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German Pages 852 [854] Year 2004
Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag
Gemeinwohl und Verantwortung Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Stefan Brink und Heinrich Amadeus Wolff
Duncker & Humblot * Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-11603-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort der Herausgeber Eine Laudatio für Hans Herbert von Arnim ist zumindest von einer Aufgabe befreit: Sie muss den zu Ehrenden nicht erst vorstellen oder bekannt machen. Im Jahre der Vollendung seines 65. Lebensjahrs hat der Jubilar einen Bekanntheitsgrad erreicht, dessen sich nur die wenigsten (Rechts-)Wissenschaftler erfreuen können. Weit über Fachkreise hinaus ist sein Name ein Begriff. Viele verbinden ihn mit einer ganz bestimmten rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Position, geprägt durch die kritische Grundhaltung gegenüber der so genannten politischen Klasse. Die wissenschaftliche Forschung und die nachdrückliche Einmischung in die öffentliche Debatte, sein Wirken an der Universität, seine monographischen Veröffentlichungen und auch solche in Fachzeitschriften waren und sind sein Schaffenskreis. Auf wissenschaftlichen Foren war er ebenso aktiv wie in den Massenmedien. Seine Monographien erreichten Plätze auf den Bestsellerlisten der Massenverlage; Anzahl, Rang und Wirkung seiner Fernsehinterviews lassen manch einen Berufspolitiker vor Neid erblassen. Wie kaum ein anderer Wissenschaftler hat er durch sein Einmischen die Dinge auch bewegt. Ganz nach dem Streben eines guten Beamten, seinem Staat mit Leib und Seele zu dienen, hat er sich dabei als „gute Investition" erwiesen, amortisierte er doch durch die Aufdeckung gravierender Fehlentwicklungen im Bereich der Politikfinanzierung sein Gehalt um ein Vielfaches. Grundlage war dabei die besondere Ausprägung seines Interesses und seiner Fähigkeiten. Hans Herbert von Arnims Lebensweg war schon früh durch eine Zweigleisigkeit geprägt, die später seine wissenschaftliche Laufbahn und sein öffentliches Wirken bestimmen sollte. Er steht nicht nur körperlich, sondern auch wissenschaftlich auf zwei Beinen und sieht mit zwei Augen: Nach dem im Jahr 1958 abgelegten Abitur wendete er sich dem Studium der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaften zu. Er beendete das Doppelstudium mit den beiden juristischen Staatsexamina 1963 und 1967 und erwarb inmitten dieser noch das Diplom in Volkswirtschaftslehre im Jahre 1966. Die Verbindung von juristischem und ökonomischem Blickwinkel führte ihn zu seinem Dissertationsthema: „Die Verfallbarkeit von Betriebsrenten". 1969 promovierte er hierzu bei Prof. Dr. H. Weitnauer in Heidelberg. Die praktischen Konsequenzen der untersuchten rechtlichen Regelungen - die Einschränkung der wirtschaftlichen Mobilität von Arbeit-
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Vorwort der Herausgeber
nehmern durch den drohenden Verlust betrieblich gewährter Zusatzrenten und der Drang, die erkannte Schieflage zu verändern, reizten ihn. Der tatsächliche Erfolg seiner Promotion - nicht zuletzt auf diese war es zurückzuführen, dass das Bundesarbeitsgericht seine Judikatur zum Erhalt von Anwartschaften auf Betriebsrenten änderte - muss ihm Mut gegeben haben, diese Sichtweise weiter zu verfolgen. Seit 1968 hatte er als Leiter des Karl-Bräuer-lnstituts des Bundes der Steuerzahler in Wiesbaden ausreichend Gelegenheit dazu. Die Position als Kritiker ungerechter oder unsinniger steuerrechtlicher Regelungen mussten notwendig seinen Blick für inadäquate Strukturen im Recht schärfen. Die Studie über die eklatante Benachteiligung der Geldwertsparer ist nur einer der Belege für seinen sicheren Griff auf bis dahin aus der öffentlichen Diskussion ausgeblendete Missstände. Die entblößende Erwiderung des damaligen Finanzministers auf seinen 1980 in der ZRP erschienenen Aufsatz und die Replik durch Hans-Jochen Vogel sind bis heute lesenswerte Beiträge im Ringen ums Recht. Als „Externer" habilitierte er sich 1976 für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht, Finanz- und Steuerrecht an der Universität Regensburg. Die von Heinrich Soell betreute Arbeit mit dem Titel „Gemeinwohl und Gruppeninteressen" beschäftigte sich mit der Frage, ob es auch bei der Ausformung des öffentlichen Interesses jene invisible hand' gibt, die Adam Smith dem ökonomischen Marktgeschehen unterlegte - und warum dies auf dem politischen Markt nicht funktioniert. 1978 wurde von Arnim auf eine Professur an der Universität Marburg ernannt, 1981 wechselte er - nach Rufen nach Osnabrück und Marburg - auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht, Haushaltsrecht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Dieser blieb er, trotz eines weiteren Rufs auf den Lehrstuhl für Staatslehre und Politik an der Universität Göttingen (ehemaliger Lehrstuhl von Gerhard Leibholz), bis heute treu. Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften gab ihm die richtige Plattform, um weit über Speyer hinaus zu wirken. Dort waren das Parteienrecht und die Politikfinanzierung immer nur ein Forschungsschwerpunkt neben anderen, etwa der Verfassungslehre und Demokratietheorie, des Finanzrechts sowie der Finanzpolitik und des Kommunalrechts. Für die Hochschule erwies er sich als echter Anziehungspunkt. Seine Seminare zum Kommunal- und Politikfinanzierungsrecht fanden und finden größten Zuspruch, die alljährliche ,Speyerer Demokratietagung' mit jeweils aktuellen Aspekten dieses Themas ist ein namhaftes Diskussionsforum. Neben seiner universitären Tätigkeit war er Mitglied des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg sowie mehrerer Sachverständigenkommis-
Vorwort der Herausgeber
sionen, etwa der Enquête-Kommission „Wahlrecht und Kommunalverfassung" des Landtags Rheinland-Pfalz (1988-1990) oder der von Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1992 berufenen „Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung". Die sachliche Unabhängigkeit der Sachverständigenkommissionen war ihm immer wichtig, unabhängig davon, ob diese die Kommission zu bemerkenswerten Ergebnissen oder zum Scheitern führte (so etwa zuletzt die von den Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und Wolfgang Clement einberufene „Gemeinsame Kommission Bayern/Nordrhein-Westfalen zur Neuordnung der Bezüge von Mitgliedern der Landesregierung", die so genannte Berger-Kommission). Zwei Augen und damit zwei Sichtweisen, die dem Jubilar in allen seinen Äußerungen zu Eigen sind: Er analysiert nicht nur das Recht, er fragt immer auch nach dessen Gestaltbarkeit. Er konstatiert nicht nur ökonomische Zusammenhänge, stets ergründet er ihre Folgen für das Verhalten der homini oeconomici. Er verharrt nie bei der Betrachtung empirischer Befunde, er kann gar nicht anders, als die normative Seite der Medaille ebenfalls in den Blick zu nehmen. Er beobachtet Politik nicht nur, er ist auch politisch, mitunter auch nach Maßgabe der im politischen Geschäft obwaltenden Spielregeln. Er ist eben keiner jener Kritiker, die es vorziehen, sich nicht selbst durch die Propagierung eigener Verbesserungsvorschläge der Kritik auszusetzen. So hat er etwa mit seinem im Kommunalverfassungsrecht wurzelnden Gedanken einer verstärkten Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen des Gemeinwesens wichtige Anstöße gegeben - und er tut dies auch nachhaltig. Nicht ohne persönliche Freude können die Herausgeber darauf hinweisen, dass die Vielgestaltigkeit des Jubilars, seine Biographie und sein Charakter sich in dieser Festschrift widerspiegeln: Nicht nur in den Themenschwerpunkten, die sich an seinen Forschungsgebieten orientieren, sondern besonders in der Autorengemeinschaft jener, die sich eine Mitwirkung nicht nehmen lassen wollten. Vom Politologen bis zum Politiker, vom Ökonom bis zum Staatsrechtslehrer, vom Soziologen bis zum Journalisten - eine wirklich breite Palette. Und viele brachten schon in der Anmeldung zur Mitwirkung bei der Festschrift zum Ausdruck, was wohl alle dachten: Er hat sie wirklich verdient. Es sei erlaubt an dieser Stelle jener Zwei zu gedenken, denen es nicht vergönnt war, das Erscheinen des Gemeinschaftswerkes zu erleben, das sie selbst wesentlich förderten. Erwin K. Scheuch und Fried Esterbauer haben trotz schwierigster Umstände mit großem Enthusiasmus ihren Beitrag für den Jubilar leisten wollen und auch geleistet. Diese Festschrift begleitet eine Zäsur im Berufsleben von Hans Herbert von Arnim. Mit der Vollendung seines 65. Lebensjahres endet seine Profes-
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Vorwort der Herausgeber
sur an der Hochschule Speyer. Alle, die wir ihn kennen, wissen: Dies wird keine merkliche Zäsur sein. Deswegen soll diese Festgabe auch in zweierlei Hinsicht verstanden werden: als Bestätigung für Person und Werk Hans Herbert von Arnims und als kleiner Trost, der die Veränderung erträglicher werden lassen soll. Speyer, im November 2004
Stefan Brink Heinrich Amadeus Wolff
Inhaltsverzeichnis I. Gemeinwohl, Recht, Politik Der Freistaat Bayern als Spielbanken-Betreiber Von Wilfried
Berg
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Globalisierung und Demokratie Von Thilo Bode
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Die Europäische Sicherheitsstrategie und die Nationale Sicherheitsstrategie der USA im Vergleich Von Eberhard Bohne
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Wandel in der Kontinuität? Überlegungen zum Begriff Gemeinwohl Von Rudolf Fisch und Klauspeter Strohm
73
Machtmißbrauch der Lobby als Herausforderung Von Eike von Hippel
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Zur Rationalität öffentlicher Verwaltung Von Klaus König
87
Säkularisierung und die islamische Herausforderung Von Martin Κ rie le
103
Zum Gelingen und Misslingen von Wirtschaftsreformen Von Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt
121
Politische Parteien als politische Religionen Von Wolf gang Manti
135
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Inhaltsverzeichnis
Parteiengleichheit und Rundfunkfreiheit. Zur rechtlichen Zulässigkeit von Fernsehduellen vor Bundestagswahlen Von Martin Morlok und Sebastian Roßner
143
Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern Von Elmar Wiesendahl
167
Eigenverantwortung als Verfassungsprinzip Von Jan Ziekow
189
I I . Staat, Finanzen und Ökonomie Große Steuerreform? Die Gewerbesteuergroteske Von Peter Bareis
207
Rückwirkungen der Globalisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt Von Dieter Duwendag
225
Unabhängige Finanzprüfung - ein Wundermittel gegen hohe Steuern Von Reiner Eichenberger und Mark Schelker
237
Die Relativität der Wirtschaftlichkeit Von Peter Eichhorn
253
Die sog. extreme Haushaltsnotlage. Anmerkungen zu einem ungeschriebenen Begriff des Finanzverfassungsrechts Von Wolfram
Höfling
259
Flugverkehr und öffentliche Hand Von Karlheinz Niclauß
271
Roß und Reiter: Art. 34 GG und die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung Von Christian Pestalozza
283
Die Wirtschaft in der Gesellschaft Von Erwin K. Scheuch
293
Die Änderungsbedürftigkeit des Art. 115 GG Von Heinrich Amadeus Wolff
313
Inhaltsverzeichnis
I I I . Dezentralisierung, Föderalismus und Kommunen Nonzentralisation, Kleinstaat und Direktdemokratie Von Gerd Habermann
327
Mehr direkte Demokratie als Antwort auf den Niedergang des deutschen Föderalismus? Zugleich eine Stellungnahme zu dem Buch von Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie Von Albert Janssen
335
Direkte Demokratie und Föderalismus. Die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Volksgesetzgebung im Bund Von Otmar Jung
353
Volksentscheide in Deutschland: Bayern Spitze, Berlin Schlusslicht Von Ralph Kampwirth
367
Wettbewerb versus Kooperation: Zur Reform des deutschen Föderalismus Von Gebhard Kirchgässner
375
Föderale Grenzen für die Befassungskompetenz von Parlamenten. Bundespolitik in Landesparlamenten Von Joachim Linck
391
Schutz der kommunalen Selbstverwaltung durch das finanzverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip Von Friedrich Schoch
411
Landräte in Baden-Württemberg Von Hans-Georg Wehling
429
I V . Kritik im Staat Kritik der Kritik Von Stefan Brink Primadonnen, Paragrafen und Prinzipien Dschungel Von Thomas Leif
449 ein Staatsrechtler im Medien463
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Inhaltsverzeichnis
Meinungsäußerungen als Belege für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung. Zu den rechtlichen Anforderungen und zur Praxis der Verfassungsschutzberichte Von Dietrich Murswiek
481
Politikverdrossenheit, Enttäuschung und falsche Erwartung. Ein Beitrag zu einem aktuellen Thema Von Hans-Jochen Vogel
505
V. Staatslehre Demokratie und Rechtsstaat in den theoretischen Konflikten zwischen den USA und Europa Von Klaus von Beyme Konstitutionelles versus parteiendemokratisches Bemerkungen zu einer überholten Dichotomie
517 Parlamentarismusverständnis?
Von Frank Decker
533
Für eine neue Typologie demokratischer Regierungssysteme: „parlamentarische" als monistische und „präsidentielle" als dualistische Regierungssysteme Von Fried Esterbauer
555
Die Bindung der Bundesregierung an das Grundgesetz bei der Harmonisierung des Asylrechts in der EU Von Peter M. Huber und Daniel Fröhlich
577
Einheit des Gesetzesbeschlusses. Zur Reichweite der Zustimmung des Bundesrates Von Josef Isensee
603
Ministerversorgung in der Weimarer Republik. Die Entstehung des Reichsministergesetzes vom 27. März 1930 Von Rudolf Morsey
625
Im Umgang mit der Macht: Das Prinzip der Repräsentation Von Wilfried
Röhrich
639
Souveränität für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Richter als Garanten politischer Unabhängigkeit Von Peter Schiwy
653
Inhaltsverzeichnis Party System Change in Germany? Four Scenarios Von Gordon Smith
667
V I . Demokratie Mehr Demokratie wagen. Überlegungen zu einer Optimierung der Wahlrechtsgrundsätze Von Brun-Otto Bryde
679
Gelingt das Experiment Demokratie? Konvergenz und Divergenz von Konzepten und Funktionsbedingungen der Demokratie im gesellschaftlichen Wandel Von Helmut Klages
695
Die schweizerische Referendumsdemokratie - Ein übertragbares Modell? Von Diemut Majer
719
Elemente direkter Beteiligung auf Bundesebene. Ein Plädoyer für mehr Demokratie in der aktiven Bürgergesellschaft Von Peter Müller
733
Das System der semidirekten Demokratie in Österreich Von Peter Pernthaler
745
Partizipative Demokratie Von Dieter Roth
761
Demokratierechtliche Grenzen der Gemeinschaftsrechtsprechung Von Karl Alb recht Schachtschneider
779
Direkte Demokratie im Prozess der Verfassungsgebung Von Theo Schiller
795
Electronic Government und politische Beteiligung. Die demokratischen Potentiale des informationstechnischen Wandels als neue Chance für die Entwicklung des politisch-administrativen Systems und der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Von Olaf Winkel
811
Liste sämtlicher Veröffentlichungen
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Autorenverzeichnis
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I . Gemeinwohl, Recht, Politik
Der Freistaat Bayern als Spielbanken-Betreiber* Von Wilfried Berg I. Gemeinwohlverwirklichung als Staatszweck Sorge um das Gemeinwohl und die Suche nach Wegen zu seiner Verwirklichung und Sicherung prägen das wissenschaftliche und politische Lebenswerk Hans Herbert von Arnims 1 : „Was genau der Inhalt des „Gemeinwohls" ist, mag zwar undeutlich und vage sein. Klar aber ist, dass eine Motivation verlangt wird, die das Gegenteil vom Streben nach eigenem Nutzen ist" 2 . Während der Bürger als Inhaber grundrechtlicher Privatautonomie berechtigt - wenn auch keineswegs verpflichtet - ist, ausschließlich seine persönlichen Interessen zu verfolgen, ist das Handeln aller Träger öffentlicher Gewalt in all seinen Erscheinungsformen stets an einen öffentlichen Zweck gebunden3. Angesichts der sich in jüngster Zeit nahezu neurotisch auf die Finanznot der öffentlichen Hand fixierenden Diskussion konnte es nicht ausbleiben, daß inzwischen selbst pures Gewinnstreben öffentlicher Unternehmen als legitimierender öffentlicher Zweck herausgearbeitet worden ist, der allenfalls noch von unmittelbaren öffentlichen Aufgaben „im engeren Sinne" abzugrenzen, aber deshalb nicht weniger legitim sein soll 4 . Zwar wird durchaus gesehen, daß beispielsweise das bayerische * Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den der Verfasser im Rahmen einer Absolventenfeier gehalten hat. Herrn Assessor Sebastian Höhler gebührt Dank für umfassende und sorgfältige Recherchen. 1 Der Bogen spannt sich von der 1977 erschienenen Habilitationsschrift „Gemeinwohl und Gruppeninteressen" bis zu dem kürzlich veröffentlichten Aufsatz: Wer kümmert sich um das Gemeinwohl?, ZRP 2002, 223 ff. und zu dem Beitrag: Korruption in Politik und Verwaltung, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Korruption - Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft, 2003, S. 24 mit Hinweis auf das in § 35 I 2 BRRG herangezogene Wohl der Allgemeinheit. 2 Hans Herbert von Arnim, Wer kümmert sich um das Gemeinwohl?, ZRP 2002, 223. Zur praktischen Rolle des Gemeinwohlbegriffs im geltenden Recht und zum Stand der theoretischen Diskussion umfassend Peter Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.; ebenfalls abgedruckt in: Peter Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 323 ff. 3 Näher dazu Wilfried Berg, Verwaltung in einem Europa der Regionen, in: Festschrift für Peter Häberle, 2004, S. 417 f. mit weiteren Nachweisen; Wolfgang Löwer, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Auftraggeber, VVDStRL 60, 2001, S. 418 ff. 2 FS von Arnim
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Wilfried Berg
Landesrecht in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayGO festlegt, daß alle Tätigkeiten, mit denen die Gemeinde am Wirtschaftsleben teilnimmt, „um Gewinn zu erzielen, ... keinem öffentlichen Zweck" entsprechen. Aber bereits die staatliche Befugnis zur Steuererhebung lasse „das staatliche und kommunale Finanzausstattungsinteresse" nach dem Grundgesetz als legitimes Ziel erscheinen, so daß auch „reines Gewinnstreben" öffentlicher Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich erlaubt sei 5 . I I . Glücksspiel und Gemeinwohl Wird Gewinnerzielung verfassungsrechtlich als Gemeinwohlverwirklichung verstanden, dann kann der Staat das Gemeinwohl kaum besser, das heißt effizienter verwirklichen als durch das Betreiben von Glückspielunternehmen. Im Jahr 2003 dürfte der Fiskus 4,7 Milliarden Euro aus der Spielleidenschaft der Bundesbürger erzielt haben; davon dürften etwa 830 Millionen Euro die inzwischen 78 deutschen Spielkasinos überwiesen haben6. Vor dem zweiten Weltkrieg war in Deutschland lediglich die Spielbank in Baden-Baden zugelassen worden. Nach dem Kriege, als die Konzessionskompetenz in die Hände der Länder fiel, wurde die Szene lebhafter. Bis zum Jahre 1974 hatten sich 13 Spielbanken etabliert, und zwar - von Travemünde und Westerland abgesehen - alle im süd- und südwestdeutschen Raum zwischen Bad Neuenahr und Bad Reichenhall. Finanznöte ließen jetzt aber auch bei den sozialdemokratisch geführten Regierungen der Länder Berlin, Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen politische Hemmungen gegen das „Spiel der höheren Stände" fallen (so eine Formulierung der Wirtschaftswoche von 1976). Während der Betrieb öffentlicher Spielkasinos bis 1974 grundsätzlich in privater Hand lag, be4 In diesem Sinne zuletzt Wolfram Cremer, Gewinnstreben als öffentliche Unternehmen legitimierender Zweck: Die Antwort des Grundgesetzes, DÖV 2003, 921 ff., 929 ff. 5 Vgl. Cremer, Fn. 4, S. 922. 6 Vgl. iwd., Glücksspiel - Sechs Richtige für den Fiskus, Informationsdienst Nr. 25 v. 19. Juni 2003; Wirtschaftswoche Nr. 26. vom 19.06.2003, S. 108. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Eike von Hippel, Zur Bekämpfung der Spielsucht, ZRP 2001, 559. Dazu, daß fiskalische Interessen evident die Ziele des Baden-Württembergischen Spielbankengesetzes dominieren Hans Jürgen Papier, Staatliche Monopole und Berufsfreiheit - dargestellt am Beispiel der Spielbanken, in: Festschrift für Stern, 1997, S. 557. Der Bayerische Oberste Rechnungshof hat bereits im Jahr 1978 die Neuerrichtung einer Spielbank im Raum Mittelfranken angeregt, die „erhebliche Mehreinnahmen für den Staatshaushalt" erwarten läßt, vgl. BayORH, Jahresbericht 1993, Textnummer 25.2 (http://www.orh.bayern.de/JB93-25.htm). Siehe auch Michael Adams/Till Tolkemitt, Das staatliche Lotterieunwesen, ZRP 2001, 511 ff.
Der Freistaat Bayern als Spielbanken-Betreiber
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stimmten die Gesetze der Länder Nordrhein-Westfalen von 1974 und Bremen von 1978, daß Gesellschafter eines Unternehmens zum Betrieb einer Spielbank nur juristische Personen des öffentlichen Rechts oder solche juristischen Personen des Privatrechts sein können, „deren Anteile ausschließlich juristischen Personen des öffentlichen Recht gehören" 7 . Das Land Nordrhein-Westfalen selbst darf aber keine Spielbankanteile übernehmen. Solche Skrupel hatte der bayerische Gesetzgeber 1995 nicht mehr. Art. 2 Abs. 2 des Bayerischen Spielbankengesetzes lautet: „Die Erlaubnis darf nur dem Freistaat Bayern für einen Staatsbetrieb auf Antrag des Staatsministeriums der Finanzen erteilt werden". Bemerkenswert ist die Begründung, die das Bayerische Staatsministerium des Innern im Prozeß um die Verstaatlichung des Spielkasinos Lindau dafür anführt, daß es der Staat hier riskieren könnte, als Unternehmer tätig zu werden. Es meinte, „Spielbanken ließen sich nicht mit Wirtschaftsunternehmen vergleichen, die nach marktwirtschaftlichen Kriterien arbeiteten und sich insbesondere einem freien Wettbewerb stellen müßten". Die (durch § 284 StGB) gesetzlich vorgegebene Ordnung der staatlich konzessionierten Spielbanken „führe dazu, daß nur wenige Spielbanken bestünden, die ohne echte Konkurrenz und ohne besondere unternehmerische Leistungen automatisch und risikolos hohe Gewinne erzielen könnten" 8 . I I I . Grundrechte, Glücksspiel und Gemeinwohl An dieser Stelle sollten nun endlich die Grundrechte ins Spiel kommen. Denn wirtschaftliche Tätigkeit als solche ist - historisch, faktisch und unter dem Grundgesetz und unter der Bayerischen Verfassung - zunächst einmal die Tätigkeit Privater 9 . Völlig zu Recht hat demgemäß das Bundesverfas7 Vgl. Wilfried Berg, Zur Konkurrenz zwischen öffentlichen Spielbanken und privaten Glücksspielvereinen, MDR 1977, 277; Heinrich Niestegge, Zur Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Spielbankenrecht, Dissertation Münster 1983, S. 19 ff. mit Abdruck der Gesetze als Anhang 14, 17 (S. 164 ff.). Von den im Jahr 2000 bestehenden 46 öffentlichen Spielbanken wurden nur 15 in rein privater Trägerschaft betrieben, vgl. Jörg Berkemann, Aus der Rechtsprechung des BVerfG, JR 2001, 279. 8 Vgl. BVerwGE 96, 302 (304, 316). Keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Art. 2 I I BaySpielBG hatte jüngst auch der BayVGH Beschluß vom 22.10.2002, NVwZ-RR 2003, 202 ff. 9 Vgl. Wilfried Berg, Wirtschaftsverwaltungsrecht, in: Berg/Knemeyer/Papier/ Steiner, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl. 1996, Teil I Rn. 1 S. 540. Siehe auch Löwer, Fn. 3, S. 420 ff.; Hans-Jürgen Papier, Grundgesetz und Wirtschaftsordnung, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts Teil 1, 2. Aufl. 1995, § 18 Rn. 14 ff., S. 805 ff. Wie Art. 1 I I GG feststellt, sind die Menschenrechte „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft". Herrschaftsge2*
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Wilfried Berg
sungsgericht i n seinem Beschluß zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Verstaatlichung der baden-württembergischen Spielbanken das Spielbankenrecht „ohne sichtbares Zögern dem Schutzbereich der Berufsfreiheit" zugeordnet 1 0 . Allerdings w i r d dieser Fortschritt sogleich dadurch relativiert, daß das Gericht dem Beruf des Spielbankunternehmers eine „atypische Besonderheit" attestiert: „ D e r Betrieb einer Spielbank ist eine an sich unerwünschte Tätigkeit, die der Staat gleichwohl erlaubt, u m das illegale Glücksspiel einzudämmen, dem nicht zu unterdrückenden Spieltrieb des Menschen staatlich überwachte Betätigungsmöglichkeiten zu verschaffen und dadurch die natürliche Spielleidenschaft vor strafbarer Ausbeutung zu schützen" 1 ] .
wait ist nur eingerichtet, um die Menschenrechte zu sichern, vgl. Peter Badura, Grundrechte als Ordnung für Staat und Gesellschaft, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, 2004, § 20 Rn. 11. Dazu, daß die berufliche Tätigkeit seiner Bürger für den Staat „grundlegend" ist Otto Depenheuer, Freiheit des Berufs und Grundfreiheiten der Arbeit, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Band 2, 2001, S. 242, 245 ff., 248 f. 10 Vgl. Berkemann, Fn. 7, S. 280, der das legislative Vorhaben wegen der Sicherheit der Gewinne darüber hinaus in die „Nähe einer Legalenteignung" gerückt sieht; BVerfGE 102, 197 (213 f.); ebenso bereits BVerwGE 96, 302 (307 - Spielbankbetrieb als Beruf). Dazu z.B. Johannes Dietlein, Das staatliche Glücksspiel auf dem Prüf stand, BayVBl. 2002, 161 ff.; Jörg Ennuschat, Zur verfassungs- und europarechtlichen Zulässigkeit landesrechtlicher Restriktionen für private Glückspielveranstalter, N V w Z 2001, 771 ff.; Helge Sodan, Verfassungsrechtsprechung im Wandel am Beispiel der Berufsfreiheit, NJW 2003, 257 ff.; Markus Thiel, Spielbankenmonopol und Berufsfreiheitsgrantie, GewArch 2001, 96 ff. Zur „Verabschiedung" vom Erlaubtheitskriterium Ulrich Gassner, Glücksspiel und Berufsfreiheit, N V w Z 1995, 449 ff.; Peter J. Tettinger, Lotterien im Schnittfeld von Wirtschaftsrecht und Ordnungsrecht, DVB1. 2000, 873 f.; Andreas Voßkuhle, Glücksspiel ohne Grenzen Zur rechtlichen Zulässigkeit der grenzüberschreitenden Vermittlung von Pferderennwetten, GewArch 2001, 180 und bereits Wilfried Berg, Berufsfreiheit und verbotene Berufe, GewArch 1977, 249 ff. Der EuGH, Urteil v. 11.09.2003, GewArch 2004, 26 ff. sieht Glücksspiel als wirtschaftliche Tätigkeit, die der Dienstleistungsfreiheit unterfällt, Art. 2, 49 ff. EGV. 11 Vgl. BVerfGE 102, 197 (215). Dietlein, Fn. 10, S. 163 sieht diese Qualifikation „als Derivat jener für überwunden geglaubten Rechtsprechung, die die Anwendung der Berufsfreiheit von der einfachrechtlichen, insbesondere der strafrechtlichen Zulässigkeit des Handelns abhängig machte". Sodan, Fn. 10, S. 260 hält diese Formel für „erstaunlich innovativ mit der bedauerlichen Folge eines Rückschritts in der Freiheitsgewährung". BayVGH NVwZ-RR 2003, 2002, sieht das Merkmal der „Unerwünschtheit" nicht als Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 12 GG, sondern als „Modifikation" der „Drei-Stufen-Lehre" zur Verminderung der Rechtfertigungsanforderungen für objektive Zulassungsschranken in atypischen Fällen.
Der Freistaat Bayern als Spielbanken-Betreiber 1. Staatsmonopol
als objektive
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Zugangsbeschränkungen
Dabei hatte das Gericht zunächst v ö l l i g richtig erkannt, daß die Einrichtung eines Staatsmonopols - w i e durch das 1995 i n Baden-Württemberg geschaffene Spielbankengesetz geschehen - privaten Unternehmern jede Chance n i m m t , eine Erlaubnis z u m Betrieb einer Spielbank zu erhalten. D a der „ Z u g a n g z u m Beruf des Spielbankunternehmers insoweit nicht von der Qualifikation der Unternehmen oder von sonstigen Kriterien abhängig ist, auf welche die Bewerber u m eine Erlaubnis Einfluß nehmen können", w i r k e dieses M o n o p o l „ w i e eine objektive Berufszulassungsvoraussetzung". Solche Grundrechtsbeschränkungen sind an sich nur zulässig, wenn sie zur A b w e h r nachweisbarer oder höchst wahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zwingend geboten s i n d 1 2 . N u n könnte man durchaus vertreten, daß das Gefahrenpotential des Glücksspiels, insbesondere durch Förderung und Verbreitung der Spielsucht, so hoch ist, daß der Gesetzgeber zu objektiven Zugangsbeschränkungen schreiten d ü r f t e 1 3 . Dann könnte man sich sogar ein völliges Glücksspielverbot i m Sinne des § 284 StGB vorstellen. Allerdings müßte auch ein 12
Vgl. BVerfGE 7, 377 (408); 102, 197 (214). Papier, Fn. 6, S. 548 ff., 554 ff. qualifiziert die Einrichtung eines staatlichen Spielbankenmonopols mit umfassender und überzeugender Begründung als „objektive Zugangsbeschränkung". Der zitierte Festschriftbeitrag (Fn. 6) geht auf ein Rechtsgutachten zurück, das Papier für den Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde gegen das baden-württembergische Spielbankengesetz erstattet hat; wegen der vom BVerfG für begründet erklärten Selbstablehnung (E 102, 122) hat Papier an dem Beschluß vom 19.07.2000 nicht mitgewirkt. - An sich bedeutet öffentliche Monopolwirtschaft eine „absolute Berufssperre", die einen „fundamentalen Freiheitsverlust" bewirkt; wegen ihrer spezifischen Eingriffsschwere ist sie „richtigerweise jenseits der Stufenkonzeption des Apothekenurteils, zumindest aber als objektive Berufszulassungsschranke einzuordnen", vgl. Rüdiger Breuer, Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VI, 1989, § 148, Rn. 62, 64. 13
In diesem Sinne wohl Dietlein, Fn. 10, S. 163 f. mit Nachweisen in Fn. 34 u.a. zur Klassifikation der Spielsucht als eigenständigem Krankheitsbild durch die WHO; zur Spielsucht ferner von Hippel, Fn. 6; Gerhard Meyer, Glücksspiel - Zahlen und Fakten, in: Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch Sucht 2003, S. 99 ff. Differenzierend Fritz Ossenbühl, Der Entwurf eines Staatsvertrages zum Lotteriewesen in Deutschland - Verfassungs- und europarechtliche Fragen, DVB1. 2003, 885 f. BVerfGE 102, 197 (216) deutet an, daß die Prognose der Gefährdung überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter nicht ausgeschlossen werden soll. So auch die Begründung des Gesetzentwurfes über Spielbanken im Freistaat Bayern, LT-Dr 13, 887, S. 5: Die Bedeutung des „überragend wichtigen Gemeinschaftsguts" (Abwehr der Gefahren, die sich aus der Ausnutzung der Spielleidenschaft ergeben)" würde es rechtfertigen, an dem generellen Verbot des Betriebs von Spielbanken ... festzuhalten". Auch BVerwGE 96, 302 (311) und E 114, 92 (96, 100) gehen von einer verfassungsmäßigen objektiven Zugangsbeschränkung aus.
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solches Verbot die Verhältnismäßigkeitsprüfung bestehen. Die Erfahrungen mit der Alkoholprohibition oder mit Rauchverboten dürften aber bewiesen haben, daß einem solchen Verbot schon die Eignung zur Abwehr dieser Gefahren fehlte - von seiner Erforderlichkeit oder Verhältnismäßigkeit ganz zu schweigen. 2. Eignung des Staatsmonopols zum Schutz gefährdeter Gemeinwohlbelange ? Wegen der oben beschriebenen „atypischen Besonderheiten" der „an sich unerwünschten Tätigkeit" von Spielbankunternehmern und „im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes" soll es ausreichend, aber auch notwendig sein, selbst objektive Beschränkungen des Zugangs zu jenen Beruf „nur" davon abhängig zu machen, daß mit der im Einzelfall beabsichtigten Beschränkung (bloß) wichtige Gemeinwohlbelange verfolgt werden 14 . Die vom baden-württembergischen Gesetzgeber genannten Ziele waren es, die Abwehr von Gefahren zu effektivieren, die der Bevölkerung und den Spielteilnehmern durch das öffentliche Glücksspiel drohen; außerdem wollte er die Spielerträge möglichst vollständig zu Gunsten der Allgemeinheit zur Förderung gemeinnütziger Zwecke verwenden. Beide Belange schätzt das Bundesverfassungsgericht als so gewichtig ein, daß sie auch eine objektive Beschränkung des Zugangs zum (unerwünschten) Beruf des Spielbankunternehmers rechtfertigen können. Unterstellt man die Legitimität dieser Zwecksetzung 15 , dann müßte das Mittel zur Zweckerreichung - die Einrichtung eines Staatsmonopols - verhältnismäßig - also geeignet, erforderlich und angemessen - sein, um dem Grundgesetz zu genügen. Ohne weiteres eignet sich die Verstaatlichung von Spielbanken zur Gewinnabschöpfung, weil „Gewinne in der Hand privater Spielbankunternehmer nicht mehr entstehen können" 16 . 14 Vgl. BVerfGE 102, 197 (215); Ennuschat, Fn. 10, S. 772; BayVGH NVwZ-RR 2003, 202. 15 Zur Zwecksetzung BVerfGE 102, 197 (216). Dabei sei hier dahingestellt, ob der ordnungsrechtliche Begründungsansatz nicht lediglich in den amtlichen Gesetzesbegründungen vorgeschaltet wird, um die „eigentliche" erwerbswirtschaftlich-fiskalische Zielsetzung zu verschleiern; dazu Papier, Fn. 6, S. 555 ff., 557 f. Zur Untauglichkeit der Rechtfertigung durch den Zweck der „Gewinnabschöpfung" siehe nur Hans D. Jarass, Grundrechtliche Vorgaben für die Zulassung von Lotterien gemeinnütziger Einrichtungen, DÖV 2000, 760 f.; Jan-Dirk Rausch, Die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit staatlicher Monopole bei Sportwetten, GewArch 2001, 109 f. Grundlegend und umfassend zum Ausschluß der Erwerbswirtschaftlichkeit des Staates Löwer, Fn. 3, S. 418 ff.
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Um eine Antwort auf die wirklich spannende Frage, ob sich eine Verstaatlichung auch dazu eignet, Gefahren wirksam zu begegnen, die von Spielbanken für die Spieler und für die Allgemeinheit ausgehen, drückt sich das Gericht jedoch herum 17 . Anstatt den positiven Eignungsnachweis auch hier zu führen, begnügt sich das Gericht in methodisch fehlerhafter Weise mit der negativen Behauptung, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die Überführung der Spielbanken in die Hand staatlicher Unternehmen ungeeignet sein könnte, um die Gefahrenabwehr in diesem Bereich zu verbessern. An dieser Stelle versucht nun der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in die Bresche zu springen, indem er zunächst auf die „höchstrichterlich bestätigte Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers" verweist, die sich „gerade auch auf die Einschätzung der späteren Wirkungen einer gesetzlichen Normierung erstreckt" 18 . Obwohl der BayVGH ebenfalls nicht sauber zwischen Eignung und Erforderlichkeit des staatlichen Betreibermonopols trennt, führte er doch aus der amtlichen Begründung zum bayerischen Spielbankengesetz Argumente an, die speziell die Eignung belegen sollen. Wegen der prinzipiellen Unerwünschtheit öffentlichen Glücksspiels wäre die Ausrichtung privater Unternehmern auf mehr Umsatz und Gewinn ein „Systembruch", zumal dann, wenn im Interesse des Gemeinwohls „Gewinn dämpfende Veränderungen erforderlich sind". Außerdem könne durch staatliche Betriebe wegen intensiverer Informations-, Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten die Abwehr von Gefahren besser gewährleistet werden als durch staatliche Kontrollmechanismen gegenüber privaten Betreibern; hinzu komme die öffentliche Kontrollmöglichkeit durch den Obersten Rechnungshof einschließlich der Auskunftspflicht gemäß Art. 95 BayHO 16 Vgl. BVerfGE 102, 197 (217): „Das leuchtet hinsichtlich der Absicht der Gewinnabschöpfung für gemeinnützige Zwecke ohne weiteres ein" ... Der von Cremer, Fn. 4, S. 930, 932 dem Gesetzgeber für die Eignung zur Verfolgung des Zwecks „Gewinn" fürsorglich eingeräumte Einschätzungsspielraum brauchte hier nicht strapaziert zu werden. 17 Eine methodisch unsaubere Vermengung der Prüfungspunkte Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit durch das BVerfG (trotz des eigenen Postulats: „Strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes", E 102, 197, 215) kritisiert Thiel, Fn. 10, S. 96 ff. Siehe auch Michael Sachs, JuS 201, 913: „Dabei hält das BVerfG die gesetzlichen Regelungen ohne weiteres für geeignet, die genannten Regelungsziele zu verwirklichen". BVerwGE 114, 92 (102) stellt wenigstens die Frage (und gibt dem Gesetzgeber den Auftrag zu prüfen), „ob die Veranstaltung von Sportwetten in staatlicher Monopolregie wirklich geeignet ist (Hervorhebung nur hier), die mit der Veranstaltung von Glücksspielen verbundenen Gefahren einzudämmen". Siehe auch Nikolaus Wrage, Anmerkung zum Urteil des AG Karlsruhe-Durlach, NStZ 2001, 254, 257. Zur Problematik der Eignung staatlicher Beschränkungen EuGH, Urteil v. 11.09.2003, GewArch 2004, 26 (29 f., Nr. 86, 87) und EuGH, Urteil v. 06.11.2003, GewArch 2004, 30 (32, Nr. 65). VG Leipzig GewArch 2004, 65 ff. übernimmt einfach die Diktion des BVerfG. 18
BayVGH NVwZ-RR 2003, 202 (203) mit Hinweis auf BVerfGE 102, 197.
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(entspricht im wesentlichen § 95 BHO). Schließlich könne durch die „für eine solche Aufsicht erforderliche sehr enge Zusammenarbeit zwischen Aufsichtspersonen und Privatunternehmen der Anschein entstehen ..., es würde nicht die notwendige Distanz zwischen Unternehmen und Kontrollorgan gewahrt" 19 . Geradezu absurd ist das zuletzt angeführte Argument. Wenn operatives Glücksspielgeschäft und staatliche Informations-, Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeit im Fall des Staatsbetriebs in einer Hand liegen, soll die „notwendige Distanz" über jeden Zweifel erhaben sein, bei einer Trennung von Betreiber und Kontrolleur hingegen nicht! Völlig vergessen scheinen hier die Verfilzungen sozialistischer Staatswirtschaft ebenso wie die Skandale um die (bayerische) LWS, um die (nordrhein-westfälische) WestLB und massive Kritiken der Rechnungshöfe an Staatsbetrieben 20. Vordergründig plausibler scheinen hingegen die Überlegungen zum „Systembruch" beim Betrieb des unerwünschten Glücksspielgewerbes durch gewinn- und erfolgsorientierte Private. Die Erfahrung, daß der Staat nicht wirtschaften kann, führte hier zu der positiven Pointe, daß Erfolglosigkeit im Interesse des Gemeinwohls geradezu gewollt wäre. Insofern ließe sich konsequenterweise die Staatstätigkeit auch erheblich ausweiten auf sonstige „unerwünschte" Wirtschaftszweige wie z.B. den Verkauf von Alkohol, Tabakwaren und Waffen und auch die Monopolisierung von Bordellen im Staatsbetrieb wäre nach diesen Vorstellungen geeignet, um für bestimmte, nicht zu unterdrückende Bedürfnisse ein ausreichendes, aber knapp bemessenes Angebot bereitzustellen. In Wirklichkeit geht aber diese Eignungsargumentation von einer unzulässig auf Gefahrenabwehr verkürzten Zwecksetzung aus, die den Zweck der Einnahmeerzielung durch den Staat einfach ausblendet 21 . Ein realistischeres Bild zeichnen aktuelle Berichte von Landesrechnungshöfen, die das 19 BayVGH NVwZ-RR 2003, 202 (203/204) mit wörtlicher Bezugnahme auf die amtliche Begründung zum BaySpielBG, LT-Dr 13/887, S. 6 zu Art. 2. 20 Siehe zuletzt die Rüge des Staatlichen Hofkellers Würzburg durch den BayORH als unrentabel und konzeptlos, Jahresbericht 2003, Textziffer 28, S. 119 ff.: Es fehlt an einer „klaren Zielsetzung für diesen Staatsbetrieb, aus der zu ersehen wäre, warum der Staat Wein produziert", http://www.orh.bayern.de/Jahresbericht2003.pdf. - Zur klassischen Kritik an der Leistungsfähigkeit staatlicher Wirtschaft Dirk Ehlers, Empfiehlt es sich, das Recht der öffentlichen Unternehmen im Spannungsfeld von öffentlichem Auftrag und Wettbewerb national und gemeinschaftsrechtlich neu zu regeln?, Gutachten E zum 64. Deutschen Juristentag, 2002, S. E 11 f.; weitere Nachweise bei Löwer, Fn. 3, S. 431 f., Fn. 70. - Mit Recht formuliert Papier, Fn. 6, S. 563: Zu einer wirksamen administrativen Kontrolle gehört eine „gemeinwohlbezogene Gegenüber-Position". Siehe auch schon Wilfried Berg, Die wirtschaftliche Betätigung des Staates als Verfassungsproblem, GewArch 1990, 225, 233 mit weiteren Nachweisen.
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Versagen des Staates als Spielbankunternehmer eindrucksvoll und zum Teil drastisch dokumentieren. So hat der Niedersächsische Landesrechnungshof in seinem 2003 dem Niedersächsischem Landtag vorgelegten Jahresbericht einen nachhaltigen wirtschaftlichen Abstieg der Spielbanken Niedersachsen GmbH, mangelnde Mitarbeitermotivation, fehlendes öffentliches Interesse an einem solchen Unternehmen im Sinne von § 65 LHO (entspricht § 65 Β HO) und Interessenkollisionen bei der Staatsaufsicht festgestellt, ohne daß strafrechtlich relevante Manipulations- und Betrugsversuche signifikant abgenommen hätten 22 . Ebenso wie der Niedersächsische Landesrechnungshof kommt der Rechnungshof des Freistaates Sachsen dazu, die festgestellten Mängel zum Anlaß zu nehmen, „das Betreiben von Spielbanken allein in staatlicher Hand in Frage zu stellen" 23 . Mit der in Schleswig-Holstein im Jahr 1995 eingeführten mittelbaren Trägerschaft des Landes für die Spielbanken „war die Erwartung verbunden, dass die öffentliche Kontrolle besser gewährleistet und dass die Bevölkerung vor den mit der Spielleidenschaft verbundenen Gefahren möglichst intensiv geschützt wird. Der Landesrechnungshof kann nicht feststellen, dass sich diese Erwartungen erfüllt haben" 24 In der rechtswissenschaftlichen Literatur und zunehmend auch in der Rechtsprechung sind in den letzten Jahren immer mehr Argumente zusammengetragen worden, die die rechtliche Legitimation des Staates für den Betrieb von Spielbanken bestreiten und damit deutlich machen, daß ein Staatsmonopol hierfür kein zur Gemeinwohlverwirklichung geeignetes Mittel ist 2 5 . 21
Vgl. BayVGH NVwZ-RR 2003, 202 (204) und amtliche Begründung zum Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung vom 21.03.1995: „Dass neben den ordnungsrechtlichen auch fiskalische Belange berührt sind, ändert daran nichts". - Zu den fiskalischen Interessen als (Haupt?)Motiv für staatliche Spielbankenmonopole siehe oben zu Fn. 6 ff. und Nachweise dort. 22 Vgl. Niedersächsischer Landesrechnungshof, Ergebnis der Rechnungsprüfung für das Haushaltsjahr 2001 vom 21.05.2003, LTDr 15/180 Nr. 34, S. 125 ff.: „Der Staat als privatrechtlicher Betreiber von Spielbanken - Rien ne va plus". 23 Vgl. Rechnungshof des Freistaates Sachsen, Jahresbericht 2002, Nr. 46.3 (373), http://www.sachsen.de/bf/verwaltung/rechnungshof/jb2002.pdf 24 Vgl. Bemerkungen 2003 des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein mit Bericht zur Landeshaushaltsrechnung 2001 vom 27.03.2003, Punkt 13.2, S. 119, http://www.lrh.schleswig-holstein.de/com/Veroeffentlichung/Bemerkungen/2003/ BM2003.pdf 25 Betrachtet man allerdings die Verstaatlichungstendenzen der letzten 10 Jahre, dann zeigt sich, daß konsequent alle kritischen Stimmen ignoriert werden. Das Glücksspielrecht wirft damit „in besonderer Weise ein Schlaglicht auf die Bedeutung wissenschaftlicher Argumentation für die Entscheidungen des Gesetzgebers, wenn es um staatliche Fiskalinteressen geht", vgl. Nikolaus Wrage, Anmerkungen zu den neugeschaffenen Werbungsverboten gem. § 284 I V und § 287 I I StGB, ZRP
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Beklagt w i r d insbesondere das widersprüchliche staatliche Verhalten, einerseits den Spielbetrieb zu kanalisieren und einzudämmen, andererseits aber durch „ausufernde Werbung" Einnahmemaximierung anzustreben 2 6 . Dabei geht es an sich nicht einmal u m die Intensität der W e r b u n g 2 7 , sondern darum, daß der Staat überhaupt für ein „unerwünschtes" Verhalten w i r b t ; denn diejenigen Bürger, deren „ n i c h t zu unterdrückender Spielfreud i g k e i t " staatlich überwachte Betätigungsmöglichkeiten verschafft werden sollen, dürften das z . B . i n Bayern m i t 9 Spielbanken „ausreichend aber knapp bemessene" Angebot auch ohne Werbung finden. Der Schaden für die Glaubwürdigkeit des Staates ist evident, i n seinen konkreten A u s w i r kungen aber kaum zu ermessen. K r i t i k richtet sich aber auch gegen die zur Rechtfertigung von Staatsmonopolen i n den Vordergrund gerückte Absicht, die Spielbankenkontrolle durch eine solche Monopolisierung zu effektivieren. A u f die rechtsstaatswidrige Konfusion, die b e i m Zusammentreffen von Kontrollierten und K o n trolleuren i m Staat entsteht, der zudem ein eigenes wirtschaftliches Interesse am möglichst ungeschmälerten G e w i n n aus den Spielbanken hat, wurde bereits h i n g e w i e s e n 2 8 . D i e Behauptung der Überlegenheit interner 1998, 429. - Völlig ignoriert wird in der Gesetzgebungspraxis auch die seit 1993 geltende Forderung des § 7 I 1 BHO, bei allen staatswirtschaftlichen Tätigkeiten Privatisierungsmöglichkeiten zu prüfen. 26 Vgl. Rolf Stober, Neuregelung des Rechts der öffentlichen Unternehmen?, NJW 2002, 2363; ferner Dietlein, Fn. 10, S. 164 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Andreas Voßkuhle, Glücksspiel zwischen Staat und Markt, VerwArch 87 (1996), S. 426 f. mit Nachweisen zu den Werbeetats. BVerwGE 114, 92 (102) weist darauf hin, daß eine „mit aggressiver Werbung einhergehende Ausweitung des Spielangebotes" die Eignung von Monopoleingriffen im Glücksspielbereich in Frage stellen würde. 27 Die Werbeausgaben stiegen in Bayern von landesweit 2,1 Millionen D M im Jahr 2000 auf 1,3 Millionen Euro im Jahr 2001 und entsprechen einem Anteil von 1% des Bruttospielertrags. Darin sieht der BayGH NVwZ-RR 2003, 202 (203) „keine Anzeichen für eine auf ein Massenpublikum abzielende aggressive Werbung der staatlichen Spielbanken in Bayern". Der Widerspruch zu den eigentlichen gesetzlichen Zielen gerät so gar nicht erst in den Blick. - Die 1998 neu geschaffenen Werbungsverbote der §§ 284 IV, 287 I I StGB stellen hingegen jede Werbung für (unerlaubte) Veranstaltungen von Glücksspielen bzw. Lotterien unter Strafe. Zu den Mängeln dieser Regelungen Ψ rage, Fn. 25, S. 426 ff. 28 Siehe oben im Text zu Fn. 20 und die Nachweise dort. Dazu, daß Staat wie Gemeinden ihre Gemeinwohlaufgaben nur dann objektiv, unparteiisch und optimal erfüllen können, wenn sie keine Rücksicht auf eigenwirtschaftliche Tätigkeit nehmen müssen, Wilfried Berg, Die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen - kommunale Selbstverwaltung und Wettbewerb, WiVerw 2000, S. 153 ff. Zu den Gefahren der Interessenkollision des saarländischen Ministers für Inneres und Sport wegen seiner „Dreifach-Funktion" im Hinblick auf die Saarland-Sporttoto GmbH siehe den Jahresbericht von 1999 des Rechnungshofs des Saarlandes, Rn. 17, S. 47 ff., http://www.rechnungshof.saarland.de/medien/inhalt/JB 1999AD50.pdf
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staatlicher Kontrolle läßt aber auch außer Betracht, daß ein Privater als Spielbankbetreiber bei jeder Unregelmäßigkeit und bei jedem Verstoß gegen Normen und Auflagen mit dem Konzessionsentzug rechnen und damit seinen wirtschaftlichen Existenzverlust gewärtigen muß 2 9 , während Sanktionen im internen öffentlichen Bereich eher schleppend sind und allenfalls dann greifen, wenn einem einzelnen, bestimmten Mitarbeiter ein konkret vorwerfbares Verhalten nachgewiesen worden ist - dem „Staat" als Betreiber geschieht auch dann nichts, wenn er die elementarsten Organisationsregeln verletzt 30 . Im übrigen liegen die Risikopotentiale für betrügerische Manipulationen bei den dort beschäftigten Menschen, deren Charakter kaum dadurch beeinflußt werden dürfte, ob sie Angestellte eines Staatsbetriebes oder einer privaten Spielbank sind 3 1 . Entscheidend ist vielmehr die Qualität der für alle gleich geltenden Regeln und der Kontrolle ihrer Einhaltung. Dazu konnte das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Spielbanken in Baden-Baden und Konstanz nur feststellen, daß sie in privater Trägerschaft bis zur Verstaatlichung „hervorragend geführt wurden und Skandale und sonstige Unzuträglichkeiten nicht hervorgetreten sind" 3 2 . 3. Grundrechte
und Gemeinwohl
Zurückzukommen ist nunmehr auf die Grundrechte, den Ausgangs- und Zielpunkt der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte als „negative Kompetenzvorschriften" (.Konrad Hesse) hindert den Staat, dort Befugnisse auszuüben, wo ein Grundrecht dem einzelnen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit garantiert 3 3 . Deshalb ist es wichtig zu erkennen, wo grundrechtliche Freiheit an29
Prägnant herausgearbeitet von Papier, Fn. 6, S. 560. Für das Lotteriewesen begründen Adams/Tolkemitt, Fn. 6, S. 511 ff. aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht die förderliche Rolle des Wettbewerbs im Hinblick darauf, daß die Ausbeutung von Kunden verhindert wird. 30 Vgl. Papier Fn. 6, S. 560. Siehe Gernot Korthals, Versagen die Kontrollen?, in: v. Arnim (Hrsg.), Korruption, Fn. 1, S. 132 ff., 140 ff. zu den Grenzen und Schwächen der Finanz- und Korruptionskontrolle durch die Rechnungshöfe und S. 142 ff. zu den Kontrollverlusten durch neue Entwicklungen der öffentlichen Verwaltung. - Zu Konzessionsentziehungen und zum Versagen der staatlichen Aufsicht in niedersächsischen Spielbanken-Affären Eckart Spoo, Nur ein Taschengeld, in: Georg Hafner/Edmund Jacoby (Hrsg.), Die Skandale der Republik, 1990, S. 362 ff. 31 Sehr wirklichkeitsnah die Beschreibung des „wichtigsten Risikopotentials" im Spielkasino bei Papier, Fn. 6, S. 559 f. 32 Vgl. BVerfGE 102, 197 (219). Der früheren privaten Betreiberin der Spielbank Lindau wird ebenfalls bescheinigt, „daß sie in der Vergangenheit keinen Anlaß zu Beanstandungen gegeben habe", vgl. BVerwGE 96, 302 (304). 33 Vgl. Konrad Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Fn. 9, § 5 Rn. 19: Die Grundrechte „entziehen den von ihnen geschützten
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fängt, und deshalb liegt eine wichtige Weichenstellung in der inzwischen höchstrichterlich gesicherten Erkenntnis, daß der Betrieb einer Spielbank die Kriterien eines Berufs im Sinne des Art. 12 GG erfüllt 3 4 . Dann muß aber auch mit der in der „Stufentheorie" des Bundesverfassungsgerichts vorgenommenen grundlegenden Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Berufszugangsvoraussetzungen Ernst gemacht werden. Mag es zwischen Berufsausübungsregeln und subjektiven Zugangsbeschränkungen durchaus graduelle oder gar fließende Übergänge geben 35 - objektive Zugangsbeschränkungen haben eine völlig andere Qualität: Sie dienen nicht der Berufsfreiheit, indem sie z.B. die Ungefährlichkeit der Berufsausübung sicherstellen und die Berufstätigkeit optimieren, sondern sie verhindern die Verwirklichung der Berufsfreiheit um „überragender Gemeinwohlgüter" willen. Diese besondere Gemeinwohlanforderung wird - zu unrecht - verschiedentlich wie eine bloß graduelle Abstufung in einer Reihe mit vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls und wichtigen Gemeinschaftsgütern zur Rechtfertigung von Berufsausübungsregeln und subjektiven Zugangsvoraussetzungen genannt 36 . Der Sinn der dritten Stufe liegt jedoch darin, die Berufsfreiheit zu verdrängen, wenn andernfalls - noch - wichtigere Gemeinwohlgüter, die die Berufsfreiheit in ihrer Bedeutung überragen, nachweisbar oder höchst wahrscheinlich schwer gefährdet würden. Dort, wo deshalb objektive Schranken bestehen, hängt der Berufszugang eben nicht von berufsbezogenen Kriterien der Eignung, Befähigung oder fachlichen Leistung ab, Bereich der staatlichen Zuständigkeit und verbieten insoweit seinen Zugriff"; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 20. Aufl. 1995, Rn. 291. Zur Limitierung der Staatsgewalt Ulrich Hösch, Wirtschaftliche Betätigung von gemeindlichen Unternehmen und Privaten - ein Vergleich, WiVerw 2000, 162 ff.; Löwer, Fn. 3, S. 423 f. Zur „Grundrechtsorientierheit des Verwaltungshandelns" Detlef Merten, in: Somme rmann/Ziekow (Hrsg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, 2002, S. 211 ff.; Wolfgang Weiss, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 113 ff.: „Grundrechte als Staatsaufgabennormen". 34 Siehe oben die Nachweise in Fn. 10. 35 Zu „Aufweichungen der Stufenlehre" und zur Entwicklung einer umfassend angelegten Verhältnismäßigkeitsprüfung Peter J. Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 12, Rn. 109 ff., 114 ff.; siehe auch Depenheuer, Fn. 9, S. 260 ff.: „Von den Stufen zur gleitenden Skala". 36 So scheint dies auch BVerfGE 102, 197 (214 f.) zu sehen: Obwohl das badenwürttembergische Spielbankenmonopol „wie eine objektive Berufzulassungsvoraussetzung" wirke, erforderten die Besonderheiten des Spielbanken„marktes" einen „breiteren Regelungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers", so daß es ausreichend sei, wenn (bloß) „wichtige Gemeinwohlbelange verfolgt werden". - Demgegenüber sei hier nochmals daran erinnert, daß öffentliche Monopolwirtschaft als Berufssperre wirkt, die unternehmerische Berufsfreiheit dem Grunde nach ablöst und deshalb einen noch fundamentaleren Freiheitsverlust als objektive Berufzulassungsschranken bewirkt, vgl. Breuer, Fn. 12; siehe auch Tettinger, Fn. 35, Art. 12 Rn. 113: „Eigentlich eine noch schärfere Ingerenz".
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sondern davon, ob berufsfremde, ranghöhere Gemeinwohlgüter anders nicht geschützt werden können. Aus der freiheitsverdrängenden Ausnahmestellung objektiver Zugangsbeschränkungen müssen Konsequenzen gezogen werden, die diesen Besonderheiten in verfassungsgemäßer Weise Rechnung tragen. Wenn die „Notwendigkeit" einer objektiven Zugangsbeschränkung zur Abwehr von Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut Voraussetzung für ihre Zulässigkeit ist, dann kann es insoweit weder für die Gefahrenlage noch für die Eignung des Grundrechtseingriffs eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers geben. Schon dann, wenn nicht sicher ist, ob ein Eingriffe auf einer niedrigeren Stufe ausgereicht hätten, gehen Zweifel zu Lasten des Gesetzgebers mit der Folge der Verfassungswidrigkeit der objektiven Zugangsbeschränkung 37 . Es ist deshalb nur verständlich und zugleich im Interesse einer Stärkung des Grundrechtsschutzes positiv zu vermerken, daß sich nach Beseitigung von Bedürfnisprüfungen im Gaststätten- und Apothekenrecht, nach Wegfall der Kontingentierung des Güterfernverkehrs und nach dem weitgehenden Abbau absoluter Ausbildungsplatzbeschränkungen kaum noch Beispiele für objektive Zugangsbeschränkungen finden 38 . Dem durch die Grundrechte fundierten und dirigierten Gemeinwohl würde es dienen, wenn der Freistaat Bayern nun auch sein Spielbankenmonopol aufgäbe. Denn ein solcher Schritt bewiese Vertrauen in die Verantwortungsfähigkeit der Menschen als Grundlage der Demokratie 39 und verbesserte zugleich die arg strapazierte Glaubwürdigkeit des Staates im Interesse der Verwirklichung des Gemeinwohls.
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Vgl. Papier, Fn. 9, Rn. 54 (S. 823 f.); ders., Fn. 6, S. 554 f., 562. Demgegenüber „vergißt" BVerfGE 102, 197 (218) die besondere Schwere des Grundrechtseingriffs einer objektiven Zugangsbeschränkung und legt zur Rechtfertigung nur noch die Maßstäbe an, die für eine - völlig anders wirkende - subjektive Zugangsbeschränkung gelten, unter Einräumung eines Beurteilungs- und Prognosespielraums des Gesetzgebers. Dabei hat Depenheuer, Fn. 9, S. 262 f. herausgearbeitet, daß Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insofern der Grundsatz ist, „daß der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Beschränkung von Grundrechten um so größer ausfällt, je geringer die Eingriffsintensität ist, die von dem Gesetz erwartet wird". Sodan, Fn. 10, S. 260 meint, es mehrten sich Anzeichen dafür, daß liberale Grundsätze zum Schutz der Berufsfreiheit in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nicht mehr in gleicher Weise zur Anwendung gelangen wie noch in der älteren Judikatur". 38 Vgl. Wilfried Berg, Staatsrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 603. Zur - meist gemeinschaftsrechtlich veranlaßten - Aufhebung weiterer Staatsmonopole Hans Herbert v. Arnim, Rechtsfragen der Privatisierung, 1995, z.B. S. 145; Weiss, Fn. 33, S. 117 f. mit Nachweisen in Fn. 365. 39 Zum bisherigen „paternalistischen Staats- und Strafrechtsverständnis" im Spielbankenrecht Wrage, Fn. 25, S. 427.
Globalisierung und Demokratie Von Thilo Bode I. Es fehlt eine gerechte Globalisierungspolitik Ginge es nach Anzahl, Dimension und Absichten internationaler Konferenzen, die globale Probleme lösen sollen, müsste die Menschheit sich auf einem guten Weg befinden. Im Spätsommer 2002 nahmen 50000 Delegierte und 100 Regierungschefs an der bisher größten Veranstaltung dieser Art, der „Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung" in Johannesburg, teil. Zahllose weitere internationale Tagungen, z.B. über Welternährung, Klima, Rassismus, Entwicklungshilfefinanzierung, die Rettung der Urwälder, internationalen Handel und Menschenrechte fanden seither statt. Doch trotz dieser inflationären Bemühungen um globale Zusammenarbeit gibt es gleichwohl bedrückende Anzeichen, dass die Welt sich in eine Richtung entwickelt, die nicht ihre Einheit, sondern ihr Auseinanderbrechen zur Folge haben könnte: Der so genannte Krieg gegen den Terror hat nicht ansatzweise mehr Sicherheit gebracht. Das Völkerrecht liegt nach dem Irak-Krieg in Trümmern. Die Zahl der Terroranschläge steigt. Hunger, Armut und Krieg breiten sich in den ärmsten Entwicklungsländern weiter aus. Und die räuberische Nutzung von Meeren, Wäldern und der Atmosphäre zerstört die Existenzgrundlagen der Menschen. Um diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen, braucht es eine globale Politik, die drei Ziele verfolgen muss: die Armut in der Welt besiegen, globale Sicherheit schaffen, die natürlichen Lebensgrundlagen schützen und damit die Globalisierung gerecht gestalten. Gerecht, weil sie sowohl die bestehenden Ungerechtigkeiten überwinden würde, aber auch den zukünftigen Generationen Gerechtigkeit wiederfahren ließe. Keines der drei Ziele kann ohne die jeweils anderen beiden erreicht werden: Globale Sicherheit kann es ohne die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie nicht geben. Denn Diktatur und Unterdrückung schüren den Extremismus und destabilisieren somit die globale Sicherheit. Demokratie und die Achtung der Menschenrechte sind aber auch wichtige Voraussetzungen für die Überwindung der Armut. Nur in einer Gesellschaft, die grundlegende Individualrechte schützt, haben die Armen eine Chance, sich aus der Armut zu befreien. Denn ohne Eigentumsrechte und ohne
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Schutz vor politischer Willkür bestehen für den Einzelnen weder ein Anreiz noch die Möglichkeit für unternehmerische Aktivitäten. Und schließlich ist Armut eine der Ursachen für die Zerstörung von natürlichen Ressourcen, beispielsweise wenn Siedler aus purer Not Wälder abholzen. Sie ist aber auch Folge einer Wirtschaftspolitik, die die Ökosysteme übernutzt. Die Ärmsten werden am meisten unter den von der globalen Erwärmung verursachten Naturkatastrophen leiden, weil sie sich nicht dagegen schützen können. Globalisierungspolitik erfordert, dass die Staaten der Welt zusammenarbeiten. Wie gut und effektiv die Zusammenarbeit ist, obliegt jedoch nicht nur den internationalen Konventionen und Organisationen. Letztlich ist das Verhalten der Nationalstaaten ausschlaggebend, und zwar vor allem dasjenige der Staaten, die in der Welt etwas zu sagen haben. Es ist ein Märchen, die Nationalstaaten seien durch die Globalisierung entmachtet worden. Trotz unbestreitbarer Abhängigkeit nationaler Volkswirtschaften etwa von den internationalen Kapitalmärkten ist der nationale Gestaltungsraum viel größer, als vorgegeben wird. Nationalstaaten können sehr wohl eine Energiepolitik, die den Ausstoß von Treibhausgasen drastisch mindert, umsetzen, gerechte und dennoch effiziente Sozialsysteme haben und eine an den Menschenrechten orientierte Außenpolitik vertreten. Nur zu oft ist die beklagte Machtlosigkeit nationaler Regierungen eine Ausrede, um von verdeckten Interessen oder von eigenem Versagen abzulenken. Und wenn die Gestaltungsspielräume, wie beispielweise in der europäischen Agrarpolitik, beschränkt sind, dann sind sie es, weil es die Regierungen es so beschlossen haben. Demokratie ist nicht nur Delegation, sondern auch Kontrolle von Herrschaft. Im internationalen Kontext aber haben die Nationalstaaten in verantwortungsloser Weise Herrschaft an internationale Gremien delegiert, ohne für die notwendige demokratische Kontrolle dieser Herrschaft zu sorgen. I I . Deutsche Globalisierungspolitik: Fehlanzeige Die einflussreichsten Nationalstaaten dürfen nicht länger auf die internationalen Organisationen verweisen, sondern müssen selber aktiv werden, um die Globalisierung umzugestalten. Als einer der mächtigsten Industriestaaten in der Welt wird Deutschland ebenso wenig wie andere Staaten seiner globalen Verantwortung gerecht. Die Regierung spricht zwar von der neuen politischen Rolle Deutschlands in der Welt, aber Impulse für eine gerechte Globalisierungspolitik, beispielsweise für eine zivile Strategie gegen den Terror, sendet Deutschland nicht aus. Gibt es tatsächlich einmal eine Debatte über Globalisierungspolitik auf nationaler Ebene, wird nur heiße Luft produziert.
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Am 28. Juni 2002 diskutierte das deutsche Parlament den Abschlussbericht der Enquête-Kommission: „Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten". Die eineinhalbstündige Aussprache im gähnend leeren Plenarsaal, Tagungsordnungspunkt 24, folgte der Diskussion über „Kapitalteilhabe stärken - Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht ausbauen". Sie fand vor Tagesordnungspunkt 25: „Zur umfassenden und nachhaltigen Förderung des Sports in Deutschland" statt. Der Vorgang zeigt symptomatisch den Zustand der Demokratie in Deutschland: Mehr als zwei Jahre hatten 18 Parlamentarier unterstützt von Dutzenden von Wissenschaftlern und Gutachtern an dem 600 Seiten langen Bericht gefeilt. Das war es dann auch. In einer lebendigen, leistungsfähigen Demokratie müssen die Politiker Herausforderungen und Kosten der Globalisierung den Bürgern erklären und mit ihnen diskutieren. Doch Themen wie die globale Erwärmung, Stammzellenforschung, Biotechnologie und jetzt die Globalisierung, diese Überlebensfragen werden an Expertenzirkel und Kommissionen delegiert, wo sie anschließend einem Mehrheitsvotum unterzogen werden.
I I I . Das globale Demokratie-Defizit Angesichts des offensichtlichen Versagens der etablierten Politik, Globalisierung gerecht zu gestalten, ist es nicht verwunderlich, dass die Globalisierungskritiker als neue soziale Bewegung des 21. Jahrhunderts Unterstützung und Sympathie erfahren. An ihren Protesten wird gerne moniert, dass diese nur vage seien und auch widersprüchliche Zielsetzungen verträten und im Wesentlichen emotional argumentierten. Diese Analyse übersieht allerdings, dass es ein zentrales, einigendes Element der Protestbewegung gibt: die Frustration und Unzufriedenheit mit der nationalen und internationalen Politik und deren Unfähigkeit, die großen Probleme der Welt, wie etwa die Kluft zwischen Arm und Reich und die globale Umweltzerstörung, zu lösen, sowie auch deren Mangel an Transparenz und demokratisch legitimierten Entscheidungen. In diesem Sinne gibt es Ähnlichkeiten mit der Bewegung von 1968, die sich ebenfalls gegen Institutionen richtete. Doch der Protest ist viel konkreter, er analysiert unter anderem die spezifischen Defizite der wichtigsten Organisationen, etwa der WTO oder des IMF. Er greift sowohl das Demokratiedefizit des bestehenden Systems Internationalen Regierens („Global Governance") als auch dessen unzureichende Effizienz auf. Im Mittelpunkt dieser Kritik steht das „Demokratiedefizit" der internationalen Zusammenarbeit zwischen Staaten. Diese Zusammenarbeit hat in den letzten Jahrzehnten rapide zugenommen. Sie ergibt sich zwangsläufig, weil 3 FS von Arnim
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Entscheidungen, die vormals im nationalen Kontext ergriffen wurden und sich vorwiegend national ausgewirkt haben, zunehmend die gesamte Weltgemeinschaft betreffen. Die Handels- und Finanzpolitik sowie die Umweltpolitik sind prominente Beispiele dafür. Die Auswirkungen von Umweltgiften - wie etwa chlorierten Kohlenwasserstoffen, einem Abfallprodukt der chemischen Industrie, die sich in der Nahrungskette anreichern - bleiben nicht auf nationale Territorien beschränkt. Hohe Konzentrationen dieses Giftes finden sich weltweit im Fleisch von Meeressäugetieren oder auch bei Eisbären in der Arktis. Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die die Ozonschicht zerstören, tun dies unabhängig davon, wo sie auf der Erde produziert oder freigesetzt wurden. Auch Maßnahmen, die auf den ersten Blick einen rein nationalen Charakter haben, wirken sich global aus. Wenn Brasilien beschließt, große Teile des Regenwaldes in Amazonien abzuholzen, hat das nicht nur Auswirkungen auf das Weltklima und die Biodiversität, sondern beeinflusst auch das Leben und die Optionen zukünftiger Generationen. Offensichtlich ist die globale Vernetzung wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Wenn die OPEC den Rohölpreis anhebt oder die Vereinigten Staaten den Import von Gütern der Elektronikindustrie beschränken, kann das die ganze Welt in eine Wirtschaftskrise stürzen. Die globalen Auswirkungen nationaler Maßnahmen sowie die Tatsache, dass einzelne Nationalstaaten allein die globalen Probleme nicht lösen können, erfordern hohe Kooperationsbereitschaft, um ein international abgestimmtes Vorgehen zu erreichen. Damit es zu wirksamen aber auch akzeptierten Lösungen kommt, kann die Souveränität nationaler Staaten nicht mehr als unantastbar und absolut angesehen werden. Andererseits aber sind supranationale Entscheidungen auf die Dauer nur wirksam, wenn sie im fairen Ausgleich für alle Betroffenen entschieden und umgesetzt werden. Deshalb bedürfen sie einer demokratischen Kontrolle. Im nationalen Kontext haben die Bürger indirekt durch die repräsentative Demokratie oder direkt durch plebiszitäre Entscheidungswege die Möglichkeit, ihren Willen geltend zu machen und Kontrollrechte auszuüben. Das ist im internationalen Kontext nicht der Fall. Dort handeln Delegierte der jeweiligen Exekutive als Bindeglied zwischen dem Bürger und dem System internationaler Verträge. Die Rolle der nationalen Parlamente beschränkt sich in den meisten Fällen darauf, die von der Exekutive ausgehandelten Verträge „abzunicken oder abzulehnen. Möglichkeiten der Einflussnahme bestehen sowohl aus praktischen als auch aus grundsätzlichen Gründen nicht. Es ist schwer vorstellbar, zu vernünftigen internationalen Verträgen zu kommen - deren Aushandlung ohnehin kompliziert genug ist - , wenn gleichzeitig neben den Delegationen auch nationale Parlamente jeweils in die Verhandlungen ein-
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greifen würden. Somit gebietet bereits die Notwendigkeit einer gewissen Effizienz ein Vorgehen wie bisher. Gerade aber diese Effizienz des globalen Governance-Systems ist im Hinblick auf die Lösung der anstehenden Probleme bei weitem nicht ausreichend. Das betrifft vor allem solche Abkommen, die mit dem Konsensprinzip entschieden werden müssen. Aufwendige, jahrelange, zermürbende Verhandlungen führen oft zu Ergebnissen, die nur den kleinsten gemeinsamen Nenner repräsentieren. Um sowohl erhöhte Legitimation und gleichzeitig erhöhte Effizienz des globalen Governance Systems zu erreichen, müssen die internationalen Entscheidungsprozesse demokratisiert werden. Neben der EU sind es insbesondere der IWF und die WTO, denen mangelnde demokratische Legitimation vorgeworfen wird. Die Entscheidungen des IWF üben außerordentlichen Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von Nationalstaaten aus. Seine Entscheidungen treffen jedoch nur eine ganz geringe Anzahl von Mitgliedsländern, nämlich im wesentlichen die USA, Japan und die großen westeuropäischen Industriestaaten. Diese wenigen vereinen mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich, da sie die meisten Kapitalanteile in den Währungsfonds eingezahlt haben. Der Rest der über 180 Mitgliedsländer des IWF hat eigentlich nichts zu sagen. Auf Kritik an der Welthandelsorganisation (WTO) wird meist entgegnet, dass die Mitgliedsländer Vertreter demokratisch gewählter Regierungen seien, die im Konsens entscheiden und damit auch demokratisch legitimierte Entscheidungen fällen könnten. Dieser Einwand trifft jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht den Kern des Problems. In der WTO sind nicht nur Vertreter demokratischer Staaten, sondern auch Vertreter undemokratischer Staaten bzw. Diktaturen repräsentiert. Auch ist die demokratische Kontrolle nur eine mittelbare, bei der WTO noch mehr als bei der EU. Ferner werden Entscheidungen über Handelsdispute zwischen Ländern auf undemokratische Weise entschieden. Ein nicht öffentlich tagendes, mit einer kleinen Anzahl von Individuen besetztes „Dispute Settlement Panel", das niemandem rechenschaftspflichtig ist, entscheidet über so wichtige Fragen wie Importbeschränkungen von hormonbehandeltem Rindfleisch oder Import von gentechnisch verändertem Saatgut. Schließlich sind die Sitzungen der Delegierten für die Öffentlichkeit oder NGOs nicht zugänglich, die im Falle der Welthandelsorganisation daher auch kein Rede- und Vorschlagsrecht haben, wie das bei anderen internationalen Konferenzen und Organisationen der Fall ist. Zwar werden die Entscheidungen im Konsens getroffen, aber die Dominanz der Wirtschaftsinteressen der großen Industrieländer und einiger wirtschaftlich erstarkter Entwicklungsländer ist eminent. Das vergebliche Bemühen der Dritten Welt nach fairen Zugangsbedingungen zu den Märkten der Industrieländer sprechen eine klare Sprache. In der Präambel der Welthandelsorganisation steht zwar, dass diese als Ziel auch 3*
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eine „Nachhaltige Entwicklung" verfolge, aber das praktische Ziel der WTO ist der Abbau von Handelsbeschränkungen ohne die Berücksichtigung von sozialen Faktoren oder des Umweltschutzes. Die Machtstrukturen auf globaler Ebene werden, kurz gesagt, nicht durch ein rechenschaftspflichtiges, supranationales demokratisches System in die Schranken verwiesen. Dort besteht somit ein deutliches Defizit an Legitimation, Rechtschutzmöglichkeiten und Kontrolle. Das ist der Hauptgrund dafür, dass von den wichtigen globalen Organisationen keine starken Impulse für eine gerechte Globalisierungspolitik ausgehen. Internationale Organisationen sollten daher allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit bieten, in relevanter Weise an der Diskussion, Willensbildung und den Entscheidungen teilzunehmen. Die Diskussion über Reformen der internationalen Institutionen, seien es die Vereinten Nationen, die Europäische Union oder andere, leidet allerdings darunter, dass zu viel Gewicht auf einer Stärkung der exekutiven Vollmachten liegt. „Wir brauchen eine Weltregierung" ist eine jederzeit populäre Forderung. Zu kurz kommt, dass globale Macht auch globale Machtkontrolle benötigt.
I V . Das nationale Demokratiedefizit Die heutige globalisierungskritische Bewegung konzentriert ihre Forderungen nach mehr Demokratie vorwiegend auf die globalen Institutionen. Aber diese Forderungen betreffen für den Nationalbürger Vorgänge und Organisationen, die für ihn weit weg und abstrakt sind. Man muss dagegen unmittelbarer ansetzen, und zwar bei den Entscheidungen, die die nationalen Demokratien produzieren. Internationale Entscheidungen können immer nur so gut sein, wie es die nationalen Entscheidungen sind. Tatsächlich sind sie meistens noch schlechter. Die Demokratisierung internationaler Entscheidungsprozesse ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um dem globalen Allgemeinwohl zu dienen. Das gelingt nur, wenn die nationalen Demokratien noch dem Allgemeinwohl verpflichtet sind. Bisher läuft es so: Die nationalen, repräsentativen Demokratien kommen zu Entscheidungen, die tendenziell die am besten organisierten, und deshalb für die Politiker in Hinblick auf eine Wiederwahl wichtigsten Partikularinteressen bevorzugen. Die französische Regierung etwa ist in hohem Maße von der französischen Agrarlobby abhängig und kämpft deshalb auch auf internationaler Ebene für diese Lobby. Die spanische Regierung, die die meisten Gelder für den Fischereisektor bekommt, möchte diese auf keinen Fall verlieren, und der deutsche Bundeskanzler hat wiederum ein primäres Interesse daran, die Steinkohlesubventionen zu erhalten, weil die Empfänger dieser Subventionen in dem für die SPD wichtigsten Bundesland, Nord-
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Rhein-Westfalen, in seiner Partei eine gewichtige Stimme repräsentieren. Im Bewusstsein der französischen Position und auch der eigenen Interessen kann sich der Kanzler im Ministerrat engagiert für den Abbau der Agrarsubventionen einsetzen, um dann diese Position fallen zulassen - was nicht weh tut, denn man hatte nie vor, dieses Ziel wirklich zu erreichen - , um sich dafür im Gegenzug den Erhalt der Steinkohlesubventionen zu sichern. In einem Tausch- und Schacherprozess setzen sich so die jeweils stärksten nationalen Partikularinteressen als internationale Entscheidungen durch; Entscheidungen, die in keiner Weise internationales Gemeinwohl widerspiegeln. Eine derartige Politik mag moralisch verwerflich sein, sie ist aber höchst rational. Der deutsche Bundeskanzler wird nämlich nicht in Brüssel, sondern in Berlin gewählt. Die mangelhafte Qualität nationaler Entscheidungen wird auf internationaler Ebene also noch mangelhafter, weil sie nicht nur dem nationalen sondern auch dem internationalen Gemeinwesen schadet. Der Lobbyismus ist Bestandteil der repräsentativen Demokratie und erfüllt ursprünglich auch eine wichtige Funktion. Volksvertreter und Exekutive haben vom Bürger den Auftrag, Gesetze, die das „Allgemeinwohl" am besten spiegeln, zu beschließen und umzusetzen. Zu diesem Zweck ist der Austausch mit Interessensgruppen wichtig, um einen Ausgleich ihrer Interessen herbeiführen zu können. Dieser Austausch soll im Dienst der Bürger geschehen, um in Vertretung derselben die für sie besten Entscheidungen zu erzielen. Der Lobbyismus hat jedoch inzwischen eine Entwicklung genommen, die den ursprünglichen Gedanken pervertiert. Unsere Demokratie ist zu einer Lobbykratie deformiert, in der sich Partikularinteressen flächendeckend durchsetzen. Diese üben ihren Einfluss auf allen gesellschaftlichen Ebenen aus, außerhalb und innerhalb des Parlaments sowie in der Verwaltung. Der Einfluss der Interessenverbände, also der Unternehmensverbände und der Gewerkschaften, aber auch der Standesvertretungen wie der kassenärztlichen Vereinigungen ist eine Folge ihres hohen Organisationsgrades und deren Verflechtung mit der Ministerialbürokratie und den Volksvertretern auf allen Ebenen. Politiker können es sich nicht leisten, die Privilegien dieser mächtigen Gruppen zu beschneiden. Jede politische Initiative, die das Machtgleichgewicht der Standesvertretungen zu stören droht, führt zu einem Aufschrei der Empörung. Medien nehmen den Protest nur allzu bereitwillig auf und stilisieren ihn zu einem dramatischen „show down". Politiker hüten sich deshalb davor - aus ihrer Sicht völlig rational - , es sich mit einer Standesvertretung wirklich zu verderben. Das wesentliche Ziel der Politiker, die Wiederwahl bzw. der Machterhalt, kann eine derartige Auseinandersetzung ernsthaft gefährden.
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Mit steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender internationalen Verflechtung erhöht sich auch das politische Gewicht der großen Konzerne. Im Verhältnis zwischen Regierenden und Großkonzernen herrscht - ähnlich den Beziehungen zwischen Regierung und Interessenverbänden - ebenfalls ein subtiler Erpressungsmechanismus. Großkonzerne verfügen über ein besonders wirksames Drohpotential. Sie entscheiden über Investitionen und deshalb über Tausende von Arbeitsplätzen. Die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit verstärkt noch einmal den Einfluss auf die Politik. Die Drohung, bei unliebsamen Regierungsentscheidungen die Produktion ins Ausland zu verlegen - ob realistisch oder nicht - , ist zum Erpressungsritual der Wirtschaft geworden. Dass aus beschäftigungspolitischer Sicht dieser Druck falsche Signale setzt, ist bedeutungslos. Zwar sind für die Beschäftigung die mittelständischen Betriebe entscheidend, denn bei ihnen arbeiten über 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland. Doch wenn 20 mittelständische Betriebe mit je 250 Beschäftigten pleite gehen, sind das Nachrichten für die Kreiszeitungen. Wenn dagegen eine Großbank ankündigt, 5000 Stellen zu streichen, ist dies ein Aufmacher in der Tagesschau. Die Möglichkeit, sich über die Medien in die Politik einzumischen, besitzt die mittelständische Industrie nicht. Dagegen braucht sich der Vorstandssprecher der Deutschen Bank nur in einem Nebensatz über die Attraktivität von London als Standort für die Großfinanz zu äußern und schon reagieren die Politiker in Panik. Während in den Vereinigten Staaten die Großindustrie ihre Politiker mehr oder weniger direkt kauft und bezahlt (die Energiekonzerne haben den Wahlkampf von George W. Bush maßgeblich finanziert - und es ist nicht überraschend, dass die Energiepolitik der USA, für die Vizepräsident Dick Cheney, wie George W. Bush auch ein Mann der Ölindustrie, verantwortlich zeichnet, präzise die Interessen der Ölkonzerne widerspiegelt), ist der Einfluss der deutschen Industrie auf die Politik nicht weniger effektiv, vielleicht etwas subtiler. Der Verband der deutschen Zigarettenindustrie hat dem Bundesgesundheitsministerium 11,8 Millionen Euro für eine Kampagne, die Jugendliche vom Rauchen abhalten soll, zur Verfügung gestellt. Die deutsche Regierung hat sich in der EU-Kommission gegen ein Werbeverbot für Zigaretten zur Wehr gesetzt. In Deutschland ist es ganz legal, Politikern Geld zu geben - Bedingung ist lediglich, dass das Finanzamt informiert wird. Der Begriff „Lobby" steht ursprünglich für den Einfluss der Interessengruppen außerhalb des Parlamentes, nämlich in der „Lobby". Mittlerweile haben allerdings die Lobbyisten schon längst das Parlament selbst erobert. Von der Unabhängigkeit der Parlamentarier zu sprechen, ist angesichts der Doppel- und Dreifachfunktionen der Abgeordneten, der Zugehörigkeit zu Berufsverbänden, Aufsichtsräten und Wirtschaftsverbänden eine grobe Ver-
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kennung der Tatsachen. Die Mehrheit im Parlament stellen Angehörige des öffentlichen Dienstes. Allein schon deshalb kann man die für den Abbau der Bürokratie so notwendige Reform des öffentlichen Dienstes und des Berufsbeamtentums nicht erwarten. Im Parlamentsausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sind von den 30 Mitgliedern ein Drittel in einflussreichen Positionen von Unternehmen und Verbänden der Agrarindustrie, meist Verwaltungsräten, tätig. Ein weiteres Drittel ist über Mitgliedschaften oder ähnliche Funktionen ebenfalls der Agrarlobby eng verbunden. Gerade mal ein Drittel der Ausschussmitglieder kann als unabhängig und damit als Sachverwalter von Verbraucherinteressen gelten. In Deutschland haben viele eine Lobby, aber offensichtlich nicht die, für die die Demokratie da ist: die Bürger. Der Bürger darf zwar wählen, aber da, wo die politischen Entscheidungen fallen, hat er keinen Einfluss mehr. In den Verhandlungen über eine Reform des Gesundheitswesens sitzen Pharmaindustrie, Krankenhäuser und Ärzte am Tisch, die Patienten bleiben außen vor. Die Agrarpolitik wird vom Bauernverband, Raiffeisenverband und der Chemieindustrie gemacht, die Verbraucher, die diese Politik besonders angeht, bleiben außen vor. Das Europäische Parlament, die Vertretung der europäischen Bürger, darf noch nicht ein mal über das Agrarbudget bestimmen. Qualitätsanforderungen, Normen, Kennzeichnung von Nahrungsmitteln: Der Verbraucher ist nicht gefragt. Die dafür zuständige Kommission auf nationaler und internationaler Ebene dominieren die Industrieverbände und die Ministerialbürokratie. Gerne wird argumentiert, wenn es nur deutliche Mehrheiten gäbe und die lähmende föderalistische Struktur in Deutschland nicht existierte, würde der Einfluss der Interessengruppen ehern eingedämmt. Doch dies ist ein Trugschluss, wie die so genannte Gesundheitsreform Ende 2003 gezeigt hat. Die Maßnahmen wurden gemeinsam von SPD und CDU durchgesetzt. Leider aber auf Kosten der Schwächsten. Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende und Kranke zahlen die Zeche. Die Pharmaindustrie, die kassenärztlichen Vereinigungen, der Apothekerstand - sie wurden von Belastungen verschont. Effizienz wird zwar lautstark gefordert, aber durchgesetzt wird sie vornehmlich auf der Nachfrageseite - bei den Patienten. Interessen- und Standesvertretungen sind hierzulande doppelt organisiert, einmal in ihren eigenen Verbänden, zum anderen in den Parteien, die in Deutschland, laut Grundgesetz, Artikel 21, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken sollen. Der Stagnationspakt der Interessenverbände findet seine Fortsetzung im Parteiensystem - und verstärkt diese Stagnation noch. Dies deshalb, weil die Parteiendemokratie mittlerweile zum Parteienstaat deformiert ist, „der sich zwar immer mehr durchsetzt, aber selber nichts mehr durchsetzt" (Robert Leicht).
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Parteienvertreter sitzen in der öffentlichen Verwaltung und bieten den Parteien somit eine wichtige Machtbasis und Einfluss auf politische Entscheidungen. Nebenbei dient die Verwaltung den Parteien auch als Auffangnetz für abgewählte oder ausgeschiedene Politiker; die Vergabe von Botschaftsposten ist besonders beliebt. Aber auch die Justiz ist nicht unabhängig: Die Richterstellen beim obersten Verfassungsgericht haben die Parteien so aufgeteilt, dass im Fall einer Vakanz feststeht, welche Partei den Vorschlag zur Neubesetzung machen darf. Auch bei der Besetzung der obersten Bundesrichter spielen die Parteien eine Rolle, ebenso bei Rechnungshöfen, Landesmedienanstalten und Datenschutzbeauftragten. Parteien entsenden ihre Vertreter in die Institutionen der politischen Bildung, üben Einfluss auf die Personalabteilungen von Verkehrsbetrieben, öffentlichen Banken (Sparkassen), Krankenhäusern aus. Mit Steuergeldern finanzieren die Parteien ihre Stiftungen. Schließlich haben sie auch noch diejenigen Institutionen im Griff, die sie kontrollieren sollen. Parteien nehmen auf Kontrollgremien und Programmgestaltung von öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten Einfluss. Sogar Korrespondentenposten werden beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen noch nach Parteienproporz vergeben. Die Hemmschwelle, diese Machtfülle legal oder illegal finanziell abzusichern, ist niedrig. Parteien genehmigen sich großzügige Wahlkampfkostenerstattung aus Steuergeldern für volksverdummende Wahlkampfwerbung, nehmen Geld von Unternehmen und Organisationen an und geben gleichzeitig vor, unabhängig zu sein. Dass der Parteieneinfluss nicht eingedämmt wird, ist nicht verwunderlich. Die Parteien machen schließlich die Gesetze selber. Der totale Parteienstaat ist Gift für die Demokratie. Eigentlich soll der Wettbewerb zwischen den Parteien die Effizienz der Demokratie gewährleisten. Doch ein Kartell hat den Wettbewerb ersetzt. Nicht mehr unabhängige Abgeordnete streiten im Namen des Allgemeinwohls, sondern Parteien. Parteien, die geschlossen auftreten und geschlossen abstimmen müssen, um die Macht gegenüber den anderen Parteien zu erhalten. Die Auseinandersetzung der Parteien ist keine politische mehr sondern eine parteipolitische. Allerdings führt für Politiker kein Weg an den Parteien vorbei: Wer in Deutschland politische Karriere machen will, muss zuvor eine Parteikarriere machen, sich also einem Selektionsprozess aussetzen, der die fähigsten politischen Überlebenskämpfer und besten strategischen Intriganten hervorbringt, aber nicht die unabhängigen, selbstständig denkenden und kreativen Persönlichkeiten, die heute eine Demokratie braucht. Der Parteienstaat produziert den mittelmäßigen Berufspolitiker, der die parlamentarische Aufgabe als Belohnung für die internen überstandenen Parteikämpfe ansieht,
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mit der Perspektive eines prestigeträchtigen und alterssichernden Staatssekretärpostens vor Augen. V. Zur Wahl gehen reicht nicht Die Deformation der nationalen Demokratie ist nicht nur ein nationales Problem. Mehr denn je ist diese Dysfunktionalität ein globales Risiko, weil sie keine gerechte Globalisierung produziert. Diese Unfähigkeit des politischen Systems ist jedoch keine Frage der Moral oder des fehlenden politischen Willens. Sie ist im System selber angelegt. Die Akteure verhalten sich nicht unmoralisch sondern rational. Die Standes Vertretungen und Interessenverbände müssen den Willen ihrer Mitglieder durchsetzen. Je unnachgiebiger sie dies tun, desto größer ist ihre Legitimation und die Anerkennung ihrer Mitglieder. Die Politiker wollen im Wesentlichen eines: Macht erlangen und Macht erhalten. Auch das ist nicht verwerflich. Deshalb verteilen sie Geschenke an die stärksten Lobbygruppen, um sich deren Wohlwollen zu versichern. Das Prinzip „Macht auf Zeit" wird damit zum Leitprinzip, obwohl eigentlich das Prinzip „Verantwortung auf Dauer" die politischen Entscheidungen leiten sollte. Die unzureichende Politik liegt also in einem unzureichenden System begründet. Es ist derzeit nicht zukunftsfähig. Eine grundlegende Änderung der Politik erfordert deshalb eine Änderung des Systems. Anzusetzen ist am Kern des Übels: der unzureichenden Effizienz der zur Lobbykratie deformierten nationalen repräsentativen Demokratie. Eine grundlegende Reform muss die Demokratie von der Herrschaft der Partikularinteressen entschlacken und vom Parteifilz befreien. Das Parlament muss wieder das Sagen haben, und nicht Konsensrunden von Standesorganisationen. Unabhängige Parlamentarier müssen entscheiden, und nicht ins Parlament delegierte Abgeordnete von Firmen und Berufs verbänden. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen dem Zugriff der Parteien entzogen werden und befreit von Proporzzwängen ihrem Bildungs- und Kontrollauftrag nachkommen. Und das Volk sollte direkt entscheiden, wo sich das anbietet. Die Institutionen der Demokratie und ihre Protagonisten, die Parteien, haben jedoch kein Interesse an Veränderung. Für sie ist es rational, den Status quo zu verteidigen. Unabhängigkeit von Interessengruppen, mehr direkter Einfluss des Souveräns würde ihre Position schwächen und ihre Privilegien abbauen. Dass Parteien sich freiwillig für ein Verbot von Industriespenden einsetzen oder dafür, dass Partei Vertreter nicht mehr in Fernsehoder Rundfunkräten sitzen, ist höchst unwahrscheinlich. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass die Demokratie sich von innen heraus erneuern kann. Der Druck muss von außen und von unten kommen. Eine neue soziale Bewe-
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gung muss es schaffen, die nationalen und internationalen politischen Systeme so zu reformieren, dass diese (wieder) langfristig verantwortliche Politik machen. Es reicht nicht mehr, zur Wahl zu gehen, weil es einen echten Wettbewerb der Parteien nicht gibt und wir nur durch die Abgabe unserer Stimme das System nicht ändern. Wir müssen als Bürger direkten Druck machen. Möglichkeiten gibt es viele. Zahllose nationale und internationale Organisationen setzen heute schon gegen die etablierte Politik Anliegen des Gemeinwohls durch. Ob Umwelt-, Sozial-. Menschenrechts- oder Verbraucherprobleme, Fortschritte auf diesem Gebiet kommen weder von der Politik noch von den Konzernen, sondern durch Druck von außen zustande. Ohne die Gruppen, die sich dieser Themen angenommen haben, wäre unsere Demokratie schon längst bankrott. Die Fassade der Stillstands- und Interessenpolitik bröckelt schnell, wenn wir uns nur organisieren. Es lohnt sich, aber es ist auch unsere Pflicht. Wir leben in einem Staat, der eine wichtige Stimme in der Welt hat. Zusammen mit einer Handvoll Ländern bestimmen wir, wo es in der Welt lang geht. Und momentan geht es in die falsche Richtung. Nur wenn die Spielregeln der internationalen und der nationalen Demokratien neu geschrieben werden, gibt es eine Chance, die Globalisierung gerecht zu gestalten.
Die Europäische Sicherheitsstrategie und die Nationale Sicherheitsstrategie der USA im Vergleich Von Eberhard Bohne I . Problemstellung 1. Europäische
Sicherheitsstrategie
I m Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach Art. 11 Abs. 1 E U V bestimmt der Europäische Rat gemäß Art. 13 Abs. 1 E U V die Grundsätze und allgemeinen L e i t l i n i e n der GASP. Der Rat hat am 12.12.2003 den Vorschlag für eine europäische Sicherheitsstrategie (ESS) „ E i n sicheres Europa i n einer besseren W e l t " 1 angenommen, den Javier Solana, der Generalsekretär des Rates und Hohe Vertreter für die GASP, vorgelegt hatte. D i e ESS ist ein politisches Strategiepapier 2 , das A n stöße für die Weiterentwicklung der G A S P und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ( E S V P ) 3 geben w i l l . 4 D i e ESS beschränkt sich nicht auf militärische und polizeiliche Sicherheitsfragen, sondern geht von einem breiten Sicherheitskonzept aus, das auch zentrale Bereiche der 1 Die englische Originalfassung ist zugänglich unter der Internet-Adresse . 2 Die ESS ist formal keine „gemeinsame Strategie" i.S. des Art. 12 EUV, da sie nicht die von Art. 13 Abs. 2 EUV hierfür vorgeschriebenen Aussagen über die zur Verwirklichung der Strategie bereitzustellenden Mittel enthält. 3 Die ESVP geht auf eine französisch-britische Initiative aus dem Jahr 1998 zurück und soll den europäischen Staaten eine eng begrenzte Autonomie im Rahmen der NATO geben. Über Inhalt und Umfang des europäischen Handlungsspielraums besteht mit den USA und zwischen den NATO-Mitgliedern Streit. Siehe zur ESVP: Jolyon Howorth, Saint-Malo plus five: An interim assessment of ESDP, Groupement d'Études et de Recherches Notre Europe, Policy papers No. 7, November 2003 . 4 Dazu: Sven Biscop/Rik Coolsaet, The world is the stage - A global security strategy for the European Union, Groupement d'Études et de Recherches Notre Europe, Policy papers No. 8, December 2003 ; Erich Reiter, Die Sicherheitsstrategie der EU, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 3-4/2004 .
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Handels-, Entwicklungshilfe-, Energie- und Umweltpolitik umfasst. Sie skizziert die Grundzüge für eine internationale Ordnung, die zugleich die Sicherheit Europas in einer besseren Welt garantieren soll. Wer von einer so anspruchsvollen Zielsetzung nur wohlklingende politische Gemeinplätze befürchtet, wird angenehm überrascht. Die ESS ist unpathetisch, knapp (14 Seiten) und verständlich formuliert. Sie enthält trotz gewisser Unbestimmtheiten, die zur Konsensbildung im Europäischen Rat wohl unvermeidbar waren, einen plausiblen Politikentwurf, der der historischen Erfahrung der EU-Mitgliedsstaaten Rechnung trägt, dabei die Gemeinsamkeiten mit der US-amerikanischen Sicherheitspolitik hervorhebt, aber grundlegende Unterschiede zur derzeitigen amerikanischen Politik nicht verschleiert. Zu den geistigen Grundlagen der ESS gehören die Ausführungen der Europäischen Kommission über den Beitrag der EU zu „Global Governance" im Weißbuch „Europäisches Regieren" vom 25.07.20015, ein hierfür erstellter Arbeitsgruppenbericht der Kommission 6 sowie verschiedene Forschungsberichte 7 . Die USA haben den Europäern oft und nicht zu unrecht 8 einen Mangel an geopolitischem, strategischem Denken seit dem Ende des Kalten Krieges vorgeworfen. Nach der Vorlage einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) durch die Bush-Regierung im September 2002 drohten sich diese sicherheitskonzeptionellen Defizite Europas zu vergrößern. Die ESS ist - bis in die Wortwahl hinein - auch eine Reaktion auf die amerikanische NSS. Sie versetzt die Europäer in die Lage, mit den USA nunmehr auf gleichem konzeptionellem Niveau über die Weiterentwicklung der internationalen Sicherheitsordnung diskutieren zu können. 9 2. Nationale Sicherheitsstrategie
der USA
Nach dem National Security Act von 1947 (50 U.S.C. 404a) ist der USPräsident verpflichtet, dem Kongress jährlich einen Bericht über die Natio5
COM (2001) 428 final. Report of Working Group 5 „Strengthening Europe's contribution to world governance, May 2001 . 34 Kristol/Kagan 1996 (Fn. 16), 31. 33
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aktuelle Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen illustriert das neue Selbstverständnis der amerikanischen Regierung. Es ist daher auch von einer „Bush-Revolution" die Rede. 35 c) Zwischen dem europäischen Selbstverständnis in der ESS und dem amerikanischen Selbstverständnis in der NSS 2002 bestehen fundamentale Unterschiede, die sich auch auf Konzeption und Inhalt der Sicherheitsstrategien auswirken. Die Unterschiede sind historisch bedingt. Die Gründung der EU ist nicht - wie die Gründung der USA - das Ergebnis militärischer Erfolge, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Kriege und militärischer Niederlagen. Nicht Sendungsbewusstsein, sondern das gemeinsame Streben, Kriege unmöglich zu machen, ist das einigende Band im Selbst Verständnis der europäischen Nationen. 36 Die Europäer sind deswegen keine Pazifisten oder realitätsfernen Träumer vom ewigen Frieden, wie dies Robert Kagan 37 unterstellt mit seiner falschen 38 , aber populären Metapher, nach der die Amerikaner vom Mars und die Europäer von der Venus kommen. Auch die ESS hält den Einsatz militärischer Mittel in bestimmten Fällen für unverzichtbar 39 . Die Weltherrschaft eines einzelnen Staates als Sicherheitsprinzip ist der ESS jedoch fremd. 2. Wertgrundlagen a) ESS und NSS zielen auf eine internationale Ordnung ab, die im Prinzip auf denselben Grundwerten beruht. Beide Strategien treten ausdrücklich für Menschenrechte, Demokratie und die „Rule of Law" ein. Allerdings liegt der NSS das amerikanische Verständnis dieser Grundwerte zugrunde, wie es in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 zum Ausdruck gekommen ist. Die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung werden - jedenfalls von Neokonservativen 40 - als „allgemein gültige und selbstevidente Wahrheiten" verstanden, die überall in der Welt durchgesetzt werden müssen. 35
So: Daalder/Lindsay (Fn. 13), S. 13. Siehe zu den unterschiedlichen Einstellungen der Europäer und Amerikaner zum Krieg: Ernst Ulrich von Weizsäcker, The old and new Europe: Alternatives for future transatlantic relations?, in: Eberhard Bohne/Charles F. Βonser/Kenneth M. Spencer (Hrsg.), Transatlantic perspectives on liberalization and democratic governance, Transatlantic Public Policy Serices, Vol. 1, 2004, 384-396. 37 A.a.O. (Fn. 21), S. 3. 38 Obwohl Kagan Historiker ist, spiegelt seine Metapher völlige Unkenntnis der griechischen und römischen Mythologie wider. Venus - im Griechischen Aphrodite - war nach der Mythologie eine höchst kriegerische Göttin. Sie half Paris, den Achilles zu töten, und war die Mutter des Aeneas, des Gründers des römischen Imperiums. 39 ESS (Fn. 1), 11. 40 Vgl. Kristol/Kagan 1996 (Fn. 16), 31. 36
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Gemeinsam ist beiden Sicherheitsstrategien auch die moralische Fundierung der Außen- und Sicherheitspolitik. ESS und NSS betonen jeweils die europäische bzw. amerikanische „Verantwortung", nicht nur eine sicherere, sondern eine „bessere Welt" herbeizuführen. In der Laeken-Deklaration des Europäischen Rates von 2001 wird es sogar als Aufgabe der EU bezeichnet, einen „moralischen Rahmen" (moral framework) für die Globalisierung zu schaffen und den ärmsten Ländern zu helfen. Ähnlich hebt Präsident Bush die Wertorientierung der NSS hervor. 41 Für Neokonservative 42 gehört die moralische Fundierung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik zu den zentralen politischen Forderungen. Es werden „moralische Klarheit" (moral clarity) und eine Rückbesinnung der amerikanischen Außenpolitik auf moralische Werte (remoralization of American foreign policy) gefordert. 43 Allerdings findet die neokonservative Gleichsetzung von Moral und fundamentalen-nationalen Interessen 44 in der ESS keine Parallele. Hierin sowie in dem normativen Rang, der dem Völkerrecht und der UN-Charta als Wertgrundlagen für die internationalen Beziehungen beigemessen wird, liegen tiefgreifende Unterschiede zwischen ESS und NSS. b) In der ESS wird die Verpflichtung zur Wahrung und Fortentwicklung des Völkerrechts betont. Die UN-Charta ist der grundlegende Rahmen für die internationalen Beziehungen. Dem UN-Sicherheitsrat obliegt die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die Stärkung der UN wird daher in der ESS als ein vorrangiges Ziel Europas bezeichnet. Anders die NSS. Die UN und das Völkerrecht werden in der NSS mit keinem Wort erwähnt. 45 Das Bemühen der Nationalen Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice und des Außenministers Colin Powell, die NSS gegen Kritiker zu verteidigen, ist eine unfreiwillige Bestätigung des geringen Stellenwertes, den die UN in amerikanischen Regierungskreisen genießen. Nach Rice 46 bietet die Zusammenarbeit der Groß41
Siehe das präsidentielle Übersendungsschreiben der NSS (Fn. 11); ferner: Condoleeza Rice, A balance of power that favors freedom, Wriston Lecture, Manhattan Institute, New York City am 1.10.2002, S. 3, die die Notwendigkeit der Verbindung von Macht und Werten betont, . 42 Siehe: William J. Bennett , Morality, character and American foreign policy, in: Robert Kagan/William Kristol (Hrsg.), Present Dangers, 2000, 289-305. 43 So: Kristol/Kagan 1996 (Fn. 16), 27, 31. 44 Siehe: Kristol/Kagan 1996 (Fn. 16), 27. 45 In der NSS 2002 (Fn. 11), 23, findet sich lediglich ein Hinweis mit UNBezug, nach dem die USA das vom UN-Generalsekretär Kofi Annan organisierte Programm gegen die Seuche H I V / A I D S unterstützen. 46 A.a.O. (Fn. 41), 4.
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mächte multilateralen Institutionen wie den U N die Gelegenheit, „ihren Wert zu beweisen". Die UN sind also gegenüber der Zusammenarbeit der Großmächte nachrangig. In ähnlicher Weise rechnet Powell die U N nach Nennung der NATO nur zu den „sonstigen US-Bündnissen" 47 . Wesentlich unverblümter bringen Neokonservative ihre Geringschätzung des Völkerrechts und internationaler Institutionen zum Ausdruck. Die Berufung auf Völkerrecht und internationale Institutionen sei die Strategie der Schwachen 48 . Im neunzehnten Jahrhundert hätten die USA sie gegenüber den damaligen Großmächten England und Frankreich verfolgt, heute seien die Verhältnisse umgekehrt. c) Seit alters her gehören die jeweiligen nationalen Interessen zu den wesentlichen Wertgrundlagen, auf die sich die Staaten bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen stützen. Naturgemäß taucht der Begriff der nationalen Interessen in der ESS nicht auf, da die EU eine supranationale Institution ist. Von nationalen Interessen unabgeleitete „europäische Interessen" sind derzeit ebenso wenig allgemein anerkannt wie eine das Nationalgefühl ergänzende gemeinsame europäische Identität der EU-Einwohner. Daher ist in der ESS 4 9 auch nur zurückhaltend von der „zunehmenden Konvergenz europäischer Interessen" die Rede. Der Begriff der Konvergenz macht deutlich, dass hierbei an übereinstimmende nationale Interessen, nicht an originäre europäische Interessen gedacht ist. Demgegenüber stehen die nationalen Interessen in der Sicherheitsstrategie der USA als nationaler Supermacht seit jeher 5 0 an herausragender Stelle. Ihr Schutz hat prinzipiell Vorrang vor dem Völkerrecht. Hierzu heißt es in der NSS 2002 5 1 : ... We will be prepared to act apart when our interests and unique responsibilities so require.
Allerdings ist diese Position nicht neu. Auch die Clinton-Regierung klärte in der NSS 1998 52 : 47
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Colin L Powell, A strategy of partnerships, Foreign Affairs, January/February 2004, 2 . 48 Siehe: Kagan (Fn. 21), S. 10 f. 49 A.a.O. (Fn. 1), 1. 50 Vgl. die NSS 1998 der Clinton-Regierung (Fn. 33), 5 ff. mit einer Interessenabstufung von „vital interests", „important national interests" und „humanitarian and other interests". Vgl. dazu: Joseph S. Nye, The paradox of American power, 2002, S. 137 ff. 51 A.a.O. (Fn. 11), 31. 52 A.a.O. (Fn. 33), 2. Es ist allgemeine Meinung, auch unter den Verfechtern einer multilateralen Sicherheitspolitik, dass die USA in Ausnahmefällen unilateral und gegen den Willen der Verbündeten handeln müssen in der Hoffnung, dass jeweils der gute Zweck die Mittel heiligt, vgl. Nye (Fn. 50), S. 163.
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... We must always be prepared to act alone when that is our most advantageous course.
Die Reichweite dieses Interessenvorbehalts gegenüber dem Völkerrecht hängt vom Einzelfall ab. Generell lässt sich feststellen, dass die USA tendenziell keine völkerrechtlichen Verträge abschließen, die eine Änderung ihrer nationalen Gesetze erfordern würden. 53 Außerdem fordern sie unter Berufung auf ihre besondere Verantwortung vertragliche Privilegien oder Freistellung von bestimmten Regelungen 54 . Der amerikanische Botschafter Scheffer brachte diese Position, die die USA bei den Verhandlungen über den Internationalen Strafgerichtshof allerdings nicht durchsetzen konnten, auf den Punkt 5 5 : It is simply and logically untenable to expose the largest deployed military force in the world ... to the jurisdiction of a criminal court the US government has not yet joined and whose authority over US citizens the United States does not recognize.
Aufgrund des nationalen Interessenvorbehalts haben die USA zahlreiche grundlegenden völkerrechtlichen Abkommen im letzten Jahrzehnt abgelehnt. Hierzu gehören - außer dem Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof - z.B. das Kyoto-Protokoll, die Konvention über die biologische Artenvielfalt, die Konvention über Landminen etc. 5 6 In verschiedenen Fällen haben die USA auch völkerrechtliche Verträge unter Berufung auf nationale Interessen nicht eingehalten. 57 Jüngstes Beispiel hierfür ist die Internierung von rd. 660 Gefangenen aus Afghanistan, die seit Anfang 2002 auf dem US-Militärstützpunkt Guantanamo in Kuba ohne Anklageerhebung oder Verfahren und ohne Rechtsschutz festgehalten werden. 58 53
Dazu: Nico Krisch, More equal than the rest? Hierarchy, equality and US predominance in international law, in: Michael Byers/Georg Nolte (Hrsg.), United States hegemony and the foundations of international law, 2003, 135-175, 165. 54 Siehe: Krisch (Fn. 53), 164 f. 55 David J. Scheffer, The United States and the International Criminal Court, American Journal of International Law, 93, 1999, 12-22, 18. 56 Siehe: Krisch (Fn. 53), 154. 57 Dazu: Pierre Klein, The effects of US predominance on the elaboration of treaty regimes and on the evolution of the law of treaties, in: Michael Byers/Georg Nolte (Hrsg.), United States hegemony and the foundations of international law, 2003, 363-391, 385 f. 58 Den Gefangenen müssten entweder die Rechte von Kriegsgefangenen nach der III. Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 12.8.1949 (BGBl 1954 II, 838) oder die Rechte von Zivilpersonen nach der IV. Genfer Konvention zum Schutz der Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 (BGBl 1954 II, 917) gewährt werden. Die USA sind in beiden Fällen Vertragspartei. Die US-Regierung weigert sich jedoch, die Konventionen anzuwenden, weil sie sie für den
Sicherheitsstrategien der USA und Europas
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d) Das Streben der USA nach einem priviligierten Sonderstatus und auch gelegentliche Vertragsbrüche zur Durchsetzung nationaler Interessen sind faktisch nichts Neues. Ein ähnliches Verhalten wird seit jeher von allen Großmächten an den Tag gelegt. Eine neue Qualität erhält dieses Verhalten jedoch dadurch, dass es zu einem normativen Prinzip erhoben wird, d.h., dass der Durchsetzung von nationalen Interessen der USA ein normativer Vorrang gegenüber dem Völkerrecht eingeräumt wird. In der Tat ist dies die Position der Neokonservativen. Sie wird zum einen mit der Gleichsetzung von Moral und nationalem Interesse begründet 59 : Its [America's] moral goals and its fundamental national interests are almost always in harmony.
Zum anderen wird aus den Bedrohungen einer Hobbes' sehen Welt ein doppelter Rechtsstandard abgeleitet, nach dem die USA nicht in der gleichen Weise durch das Völkerrecht gebunden werden wie die übrigen Staaten 60 : ... The United States must sometimes play by the rules of a Hobbesian world ... It must refuse to abide by certain international conventions that may constrain its ability to fight effectively ... It must support arms control, but not always for itself. It must live by a double standard. And it must sometimes act unilaterally, ...
Das nationale US-Interesse als höchste Norm der internationalen Ordnung ist die logische Konsequenz des neokonservativen Anspruchs auf amerikanische Weltherrschaft. 3. Problemeinschätzung a) Die Sicherheitsbedrohungen für Europa, die USA und die ganze Welt werden in der ESS und der NSS sehr ähnlich eingeschätzt. Im Mittelpunkt stehen die Gefahren des weltweiten Terrorismus und der Verbreitung von Umgang mit Terroristen für unzeitgemäß hält (vgl. die Sachverhaltsdarstellung in dem Entwurf einer Stellungnahme vom 12.1.2004 des Ausschusses für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten des Europäischen Parlaments für den Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, Menschenrechte, gemeinsame Sicherheit und Verteidigungspolitik, S. 5 ). Zur Begründung ihrer Position hat die US-Regierung die neue Gefangenenkategorie des „unlawful combatant" eingeführt, der vom „commander" für die Dauer des potenziell unbegrenzt andauernden „Krieges gegen den Terror" gefangengehalten werden darf (vgl. Ruth Wegdwood, Let military rules apply while the war goes on, International Herald Tribune vom 2.12.2003). Dieser Gefangenenstatus ist dem Völkerrecht nach einhelliger Meinung außerhalb der USA unbekannt. 59 Kristol/Kagan 1996 (Fn. 16), 27. 60 Kagan, (Fn. 21), S. 99.
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Eberhard Bohne
Massenvernichtungswaffen. Übereinstimmend werden die Besonderheit und Neuartigkeit des gegenwärtigen Terrorismus in der Kombination von Tätermerkmalen gesehen, wonach die Terroristen weltweit organisiert sind, aus religiösem Fanatismus handeln und wegen der hieraus sich ergebenden Selbstmordbereitschaft nicht von Terrorakten abgeschreckt werden können. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen wird als die potenziell größte Bedrohung eingestuft. Der Einsatz dieser Waffen durch Terroristengruppen ist nach der ESS das schrecklichste Bedrohungsszenario, das vorstellbar ist. Auch über die Ursachen dieser Bedrohungen besteht in beiden Sicherheitsstrategien weitgehend Übereinstimmung: Die Unterstützung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen durch gescheiterte staatliche Regime (failed states) und durch Schurkenstaaten (rogue states) sowie regionale Konflikte, organisierte Kriminalität, Armut, Hunger und Seuchen. b) Die Problemsichten von ESS und NSS sind jedoch nicht deckungsgleich. So hebt die ESS Wasser- und Rohstoffknappheit, die globale Klimaerwärmung mit hierdurch verursachten Wanderungsbewegungen der Bevölkerung und die Energieabhängigkeit Europas als Bedrohung der internationalen Sicherheit hervor. 61 Demgegenüber erwähnt die NSS eher beiläufig, dass die Förderung des Wirtschaftswachstums mit Anstrengungen zur Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration verbunden werden müsse. 62 Die Bush-Regierung betrachtet die Veränderung des globalen Klimas nicht als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. 63 c) Bei der Beurteilung der Bedrohung durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen sind Unterschiede zwischen ESS und NSS nur indirekt erkennbar, verdienen aber durchaus Erwähnung. Die Bedrohung der internationalen Sicherheit durch Schurkenstaaten, zu denen die USA in der Vergangenheit den Iran, Irak, Libyen, Sudan, Syrien, Kuba und Nord-Korea 61
ESS (Fn. 1), 2 ff. NSS (Fn. 11), 20. 63 Im Gegensatz hierzu weisen eine Klimastudie des Pentagon (Peter Schwartz / Doug Randall , An abrupt climate change scenario and its implications for United States national security, October 2003