theatern und in der Kritik war der Woyzeck »in«. Allein, daß ein Theater den Woyzeck spielte, ob glcklich im Gelingen oder nicht, bringt ihm Anerkennung und Prestige. »An Bchner achtlos vorberzugehen, ist heute keiner verstndigen Bhne mehr m.glich«,49 schreibt schon 1921 ein Kritiker anlßlich einer Auffhrung des Woyzeck in Braunschweig. Regisseure und Intendanten, die ihre Engagements neu antraten, boten gerne den Woyzeck als erste oder eine der ersten Proben ihrer Kunst. Es wird aber auch gezeigt werden mssen, daß man den Woyzeck bis weit in die Zwanzigerjahre hinein vielfach in Sonderveranstaltungen und in kleinen Spielsttten mit wenigen Auffhrungen vorstellte. So auch in Braunschweig. Der Woyzeck galt noch lange zuv.rderst als ein Stck fr eine literarische Elite und seine Auffhrung als eine gewagte Unternehmung, die man vielfach durch die bereits erwhnten einleitenden Vortrge abzusichern suchte. Der erste, der es – zu einem sehr frhen Zeitpunkt – wagte, mit einer Woyzeck-Inszenierung die gr.ßeren Stdte und damit die Nhe eines theatererfahrenen und literaturinteressierten Publikums zu verlassen und das Werk »in der Flche«, in kleinen, theaterlosen Stdten, vorzustellen, war Adam Kuckhoff mit seiner Inszenierung am Frankfurter »Knstlertheater fr Rhein und Main« (1921). Das ist ein vergessenes Verdienst Kuckhoffs um Bchner. Seine Tournee mit dem Woyzeck – entsprechend den damaligen Publikumserwartungen an die Dauer eines vollgltigen Theaterabends, aber wesentlich doch unter dramaturgisch interpretierenden Gesichtspunkten durch die Gretchentrag.die aus Goethes Faust ergnzt – wird nach ihrer Konzeption und ihrer Wirkung eingehend beschrieben. Eine Arbeit, die die Bhnenlaufbahn des Woyzeck darstellen will, hat auch zu fragen, ob die auffallend niedrige Zahl von Woyzeck-Inszenierungen nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten ausschließlich 49 Dr. W. H.: Unbeschrifteter Zeitungsausschnitt im Stadtarchiv Braunschweig.
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auf deren Abneigung gegen Bchner als ein von der deutschen Linken besonders geschtzter Dichter zurckzufhren ist. Diese Auffassung wurde vertreten und das hat gewiß eine Rolle gespielt. Es ist aber auch darauf hinzuweisen, daß zwischen den Spielzeiten 1918/19 und 1929/30 speziell der Woyzeck – abgesehen von den beiden anderen Bhnenwerken Bchners – in 72 Inszenierungen in den weitaus meisten großen und kleinen Theaterstdten, davon 63 im Reichsgebiet, in manchen großen mehrfach, gezeigt wurde. Kein Stck, auch keines der Weltliteratur, kann dem Theaterpublikum einer Stadt, es sei denn dem der Metropolen, im Abstand weniger Jahre in Neuinszenierungen angeboten werden. Im Theaterjargon heißt das, der Woyzeck war »abgespielt«, das Publikum hatte ihn gesehen. Mit einer Woyzeck-Inszenierung war Aufmerksamkeit und Anerkennung bei weitem nicht mehr in dem Maße zu gewinnen wie in den Zwanzigerjahren. Schließlich: Die große Wirtschaftskrise hatte natrlich auch die Bhnen schwer getroffen. Mit dem Woyzeck aber konnte man erfahrungsgemß das dringend ben.tigte Publikum nicht in die Theater locken. Die Woyzeck-Euphorie flaute an den Theatern schon vor der Zeit der Nationalsozialisten rapide ab. In den Spielzeiten 1930/31 und 1931/32 konnte keine Woyzeck-Inszenierung nachgewiesen werden, in der Spielzeit 1932/33 vor dem Januar 1933, im Oktober 1932, nur eine von einer kleinen Vereinigung junger Schauspieler, dem »Studio 33«, in einer Nachtvorstellung im eigens angemieteten Renaissancetheater in Berlin. Auch außerhalb des Machtbereichs der Nationalsozialisten blieb das Interesse der Theater am Woyzeck in den Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges schwach. Es gab noch eine Inszenierung in Innsbruck (1934), eine an der Kleinen Bhne des Deutsches Theaters in Prag (1935), eine in Bern (1937). Im Gebiet des Deutschen Reiches gab es in diesem Zeitraum noch zwei Woyzeck-Inszenierungen, eine in Frankfurt am Main am Schauspielhaus unter der Regie von Peter Stanchina mit Bhnenbildern von Caspar Neher (1937) und eine im Mai 1939 an den Stdtischen Bhnen in Hannover, zusammen mit Kleists Zerbrochenem Krug. In Frankfurt am Main hatte es die letzte Woyzeck-Inszenierung 1921 am »Knstlertheater fr Rhein und Main« gegeben, in Hannover bis dahin noch keine. Beide, die in Frankfurt und die in Hannover, werden im zweiten Teil der Inszenierungsgeschichte des Woyzeck vorgestellt. Im dritten Teil wird das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges umgehend wiedererwachende Interesse der Theater am Woyzeck, die unterschiedliche Rezeption an den Bhnen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, die frhen Inszenierungen auf provisorisch hergerichteten Spielsttten, das Wiederaufleben frherer szenischer Interpretationen des Woyzeck, das Entstehen neuer bis hin zur Aufnahme des Stckes in das Repertoire sommerlicher Freilichttheater und der Umgang eines mit der literarischen 257
Vorlage immer freier schaltenden Regietheaters mit Woyzeck zu behandeln sein. Letzteres soll u. a. in der Betrachtung solch unterschiedlicher Inszenierungen an so unterschiedlichen Orten wie die Willi Schmidts bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen (1969), die von Andreas Kriegenburg an der Berliner Volksbhne (1991) und die von Klaus Weise unter dem Titel Schlachtfest-Woyzeck in Oberhausen (1998) geschehen. Ein Exkurs soll die herausragenden Inszenierungen an nicht deutschsprachigen Theatern behandeln.
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Die Ahnen des politischen Widerstands Zu Wilhelm Liebknechts Vor- und Leitbildern*
Von Ewald Grothe (Wuppertal)
»[O]ben auf dem Marburger Schloß, in einem der inneren H.fe, war die Zelle oder das Burgverließ, in welchem der berall und namentlich im Hessenland, ganz besonders aber in Marburg, dem Schauplatz seiner Lehrttigkeit – er war Universittsprofessor der Rechte und der Staatswissenschaften – , hochangesehene, verehrte und geliebte Mann sein Leben zu vertrauern hatte. Auf mich machte das Schicksal Jordans, dessen Schicksal ich mit dem Schicksal meines Großonkels in Verbindung bringen mußte, einen außerordentlichen Eindruck, und sooft ich als Gymnasiast, und spter als Student von Gießen nach Marburg ›ausflog‹, was sehr hufig geschah, wanderte ich in Marburg hinauf aufs Schloß und suchte hinter dem Gitter die bleichen Zge des Mannes, der nur selten sichtbar war, jedoch auch mitunter gedankenvoll und sehnschtig hinausschaute. Einmal nickte er mir freundlich zu. Er muß in meinen Augen gelesen haben, daß es nicht eitle Neugier und Schaulust war, was mich hergelockt hatte. Von diesen Spaziergngen nach Marburg und aufs Schloß kam ich allemal in großer Aufregung zurck, und der Groll ber die in Deutschland herrschenden Zustnde grub sich mir tiefer und tiefer ein.«1
In seinen vor rund hundert Jahren verfaßten Lebenserinnerungen denkt Wilhelm Liebknecht an seine Zeit als Gymnasiast in Gießen und als Student in Marburg zurck.2 In dieser Zeit besuchte er den im Zusam* Der Beitrag geht auf eine Rede anlßlich der Verleihung des Wilhelm-Liebknecht-Preises der Universittsstadt Gießen im Netanya-Saal des Alten Schlosses am 1. Mrz 1996 zurck. Fr die Durchsicht des erweiterten und um Anmerkungen ergnzten Textes, noch mehr aber fr ihre langjhrige freundschaftliche Verbundenheit danke ich sehr herzlich Ulrich Sieg und Rembert Unterstell. 1 Wilhelm Liebknecht: Erinnerungen eines Soldaten der Revolution. Hrsg. v. Heinrich Gemkow. – Berlin 1976, S. 75 f. 2 Zahlreiche Lebenszeugnisse Liebknechts finden sich in Friedrich Wilhelm Weitershaus: Wilhelm Liebknecht. Das unruhige Leben eines Sozialdemokraten. Eine Biographie (Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, NF 61). – Gießen 1976. Vgl. zudem weiterfhrend: Michael Wettengel: Wilhelm Liebknecht und die Revolution von 1848/49 in Gießen: Politische Vereine und demokratische Traditionen. – In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 78 (1993), S. 178 – 186. Markus Bauer: Passage Marburg. Ausschnitte aus vierundzwanzig Lebenswegen. Mit Beitrgen von Ullrich Amlung und Rolf Bulang. – Marburg 1994, S. 124 – 131. Unzureichend dagegen: Barbara Hndler-Lachmann: Wilhelm Liebknecht in Marburg. – In: Dieter Kramer, Christina Vanja
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menhang mit der Verfolgung sogenannter revolutionrer Umtriebe in den Jahren 1839 bis 1845 auf dem Marburger Landgrafenschloß inhaftierten liberalen Marburger Juristen Sylvester Jordan. Wie wahrheitsgetreu Liebknecht die Situation aus der Rckerinnerung schildert, mag dahingestellt bleiben. Unverkennbar ist die literarische Anleihe an ein Gedicht Franz Dingelstedts ber Jordans Gefangenschaft3 sowie die pathetische Stilisierung der Szene, das Einverstndnis suggerierende Zunicken ebenso wie der Verweis auf den »Groll ber die in Deutschland herrschenden Zustnde«. Aber es fragt sich dennoch, was den Sozialdemokraten und Vertrauten von Karl Marx dazu bewog, eines der politisch einprgsamsten Jugenderlebnisse ausgerechnet mit einem liberalen Politiker zu verknpfen? Und warum geschah dies an so prominenter Stelle in seinen Memoiren? Der Blick auf den autobiographischen Zusammenhang sowie auf Liebknechts Charakter gibt nheren Aufschluß: Der Fhrer der Sozialdemokratie bewunderte an Jordan die Festigkeit, mit der dieser fr seine politischen Ideale eingetreten und dafr immerhin sechs Jahre lang auf dem Marburger Schloß interniert worden war. Was ihm imponierte, war also die dem Opfer politischer Justiz zugeschriebene Charakterhaltung, die Prinzipientreue, mit der Jordan, wie Liebknecht in der ihm eigenen dramatisch berh.henden Sprache es ausdrckte, »jahrelang dort oben geschmachtet, Tantalusqualen erduldend beim Anschauen des Paradieses [gemeint ist Marburg, E. G.], das zu betreten ihm versagt war«.4 Jordan als Staatsgefangener, das war fr Liebknecht, der selbst viele Jahre seines Lebens aus politischen Grnden inhaftiert wurde, ein pers.nliches Vorbild.5 Aber darber hinaus reprsentierte Jordan den heimatlichen Menschenschlag, den »krftigen, unabhngigen Geist«, das »urwchsige, grob und gerade Wesen«, das Liebknecht den Bewohnern der Gegend um Gießen und Marburg generell zuschrieb.6 Allerdings galt die Bewunderung nur Jordans Haltung vor
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(Hrsg.): Universit2t und demokratische Bewegung. Ein Lesebuch zur 450-Jahrfeier der Philipps-Universit2t Marburg (Schriftenreihe fr Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, 5). – Marburg 1977, S. 63 – 71. Liebknecht: Erinnerungen (wie Anm. 1), S. 77 f., zitiert das »Osterwort aus Kurhessen« Dingelstedts von 1840 selbst wenig spter, in dem von Jordans bleichem Antlitz hinter einem Gitter die Rede ist und von Augen, die »nieder in die sch.ne Welt« starren. Abdruck in: Hellmut Seier: Sylvester Jordan und die Kurhessische Verfassung von 1831. Festschrift anl2ßlich der Gedenkfeier fr Sylvester Jordan am 31. Oktober 1981 (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 1). – Marburg 1981, S. 36 f. Liebknecht: Erinnerungen (wie Anm. 1), S. 80. Ebd., S. 82, schreibt Liebknecht am Ende der Schilderung einer Kundgebung zugunsten Jordans vor dem Marburger Schloß und als Motiv fr seine Flucht aus Kurhessen: »Statt mich hier einsperren zu lassen und Jordansche Erfahrungen zu sammeln, war es nicht besser, gleich nach Amerika zu fahren?« Ebd., S. 36.
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und whrend der Haft. Fr den durch die sechsjhrige Inhaftierung eingeschchterten Jura-Professor nach 1845 konnte Liebknecht hingegen nur Spott aufbringen. Ein zweiter Name und ein weiterer politisch Verfolgter, mit dem der junge Liebknecht konfrontiert wurde und an den er sich spter wiederholt erinnerte, ist in der eingangs zitierten Passage bereits kurz angeklungen. Denn Liebknecht verglich das Schicksal Jordans mit dem seines Großonkels, dem Butzbacher Rektor und Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig. Die ungeklrten Umstnde von Weidigs Tod in der Darmstdter Untersuchungshaft im Februar 1837 beeindruckten den Gießener Schler zutiefst. »Ich war«, so hielt er in seinen Memoiren fest, »zu jener Zeit elf Jahre alt. Obgleich man in meiner Gegenwart gar nicht oder nur andeutungsweise von dem Schrecklichen sprach, so kam ich doch hinter die Wahrheit; und hatte ich auch meinen Großonkel […] pers.nlich nicht gekannt, so machte diese entsetzliche Familientrag.die, in der sich mir unsere politischen Zustnde enthllten, einen tiefen, vielleicht fr mein Leben bestimmenden Eindruck auf mich. Einen Eindruck, der sehr oft wiederaufgefrischt wurde, wennschon es einer Wiederauffrischung nicht bedurft htte, um ihn unausl.schlich mir einzubrennen«.7
Der »bloße Name Weidig« sei fr ihn »ein Stachel des Zorns und der Emp.rung, eine Mahnung an mein Gewissen« gewesen; in ihm spiegele sich der »demagogische […] Geist des Umsturzes«.8 Liebknecht stellte Weidig in die Tradition der radikalen Burschenschaftsbewegung nach 1815, der sogenannten Gießener Schwarzen, und konstruierte damit gewissermaßen eine Ahnenreihe des politischen Widerstands in seiner Heimatstadt.9 Liebknecht parallelisierte in plastischer Weise die politische Gefangenschaft der beiden hessischen Landsleute: »Das ›bleiche Bild Jordans‹ stieg vor mir auf, neben ihm die blutige Gestalt Weidigs«. Und er fand rckblickend in beider Schicksal die Handlungsanweisung fr einen ersten Protest gegen die Ungerechtigkeit »der Kabinetts- und Bundestags-Justiz«. »Und es blitzte mir durch den Kopf: Du mußt etwas tun!«10 Aber nicht nur fr Liebknecht, sondern ebenso fr viele andere liberale, demokratische und radikale Zeitgenossen waren die Lebens7 8 9 10 11
Ebd., S. 35. Ebd., S. 36 u. 46. Ebd., S. 36. Ebd., S. 80. Material dazu in: Sylvester Jordan: Selbstvertheidigung in der wider ihn gefhrten Criminaluntersuchung, Theilnahme an Hochverrath betreffend. Nebst der Appellationsschrift seines Vertheidigers, Ober-Gerichts-Anwalt C. F. Schantz zu Marburg, und einer Denkschrift, die Rechtfertigung der Beschwerden und zugleich einen Beitrag zur Lehre vom Indicienbeweise enthaltend von dem Ange-
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wege Weidigs und Jordans insofern vergleichbar, als man in beiden ein Ideal vorfand und stilisierte: den politischen Mrtyrer. Beide waren als Folge ihres politischen Engagements verhaftet worden, mit dem erheblichen Unterschied freilich, daß Jordan zwar politisch kaltgestellt, aber immerhin k.rperlich weitgehend unversehrt 1845 freigelassen und juristisch rehabilitiert wurde.11 Die Ereignisse um Jordan und Weidig hatten zu Liebknechts Jugendzeit Mitte der vierziger Jahre erhebliche Publizitt erlangt: die mehrfach aufgerollten Gerichtsverfahren gegen Jordan und die Ver.ffentlichung der Schrift von Wilhelm Schulz ber den Tod Weidigs12 mobilisierten die deutsche politische Zffentlichkeit in einem bis dahin kaum gekannten Maße. Jordan wie Weidig, und spter auch der standrechtlich erschossene 48er Demokrat Robert Blum,13 verk.rperten fr Liebknecht die Ideale von politischer Wahrhaftigkeit, idealistischer Begeisterung und pers.nlicher Opferbereitschaft. Blum besaß fr ihn »das Geprge eines Helden«, er erschien als »Revolutions-Mrtyrer«, gar als »verk.rperte Revolution«.14 In gezielt pdagogischer Absicht fhrte er dies den Lesern seiner Memoiren vor Augen und stellte sich selbst als politischer Gefangener des Kaiserreichs zugleich ans Ende der Ahnenfolge. Rber seine Gefhlslage vor der Flucht aus Marburg schreibt er im Sommer 1847: »Was soll ich denn hier tun? Was kann ich hier tun? In einem deutschen Gefngnis meine Jugend verlieren, ermordet werden wie Weidig, flgellahm werden im Kfig wie der arme Jordan – dazu habe ich keine Lust«.15
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schuldigten Dr. Sylvester Jordan selbst. – Mannheim 1844; Ferdinand Trinks, Gustav Julius: Sylvester Jordans Leben & Leiden nach seinen eigenen Schriften und einigen anderen Quellen. – Leipzig 1845; Urtheil in der Untersuchungssache gegen Professor Dr. Sylvester Jordan, Dr. Scheffer, Dr. Eichelberg, Dr. Hach, Eberhard von Breidenbach & c. wegen versuchten Hochverraths. Nebst den Entscheidungsgrnden. 2. Aufl. – Marburg 1844; Leopold Eichelberg: Nachtrag zum Jordanschen Criminalproceß, zugleich als Beitrag zur Zeitgeschichte. – Frankfurt a. M. 1853. Biographisch: Gnter Kleinknecht: Sylvester Jordan (1792 – 1861). Ein deutscher Liberaler im Vorm2rz (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur, 8). – Marburg 1983, S. 123 – 157. [Wilhelm Schulz:] Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein actenmßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurtheilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustnde Deutschlands. – Zrich, Winterthur 1843. Robert Blum: Ausgew2hlte Reden und Schriften. Hrsg. v. Hermann Nebel [i. e. Wilhelm Liebknecht]. H. 3: Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. – Leipzig o. J. [1879], S. 8. Darin lobt Liebknecht Schulz Buch ber Weidig als »wahrhaft klassisch«. Weidig wiederum sei »die Seele der Bewegung im Hessischen« gewesen (ebd., S. 4). W.[ilhelm] Liebknecht: Robert Blum und seine Zeit. – 2. Aufl., Nrnberg 1889, S. IVf. Ebd., S. V, bekennt sich Liebknecht auch zur Herausgeberschaft von Robert Blums Ausgew2hlten Reden und Schriften (wie Anm. 13). Liebknecht: Erinnerungen (wie Anm. 1), S. 91.
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Liebknechts Bewunderung fr den Demokraten Weidig ging im Unterschied zu der fr den Liberalen Jordan allerdings ber die Person und ihren vorbildlichen Charakter hinaus. In seinem Großonkel erkannte der Grndervater der Sozialdemokratie vielmehr auch einen politischen Vorfahren. Denn auf Weidig kam Liebknecht im Gegensatz zu Jordan spter mehrfach zu sprechen. Die Ermordung seines »Anverwandten« habe einen »unverl.schlichen Eindruck« auf ihn gemacht, schrieb er beispielsweise in einem Brief aus dem Jahre 1874.16 Indem sich Liebknecht auf Weidig berief, verlngerte er die Traditionslinie der deutschen Sozialdemokratie ber das Jahr 1848 hinaus rckwrts. Den im Durchschnitt knapp zwanzig Jahre jngeren Parteimitgliedern prsentierte sich der 1826 geborene Liebknecht somit als jemand aus der »alten Garde«, der nicht allein ein Kmpfer der 48er Revolution war, sondern der eine Erbschaft des politischen Widerstands pflegte und htete und dessen geistige Wurzeln im Vormrz lagen.17 Bei der Rckerinnerung, die zugleich Suche nach den Ursprngen der eigenen politischen Weltanschauung war, bezog sich Liebknecht nicht zuletzt auf den von Georg Bchner verfaßten und von Friedrich Ludwig Weidig bearbeiteten Hessischen Landboten. Gleich in den ersten Heften der 1876 gegrndeten und von Liebknecht redigierten sozialdemokratischen Zeitschrift Die Neue Welt druckte er die damals 25 Jahre alte Einleitung seines Studienfreundes Ludwig Bchner zu den Nachgelassenen Schriften von dessen Bruder Georg nach.18 Die redaktionellen Eingriffe, die vermutlich von Liebknecht selbst vorgenommen wurden, waren geringfgig, aber dennoch bezeichnend. Er verschrfte den Angriff auf Sylvester Jordan, der, so w.rtlich, »1848 eine so traurige Rolle spielen sollte«, und er stellte Georg Bchner eindeutiger in die demokratische Tradition der Franz.sischen Revolution.19 Mit dem 16 Wilhelm Liebknecht: Briefwechsel mit deutschen Sozialdemokraten. Bd. 1: 1862 – 1878. Hrsg. v. Georg Eckert (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und .sterreichischen Arbeiterbewegung, NF 4). – Assen 1973, Nr. 341, S. 537 ff. (an Carl Hirsch), hier S. 539. 17 Generell zu den Anfngen der Arbeiterbewegung vor und um 1848 ausfhrlich: Thomas Welskopp: Das Banner der Brderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vorm2rz bis zum Sozialistengesetz (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 54). – Bonn 2000. Zur Traditionspflege in Form von Robert-Blum-Feiern: ebd., S. 365. Zu Liebknecht, seinem Nimbus als »Haudegen der Revolution« und seinem Redetalent: ebd., S. 391 f. 18 Ludwig Bchner: Georg Bchner. – In: Die Neue Welt. Illustrirtes Unterhaltungsblatt fr das Volk. Hrsg. v. Wilhelm Liebknecht, 1. Jg. – Leipzig 1876, S. 11 – 14, 19 ff., 27 ff., 37 ff., 55 – 58 u. 63 – 67. Der ursprngliche Text Ludwig Bchners von 1850 findet sich wiederabgedruckt bei Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerst2ndige Klassiker. Einleitungen zu Bchner vom Nachm2rz bis zur Weimarer Republik (Bchner-Studien, Bd. 5). – Frankfurt a. M. 1990, S. 105 – 134. 19 Ebd., S. 14, 19, 27 u. 55. Vgl. dazu Burghard Dedner: Einleitung. – In: ders.: Klassiker (wie Anm. 18), S. 13 – 101, hier S. 53 u. 57, sowie Jan-Christoph Hau-
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Wiederabdruck bereitete Liebknecht das Feld fr die wenige Jahre spter einsetzende klassische Bchner-Deutung der Bismarck-Zeit. Bereits 1879, in der Werkausgabe von Karl Emil Franzos, erschien der Hessische Landbote als die »erste socialistische Flugschrift […] in deutscher Sprache«. Die Sozialdemokraten, so Franzos, erblickten in Bchner den »Johannes, welcher dem Messias Lassalle voranging«.20 Es steht zu vermuten, daß Liebknecht an einer Apotheose ausgerechnet von Lassalle Anstoß genommen hat. Aber die Einschtzung des Hessischen Landboten und seiner Autoren, Bchner und Weidig, konnte er ohne Zweifel teilen. Sie waren aus Liebknechts Sicht die Ahnen des Sozialismus und als solche seine politischen Leitbilder. Die Verlngerung der Vorgeschichte des Sozialismus in Deutschland bis hin zum Landboten muß als Versuch einer Identittsstiftung und als Erfindung einer Tradition beurteilt werden.21 Zugleich aber markieren solche Anstrengungen zu historischer Legitimierung der politischen Bewegung durch ihre vermeintliche Kontinuitt erste Anstze fr die Entstehung einer spezifisch sozialdemokratischen Erinnerungskultur. Fr die Liberalen der Bismarck-Zeit hatte Liebknecht dagegen, besonders wenn es sich um die Bourgeoisie, die Nationalliberalen, handelte, nur Verachtung brig. Den Liberalen des Vormrz – wie Jordan – zollte er bestenfalls eine pers.nliche, nicht aber politische Anerkennung. Ganz im Fahrwasser seines »Lehrmeisters« Karl Marx lobte er die liberal beeinflußte kurhessische Konstitution von 1831 als »die freieste und beste unter den deutschen Verfassungen«.22 Fr die Institution aber, die durch diese Verfassung im Kurfrstentum Hessen installiert wurde, fr ein gewhltes Parlament, fand der Sozialdemokrat meistens nur abfllige Bemerkungen. Ihm gehe es, bekundete er mit Blick schild: Georg Bchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Bchner-Briefen (Bchner-Studien, Bd. 2). – K.nigstein/ Ts. 1985, S. 24 u. 280 – 283; Erich Zimmermann: Wilhelm Liebknecht und Georg Bchner. – In: ders.: »Geht einmal nach Darmstadt …«. Bibliothekarische Skizzen ber Georg Bchner und seine Heimatstadt. Erschienen im »Darmst2dter Echo« 1970 – 1990. – Darmstadt 1993, S. 13 – 16 [zuerst 1973]. 20 Karl Emil Franzos: Georg Bchner. – In: Georg Bchners S2mmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Eingel. u. hrsg. v. Karl Emil Franzos [F]. – Frankfurt a. M. 1879. Zit. nach: Dedner: Klassiker (wie Anm. 18), S. 135 – 233, hier S. 207; vgl. dazu ders.: Einleitung (wie Anm. 19), S. 58. 21 Eric J. Hobsbawm, Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition. – Cambridge etc. 1983. 22 Liebknecht: Erinnerungen (wie Anm. 1), S. 74. Das Urteil von Marx findet sich in Karl Marx: Unruhe in Deutschland. – In: ders., Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. – Berlin 1961, S. 535 – 539, hier S. 536. Der in Paris verfaßte Artikel erschien zuerst am 2. 12. 1859 in der New York Daily Tribune. Zur Fortschrittlichkeit der kurhessischen Verfassung von 1831: Ewald Grothe: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt. Das Kurfrstentum Hessen in der ersten Jra Hassenpflug 1830 – 1837 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 48). – Berlin 1996, S. 112 – 115.
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auf den Reichstag, um eine echte Volksreprsentation, nicht um einen geflschten Parlamentarismus, der nur als »Feigenblatt des Absolutismus« diene und allein eine »Jasagemaschine des Frsten Bismarck« sei.23 Wilhelm Liebknechts Suche nach pers.nlichen und politischen Vorbildern und die daraus resultierende Rckverlngerung sozialdemokratischer Traditionen in den Vormrz hatte schließlich noch eine literarische Sptwirkung. In dem Stck Gesellschaft der Menschenrechte des expressionistischen Dramatikers Franz Theodor Csokor aus dem Jahr 1926 tritt Wilhelm Liebknecht als elfjhriger Gymnasiast dem Gießener Untersuchungsrichter im Weidig-Prozeß Conrad Georgi entgegen. So wie Liebknecht Weidig und Bchner zu Ahnen und pers.nlichen Vorbildern stilisierte, diente er nun selbst als »zukunftsweisende Personifikation« des politischen Widerstands.24
23 Zit. nach Weitershaus (wie Anm. 2), S. 148. 24 Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Bchners (Monographien Literaturwissenschaft, 22). – Kronberg/Ts. 1975, S. 127.
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Ein moderner Dramatiker Ein unbekanntes Zeugnis naturalistischer Bchner-Rezeption aus dem Jahr 1886
Mitgeteilt von Ariane Martin (Mainz)
In der rezeptionsgeschichtlichen Forschung zu Georg Bchner und im allgemeinen literarhistorischen Bewußtsein gilt es beinahe als ein Gemeinplatz, daß »die Naturalisten Bchner entdeckt und sich mit seiner Kunstauffassung identifiziert«1 haben, daß Bchners »Entdeckung in den literarischen Kreisen Berlins«2 in den 1880er Jahren also die breite Rezeption dieses Autors im 20. Jahrhundert einleitete. Die außerordentliche Bedeutung, die der naturalistischen Bchner-Rezeption mit allem Nachdruck beigemessen wird, steht allerdings in einem merkwrdigen Mißverhltnis zu den sprlichen Zeugnissen aus dem Umkreis des Naturalismus, die in der Forschung als Beleg des wirkungsgeschichtlichen Phnomens angefhrt werden. Im Grunde handelt es sich bei diesem Beleg stets nur um ein einziges Dokument, nmlich um das Protokoll des in Berlin ansssigen literarischen Vereins »Durch!«3 vom 17. Juni 1887. An diesem Tag hatte der damals noch nahezu unbekannte Autor Gerhart Hauptmann (1862 – 1946) bei einem Treffen jener eher lokkeren, aus jungen Akademikern, Schriftstellern und Knstlern zusammengesetzten freien literarischen Vereinigung, der es um den Durchbruch des Naturalismus zu tun war, wie der Name »Durch!« verrt, einen »Vortrag ber Georg Bchner«4 (mit Lesung aus Lenz und Dan1 Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Bchners. – Kronberg/Ts. 1975, S. 152. 2 Helmut Schanze: Bchners Sp2trezeption. Zum Problem des »modernen« Dramas in der zweiten H2lfte des 19. Jahrhunderts. – In: Helmut Kreuzer u. Kte Hamburger (Hrsg.): Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. – Stuttgart 1969, S. 338 – 351, hier S. 340. 3 Vgl. zu dieser wichtigen naturalistischen Vereinigung Wulf Wlfing, Karin Bruns u. Rolf Parr (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bnde 1825 – 1933. – Stuttgart, Weimar 1998, S. 83 – 87; Walter Requardt u. Martin Machatzke: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frhwerk. – Berlin 1980, S. 40 f. (mit zuverlssiger Textwiedergabe des »Durch!«-Protokolls vom 17. Juni 1887) sowie Hauschild 1985, S. 269 ff. 4 Verein Durch. Facsimile der Protokolle 1887. Aus der Werdezeit des deutschen Naturalismus. Hrsg. v. Institut fr Literatur- und Theaterwissenschaft zu Kiel. – Kiel 1932, unpaginiert.
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tons Tod) gehalten, eine offenbar beeindruckende Prsentation, ber die anschließend anscheinend rege diskutiert und die insgesamt wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, wie das Protokoll zusammenfassend festhlt. Dort heißt es: »Die krftige Sprache, die anschauliche Schilderung, die naturalistische Charakteristik des Dichters« Bchner »erregen allgemeine Bewunderung.«5 Außer dem Referenten Gerhart Hauptmann waren an diesem 17. Juni 1887 in der Berliner Kneipe, in welcher der »Durch!« sich traf, noch insgesamt sieben Personen anwesend:6 unter den Mitgliedern (wobei es eine formelle Mitgliedschaft nicht gegeben zu haben scheint und eher von einer »Kerntruppe«7 zu sprechen ist) zunchst der Vorsitzende und Protokollant Leo Berg (1862 – 1908), dann der Literarhistoriker und zweite Vorsitzende des »Durch!« Eugen Wolff (1863 – 1929), der seinen fr den Naturalismus programmatischen Essay Die jngste deutsche Litteraturstr,mung und das Prinzip der Moderne zuerst im September 1886 als Vortrag im »Durch!« gehalten hatte, und Julius Trk (1865 – 1926), ein ehemaliger Wanderschauspieler und Sozialdemokrat, außerdem die vier Gste Carl Hauptmann (1858 – 1921), der Bruder des Referenten, der Philologe Richard M. Meyer (1860 – 1914), der neben Erich Schmidt wichtigste Schler Wilhelm Scherers, sowie die Schriftsteller Emil Mark (1864 – 1942) und Eduard Grosse (1858 – ?). Das Protokoll vermerkt aus der Diskussion lediglich zwei individuelle Stellungnahmen zu Bchner. Der »Genosse Wolff« habe auf die Bchner »zu teil gewordene Vernachlssigung seitens der Litteraturgeschichte« hingewiesen und bemerkt, »daß die aus dem Novellen-Fragment ›Lenz‹ vorgetragene Parthie durch Eint.nigkeit ermde, die Schilderung nicht konzentriert genug sei« (eine Einschtzung, die »nicht von allen geteilt« wurde), der »Genosse Berg«, der Protokollant selbst also, meinte, Bchner habe »etwas Ungeklrtes, Strmisches«, er habe »nicht zur vollen Entfaltung gelangen« k.nnen, »whrend die znftige Litteraturgeschichtsschreibung nur das Ausgereifte gelten lasse und anerkenne.«8 Trotz der breiten Zustimmung zu Hauptmanns Vortrag sind also auch kritische T.ne zu konstatieren, wobei der positive Gesamteindruck, den man sich von Bchner machte, sicherlich berwog. Whrend Wolff etwas pdagogisierend formale Kritik an Bchners Erzhltext bte, richtete sich Bergs Kommentar eher gegen die akademische Zunft mit ihren Normsetzungen, gegen die gngige Literaturgeschichtsschreibung 5 Ebd. 6 »Anwesend sind die Mitglieder Berg, Wolff, Trk, Gerhardt Hauptmann, und die Gste[,] die Herren Dr. Hauptmann, Meyer, Mark, Grosse. Es fehlen Heinrich und Julius Hart, Wille, Lenz, Kster u. Waldauer.« Ebd. 7 Katharina Gnther: Literarische Gruppenbildung im Berliner Naturalismus. – Bonn 1972, S. 60 f. 8 Verein Durch (Protokoll vom 17. Juni 1887), unpaginiert.
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des 19. Jahrhunderts, zu der aber auch der junge Literarhistoriker Wolff ein distanziertes bis ablehnendes Verhltnis hatte. Auf die nur umrißhaft zu rekonstruierende Diskussion im Anschluß an Hauptmanns Vortrag ist bisher in der Forschung nicht nher eingegangen worden, ist sie doch zu drftig berliefert, als daß man andere Rckschlsse ziehen k.nnte als die allgemeine Annahme einer grundstzlich positiven Haltung der im »Durch!« versammelten Naturalisten gegenber Bchner. Whrend die Zuh.rer durchaus von Bchner angetan waren, scheint der Referent sich ausgesprochen begeistert zu seinem der Runde prsentierten Gegenstand verhalten zu haben. Im Einzelnen zu berprfen ist dies nicht. Hauptmanns Redemanuskript ist nicht erhalten. Erhalten ist lediglich das immer wieder zitierte Protokoll dieser Sitzung, auf die Hauptmann noch rund ein halbes Jahrhundert spter in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend zu sprechen kommt, nmlich darauf, daß er in jungen Jahren ber Bchner »im Verein ›Durch!‹ einen Vortrag gehalten habe«, daß Bchners Werk ihm »gewaltigen Eindruck gemacht« und daß er geradezu einen »Kultus«9 mit diesem Autor getrieben habe. Entsprechend gilt in der Forschung Bchner »fr den j u n g e n Hauptmann« als »der wesentliche M e n t o r«10 und das frhe »Bchner-Erlebnis« als »Hauptmanns Sternstunde«,11 quasi als Initialzndung des Schriftstellers Gerhart Hauptmann, dessen in Stoffwahl und Erzhlweise von Bchner inspirierte frhe Erzhlungen Bahnw2rter Thiel (zuerst erschienen 1888 im Oktober-Heft der Gesellschaft) oder Der Apostel (zuerst erschienen 1890 im Juni-Heft der Modernen Dichtung) bald darauf entstanden, bevor Hauptmann als Dramatiker zum Durchbruch des Naturalismus beitrug, zu dessen bekanntesten Vertretern er heute geh.rt. Mangels weiterer Zeugnisse jedenfalls gilt Gerhart Hauptmann als Gewhrsmann naturalistischer Bchner-Rezeption, zumal aufgrund der positiven Resonanz bei den Zuh.rern seines Vortrags am 17. Juni 1887 im »Durch!« ohne weiteres auf ein reges Interesse anderer Naturalisten an Bchner geschlossen wurde und durchaus plausibel zu schließen ist. Unter Hinweis auf Hauptmanns Vortrag spricht auch Dietmar Goltschnigg im ersten Band seiner unlngst erschienenen Textsammlung Georg Bchner und die Moderne, der dem Zeitraum von 1875 bis 1945 gewidmet ist, davon, daß Bchner »zu einem der wichtigsten Vorbilder des Naturalismus erhoben« und 9 Gerhart Hauptmann: S2mtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Hrsg. v. Hans-Egon Hass. Bd. 7: Autobiographisches. – Berlin 1963, S. 1061. 10 Ulrich Kaufmann: »Er ward zum Heros unseres Heroons erhoben«. Zur Bedeutung Georg Bchners fr das Frhwerk Gerhart Hauptmanns. – In: Peter Mast (Hrsg.): »Es steckt Ungehobenes in meinem Werk…«. Zur Bedeutung Gerhart Hauptmanns fr unsere Zeit. – Bonn 1993, S. 63 – 70, hier S. 70. Sperrung original. 11 Klaus D. Post: Gerhart Hauptmann. Bahnwrter Thiel. Text, Materialien, Kommentar. – Mnchen 1979, S. 103.
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geradezu als »Zeitgenosse des Naturalismus«12 aufgefaßt worden sei. Als Beleg hierfr ist – versehen mit der Jahresangabe 1887 – als einziges naturalistisches Zeugnis wiederum lediglich jenes eine gute halbe Druckseite umfassende Protokoll des »Durch!« zu Hauptmanns Bchner-Vortrag mit anschließender Diskussion leicht gekrzt abgedruckt (leider unter anderem mit einer Namensverlesung).13 Das genaue Datum des 17. Juni 1887 ist bei Goltschnigg dann im Kommentar nachzulesen.14 Nun existiert ein weiteres und frheres Textzeugnis naturalistischer Provenienz, welches Bchner mit einiger Emphase als Vorbild des Naturalismus proklamiert und zwar ausdrcklich als Dramatiker! Knapp ein dreiviertel Jahr bevor Gerhart Hauptmann an diesem 17. Juni 1887 in der naturalistischen Vereinigung »Durch!« seinen inzwischen berhmten Vortrag ber Georg Bchner hielt, war am 30. Oktober und 6. November 1886 im Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes unter dem Verfassernamen H. Freistett ein inzwischen vollstndig vergessener zweiteiliger Artikel erschienen, dessen schlichter Titel Ein moderner Dramatiker zunchst nicht verrt, daß es sich dabei um einen recht umfangreichen Essay ber Georg Bchner handelt.15 Dieses bislang unbekannte Zeugnis naturalistischer Bchner-Rezeption, das in Goltschniggs verdienstvoller und als »umfassende Dokumentation«16 angelegter Sammlung Georg Bchner und die Moderne fehlt, sei im folgenden nach dem nicht leicht greifbaren17 Erstdruck von 1886 im Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes, der bisher einzigen Ver.ffentlichung dieses Textes, mitgeteilt. Vorab Folgendes: Der Publikationsort ist fr den Naturalismus nicht anders als prominent zu bezeichnen. Das Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes – im betreffenden Zeitraum von Karl Bleibtreu herausgegeben und von Wilhelm Friedrich verlegt – hat ohne Abstriche 12 Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Bchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 1: 1875 – 1945. – Berlin 2001, S. 21. 13 Vgl. ebd., S. 149 das dortige Dokument 7: »Protokoll des Berliner Dichtervereins ›Durch!‹ (1887)«. Der edierte Text weist etliche Abweichungen zum berlieferten Faksimile des Protokolls auf. Eine Bemerkung des »Genosse[n] Berg« (so die zweifelsfreie Lesart im Faksimilie des Erstdrucks; vgl. Verein Durch) wird Rudolf Lenz (1863 – ?) zugesprochen, obwohl es im einleitenden Teil des Protokolls vom 17. Juni 1887 (den Goltschnigg nicht mitteilt) ausdrcklich heißt, daß dieses Mitglied fehle. 14 Vgl. Goltschnigg (Hrsg.): Georg Bchner und die Moderne, S. 478. 15 Vgl. H. Freistett: Ein moderner Dramatiker. – In: Das Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes, Jg. 55, Bd. 110, Nr. 44 vom 30. 10. 1886, S. 690 – 692 und Nr. 45 vom 6. 11. 1886, S. 709 – 712. 16 Goltschnigg (Hrsg.): Georg Bchner und die Moderne, S. 13. 17 Es erbrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß das Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes zu den Rara in Bibliotheksbestnden geh.rt und gerade der Jahrgang 55 selten ist.
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als »publizistisches Zentrum der Frhnaturalisten«18 zu gelten. Dort hatte beispielsweise Eugen Wolff wenige Wochen nach Erscheinen des Essays Ein moderner Dramatiker am 18. Dezember 1886 die Thesen der freien litterarischen Vereinigung »Durch!« publiziert,19 ein Indiz dafr, daß Wolff als tragendem Mitglied des naturalistischen Vereins der Artikel ber Bchner im Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes bekannt gewesen sein k.nnte, bevor er dann im Sommer 1887 im »Durch!« einen Vortrag ber diesen Autor zu h.ren bekam. Schwierigkeiten bereitet der Verfasser, der gewissermaßen anonym bleibt. Rber H. Freistett ist Nheres nicht zu ermitteln.20 Der Verfasser des Essays Ein moderner Dramatiker drfte jedoch in demselben akademischen Milieu zu situieren sein, in dem viele der Mitglieder und Gste des naturalistischen Vereins »Durch!« sich bewegten, nmlich im Umkreis der bekannten Scherer-Schule, wie der abschließende Hinweis wertschtzender Tendenz auf den kurz zuvor verstorbenen Literaturwissenschaftler Wilhelm Scherer in diesem Text verrt. Auch die zwar sympatisierende, nichtsdestoweniger aber durchaus ambivalente Haltung des Verfassers zu politisch revolutionrem Handeln im Allgemeinen, zur unter den Sozialistengesetzen leidenden Sozialdemokratie im Besonderen, entspricht der charakteristischen Haltung der frhen Naturalisten. Bemerkenswert an dem Artikel Ein moderner Dramatiker ist außerdem, daß H. Freistett sich nicht nur wie nach ihm Gerhart Hauptmann21 auf Karl Gutzkows Rezension von Dantons Tod im Ph,nix vom 11. Juli 1835 bezieht (außerdem auf Gutzkows Sammlung Mosaik. Novellen und Skizzen aus dem Jahr 1842), sondern daß er sich auch ausdrcklich und ausfhrlich auf die 1879 von Karl Emil Franzos herausgegebene und mit einer umfangreichen Einleitung versehene Ausgabe Georg Bchners S2mmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß beruft – wie nach ihm Gerhart Hauptmann, der seinen Vortrag im »Durch!« spter sogar als Rezension dieser Ausgabe, als Buchbesprechung, erinnerte: »Eine neue Ausgabe von Georg Bchner, besorgt durch Karl Emil Franzos, lag damals vor. Ich besprach sie in 18 Manfred Hellge: Der Verleger Wilhelm Friedrich und das »Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes«. Ein Beitrag zur Literatur- und Verlagsgeschichte des frhen Naturalismus in Deutschland. – In: Archiv fr Geschichte des Buchwesens 16 (1980), Sp. 791 – 1216, hier Sp. 933. 19 Vgl. Manfred Brauneck u. Christine Mller (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900. – Stuttgart 1987, S. 58 ff. 20 Ein Autor H. Freistett ist ber die blichen Hilfsmittel (auch Pseudonymenlexika) nicht zu ermitteln, zumal das ursprnglich rund 60.000 Originalbriefe enthaltende Verlagsarchiv von Wilhelm Friedrich mitsamt den Redaktionsarchiven des Magazins vernichtet ist. Vgl. Hellge: Der Verleger Wilhelm Friedrich, Sp. 830 ff. 21 Im »Durch!«-Protokoll vom 17. Juni 1887 ist von »einem kurzen Zitat aus Gutzkows Besprechung von Bchners ›Dantons Tod‹ in der Zeitschrift ›Ph.nix‹« die Rede. Verein Durch, unpaginiert.
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unserem Vereine.«22 Aus dieser Ausgabe, mit der Franzos die »Wiederentdeckung des hessischen Dichterrevolutionrs einleitete«,23 hat Freistett reichlich zitiert. Sein Artikel, der sich im Rahmen einer Gesamtschau von Leben und Werk sehr ausfhrlich mit dem politischen Engagement Bchners und insbesondere mit der Flugschrift Der hessische Landbote sowie mit dem nahezu berschwenglich gefeierten Drama Dantons Tod befaßt, zitiert beispielsweise ausfhrlich aus Franzos »romanhafte[r]«24 Einleitung den Passus, wo Franzos dem aus Straßburg nach Gießen zurckgekehrten Bchner binnen »weniger Monate« eine »radicale Wandlung« seiner »politischen Anschauungen« attestiert.25 Nichtsdestoweniger handelt es sich bei dem im Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes publizierten Aufsatz um einen sehr eigenstndigen Text, um einen programmatischen Essay, der unter Berufung auf Georg Bchner fr eine naturalistische, fr eine moderne Isthetik pldiert. Insgesamt – dies soll hier nur angedeutet werden, denn der Text Ein moderner Dramatiker spricht fr sich – argumentiert H. Freistett mit seinem Interesse an realistischer Darstellungskunst oder an den sozialen und politischen Zeitumstnden, mit seiner Polemik gegen berkommene literarische Traditionen oder mit seinem entschiedenen Pldoyer fr die Moderne ganz charakteristisch fr den Naturalismus. Festzuhalten bleibt, daß der Essay Ein moderner Dramatiker an prominenter Stelle, nmlich in einer der wichtigsten Zeitschriften des Naturalismus, explizit und mit ausgesprochener Rberzeugung auf Georg Bchner aufmerksam machte, indem er ihn als Vorlufer des Naturalismus proklamierte: »In der Tat! Ein echter moderner Dichter!« Dieser Aufruf entspricht der Diktion des ganzen Textes. Angesichts dieses Essays aus dem Jahr 1886 gilt es die bisher als verbindlich artikulierte Ansicht zu relativieren oder gar zu revidieren, der Bchner-Vortrag Hauptmanns am 17. Juni 1887 vor sieben Zuh.rern habe die Entdeckung Bchners im Naturalismus eingeleitet. Ein moderner Dramatiker aber sei hier nicht weiter kommentiert, sondern zunchst einmal mitgeteilt. Die Originalpaginierung aus dem Magazin fr die Litteratur des In- und Auslandes ist durch Seitenangaben in spitzen Klammern kenntlich gemacht. Abweichungen von der Vorlage (Verzicht auf Text, der durch Aufl.sung der zwei Folgen berflssig wurde, Korrektur bei offensichtlichen Druckfehlern, in zwei Fllen bei fehlerhafter Schreibung von Namen) sind abschließend aufgelistet. 22 Hauptmann: S2mtliche Werke, Bd. 7, S. 1055. 23 Dietmar Goltschnigg: Die Wiederentdeckung Georg Bchners durch Karl Emil Franzos. – In: Dietmar Goltschnigg u. Anton Schwob (Hrsg.): Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. – Tbingen 1990, S. 75 – 88, hier S. 75. Vgl. auch Dedner: Einleitungen, S. 33 – 45. 24 Dedner: Einleitungen, S. 45. 25 Vgl. ebd., S. 170 f. die Passage bei Franzos, die Freistett (Zeile 143 – 153) zitiert.
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ÆTextæ
Ein moderner Dramatiker. Von H. Freistett. Am 17. Oktober, dem Jahrestag der Schlacht bei Leipzig, werden einige Liebhaber Gelegenheit gehabt haben, den Geburtstag eines Dichters zu feiern, den die Nation kaum kennt. Er hieß G. B c h n e r. Warum wir mit diesen Zeilen dazu beitragen wollen, das Gedchtnis dieses Jnglings zu erneuern, der in unseren Litteraturgeschichten meist nur so nebenhin Erwhnung zu finden pflegt, dieses Jnglings, der außer zwei Dramen seiner Nation nur ein paar Fragmente hinterließ? Nun! Weil ihn diese wenigen Werke als einen der genialsten Dramatiker kennzeichnen, die uns in der Geschichte unserer dramatischen Litteratur begegnen, und nicht nur das: weil uns seine dichterischen Leistungen eine Prophezeiung, eine bedeutsame Vorahnung des deutschen Dramas, des deutschen Dramas der Zukunft zu sein dnken. Dieser dreiundzwanzigjhrige Jngling schien vom Schicksal bestimmt, der deutsche Shakespeare zu werden. G. Bchner*) wurde Sonntag, den 17. Oktober 1813, an dem Tage, wo die ungeheure V.lkerschlacht Atem sch.pfte zum letzten, entscheidenden Ringen, zu G o d d e l a u, einem D.rfchen bei Darmstadt, dem Distriktsarzt Dr. Ernst Bchner geboren. Zwei entgegengesetzte Einflsse waren es, die seinen Charakter von zartester Kindheit an zu einem echt, von Grund aus modernen formten. Vom Vater erbte er eine eiserne Willenskraft, einen unerbittlichen Trotz, einen fast beispiellosen Fleiß, einen klaren, unbestechlichen Verstand und – seine religi.se Skepsis: von der Mutter – Karoline Bchner – sein Verm.gen dichterischen Anschauens der Natur, »ein leidenschaftliches Mitleid« mit allen Unterdrckten, Notbeladenen, das ihn spter zu einem fast tollkhnen Kmpfer fr die Freiheit seines weiteren und engeren Vaterlandes machte. Von seinem zehnten Jahre an besuchte er das Gymnasium zu D a r m s t a d t, wohin sein Vater drei Jahre nach der Geburt Georgs zu einem erweiterten Wirkungskreis berufen war. Nie wohl besuchte ein eigenartigerer Knabe jene Anstalt! Sein scharfer Verstand geriet gar bald in Kollision mit den beispiellosen Verkehrtheiten des damaligen Lehrplanes. Der todte Formelkram der klassischen Bildung, mit dem man damals in ganz unglaublicher Weise berladen wurde, erweckte ihm einen krftigen Widerwillen, und er wandte seinen ganzen Eifer den Realien, namentlich den Naturwissenschaften zu. Sie wurden freilich auf der Schule beraus stiefmtterlich behandelt: doch bildete sich der Knabe an der Hand geeigneter Lehrbcher selbst hierin weiter, auch mochte der Einfluss der Studien seines Vaters ihm f.rderlich sein. Aeußerst interessant ist es zu beobachten, wie der Knabe an *) Die folgenden biographischen Daten sttzen sich meist auf die Biographie, die C. E. Franzos seiner bei Sauerlnder in Frankfurt a/M. 1879 erschienenen Ausgabe der hinterlassenen Schriften G. Bchners vorausschickte.
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den oben erwhnten Verkehrtheiten des Lehrplanes ungescheute Kritik bt. Er bringt dieselbe meist in Gestalt von Marginalglossen in seinem Schulheft an. Da schreibt er z. B.: »Von dem Nutzen der Mnzkunde (die damals in einem respektablen Umfange dem Lehrplane eingefgt war). Sie bringt Langeweile und Abspannung hervor, und schon diese Symptome sind ja in den Augen jedes echten, tiefer in dem Geist der Alten eingedrungenen 45 Philologen der schlagende Beweis fr den Nutzen dieses Studiums. O Herr Doktor! Was sind Verstand, Scharfsinn, gesunde Vernunft? Leere Namen! – Ein Dngerhaufen todter Gelehrsamkeit – dies ist das allein wrdige Ziel menschlichen Strebens!« 40
»O Tr.del, der mit tausendfachem Tand In dieser Mottenwelt mich drnget!«
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setzt er diesem Hefte als Motto vor. Trotz dieser tiefgewurzelten, energischen Abneigung gengte er aber doch den Anforderungen soweit, dass er zu den besten Schlern gezhlt wurde. Schon in diesen Jahren lassen sich auch Spuren einer religi.sen Skepsis bei Bchner beobachten, die ja der Knabe leicht im elterlichen Hause aufnehmen konnte, da sein Vater trotz der Loyalitt seiner politischen Ansichten in religi.sen Dingen v.llig vorurteilslos dachte. In seinen Religionsheften versieht er z. B. den Satz: »Mit der Ehrfurcht vor Gott ist die Demut verbunden« mit einer Reihe von Fragezeichen. Wie berhaupt gegen jede Autoritt, so wendete er sich auch gegen die der Kirche und die des Staates. In gr.ßerer Bestimmtheit freilich gegen letztere erst in den letzten Jahren seines Aufenthaltes auf der Schule. Seine Ansichten hatten sich aber damals in ganz erstaunlicher Weise geprgt und befestigt, so dass der J n g l i n g Anschauungen hatte, die mancher M a n n mit ihm teilt und besonders damals mit ihm teilte. Der jugendliche Politiker wendet einen glhenden Hass gegen alle Æ691æ Unterdrcker und schwrmt fr Revolution und Republik. In dieser Zeit gewann Bchner auch erst die ausgesprochene Neigung, sich sthetisch an den Werken großer Dichter zu bilden, welche ihm bisher fast ganz gefehlt hatte. Sein Geschmack neigte sich vorwiegend der poetischen Verwertung realer Lebenszustnde zu; so verschlang er »Des Knaben Wunderhorn«, Herders »Stimmen der V.lker«, zogen Goethe, Shakespeare, Homer ihn mchtig an. Hingegen hatte er einen Widerwillen gegen den Idealismus und die Rhetorik Schillers. Auch die franz.sische Litteratur beschftigte ihn sehr. Bei alledem brachte er es damals aber noch nicht zu eigenen Produktionen. Niemand ahnte in dem Jngling den knftigen genialen Dichter; man traute ihm h.chstens zu, dass er einmal ein tchtiger Naturwissenschaftler werden wrde. Im September 1831 verließ er das Gymnasium, um in den ersten Tagen des Oktober nach S t r a ß b u r g abzureisen und dort das Studium der Medizin, besonders der Naturwissenschaften, aufzunehmen. Die Fakultt war damals vortrefflich besetzt und so warf sich Bchner mit vollem Eifer auf seine Studien, nicht ohne daneben neuere Sprachen, besonders Italienisch, autodidaktisch sich anzueignen, sowie auch littera-
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risch-sthetische Studien zu treiben. Auch die franz.sische Litteratur studierte er damals eingehender und las eifrig in Viktor Hugos und Alfred de Mussets Schriften hinein. Aber die Wogen der Zeit gingen zu hoch, dass sie nicht einen so lebendigen Geist, wie Bchner, aus der stillen Zurckgezogenheit dieser Studien mit in ihre Strudel gerissen htten, ihn, dessen Lebensmotor, nach dem Ausspruch seines Biographen, stets der politische Enthusiasmus war. Erst ein Jahr war seit der Pariser Julirevolution vergangen, als Bchner nach Straßburg kam und berall waren noch ihre nchsten Folgen zu spren; eine allgemeine Spannung beherrschte die Gemter; berall trumte man von Freiheit und Menschenrechten. Namentlich in den Rheingegenden und besonders in Straßburg. Hier emp.rte man sich gegen das juste milieu; hier war es kurz vor Bchners Ankunft zu blutigen Revolten gegen das Kabinet PUrier gekommen. Dazu: In Belgien, Polen heller Aufruhr; in Deutschland berall Unruhen. Der achtzehnjhrige Jngling nahm an allen diesen Ereignissen lebhaftesten Anteil und bekam Gelegenheit, seinen politischen Ansichten ein bestimmtes Parteigeprge zu geben. Seine republikanischen Ideen und Grundstze verschrften sich bis zum schonungslosesten Radikalismus. Aber doch sah dieser Jngling klarer als die meisten Mnner, die damals fr Pressefreiheit, Menschenrechte und dergleichen schwrmten. Sein scharfer Verstand ließ ihn die Unm.glichkeit, die Ueberspanntheit so vieler damaliger Forderungen, die Inopportunitt einer Revolution klar und deutlich erkennen. Die Schwrmereien, die pomphaften, .ffentlichen Kundgebungen, mit denen man damals sehr freigebig war, besp.ttelte er als Kom.die. Er sah tiefer als die meisten Patrioten jener Tage und erkannte den Geist des Jahrhunderts der Revolutionen, erkannte die soziale Notlage, bezw. die »Magenfrage« als den innersten Motor derselben. Bchner war hierin Sozialdemokrat. Freilich war er weit entfernt von den berspannten sozialistischen Trumen dieser Partei, welcher er das Recht der individuellen Freiheit stets ihren utopistischen Zentralisationsgelsten, einen vernnftigen Patriotismus ihren vagen kosmopolitischen Trumereien entgegensetzte. Ueberhaupt: Rberall tritt er uns als unerbittlicher Realist und Positivist entgegen. Bei dieser regen Anteilnahme an den politischen Tagesereignissen fand er aber doch auch Zeit der sch.nen Natur des Elsasses gleich dem jungen Goethe ihr Recht widerfahren zu lassen, und sie grndlich mit einem zahlreichen Freundeskreise, dem die Gebrder St.ber z. B. angeh.rten, zu genießen. Und wie jenem die Liebe zu Friederike Brion den Genuss jener herrlichen Natur erh.hte und vertiefte, so unserem Bchner die Liebe zu Wi l h e l m i n e, der Tochter des Pastors J a e g l U, bei dem er Wohnung genommen hatte und der heimlich fr deutsche Interessen in dem v.llig franz.sisierten Elsass Propaganda machte. Der eigenartige Briefwechsel,*) den er spter von Gießen aus mit ihr unterhielt, wirft ein bedeutsames Streiflicht auf den Charakter dieses eigentmlichen Mdchens. Er muss der energischen, krftigen Art Bchners hnlich gewesen sein. War sie *) Man vergleiche die Briefe Bchners an seine Braut in der oben citierten Ausgabe von Franzos.
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doch fhig, die Seelenkmpfe des Geliebten whrend seiner Gießener Zeit mitzutragen, mit ihm durchzukmpfen. Nicht lange noch, nachdem sich die beiden gefunden, war es ihm indes verg.nnt in der Nhe der Geliebten zu weilen. Nach den Landesgesetzen musste er, wenn er auf eine sptere Anstellung rechnen wollte, seine Studien nun auf der Landesuniversitt Gießen zu Ende fhren. So bezog er denn dieselbe nach zweijhrigem Aufenthalt in Straßburg in den ersten Tagen des Oktobers 1833. Von hier an hat sein Biograph eine fast gnzliche Aenderung seiner, namentlich politischen, Gesinnungsweise, zu konstatieren. War er nmlich bisher zu den demokratischen und revolutionren Bewegungen in Deutschland nicht in engere Beziehung getreten, hatte er sogar ber sie gespottet, so sehen wir, wie er sich jetzt mit einer fast leidenschaftlichen Tollkhnheit in sie strzt. »Nur selten ist es wohl eines Biographen Pflicht gewesen, eine so radikale Wandlung seines Helden binnen gleich kurzer Frist festzustellen und zu erlutern, als mir hier zur Aufgabe wird. Der Jngling, der am Rhein stolzfr.hlich im Glck der Liebe und der Freundschaft, in der Freude an seinen Studien, im Zauber der Æ692æ Natur geschwelgt, der mit so ungemeiner Entschiedenheit auch eine ungemeine Klarheit der politischen Anschauungen verbunden, und sich so schroff von »revolutionren Kinderstreichen« abkehrte, derselbe Jngling strzt sich in Gießen, ein einsamer, verbitterter Mensch, mit sich und der Welt zerfallen, kopfber in dieselbe Bewegung, die er schon aus der Ferne so richtig taxiert, und obwohl ihm die Nhe nur handgreiflich gelehrt, was er in der Ferne geahnt,« sagt Franzos. Dass er sich jetzt auf Veranlassung seines Vaters ganz der Medizin zuwenden musste, die ihn durchaus abstieß, dass er untreu gegen seine Neigung, diesem Studium alle seine Krfte widmen musste, war wohl die ußere Veranlassung zu dieser Seelenstimmung. Hierzu kamen wohl noch als innere Grnde die trostlose, soziale Lage, die damaligen politischen Wirren, die sein scharfer, klarer Verstand so richtig auffasste, um seine bisherige Weltanschauung zu trben. In einem hastigen, oberflchlichen Studium der Geschichte und der Philosophie fand sein qulender Pessimismus statt Beruhigung nur Belege fr seine trbe Weltanschauung. Die Briefe, die er damals an seine Braut richtete, geben von seinem Seelenzustande erschtternde Beweise. In einem dieser Briefe heißt es: »Ich fhle mich wie vernichtet unter dem grsslichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhltnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle; die Gr.ße, ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lcherliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen, das H.chste, es zu beherrschen, unm.glich. Es fllt mir nicht mehr ein, vor den Paradegulen und Eckenstehern der Geschichte mich zu bcken.« So lsst es sich wohl erklren, wenn ihn gleichsam eine Begier sich zu betuben, seine innere Verzweiflung durch irgend eine aufregende Ttigkeit zu ersticken, der politischen Bewegung in die Arme trieb. Es war die Zeit kurz vor dem Frankfurter Tumulte. Der Butzbacher Rektor We i d i g und Andere unterhalten berall in Hessen eine rege Agitation und berei-
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teten jenen tragikomischen Frankfurter Krawall vor. Als Bchner mit diesen Mnnern in Berhrung kam, kostete es ihm einige Mhe sich mit ihnen, die fr ein christlich-protestantisches Kaisertum schwrmten, zu verstndigen, dennoch kam ein Kompromiss zu Stande. Vor allem drang Bchner bei seinem praktischen Sinn, auf eine straffere Organisation der revolutionren Bewegung, und sie wurde auch bis zu einem gewissen Grade erreicht. Ueberall grndete man auf seine Anregung hin geheime »Gesellschaften der Menschenrechte«, die fortwhrend eine enge Fhlung mit einander hatten. Bchner selbst suchte durch Flugschriften die Idee der Revolution in immer weitere Kreise zu tragen. So entstand damals die erste sozialdemokratische Flugschrift in Deutschland, welche die hessische Landbev.lkerung, die sich in den letztvergangenen Jahren mehrfach gegen den unerh.rten Steuerdruck, der auf ihr lastete, in blutigen Aufstnden gewehrt hatte, gewinnen sollte. »Der hessische Landbote« hieß jenes Pamphlet. Es ist in der Ausgabe von Franzos abgedruckt, freilich in der von Weidig im christlich-protestantischen Sinne verstmmelten Form. Immerhin tritt die Eigenart seines Verfassers auch so noch genugsam zu Tage. Es interessiert durch eine eiserne Logik, durch den klaren, praktischen Verstand Bchners, welcher hier der sozialen Frage bis auf den Grund geht, durch die Wucht ihrer knappen Perioden, durch die kluge Berechnung, mit der sich der Verfasser seinem Publikum verstndlich zu machen weiß. Æ…æ Æ709æ In O f f e n b a c h, demselben Offenbach, in dem der junge Goethe so heitere Tage verlebte in sch.nster Geselligkeit (cf. Wahrheit und Dichtung. 17. Buch), wurde jenes Pamphlet in einer geheimen Offizin gedruckt und von da aus berall im Lande verbreitet. Das Unternehmen sollte, nicht nur fr viele seiner Freunde, sondern auch fr Bchner selbst, verhngnisvoll werden. Ein schurkischer Denunziant brachte das Geheimnis aus und zwei Freunde Bchners wurden gefangen gesetzt. Dieser selbst wurde in eine Untersuchung verwickelt, doch ging er, da man nichts Kompromittierendes bei ihm fand, frei aus. Immerhin fanden es seine Eltern, die von alle dem, wenn auch durchaus ungengende, Kunde hatten, fr geraten, ihn nach Darmstadt zu berufen. Im September 1834 leistete er ihrer Aufforderung Folge. In Darmstadt angekommen, begrndete er daselbst sofort eine »Gesellschaft der Menschenrechte«. Aber von vornherein fhlte er sich hier nicht sicher. Zudem war er seinem Vater gegenber, welcher von den politischen Neigungen und Bestrebungen Bchners eine Ahnung haben mochte, in ein schiefes Verhltnis gekommen. So dachte er daran, sich aus dieser unerquicklichen peinlichen Lage so bald als m.glich zu befreien. Er warf sich daher mit Eifer, mit fieberhafter Aufregung auf seine naturwissenschaftlichen Studien. Die Hauptarbeit jener unruhigen Tage aber, ihre bedeutsamste, großartige Frucht war sein Drama »Dantons Tod«, fr das auch die naiv-lakonische Vorrede zu seinem spteren Lustspiel »Leonce und Lena« Geltung hatte. Sie heißt: »Alfieri: e la fama? Gozzi: e la fame?« – Er wollte mit diesem Werke Mittel gewinnen, sich aus seiner unausstehlichen Lage zu befreien. – An G u t z k o w schrieb er spter: »Fr Danton sind die Darmstdter Polizeidiener meine Musen gewesen.« Eine eigenartige Spezies von Musen, aber
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nicht unmodern! – In der Tat: Bchner wurde damals fortwhrend von der Polizei beobachtet. Durch die obenerwhnten Denunzianten war auch er der Regierung verdchtig gemacht worden. Wenn er zum Fenster seines Arbeitszimmers hinaus blickte, konnte er unten die Polizei auf- und abspazieren sehen. Unter diesen Verhltnissen, die durch bestndige Nachrichten von Verhaftungen seiner Freunde ins Unertrgliche gesteigert wurden, kam nun sein Drama zu Stande. Tag und Nacht kam er nicht vom Schreibtische hinweg. Kaum dass er sich Zeit zum Essen g.nnte. Am 24. Februar 1835 lag das Werk endlich vollendet vor ihm. Sein Bruder Wilhelm brachte es zur Post. Auf dem Titelblatt stand nichts als: »Dantons Tod! Ein Drama.« Seinen Namen hatte er gnzlich verschwiegen. Er hatte die Sendung mit einem Begleitschreiben, das uns ein erschtterndes Zeugnis seiner damaligen Lage giebt, an Karl Gutzkow addressiert. Dieser nahm es begeistert auf und ließ es in Gemeinschaft mit E. D u l l e r, der das Werk in einer unverantwortlichen Weise verstmmelte und mit einem h.chst geschmacklosen Titel versah, bei J. D. Sauerlnder in Frankfurt a/M. erscheinen. Gutzkow fhrte es außerdem mit einer glnzenden Kritik in die litterarische Welt ein.*) Unterdes war in dem peinlichen Zustand Bchners eine entscheidende Wendung eingetreten. Am 27. Februar wurde er vor das Untersuchungsgericht im Darmstdter Arresthause geladen. Er wusste, was dies zu bedeuten hatte. Durch die Geistesgegenwart seines Bruders Wilhelm, der fr ihn der Vorladung Folge leistete, sowie durch die wohlwollende Nachsicht des betreffenden Beamten, gewann er einigen Aufschub, den er benutzte, um seine Flucht ins Werk zu setzen. Nur Wilhelm und seine Mutter wussten von Georgs Vorhaben und untersttzten es. Der Vater sagte sich in Folge der letzten Ereignisse von ihm los. Bchner sollte seine Familie nicht wieder sehen. Zunchst wandte er sich nach Straßburg, wo er mehrere Gesinnungsgenossen, die gleich ihm geflohen waren, antraf. Ende Mrz empfing er von Sauerlnder hundert Gulden Honorar, die ihm mit den heimlichen Sendungen seiner Mutter den Aufenthalt in Straßburg erm.glichten. Allmhlich erholte er sich hier nun von den furchtbaren, fast bermenschlichen Anstrengungen des letzten Darmstdter Aufenthalts. Alte Freunde fand er wieder. Vor allem fhlte er sich glcklich im Familienkreise des Pastors JaeglU. Mit Minna hatte er sich im Laufe der letzten Zeit verlobt. Eine Sicherheitskarte, die man ihm vom Prfekten verschaffte, gewhrleistete ihn den Schutz der Regierung gegen Verfolgung. So fand er Ruhe und Sammlung Æ710æ zu neuer Arbeit. Zunchst warf er sich mit vollem Eifer auf die naturwissenschaftlichen Studien unter Anleitung von Duvernoy und Lauth, denen er schon bei seinem ersten Straßburger Aufenthalt viel zu verdanken hatte. Auch die Philosophie betrieb er; eingehender jetzt, als damals in Gießen. Er beabsichtigte sich in Zrich als Privatdozent der Naturwissenschaften und Philosophie niederzulassen. Nebenbei beschftigten ihn Uebersetzungen und andere kleine litterarische Arbeiten. Außerdem fand er Zeit sich das Englische anzueignen. In der »Deutschen Revue«, dem *) Ph.nix, Frhlingszeitung fr Deutschland. Nr. 162, Seite 645 – 646.
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Organe des »Jungen Deutschland« erschien damals auch seine Novelle »Lenz«,*) die in diesen Tagen entstanden war. Im Mrz 1836 war seine Dissertation fertig gestellt. Es war eine Abhandlung »sur le systYme nerveux du barbeau«. Die Straßburger gelehrte Gesellschaft fr Naturwissenschaften, bei der sie hohen Beifall fand, nahm sie in ihre Annalen auf. Außerdem prparierte er sich auf eine Vorlesung ber »die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza«. Auch entstand in diesem Sommer außer anderen dramatischen Arbeiten, das mehrfach erwhnte Lustspiel »Leonce und Lena«. Auf seine Abhandlung hin, die er nach Zrich geschickt hatte, empfing er im September das Doktordiplom der philosophischen Fakultt und reiste am 18. Oktober 1836 nach Zrich ab. Seine Probevorlesung »Ueber Schdelnerven« fand allgemeinen Beifall. Oken und Arnold fllten das gnstigste Urteil ber sie und nahmen sich eifrig des jungen Dozenten an. Ueber seine litterarisch-sthetische Ttigkeit in Zrich lsst sich weiter nichts mit Bestimmtheit sagen, als dass er »Leonce und Lena« mit zwei anderen unbekannt gebliebenen Dramen herausgeben wollte. In seinem Nachlass fand sich außer »Leonce und Lena« und dem Bruchstck eines brgerlichen Trauerspiels »Vozzeck« nichts Dramatisches weiter vor. Ein weiteres Drama, dessen er einmal Erwhnung tut, wird wohl das Schicksal des Florentiners Pietro Aretino behandelt haben. Seine litterarischen Plne sollten aber nicht mehr zur Ausfhrung kommen. Die ungemeinen Anstrengungen der letzten Zeit riefen ein Nervenfieber hervor, mit dem er vom 2. Februar 1837 bis zum 19. Februar rang. Der sorgsamen Pflege seiner Freunde gelang es nicht ihn zu retten. Am 21. Februar, sechs Tage nach der Beerdigung L. B . r n e s, wurde Georg Bchner in Zrich unter der »Deutschen Linde« auf dem Zrichberge beerdigt und ihm daselbst ein Denkmal errichtet. Bchner starb in einem Alter von dreiundzwanzig und einem halb Jahren. Hier in allergr.bsten Umrissen der Lebenslauf eines deutschen Dichters dieses Jahrhunderts, dem, wie viele andere ihm congeniale Geister die Schmach seines Vaterlandes in der Blte seiner Kraft hinwegraffte. Ferner aber: wer fhlt nicht, wenn er auch nur einen Hauch modernen Geistes in sich sprt, wie ihm das Herz schlgt angesichts der Entwickelung dieses Jnglings? In der Tat! Ein echter moderner Dichter! – Man giebt sich jetzt in unserer Litteratur so viel mit der methode expUrimentale ab: wollte man sich doch den großen Genien unserer letzten Litteraturepoche, diesen zerschmetterten Titanen des modernen Gedankens liebevoll zuwenden! Wollte man sich den Geist eines Hebbel, Grabbe, Ludwig, Kleist, eines Bchner in Fleisch und Blut bergehen lassen, wollte man hier erkennen, wie d e u t s c h e r Geist die Konflikte der Zeit und ihre Probleme erfasst, durchkmpft, knstlerisch verarbeitet und gestaltet! Nichts ist t.richter, als eine neue Litteraturepoche nach Analogien heraufzufhren! Geschieht es namentlich seitens sch.pferischer Geister, so ist das ein Zeichen von Impotenz. *) Dieselbe findet sich auch mit Szenen aus dem Lustspiel »Leonce und Lena« abgedruckt in: Mosaik. Novellen und Skizzen von Karl Gutzkow. Vermischte Schriften. 3. Bd. – Leipzig 1842 bei J. J. Weber.
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Aber doch m.chte man sagen: Bchner ist geradezu typisch mit seiner Entwickelung, seinem Schaffen fr einen modern deutschen dramatischen Dichter. Das sagt uns nicht der kalt wgende Verstand: das predigen seine Werke unseren H e r z e n mit feurigen Zungen! Will man sehen, wie ohne kokettes Hinschielen nach allerlei Autoritten ein Genius autochthonisch aus eigener Kraft, nur und ganz von den Entwickelungsfaktoren der gegenwrtigen Zeitzustnde bedingt, sich entfaltet: so studiere man den Lebenslauf dieses Jnglings. Hier ist moderne Skepsis. »Man darf sagen,« heißt es in der oben erwhnten Kritik Gutzkows, »dass in Bchners Drama mehr Leben als Handlung herrsche«. In der Tat, es handelt sich hier mehr um ein echt deutsches: psychologisches Durchdringen und Erfassen der Zustnde; was man so eigentlich im bhnentechnischen Sinne Handlung nennt, ist so gut wie nicht vorhanden. Das religi.se Element der großen franz.sischen Revolution verdrngt das sthetisch-humane, griechisch-eudmonistische, welches seinerseits das rhetorisch-pathetische, r.mische der Girondisten verdrngt hatte: Robespierre strzt Danton. – Das ist Handlung, die uns vorgefhrt wird: Danton auf dem Wege zur Guillotine. Eine bestimmte ausgeprgte Intrigue ist eigentlich nicht vorhanden. Aber doch: berall erfasst uns das Leben in diesem wunderbaren Werke in seiner bedeutsamen Zustndlichkeit mit zwingender Gewalt. Hierzu tritt uns eine echt moderne Eigentmlichkeit entgegen: dass nmlich die Individualitt hinter der Maske zurcktritt, oder doch sich ihr mithandelnd einreiht. Ueberall spren wir den engsten Zusammenhang zwischen Person und Masse, so dass wir in jener eigentlich nur die bis zu festem und bestimmtem gestaltete Bewusstsein-Idee gewahren, welche wir die Masse bewegen sehen. So bietet sich Æ711æ uns hier nicht sowohl der Antagonismus von Danton und Robespierre, sondern der zweier idealer Str.mungen der Revolution. Dabei finden wir aber doch berall eine scharfe, feine, echt geniale Abgrenzung der Individualitten, gehen dieselben nicht farblos in der Menge auf. Vielmehr: selbst die geringste Person, die nur zwei Worte zu sprechen hat, charakterisiert sich mit diesen in bestimmtester Weise, hat Fleisch und Blut. Durchaus modern ist dieses einzige Werk auch darin, dass wir hier eine p h y s i s c h e Menschheit haben in dem Sinne Zolas und doch nicht in dessen verkehrter experimentell-analitischer Objektivitt gegeben, sondern nach den intimsten h.chsten Kunstgesetzen. Hier ist Natur wie bei Shakespeare, aber doch wieder ganz eigenartige Natur, nicht nach der Shakespeareschen Schablone. Hier ist bedeutsamere, weitere Natur als in Goethes »G.tz«, hier bewegen sich in Fleisch und Blut echt moderne Menschen, packen und erschttern uns die sozialen Zeitkonflikte in innerster Seele. Hier ist der Naturalismus des Genies; kein zwitterhaftes Experiment mit der Menschennatur, das nicht Kunst, nicht Wissenschaft ist. Den Anforderungen der Bhnentechnik der dramatischen Mache hat der Verfasser freilich ins Gesicht geschlagen.*) Scheinbar haben wir hier eine *) Es frge sich brigens an dieser Stelle, ob nicht die Anforderungen, welche diese an den dramatischen Dichter stellt, mit denen sie manchen sch.pferischen Kopf beengt, nicht einzuschrnken wren, ob hier unsere so ungemein fortgeschrittene
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Anzahl lose aneinander gereihter Szenen, oft solche, ber deren »Notwendigkeit« man in Zweifel kommen k.nnte. Freilich: wenn dies angesichts der genialen Gestaltungskraft des Verfassers m.glich wre. Aber was tut das Alles? Es hat einzig den Vorzug, dass man die leidige Mache, den poetischen Handwerksapparat nicht gewahrt, der selbst den Gestalten eines ausgezeichneten Kunstwerkes oft etwas Marionettenhaftes geben kann. Das Haupterfordernis dramatischer Wirkung, das dem Genie innere, unumgngliche Naturnotwendigkeit ist: die gewaltige Logik der Tatsachen und Zustnde, die innere Notwendigkeit der Entwickelung, die psychologische Wahrheit ist hier im reichsten Maße vorhanden. Was tut es, wenn z. B. die Exposition nicht in musterhafter pedantisch-sauberer Ordnung in die Handlung, in die Sachlage einfhrt? Wenn wir selber diese Arbeit des Ordnens besorgen mssen wie im – Leben? Wenn sich die Sachlage selbst interpretiert? Dennoch fehlt kein wesentlicher Teil, kein Teilchen: berall sind wir hier orientiert wie durch das Leben selbst, das auch Jeder kennt, versteht, der – mit ihm zu tun hat, der wahrhaft lebendig ist, und – j e n a c h d e m e r damit zu tun hat. – Da entbehren wir leichtlich die orientierende Zudringlichkeit des Expositeurs. Und: ob das Leben hier auch berall in herrlichster Flle die Mache berwuchert, nie vermissen wir die Nabelschnur, den kosmischen Zusammenhang zwischen dem schaffenden Knstlergeist und dem Leben. Das ist hier Alles tief, geist-ideenreich, rhrend, brutal, cynisch, wie das gesunde, kraftstrotzende, lebendigste Leben! Ueberall empfinden wir bei jeder Zeile, jedem Wort, dass die Nation in diesem Jnglinge einen Genius ersten Ranges verlor. Wie viele neue Krfte sehen wir in seinen Spuren? Es sind ihrer Wenige! – Sie fhren aufwrts, diese Spuren zu dem nationalen Drama der Deutschen, dem litterarischen Ziele des Jahrhunderts. Der aber, der sie wandelte, giebt uns, indem er alle wirklich s c h . p f e r i s c h e n Krfte frei lsst, durch sein Leben und Schaffen zu bedenken: dass das Wesen des Genius darin besteht: im ernsten, schweren Abfindungsprozess mit der Zeit, dem Leben sich zum Charakter zu bilden und durchlebtes Leben frei, in ernster, sorgsamer Arbeit, s e l b s t h e r r l i c h nach eigenen, inneren Gesetzen einer gefgten, bedeutsamen Pers.nlichkeit, ohne ngstlich-sklavisches Hinblicken nach irgendwelcher Autoritt zu gestalten. Conglomerate von Szenen und Bildern notdrftig aneinanderflicken in zgelloser Willkr, das heißt nicht ein geniales Kunstwerk schaffen; einem solchen Machwerk fehlt die h.chste, innere Form so gut wie der dramatischen Drechselarbeit sauberster poliertester Mache: jene Form, die h.her ist als aller Formalismus, die sich mit einem großen, reichen Charakter, gleichsam mit einer kosmischen Verknpfung zwischen Leben und Knstlerpsyche von selbst ergiebt, wenn sie sich des Lebensstoffes gestaltend bemchtigt. Hier ist moderner heller Verstand, scharfe, schonungslose Kritik, unbestechliche Logik. Hier ist eiserner Charakter; Fehlen jeglicher sch.nfrbender Illusion, moderne Humanitt; hier ein echt moderner Blick, ein Bhnentechnik dem Dramatiker nicht eine gr.ßere Freiheit gestattet. Wollte man diese Frage einmal recht ernstlich und grndlich in Erwgung ziehen, man wrde auf dem Gebiete unserer »dramatischen Frage« ein gut Stck im Praktischen vorwrts kommen.
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unfehlbarer Instinkt fr reale Lebenszustnde. Dabei nirgends der bornierte Horizont eines philistr.sen Patriotismus: berall ist Bchner, bei einer gesunden Vaterlandsliebe, Brger seiner Zeit; berall geht er von den idealistischen Schwrmereien jener Zeit zur Tagesordnung ber, geht er auf die Kern- und Kardinalfragen der Zeit los und dringt ihren Problemen mit genialer Sprkraft bis auf den Grund. Sein »Dantons Tod« besttigt dies nur: dieser Danton ist bis zu einem gewissen Grade Bchner selbst. Wir wssten nicht, welches dramatische Werk der deutschen Litteratur dieses Jahrhunderts uns so unmittelbar ergriffen htte, wie dieses durchaus geniale Werk! Es ist wahr, was Gutzkow in seiner trefflichen Kritik desselben sagt: es trgt die Spuren der erÆ712æregten Tage seiner Abfassung, »es ist wie auf der Flucht geschrieben«, in der hastigen, atemlosen Aufeinanderfolge der Szenen und Bilder glaubt man die Nervositt des Verfassers und seines damaligen Zustandes zu erkennen: doch das Alles schwindet gegen die h.chsten Vorzge, die es zeigt. Der jngst verstorbene Wi l h e l m S c h e r e r pflegte es als eine Eigentmlichkeit des deutschen Charakters hinzustellen, dass er auf sthetisch-litterarischem Gebiete revolutionr sei. Kein Wunder! Die Zhigkeit, mit der wir an verbrauchten sthetischen Formen festhalten, beschw.rt notwendig derartige Revolutionen herauf und, in der Tat! Man k.nnte heute namentlich unserer dramatischen Notlage gegenber fast nichts Besseres tun, als ein s o l c h e s Chaos heraufbeschw.ren, empor wnschen, wie dieser »Dantons Tod« eines ist. 16 73 125 199 201 325 328 337 362 376
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G o d d e l a u] H o d d e l a u Herders] »Herders J a e g l U] J a n g l U machen weiß.] machen weiß. ÆAbsatzæ (Schluss folgt.) In O f f e n b a c h] Ein moderner Dramatiker. ÆAbsatzæ Vo n H. F r e i s t e t t. ÆAbsatzæ (Schluss.) ÆAbsatzæ In O f f e n b a c h Skepsis.] Skepsis, handelt sich] handelt ich bedeutsamen] bedeutsameu Æin der Anmerkungæ ob nicht die Anforderungen] ob uicht die Anforderungen kein Teilchen:] kein Teilchen: kein Teilchen
Anschriften der Mitarbeiter Dr. Ulrike Dedner, Gartenstraße 9/1; D-72074 Tbingen Sabine Dissel, Behringstraße 49; D-22763 Hamburg Prof. Dr. Gerhard Friedrich, Loc. Caservalle 41; I-10020 Verrua-Savoia (Turin) Prov. Doz. Dr. Ewald Grothe, Froweinstraße 7; D-42105 Wuppertal Prof. Dr. Hans H. Hiebel, Institut fr Germanistik, Universittsplatz 3; A-8010 Graz Prof. Dr. Ariane Martin, Fachbereich 13 – Philologie I, Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universitt Mainz; D-55099 Mainz Dr. Hermann Patsch, Johann von Werthstraße 5; D-80639 Mnchen Dr. Hans Otto R.ßer, Spandauerstraße 1; D-34302 Guxhagen Tobias Schmidt, Philosophenweg 14; D-34121 Kassel Dr. Gideon Stiening, Katzbachstraße 12; D-28211 Bremen Prof. Dr. Koji Taniguchi, Muko-Shi Terado-Cho Oinaki 1-255; J-617 Kyoto Prof. Dr. Wolfram Viehweg, Taubenstraße 35; D-47800 Krefeld
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