Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht: Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich [1 ed.] 9783428521777, 9783428121779

Der Autor geht von der Feststellung aus, dass sich die gegenwärtige deutsche und polnische Strafpolitik hinsichtlich der

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German Pages 362 Year 2007

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Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht: Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich [1 ed.]
 9783428521777, 9783428121779

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Schriften zum Strafrecht Heft 188

Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht Rechtshistorische Entwicklung und gegenwärtige Rechtslage im Vergleich Von Maciej Malolepszy

Duncker & Humblot · Berlin

MACIEJ MAŁOLEPSZY

Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht

Schriften zum Strafrecht Heft 188

Geldstrafe und bedingte Freiheitsstrafe nach deutschem und polnischem Recht Rechtshistorische Entwicklung und gegenwa¨rtige Rechtslage im Vergleich

Von

Maciej Małolepszy

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakulta¨t der Europa-Universita¨t Viadrina Frankfurt / Oder hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenu¨bernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12177-9 Gedruckt auf alterungsbesta¨ndigem (sa¨urefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde im Februar 2006 von der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) als Dissertation angenommen. Sie ist für die Veröffentlichung auf den aktuellen Stand gebracht. Die Arbeit verdankt ihre Fertigstellung in erster Linie der engagierten Unterstützung meines Doktorvaters, Herrn Professor Dr. Jan C. Joerden, dem ich für die vielfältigen wissenschaftlichen Anregungen, für das Vertrauen und die freundliche Atmosphäre während des gesamten Promotionsverfahrens sehr dankbar bin. Besonders möchte ich für den enormen Zeitaufwand danken, den mein Doktorvater meiner Dissertation gewidmet hat. Herrn Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler und Herrn Dekan Prof. Dr. Andrzej Szwarc, Adam-Mickiewicz Universität Poznan´, danke ich für rasche Erstellung des Zweit- und des Drittgutachtens und für ihre Verbesserungsvorschläge. Die finanzielle Förderung meines Promotionsprojektes verdanke ich einem Stipendium des Landes Brandenburg und einem Stipendium des BMBF im Rahmen des Europa-Fellows-Programms am Collegium Polonicum (Słubice). Zu danken habe ich auch meinem besten Freund Dr. Matthias Falk, der mich auf die unterschiedlichste Weise während des gesamten Promotionsverfahrens unterstützt hat. Schließlich gilt mein Dank allen, die zu diesem Vorhaben beigetragen haben. Frankfurt (Oder), Mai 2006

Maciej Małolepszy

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

I.

Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

II. Zweck und Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

III. Gang der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Erstes Kapitel Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB und in den polnischen Strafrechtskodizes

35

Erster Abschnitt Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

35

Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe. . . . . 1. Die selbstständige Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von der Einführung des RStGB im Jahre 1871 bis zum In-Kraft-Treten des 1. Geldstrafengesetzes von 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Von der Einführung des 1. Geldstrafengesetzes von 1921 bis zum In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Geldstrafe in der Sanktionierungspraxis vor und nach der Einführung des 1. Geldstrafengesetzes von 1921. . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Geldstrafe in der Sanktionierungspraxis im Zeitraum von 1955 bis 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der Einführung des 1. StrRG von 1969 bis heute . . . . . . . . . . . . . . aa) § 14 StGB a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 15 StGB a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 23 Abs. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 30 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Art. 12 Abs. 1 EGStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geldstrafe neben anderen Strafarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35

43 45 45 50 50 51 51 56

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesamtsummensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tagessatzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anzahl der Tagessätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Höhe der Tagessätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60 65 67 69

I.

36 37 41

10

Inhaltsverzeichnis

III. Zahlungserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwangsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ersatzfreiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Möglichkeiten zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zahlung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . .

85 85 86 87 92 92 92 96 97 98

Zweiter Abschnitt Die Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes I.

102

Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe . . . . . 1. Die selbstständige Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) KK von 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 57 § 2 KK von 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 59 § 1 Punkt d KK von 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) KK von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 54 KK von 1969. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vor und nach der Einführung des KK von 1969 . . . . . . . . . . . (2) Vor und nach dem Gesetz vom 10. Mai 1985 . . . . . . . . . . . . . (3) Vor und nach der Einführung des Gesetzes vom 12. Juli 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) KK von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 58 § 1 und § 3 KK von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 60 KK § 6 Ziff. 2 und 3 KK von 1997 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geldstrafe neben anderen Strafarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 102 102 104 105 107 108 112 114 118

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesamtsummensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tagessatzsystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anzahl der Tagessätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Höhe der Tagessätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 138 139 140

120 121 122 125 130

III. Zahlungserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Inhaltsverzeichnis

11

2. Zwangsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Möglichkeiten zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . a) Zahlung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung. . . . . . . . . . . . d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . .

148 149 160 160 161 167 170 170

Dritter Abschnitt Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen I.

172

Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe. . . . . 173 1. Die selbstständige Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Geldstrafe neben anderen Strafarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Androhungsgrenzen der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesichtspunkte bei der Bemessung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ermittlung der persönlichen und der materiellen Lage des Täters. . .

184 184 186 188

III. Zahlungserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gewährung von Zahlungserleichterungen im Urteil . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gewährung von Zahlungserleichterungen von Amts wegen . . . . . . . . 3. Die Dauer der Zahlungserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190 190 191 192

IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwangsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Möglichkeiten zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zahlung der Geldstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aussetzung des Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe . . . . . . . . . . . .

192 193 195 196 198 198 199 202 203 203

12

Inhaltsverzeichnis Zweites Kapitel Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB und in den polnischen Strafrechtskodizes 205 Erster Abschnitt Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB

Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von 1895 bis zum 3. StrÄndG von 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom 3. StrÄndG von 1953 bis zum 1. StrRG von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom 1. StrRG von 1969 bis zur Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aussetzung von Strafen bis zu sechs Monaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Aussetzung von Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr . . . . . . c) Aussetzung von Strafen von über einem Jahr bis zu zwei Jahren . . . . II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Prämissen der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Widerruf der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

I.

207 208 213 215 217 217 217 219 219 221 229 233 242 242 243 247

Zweiter Abschnitt Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Prämissen der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Widerruf der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

249

I.

250 260 260 260 264 268 276 276 276 281

Inhaltsverzeichnis

13

Dritter Abschnitt Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

282

Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Höhe der Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kreis der Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Förderung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 283 284 285

II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Prämissen der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH bzw. Oberstes Gericht) . . . c) Gerichte der unteren Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Katalog der Maßnahmen neben der Strafaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . b) Anordnung der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ermessen des Gerichts und Anordnung der Maßnahmen. . . . . . . . . . . . d) Die Maßnahmen als Bedingung der Gewährung der Strafaussetzung.

286 286 287 289 289 289 290 291 292 292 293 293

III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Widerruf der Strafaussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294 294 295 296

I.

Drittes Kapitel Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede I.

299

Zusammenfassung der Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

II. Die konventionelle Erklärung der festgestellten Unterschiede . . . . . . . . . . . . . 300 III. Die prägenden Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 IV. Zwischen Mythos und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Geldstrafe im Deutschen Reich in den Jahren 1922–1931 . . . . . . . . . . 90 Tabelle 2: Der Anteil der Zugänge an Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern an den Verurteilungen zu Geldstrafe in der BRD in den Jahren 1975–1996. . . 91 Tabelle 3: Der Anteil der Freiheitsstrafen, die in Polen mit zusätzlicher Geldstrafe in den Jahren 1994–2004 verhängt wurden. . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Tabelle 4: Der Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in der Untersuchung von Wojciechowska . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Tabelle 5: Der Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in der Untersuchung von Szumski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Tabelle 6: Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in Polen in den Jahren 1999–2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Tabelle 7: Der Anteil der Freiheitsstrafen, die in der BRD in den Jahren 1970–1974 zur Bewährung ausgesetzt wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Tabelle 8: Die Anzahl der Tatverdächtigen in Polen im Jahre 2004 . . . . . . . . . . . 332

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Verurteilte in Deutschland nach Strafart im Jahre 2004 . . . . . . . . . . . . . .

24

Abb. 2: Verurteilte in Polen nach Strafart im Jahre 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Abb. 3: Verurteilte im Deutschen Reich nach Strafart in den Jahren 1919–1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

Abb. 4: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1967–1979 . . . . . . .

52

Abb. 5: Strafbemessung bei Freiheitsstrafe in der BRD im Jahre 1968 . . . . . . .

53

Abb. 6: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1932–1937 . . . . . . . . . . 107 Abb. 7: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1966–1984 . . . . . . . . . . 116 Abb. 8: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1981–1989 . . . . . . . . . . 119 Abb. 9: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1991–1998 . . . . . . . . . . 121 Abb. 10: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1997–2004 . . . . . . . . . . 129 Abb. 11: Strafaussetzung in Preußen in den Jahren 1920–1932 . . . . . . . . . . . . . . . 213 Abb. 12: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1954–1969 . . . . . . . 214 Abb. 13: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1967–1979 . . . . . . . 218 Abb. 14: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1932–1937 . . . . . . . . . . 252 Abb. 15: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1946–1969 . . . . . . . . . . 255 Abb. 16: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1966–1998 . . . . . . . . . . 257 Abb. 17: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1997–2004 . . . . . . . . . . 259

Abkürzungsverzeichnis a. a. O. Abb. Abs. a. F. Anm. Arch. Krym. Art. AT AV BaföG BAnz. BayObLG bed. bed. Auss. Begrenzungs-VO BewHi BGBl. BGH BGHR BGHSt BMS BRD BS BT BT-Drs. BVerfG ca. CPKiNP DDR ders. d.h. DJ

am angegebenen Ort Abbildung Absatz alte Fassung Anmerkung Archiwum Kryminologii (Archiv für Kriminologie) Artikel Allgemeiner Teil Allgemeine Verfügung Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesanzeiger Bayerisches Oberlandesgericht bedingte bedingte Aussetzung Verordnung über die Begrenzung der Geschäfte des Rechtspflegers vom 26. Juni 1970 mit Änderungsverordnungen Bewährungshilfe Bundesgesetzblatt, I = Teil I, II = Teil II Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung Strafsachen, hrsg. von Richtern des Bundesgerichtshofs (zit. nach Paragraph, Stichwort und Nummer) Entscheidungen des BGH in Strafsachen Biuletyn Ministerstwa Sprawiedliwos´ci (Blatt des Justizministeriums) Bundesrepublik Deutschland Biblioteka Se˛dziego (Bibliothek des Richters) Besonderer Teil Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht circa Czasopismo Prawa Karnego i Nauk Penalnych (Zeitschrift für Strafrecht und Pönalwissenschaften) Deutsche Demokratische Republik derselbe das heißt Deutsche Justiz

Abkürzungsverzeichnis DM DRiZ Dz. U. Dz. Urz. EFS EGMR EGStGB EMRK etc. EuHbG ff. FS GA GBl. GeldstrG GG Gł. S. GnadenO GP GS GVBl. HRR hrsg. Hrsg. IBPS i. Br. i. d. R. i. S. JGG JMBl. JR JVBl. JZ KK KK von 1932 KK von 1969 KK von 1997 KKW KKW von 1969

17

Deutsche Mark Deutsche Richterzeitung Dziennik Ustaw (Gesetzblatt) zit. nach Jahr, Nummer und Position Dziennik Urze˛dowy (Behördenblatt) zit. nach Nummer Ersatzfreiheitsstrafe Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Europäische Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950 et cetera Europäisches Haftbefehlsgesetz vom 21.8.2004 fortfolgende Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Gesetzblatt Geldstrafengesetz Grundgesetz Głos Sa˛downictwa (Stimme der Gerichtsbarkeit) Gnadenordnung Głos Prawa (Stimme des Rechts) Der Gerichtssaal Gesetz- und Verordnungsblatt Höchstrichterliche Rechtsprechung herausgegeben Herausgeber Instytut Badania Prawa Sa˛dowego (Institut zur Erforschung des Richterrechts) im Breisgau in der Regel im Sinne Jugendgerichtsgesetz Justizministerialblatt Juristische Rundschau Justizverwaltungsblatt Juristenzeitung Kodeks karny (Strafkodex) Kodeks karny z 1932 r. (Strafkodex von 1932) Kodeks karny z 1969 r. (Strafkodex von 1969) Kodeks karny z 1997 r. (Strafkodex von 1997) Kodeks karny wykonawczy (Strafvollstreckungskodex) Kodeks karny wykonawczy z 1969 (Strafvollstreckungskodex von 1969)

18 KKW von 1997 KPK KPK von 1928 KPK von 1969 KPK von 1997 KZS Lfg. LG Lit. LK MDR Mon. Pol. MP MschrKrim m. w. N. Nachdr. n. F. NJW NK NKK NKPK NP Nr. NStZ OLG OLGSt OSN OSNKW

OSNPG

PiP Pos. PPK

Abkürzungsverzeichnis Kodeks karny wykonawczy z 1997 (Strafvollstreckungskodex von 1997) Kodeks poste˛powania karnego (Strafprozesskodex) Kodeks poste˛powania karnego z 1928 (Strafprozesskodex von 1928) Kodeks poste˛powania karnego z 1969 (Strafprozesskodex von 1969) Kodeks poste˛powania karnego z 1997 (Strafprozesskodex von 1997) Krakowskie Zeszyty Sa˛dowe (Krakauer Gerichtshefte) Lieferung Landgericht Literum, -a Leipziger Kommentar Monatsschrift für deutsches Recht Monitor Polski (Polnischer Anzeiger) Monitor Prawniczy (Juristischer Anzeiger) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiteren Nachweisen Nachdruck neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Nowa Kodyfikacja Karna (Neue Strafkodifikation) Nowa Kodyfikacja Prawa Karnego (Neue Kodifikation des Strafrechts) Nowe Prawo (Neues Recht) Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego (Rechtsprechung des Obersten Gerichts) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego Izby Karnej i Wojskowej (Rechtsprechung der Straf- und Militärkammer des Obersten Gerichts) Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego – zbiór Prokuratury Generalnej (Rechtsprechung des Obersten Gerichts – Sammlung der Generalstaatsanwaltschaft) Pan´stwo i Prawo (Staat und Recht) Position Przegla˛d Prawa Karnego (Strafrechtliche Rundschau)

Abkürzungsverzeichnis Prok. i Pr. Prot. PWS r. RGBl. RGSt RJGG RM RN RPEiS RPO (R)StGB (R)StPO RV S. SchlHA selbst. SK StGB StPÄG StPO StrA StrÄndG StrK StrRG StV StVollstrO SzB usw. VerbrBekG Verf. vgl. VO VRS WPP z. B. Ziff. zit. zł

19

Prokuratura i Prawo (Staatsanwaltschaft und Recht) Protokoll Problemy Wymiaru Sprawiedliwos´ci (Probleme der Justiz) rok (Jahr) Reichsgesetzblatt, I = Teil I, II = Teil II Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Reichsjugendgerichtsgesetz Reichsmark Randnummer Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny (Juristische, Ökonomische und Soziologische Rundschau) Rzecznik Praw Obywatelskich (Ombudsmann) (Reichs-)Strafgesetzbuch (Reichs-)Strafprozessordnung Rundverfügung Satz; Seite(n) Schleswig-Holsteinische Anzeigen selbstständige Systematischer Kommentar Strafgesetzbuch Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes Strafprozessordnung Strafaussetzung Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs Strafkammer Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafverteidiger Strafvollstreckungsordnung Strafaussetzung zur Bewährung und so weiter Verbrechungsbekämpfungsgesetz Verfassung vergleiche Verordnung Verkehrsrechts-Sammlung Wilen´ski Przegla˛d Prawniczy (Wilnauer Juristische Rundschau) zum Beispiel Ziffer zitiert złoty (polnische Währung)

20 ZNUJ ZO

ZRP ZStW

Abkürzungsverzeichnis Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellon´skiego (Wissenschaftliche Hefte der Jagiellonischen Universität) Zbiór Orzeczen´ Sa˛du Najwyz˙szego. Orzeczenia Izby Karnej. (Sammlung der Rechtsprechung des Obersten Gerichts. Die Rechtsprechung der Strafkammer) Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einleitung I. Problemstellung Eine einheitliche Strafzumessung wird seit langem in der strafrechtlichen Literatur verlangt. Dass diese Forderung bis heute nicht an Bedeutung verloren hat, zeigen die Untersuchungen, die sowohl in Deutschland als auch in Polen regionale Differenzen in der Strafzumessungspraxis deutlich machen.1 Es ist schon seit längerer Zeit anerkannt, dass eine uneinheitliche Strafzumessung, die ihre Wurzeln in nicht-rationalen Gründen hat, in einem Rechtsstaat nicht akzeptabel ist; sie wird zu Recht als Ausdruck der Willkür der Justiz angesehen und kann in den Augen der strafrechtlichen Lehre keine Unterstützung finden. In einer Zeit des sich immer mehr vereinigenden Europas erlangt dieses Problem jedoch eine ganz neue Dimension. Trotz vieler Schwierigkeiten ist die Europäisierung der nationalen Strafrechtsysteme in vollem Gange2 und man kann sicherlich schon heute die Frage aufwerfen, ob eine einheitliche Strafzumessung oder zumindest eine vergleichbare Strafpolitik in einem vereinigten Europa wünschenswert ist und, wenn diese Frage positiv beantwortet wird, ob diese Ziele überhaupt erreicht werden können. Angesichts der unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der damit verbundenen voneinander abweichenden Wertesysteme wäre durchaus einiges gegen die Bejahung der aufgeworfenen Frage einzuwenden. Das Strafrecht wird weiterhin als „Bastion nationaler Souveränität“3 betrachtet und die Europäische Union ist noch recht weit von einem supranationalen Strafrecht entfernt, das die nationalen Strafgesetzbücher ersetzen könnte.4 Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu verkennen, dass insbesondere nach dem Erlass des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten,5 der unter bestimmten Umständen auch die Übergabe eigener 1 Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit; Pfeiffer/Savelsberg, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, S. 17–41; S´wiatłowski, in: Waltos´ (Redaktion), Jednolitos´c´ orzecznictwa w sprawach karnych, S. 237–238. 2 Siehe dazu aus der deutschen Perspektive: Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts. 3 Gärditz, wistra 1999, S. 294, m. w. N. 4 Hecker, Europäisches Strafrecht, RN 5.

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Einleitung

Bürger an andere EU-Mitgliedstaaten zulässt, das Problem der unterschiedlichen Strafpolitik in den einzelnen EU-Staaten mehr und mehr virulent wird. Auch wenn die Verfassungsgerichte Deutschlands und Polens erhebliche Bedenken gegen die jeweiligen Umsetzungsgesetze geäußert haben,6 ist die Tendenz auf der europäischen Ebene doch offenkundig: Alle Mitgliedstaaten müssen grundsätzlich dazu bereit sein, auch eigene Bürger auszuliefern (zu übergeben), um strafrechtliche Ansprüche anderer Länder zu befriedigen. Der absolute Schutz der eigenen Bürger vor der Strafgewalt eines anderen EU-Staates, d.h. auch vor seiner Strafzumessungspraxis, ist damit endgültig aufgehoben.7 In diesem Kontext ist es für den Staat A jedenfalls nicht mehr gleichgültig, welche Strafpolitik in dem Staat B maßgebend ist, weil er unter Umständen auch eigene Bürger an diesen Staat zur Verurteilung übergeben muss. Die damit angesprochene Problematik hat sich nicht zuletzt seit dem Beitritt der Staaten des ehemaligen Ostblocks zur Europäischen Union weiter verschärft, weil deren ehemalige und gegenwärtige Strafpolitik im Vergleich zu den alten EU-Mitgliedstaaten insbesondere durch erheblich höhere Gefangenenraten8 gekennzeichnet ist.9 Ein weiterer Unterschied zwischen den 5 Der Rahmenbeschluss wurde in Polen durch das betreffende Gesetz von 2004 (Ustawa z dnia 18 marca 2004 r. – o zmianie ustawy – Kodeks karny, ustawy – Kodeks poste˛powania karnego oraz ustawy – Kodeks wykroczen´, Dz. U. 04.69.628) umgesetzt. In Deutschland wurde das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 21. Juli 2004 erlassen (BGBl. I, S. 1748). 6 In Deutschland wurde das EuHbG vom 21. Juli 2004 vom Bundesverfassungsgericht am 18. Juli 2005 für nichtig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat angenommen, dass das EuHbG gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 16 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verstößt. Daher ist die Übergabe eines deutschen Bürgers an einen anderen EU-Mitgliedstaat zur Zeit nicht möglich. In Polen hat das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) am 27. April 2005 die Vorschrift des Art. 607t § 1 KPK von 1997 aufgehoben, die die Auslieferung (Übergabe) eines polnischen Bürgers zuließ. Das Trybunał Konstytucyjny hat jedoch die Geltung der Vorschrift für die nächsten 18 Monate beibehalten. Am 27. Oktober 2006 wurde ein neues Gesetz (Ustawa z dnia 27 paz´dziernika 2006 r. o zmianie ustawy – Kodeks poste˛powania karnego Dz. U. 06.226.1647) erlassen, das den Art. 607t § 1 wieder in den KPK von 1997 einfügte. 7 Inzwischen verzichteten die Grundgesetze beider Länder auf den absoluten Schutz eigener Bürger vor der Auslieferung. Nach Art. 16 Abs. 2 S. 2 des deutschen Grundgesetzes kann „eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“ Auch die polnische Verfassung lässt in Art. 55 Abs. 2 die Übergabe des polnischen Bürgers an den anderen Staat nach der Erfüllung der erwähnten Voraussetzungen zu. 8 Als „Gefangenenrate“ bezeichnet man die Zahl an Gefangenen gemessen an der Bevölkerungszahl. Sie betrug im Jahre 2004 in Estland: 337, in Lettland: 333,

Einleitung

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Staaten der EU kann in der Bevorzugung der unterschiedlichen ambulanten Strafen als Alternative zur Freiheitsstrafe festgestellt werden. Die Skepsis gegenüber der (kurzen) Freiheitsstrafe hat viele europäische Länder zu einem weiten Gebrauch ambulanter Strafarten bewogen, die die unerwünschte (kurze) Freiheitsstrafe ersetzen konnten. Dies hat jedoch dazu geführt, dass in der gegenwärtigen Strafzumessungspraxis dieser Länder durchaus unterschiedliche ambulante Strafen im Bereich der mittleren Kriminalität den Vorrang haben. Dieses Problem lässt sich sehr gut anhand der Strafverfolgungsstatistiken zweier Nachbarländer, und zwar von Deutschland und Polen, illustrieren, die jeweils zu der alten bzw. der neuen Gruppe der EU-Staaten gehören. Auf der Basis der entsprechenden Daten lassen sich dazu die in Abb. 1 und Abb. 2 wiedergegebenen Schaubilder erstellen (s. nächste Seite). Selbstverständlich müssen die Daten mit erheblicher Vorsicht interpretiert werden. Sie berücksichtigen die Verurteilungen der Kleinkriminalität (wykroczenia10 in Polen und Ordnungswidrigkeiten11 in Deutschland) nicht, wobei zu beachten ist, dass die Straftaten in Polen und Deutschland jeweils in unterschiedlicher Weise der Kleinkriminalität zugerechnet werden.12 Ferner beziehen sich die statistischen Daten für Deutschland lediglich auf die alten Bundesländer einschließlich Gesamt-Berlin, weil für die neuen in Litauen: 227, in Polen: 207, in der Slowakei: 176, in Tschechien: 178 und in Ungarn: 162. Als Ausnahme gilt Slowenien, wo die Gefangenenrate 56 betrug. Demgegenüber liegt die Gefangenenrate in den alten Mitgliedstaaten überwiegend unter 100 (so z. B. in Belgien: 88, in Deutschland: 96, in Dänemark: 69, in Finnland: 66, in Frankreich: 90, in Griechenland: 82, in Italien: 96 und in Schweden: 81). Quelle der Daten: Council of Europe, Annual Penal Statistics, Survey 2004, 2005, S. 16, 19. 9 Die hohe Gefangenenrate in den ehemaligen sozialistischen Staaten hat eine sehr lange Tradition. Die Gründe dafür liegen vor allem in der Zeit des totalitären Staates, als die Gefangenenrate in den Ostblockstaaten alle Rekorde in Europa brach. Die instrumentelle Anwendung des Strafrechts zur Durchsetzung ideologischer und politischer Ziele und die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive war damit eng verbunden. Siehe dazu: Buchała, in: Waltos´ (Hrsg.), Ksie˛ga ku czci prof. M. Cies´laka, S. 133; Rzeplin´ski, Die Justiz in der Volksrepublik Polen, S. 1; Kury, in: Crime and Criminology at the end of the century, S. 213; Płatek, in: Weiss/ South (Hrsg.), Comparing Prison Systems, S. 266. 10 Übertretungen. Sie werden nach dem Übertretungsgesetz von 1971 (Ustawa z dnia 20 maja 1971 r. Kodeks wykroczen´, Dz. U. 71.12.114) verfolgt. 11 Der Begriff der „Übertretung“ existierte im deutschen Strafgesetzbuch nur bis zum Jahre 1975. Er erfasste damals die niedrigste Stufe der kriminellen Straftaten. Im Zuge der Reform des Jahres 1975 wurde diese Kategorie ersatzlos gestrichen. Die Übertretungstatbestände wurden zum Teil in Vergehen und zum Teil in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt. 12 So wird der Diebstahl bis zu einem Wert von 250 zł in Polen als Übertretung (wykroczenie) eingeordnet und er wird nach dem Übertretungsgesetz abgeurteilt. In Deutschland werden alle Diebstähle nach dem Strafgesetzbuch bestraft.

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Einleitung 6% 14%

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe 80%

Das Schaubild erfasst die rechtskräftigen Verurteilungen auf der Basis des Strafgesetzbuches, des Straßenverkehrsgesetzes sowie der sonstigen Bundes- und Landesgesetze. Bei der Geldstrafe wurden auch die Verurteilungen nach § 59b StGB berücksichtigt. Die Zahlen der unbedingten Freiheitsstrafe erfassen auch die lebenslange Freiheitsstrafe. Unter dem Begriff der „bedingten Freiheitsstrafe“ ist das Rechtsinstitut gemeint, das im deutschen Recht heute als die „Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung“ bezeichnet wird. Der Strafarrest wird nicht berücksichtigt, weil er eine marginale Rolle (0,01% aller Verurteilungen) in der Praxis der Gerichte spielt. Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005 (Umsetzung in eine Abbildung hier und in allen folgenden Kapiteln der Arbeit durch Verf.).

Abb. 1: Verurteilte in Deutschland nach Strafart im Jahre 2004

14%

10% Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe

22% Geldstrafe 54%

Freiheitsbeschränkungsstrafe

Das Schaubild berücksichtigt die rechtskräftigen Verurteilungen aus öffentlichen Klagen wegen Verbrechen (zbrodnia) und Vergehen (wykroczenie). Die Zahlen der unbedingten Freiheitsstrafe erfassen die lebenslange Freiheitsstrafe und die 25jährige Freiheitsstrafe. Die Anzahl der Geldstrafe berücksichtigt auch die Geldstrafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Unter dem Begriff der „bedingten Freiheitsstrafe“ ist das Rechtsinstitut gemeint, das im polnischen Recht heute als „kara pozbawienia wolnos´ci z warunkowym zawieszeniem jej wykonania“ bezeichnet wird. Zum Begriff der Freiheitsbeschränkungsstrafe siehe Fußnote 18 in der Einleitung. Quelle der Daten: Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny), 2005.

Abb. 2: Verurteilte in Polen nach Strafart im Jahre 2004

Einleitung

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Länder bisher keine flächendeckenden Angaben vorliegen.13 Dabei ist zu beachten, dass die Opportunitätsentscheidungen in der deutschen Strafverfolgungspraxis im Vergleich zur polnischen Strafverfolgungspraxis eine wesentlich größere Rolle spielen. So wurden in Deutschland im Jahre 2003 rund 226.000 Verfahren gem. § 153a Abs. 1 Nr. 2 StPO von Staatsanwaltschaft und Gericht unter der Auflage einer Geldzahlung eingestellt.14 Erst vor dem Hintergrund dieser Daten wird die volle quantitative Bedeutung der pekuniären Sanktionen in der deutschen Sanktionierungspraxis deutlich.15 Man kann davon ausgehen, dass ohne die Norm des § 153a Abs. 1 Nr. 2 StPO die Zahl der Geldstrafen noch erheblich höher wäre. Außerdem kann die unterschiedliche strukturelle Verteilung der Strafen in beiden Ländern ihren Ursprung in anderen Faktoren haben als in einer unterschiedlichen Sanktionierungspraxis, so etwa im Stand der registrierten Kriminalität.16 Allein die Zusammenstellung der statistischen Daten lässt somit noch nicht erkennen, ob eine Straftat in beiden Ländern jeweils unterschiedlich geahndet wird.17 Um diese Frage zu beantworten, müsste eine aktenorientierte empirische Untersuchung durchgeführt werden. Die statistischen Daten lassen jedoch erkennen, wie viele Strafen in einem Land verhängt werden und welche Strafen in der gegenwärtigen Strafpolitik den Vorrang haben. Durchaus im Bewusstsein der erwähnten Schwierigkeiten lässt sich deshalb doch zumindest das folgende Bild skizzieren. Zunächst fällt auf, dass die unbedingten Freiheitsstrafen in beiden Ländern ihre führende Rolle verloren haben, wobei die Anzahl dieser Strafart 13 In den alten Ländern einschließlich Berlin wohnen zur Zeit 83,7 % der Bevölkerung. Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Daten des Statistischen Bundesamtes, Stichtag: 31.12.2004, www.statistik-portal.de/Statistik-Portal/de_jb01_ jahrtab1.asp. 14 Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2003, S. 47. In Polen wurden im Jahre 2002 38.484 Verfahren nach Art. 66 KK bedingt eingestellt. Szymanowski, Polityka karna i penitencjarna w Polsce w okresie przemian prawa karnego, S. 62. 15 Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2003, S. 47. 16 Der Stand der registrierten Kriminalität ist in Polen im Vergleich zu Deutschland wesentlich niedriger. Man schätzt jedoch, dass die Dunkelziffer in Polen höher ist, so dass der reale Stand der Kriminalität in beiden Ländern vergleichbar sein dürfte. Siehe dazu: Kury/Krajewski/Obergefell-Fuchs, Arch. Krym. XXII/1996, S. 24; Kury, in: Czapska/Kury (Hrsg.), Mit represyjnos´ci albo o znaczeniu prewencji kryminalnej, S. 110. 17 Es ist zu beachten, dass zudem innerhalb beider Länder regionale Differenzen in der Strafzumessungspraxis gegeben sind, so dass eine einheitliche Strafzumessungspraxis eines Landes nicht existiert. Siehe dazu: Pfeiffer/Savelsberg, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, S. 17–41; S´wiatłowski, in: Waltos´ (Redaktion), Jednolitos´c´ orzecznictwa w sprawach karnych, S. 237–238.

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Einleitung

gemessen an der Bevölkerungszahl in Polen im Vergleich zu Deutschland erheblich höher ist. Die Gerichte beider Länder stellen jedoch die ambulanten Strafen in den Vordergrund. Die Abkehr von der unerwünschten unbedingten Freiheitsstrafe scheint jedoch in beiden Rechtssystemen in verschiedene Richtungen zu gehen. In Deutschland wurde der Geldstrafe der Vorrang eingeräumt, dagegen gewannen in Polen die bedingten Freiheitsstrafen die Vorherrschaft unter den ambulanten Strafen.18 Diese These wird an Plausibilität gewinnen, wenn man zusätzlich die absoluten Zahlen berücksichtigt. Die deutschen Gerichte verhängen jährlich mehr als eine halbe Million Geldstrafen (im Jahre 2004: 540.209).19 Demgegenüber haben die polnischen Gerichte im Jahre 2004 nur 111.491 Geldstrafen verhängt.20 Der Vergleich sieht ganz anders bei den bedingten Freiheitsstrafen aus: Deutschland: 91.80621, Polen: 278.338.22 Das bedeutet, dass in Polen im Vergleich zu Deutschland im Jahre 2004 circa dreimal mehr bedingte Freiheitsstrafen verhängt wurden. Diese Zahlen erhärten die These, dass die polnische Strafzumessungspraxis auf der bedingten Freiheitsstrafe basiert, die deutsche Praxis dagegen die Geldstrafe in den Vordergrund stellt. Diese These findet weitere Unterstützung in den nationalen Analysen der Sanktionierungspraxis beider Länder. Die in Polen bisher dazu durchgeführten Untersuchungen betonen einhellig die Vorherrschaft der bedingten Freiheitsstrafe in der gegenwärtigen Sanktionierungspraxis.23 Siemaszko bezeichnet die Zunahme der Verurteilungen zu bedingter Freiheitsstrafe sogar als „dramatisch“.24 Demgegenüber spricht man in der deutschen Lehre einhellig von einem „Siegeszug der Geldstrafe“25, der dazu geführt hat, dass die Geldstrafe „Hauptstrafe der Gegenwart“26 ist. 18 Die Freiheitsbeschränkungsstrafe rangiert in Polen zahlenmäßig weit hinter der bedingten Freiheitsstrafe. Im Rahmen dieser Strafart kann der Verurteilte gemäß Art. 34 Abs. 2 KK von 1997 den folgenden Beschränkungen und Pflichten unterworfen werden: „1 er darf ohne gesetzliche Genehmigung seinen ständigen Aufenthaltsort nicht wechseln, 2 er ist verpflichtet, die ihm vom Gericht zugewiesene Arbeit auszuführen, 3 er ist verpflichtet, Auskünfte über den Verlauf der Strafvollstreckung zu erteilen.“ Übersetzung nach Szwarc, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 5/6, S. 178 ff. In diesem Aufsatz findet sich zudem eine ausführliche Darstellung des Sanktionensystems des polnischen Strafkodexes von 1997. 19 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 20 Rocznik Statystyczny, 2005. 21 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 22 Rocznik Statystyczny, 2005. 23 Szymanowski, PiP 10/2002, S. 27; Melezini, Punitywnos ´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 531. 24 Siemaszko, in: Probacyjne s ´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 53.

Einleitung

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Zusammenfassend lässt sich die These aufstellen, dass zwischen der deutschen und der polnischen Strafpolitik so beachtliche Unterschiede bestehen, dass man von zwei voneinander abweichenden Strafkulturen sprechen kann. Die deutsche Strafkultur kann als „pekuniäre Strafkultur“ bezeichnet werden. Demgegenüber gibt die Anzahl der Verhängung von bedingten Freiheitsstrafen in Polen Anlass, von einer „Bewährungskultur“ zu reden. Auf längere Sicht erscheint es allerdings schlechterdings unerträglich, dass in einem sich vereinigenden Europa in dieser Hinsicht so erhebliche Unterschiede zwischen den Nachbarländern bestehen bleiben. Insbesondere nach dem Erlass und der Umsetzung des oben erwähnten Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, der eine ganz neue Rechtslage auch zwischen Deutschland und Polen geschaffen hat, kann das Problem nicht ohne nähere Untersuchung bleiben. Die Zeiten, in denen man eine uneinheitliche Strafzumessung nur als Problem des eigenen Strafrechtssystems ansehen konnte, sind jedenfalls unwiderruflich vorüber.

II. Zweck und Methode der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung soll insbesondere einen Beitrag zum Prozess der Rechtsvereinheitlichung leisten, die jedoch auf dem Gebiet des Strafrechts vor erheblichen Schwierigkeiten steht. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Fortschritt in diesem Bereich ohne Kenntnis der abweichenden Sanktionensysteme der Mitgliedstaaten und der dahinter stehenden Traditionen nicht zu erwarten ist. Die damit formulierte Aufgabe wurde bereits im Rahmen des Max-Planck-Instituts in Freiburg i. Br. angegangen, und zwar in einem Projekt, das die rechtlichen und tatsächlichen Kriterien der Strafzumessung im deutsch-französischen Vergleich untersucht hat.27 Das Projekt ist inzwischen abgeschlossen und stellt einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Unterschiede in der Strafzumessung zwischen Deutschland und Frankreich dar. Wenn es um rechtsvergleichende Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen und des polnischen Rechts geht, so ist festzuhalten, dass es an Untersuchungen weitgehend fehlt, die die gegenwärtigen Unterschiede in der Strafzumessungspolitik zwischen beiden Ländern tiefgreifend thematisieren. Abgesehen von vergleichenden Untersuchungen, die am Max-Planck-Institut in 25

Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 104. Heinz, ZStW 111 (1999), S. 483. 27 Müller, Sanktionen und Strafauswahl in Frankreich; ders., Die Anwendung von Strafzumessungsregeln im deutsch-französischen Vergleich. 26

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Freiburg in den 70er und 80er Jahren durchgeführt wurden,28 stehen heute keine anderen Befunde auf diesem Gebiet zur Verfügung. Der Nachteil der zuletzt genannten Freiburger Untersuchungen liegt allerdings darin, dass der Vergleich mehrere Länder umfasste, so dass eine vertiefte Betrachtung der Unterschiede zwischen der deutschen und der polnischen Strafrechtsordnung nicht möglich war. Außerdem wurden diese Untersuchungen bereits vor über zwanzig Jahren durchgeführt, so dass angesichts des In-Kraft-Tretens des neuen Strafrechtskodexes in Polen am 1.9.1998 die gegenwärtig geltende Rechtslage noch keine Berücksichtigung finden konnte.29 Die vorliegende Untersuchung verfolgt außer dem bereits angesprochenen Zweck darüber hinaus auch noch ein theoretisches Ziel. Sie will einen Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der Strafen leisten. Diese Problematik weckt seit langem das Interesse vieler Forscher. Die Fragen, was eigentlich die Entwicklung der Strafen beeinflusst, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass sich die Gestalt der Strafe in einem Rechtssystem im Laufe der Zeit verändert, und wie es geschehen kann, dass die eine Strafe die andere aus der täglichen Praxis der Gerichte verdrängt, haben bisher kaum an Bedeutung verloren. Insbesondere auf dem Gebiet der Soziologie sind sehr interessante Forschungen durchgeführt worden, die die Entwicklung der Strafen vor dem Hintergrund ihrer sozioökonomischen Determinanten thematisiert haben. Erwähnenswert ist hier insbesondere das viel diskutierte Buch von Michel Foucault „Überwachen und Strafen“30, das den Übergang von den Leibesstrafen zur Freiheitsstrafe mit der Entwicklung zur Disziplingesellschaft verbunden hat. Aber auch andere Untersuchungen wie z. B. von Durkheim31, Rusche und Kirchheimer32, Christie33 oder Garland34 verdienen Beachtung. Die Rechtswissenschaft bleibt in dieser Hinsicht allerdings nicht zurück. Man kann sogar behaupten, dass in letzter Zeit in Deutschland und Polen das Interesse an der Entwicklung der eigenen Sanktionssysteme deutlich gestiegen ist. Das grundlegende Werk von Kubink „Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel“35 und die 28 Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht; Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht. 29 Zum Strafzumessungsrecht des KK von 1997 siehe: Janiszewski, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 5/6, S. 189; Szwarc, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Band 5/6, S. 175 ff. 30 Foucault, Überwachen und Strafen. 31 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. 32 Rusche/Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug. 33 Christie, Kriminalitätskontrolle als Industrie. 34 Garland, Punishment and Modern Society. 35 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel.

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Untersuchung von Melezini „Die Punivitität der Strafjustiz in Polen im 20. Jahrhundert“36 sind dafür jeweils beeindruckende Beispiele. Obwohl die Ziele dieser Untersuchungen durchaus unterschiedlich waren, stellen beide jedoch im Wesentlichen die Entwicklung der Strafen lediglich aus der jeweiligen nationalen Perspektive dar. Das Problem der Entwicklung der Strafen kann und muss jedoch auch aus der rechtsvergleichenden Perspektive behandelt werden. Und gerade dieser Ansatz ist besonders erfolgversprechend, wenn man bedenkt, dass der Hindergrund eines anderen Sanktionensystems Merkmale des eigenen Strafsystems deutlich macht, die bei einer rein nationalen Betrachtungsweise gewöhnlich ausgeblendet bleiben. Der Vergleich des deutschen und des polnischen Sanktionensystems verspricht in dieser Hinsicht interessante Befunde, da schon aus der Gegenüberstellung der oben dargestellten Daten hervorgeht, dass die strukturelle Verteilung der verhängten Strafen sich in beiden Staaten erheblich voneinander unterscheidet, was den Gedanken nahelegt, dass die Entwicklung des Sanktionenrechts in beiden Ländern durchaus unterschiedlich verlaufen ist. Diese Entwicklung steht daher im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Der Untersuchungsbereich muss allerdings eingegrenzt werden, denn es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sollten alle Aspekte des Strafzumessungsrechts und der Strafzumessungspraxis beider Länder miteinander verglichen werden. Daher wird die Untersuchung sich auf zwei ambulante Strafen, die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe, konzentrieren, weil gerade sie eine führende Stelle in der Sanktionspraxis beider Länder einnehmen und demzufolge den Charakter der Strafpolitik des jeweiligen Landes prägen. Deshalb müssen andere Sanktionsarten außer Betracht gelassen werden, die in der Praxis der Gerichte zwar auch eine Rolle spielen, wie z. B. die Freiheitsbeschränkungsstrafe in Polen. Die vorliegende Untersuchung hat insofern aber primär problemorientierten Charakter: Sie kann und will nicht die Entwicklung aller Sanktionen in Deutschland und Polen schildern, sondern sie ist durch die Problemstellung geleitet, wie es dazu kommen konnte, dass in beiden Staaten so unterschiedliche Strafen die Vorherrschaft gewonnen haben. Insbesondere sollen die folgenden vier Fragen beantwortet werden. 1. Wie entwickelte sich das Modell der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe im Rahmen des deutschen Strafgesetzbuches (19.–20. Jahrhundert) und der polnischen Strafrechtskodizes (20. Jahrhundert)? 2. Welche Auswirkungen haben diese Modelle auf die Sanktionierungspraxis des jeweiligen Landes? 36

Melezini, Punitywnos´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku.

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3. Welche Gemeinsamkeiten und – vor allem – Unterschiede lassen sich in den Entwicklungslinien beider Modelle feststellen? 4. Auf welche Ursachen sind die vorliegenden Unterschiede zurückzuführen? Aus dieser Fragestellung wird deutlich, dass die Untersuchung die Strafgesetzbücher der beiden Staaten in den Vordergrund stellt. Gemeint sind dabei das deutsche Strafgesetzbuch von 1871 (StGB) mit seinen diversen Änderungen37 und die polnischen Strafrechtkodizes von 1932, 1969 und 1997 (im Folgenden: KK von 1932, KK von 1969 und KK von 1997). Diese Vorgehensweise könnte auf Einwände stoßen, wenn man bedenkt, dass die genannten Strafgesetzbücher nicht das gesamte materielle Strafrecht beider Länder erfassen.38 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Strafgesetzbücher in der Strafpolitik beider Staaten eine führende Rolle spielen. Ungefähr 80% aller Verurteilungen erfolgt in Deutschland nach dem StGB.39 Der entsprechende Anteil ist in Polen noch höher und betrug im Jahre 2003 fast 93%.40 Ferner ist zu beachten, dass aussagekräftige Vergleiche nur dann gezogen werden können, wenn die Grundlage der Untersuchung im Wesentlichen konstant bleibt. Davon abgesehen kann sich die Untersuchung ohnehin nicht streng im Rahmen der Strafgesetzbücher halten, weil die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe des Strafgesetzbuches wichtige Ergänzungen 37 Das Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik bleibt hier außer Betracht, weil es in dem heute in Deutschland geltenden Strafgesetzbuch keinen Ausdruck mehr findet. Nach der Wende wurde das Strafrecht der alten Länder auf die neuen Länder ausgedehnt (Art. 8 des Einigungsvertrages vom 31.8.1990), so dass das DDR-Strafrecht grundsätzlich aufgehoben wurde. Da die Untersuchung die heutige Rechtslage vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Strafarten verstehen will, muss das DDR-Recht unberücksichtigt bleiben, weil es lediglich einen Abzweig der deutschen Rechtsgeschichte darstellt, der im gegenwärtigen deutschen Strafrecht keine Fortsetzung findet. Auch auf der praktischen Ebene ist zu erwarten, dass die Straftradition der DDR-Zeit nach der Wende in den neuen Ländern nicht fortgeführt wird, weil die Staatsanwälte und die Richter aus der DDRZeit größtenteils nach der Wiedervereinigung Deutschlands entlassen wurden. Außerdem findet die Kommentarliteratur der alten Bundesländer und die Rechtsprechung des BGH in den neuen Ländern vollständig Anwendung, so dass wenig Platz für eine alte Tradition des DDR-Rechts bleibt. 38 Die Reform des Strafrechts erfolgte z. B. in der Nachkriegszeit in Polen im Wesentlichen anhand der Nebengesetze, die das Strafensystem tiefgreifend umgestaltet haben. Siehe dazu: Bafia/Hochberg/Siewierski, Ustawy karne PRL; Melezini, Punitywnos´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 321 ff. 39 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005). 40 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik (www. ms.gov.pl/statystyki/2003-prawomocne.pdf). Im Jahre 2003 wurden insgesamt 415.933 Strafen verhängt. Auf der Grundlage der Nebengesetze wurde auf 27.082 Strafen erkannt.

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in den Nebengesetzen gefunden haben. Dementsprechend werden zusätzliche Rechtsgrundlagen berücksichtigt, wie z. B. die Vorschriften über die bedingte Begnadigung (Verurteilung), die in Deutschland bis zum Jahre 1953 die Funktion der Strafaussetzung erfüllt haben. Damit wird einem methodischen Grundprinzip der gesamten Rechtsvergleichung und damit auch dieser Untersuchung, dem Grundprinzip der Funktionalität, Rechnung getragen.41 Die Notwendigkeit einer weitgehenden Beschränkung auf die Strafgesetzbücher wird insbesondere dann einleuchtend, wenn man das Ziel der Untersuchung ins Auge fasst: Sie soll erläutern, welche dogmatischen Konzepte (Modelle) der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe dem jeweiligen Strafgesetzbuch zugrunde lagen und wie sich diese Modelle auf die Praxis ausgewirkt haben. Es wird zu zeigen sein, dass gleich benannte Strafen in dem einen bzw. dem anderen Rechtssystem sehr unterschiedliche juristische Formen annehmen können und demzufolge sehr unterschiedliche Konsequenzen haben.42 Die diesbezüglichen Konzepte können sogar so weit auseinandergehen, dass eine eventuelle Rechtsvereinheitlichung vor unüberwindlichen Hindernissen stehen kann. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll hervorgehoben werden, dass die Untersuchung neben den Gesetzestexten die Entwicklung der Auffassungen in Rechtsprechung und Lehre ebenfalls berücksichtigt. Die Vorstellung, der Richterspruch folge eindeutig aus der kodifizierten Norm, ist zu Recht schon längst überwunden,43 so dass eine rein normative Betrachtung keinen durchgreifenden Erfolg verspricht.44 Demzufolge müssen die Stellungnahmen der 41

Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33. Die Konsequenzen der entsprechenden Reformen werden anhand statistischer Angaben untersucht. Die Grundlage werden insoweit die statistischen Jahrbücher und die Strafverfolgungsstatistiken des jeweiligen Staates bilden. Dabei ist zu beachten, dass auch die Verurteilungen berücksichtigt werden, die auf der Grundlage der Nebengesetze erfolgt sind. Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich aus zwei Gründen: Zum einen lässt sie erkennen, wie die entsprechenden Reformen des deutschen Strafgesetzbuches bzw. der polnischen Strafrechtskodizes das Gesamtbild der Sanktionierungspraxis eines Landes beeinflusst haben, und zum anderen erlauben die polnischen Strafverfolgungsstatistiken es nicht, die Verurteilungen aufgrund der polnischen Strafrechtskodizes von den Verurteilungen aufgrund der Nebengesetze exakt zu trennen, so dass jede Untersuchung alle Verurteilungen berücksichtigen muss. Schließlich ist zu betonen, dass die vorliegende Untersuchung sich auf die Entwicklung der gesetzlichen Modelle konzentriert, so dass die Sanktionierungspraxis des jeweiligen Staates nur als Folge der entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen betrachtet wird. Die Untersuchung beabsichtigt nicht, die Entwicklung der Sanktionierungspraxis eines Landes vollständig zu analysieren. 43 W. Hassemer, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 250. 44 Perron, in: Arnold/Burkhard/Gropp/Koch (Hrsg.), Grenzüberschreitungen, S. 133, m. w. N. 42

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Lehre und die höchstrichterliche Rechtsprechung der Gerichte als gleichberechtigte Faktoren neben den Gesetzen untersucht werden. Aber auch die Organisation der Justizorgane darf nicht außer Acht gelassen werden, weil sie einen Einfluss auf die Sanktionierungspraxis haben kann. Die Beschränkung auf Strafgesetzbücher (einschließlich Literatur und Rechtsprechung) bedeutet, dass die soziologischen und die psychologischen Faktoren der Strafzumessung unberücksichtigt bleiben müssen. Auch wird der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Strafen und der Staatsform dahingestellt bleiben müssen, obwohl der Einfluss der Staatsform auf die Sanktionensysteme heute nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden kann.45 Es würde auch den Rahmen der Arbeit sprengen, sollte die Frage beantwortet werden, welche Strafpolitik aus der Perspektive der Kriminologie am zweckmäßigsten erscheint. Selbstverständlich können die methodischen Annahmen und Beschränkungen Kritik hervorrufen. Die Rechtsvergleichung ist heute jedoch noch ein so junges Wissenschaftsgebiet, dass ein gesicherter Methodenkanon gar nicht erwartet werden kann.46 Dabei kann man nicht ausschließen, dass ein allgemeiner Methodenkanon überhaupt nie entstehen wird; möglicherweise muss sogar für jede rechtsvergleichende Untersuchung eine gesonderte Methode ausgearbeitet werden, die den spezifischen Unterschieden der zu vergleichenden Rechtssysteme Rechnung trägt. Angesichts dessen ist bei dem gegenwärtigen Stand der Methodologie jede rechtsvergleichende Untersuchung der Gefahr ausgesetzt, dass ihre Ergebnisse wegen methodischer Schwierigkeiten beanstandet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass auf rechtsvergleichende Ansätze verzichtet werden sollte. Der Vorteil der hier gewählten Methode liegt gerade darin, dass sie die Entwicklung der Modelle der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe in den Strafgesetzbüchern nachvollzieht. Es ist nämlich z. B. ausgeschlossen, die Stellung der Geldstrafe in der gegenwärtigen polnischen Strafzumessungspraxis zu verstehen, ohne die Vorschriften des KK von 1932 und des KK von 1969 zur Kenntnis zu nehmen, die der Geldstrafe eine unselbstständige Position verliehen haben, indem sie in bestimmten Fällen die Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe als obligatorisch vorsahen. Heute ist im KK von 1997 die Geld45 Kubink bestätigt in seiner Habilitationsschrift den Zusammenhang zwischen dem Verständnis vom Staat und den Sanktionen mit folgenden Worten: „Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnis, dass die jeweiligen Verständnisse von Staat und Gesellschaft den Ableitungszusammenhang für die kriminalpolitische Entwicklung und damit auch für die Genese der Sanktionen bilden. Änderungen im Sanktionssystem lassen sich als Funktion und Erscheinung sozialen Wandels begreifen.“ Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, S. 737. 46 Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 32; Perron, ZStW 109 (1997), S. 287. Siehe dazu auch: Tokarczyk, Komparatystyka prawnicza, S. 177.

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strafe neben der Freiheitsstrafe als fakultativ normiert; die Straftradition des KK von 1969 hat sich – wie im Folgenden noch näher zu zeigen sein wird – jedoch fortgesetzt. Die Folgen einer Regelung leben sehr oft länger als die Regelung selbst, die zunächst den Rahmen für die Strafzumessungspraxis bildete. Ohne rechtsgeschichtliche Perspektive kann man deshalb die heutigen Präferenzen der Richter kaum verstehen. Außerdem lässt der primär rechtshistorische Ansatz erkennen, in welcher Reihenfolge die ambulanten Strafen in ein System eingeführt wurden und wie stark sie durch das StGB bzw. die polnischen Strafrechtskodizes gefördert wurden. Es ist inzwischen offensichtlich, dass die steigende Skepsis gegenüber dem Vollzug der (kurzen) Freiheitsstrafe den Hintergrund für eine breitere Anwendung der ambulanten Strafen in beiden Ländern bildet. Die Freiheitsstrafe wird in beiden Systemen nicht nur hinsichtlich des Resozialisierungsgedankens kritisch gesehen, sondern es mehren sich die Stimmen, die ihr sogar den Effekt einer Entsozialisierung des Verurteilten vorwerfen. Eine fundamentale Rolle spielt in diesem Kontext z. B. die Reihenfolge, in der die ambulanten Strafen eingeführt werden. Eine zunächst geförderte ambulante Strafe kann nämlich ihre Position in einem Rechtssystem unter Umständen so stark ausbauen, dass die ambulanten Strafen, die erst später eingeführt werden, nur eine geringe Chance haben, die erstere zu verdrängen. Ohne rechtshistorische Analyse ist dieses Phänomen kaum verständlich zu machen. Schließlich ist hervorzuheben, dass der rechtshistorische Ansatz erkennen lässt, wie dauerhaft bestimmte Konzepte der Strafe in einem Rechtssystem verwurzelt sind und wie zögerlich und von Widerständen beeinträchtigt ihre Änderungen erfolgen. Rechtsgrundlagen können sich relativ oft ändern (bisher ist seit 1932 schon der dritte Strafrechtskodex in Polen erlassen worden; Heinz stellte schon im Jahre 1999 mehr als 150 Änderungen des StGB seit seinem In-Kraft-Treten fest47), aber das bedeutet nicht unbedingt, dass das Konzept bestimmter Strafen dadurch tatsächlich geändert wurde. Dieser Befund kann vor allem auf diejenigen ernüchternd wirken, die eine schnelle Rechtsvereinheitlichung auf europäischer Ebene erwarten.

III. Gang der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung soll in drei Etappen durchgeführt werden. Zunächst wird die Entwicklung der Rechtsgrundlagen zur Geldstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes dargestellt (Erstes Kapitel). Im Mittelpunkt des daran anschließenden Teils der 47

Heinz, ZStW 111 (1999), S. 461.

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Arbeit werden die Vorschriften des Strafgesetzbuches und der Strafrechtskodizes zur bedingten Freiheitsstrafe stehen (Zweites Kapitel). Abschließend wird der Versuch unternommen, die Ursachen für die festgestellten Unterschiede in der Entwicklung der untersuchten Strafarten zu benennen (Drittes Kapitel). Die Untersuchung der jeweiligen Strafart wird dabei einem bestimmten Schema folgen. Zunächst wird der Anwendungsbereich und die Förderung einer Strafe untersucht. Dann wird das System ihrer Bemessung dargestellt und schließlich wird auf das Vollstreckungsverfahren eingegangen. Selbstverständlich kann dieses Schema nicht streng auf beide Strafarten (Geldstrafe, bedingte Freiheitsstrafe) angewandt werden, weil der Charakter der untersuchten Strafen verschieden ist. Demzufolge sind Abweichungen von dem genannten Schema unvermeidlich. Der Vorteil dieser grundsätzlichen Vorgehensweise liegt jedoch darin, dass sich so durchaus eine erhebliche Menge an Material systematisieren lässt. Das genannte Schema bildet dabei zugleich ein Modell, das die zentralen Aspekte einer Strafart betrifft. Die Frage nach dem Anwendungsbereich und nach der Förderung einer Strafe, nach dem System ihrer Bemessung sowie nach der Vollstreckung erfasst die grundlegenden Merkmale einer Strafe. Der Anwendungsbereich und die Förderung einer Strafe lassen erkennen, welche Rolle der Gesetzgeber der betreffenden Strafe im Sanktionensystem zumisst. In diesem Kontext wird eine strikte Unterscheidung zwischen der selbstständigen und der zusätzlichen Geldstrafe durchgeführt. Es wird sich dabei zeigen, dass diese Aufteilung eine grundlegende Rolle in der vorliegenden Untersuchung spielt. Kaum weniger bedeutsam ist das System der Bemessung einer Strafe: Denn es kann die Anwendung einer Strafe fördern oder hemmen. Schließlich lässt das Vollstreckungsverfahren erkennen, ob das Verfahren in dieser Phase praktikabel und hinreichend elastisch, konkret: erfolgversprechend, ausgestaltet ist. Man kann nämlich nicht ernsthaft bezweifeln, dass eine mangelhafte Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens zur Skepsis gegenüber einer Strafart führen48 und sich folglich (zumindest indirekt) auf die Anwendung einer Strafart auswirken kann.

48 Als Beispiel können die Auffassungen von zwei polnischen Strafrechtswissenschaftlern (Bałandynowicz, Siemaszko) dienen, die die Ursache für das Misstrauen gegen die Geldstrafe in Polen gerade in deren unzureichender Beitreibung sehen. Bałandynowicz, Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 197; ders., Probacja, S. 87. Ähnlich Siemaszko, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 65.

Erstes Kapitel

Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB und in den polnischen Strafrechtskodizes Erster Abschnitt

Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe 1. Die selbstständige Geldstrafe Eines der wichtigsten Anliegen der Strafrechtsreform in Deutschland lag in der Erweiterung des Anwendungsbereiches der Geldstrafe und deren grundsätzlicher Umgestaltung.1 Allgemein anerkannt ist, dass das ursprüngliche Strafensystem des RStGB auf der Freiheitsstrafe aufgebaut war,2 und, wie Kubink zutreffend bemerkt, die „Alternative der Geldstrafe fristete zunächst ein Schattendasein“.3 Im Jahre 1909 schrieb Gutmann: „Das Strafensystem des Strafgesetzbuchs wird so sehr von der Freiheitsstrafe beherrscht, daß die Erörterung der Stellung der Geldstrafe im Strafensysteme sich in der Untersuchung ihres Verhältnisses zur Freiheitsstrafe erschöpft.“4

Dabei stand das eindeutige Überwiegen der Freiheitsstrafe „nicht nur auf dem Papier, es war lebendes Recht“.5 Trotzdem sah Wulffen schon im Jahre 1904 voraus, dass die Geldstrafe nach einer eingehenden Ausgestaltung und Anpassung an die Vermögensverhältnisse des Einzelnen die Hauptstrafe der 1

Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 59 III RN 24. Exner, Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, S. 17. 3 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, S. 183. 4 Gutmann, Die Natur der Geldstrafe und ihre Verwendung im heutigen Reichsstrafrecht, S. 143. 5 Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, S. 18. 2

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Zukunft sein werde.6 In der Tat hat sich diese Prognose erfüllt: Die Geldstrafe spielt heute sowohl im StGB als auch in der Praxis eine erheblich größere Rolle als vor hundert Jahren. Wie ist es zu diesem Wandel gekommen? Um diese Frage beantworten zu können, muss der Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe im (R)StGB untersucht werden. Dabei kann man davon ausgehen, dass sich in der Entwicklung des deutschen (R)StGB drei Phasen unterscheiden lassen, in denen der Anwendungsbereich der Geldstrafe und ihre Förderung unterschiedlich determiniert waren. Die erste Phase umfasst die Jahre seit der Einführung des RStGB bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen von 1921 (a). In diesem Zeitraum blieb die Geldstrafe im Gesetz im Schatten der Freiheitsstrafe, wobei einzuräumen ist, dass es eine Periode gab, in der in der Praxis die Geldstrafe sogar die Vorherrschaft über die Freiheitsstrafe gewann. Die zweite Phase begann mit dem bereits erwähnten Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen von 1921, das das Strafensystem des RStGB tiefgreifend beeinflusste (b). Die Geldstrafe erlangte damit im RStGB den Vorrang gegenüber den Freiheitsstrafen unter drei Monaten. Die letzte Phase eröffnete das 1. StrRG von 1969, das den Anwendungsbereich der Geldstrafe noch weiter ausdehnte (c). Alle diese drei Phasen werden im Folgenden näher dargestellt. a) Von der Einführung des RStGB im Jahre 1871 bis zum In-Kraft-Treten des 1. Geldstrafengesetzes von 1921 Wie bereits erwähnt, war die Freiheitsstrafe das beherrschende Strafmittel in der ursprünglichen Fassung des RStGB von 1871. Die Geldstrafe war bei Verbrechen und schweren Vergehen gänzlich ausgeschlossen. Bei den leichteren Vergehen war sie überwiegend alternativ zu der Freiheitsstrafe vorgesehen (lediglich bei drei Vergehen und zwei Übertretungen fand sich die alleinige Anordnung von Geldstrafe). Dabei war ihre Anwendung oft noch vom Vorliegen mildernder Umstände abhängig.7 Insgesamt 76 Vorschriften8 des Zweiten Teils9 des RStGB sahen die Geldstrafe vor.10 Keine Vorschrift 6

Wulffen, Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik, 14/1904, S. 116. Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, S. 18. 8 Die Zusammenstellung siehe bei: Müller, Die Geldstrafe, S. 10–13. 9 So hieß früher der Besondere Teil. Im Folgenden wird der Begriff „Besonderer Teil“ verwendet. 10 Siehe dazu auch: Troschitz, Die Verwendung der Geldstrafe im geltenden Reichsstrafrecht; Gutmann, Die Natur der Geldstrafe und ihre Verwendung im heutigen Reichsstrafrecht; Deumer, Die Natur der Geldstrafe und ihre Verwendung im 7

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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des Ersten Teils11 beinhaltete jedoch eine Klausel, die die Geldstrafe auf Kosten der Freiheitsstrafe gefördert hätte. Auch im Rahmen der Regelungen der Strafmilderung im Allgemeinen Teil12 hatte das Gesetz der Geldstrafe keine Rolle zugewiesen. Trotzdem lässt sich in der ersten Phase der Geltung des RStGB ein stetiger Zuwachs der Verurteilungen zur Geldstrafe feststellen. So stieg der Anteil der Geldstrafenverurteilungen an allen Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen von 25,3% (83.562) im Jahre 1882 auf 51,6% (219.919) im Jahre 1915.13 Parallel dazu sank der Anteil der Freiheitsstrafen an allen Verurteilungen im genannten Zeitraum von 69,1% (228.136) auf 42,1% (180.783).14 Das Jahr 1915 war dann der Wendepunkt; seither entwickelte sich eine entgegengesetzte Tendenz: Der Anteil der Geldstrafen sank auf 41,6% (312.085) im Jahre 1921; der Anteil der Freiheitsstrafen stieg auf 53,9% (400.916).15 Obwohl diese Entwicklung auf verschiedene Ursachen zurückgeführt wurde, wie z. B. auf den Wandel in der Staatsauffassung oder auf das veränderte Verständnis der Strafe etc., war man sich darin weitgehend einig, dass diese Ursachen außerhalb des RStGB lagen,16 so dass sie in der vorliegenden Untersuchung außer Betracht gelassen werden können. b) Von der Einführung des 1. Geldstrafengesetzes von 1921 bis zum In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 Man kann ohne Gefahr der Übertreibung sagen, dass sich in dieser Phase eine „Wende der deutschen Kriminalpolitik“17 hinsichtlich des Übergangs von der Freiheitsstrafe zur Geldstrafe vollzog und dieser Wandel grundsätzlich auf gesetzliche Faktoren zurückzuführen ist. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Reform zunächst außerhalb des RStGB erfolgte. Ihre Folgen veränderten das Strafensystem des RStGB jedoch tiefgreifend. Das Motiv für die Einführung eines gesonderten Gesetzes kann in der Erkenntnis gesehen werden, dass eine Reform des RStGB in damaliger Zeit nicht ohne Schwierigkeiten zu realisieren gewesen wäre.18 heutigen Reichsstrafrecht, GS LXXV/1910, S. 324; Müller, Die Geldstrafe, S. 10–13. 11 So hieß früher der Allgemeine Teil. Im Folgenden wird der Begriff „Allgemeiner Teil“ verwendet. 12 Vgl. Fußnote 11. 13 Pitschel, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, S. 44. 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 Exner, Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, S. 17 ff.; Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 38. 17 Heinz, MschrKrim 64 (1981), S. 159. Zustimmend Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 171.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Zunächst soll jedoch auf die Gründe eingegangen werden, die zum Erlass des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen von 1921 geführt haben. Hintergrund der Entstehung des Gesetzes von 1921 war die zunehmende Kritik an der kurzen Freiheitsstrafe (d.h. unter drei Monaten) durch die Lehre. Schon seit den Zeiten von Franz von Liszt war anerkannt, dass die kurzzeitige Freiheitsstrafe in der überwiegenden Zahl der Fälle mehr Schaden als Nutzen bringt.19 Er war jedoch nicht der erste, der diese Form der Strafe heftig kritisierte. Als er sich zum Anführer des „Kreuzzuges gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe“ machte, gab es schon längst kritische Stimmen, die vor allem von deutschen Gefängnispraktikern, französischen Autoren und den ersten internationalen Gefängniskongressen stammten.20 Das Verdienst von von Liszt wird vor allem darin gesehen, dass er diese Kritik konzentriert, vertieft, mit statistischen Daten untermauert und wirkungsvoll publik gemacht hat.21 Von Liszt’s Meinung zur kurzeitigen Freiheitsstrafe war krass und eindeutig. Er behauptete, sie sei nicht nur nutzlos, sondern „sie schädigt die Rechtsordnung schwerer, als die völlige Straflosigkeit der Verbrecher es zu tun im Stande wäre“.22 Aus der Feststellung, dass die gesamte damalige Strafrechtspflege fast ausschließlich auf der kurzzeitigen Freiheitsstrafe beruhte, zog der große deutsche Strafrechtswissenschaftler mit bewundernswertem Mut folgenden Schluss: „Wenn die kurzzeitige Freiheitsstrafe nichts taugt, ist unsere ganze Strafrechtspflege nichts wert.“23

Der Gesetzgeber blieb nicht taub gegenüber den kritischen Stimmen aus der Wissenschaft und erließ im Jahre 1921 ein „Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen“24, dessen Name ganz klar den kriminalpolitischen Zweck offenbarte.25 Bemerkenswert ist dabei, dass der Gesetzgeber zunächst allein 18 Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 43. 19 v. Liszt verstand unter einer „kurzzeitigen Freiheitsstrafe“ diejenige bis zu einer Dauer von sechs Wochen. Siehe dazu: v. Liszt, in: Aufsätze und kleinere Monographien, Band 1, S. 515. 20 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 29–30. 21 Ebenda S. 30. 22 v. Liszt, in: Aufsätze und kleinere Monographien, Band 1, S. 347. 23 Ebenda, S. 346. Zustimmend Fischer, Die bedingte Strafaussetzung, S. 34. 24 RGBl. I, S. 604. 25 Nach Kubink begünstigte die Inflation die Einführung des Gesetzes, also ein Umstand, der wenig mit der Reformidee zu tun hatte. Die Absicht, die nunmehr als unzulänglich erachteten Strafandrohungen zu erhöhen, wurde zur Durchführung der

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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die Geldstrafe als Alternative zu kurzen Freiheitsstrafen vorsah, obwohl das Programm von von Liszt auch die bedingte Verurteilung umfasste. Der zentrale § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 lautete26: „Ist für ein Vergehen, für das nach den bestehenden Vorschriften Geldstrafe überhaupt nicht oder nur neben Freiheitsstrafe zulässig ist, Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten verwirkt, so ist an Stelle der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe bis zu einhundertfünfzigtausend Mark zu erkennen, wenn der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden kann. Soweit die Geldstrafe nicht beigetrieben werden kann, tritt die verwirkte Freiheitsstrafe an ihre Stelle. Bei den Umwandlungen ist das Gericht an den Maßstab des § 29 des Strafgesetzbuches nicht gebunden.“

§ 3 wurde auf der Grundlage des zweiten Geldstrafengesetzes vom 27.4.192327 in das RStGB eingeführt. Seit dieser Zeit fand er sich unter § 27b des Strafgesetzbuches. Er hatte folgenden Wortlaut: „Ist für ein Vergehen oder eine Übertretung, für die an sich eine Geldstrafe überhaupt nicht oder nur neben Freiheitsstrafe zulässig ist, Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten verwirkt, so ist an Stelle der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe bis zu zehn Millionen Mark zu erkennen, wenn der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden kann. Die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches bleiben unberührt.“

Einer der Unterschiede zwischen dem § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 und dem § 27b RStGB lag in der unterschiedlichen Bestimmung des Anwendungsbereiches der Vorschriften: § 27b RStGB berücksichtigte zusätzlich die Übertretungen. Das Wesen der beiden Vorschriften war jedoch gleich. Zum einen schufen sie die Möglichkeit, die Geldstrafen für Vergehen (§ 3 des Gesetzes von 1921) und Übertretungen (§ 27b RStGB) auch dann zu verhängen,28 wenn sie nach den bestehenden Vorschriften überhaupt nicht oder nur neben Freiheitsstrafe zulässig waren. Durch diese generellen Bestimmungen wurde der Anwendungsbereich der Geldstrafe wesentlich erweitert und dementsprechend eine schwerwiegende Konkurrenz für die Freiheitsstrafe geschaffen. In Betracht kamen immerhin 97 Vorschriften,29 so dass von einem geringen Einfluss des § 27b RStGB auf das Strafensystem des RStGB keine Rede sein konnte. Da es aber auf die verwirkte Strafe ankam und diese im Einzelfall mit Rücksicht auf einen (bei Vorliegen mehrerer Minderungsgründe eventuell auch mehrfach) herabForderungen der modernen Schule genutzt. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, S. 184. 26 Das Gesetz trat am 1. Januar 1922 in Kraft. 27 RGBl. I, S. 254. 28 Verbrechen kamen somit überhaupt nicht in Betracht. 29 Die Zusammenstellung siehe bei: Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 30–32.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

gesetzten Strafrahmen niedriger sein konnte als die reguläre Mindeststrafe, konnte § 27b RStGB grundsätzlich auch noch bei Vergehen zur Anwendung kommen, bei denen das Gesetz im Regelfall eine höhere Mindeststrafe androhte.30 Zum anderen gaben diese Vorschriften dem Richter den eindeutigen Hinweis, dass Freiheitsstrafen unter drei Monaten grundsätzlich durch die Geldstrafe ersetzt werden sollten. Sowohl § 3 des Gesetzes von 1921 als auch § 27b RStGB waren als Muss-Vorschriften gefasst. Dementsprechend musste der Richter auf eine Geldstrafe erkennen, soweit eine Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten verwirkt war und die Geldstrafe den Strafzweck erreichen konnte.31 Es war dabei gleichgültig, ob der Täter lieber eine Freiheitsstrafe absitzen wollte.32 Unzulässig war es jedoch, von vornherein die Verhängung einer Geldstrafe ins Auge zu fassen.33 Zunächst sollte der Richter nach Maßgabe des besonderen Strafrahmens die in Frage kommende Freiheitsstrafe bemessen und erst dann, wenn sich eine kürzere als eine dreimonatige Freiheitsstrafe ergab, auf eine Geldstrafe erkennen, soweit der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden konnte.34 Diese Vorgehensweise ähnelt der Konstruktion, auf die in der vorliegenden Untersuchung noch im Ersten Abschnitt des Zweiten Kapitels näher einzugehen sein wird: Der Richter soll zunächst die schuldangemessene Freiheitsstrafe festlegen und dann die Entscheidung über die Strafaussetzung treffen. Aus dem Vorangehenden folgt, dass das Strafensystem des RStGB in dem genannten Zeitraum allein um die Generalklausel des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 (später § 27b RStGB) bereichert wurde, die eine selbstständige Rechtsgrundlage für die Verhängung der Geldstrafe zur Verfügung stellte. In den Jahren 1922–1969 konnten die Gerichte somit eine Geldstrafe lediglich auf der Grundlage dieser Normen und der Vorschriften des Besonderen Teils des RStGB verhängen. Inwieweit § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 und § 27b RStGB sich auf die Praxis ausgewirkt haben, wird in zwei Etappen zu untersuchen sein. Zunächst wird die Struktur der Strafen vor und nach der Einführung des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen von 1921 aufgezeigt (aa) und anschließend wird auf die Sanktionierungspraxis der Jahre 1955–1969 eingegangen (bb). Die Analyse der Statistiken ergibt gerade für diese Zeiträume interessante Befunde. 30

Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 43; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27b Anm. I.3.; Schönke (1952), § 27b Anm. III. 32 Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 43, m. w. N. 33 RG HRR 1941, Nr. 453. Zustimmend Schönke (1952), § 27b Anm. II.2. 34 v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 407; LK-Lobe, § 27b Anm. 2.c. 31

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

41

aa) Die Geldstrafe in der Sanktionierungspraxis vor und nach der Einführung des 1. Geldstrafengesetzes von 1921 Um sich die Bedeutung der Vorschrift des § 27b RStGB für die damalige Praxis vergegenwärtigen zu können, muss man zunächst die Anzahl der Freiheitsstrafen und darunter die bis zu drei Monaten untersuchen. Lediglich diese Vorgehensweise lässt den potentiellen Anwendungsbereich der neuen Vorschrift ermessen. Am Vortage der Einführung des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen im Jahre 1921 hatten die Gefängnisstrafen einen Vorrang gegenüber den Geldstrafen: Sie stellten 63,7% aller Verurteilungen nach dem RStGB.35 Innerhalb der Gefängnisstrafen dominierten die kurzen Gefängnisstrafen unter 3 Monaten: Sie machten 42,8% der Verurteilungen nach dem RStGB aus.36 Die Vorschrift des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 umfasste somit einen bedeutsamen Anteil der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe. Der Einfluss der Geldstrafengesetze auf die damalige Strafzumessungspraxis der Gerichte scheint auf den ersten Blick beeindruckend zu sein. Im Hinblick auf die nach sämtlichen Reichsgesetzen verurteilten Erwachsenen lässt sich die folgende Entwicklung der Geld- oder Freiheitsstrafeverurteilungen in den Jahren 1919–1925 feststellen (s. Abb. 3). Auffallend ist der Sprung von 312.085 Verurteilungen zu Geldstrafe im Jahre 1921 auf 625.457 im Jahre 1923,37 wobei zu berücksichtigen ist, dass im Jahre 1923 die Gesamtanzahl der Verurteilungen erheblich zugenommen hat. Die Vorherrschaft der Geldstrafe ist jedoch nicht zu bestreiten, was auch in den Auffassungen der Lehre seinen eindeutigen Ausdruck gefunden hat. Nach Schmidt ist durch die Geldstrafengesetze der Jahre 1921 bis 1924 die zahlenmäßige Vorherrschaft der Geldstrafe im deutschen Strafensystem endgültig besiegelt worden.38 Würtenberger ging davon aus, dass die neue Regelung des § 27b RStGB weitgehend dafür verantwortlich zu machen ist, dass die Geldstrafe seit den zwanziger Jahren einen so großen Raum in der Strafrechtspflege erobern konnte.39 Eine ähnliche Auffassung vertritt Zipf, wenn er behauptet, dass auf Grund der Vorschrift des § 27b RStGB der ent35 Die Daten stammen aus der Arbeit von Pitschel, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, S. 44. 36 Ebenda. 37 Das Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21. Dezember 1921 trat am 1. Januar 1922 in Kraft. 38 v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 376. 39 Würtenberger, ZStW 64 (1952), S. 17–18.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe 700 000 600 000

Anzahl

500 000 400 000

Gefängnis

300 000

Geldstrafe

200 000 100 000 0 1919

1920

1921

1923

1924

1925

Jahr Das Schaubild erfasst die Verurteilungen zu Geldstrafe und Gefängnis wegen Verbrechen und Vergehen gegen sämtliche Reichsgesetze, allerdings ohne Todesstrafe, Zuchthausstrafe, Festungshaft und Haft. Quelle der Daten: Pitschel, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, S. 44.

Abb. 3: Verurteilte im Deutschen Reich nach Strafart in den Jahren 1919–1925

scheidende Umschwung im Anwendungsverhältnis zwischen Geldstrafe und kurzer Freiheitsstrafe eingetreten sei.40 Nach ihm war die Einfügung des § 27b RStGB in das RStGB die kriminalpolitisch entscheidendste Bestimmung bis zum Gewohnheitsverbrechergesetz vom 21.11.1933.41 Nach Albrecht ist die Zunahme der Geldstrafeverurteilungen allein auf die Einführung der Ersatzgeldstrafe (§ 27b RStGB) zurückzuführen.42 Die Erhöhung des Anteils der Geldstrafeverurteilungen hat sich nach seiner Ansicht praktisch von einem Tag auf den anderen vollzogen,43 was von der Bedeutung der Reform für die Anwendung der Geldstrafe zeugt. Heinz schreibt den Geldstrafengesetzen der 20er Jahre die zentrale Rolle für das Einleiten der „Wende der deutschen Kriminalpolitik hinsichtlich des Übergangs von der Freiheitsstrafe zur Geldstrafe“ zu.44 Nach Kürzinger bewirkte die Geldstrafengesetzgebung „nicht nur ein starkes Absinken der Freiheitsstrafe allgemein, sondern führte auch zu einer starken Abnahme der kurzen Freiheitsstrafen.“45 40

Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 64 I RN 2. Zipf, Die Geldstrafe in ihrer Funktion zur Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, S. 98. 42 Albrecht, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 169. 43 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 5. 44 Heinz, MschrKrim 3 (1981), S. 159. Zustimmend Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 171. 41

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

43

Zu einer etwas zurückhaltenderen Schlussfolgerung hinsichtlich der Bedeutung des § 27b RStGB gelangt Exner. Seine umfangreiche Untersuchung der Strafzumessungspraxis der Jahre 1882–1927 ergab, dass die Geldstrafe des § 27b RStGB weniger oft angewandt wurde als die alternativ angedrohte Geldstrafe.46 Die Frage jedoch, „ob dies damit zusammenhängt, daß nach § 27b die Geldstrafe an eine bestimmte, nicht so häufig verwirklichte Voraussetzung geknüpft ist oder vielleicht damit, daß die deutschen Gerichte bei diesen Vergehen durch mehr als 50 Jahre nur Freiheitsstrafe verhängen konnten und nunmehr von dieser Tradition nicht ohne Zögern abweichen wollen, (. . .)“47 hat Exner leider unbeantwortet gelassen. Ob die „Wende in der deutschen Kriminalpolitik“ wirklich durch die Geldstrafengesetze verursacht wurde, bezweifelt Stapenhorst. Nach ihm beruhte der hohe Anteil von Geldstrafen nur zum Teil auf den Umwandlungsmöglichkeiten, die die Gesetzesreform geschaffen hatte.48 Seine umfangreiche Untersuchung der Sanktionspraxis hat gezeigt, dass der größere Teil der Geldstrafenverurteilungen unabhängig von der Vorschrift des § 27b StGB erging, was den Erfolg der Strafreform erheblich schmälert.49 Diese Befunde relativieren den Erfolg der Geldstrafengesetze. Es fällt daher schwer, die Auffassung zu verteidigen, dass die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe allein auf die Einführung der Vorschrift des § 27b StGB zurückzuführen ist. Gewöhnlich erweisen sich auf dem Gebiet des Rechts monokausale Erklärungsansätze als falsch, was nicht ausschließt, dass in einem Fall eine Vorschrift weitgehende Veränderungen der Strafzumessungspraxis verursacht. Andererseits sollte allerdings stets im Auge behalten werden, dass allein im Jahre 1922 mehr als 150.000 Verurteilungen auf der Grundlage des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 erfolgten,50 was jedenfalls nicht als unbedeutet anzusehen ist. bb) Die Geldstrafe in der Sanktionierungspraxis im Zeitraum von 1955 bis 1969 Stapenhorst hat weiterhin darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Anstieg des Geldstrafenanteils und der entsprechende Rückgang der verhäng45 Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1835. 46 Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, S. 82. 47 Ebenda. 48 Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 44, m. w. N. 49 Ebenda, S. 43–44. 50 Ebenda, S. 44.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

ten Gefängnisstrafen auch zwischen 1955 und 1969 fortsetzte, ohne dass in diesen Abschnitt fallende Gesetzesreformen darauf Einfluss gehabt hätten.51 In der Tat ergibt sich aus den von ihm wiedergegebenen Daten, dass der Anteil der Geldstrafen an den nach dem StGB erfolgten Verurteilungen52 von 48,2% (104.544) im Jahre 1955 auf 61,6% (130.495) im Jahre 1969 angewachsen ist.53 Diese Tendenz wird von einem Rückgang der Freiheitsstrafen von 50,3% (109.231) im Jahre 1955 auf 37,2% (78.750) im Jahre 1969 begleitet.54 Die Veränderung erfolgte nach Stapenhorst durch die vermehrte Anwendung der so genannten „§ 27b – Geldstrafen“ durch die Gerichte. In der Tat stiegen die „§ 27b – Geldstrafen“ von 34,4% im Jahre 1955 auf 44,1% im Jahre 1969, so dass eine stärkere Hinwendung der Gerichte zur Verhängung von Geldstrafen nicht zu bestreiten ist.55 Für die vorliegende Untersuchung ist der Befund wichtig, dass diese „Hinwendung“ dem § 27b StGB a. F. zuzuschreiben ist. Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass der Erfolg des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 (§ 27b RStGB) sich auf die Einführung der (Muss-)Vorschriften zur Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafe in der Zeit stützt, zu der die Freiheitsstrafen unter 3 Monaten einen bedeutenden Anteil an der Sanktionierungspraxis hatten. Zudem wurde der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 sehr weit ausgedehnt, indem alle Vergehen, die nur mit Freiheitsstrafe bedroht waren, auf der Grundlage dieser Vorschrift mit Geldstrafe bestraft werden konnten. Das Geldstrafengesetz von 1923 ging noch weiter und erfasste auch alle Übertretungen. Zum Erfolg des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 (§ 27b RStGB) trug weiterhin die Zurückhaltung des Gesetzgebers hinsichtlich der Einführung von Ausschließungsgründen bei, die die Anwendung der Vorschriften hätten einschränken können. Dementsprechend konnten die Richter nur dann auf die Geldstrafe im Bereich der dreimonatigen Freiheitsstrafen verzichten, wenn die Geldstrafe den Strafzweck nicht erfüllen konnte. Außerdem ist zu beachten, dass die Vorschrift des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 in einer Zeit eingeführt wurde, zu der die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung im deutschen Strafsystem nur in der mangelhaften Form der Begnadigung existierte, so dass sie eine sehr bescheidene Konkurrenz zur Geldstrafe darstellte. Es ist insbesondere hervorzuheben, dass die Befugnisse zur Bewilligung der bedingten Strafaussetzung (Straferlass)56 am Tag des In-Kraft-Tretens des Geldstrafengesetzes 51

Ebenda, S. 89. Mit Ausnahme der Straßenverkehrsdelikte. 53 Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 87–88. 54 Ebenda. 55 Ebenda, S. 90–91. 52

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

45

von 1921 (1.1.1922) in den meisten Ländern noch nicht auf die Gerichte übertragen waren,57 so dass die Richter zur Geldstrafe greifen mussten, soweit sie eine ambulante Strafe verhängen wollten. Auch dies trug ohne Zweifel zum Vorrang der Geldstrafe bei. c) Von der Einführung des 1. StrRG von 1969 bis heute Das Jahr 1969 gehört zu den nächsten, wichtigen Daten für die Entwicklung des deutschen StGB. Dieses Jahr eröffnete eine neue Phase, in der die Förderung der Geldstrafe noch stärker wurde. Die Reformen brachten drei Gesetze: Das 1. StrRG von 196958, das 2. StrRG von 196959 und das EGStGB von 197460. Das 1. StrRG ersetzte den alten § 27b StGB durch den noch weitergehenden § 14 StGB a. F. (aa) und führte eine generelle Klausel zur Strafmilderung (§ 15 StGB a. F.) im Allgemeinen Teil ein (bb). Das 2. StrRG ließ bei einem Versuch „aus grobem Unverstand“ eine Strafmilderung (§ 23 Abs. 3 StGB) zu, was die Verhängung einer Geldstrafe statt der Freiheitsstrafe erlaubte (cc). Eine ähnliche Strafmilderung sah das 2. StrRG in § 30 StGB für einen Versuch der Beteiligung vor (dd). Schließlich fügte das EGStGB von 1974 allen Strafandrohungen des Besonderen Teils, die allein eine Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß vorsahen, eine wahlweise Androhung der Geldstrafe bei (ee). Es wird im Folgenden auf diese Vorschriften näher einzugehen sein. aa) § 14 StGB a. F. Der „Kampf“ mit den kurzen Freiheitsstrafen wurde mit § 27b StGB a. F. nicht beendet. Ganz im Gegenteil überwog in der Praxis der Gerichte vor der Einführung des 1. StrRG aus dem Jahre 1969 die Zahl der Freiheitsstrafen unter 3 Monaten. Daher muss § 14 StGB a. F., den das 1. StrRG einführte, in der langen Tradition der Auseinandersetzung der Lehre und der Rechtsprechung mit dem Problem der kurzfristigen Freiheitsstrafe gesehen werden. Betont werden muss, dass der Alternativentwurf (§ 36 Abs. 1 56 Zur Übertragung der Befugnisse zur Bewilligung der bedingten Strafaussetzung siehe Kapitel 2, Abschnitt 1, Punkt I.1. 57 Dies war der Fall in: Anhalt, Baden, Braunschweig, Bremen, Hamburg, Hessen, Lippe-Detmold, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen, Schaumburg-Lippe, Thüringen und Württemberg. Siehe dazu: Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 128. 58 BGBl. I, S. 645. 59 BGBl. I, S. 717. Das Gesetz trat erst am 1.1.1975 in Kraft. 60 BGBl. I, S. 469.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

StGB) die vollständige Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe vorsah. Dafür hat sich der deutsche Gesetzgeber jedoch nicht entschieden. Der Begründung kann man entnehmen, dass die Geldstrafe im Vergleich zur Freiheitsstrafe eine nicht immer gleiche präventive Wirkung hat.61 Außerdem hat kein westlicher Staat bisher auf kurzfristige Freiheitsstrafen verzichtet.62 Auch zeugt in den internationalen Diskussionen nichts davon, dass radikale Forderungen in dieser Richtung durchdringen könnten.63 Auf die Reform des Rechtsfolgensystems hat auch die Sanktionierungspraxis der sechziger Jahre einen erheblichen Einfluss gehabt. Das Ansteigen der kurzen Freiheitsstrafen und das Sinken des Geldstrafenanteils hatten im Jahre 1967 zu einem „Vollzugsnotstand“ in Nordrhein-Westfalen geführt.64 Grebing vertritt die Auffassung, dass die Vollzugskrise namentlich durch eine Entscheidung des OLG Hamm65 ausgelöst worden war, in der die Belegung von Einzelzellen mit drei Häftlingen für verfassungswidrig erklärt wurde.66 Der damalige nordrhein-westfälische Justizminister ordnete einen vorübergehenden Vollzugsstop für Freiheitsstrafen unter drei Monaten wegen der Überfüllung der Strafanstalten an.67 Die Ursache dieser Vollzugskrise lag vor allem in der Zunahme der kurzfristigen Freiheitsstrafen.68 Somit begünstigte noch einmal in der Rechtsgeschichte die Ressourcenknappheit des Strafvollzuges die Reform des Rechtsfolgensystems. Doch nun zu dem Regelungsinhalt der Vorschrift. § 14 StGB a. F. lautete nach der Einführung des 1. StrRG von 1969:69 61

BT-Drucksache V/4094, S. 6. Ebenda. 63 Ebenda. Zustimmend Jescheck, FS für Gallas, S. 39. 64 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 39. 65 NJW 1967, S. 2024. 66 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 39. 67 Ebenda. 68 Ebenda. 69 Zunächst galt vom 1. September 1969 bis zum 31. März 1970 die Übergangsvorschrift des § 27b StGB in der Fassung des Art. 106 des 1. StrRG. Sie lautete: „(1) Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. (2) Droht das Gesetz Geldstrafe nicht oder nur neben Freiheitsstrafe oder nur bei mildernden Umständen an und kommt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht, so verhängt das Gericht eine Geldstrafe (§§ 27, 27a, 27c), wenn nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach Absatz 1 unerläßlich ist. Ist Freiheitsstrafe mit einem erhöhten Mindestmaß angedroht, so ist die Geldstrafe so zu bemessen, daß die Ersatzfreiheitsstrafe dieses Mindestmaß nicht unterschreitet.“ 62

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

47

„(1) Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung des Rechtsordnung unerläßlich machen. (2) Droht das Gesetz Geldstrafe nicht oder nur neben der Freiheitsstrafe an und kommt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht, so verhängt das Gericht eine Geldstrafe, wenn nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach Absatz 1 unerläßlich ist.“70

Die Vorschrift wurde durch das 2. StrRG zu § 47 StGB. Absatz 2 wurde durch das EGStGB vom 2. März 1974 neu gefasst, insbesondere wurde dem 2. Absatz ein Satz 2 angefügt. Der neue Abs. 2 des § 14 StGB (= § 47 StGB n. F.) lautete: „(2) Droht das Gesetz keine Geldstrafe an und kommt eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten oder darüber nicht in Betracht, so verhängt das Gericht eine Geldstrafe, wenn nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe nach Absatz 1 unerläßlich ist. Droht das Gesetz ein erhöhtes Mindestmaß der Freiheitsstrafe an, so bestimmt sich das Mindestmaß der Geldstrafe in den Fällen des Satzes 1 nach dem Mindestmaß der angedrohten Freiheitsstrafe; dabei entsprechen dreißig Tagessätze einem Monat Freiheitsstrafe.“

Es liegt auf der Hand, dass die Vorschrift des § 14 StGB a. F. in ihrem Zweck den Regelungen des § 3 des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen von 1921 ähnelt. Wie damals hat der Gesetzgeber zum einen durch eine generelle Regelung den Anwendungsbereich der Geldstrafe erweitert und zum anderen eine Klausel zur Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafen durch Geldstrafe vorgesehen. Es lassen sich freilich in dem Inhalt und der Konstruktion der Vorschriften bedeutsame Unterschiede feststellen. Zunächst fällt auf, dass § 3 des Gesetzes von 1921 nur die Ersetzung der Freiheitsstrafen unter 3 Monaten bezweckte, demgegenüber verschob § 14 StGB a. F. die Grenze bis zu 6 Monaten. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, dass bei § 3 des Gesetzes von 1921 die Pflicht zur Ersetzung der Freiheitsstrafe durch Geldstrafe nur dann eintrat, wenn der betreffende Tatbestand des Besonderen Teils keine Geldstrafe oder diese nur neben Freiheitsstrafe vorsah. Dementsprechend kam die Vorschrift des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921 nicht zur Anwendung, wenn die Tat wahlweise mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bedroht war.71 Dagegen zwang § 14 Abs. 1 StGB a. F. zur Verhängung der Geldstrafe unabhängig davon, ob der Tatbestand des Besonderen Teils eine Freiheitsstrafe allein oder wahlweise mit Geldstrafe vorsah. 70

BGBl. I, S. 645. Das Gesetz trat am 1.4.1970 in Kraft. Die Vorschrift galt in dieser Form ab dem 1. April 1970. 71 Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 35; Schönke (1952), § 27b Anm. II.2 mit Verweis auf RGSt. 72, S. 361.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Dieser Unterschied darf jedoch nicht überschätzt werden, weil schon unter der Geltung des § 27b StGB a. F. die Auffassung in der Lehre auftrat, dass eine Freiheitsstrafe in Geldstrafe auch dann umzuwandeln sei, wenn die Geldstrafe wahlweise mit Freiheitsstrafe angedroht wurde.72 Das was a maiore ad minus aus § 27b StGB a. F. zu folgern.73 Weiterhin hatten sich die Prämissen geändert, die neben der Dauer der Freiheitsstrafe auftraten. § 3 des Gesetzes von 1921 erlaubte die Ersetzung der Freiheitsstrafe durch eine Geldstrafe nur dann, wenn der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden konnte. Das Reichsgericht stellte das Sühne-Prinzip in den Vordergrund.74 Die spezialpräventiven Aspekte konnten nur nebenbei berücksichtigt werden.75 Demgegenüber erlaubte § 14 StGB a. F. dem Richter nur dann, von der Verhängung einer Geldstrafe abzusehen, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters lagen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machten. Es liegt auf der Hand, dass § 14 StGB a. F. den Akzent auf die spezial- und die generalpräventiven Aspekte der Strafe setzt und über die Schuld durchaus schweigt. Daher muss die Meinung von Bruns als vollkommen berechtigt erscheinen, dass es in der Tat schwer fällt, das Schuldprinzip bei der. sog. Folgenentscheidung des § 14 StGB a. F. sinnvoll einzubeziehen,76 so dass die Schwere der Schuld nach der herrschenden Meinung für sich allein die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nicht mehr rechtfertigen kann.77 § 14 Abs. 1 StGB a. F. erlaubt dem Richter nur dann, eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten zu verhängen, wenn: – besondere Umstände in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen und – diese Umstände die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Die Anwendung der in § 14 Abs. 1 StGB a. F. verwendeten Formel hatte der bisherigen Rechtsprechung erhebliche Schwierigkeiten gemacht.78 Auch wird die Aufarbeitung in der Literatur als unbefriedigend beurteilt.79 Fraglich ist dabei, ob Hinweise wie der folgende hilfreich sein können: 72

Erwig, Die strafrechtliche und strafprozessuale Bedeutung des § 27b des Reichsstrafgesetzbuches, S. 15. 73 Ebenda. 74 Zipf, Die Geldstrafe in ihrer Funktion der Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, S. 100–101. 75 Ebenda. 76 Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, S. 91. 77 Ebenda, S. 92. 78 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 64 I RN 13.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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„Besondere Umstände in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen vor, wenn entweder bestimmte Tatsachen die konkrete Tat von den durchschnittlichen, gewöhnlich vorkommenden Taten gleicher Art unterscheiden oder wenn bestimmte Eigenschaften (z. B. kriminelle Neigungen) oder Verhältnisse (z. B. Begehung mehrerer Taten, Vorstrafen) beim Täter einen Unterschied gegenüber dem durchschnittlichen Täter solcher Taten begründen.“80

Man kann sich leicht vorstellen, welche Probleme die Abgrenzung der „durchschnittlichen, gewöhnlich vorkommenden Taten“ von den nicht durchschnittlichen, ungewöhnlichen Taten bereitet. Die größte Schwierigkeit liegt jedoch darin, ob es einen Durchschnittsfall oder einen Durchschnittstäter als empirischen oder normativen Begriff überhaupt gibt.81 Die Praxis sieht die besonderen Umstände z. B. in den einschlägigen,82 aber auch in nicht einschlägigen Vorstrafen.83 Dabei betont man jedoch, dass zu prüfen sei, ob eine gegenüber der früheren wesentlich erhöhte Geldstrafe Aussicht auf Erfolg hätte.84 Bei den Wiederholungstätern kann man jedoch die Unerlässlichkeit einer Freiheitsstrafe nicht schematisch bejahen,85 was den Richter zur Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles (Zahl der Vorstrafen, Dauer des Zurückliegens usw.) verpflichtet.86 Andererseits können die besonderen Umstände auch bei einer Erstbestrafung die Unerlässlichkeit einer Freiheitsstrafe ergeben, wenn diese das einzige Mittel ist, den Täter von der Fortführung seines strafbaren Verhaltens abzubringen.87 Stellt der Richter besondere Umstände in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters fest, kann er auf eine kurzfristige Freiheitsstrafe nur dann erkennen, wenn diese Umstände die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Dies ist dann der Fall, wenn die Geldstrafe den spezial- oder generalpräventiven Zweck nicht erreicht.88 Vermag eine hohe Geldstrafe den Täter nicht so zu beeindrucken, dass er sich voraussichtlich nicht mehr straf79

Ebenda, m. w. N. Lackner/Kühl, § 47 RN 2. 81 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 64 I RN 13, m. w. N. 82 Hamm VRS 38, S. 178; GA 1971, S. 57; Frankfurt NJW 1970, S. 956; Koblenz MDR 1970, S. 693; Hamburg MDR 70, S. 437; Schönke/Schröder/Stree (2001) § 47 RN 11. 83 Koblenz OLGSt § 46 Nr. 2; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 47 RN 11. 84 LK-Gribbohm, § 47 RN 18. 85 Schleswig NJW 1982, S. 116; StV 1993, S. 29; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 47 RN 11. 86 Hamm VRS 38, S. 257; 39, S. 444; MDR 1970, S. 779; Karlsruhe VRS 38, S. 331; Frankfurt NJW 1970, S. 959; StV 1995, S. 27; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 47 RN 11. 87 BayObLG NJW 1988, S. 2750; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 47 RN 11. 88 OLG Düsseldorf StV 1986, S. 104. 80

50

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

bar macht, so ist eine Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf ihn unerlässlich.89 Die Verteidigung der Rechtsordnung kann eine kurzfristige Freiheitsstrafe nur dann begründen, wenn eine Geldstrafe „im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert werden könnte“.90 Damit ist allerdings eher der positive Aspekt der Generalprävention als die allgemeine Abschreckung angesprochen.91 Immerhin muss der Tatrichter die Umstände angeben, aus denen er die Unerlässlichkeit der Freiheitsstrafe folgert.92

bb) § 15 StGB a. F. Das StGB kannte schon vor der Einführung des 1. StrRG von 1969 eine Reihe von Vorschriften im Besonderen Teil, nach denen das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen eine Strafe mildern konnte.93 Dies war vor allem bei zahlreichen Rücktrittsregelungen des Besonderen Teils der Fall. Das 1. StrRG hat alle Bestimmungen des Besonderen Teils, in denen die Möglichkeit einer Strafmilderung dieser Art vorgesehen war, auf den neuen § 15 StGB a. F. umgestellt. Diese Vorschrift bestimmte, dass das Gericht bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen konnte, wenn das Gesetz ihm erlaubte, die Strafe nach seinem Ermessen zu mildern. Die Anwendung des § 15 StGB a. F. war somit davon abhängig, dass ein anderes Gesetz auf ihn verwies. Dabei ist zu beachten, dass der Allgemeine Teil des StGB nach dem 1. StrRG keine Vorschrift kannte, die auf § 15 StGB a. F. verwiesen hätte. Die Vorschrift des § 15 StGB a. F. wurde auf der Grundlage des 2. StrRG zu § 49 Abs. 2 StGB. cc) § 23 Abs. 3 StGB Eine erste Vorschrift des Allgemeinen Teils, die auf § 15 StGB a. F. (= § 49 Abs. 2 StGB n. F.) verwies, führte das 2. StrRG ein: Nach § 23 StGB konnte die Strafe gemildert werden, wenn der Täter aus grobem Unverstand 89

Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 112; LK-Gribbohm, § 47 RN 13. OLG Köln StV 1984, S. 378; NJW 1981, S. 412 unter Bezugnahme auf BGHSt. 24, S. 40 (S. 46). 91 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 113, m. w. N. 92 OLG Braunschweig GA 1970, S. 87; OLG Köln NJW 1952, S. 198; OLG Bremen NJW 1953, S. 394. 93 Z. B. §§ 157 StGB a. F., 158 StGB a. F., 316a Abs. 2. StGB a. F. 90

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

51

verkannt hatte, dass der Versuch nach der Art des Gegenstands, an dem die Tat begangen werden sollte, überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte. In diesem Fall konnte das Gericht nach dem In-Kraft-Treten der Vorschrift des § 23 Abs. 3 StGB auf der Grundlage des § 49 Abs. 2 StGB die Strafe mildern, d.h. statt einer Freiheitsstrafe die Geldstrafe verhängen. Durch die Formulierung „überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte“ wurde klargestellt, dass hier nur die Fälle gemeint sind, „in denen weder eine konkrete noch eine abstrakte Gefährdung bestand“.94 dd) § 30 StGB Das 2. StrRG führte neben § 23 Abs. 3 StGB auch den § 30 StGB ein. Beide Vorschriften stehen in einem engen Zusammenhang. Nach § 30 Abs. 1 S. 3 StGB findet § 23 Abs. 3 StGB (d.h. auch § 49 Abs. 2 StGB) entsprechende Anwendung für den Täter, der einen anderen zu bestimmen versucht, ein Verbrechen zu begehen oder zu ihm anzustiften. Das gilt auch für denjenigen, der sich bereit erklärt, der das Erbieten eines anderen annimmt oder der mit einem anderen verabredet, ein Verbrechen zu begehen oder zu ihm anzustiften (§ 30 Abs. 2 StGB). ee) Art. 12 Abs. 1 EGStGB Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch von 1974 hat tief in den Besonderen Teil des StGB eingegriffen. Gemäß Art. 12 EGStGB trat neben die Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß eine wahlweise Androhung der Geldstrafe, soweit das Gesetz die Alternative der Geldstrafe bisher nicht vorsah. Dementsprechend konnten die Richter auf den § 47 Abs. 2 S. 1 StGB überwiegend verzichten, weil auf alle Strafandrohungen, die auf der Grundlage des Art. 12 Abs. 1 EGStGB um eine Geldstrafenandrohung erweitert wurden, unmittelbar § 47 Abs. 1 StGB Anwendung findet.95 § 47 Abs. 2 S. 1 StGB erfasst die Strafandrohungen mit erhöhtem Mindestmaß der Freiheitsstrafe (z. B. ab drei Monate) und Strafandrohungen aus Nebengesetzen (z. B. aus dem Wehrstrafgesetz). Schließlich soll auf die Auswirkungen der genannten Reformen eingegangen werden. Aus der gezeigten Abbildung 4 geht hervor, dass eine erhebliche Änderung in der Struktur der verhängten Strafen lediglich in den Jahren 1967–1971 zu verzeichnen ist. Die Einführung des § 23 Abs. 1 StGB und 94 95

BT-Drs. V/4095, S. 12. Lackner/Kühl, § 47 RN 8.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe 600 000 Unbedingte Freiheitsstrafe

Anzahl

500 000 400 000

Bedingte Freiheitsstrafe

300 000 200 000

Geldstrafe

100 000

19 79

19 77

19 75

19 73

19 71

19 69

19 67

0

Jahr Nach allgemeinem Strafrecht wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte nach der schwersten Strafe. Für die Jahre 1967–1969: Zuchthaus, Gefängnis, Haft und Einschließung. Die Arreststrafen werden wegen ihrer geringen Bedeutung nicht berücksichtigt. Quelle der Daten: Heinz, ZStW 94 (1982), S. 651.

Abb. 4: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1967–1979

des § 30 StGB durch das 2. StrRG sowie des Art. 12 Abs. 1 durch das EGStGB von 1974 brachte somit keine statistisch ersichtliche Änderung der Sanktionierungspraxis. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Wandel dem § 14 StGB a. F. zuzurechnen ist. Während man sich bei der Beurteilung des § 27b StGB a. F. und über das Maß seines Einflusses auf die Praxis der 20er Jahre streiten kann, herrscht demgegenüber in der deutschen Lehre weitgehende Einigkeit über die Bedeutung des 1. StrRG von 1969, insbesondere des § 14 StGB a. F. für die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen und die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe. Jescheck sieht in dieser Reform sogar eine Wende in der Kriminalpolitik, „die der Ersetzung der Leibes- und Lebensstrafen durch die Freiheitsstrafe gleichzuachten ist!“96 Nach Tröndle hat das 1. StrRG durch die ultima-ratio-Klausel des § 14 StGB a. F. die Strafgerichte gezwungen, ihren Sanktionsstil schlagartig zu ändern.97 Es liegt sicher auch keine Übertreibung in der Feststellung, dass das deutsche Sanktionensystem einen solchen Wandel innerhalb eines Jahres wohl noch nicht erfahren hatte.98 Während im Jahre 1969 in 158.439 Fällen die Freiheitsstrafe verhängt wurde, betrug im Jahre 1970 die Zahl der Freiheitsstrafen nur noch 88.248. Demgegenüber erhöhte sich die Zahl der Geldstrafen von 371.918 im Jahre 1969 auf 464.818 im 96 97 98

Jescheck, FS für Gallas, S. 40. Tröndle, ZStW 86 (1974), S. 545. Kaiser, ZStW 86 (1974), S. 363.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

53

> 2 Jahre bis 5 Jahre

> 1 Jahr bis 2 Jahre

> 9 Monate bis 1 Jahr

> 6 Monate bis 9 Monate

bis 1 Monat einschl. > 1 Monat bis 6 Monate

Nach allgemeinem Strafrecht wegen Verbrechen und Vergehen Verurteilte. Quelle der Daten: Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 76.

Abb. 5: Strafbemessung bei Freiheitsstrafe in der BRD im Jahre 1968

Jahre 1970. Dieser erhebliche Rückgang der Freiheitsstrafen zugunsten der Geldstrafe ist – nach Heinz – der bleibende Erfolg der Strafrechtsreform von 1969.99 Man kann hinzufügen: Auch der Erfolg des § 14 StGB a. F. Angesichts der Tatsache, dass § 14 StGB a. F. die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen bezweckte, soll die Struktur der Freiheitsstrafe nach ihrer Dauer vor der Reform dargestellt werden. Damit kann man annähernd feststellen, wie viel Freiheitsstrafen durch die Geldstrafe potentiell hätten ersetzt werden können. Die Abbildung 5 zeigt die Strafbemessung bei Freiheitsstrafe im Jahre 1968. Der Vorrang der Freiheitsstrafen bis zu einschl. 6 Monaten vor der Reform ist ersichtlich: Sie stellten ungefähr 87% der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe (183.503 Verurteilungen) im Jahre 1968 dar.100 Nur vor dem Hintergrund dieser Daten kann man die Bedeutung des 1. StrRG von 1969 angemessen verstehen, dessen Ziel vor allem in der Einschränkung der Verhängung und der Vollstreckung von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten lag.101 Der Erfolg des § 14 StGB a. F. stützte sich grundsätzlich auf diesel99

Heinz, ZStW 111 (1999), S. 487. Quelle der Daten: Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 76. 101 Heinz, ZStW 94 (1982), S. 651. 100

54

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

ben Grundlagen wie der des § 3 des Geldstrafengesetzes von 1921: Es wurde wieder eine Muss-Vorschrift zur Ersetzung der Freiheitsstrafen (dieses Mal unter sechs Monaten) eingeführt, als die Strafen von dieser Dauer die überwiegende Mehrheit der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe ausmachten. Obwohl die Änderung der statistischen Kategorien den direkten Vergleich der Daten vor und nach der Reform ausschließt,102 bleibt doch unbestreitbar, dass die Zahl der Freiheitsstrafen bis zu einschließlich 6 Monaten nach der Reform deutlich gesunken ist. Ferner ist festzustellen, dass die kurzfristige Freiheitsstrafe nicht nur erheblich verdrängt wurde, sondern die Tendenz der sechziger Jahre eingedämmt wurde, die eine Zunahme von Freiheitsstrafen einer Dauer von 1 bzw. 3 Monaten erkennen ließ. Dabei bewirkte das Absinken der Verurteilungen zu kurzer Freiheitsstrafe die bedeutendste Verdrängung der Freiheitsstrafen überhaupt. Selbstverständlich wirkte sich die gesunkene Zahl der kurzen Freiheitsstrafen auf die Zahl der Häftlinge aus. Während im Jahre 1969 ihre Zahl 45.745 betrug, kann man für die Jahre 1970 knapp über 36.000 und 1971 rund 33.000 Häftlinge feststellen.103 Die ausführlichste Analyse der Sanktionierungspraxis der 70er Jahre, die Heinz durchgeführt hat, lässt folgende Entwicklung der kurzen Freiheitsstrafen im Einzelnen erkennen: – „Gefängnisstrafen bis 9 Monate einschließlich hatten 1968 noch einen Anteil von 33,8% an allen Verurteilungen. 1970 betrug der Anteil nur noch 12,7%. Mit Ausnahme des Jahres 1974 wurde seitdem die Quote von 13% für Freiheitsstrafen dieser Dauer nicht mehr überschritten. – Knapp 90 von 100 Freiheitsstrafen waren vor 1969 Gefängnisstrafen bis 6 Monate einschließlich. 1970 betrug der Anteil von Freiheitsstrafen unter 6 Monaten noch 63%. (. . .). Noch deutlicher werden die Auswirkungen des 1. StrRG, werden die kurzen Freiheitsstrafen unter 6 Monaten auf die jeweilige Zahl der Verurteilten bezogen. Von rd. 30% ging ihr Anteil auf 8,5% (1979) zurück. – Am stärksten gingen die Gefängnisstrafen bis 1 Monat einschließlich zurück. 1968 betrug ihr Anteil an allen Verurteilungen 17,1%. 1970 betrug die entsprechende Quote 1,4%, 1974 0,6%. Freilich beruht auch dies teilweise auf einer Änderung des statistischen Ausweises. – Ausgeprägter und noch bemerkenswerter ist die Veränderung der Sanktionspraxis bei den Straftaten im Straßenverkehr, derentwegen 1979 48,3% aller Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht erfolgten. Der Anteil der Freiheitsstrafen an allen Verurteilungen ging hier von 35,1% (1968) auf 10,1% (1979) zurück. Der Anteil der Freiheitsstrafen bis 6 Monate einschließlich an allen wegen Straßenverkehrsdelikten verhängten Freiheitsstrafen lag 1968 bei 98,7%, 1979 bei 87,5%. 102

Zwischen 1967–1969 standen nur Angaben über Strafen „bis einschließlich sechs Monate“ zur Verfügung. Erst seit 1970 wird die Kategorie „bis unter sechs Monaten“ ausgewiesen. 103 Tiedemann, ZStW 86 (1974), S. 336.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

55

Bezogen aber auf alle wegen Straßenverkehrsdelikten erfolgten Verurteilungen ging der Anteil der Freiheitsstrafen bis 6 Monate einschließlich von 34,6% auf 8,8% zurück. Seit 1977 ist freilich bei den Straßenverkehrsdelikten eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Der Geldstrafenanteil nimmt ab, sowohl kurz- als auch – insbesondere – mittelfristige Freiheitsstrafen steigen wieder merklich an.“104

Dabei muss allerdings stets im Auge behalten werden, dass die Reform auch ihre Schattenseite hatte. Dazu Terdenge: „Der absolute wie relative Anstieg der Freiheitsstrafen von 6 bis 9 Monaten wie auch der Freiheitsstrafen von 9 bis 12 Monaten scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß nicht nur die Geldstrafe die Freiheitsstrafe ersetzt hat, sondern dass zum Teil die Gerichte auf höhere Strafen ausgewichen zu sein scheinen, die beabsichtigte Wirkung des § 47 StGB also in einer nicht bedachten Richtung umgangen zu haben scheinen. Es lässt sich also neben der Tendenz zur stärkeren Geldstrafenverhängung ebenfalls eine Neigung zu längeren Strafen festmachen.“105

Angesichts der eindeutigen statistischen Daten lässt sich dieser Auffassung kaum widersprechen. In der Tat hat die Zahl der höheren Freiheitsstrafen nach der Reform deutlich zugenommen.106 Trotz des dargestellten Erfolges des § 14 StGB a. F. ist die Ansicht von Kunz wohl zutreffend, dass das Anliegen des Gesetzes, die kurzen Freiheitsstrafen durch ambulante Sanktionen zu ersetzen, „sich nur langsam und mit Schwierigkeiten“ durchsetzt.107 Wenn man bedenkt, dass im Jahre 2004 noch 45.510 Personen108 nach allgemeinem Strafrecht zu Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verurteilt wurden, was 35% aller verhängten Freiheitsstrafen ausmacht,109 kommt man zu der Schlussfolgerung, dass „der Kampf“ gegen die kurze Freiheitsstrafe noch nicht zu Ende gebracht wurde und potentiell noch viele Freiheitsstrafen durch die Geldstrafe ersetzt werden könnten. Jedenfalls sind die Erfolge beeindruckend. Im Jahre 1882, zu Beginn des statistisch überschaubaren Zeitraums, betrug der Anteil der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden Sanktionen 76,8%.110 Im Jahre 2004 betrug der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen nur 6%.111 Die Freiheitsstrafen 104

Heinz, MschrKrim 64 (1981), S. 162. Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 76. 106 Traulsen, BewHi 1993, S. 87. 107 Kunz, Kriminologie, § 25 RN 54. 108 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 109 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 110 Heinz, ZStW 111 (1999), S. 476. 111 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 105

56

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

unter sechs Monaten machten 35% aller Freiheitsstrafen aus.112 Der Vergleich fällt noch deutlicher aus, wenn man berücksichtigt, dass es im Jahre 1882 keine Diversionsmöglichkeit gab. Zusammenfassend lässt sich folgern, dass die kurze Freiheitsstrafe im Laufe des 20. Jahrhunderts zu Gunsten der Geldstrafe im deutschen Rechtssystem ihre dominierende Rolle verloren hatte. § 27b StGB a. F. und § 14 StGB a. F. haben an dieser Entwicklung einen bedeutenden Anteil. 2. Geldstrafe neben anderen Strafarten Für die Entwicklung des deutschen (R)StGB ist die weitgehende Zurückhaltung in der Förderung der Geldstrafe neben anderen Strafarten kennzeichnend. Das (R)StGB in seiner ursprünglichen Fassung sah die Geldstrafe lediglich neben der Freiheitsstrafe vor.113 Dabei stand es überwiegend im Ermessen des Gerichts, ob eine Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe verhängt werden sollte. Das Gesetz stellte den Richtern in dieser Hinsicht keine Richtlinien zur Verfügung. Allein drei Vorschriften des BT (§ 264 Abs. 1, § 265 Abs. 1 und § 349) sahen eine obligatorische Verhängung von Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe vor. Die Rechtslage änderte erst das Geldstrafengesetz vom 27. April 1923114, das den § 27a in das RStGB einführte. Die neue Vorschrift gestattete dem Gericht bei auf Gewinnsucht beruhenden Verbrechen oder Vergehen sowohl eine Überschreitung der Obergrenze der Geldstrafe bis zu einer Höhe von 100.000 RM als auch die Verhängung von Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe in allen Fällen, in denen Geldstrafe nicht angedroht war. Als gewinnsüchtig galt ein dauernder seelischer Zustand, eine Charaktereigenschaft des Täters, ähnlich wie habsüchtig, geizig.115 Das Reichsgericht (und später der BGH) und die Oberlandesgerichte definierten die Gewinnsucht als die „Steigerung des berechtigten Erwerbssinnes auf ein ungewöhnliches, ungesundes, sittlich anstößiges Maß“.116 Diese Definition wiederholt Schröder noch zu Anfang der 70er Jahre.117 Gewinnsucht wurde schon dann angenommen, wenn das Verlangen des Täters nach Gewinnerzielung ihn mit sol112 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 113 § 150 Abs. 1, § 263 Abs. 1, § 264 Abs. 1 und 2, § 265 Abs. 1 und 2, § 266 Abs. 2, § 268 Abs. 1 und 2, § 269, § 270, § 272 Abs. 1 und 2, § 273, § 274, § 284 Abs. 1, § 290, § 349. 114 RGBl. I, S. 254. 115 LK-Lobe, § 27a Anm. 1. 116 RGSt. 60, S. 390; BGHSt. 3, S. 31; BGH GA 1953, S. 154; OLG Braunschweig MDR 1947, S. 136; OLG Bremen NJW 1955, S. 35. 117 Schönke/Schröder (1972), § 27a RN 2.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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cher Gewalt beherrschte, dass er ihm hemmungslos unterlag.118 Die Vorschrift war nicht beschränkt auf vermögensrechtliche Delikte – Sucht nach Gewinn konnte Beweggrund für jede Art von Straftaten werden.119 Im Jahre 1962 nahm der BGH an, dass Gewinnsucht auch dann vorliegt, wenn der Täter eine normale Leistung erstrebt, jedoch auf einem Gebiete oder auf eine Weise, die strafrechtlich verpönt sind.120 Die Vorschrift des § 27a StGB a. F. galt bis zum 31. Dezember 1974. Die nächste Änderung der Rechtslage brachten das 2. StrRG und das EGStGB. Das Letztere hat bei allen Strafandrohungen des Besonderen Teils, die eine Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe vorschrieben oder zuließen, die zusätzliche Geldstrafe abgeschafft. Das 2. StrRG sah einen neuen § 41 StGB vor. Er sollte lauten: „Hat der Täter in der Absicht gehandelt, sich zu bereichern, so kann neben einer Freiheitsstrafe eine sonst nicht oder nur wahlweise angedrohte Geldstrafe verhängt werden, wenn dies unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Einwirkung auf ihn oder zur Verteidigung der Rechtsordnung angebracht ist.“

Vor dem In-Kraft-Treten wurde jedoch die Regelung des § 41 StGB durch das EGStGB geändert. Die Norm nach der Änderung lautet: „Hat der Täter sich durch die Tat bereichert oder zu bereichern versucht, so kann neben einer Freiheitsstrafe eine sonst nicht oder nur wahlweise angedrohte Geldstrafe verhängt werden, wenn dies auch unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters angebracht ist.“121

Die Änderung der ursprünglichen Fassung der Vorschrift des § 41 StGB bewirkte zum einen die Streichung der beiden Kriterien „zur Einwirkung auf den Täter“ bzw. „zur Verteidigung der Rechtsordnung“. Diese Entscheidung wurde mit dem Argument begründet, dass die Kumulierung auch ohne diese Bedingungen gegen Wirtschaftskriminelle (einer der Hauptadressaten dieser Norm122) möglich sein müsse.123 Zum anderen reicht für die Bejahung des § 41 StGB nunmehr Vorsatz der Bereicherung aus, es muss also nicht notwendig Bereicherungsabsicht und schon gar nicht die Gewinnsucht i. S. des früheren § 27a StGB a. F. gegeben sein.124 118

LK-Lobe, § 27a Anm 1. Ebenda. 120 BGHSt. 17, S. 35. 121 Das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vom 15.7.1992 (BGBl. I, S. 1302) fügte der Vorschrift folgenden Satz hinzu: „Dies gilt nicht, wenn das Gericht nach § 43a eine Vermögensstrafe verhängt“. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 20.3.2002 (BGBl. I, S. 1340) ist § 43a StGB verfassungswidrig und nichtig. 122 BT-Drucks. V/4095, 21. 123 BT-Drucks. 7/550, S. 12; Göhler, Prot. 7/506, S. 160 f. 119

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Die Anwendung der Vorschrift des § 41 StGB hängt von zwei Voraussetzungen ab. Zum einen muss sich der Täter durch die Tat bereichert oder es zumindest versucht haben; zum anderen muss es nach allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen angebracht sein, neben der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe zu erkennen. Lehre und Rechtsprechung gehen grundsätzlich davon aus, dass der Täter sich bereichert oder zu bereichern versucht, wenn er einen Vermögensvorteil, also eine günstigere Gestaltung der Vermögenslage, erlangt oder erstrebt hat.125 Wie oben bemerkt wurde, muss keine Gewinnsucht gegeben sein, um die Voraussetzungen des § 41 StGB zu bejahen, das heißt, es muss dem Täter nicht auf eine Bereicherung ankommen.126 Er muss sich vorgestellt haben, dass er durch die Tat einen Vermögensvorteil erhält oder behalten wird,127 aber er muss nicht zu diesem Zweck gehandelt haben.128 Es genügt, dass die Bereicherung eine mitvorgestellte (weitere Folge) seines Handelns ist.129 Insoweit reicht nach herrschender Meinung bedingter Vorsatz aus.130 Außerdem genügen auch Vorteile, die durch die Tat mittelbar erlangt wurden.131 Sie müssen nicht dem Recht widersprechen, sondern lediglich die Tat, die die Vorteile einbringt oder einbringen soll.132 Weitgehend anerkannt ist, dass ein Vermögensvorteil in diesem Sinne auch dann vorliegt, wenn der Täter eine Vermögensminderung verhindert, insbesondere etwa dann, wenn er Steuern hinterzieht.133 Weiterhin muss die zusätzliche Geldstrafe den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten angemessen sein. Diese Anforderungen kannte § 27a StGB a. F. nicht. Sie sind jedoch – anders als sonst bei der Entscheidung, ob Geld- oder Freiheitsstrafe zu verhängen ist – bereits beim Ob der zusätzlichen Geldstrafe zu berücksichtigen.134 Damit soll ver124

SK-Horn, § 41 RN 8. RGSt. 50, S. 277, 279; BGHSt. 14, S. 386, 388; Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 3; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 3; LK-Häger, § 41 RN 7; Fischer/ Tröndle (2006), § 41 RN 4. 126 LK-Häger, § 41 RN 9. 127 Ebenda. 128 Ebenda. 129 OLG Düsseldorf GA 1976, S. 118; OLG Hamm NJW 1975, S. 1371; LK-Häger, § 41 RN 9. 130 Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 3; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 3; LK-Häger, § 41 RN 9. 131 BGHSt. 32, S. 61. 132 Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 3; LK-Häger, § 41 RN 9. 133 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 3; LK-Häger, § 41 RN 9; Fischer/ Tröndle (2006), § 41 RN 4. 134 BGHSt. 26, S. 327. 125

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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hindert werden, dass eine Strafe eine entsozialisierende Wirkung hat. Dass eine zusätzliche Geldstrafe im Einzelfall die Resozialisierung des Täters gefährden kann, ist weitgehend anerkannt. Insbesondere erblicken Lehre und Rechtsprechung in der kumulativ mit der unbedingten Freiheitsstrafe verhängten Geldstrafe die Gefahr einer entsozialisierenden Wirkung: „Gerade in diesem Fall kann bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe im übrigen nicht ohne weiteres von künftigen Verdienstmöglichkeiten ausgegangen werden. Zwar schließt der Bundesgerichtshof (BGHSt. 26, 327 ff.) nicht aus, daß eine Prognose der künftigen Einkommens- und Wirtschaftsentwicklung des Verurteilten zur Grundlage der Festsetzung der Tagessatzhöhe gemacht wird, doch ist dies nur dann möglich, wenn es sich um sichere und eindeutig belegbare Erwerbsmöglichkeiten oder Einkünfte handelt. Dies dürfte wohl nur dann der Fall sein, wenn berufliche Erwerbs- und Einkommensmöglichkeiten oder ein Erwerbsgeschäft durch die Verurteilung bzw. Strafe nicht beeinträchtigt oder gar vollständig beseitigt werden. Keinesfalls können bloß mögliche, von mancherlei Umständen abhängige Erwerbschancen zum Maßstab gemacht werden (vgl. hierzu BGHSt 26, 327 ff.). Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß eine Maßregel (Berufsverbot) oder die Vollstreckung der Freiheitsstrafe die Erwerbsaussichten des Täters wesentlich verschlechtern können (BGH bei Holtz MDR 1986, 97).“135

In der Regel kommt somit eine zusätzliche Geldstrafe nur bei vermögenden oder einkommensstarken Tätern in Betracht.136 Insbesondere bei begüterten Tätern der sog. Weißen-Kragen-Kriminalität sieht die Lehre einen Anwendungsbereich der zusätzlichen Geldstrafe.137 Darüber hinaus kann die zusätzliche Geldstrafe angebracht sein, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird und es angezeigt ist, den Täter statt mit einer nicht vollstreckbaren Geldauflage auch mit einer sofort vollstreckbaren Geldstrafe zu treffen.138 Diese Einschränkungen legen den Gedanke nahe, dass die Vorschrift des § 41 StGB relativ selten zur Anwendung kommen kann. Diese Vermutung erweist sich nach der Untersuchung der Rechtsprechung des BGH139 und der Auffassungen im Schrifttum140 als zutreffend. Der Regelung wurde ein „Ausnahmecharakter“ zugesprochen und man postulierte eine weitgehende Zurückhaltung in ihrer Anwendung141, dem die Praxis zu folgen scheint. Die Strafverfolgungsstatistiken aus den 70er, 80er und 90er Jahren belegen, 135

Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 4. LK-Häger, § 41 RN 11. 137 Fischer/Tröndle (2003), § 41 RN 5. 138 LK-Häger, § 41 RN 12, m. w. N. 139 BGHSt. 26, S. 330; 32, S. 65. 140 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 66; Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 1; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 1; LK-Häger, § 41 RN 5; Lackner/Kühl, § 41 RN 1; Fischer/Tröndle (2006), § 41 RN 2. 141 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 1. 136

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

dass die Strafrechtspraxis dem Ausnahmecharakter des § 41 StGB Rechnung trägt. Im Jahre 1991 wurden lediglich etwa 300 Verurteilte mit Geldstrafen in Verbindung mit Freiheitsstrafe bestraft. Dies entspricht einem Anteil von ca. 0,05% an allen Verurteilungen. Damit ist offensichtlich, dass die Vorschrift des § 41 StGB tatsächlich nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommt.142 Diese Tendenz hat sich seit 1991 nicht geändert: Im Jahre 2004 wurde in 422 Fällen nach allgemeinem Strafrecht eine Geldstrafe neben Freiheitsstrafe verhängt,143 was von weitgehender Zurückhaltung der Praxis bei der Anwendung der Vorschrift des § 41 StGB zeugt.

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe Das deutsche StGB ist am 1.1.1975 von Gesamtsummensystem auf das Tagessatzsystem übergegangen. Im Folgenden wird auf beide Phasen gesondert eingegangen. 1. Gesamtsummensystem Das Wesen des Gesamtsummensystems beruhte darin, dass das Gericht die Geldstrafe in einem Schritt als eine bestimmte Geldsumme festsetzte. Über die Strafhöhen (Strafeinheiten), nach denen die Geldstrafe zu verhängen war, fehlte es im RStGB an Vorschriften.144 Auch schwieg das RStGB in seiner ursprünglichen Fassung zu den Gesichtspunkten, die das Gericht bei der Bemessung der Geldstrafe berücksichtigen sollte. Einen ersten Hinweis gab § 4 des Ersten Geldstrafengesetzes von 1921, der das Gericht verpflichtete, bei der Bemessung der Geldstrafe die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu berücksichtigen. Die Literatur ging jedoch schon vor der Reform des Jahres 1921 überwiegend davon aus, dass das Gericht verpflichtet oder wenigstens befugt sei, die Höhe der auszuwerfenden Geldstrafe der wirtschaftlichen Lage des Angeklagten anzupassen.145 Einen weiteren gesetzgeberischen Schritt stellte das Geldstrafengesetz von 1923 dar, das den neuen § 27c in das RStGB einführte. Er lautete: „Bei der Bemessung einer Geldstrafe sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu berücksichtigen. Die Geldstrafe soll das Entgelt, das der Täter für die Tat empfangen, und den Gewinn, den er aus der Tat gezogen hat, übersteigen. 142

Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 2. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 144 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27 Anm. I. 145 Gutmann, Die Natur der Geldstrafe und ihre Verwendung im heutigen Reichsstrafrecht, S. 62. 143

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Reicht das gesetzliche Höchstmaß hierzu nicht aus, so darf es überschritten werden.“

Das Neue an § 27c RStGB lag vor allem in der Einführung des Maßstabs, nach dem das Gericht die Geldstrafe bemessen sollte (S. 2 des § 27c RStGB). Hat der Täter ein Entgelt (Lohn für die Tat, z. B. Bestechungsgeld) empfangen oder Gewinn (Vorteil aus der Tat) gezogen, so sollte das Gericht die Geldstrafe in einer solchen Höhe verhängen, die dieses Entgelt oder diesen Gewinn übersteigt. Die Anwendung der Soll-Vorschrift des § 27c S. 2 RStGB konnte jedoch nie zu einer Verletzung des ersten Satzes des § 27c RStGB führen. Müsste die nach Satz 2 zu bemessende Höhe der Geldstrafe die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters außer Acht lassen, so konnte sie nicht angewendet werden.146 Die Vorschriften des § 27c RStGB galten bis zur Einführung des Tagessatzsystems, d.h. bis zum Ende des Jahres 1974. Auf der Grundlage des 1. StrRG wurde jedoch Abs. 1 gestrichen. Das 1. StrRG führte auch einen weiteren Hinweis für die Bemessung der Geldstrafe ein: Der neue § 27c StGB (der oben erwähnte § 27c StGB wurde auf der Grundlage dieser Reform § 27b StGB) bezog sich auf die Festsetzung der Geldstrafe, die die kurzen Freiheitsstrafen ersetzen sollte. Er lautete: „Verhängt das Gericht eine Geldstrafe nach § 14 Abs. 2, so sind die §§ 27 bis 27b anzuwenden. Ist Freiheitsstrafe mit einem erhöhten Mindestmaß angedroht, so ist die Geldstrafe so zu bemessen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe dieses Mindestmaß nicht unterschreitet.“

Aus dieser Übersicht über die gesetzgeberischen Eingriffe lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass der Gesetzgeber nur wenige Hinweise für die Bemessung der Geldstrafe im (R)StGB gab. Lehre und Praxis mussten daher selbst die Maßstäbe für die Bemessung der Geldstrafe ausarbeiten. Im Zentrum der Diskussion in Kommentaren und Lehrbüchern stand der Begriff der „wirtschaftlichen Verhältnisse“. Er war schon vor dem 2. Weltkrieg in Lehre und Praxis sehr weit ausgelegt worden. Den seinerzeitigen Kommentaren lässt sich entnehmen, dass hierzu nicht nur das Vermögen und das Einkommen des Verurteilten gehörten, sondern auch sein Lebensalter, ferner die Zahl und die Einkommensverhältnisse der Personen, denen er unterhaltspflichtig war.147 Auch seine Erwerbsfähigkeit war zu berücksichtigen.148 Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren jedoch nicht die einzigen Umstände, die das Gericht bei der Bemessung der Geldstrafe berücksichtigen sollte. Sowohl vor als auch nach dem 2. Weltkrieg war in der Lehre anerkannt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters allein „ein 146 147 148

LK-Lobe, § 27c Anm. 2. Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27c Anm. I.1. LK-Lobe, § 27c Anm. 1.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Moment bei der Bemessung der Geldstrafe“149 sind, und die „Schwere der Tat“150 oder „die allgemeinen Strafzumessungsregeln des § 13 Abs. 2“151 (heute: § 46 Abs. 2 StGB) sollten in erster Linie entscheiden. Nach Schröder haben die Gerichte152 diesen Standpunkt übernommen und sich für verpflichtet gehalten, auch bei der Zumessung der Geldstrafe die Gesamtheit aller Strafzwecke zu berücksichtigen.153 Näher zu betrachten bleibt die Tatsache, wie Lehre und Praxis sich mit dem Problem der Bemessung der Geldstrafe gegenüber Einkommensschwachen unter der Geltung des Gesamtsummensystems auseinandergesetzt haben. Schon im Jahre 1931 hat sich das Reichsgericht mit dem Problem der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters im Kontext der Auswahl der entsprechenden Sanktion beschäftigt. Die Frage, die der Strafsenat damals zu beantworten hatte, lautete: „Darf davon abgesehen werden, nach § 27b StGB an Stelle einer verwirkten Freiheitsstrafe auf eine Geldstrafe zu erkennen, weil diese in einer für den Verurteilten wirtschaftlich nicht tragbaren Höhe festgesetzt werden müßte?“ 154

Die erkennenden Richter haben diese Frage eindeutig verneint.155 Ihre Argumentation stützte sich auf die Annahme, dass für die Prüfung der Zweckmäßigkeit bestimmter Sanktionen die Tat und die Persönlichkeit des Täters maßgeblich sind.156 Folgende Strafphilosophie lag dem Urteil zugrunde: „Da die Strafe für den Verurteilten stets ein Übel bedeuten soll, kann die Rücksicht auf seine Person allerdings dazu führen, von einer Geldstrafe abzusehen, wenn eine solche von ihm nicht als Übel empfunden werden würde. Aber je schwerer ein Verurteilter nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Geldstrafe zu tragen vermag, desto mehr wird sie in der Regel von ihm als Übel empfunden.“157

Diese Argumentation hat das Bayerische Oberste Landesgericht in einem Urteil vom 25.2.1958158 um verfassungsrechtliche und prozessrechtliche Argumente bereichert. Der Erwägung der vorinstanzlich entscheidenden StrK, dass der Strafzweck nur durch eine Freiheitsstrafe erreicht werden könne, 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158

RGSt. 64, S. 208; LK-Lobe, § 27c Anm. 1. Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27c Anm. I.1. Schönke/Schröder (1972), § 27b RN 2. Siehe RGSt. 64, S. 207; RGSt. 65, S. 231. Schönke/Schröder (1972), § 27b RN 2. RGSt. 65, S. 229. Ähnlich RGSt. 77, S. 137. RGSt. 65, S. 230. Ebenda. NJW 1958, S. 919.

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weil die Angeklagten nach ihren Einkommensverhältnissen nicht in der Lage seien, eine dem Unrechtsgehalt ihrer Straftaten angemessene Geldstrafe zu zahlen, hielt das Gericht folgende Stellungnahme entgegen: „Diese Auffassung ist mit den Grundsätzen für ein gerechtes Strafen und mit der Gleichheit aller vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 118 Abs. 1 bay. Verf.) nicht vereinbar. Ein Angekl. darf nicht um deswillen mit Gefängnis bestraft werden, weil er in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, wenn bei dem gleichen Sachverhalt gegen einen bemittelten Angekl. eine Geldstrafe als eine ausreichende Sühne angesehen wird. Die Auswahl der Strafart unter diesem Gesichtspunkt ist ebensowenig zu billigen wie der Ausspruch der Haft statt der daneben angedrohten Geldstrafe nur deshalb, weil der Täter vermögend ist. (. . .). Daß eine schlechte, wirtschaftliche Lage kein Hindernis für die Verhängung einer Geldstrafe sein darf, ergibt sich auch aus § 28 Abs. 1 StGB, der bei ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen die Stundung oder die Bewilligung von Ratenzahlungen zwingend vorschreibt und aus § 27c StGB, der bestimmt, daß bei Bemessung der Höhe der Geldstrafe die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angekl. zu berücksichtigen sind.“159

Die Schlussfolgerung war ganz klar: „Ist neben einer Freiheitsstrafe auch die Geldstrafe angedroht, so darf der Richter nicht deshalb die Freiheitsstrafe wählen, weil der Täter in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt.“160

Diese Richtung hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 4.8.1967161 mit folgenden Worten bestätigt: „Die Verhängung einer Geldstrafe darf nicht etwa deshalb abgelehnt werden, weil der Angekl. sie nicht bezahlen könnte.“162

Auch nach der Einführung des 1. StrRG wurde diese Rechtsprechung fortgesetzt.163 Aus den aufgezeigten Urteilen geht hervor, dass das Problem der Verhängung der Geldstrafe bei einkommensschwachen Tätern sehr früh in der deutschen Rechtsprechung thematisiert wurde. Allerdings wurde die Tendenz, die Anwendung der Geldstrafe auf vermögende Täter zu beschränken, sehr schnell durch die höheren Instanzen verworfen. Ähnlich hat der Bundesgerichtshof im Falle eines finanziell leistungsfähigen Täters entschieden, dass günstige finanzielle Verhältnisse nicht dazu führen dürfen, statt einer Geldstrafe die Freiheitsstrafe zu verhängen, um den Täter fühlbar zu bestrafen.164 Aus dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz wurde die 159 160 161 162 163 164

Ebenda, S. 920. Ebenda. BGH GA 1968, S. 84. Ebenda. OLG Düsseldorf, MDR 1970, S. 1025; OLG Hamm, MDR 1975, S. 329. BGHSt. 3, S. 259 (262 f.).

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Schlussfolgerung gezogen, dass bei der Auswahl der Strafart die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters außer Acht bleiben müssen. Diese Argumentation hat ohne Zweifel die Anwendung der Geldstrafe erheblich begünstigt. Man mag jedoch fragen, wie Lehre und Praxis das Problem der Einkommensschwachen bei der Bemessung der Geldstrafe unter der Geltung des Gesamtsummensystems gelöst haben. Dass die Mittellosigkeit nicht zum Verzicht auf die Geldstrafe führen durfte, wurde oben ausführlich gezeigt. Wie konnte jedoch ein Mittelloser seine Geldstrafe begleichen, wenn ihm keine (oder unzureichende) finanzielle Mittel zur Verfügung standen? Die Lösung dieses Problems fanden Lehre und Praxis im Bereich der Zahlungserleichterungen. Es gibt eine Fülle von Zeugnissen in der Literatur, die diese These im Einzelnen begründen.165 Der Standpunkt von Rechtsprechung und Lehre lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Bei der Bemessung der Geldstrafe sollte „die Schwierigkeit der sofortigen Zahlung“ außer Betracht bleiben, denn diese konnte durch Gewährung von Zahlungserleichterungen behoben werden.166 Es wird noch unten eingehender davon zu reden sein, wie die Zahlungserleichterungen im (R)StGB ausgestaltet waren, aber man kann schon jetzt die These aufstellen, dass sie sehr gut zu einem geldstrafenfördernden System passten. Schließlich ist auf die Problematik der Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters unter der Geltung des Gesamtsummensystems einzugehen. Das RStGB und die RStPO lassen diese Materie in ihren ursprünglichen Fassungen ganz außer Acht. Erst der 1933167 auf dem Hintergrund weiter zurückreichender materiellstrafrechtlicher Tendenzen zu einer stärkeren Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit eingeführte Abs. 3 des § 160 StPO, wonach sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auch auf die Umstände erstrecken sollten, „die für die Strafbemessung und die Anordnung oder Zulassung von Maßregeln der Sicherung und Besserung von Bedeutung sind“, nahm zu dieser Materie Stellung.168 Die Vorschrift des § 160 Abs. 3 StPO gilt seitdem, wobei ihre Fassung leicht geändert wurde. 165 LK-Lobe, § 27c Anm. 1; Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 21; Mengele, Die Ersatzgeldstrafe (§ 27b) und ihre Stellung im Strafrecht und Strafprozeß, S. 39; Schönke (1952), § 27c Anm. II; Pfeiffer/Maul/Schulte, Anm. 2; Schönke/Schröder (1972), § 13 RN 35. 166 RGSt. 65, S. 229; LK-Lobe, § 27c Anm. 1; Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 21; Mengele, Die Ersatzgeldstrafe (§ 27b) und ihre Stellung im Strafrecht und Strafprozeß, S. 39; Schönke (1952), § 27c Anm. II.; Pfeiffer/ Maul/Schulte, Anm. 2; Schönke/Schröder (1972), § 13 RN 35. 167 Die Vorschrift wurde durch Art. 2 Nr. 17 Ausführungsgesetz zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln und Besserung vom 24.11.1933 (RGBl. I, S. 1000) in die StPO eingeführt. 168 Rieß, in: Löwe/Rosenberg, § 160 RN 55.

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Nach der geltenden Rechtslage sollen sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft „auf die Umstände erstrecken, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind. Dazu kann sie sich der Gerichtshilfe bedienen.“ Im Hinblick auf die gerichtliche Ebene hat der Gesetzgeber erst im Jahre 1935 eingegriffen. Der neue § 155 Abs. 2 StPO verpflichtete das Gericht, „von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist“. Die heutige Fassung bedeutet keine sachliche Änderung: „Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“ Eine Untersuchung von Albrecht ergab jedoch, dass die polizeilichen Ermittlungen lediglich in 45% der Fälle, bei denen es zu einer Geldstrafe kam, zu Angaben über das Monatseinkommen des Beschuldigten führten.169 Die Staatsanwaltschaft ergänzte das Material im Wege eigener Ermittlungen bei einem ganz geringen Anteil der Verfahren.170 Erst in der Hauptverhandlungsphase ließen sich bessere Ergebnisse feststellen: Lediglich in 33% der Fälle beinhalteten die Hauptverhandlungsprotokolle keine Angaben zu dem monatlichen Einkommen des Angeklagten. Die Informationslage verschlechterte sich jedoch entscheidend in Strafbefehlsverfahren, in denen die Staatsanwaltschaft bei Beantragung und das Gericht bei Erlass des Strafbefehls sich lediglich in 43% der Fälle auf Angaben zum Einkommen des Beschuldigten stützten.171 2. Tagessatzsystem Für das Tagessatzsystem hat sich der deutsche Gesetzgeber erst in der Strafrechtsreform von 1969 (2. StrRG) entschieden. Damit wurde eine völlig neue Grundlage für die Zumessung der Geldstrafe geschaffen.172 Der bisherigen Rechtsentwicklung wurde der Vorwurf gemacht, dass sie nur die Erweiterung des Anwendungsbereiches der Geldstrafe bedeutete, dagegen unternahm das 2. StrRG zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Strafsystems den Versuch, die Ausgestaltung der Geldstrafe grundlegend zu ändern.173 Die Einführung des Tagessatzsystems, das das früher geltende Gesamtsummensystem ersetzte, modifizierte in der Tat tiefgreifend die Art 169

Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berücksichtigung des Tagessatzsystems, S. 78–79. 170 Ebenda, S. 80. 171 Ebenda, S. 80–81. 172 LK-Tröndle, vor § 40 RN 11. 173 Zipf, ZStW 86 (1974), S. 540.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

und Weise der Geldstrafenbemessung. Das neue System gilt gegenüber dem alten als transparenter, gerechter und sozialer.174 Einer der größten Vorteile wurde darin gesehen, dass es die Anpassung der Sanktion an die finanzielle Leistungsfähigkeit des Täters erlaube.175 Das Gesetz folgte grundsätzlich dem Entwurf von 1962 sowie dem Alternativentwurf, die ihr Vorbild in der skandinavischen Rechtsordnung hatten.176 Die entsprechenden Vorschriften traten jedoch erst im Jahre 1975 in Kraft. Zwischen der Verkündung des 2. StrRG und seinem In-Kraft-Treten war das Tagessatzsystem noch einmal Gegenstand eingehender Erörterungen, was auf der Grundlage des EGStGB eine Änderung der noch nicht geltenden Vorschriften zur Folge hatte. Schließlich traten am 1.1.1975 die Vorschriften in folgender Gestalt in Kraft: § 40 StGB „1. Die Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt. Sie beträgt mindestens fünf und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens dreihundertsechzig volle Tagessätze. 2. Die Höhe eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Dabei geht es in der Regel von dem Nettoeinkommen aus, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Ein Tag wird auf mindestens zwei und höchstens zehntausend Deutsche Mark festgesetzt. 3. Die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes können geschätzt werden. 4. In der Entscheidung werden Zahl und Höhe der Tagessätze angegeben.“

Der Unterschied zwischen der ursprünglichen Fassung der Vorschriften (2. StrRG) und dem bis heute geltenden § 40 StGB beruht vor allem auf dem Prinzip, nach dem die Höhe eines Tagessatzes bemessen werden sollte. Das 2. StrRG sah das Einbußeprinzip vor, dagegen liegt dem § 40 StGB das weitaus rigorosere Nettoeinkommensprinzip zugrunde. Entscheidend für diese Änderung war die bisherige Geldstrafenpraxis, die sich namentlich bei Verkehrsstraftaten, wie etwa Trunkenheit am Steuer, weitgehend am Nettoeinkommen ausgerichtet hatte.177 Nach der Reform sollte an dieser Geldstrafenpraxis festgehalten werden.178 Aus § 40 StGB geht hervor, dass die Bemessung der Geldstrafe in zwei Akten verlaufen soll. In dem ersten Akt (a) legt das Gericht die Anzahl der 174

LK-Tröndle, vor 40 RN 12; Maurach/Gössel/Zipf, § 59 RN 26; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 107. 175 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 768. 176 LK-Tröndle, vor § 40 RN 11. 177 Schönke/Schröder (1978), § 40 RN 8. 178 Sonderausschuß VII, S. 632 ff.; Schönke/Schröder (1978), § 40 RN 8.

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Tagessätze fest, wobei § 40 StGB über den anwendbaren Maßstab schweigt, im zweiten Akt (b) dagegen wird die Höhe des Tagessatzes „unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters“ festgesetzt. a) Die Anzahl der Tagessätze Das 2. StrRG bestimmte das Mindestmaß der Geldstrafe auf 5 Tagessätze. Das Höchstmaß wurde auf 360 Tagessätze festgesetzt, soweit eine Vorschrift nichts anderes bestimmte. Diese Androhungen gelten in unveränderter Form bis heute. Es ist indes offenkundig, dass der Gesetzgeber die Geldstrafe im Bereich bis zu 1 Jahr Freiheitsstrafe für einsatzfähig hält.179 Die Lehre ist weitgehend darüber einig, dass für die Bestimmung der Zahl der Tagessätze die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze des § 46 StGB (§ 13 StGB a. F.) maßgebend sind. Demgemäß sollte nach der herrschenden Meinung die Anzahl der Tagessätze nach dem Maßstab des Schuldausgleiches unter Berücksichtigung der sozialen Folgen für den Täter (§ 46 Abs. 1 StGB) festgelegt werden.180 Das Gewicht der Tat sollte sich nur in der Anzahl der Tagessätze, nicht aber in der Gesamtsumme der Geldstrafe widerspiegeln.181 Umstritten ist jedoch bisher, ob der Richter die Höhe der hypothetischen Freiheitsstrafe bei der Bemessung der Zahl der Tagessätze berücksichtigen soll. Während Stree mit dem Verweis auf eine Entscheidung des BGH182 fordert, dass der Richter zu erwägen habe, welche Freiheitsstrafe zur Ahndung der Straftat unter Berücksichtigung präventiver Gesichtspunkte angemessen wäre,183 nahm Tröndle an, dass bei der Bemessung der Anzahl der Tagesätze nicht von hypothetisch vorgestellten Freiheitsstrafen auszugehen sei.184 Stree begründet seine Auffassung mit folgendem Argument: Würde die Tagessatzzahl erhöht, weil die Geldstrafe in der Regel nicht so hart trifft wie eine zu verbüßende Freiheitsstrafe, „so würde der Täter im Fall einer zu verbüßenden Ersatzfreiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe erleiden, die er nicht verdient hat.“185 Demgegenüber vertrat Tröndle die Auffassung, dass der Richter bei der Bemessung der Tageszahl von der Überlegung ausgehen soll, „wieviel Tagessätze erforderlich sind, um im Rahmen einer schuldgerechten Strafe die bestmögliche Wirkung zu 179 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 59. 180 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 770. 181 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 107. 182 BGHSt. 27, S. 72. 183 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 4. 184 LK-Tröndle, § 40 RN 13. 185 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 4.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

erzielen“.186 Eine ähnliche Auffassung vertritt Bruns, demzufolge „die Geldstrafe als autonome Sanktion zu begreifen und vom Leitbild der Freiheitsstrafe loszulösen ist.“187 Auch Grebing schließt sich dem mit folgender Argumentation an: Die kriminalpolitische Konzeption des § 47 StGB zeigt, „daß die Geldstrafe im Bereich der Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten den generellen Vorrang vor dieser erhalten hat und darüber hinaus ihre Anwendungsbreite aufgrund der Obergrenze von 360 Tagessätzen gemäß § 40 Abs. 1 StGB bis zu einem Jahr reicht. Auf dieser Strafgrößenskala gelangt also die Geldstrafe als primäre Hauptstrafe zur Anwendung. Darin liegt gerade das entscheidende Novum des § 47 StGB im Vergleich zur früheren ‚Ersatzgeldstrafe‘ des § 27b StGB a. F., daß die Geldstrafe heute nicht mehr als ‚umgewandelte Freiheitsstrafe‘ zugemessen wird.“188

Zu Recht betont auch Jescheck, dass der Vorschlag, sich an der Freiheitsstrafe zu orientieren, wenig weiterhilft, wenn man sich die Probleme mit der Festlegung der schuldangemessenen Freiheitsstrafe bewusstmacht.189 Trotzdem pflegt die Praxis sich bei der Bestimmung der Anzahl der Tagessätze weitgehend an den Maßstab der Ersatzfreiheitsstrafe anzulehnen,190 wobei zu berücksichtigen ist, dass sich bei der Anzahl der Tagessätze, insbesondere in Verkehrsstrafsachen, gewisse Richtsätze herausgebildet haben.191 Schäfer berichtet ausführlich über die „unverbindlichen“ Grundsätze, die bei einer großen Staatsanwaltschaft bezüglich der Straßenverkehrsdelikte in Gebrauch sind.192 Auch Fleischer kommt zu der Schlussfolgerung, dass die hohen Prozentzahlen gleichartiger Aburteilungen bei den Ersttätern, insbesondere im Bereich der Verkehrsdelikte (§§ 316, 315c, 229 und 142 StGB) sowie im Bereich des Ladendiebstahls (§§ 242, 248a StGB), den Verdacht erhärten, „daß statt individueller Strafzumessung i. S. des § 46 StGB sich als angemessen empfundene Werte herausgebildet haben, um solche Vergehen zu sanktionieren.“193 Diese Befunde stützen die These, dass die Strafzumessung in den erwähnten Bereichen auf der Grundlage gewisser Schematisierungen erfolgt, was die Strafzumessungsdogmatik zu § 46 StGB zumindest in Frage stellt. Schließlich ist hervorzuheben, dass die Lehre relativ rasch zu weitgehender Einigkeit darüber kam, dass bei der Bemessung der Tagessatzzahl die 186

LK-Tröndle, § 40 RN 13. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 75. 188 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 97. 189 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 770. 190 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 75. 191 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 122. 192 Siehe dazu: Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 941–960. 193 Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 159. 187

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wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters grundsätzlich außer Acht zu lassen sind.194 Sie sollen erst bei der Festlegung der Tagessatzhöhe herangezogen werden. Eine Ausnahme bildet eine Situation, in der die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters den Unrechts- oder Schuldgehalt der Tat beeinflussen (z. B. Handeln aus Not). Dann soll dies bei der Bemessung der Anzahl der Tagessätze berücksichtigt werden.195 b) Die Höhe der Tagessätze Die Festsetzung der Höhe des Tagessatzes wurde von der deutschen Lehre als Kernproblem des Geldstrafensystems bezeichnet.196 Dieser zweite Zumessungsakt soll sicherstellen, „dass für die gleiche Tat dem Wohlhabenden ein in gleicher Weise spürbarer Verlust wie dem Minderbemittelten zugefügt wird.“197 Um diese Aufgabe zu erfüllen, kann der Richter die Höhe eines Tagessatzes von 1 bis zu 5.000 Euro198 festsetzen (§ 40 Abs. 2 S. 3 StGB). In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die Möglichkeiten bezüglich der oberen wie der unteren Höhe der Tagessätze nur ausnahmsweise ausgeschöpft werden. Insbesondere der untere Bereich (von 1 bis zu 5 Euro) scheint zu selten zur Anwendung zu kommen, wenn man den Befund berücksichtigt, dass etwa ein Drittel der zu Geldstrafe Verurteilten nur über Einkommen im Sozialhilfebereich verfügt.199 Der Anteil der Entscheidungen in diesem Bereich schwankte seit 1976 zwischen 6,8% (1980) und 14,5% (1993).200 Im Jahre 2004 betrug er 6,6%.201 Obwohl in der Literatur vereinzelt darauf hingewiesen wird, dass bei Straftätern, deren Einkommen in Form von Sozialhilfe am Existenzminimum liegt, regelmäßig ein Mindestsatz von 1 Euro (früher 2 DM) in Betracht kommen soll202, geht die Praxis wahrscheinlich weiterhin von der Auffassung aus, dass der Mindestsatz von 1 Euro nur ganz ausnahmsweise (etwa bei Untergebrachten, Strafgefangenen, Asylbewerbern oder in Abschiebehaft Befindlichen) Anwen194

Dreher, § 40 RN 4; Schönke/Schröder (1978), § 40 RN 4; Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 96; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 59 III RN 36. 195 Schönke/Schröder (1978), § 40 RN 4. 196 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 75. 197 Fischer/Tröndle (2006), § 40 RN 6 mit Verweis auf BGHSt. 28, S. 363. 198 Früher von 2 bis zu 10.000 DM. 199 Hennig, ZRP 1990, S. 101; Bublies, BewHi 1992, S. 184; Villmow, FS für Kaiser, S. 1301; Heinz, ZStW 111 (1999), S. 485. 200 Heinz, Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882–2003, S. 48. 201 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 202 So Albrecht, NK-StGB, § 40 RN 43; Heinz, ZStW 111 (1999), S. 485.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

dung finden soll, da sich mit dem Mindestsatz von 1 Euro Ernst und Bedeutung einer Kriminalstrafe schwerlich deutlich machen lässt.203 Welche Faktoren die Richter zu der Konzentration auf bestimmte Zahlen veranlassen, lässt sich nicht einfach beantworten. Selbstverständlich kommt bei der Bestimmung der Tagessatzhöhe zunächst die Einkommensstruktur der Verurteilten in Betracht. Aber es lässt sich nicht ausschließen, dass aufgrund der Schätzungsmöglichkeiten (§ 40 Abs. 3 StGB) auch Konventionen für die Bevorzugung bestimmter Tagessatzhöhen von Bedeutung sein können.204 Diese Praxis steht ohne Zweifel im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der betont hat, dass sich für die Bemessung der Höhe eines Tagessatzes keine starren Regeln aufstellen lassen.205 Die Festlegung der Tagessatzhöhe soll unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters erfolgen (§ 40 Abs. 1 S. 1 StGB) und das Gericht hat dabei in der Regel vom Nettoeinkommen auszugehen, „das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte“ (§ 40 Abs. 1 S. 2 StGB). Maßgebend ist somit nicht das tatsächliche, sondern das „erzielbare“ Einkommen, das der Angeklagte hat oder „haben könnte“ (potentielles Einkommen).206 Der Begriff des Nettoeinkommens gilt als strafrechtlicher Begriff, der nach wirtschaftlicher,207 aber nicht steuerrechtlicher208 Betrachtungsweise auszulegen ist. Zu den Nettoeinkünften gehören alle tatsächlichen Vermögenszuflüsse sowohl aus den fünf einkommenssteuerrechtlichen Einkunftsarten (selbstständige oder nicht selbstständige Tätigkeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft) als auch aus anderen Quellen (Unterhalt).209 Entscheidend ist jedoch der Gewinn nach Einkommenssteuer.210 Die laufenden Zahlungsverpflichtungen sind nur insoweit zu berücksichtigen, als sie zur Ermöglichung einer angemessenen Lebensführung notwendig sind.211 Daher können Luxusaufwendungen die Geldstrafe nicht mindern.212 Dies betrifft nicht die Unterhaltsverpflichtungen, die grundsätzlich zu berücksichtigen sind.213 203 So LK-Tröndle, § 40 RN 34 mit Verweis auf OLG Hamburg v. 1.11.1977 – 2 Ss 219/77. 204 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 127. 205 MDR 1977, S. 853. 206 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 76. 207 LK-Häger, § 40 RN 26. 208 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 59 III RN 50. 209 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 81. 210 Ebenda. 211 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 771. 212 Ebenda, m. w. N. 213 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 85.

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Inwieweit das Vermögen bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe berücksichtigt werden darf, ist bisher streitig. Literatur und Praxis214 bleiben in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend und obergerichtliche Rechtsprechung (mit einigen Ausnahmen215) fehlt weitgehend.216 Diese Zurückhaltung hat ihre Ursache in der Annahme, dass die Geldstrafe keinen konfiskatorischen Charakter hat und es Unrecht wäre, sparsame Personen härter zu bestrafen als Verschwender.217 Diese auf die Vermögensgröße und allgemeine Billigkeit abstellende Auffassung ist allerdings auf Kritik gestoßen. Sachgerechter wäre es, so die Kritiker, „vom Grundsatz der Opfergleichheit auszugehen und das Problem der Vermögensberücksichtigung danach zu entscheiden, ob die Strafwirkung beim Täter erreicht werden kann oder nicht.“218 Man kann jedoch vermuten, dass diese Streitfrage keine allzu große Bedeutung hat, wie Grebing zu Recht betont, weil im größten Feld des Strafbefehls- und der sonstigen Einzelrichterverfahren gar keine praktische Aussicht besteht, die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Täters genau zu durchleuchten.219 Besondere Beachtung verdienen die Auffassungen der Lehre und der Rechtsprechung bezüglich der Bemessung einer Tagessatzhöhe gegenüber Einkommensschwachen. Aus der Annahme, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse keinen Einfluss auf die Auswahl der Strafart haben können220 und es deshalb unzulässig ist, von der Verhängung einer Geldstrafe abzusehen, weil der Täter sie voraussichtlich nicht bezahlen kann,221 fließen keine Hinweise auf die Bemessung der Tagessatzhöhe gegenüber Einkommenslosen oder Minderbemittelten. Deshalb mussten Grundsätze herausgearbeitet werden, die eine rationale Bemessung der Tagessatzhöhe gegenüber diesen Gesellschaftsgruppen ermöglichen würden. Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden. 214 Grundsätzlich geht die Praxis davon aus, dass bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe das Eigenheim, der Familienschmuck, die Briefmarken- oder Münzsammlung, Grund- und Betriebsvermögen, illiquide Sachwerte, kleinere und mittlere Vermögen im Allgemeinen unberücksichtigt zu bleiben haben. So LK-Tröndle, § 40 RN 52, m. w. N. 215 Z. B. BayObLG JR 1987, S. 379. 216 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 83. 217 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 77. 218 Siehe z. B. Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 114, m. w. N. 219 Ebenda, m. w. N. 220 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 73. 221 BGH GA 1968, S. 84; BayObLG NJW 1964, S. 2120; Hamm MDR 1995, S. 329.

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Lehre und Rechtsprechung zählen zu den einkommensschwachen Gruppen vor allem Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Soldaten (Wehrpflichtige), Studenten, Praktikanten, Lehrlinge, Schüler, Asylbewerber, Strafgefangene und Hausfrauen ohne eigenes Einkommen. Bei Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Soldaten wird das Nettoeinkommen auf der Grundlage von Unterstützungs- und Fürsorgeleistungen festgestellt, denen auch etwaige Sachbezüge (z. B. freie Kost und Wohnung im Elternhaus) zuzuschlagen sind.222 Bei den Arbeitslosen hat der Richter auf die Dauer der Arbeitslosigkeit zu achten.223 Auf die Arbeitslosenunterstützung als Grundlage darf er erst dann zurückgreifen, wenn die Dauer der Erwerbslosigkeit im Urteilszeitpunkt nicht absehbar ist.224 Dies besagt, dass bei einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit das potentielle Einkommen in Betracht kommt. Zu prüfen ist ferner, ob der Täter „freiwillig“ oder „unfreiwillig“ arbeitslos ist,225 wobei die wirkliche Lage auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen ist.226 Würde sich erweisen, dass der erste Fall vorliegt, so ist der Geldstrafe auch das potentielle Einkommen zugrundezulegen.227 Dasselbe gilt für die Täter, die eine zumutbare, wenn auch geringer dotierte Arbeit ausgeschlagen haben.228 Bei der Festsetzung von Geldstrafe gegenüber Studenten (Praktikanten, Lehrlingen und Schülern) legt man den Lebenszuschnitt zugrunde.229 Maßgebend ist die Summe, die nach regelmäßigen Bezügen (Monatswechsel, Versorgungsleistungen, BAföG, Wohngeld, unter Abzug des reinen Studienaufwands, nachgewiesene Sachbezüge und tatsächliche Einkünfte aus Nebentätigkeiten in der semesterfreien Zeit) verbleibt.230 Ob dem Studenten zuzumuten ist, zur Bezahlung der Geldstrafe einem Nebenerwerb nachzugehen, ist Sache des Tatrichters, der von Fall zu Fall entscheiden muss, was erforderlich ist, um die Strafwirkung zu erzielen.231 Jedenfalls sind die Entscheidungen des OLG Frankfurt und des OLG Köln,232 die sich gegen Fe222 223 224 225

LK-Häger, § 40 RN 36; Fischer/Tröndle (2006), § 40 RN 11. LK-Tröndle, § 40 RN 32. Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 59 III RN 67. LK-Häger, § 40 RN 39 mit Verweis auf OLG Karlsruhe Justiz 1986, S. 308,

309. 226

OLG Düsseldorf NStZ 1998, S. 464. LK-Häger, § 40 RN 39. 228 Ebenda. 229 Fischer/Tröndle (2006), § 40 RN 10. 230 OLG Köln NJW 1976, S. 636; OLG Frankfurt NJW 1976, S. 636; Fischer/ Tröndle (2006), § 40 RN 10. 231 LK-Tröndle, § 40 RN 31. 232 NJW 1976, S. 635–636, zustimmend zu beiden Urteilen Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 106–107. 227

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rienarbeit (um die Mittel für eine Geldstrafe aufzubringen) ausgesprochen haben, auf heftige Kritik gestoßen. Tröndle erhob den Vorwurf, dass die Revisionsgerichte auf diese Weise das tatrichterliche Ermessen ohne gesetzliche Legitimation einzuengen versuchen.233 Der BGH brachte hingegen eindeutig zum Ausdruck, dass er einen Rechtssatz nicht anerkennt, wonach das Ausbildungsinteresse oder das Erholungsbedürfnis von Studenten in der vorlesungsfreien Zeit „schlechthin der Anforderung vorginge, nach vorhandenen Möglichkeiten und Kräften für begangenes Unrecht einzustehen“.234 Die Tendenz, auch Studenten mit der Geldstrafe zu erfassen, ist also offensichtlich. Obwohl die Zahl der nichtberufstätigen Frauen in Deutschland beständig sinkt235, was die quantitative Bedeutung dieser Gruppe in der Rechtsprechung mindert, bleiben die rechtsdogmatischen Leistungen in diesem Bereich beachtenswert. Was bei dieser Gruppe als Nettoeinkommen in Betracht zu ziehen ist, ist allerdings umstritten. Während Stree,236 Bruns237 und Tröndle238 die Auffassung vertreten, dass „das Nettoeinkommen“ der Nur-Hausfrau lediglich der tatsächlich gewährte Naturalunterhalt ausmacht, also das, was ihr für ihre Person aus dem Familieneinkommen durchschnittlich zufließt (Bareinkünfte, geldwerte Sachbezüge und Ähnliches), wollen Jescheck,239 Schäfer240 und Horn241 pauschale Prozentsätze vom Einkommen des Unterhaltsleistenden (etwa 10%–20%) zur Grundlage für die Bestimmung der Tagessatzhöhe machen. Würde man andere Ansichten berücksichtigen, wie die, die auf den Unterhaltsanspruch gegenüber dem Ehemann im Falle der Scheidung oder des Getrenntlebens242 abstellen will, so würde sich zeigen, dass in der Literatur eine Vielzahl von Auffassungen vertreten wird, die eine mehr oder minder rationale Bemessung der Geldstrafe in Hinsicht auf diese Gruppe zu gestalten versuchen. Die Praxis scheint jedoch auch in diesem Bereich eher ein System von Taxen zu praktizieren; so stellt Fleischer hierzu fest: 233

LK-Tröndle, § 40 RN 31. BGH NJW 1977, S. 1460. Zustimmend LK-Tröndle, § 40 RN 31. 235 Zu Freisetzung der Frauen aus ihrer traditionellen Rolle siehe Beck, Risikogesellschaft, S. 181 ff. 236 Schönke/Schröder/Stree (2001), 40 RN 11a mit Verweis auf OLG Frankfurt NJW 1976, S. 635; OLG Köln NJW 1976, S. 636; OLG Hamm MDR 1977, S. 596. 237 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 76. 238 LK-Tröndle, § 40 RN 26, m. w. N. 239 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 772. 240 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 85. 241 SK-Horn, § 40 RN 9. 242 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 103, m. w. N. 234

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„Die in der Rechtsprechung der Obergerichte umstrittene und im Schrifttum noch nicht ausdiskutierte Frage, wie die Tagessatzhöhe bei Hausfrauen zu bemessen ist, stellt sich für Praxis nicht als Problem dar. Die Anwendung von Schablonen, in der Regel Tagessatzhöhe DM 20, gelegentlich DM 15, oder DM 25, ersetzen differenzierte Feststellungen.“243

Auch eine Untersuchung, die sich auf die Fälle von Ladendiebstählen bei geringwertigen Sachen beschränkte, stellte bei dieser Gruppe die Anwendung bestimmter Taxen (zwischen 30–40 DM Tagessatzhöhe) fest.244 Diese Unzulänglichkeiten bei der Strafzumessung dürfen jedoch die positive Tatsache nicht vergessen lassen, dass die sog. Problemgruppen überhaupt mit einer Geldstrafe belegt werden. Wären Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Studenten und andere finanziell minderbemittelte Gruppen von der Anwendung der Geldstrafe ausgeschlossen, so würde das Problem der Bemessung der Tagessatzhöhe überhaupt nicht entstehen. Die Folge einer solchen Entscheidung ist allerdings klar vorauszusehen: Eine sinkende Zahl an Geldstrafenverurteilungen. Näher zu betrachten bleibt, wie das Problem der Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters unter der Geltung des Tagessatzsystems gelöst wurde. Die Bedeutung dieser Frage ist in der Lehre seit langem durchaus erkannt. Zu Recht betont Jescheck, dass durch die mangelhafte Ermittlung der tatsächlichen Verhältnisse des Verurteilten die Anpassung der Strafe an seine individuelle wirtschaftliche Leistungsfähigkeit vereitelt wird.245 Andererseits muss die prozessuale Wirklichkeit mit mehr als einer halben Million Geldstrafen berücksichtigt werden, die größtenteils im Strafbefehls- und Einzelrichterverfahren ausgesprochen werden, was zur Suche nach einer pragmatischen Lösung zwingt.246 Aus § 40 Abs. 3 StGB geht nur hervor, dass die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes geschätzt werden können. Das Gesetz schweigt jedoch dazu, wann und unter welchen Voraussetzungen der Richter sich auf Schätzungen an Stelle besonderer Feststellungen verlassen darf, was Rechtsprechung und Lehre einen breiten Auslegungsspielraum gelassen hat. Die Vorschläge reichen von restriktiver ultima-ratio-Klausel, die vom Richter verlangt, „die ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel voll auszuschöpfen und die Bemessungs243

Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 216. Gillig, Soziologische Dimensionen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstätigkeit und Sanktionierungskriterien bei geringwertigen Ladendiebstahlsverfahren, S. 243. 245 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 774. 246 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 115. 244

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grundlagen nur insoweit zu schätzen, als solche Beweismittel fehlen“,247 bis zu den Ansichten, die schneller zu Schätzungen greifen wollen, und zwar dann, „wenn der Angeklagte keine oder unzureichende (auch unglaubhafte) Angaben über seine wirtschaftlichen Verhältnisse macht (BayObLG wistra 98, 234), genaue Feststellungen der Bemessungsgrundlagen nicht möglich sind oder unverhältnismäßig große Schwierigkeiten bereiten und einen übermäßigen, der jeweiligen Strafsache nicht entsprechenden Aufwand erfordern (vgl. zum letzteren aber BayObLG VRS 60 104).“248 Der ersten Lösung wurde vorgeworfen, dass sie die Organe der Strafrechtspflege und den betreffenden Angeklagten unzumutbar oder gar unerträglich belasten würde.249 Die herrschende Meinung folgt der zweiten Ansicht, die auf dem Standpunkt steht, dass die Ausschöpfung der Beweismittel als Voraussetzung für eine Schätzung nicht erforderlich ist,250 was eine Einschränkung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) bedeutet. Dies besagt freilich nicht, dass die Schätzung „ins Blaue“ hinein erfolgen darf, sondern sie muss sich auf eine konkrete Grundlage stützen.251 In keinem Fall darf sie auf Mutmaßungen oder pauschalen Einstufungen beruhen252 oder im Widerspruch mit vorliegenden Ergebnissen der Beweisaufnahme stehen.253 Dabei hat das Gericht zum Zwecke der Überprüfbarkeit seiner Entscheidung in den Urteilsgründen darzulegen, „warum eine Schätzung erfolgt ist, auf welchen tatsächlichen Grundlagen sie beruht und welche Maßstäbe ihr zugrunde liegen.“254 Auf der Grundlage des Prinzips des rechtlichen Gehörs muss der Angeklagte zu der beabsichtigten Schätzung gehört werden, um die Möglichkeit zu haben, deren eventuelle Unrichtigkeit darzulegen.255 Wenn man jedoch den Umstand berücksichtigt, dass die Geldstrafen in Deutschland überwiegend im Wege des Strafbefehlsverfahrens festgesetzt werden, was einen unmittelbaren Kontakt des Angeklagten mit dem erkennenden Richter ausschließt, zeigt sich, dass der Angeklagte jedenfalls in dieser Phase des Verfahrens keine Möglichkeit hat, die Unrichtigkeit der Schätzung darzulegen. 247 Zweiter Bericht des Sonderausschußes, BT-Dr. V/4095, S. 21; ähnlich Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 59 III RN 77. 248 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 20. 249 Ebenda, m. w. N. 250 So Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 78; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 20 mit gewissen Einschränkungen; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 101; LK-Häger, § 40 RN 70; Fischer/Tröndle (2006), § 40 RN 19. 251 OLG Celle JR 1983, S. 204; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 101. 252 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 78. 253 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 20. 254 Ebenda, § 40 RN 21a mit Verweis auf BGH NJW 1976, S. 635. 255 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 40 RN 21; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 102.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Obwohl entsprechende Untersuchungen deutlich machen, dass valide Informationen über Art und Umfang des Einkommens die Wahrscheinlichkeit eines späteren Scheiterns der Zahlung der Geldstrafe verringern,256 scheint die Praxis in dieser Hinsicht große Defizite aufzuweisen. Eine Untersuchung von Albrecht ergab, dass in 47,5% der Fälle betreffend das Jahr 1975 keine Angaben zur Höhe des aktuellen Einkommens vorhanden waren.257 Weitere 6,7% verweigerten die Aussage in diesem Bereich, so dass in etwas mehr als 54% der Fälle keine Anhaltspunkte über die Einkommenslage der Beschuldigten vorlagen.258 Dabei wurde zudem eine unterschiedliche Protokollierung festgestellt: „(. . .) in etwa 28% wurde das Nettoeinkommen ermittelt, in 4% das Bruttoeinkommen und bei dem Rest wurde nicht aufgenommen, um welche Kategorie es sich handelt.“259 Auch konnten in 65,6% der Fälle keine Angaben über die Vermögenslage des Beschuldigten aufgefunden werden.260 In 9,8% der Fälle verweigerten die Beschuldigten in dieser Hinsicht die Aussage.261 Eine Untersuchung von Janssen ergab, dass die Staatsanwälte und Richter gewöhnlich ohne valide Basisinformation hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse der Beschuldigten arbeiten: „In über 40% der (. . .) untersuchten Fälle lagen keinerlei Informationen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der staatsanwaltlichen Entscheidung bei Beantragung eines Strafbefehls bzw. Erhebung der Anklage zugrunde.“ „Es zeigte sich eindeutig, daß vor allem bei den Verurteilten, die das Verfahren mit Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe beendeten, die geringste Einzel- und Gesamtzahl an Informationen zur sozialen Lage bei der Strafzumessung vorhanden war. In allen Endgruppen lag in ca. 50% der Fälle überhaupt keine Information über das Nettoeinkommen bei Erlaß des Strafbefehls bzw. bei der Verurteilung vor. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich in nahezu 100% der Verfahren um ungeprüfte Angaben handelte, die der Realität keineswegs entsprechen müssen.“262

Somit wird das Einkommen in der Mehrzahl der Fälle aufgrund von Schätzungen festgesetzt.263 Mangels hinreichender Informationen in diesem Bereich erfolgt – nach Janssen – die Strafzumessung wiederum überwiegend anhand eines Straftaxensystems.264 Als Hilfskriterium dient der 256 257 258 259 260 261 262 263 264

Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 119. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 204. Ebenda, S. 204. Ebenda, S. 205. Ebenda, S. 204. Ebenda, S. 205. Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 119. Ebenda, S. 119–120. Ebenda, S. 210.

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Staatsanwaltschaft265 und dem Gericht266 überwiegend der Beruf des Beschuldigten. Die Beschaffung der Informationsbasis durch die Praxis wird auch von Fleischer sehr kritisch beurteilt. Obwohl seine Untersuchung ergab, dass bei 65,54% der 2.708 Fälle die Angaben über das Einkommen vorlagen,267 was deutlich über den Feststellungen von Albrecht liegt, kam er nach der Auswertung des empirischen Materials unter anderem zu folgenden Schlussfolgerungen: „Ermittlungen der Einkommenshöhe finden nicht statt. Primär orientiert sich die Höhe des Tagessatzes an den Angaben des Beschuldigten. Je geringer der strafrechtliche Vorwurf (z. B. fahrlässige Körperverletzung), desto größer ist die Neigung, nicht nur auf die Ermittlung des Einkommens, sondern überhaupt auf die Feststellung der persönliche Verhältnisse (Beruf, Familienstand) zu verzichten. Obgleich entscheidend für die Bemessung der Tagessatzhöhe der Zeitpunkt der Urteilsfindung ist, werden Feststellungen im Vorverfahren in der Regel unternommen. Auch abweichende Angaben zum Einkommen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht führen nicht zur Überprüfung und Ermittlung. Solche sind in der Hauptverhandlung schon aus Zeitgründen dem Richter nicht möglich. In der Regel machen die Betroffenen Angaben zu ihren Einkommen. Bei der Bemessung der Tagessatzhöhe mischen sich diese mit der in § 40 Abs. 3 StGB als Ausnahme zugelassenen Schätzung. Das wird in den meisten Fällen allerdings nicht transparent gemacht. Deutlich wird dies durch die völlige Systemlosigkeit, mit der Unterhaltsverpflichtungen Berücksichtigung finden, oder aber unbegründete Abzüge bei ledigen Beschuldigten vorgenommen werden.“268

Die Befunde der empirischen Forschung zeugen somit von bedeutenden Defiziten im Bereich der Feststellung der materiellen Lage der Beschuldigten und der Angeklagten. Wenn man die Zahl der verhängten Geldstrafen269 vor dem Hintergrund der erwähnten Untersuchungen berücksichtigt, könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass die auf Schätzung beruhenden Geldstrafen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu Ersatzfreiheitsstrafen führen. Ob das wirklich so ist, soll nachfolgend näher erörtert werden.

III. Zahlungserleichterungen Es ist oben ausführlicher gezeigt worden, dass schon unter der Geltung des Gesamtsummensystems den Zahlungserleichterungen eine sehr wichtige Funktion zugewiesen wurde: Sie sollten den Einkommensschwachen helfen 265 266 267 268 269

Ebenda, S. 34. Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 217. Ebenda, S. 188. Ebenda, S. 245. 540.209 im Jahre 2004. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005.

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(oder sogar ermöglichen), ihre Geldstrafe zu begleichen. Man kann bereits an dieser Stelle feststellen, dass die Rechtsgrundlagen zu den Zahlungserleichterungen wesentlich zur Realisierung dieser Aufgabe beigetragen haben. Der Gesetzgeber griff insoweit jedoch erst im Jahre 1921 ein. RStGB und RStPO sahen in ihren ursprünglichen Fassungen keine Vorschriften über den Aufschub der Vollstreckung der Geldstrafe vor und schwiegen darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Verurteilten die Leistung von Teilzahlungen zu gestatten sei.270 Vor dem Erlass des Geldstrafengesetzes von 1921 konnte der Aufschub oder die Teilung einer Geldstrafe allein im Gnadenwege gewährt werden.271 Dabei stand die Befugnis dazu im Ermessen der Vollstreckungsbehörde, also regelmäßig der Staatsanwaltschaft.272 Die Anwendung der Zahlungserleichterungen insbesondere bei Einkommensschwachen wurde jedoch durch die obersten Justizbehörden stark gefördert. Das zeigt etwa die Allgemeine Verfügung des Preußischen Justizministers vom 29.6.1921: „Die Vollstreckung gerichtlich erkannter Geldstrafen stößt infolge der gedrückten wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen der größere Teil des Volkes zu leben gezwungen ist, oft auf Schwierigkeiten. Die sofortige Bezahlung einer Geldstrafe übersteigt in zahlreichen Fällen die wirtschaftliche Kraft des Verurteilten; eine rücksichtslose Vollstreckung führt nicht selten zu einer dauernden Schädigung seiner wirtschaftlichen Lage. Bleibt der Versuch der Beitreibung ganz oder teilweise erfolglos, so wird die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe notwendig. Diese Wirkung ist besonders unerwünscht, weil die Vollstreckung kurzfristiger Freiheitsstrafen, um die es sich zumeist handelt, den Verurteilten im allgemeinen nicht bessert, vielmehr seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhöht, seine Familie fast regelmäßig in Mitleidenschaft zieht und seine soziale Stellung untergräbt. Die Erkenntnis der ungünstigen Wirkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe hat zu einer häufigeren Anwendung der Geldstrafe geführt; muß nun statt einer Geldstrafe die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt werden, so ist damit der mit der Wahl der Strafart verfolgte Zweck verfehlt. Diesen Nachteilen nach Möglichkeiten vorzubeugen, ist daher eine wichtige Aufgabe der Strafvollstreckung. Dazu bietet sich das Mittel einer der Lage des Einzelfalles gerecht werdenden Gewährung von Zahlungsfristen und Teilzahlungen an. Wo die Beitreibung einer Geldstrafe auf Schwierigkeiten stößt oder die Lage des Verurteilten ungünstig zu beeinflussen droht, ist daher mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob nicht durch Gewährung von Teilzahlungen oder Zahlungsfristen die Bezahlung der Geldstrafe erreicht und damit zugleich die Belastung der Staatskasse mit den Kosten der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe vermieden werden kann.“273 270

Löwe, § 495 Anm. 2. Müller, Die Geldstrafe, S. 24–25, 101; Olshausen/Zweigert, § 28 Anm. 2. 272 v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 377; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 28. 273 Allgemeine Verfügung vom 29.6.1921, JMBl. S. 368. 271

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Das Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21. Dezember 1921274 änderte die Rechtslage hinsichtlich der Zahlungserleichterungen vollkommen. Der einschlägige § 5 lautete: „Ist dem Verurteilten nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, daß er die Geldstrafe sofort zahlt, so kann ihm das Gericht eine Frist bewilligen oder gestatten, die Strafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen. Das Gericht kann diese Vergünstigungen auch nach dem Urteil bewilligen. Es kann seine Entschließungen nachträglich ändern. Leistet der Verurteilte die Teilzahlungen nicht rechtzeitig oder bessern sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich, so kann das Gericht die Vergünstigungen widerrufen. Auf die nach Abs. 2 zu treffenden Entscheidungen findet § 494 der Strafprozeßordnung entsprechende Anwendung.“

Die zitierte Vorschrift wurde durch Art. I Nr. 2 des Geldstrafengesetzes vom 27. April 1923275 in eine Muss-Vorschrift umgewandelt. Dieses Gesetz hat zugleich die Vorschrift in das RStGB eingeführt (§ 28 RStGB). Absatz 3 wurde durch das 3. StrÄndG vom 4.8.1953276 geändert und dann durch das 1. StrRG vom 25.6.1969277 gestrichen. Das Neue an der Vorschrift des § 28 StGB lässt sich auf zwei Aspekte zurückführen. Zum einen hat § 28 StGB dem Gericht die Pflicht auferlegt, in jedem Falle eine Zahlungserleichterung zu gewähren, wenn das Gericht zu der Überzeugung kam, dass die sofortige Zahlung für den Verurteilten unzumutbar war.278 Die Bewilligung der Vergünstigung war an keinen Antrag gebunden.279 Das Gericht musste von Amts wegen prüfen, ob die Voraussetzungen für sie vorlagen.280 Das Reichsgericht hat in seinen Entscheidungen eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass diese Pflicht ausnahmslos erfüllt werden muss. Aus der Begründung eines Urteils vom 4. Dezember 1925 lässt sich entnehmen, dass § 28 Abs. 1 StGB „dem Richter zur Pflicht macht, eine Frist zur Bezahlung der Geldstrafe zu bewilligen oder dem Angeklagten zu gestatten, die Strafe in bestimmten – also nach Höhe und Fristen begrenzten – Teilbeträgen zu zahlen, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten auf die Unmöglichkeit sofortiger Zahlung hinweisen und dies dem Gericht bereits im Zeitpunkt der Urteilsfällung bekannt ist.“281 274 275 276 277 278 279 280 281

RGBl. I, S. 1604. RGBl. I, S. 254. BGBl. I, S. 735. BGBl. I, S. 645. LK-Lobe, § 28 Anm. 1. Ebenda, § 28 Anm. 5. Ebenda. RGSt. 60, S. 16.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Und noch ein weiteres Urteil vom 30. Mai 1930 führt aus: „Für die Anwendbarkeit der Vorschrift ist, wie ihre Fassung unzweideutig ergibt, allein maßgebend, ob dem Angeklagten nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten ist, daß er die Geldstrafe sofort zahlt. Ist ihm dies nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten – worüber der Tatrichter zu befinden hat – so muß ihm eine Frist bewilligt oder ihm gestattet werden, die Strafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen (. . .).“282

Zum anderen hat § 28 StGB a. F. die Möglichkeit geschaffen, die Zahlungserleichterungen schon auf der Etappe der Strafzumessung, d.h. im Urteil, zu gewähren. Nach dem alten Recht konnten der Aufschub und die Ratenzahlung allein in der Etappe der Strafvollstreckung angeordnet werden. Die Bedeutung dieser Änderung darf nicht unterschätzt werden. Ohne die neue Regelung wäre das Problem der Einkommensschwachen wahrscheinlich so gelöst worden, dass sie aus der Anwendung der Geldstrafe ausgeschlossen worden wären. Jetzt wird klar, warum die Unmöglichkeit der sofortigen Zahlung der Geldstrafe unter der Geltung des Gesamtsummensystems nicht zum Ausschluss der Einkommensschwachen führte. Eine einfache Lösung, die jedoch sehr schwerwiegende Konsequenzen für die Anwendung der Geldstrafe hatte. Leider lässt sich die Entwicklung der Praxis der Zahlungserleichterungen unter der Geltung des Gesamtsummensystems mangels entsprechender Untersuchungen nicht vollständig nachvollziehen. Es gibt jedoch eine Untersuchung aus der letzten Phase der Geltung des Systems, die über die Anwendung der Zahlungserleichterungen ausführlich berichtet. Der Vorteil dieser in Freiburg i. Br. entstandenen Untersuchung liegt insbesondere darin, dass sie zeigt, wie viele Zahlungserleichterungen schon im Urteil gewährt wurden. Die Darstellung der Befunde wird sich im Folgenden auf die Ratenzahlung beschränken, weil die Stundung so selten zur Anwendung kam, dass der Autor der Freiburger Untersuchung ein gezieltes Eingehen auf sie für unnötig hielt.283 Eine ganz andere Praxis ließ sich dagegen bei Ratenzahlungen feststellen. Eine Auswertung von 1.540 rechtskräftigen Strafakten aus dem Jahre 1972 ergab, dass eine Ratenzahlung bei zirka 30% der Geldstrafenverurteilungen gewährt wurde.284 Dabei wurde festgestellt, dass die Form der Verfahrenserledigung (Strafbefehl, mündliche Hauptverhandlung) einen bedeutsamen Einfluss auf die Anzahl der Ratenzahlungen hatte. Während nach Strafbefehlen der Anteil der Geldstrafen, die in Raten bezahlt wurden, lediglich etwa bei 24% lag, betrug diese Quote in Geldstrafenverurteilungen mit Hauptverhandlung fast 44%.285 Es ist jedoch zu berücksich282 283 284 285

RGSt. 64, S. 207. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 279. Ebenda, S. 233. Ebenda, S. 273.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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tigen, dass bei den höheren Geldstrafen, die nach mündlicher Hauptverhandlung verhängt wurden, die entsprechende Prozentzahl noch höher war: Sie betrug bei Geldstrafen von 500 DM bis 1.000 DM fast 50%, bei Geldstrafen von 1.000 bis 1.500 DM fast 64% und bei Geldstrafen über 1.500 DM fast 59%.286 Bemerkenswert ist zudem, dass eine Gewährung von Ratenzahlung bei einem großen Teil der Fälle (ca. 40% der Ratenzahlungen; N = 89) direkt an das Urteil angeschlossen war.287 Trotz dieses hohen Anteiles der Gewährung von Ratenzahlungen kam Tröndle nach der Analyse der Befunde der Freiburger Untersuchung zu der Schlussfolgerung, dass die Vorschrift des § 28 StGB a. F. eher eine geringe Bedeutung für die Praxis gehabt habe.288 Ob der Anteil der Zahlungserleichterungen an allen Geldstrafenverurteilungen groß oder gering ist, hängt selbstverständlich von den Erwartungen ab, die man diesem Rechtsinstitut entgegenbringt. Der These von Tröndle lässt sich jedoch entnehmen, dass ein durchschnittlicher Anteil von 30% der Zahlungserleichterungen kaum als befriedigend erscheint. Die Vorschrift des § 28 StGB galt bis zum Ende des Jahres 1974. Der Nachfolger von § 28 StGB, der § 42 StGB289, knüpfte im Wesentlichen an die Grundsätze an, die schon der § 28 StGB verkörperte. Der bis heute geltende § 42 StGB lautet: „Ist dem Verurteilten nach seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, die Geldstrafe sofort zu zahlen, so bewilligt ihm das Gericht eine Zahlungsfrist oder gestattet ihm, die Geldstrafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen. Das Gericht kann dabei anordnen, daß die Vergünstigung, die Geldstrafe in bestimmten Teilbeträgen zu zahlen, entfällt, wenn der Verurteilte einen Teilbetrag nicht rechtzeitig zahlt.“

Zunächst fällt auf, dass der § 42 StGB im Gegensatz zu § 28 StGB a.F. dem erkennenden Gericht keine Zuständigkeit für die Gewährung von Zahlungserleichterungen nach der Rechtskraft des Urteils einräumt. Diese Befugnis steht ab 1975 lediglich der Vollstreckungsbehörde zu (§ 459a StPO). Die Bewilligung von Zahlungserleichterungen erfolgt im Vollstreckungsverfahren auf der Grundlage der Grundsätze des § 42 StGB. Die Vollstreckungsbehörde kann dabei nicht nur ihre eigene, sondern auch die Entscheidung des Tatrichters über Zahlungserleichterungen ändern.290 Sie kann zudem die Zahlungserleichterungen gewähren, die das Gericht versagt hat, die festgesetzten Zahlungsfristen verlängern, die Höhe der Ratenzahlung herabsetzen und die Verfallsklausel beseitigen.291 286

Ebenda. Ebenda. 288 LK-Tröndle, § 42 RN 1; Tröndle, ZStW 86 (1974), S. 554. 289 Die Vorschrift wurde auf der Grundlage des 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBl. I, S. 717) eingeführt. 290 Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 459a RN 2, m. w. N. 287

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Kein Unterschied liegt in der Konstruktion der Vorschrift des § 42 StGB – er ist wie § 28 StGB a. F. eine Muss-Vorschrift, das heißt, das erkennende Gericht muss die Zahlungserleichterungen von Amts wegen bewilligen, soweit die Voraussetzungen dafür vorliegen.292 Die Prüfung der Zahlungserleichterungen verlangt keinen Antrag seitens des Betreffenden. Er kann jedoch Zahlungserleichterungen beantragen.293 In keinem Fall darf die Entscheidung mit der Begründung verweigert werden, dass Zahlungserleichterungen auch im Vollstreckungsverfahren gewährt werden können.294 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entfiel diese Pflicht allerdings schon dann, „wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte die Geldstrafe innerhalb einer gewissen Frist oder in angemessenen Teilbeträgen wirklich bezahlt, (. . .)“.295 In welchen Fällen jedoch das Gericht zu überprüfen hat, ob Zahlungserleichterungen gewährt werden sollen, bleibt bisher umstritten. Fischer geht davon aus, dass das Gericht „regelmäßig“ von Amts wegen prüfen sollte, ob Zahlungserleichterungen in Betracht kommen.296 Nach Häger darf das Gericht bei kleineren Geldstrafen von dieser Pflicht absehen.297 Albrecht vertritt die Auffassung, dass in dieser Hinsicht kein Schematismus zulässig ist.298 Insbesondere bei einkommensschwachen Gruppen ist immer die Frage der Zahlungserleichterungen zu überprüfen, unabhängig von der Höhe der Geldstrafe oder der Anzahl der Tagessätze.299 Das Fehlen einer Entscheidung über Zahlungserleichterungen wird von den Revisionsgerichten in der Regel jedoch nur dann beanstandet, wenn die Geldstrafe 30 Tagessätze (ein Monatseinkommen) überschreitet.300 Zu den persönlichen Verhältnissen gehören in erster Linie die familiären Verhältnisse. Zu berücksichtigen ist etwa, ob der Verurteilte für eine große Familie zu sorgen hat oder kranke oder in Ausbildung befindliche Angehörige sein Einkommen bedeutend belasten.301 Auch krankheits- oder altersbedingte Belastungen des Betreffenden sollen berücksichtigt werden.302 291

Ebenda, § 459a RN 9, m. w. N. RGSt. 63, S. 208; Bremen NJW 1954, S. 522; BayObLG NJW 1956, S. 1166; Köln NJW 1977, S. 308; Stuttgart StV 1993, S. 475. 293 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 42 RN 3. 294 OLG Schleswig SchlHA 1976, S. 184. 295 BGHSt. 13, S. 356–358, S. 356. 296 Fischer/Tröndle (2006), § 42 RN 2. 297 LK-Häger, § 42 RN 2. 298 Albrecht, NK-StGB, § 42 RN 5. 299 Ebenda, m. w. N. 300 OLG Schleswig NJW 1980, S. 1535 ff.; SK-Horn, § 42 RN 18; Schönke/ Schröder/Stree (2001), § 42 RN 3. 301 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 42 RN 2. 302 Ebenda. 292

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Die wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben Zahlungserleichterungen, „wenn der Verurteilte auf Grund der laufenden Einkünfte die Geldstrafe nicht auf ein Mal aufbringen kann, ohne in Bedrängnis zu geraten.“303 Es hängt vom Einzelfall ab, ob dem Betreffenden zugemutet werden kann, sein Vermögen anzugreifen oder einen Kredit aufzunehmen.304 Die Praxis zeigt hier große Zurückhaltung.305 Umstände, die bei der Festsetzung der Höhe des Tagessatzes berücksichtigt wurden, können hier wieder verwertet werden,306 was nicht besagt, dass die Lehre eine „Gesamtschau“ von Zahl und Höhe der Tagessätze sowie Zahlungserleichterungen zulässt.307 Auf der theoretischen Ebene besteht wohl weitgehend Einigkeit darüber, dass für die Prüfung des § 42 StGB erst dann Raum ist, wenn die ersten Strafzumessungsakte abgeschlossen sind.308 Wenn die Entscheidung über Zahlungserleichterungen im Urteil oder im Strafbefehl ergeht, obliegen dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts die Frist, Zahl und Höhe der Raten sowie die Fälligkeitstermine.309 Es besteht keine zeitliche Begrenzung, was dem Richter eine große Gestaltungsfreiheit verbürgt. Ob das Gericht einen Zeitraum von 2 Jahren bei Ratenbewilligung nicht überschreiten soll, bleibt umstritten.310 Horn spricht von einer sinnvollen, gegebenenfalls über einige Jahre sich erstreckenden Ratenzahlungsregelung.311 So verfährt auch die Praxis, in der nicht selten Ratenzahlungen über einen Zeitraum von weit mehr als zwei Jahren bewilligt werden.312 Um den Verurteilten zu disziplinieren, kann der Richter eine Verfallsklausel in das Urteil aufnehmen. Diese Möglichkeit sah § 28 StGB a. F. nicht vor. Es steht dabei vollkommen im Ermessen des Gerichts, ob eine Verfallsklausel in das Urteil aufgenommen wird.313 Die Folgen einer Verfallsklausel sind klar: Die Reststrafe ist automatisch fällig, wenn der Verurteilte mit einer Teilzahlung im Rückstand bleibt.314 Auf der Grundlage des § 459a 303

Ebenda. Schönke/Schröder/Stree (2001), § 42 RN 2; LK-Häger, § 42 RN 8; Fischer/ Tröndle (2006), § 42 RN 4. 305 LK-Häger, § 42 RN 8. 306 Fischer/Tröndle (2006), § 42 RN 4. 307 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 127, m. w. N. 308 Fischer/Tröndle (2006), § 42 RN 2. 309 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 42 RN 5. 310 LK-Tröndle, § 42 RN 3; LK-Häger, § 42 RN 13. 311 SK-Horn, § 40 RN 13. 312 Albrecht, NK-StGB, § 42 RN 7. 313 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 42 RN 7. 314 Ebenda. 304

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Abs. 3 S. 2 StPO können jedoch erneut Zahlungserleichterungen bewilligt werden. Die Vorschrift des § 42 StGB trat zugleich mit dem Tagessatzsystem in Kraft. Er stellt eine sehr wichtige Ergänzung des neuen Systems dar. Man kann sagen, dass er zusammen mit der Regelung über die Festsetzung der Geldstrafe das System der Zumessung der Geldstrafe bildet. Seit der Einführung des Tagessatzsystems spricht man in der Lehre nicht nur von der Zweiaktigkeit des Strafzumessungsvorgangs bei der Geldstrafe, sondern von der (fakultativen) dritten Phase des Strafzumessungsvorgangs, in der durch die Gewährung von Zahlungserleichterungen die Strafe auf den jeweiligen Verurteilten angepasst werden soll.315 Man ist sich darin einig, dass gerade erst die letzte Phase (Gewährung der Zahlungserleichterungen) die Verhängung höherer Strafen bei Personen ohne Vermögen und geringerem Einkommen ermöglicht.316 Eine solche Ausgestaltung der Zahlungserleichterungen sichert der Geldstrafe ihren durch die Strafrechtsreform vorgesehenen Anwendungsbereich.317 Ob die Vorschriften über Zahlungserleichterungen erst mit der Einführung des Nettoeinkommensprinzips an Bedeutung gewonnen haben, weil dieses oft nur durch die Gewährung von Zahlungserleichterungen, insbesondere bei erheblichen Geldstrafen, zu praktizieren ist,318 lässt sich mangels empirischer Untersuchungen bisher nicht feststellen. Die Untersuchung von Albrecht hat zu den Geldstrafenverurteilungen von 1975 gezeigt, dass die Ratenzahlungspraxis sich im Jahre 1975 nicht von der des Jahres 1972 unterschied.319 Seine Untersuchung ergab, dass vor Rechtskraft des Urteils, d.h. ausschließlich in der Hauptverhandlung, in 4,4% der Geldstrafenfälle eine Ratenzahlung gewährt wurde.320 Janssen stellte dagegen auf der Grundlage einer Stichprobe aus dem Jahre 1987 fest, dass 10,2% der Zahlungserleichterungen in der Hauptverhandlung bzw. von Amts wegen gewährt wurden.321 Fleischer ging in seiner Untersuchung, die auf den Akten der Staatsanwaltschaft Gießen von 1979 basiert, davon aus, dass in 5% der Fälle das Gericht Ratenzahlung gewährt hat.322

315 316 317 318 319 320 321 322

Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 77; LK-Häger, § 42 RN 1. LK-Häger, § 42 RN 1. Ebenda. LK-Tröndle, § 42 RN 1. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 302. Ebenda, S. 299. Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 170. Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 253.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

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IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe Die Bedeutung der tatsächlichen Geldstrafenvollstreckung wird in der Lehre durchaus diskutiert. Sie wird neben der Festsetzung der Tagessatzhöhe als weiterer Kernbereich der Implementation des Programms angesehen, das den Zweck einer effektiven Anwendung der Geldstrafe verfolgt, weil in dieser Phase Korrekturen der festgestellten Defizite bei der Strafzumessung seitens der Vollstreckungsbehörde vorgenommen werden können.323 Im Folgenden wird auf diese Punkte eingegangen: Vollstreckungsorgan (1), Zwangsvollstreckung (2), Ersatzfreiheitsstrafe (3) und Möglichkeiten zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe (4). 1. Vollstreckungsorgan Nach der ursprünglichen Fassung der StPO war für die Vollstreckung der Geldstrafe die Staatsanwaltschaft zuständig (§ 483 Abs. 1 StPO). Die Landesjustizverwaltung konnte jedoch die zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörenden Angelegenheiten den Amtsrichtern übertragen (§ 483 Abs. 3 StPO). Fast alle Landesjustizverwaltungen haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.324 Die Amtsrichter, denen die Strafvollstreckung übertragen wurde, waren in dieser Funktion jedoch nicht Organe der richterlichen Gewalt, sondern, gleich den Staatsanwälten, Organe der Justizverwaltung.325 Diese Rechtslage galt mehr als 40 Jahre bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte vom 11. März 1921,326 das die Landesjustizverwaltungen zum Zwecke der Entlastung des Staatsanwalts und des Richters ermächtigte zu bestimmen, dass anstelle des Staatsanwalts Gerichtsschreiber, Amtsanwälte oder andere Beamte bei der Staatsanwaltschaft, die nicht Staatsanwälte sind, selbstständig die Befugnisse der Vollstreckungsbehörde wahrnehmen. Von dieser Möglichkeit haben in der Folgezeit die Landesjustizverwaltungen – mit Ausnahme von Bayern – jedoch keinen Gebrauch gemacht.327 Eine rechtseinheitliche Regelung brachte erst die StVollstrO von 1935, indem sie den Kreis der übertragbaren Geschäfte festlegte und die Stellen bezeichnete, die die Übertragung und deren Umfang anordneten.328 Einen weiteren Schritt der Entwicklung vollzog die StVollstrO von 1956329, indem – abweichend von der StVollstrO von 1935 – 323

Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 140. Löwe, § 483 Anm. 4.a. 325 Ebenda, § 483 Anm. 5. 326 RGBl. S. 233. 327 Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 451 RN 7. 328 § 6 StVollstrO von 1935 (neu gefasst durch AV des RJM vom 13.9.1944, DJ, S. 241). 324

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

die Übertragung nicht mehr von einer besonderen Anordnung in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken abhängig war, sondern die Geschäfte der Strafvollstreckung den Rechtspflegern unmittelbar übertragen wurde. Den Abschluss der Entwicklung bildete das Rechtspflegegesetz von 1969330, dessen § 31 Abs. 2 S. 1 regelt, dass die Geschäfte der Vollstreckungsbehörde bei Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe grundsätzlich dem Rechtspfleger übertragen sind. Nur für einige Entscheidungen ist der Staatsanwalt auf der Grundlage der Begrenzungs-VO zuständig: Liegen rechtliche Schwierigkeiten oder Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Vollstreckung vor, so entsteht aufgrund § 2 Nr. 2 Begrenzungs-VO eine Vorlagepflicht. Schließlich hat das EGStGB von 1974331 die Möglichkeit der Übertragung der Strafvollstreckung auf die Amtsrichter durch die Landesjustizverwaltung abgeschafft. Damit wurde der Gedanke, die Tätigkeit der Gerichte grundsätzlich auf Rechtsprechungsaufgaben zu beschränken, gewissermaßen in der Praxis realisiert. 2. Zwangsvollstreckung Die ursprüngliche Fassung des RStGB beinhaltete keine Vorschrift, die die Einleitung der Zwangsvollstreckung regeln würde. § 28 Abs. 1 RStGB stellte nur fest, dass eine nicht beizutreibende Geldstrafe in Gefängnis und, wenn auf diese wegen einer Übertretung erkannt worden ist, in Haft umzuwandeln ist. Was unter „einer nicht beizutreibenden Geldstrafe“ zu verstehen war, ließ das Gesetz jedoch offen. Die herrschende Meinung vertrat die Auffassung, dass die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe erst dann feststehe, wenn die Zwangsvollstreckung eingeleitet wurde und alle ihre Mittel ausgeschöpft wurden.332 Das Absehen von der Einleitung der Zwangsvollstreckung war nur dann zulässig, wenn die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe auch ohne Vollstreckungsversuch zweifellos feststand, so z. B. wenn der Schuldige bereits in einer anderen Sache eben erst erfolglos gepfändet worden war.333 Diesem Gedanken folgte auch § 6 des Geldstrafengesetzes von 1921: „Soweit die Geldstrafe nicht gezahlt wird, ist sie beizutreiben. Der Versuch, die Geldstrafe beizutreiben, kann unterbleiben, wenn mit Sicherheit vorauszusehen ist, daß sie aus dem beweglichen Vermögen des Verurteilten nicht beigetrieben werden kann.“ 329

§ 10 StVollstrO von 1956. Das Rechtspflegegesetz vom 5.11.1969 (BGBl. I, S. 2065 mit späteren Änderungen, zuletzt durch Gesetz vom 25.10.1982 – BGBl. I, S. 1425). 331 Art. 21 Nr. 120 EGStGB von 1974. 332 Gutmann, Die Natur der Geldstrafe und ihre Verwendung im heutigen Reichsstrafrecht, S. 89, m. w. N. 333 Ebenda, S. 89–90, m. w. N. 330

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Auf der Grundlage des Geldstrafengesetzes von 27.4.1923 wurde § 6 des Geldstrafengesetzes von 1921 in das RStGB eingefügt (§ 28a). Diese Vorschrift galt bis zum In-Kraft-Treten des EGStGB von 1974, der statt dessen den § 459c in die StPO einfügte. Er lautet: „(1) Die Geldstrafe oder der Teilbetrag der Geldstrafe wird vor Ablauf von zwei Wochen nach Eintritt der Fälligkeit nur beigetrieben, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen erkennbar ist, daß sich der Verurteilte der Zahlung entziehen will. (2) Die Vollstreckung kann unterbleiben, wenn zu erwarten ist, daß sie in absehbarer Zeit zu keinem Erfolg führen wird.

(. . .)“ § 459c StPO hat damit den Gedanken des § 28a StGB a. F. übernommen, indem die Durchführung der Zwangsvollstreckung in jedem Verfahren grundsätzlich obligatorisch geblieben ist, wobei auch ein Absehen davon in hoffnungslosen Fällen weiterhin möglich ist. 3. Ersatzfreiheitsstrafe Obwohl weitgehend Einigkeit darüber besteht, „daß die Ersatzfreiheitsstrafe nicht in das durch die Strafrechtsreform verwirklichte kriminalpolitische Konzept des Sanktionensystems, das auf die Zurückdrängung der kurzfristigen Freiheitsstrafen ausgerichtet ist, hineinpaßt“334, konnten sich die Vorschläge, die die Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen wollten, nicht durchsetzen.335 Die Ersatzfreiheitsstrafe wird weiterhin als Rückgrat der Geldstrafe angesehen336, was als Nebenwirkung den nicht unbeachtlichen Prozentsatz der an sich unerwünschten kurzen Freiheitsstrafen verursacht.337 Für die Ersatzfreiheitsstrafe spricht insbesondere die Erkenntnis, dass nach Anordnung der Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe in sehr vielen Fällen die Geldstrafe dann doch noch bezahlt wird.338 „Denn zwei von drei Geldstrafenschuldnern, denen die Androhung bzw. Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe eröffnet worden ist, bezahlen danach die Geldstrafe bzw. den ausstehenden Betrag. Insoweit wird aber auch der 334 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 146. 335 Grebing, ZStW 88 (1976), S. 1112. 336 So z. B. LK-Häger, § 43 RN 1, m. w. N. 337 Der genaue Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an den kurzen Freiheitsstrafen lässt sich nicht genau berechnen. Hamdorf und Wölber nehmen an, dass die Ersatzfreiheitsstrafen mit 48 % in den kurzen Freiheitsstrafen repräsentiert sind. Siehe dazu Hamdorf/Wölber, ZStW 111 (1999), S. 932. Albrecht schätzt, dass die durchschnittliche Dauer der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafe bei etwa 30 Tagen liegt. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 2. 338 Göppinger, Kriminologie, S. 741.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Verdacht geäußert, die Ersatzfreiheitsstrafe stelle ein wirksames Beitreibungsinstrument dar, weitaus wirksamer als Forderungs- bzw. Sachpfändung, denen i. d. R. kein Erfolg beschieden ist (. . .).“339

Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt Feuerhelm, der festgestellt hat, dass ca. 80% der Geldstrafeschuldner nach Feststellung der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe und der Ladung zum Haftantritt ihre Geldstrafe gezahlt haben, ohne dass mit der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe begonnen wurde.340 Das RStGB regelte die Ersatzfreiheitsstrafe in §§ 28 und 29. Danach war eine nicht beizutreibende Geldstrafe in Gefängnis, Haft oder Zuchthaus nach den Maßstäben des § 29 RStGB umzuwandeln (§ 28 RStGB). Die Änderung der Rechtslage brachte das Geldstrafengesetz vom 27. April 1923, das in das RStGB den neuen § 29 einfügte: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt bei Verbrechen und Vergehen Gefängnis und, wenn neben der Geldstrafe auf Zuchthaus erkannt wird, Zuchthaus, bei Übertretungen Haft. Auch bei Vergehen kann die Geldstrafe in Haft umgewandelt werden, wenn Geldstrafe allein oder an erster Stelle oder wahlweise neben Haft angedroht ist. Die Dauer der Ersatzstrafe ist mindestens ein Tag und bei Gefängnis und Zuchthaus höchstens ein Jahr, bei Haft höchstens sechs Wochen. Ist neben der Geldstrafe wahlweise Freiheitsstrafe angedroht, so darf die Ersatzstrafe deren Höchstmaß nicht übersteigen. Die Ersatzstrafe darf nur nach vollen Tagen bemessen werden. Im übrigen richtet sich das Maß der Ersatzstrafe nach freiem Ermessen des Gerichts. In den Fällen des § 27b ist Ersatzstrafe die verwirkte Freiheitsstrafe. (. . .)“

Der § 29 RStGB entspricht in seinem Inhalt im Wesentlichen den alten §§ 28 und 29 RStGB. Ein wichtiger Unterschied lässt sich lediglich hinsichtlich der Maßstäbe feststellen, nach denen die Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden sollte: Während der alte § 29 RStGB einen Umwandlungsmaßstab vorsah, ließ der neue § 29 StGB die Kriterien der Umwandlung im Ermessen des Gerichts. Die zitierten Vorschriften des § 29 RStGB341 galten bis 1975, als das Tagessatzsystem eingeführt wurde. Der neue § 43 StGB lautet: 339

Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 2. Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 70. 341 Seit dem Gesetz vom 27. April 1923 wurden sie jedoch noch durch die Verordnung über Vermögensstrafen und Bußen vom 6. Februar 1924 und durch Art. 1 Nr. 13 des 1. StrRG vom 25.9.1969 neu gefasst. 340

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„An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. Einem Tagessatz entspricht ein Tag Freiheitsstrafe. Das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist ein Tag.“

Der scheinbar einfache und klare Umrechnungsmaßstab von 1:1 (ein Tagessatz = ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe) hat Kritik hervorgerufen.342 „. . . der Tagessatz zielt ja entsprechend der Theorie der Tagessatzgeldstrafe auf den Betrag, den eine Person an einem Arbeitstag verdient bzw. verdienen kann und zielt damit letztendlich auch auf die Arbeitszeit, deren Resultat dem Verurteilten entzogen werden soll. Insoweit ist es natürlich nicht einsichtig, daß 8 bzw. 7,5 Arbeitsstunden 24 Stunden Freiheitsstrafe gleichgesetzt werden.“343

Vor dem Hintergrund solcher Bedenken wurde sogar angezweifelt, ob „die Schuld des Täters in einem solchen Falle noch ‚Grundlage für die Zumessung der (Ersatzfreiheits-)Strafe‘ ist.“344 Dagegen vertritt Horn345 die Auffassung, dass die wichtigsten Errungenschaften des Tagessatzsystems preisgegeben würden, wenn man auf den Umrechnungsmaßstab 1:1 verzichten würde. Die österreichische Lösung (Umrechnungsmaßstab 1:2) zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall ist,346 was den Kritikern des § 43 StGB in Deutschland ein schwerwiegendes Argument liefert. Auch zeigt das Mindestmaß der Ersatzfreiheitsstrafe, dass die Kritik nicht unberechtigt ist. Wenn man bedenkt, dass das Gesetz es zulässt, wegen 1 Euro einen Tag Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen zu lassen, nimmt sich dies im Schuldstrafrecht eines sozialen Rechtsstaates seltsam aus.347 Für die Beurteilung des Instituts der Ersatzfreiheitsstrafe relevant ist weiterhin die tatsächliche Anzahl der Fälle, in denen dieses Institut zum Einsatz gekommen ist. Daher soll nun auf die Untersuchungen eingegangen werden, die versucht haben, diese Anzahl zu ermitteln. Zunächst werden dabei die Daten aus der Zeit nach dem In-Kraft-Treten des Geldstrafengesetzes von 1921 dargelegt. So zeigt die Tabelle 1 (nächste Seite) die Anzahl derer, die in den Jahren 1922–1931 im Deutschen Reich wegen Verstößen gegen Reichs- und Landesgesetze rechtskräftig zu Geldstrafen verurteilt wurden und an denen die Ersatzfreiheitsstrafe vollstreckt wurde. Eine andere Untersuchung aus dem Anfang der 70er Jahre ergab, dass in etwa 15% aller Geldstrafenverurteilungen die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet wurde.348 Es wurden jedoch davon nur 4,1% der Er342 343 344 345 346 347

Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 5. Ebenda. LK-Häger, § 43 RN 6. Horn, ZStW 87 (1977), S. 564–565. LK-Häger, § 43 RN 7. Ebenda, § 43 RN 8.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe Tabelle 1 Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Geldstrafe im Deutschen Reich in den Jahren 1922–1931 Jahr

Insgesamt Geldstrafen

Ersatzfreiheitsstrafe

1922

506.977

5.993 (= 3,9%)

1925

337.649

22.653 (= 6,7%)

1926

437.325

40.186 (= 9,2%)

1927

454.019

38.641 (= 8,5%)

1928

461.718

37.360 (= 8,1%)

1929

449.407

44.085 (= 9,8%)

1930

440.140

53.027 (= 12,0%)

1931

383.003

59.076 (= 15,4%)

Quelle der Daten: Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 51.

satzfreiheitsstrafen tatsächlich vollstreckt.349 Die Aufforderung, sich zum Strafantritt zu stellen, bewog somit 10% der Verurteilten, aber zugleich 73% aller mit konkreter Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Bedrohten zur Zahlung der Geldstrafe. Es lässt sich letztlich nicht genau feststellen, wieviel Geldstrafenschuldner nach der Einführung des Tagessatzsystems, wenigstens teilweise, ihre Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mussten. Die Untersuchung von Albrecht ergab, dass die Einführung des Tagessatzsystems, das im Mittelpunkt der Untersuchung stand, in dieser Hinsicht keine bedeutenden Änderungen brachte. Von den 400 Geldstrafeverurteilungen aus dem Jahr 1975 wurde in 3,5% der Fälle die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt.350 Nach einer Studie von Feuerhelm aus den Jahren 1987/1988 wird der Anteil der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen an den uneinbringlichen Geldstrafen mit ca. 13,2% veranschlagt.351 Für Nordrhein-Westfalen wurde für 348

Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 252. Ebenda, S. 252–253. 350 Ebenda, S. 296, 313. 351 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 69. 349

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

91

das Jahr 1987 eine Quote von 1,5% vollständiger Ersatzfreiheitsstrafenvollstreckungen an den einbezogenen Geldstrafen festgestellt.352 Jescheck und Weigend gehen dagegen davon aus, dass in demselben Jahr 6% aller Geldstrafen durch eine Freiheitsstrafe ersetzt wurden.353 Hilfe bei der Schätzung der uneinbringlichen Geldstrafen können in bestimmtem Umfang die Zahlen über den Strafvollzug leisten, wobei zu beachten ist, dass die Zahlen überhöht sein mögen, weil zu den Zugängen auch Verlegungen von oder zu einer Anstalt gehören und ferner auf eine Geldstrafe mehrere Ersatzfreiheitsstrafen entfallen können.354 Die folgenden Berechnungen in Tabelle 2 erhärten jedoch die These, dass die Ersatzfreiheitsstrafen in den 90er Jahren erheblich zugenommen haben.

Tabelle 2 Der Anteil der Zugänge an Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern an den Verurteilungen zu Geldstrafe in der BRD in den Jahren 1975–1996 Jahr

Geldstrafe*

Zugänge wegen EFS*

Anteil in%

1975

472.577

26.903

5,7

1980

494.114

25.904

5,3

1985

488.414

30.765

6,3

1988

497.533

29.590

5,9

1991

521.291

29.721

5,7

1992

537.274

1

30.123

5,6

1993

577.381

35.6342

6,2

578.419

3

7,1

3

1994

40.942

1995

567.195

42.127

7,4

1996

561.238

46.7893

8,3

* Die Zahlen beziehen sich auf das frühere Bundesgebiet; bei Geldstrafen ab 1991 einschließlich BerlinWest, ab 1995 auch mit Berlin-Ost. EFS = Ersatzfreiheitsstrafe. 1 Ohne Hamburg. 2 Für Hamburg Daten von 1991. 3 Für Hamburg Daten geschätzt. Quelle: Villmow, FS für Kaiser, S. 1320; Bublies, BewHi 1992, S. 179.

352 353 354

Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 175. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 776, m. w. N. Eisenberg, Kriminologie, S. 414.

92

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

4. Möglichkeiten zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe a) Zahlung der Geldstrafe Die Möglichkeit der Tilgung von Ersatzfreiheitsstrafe in Form der Zahlung sah schon die ursprüngliche Fassung des RStGB vor. Nach § 28 RStGB konnte sich der Verurteilte durch die Erlegung des Strafbetrags, soweit dieser durch die erstandene Freiheitsstrafe noch nicht getilgt war, von der letzteren befreien. Die Vorschrift des § 28 RStGB wurde auf der Grundlage des Geldstrafengesetzes vom 27. April 1923355 in den § 29 Abs. 5 RStGB umgewandelt. Diese Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 13 des 1. StrRG von 1969 neu gefasst und galt bis zum 1.1.1975, als das 2. StrRG in Kraft trat. Der neue Allgemeine Teil des StGB in der Fassung des 2. StrRG sah keine dem § 29 Abs. 5 StGB a. F. ähnliche Vorschrift vor. Diese Problematik regelt seither das Verfahrensrecht. Nach dem neuen § 459e Abs. 4 StPO356 wird die Ersatzfreiheitsstrafe nicht vollstreckt, soweit die Geldstrafe entrichtet oder beigetrieben wird.357 Empirische Untersuchungen haben – wie oben schon kurz erwähnt – gezeigt, dass diese Form der Tilgung der Ersatzfreiheitsstrafe eine führende Stelle einnimmt. Eine Untersuchung von Albrecht hat ergeben, dass 70% der uneinbringlichen Geldstrafen358 nach Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe bezahlt wurden.359 Auch die Untersuchung von Feuerhelm bestätigte den Befund, dass mehr als drei Viertel der uneinbringlichen Geldstrafen durch Zahlung erledigt wird.360 b) Arbeit Erst § 7 des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21.12.1921361 hat die Möglichkeit geschaffen, die Geldstrafen, die auf der Grundlage des 355

RGBl I, S. 255. Eingefügt durch Art. 21 Nr. 130 EGStGB von 1974. 357 In diesem Zusammenhang ist noch die Norm des § 51 Abs. 4 StVollstrO zu beachten. Danach ist ein bereits in Strafhaft genommener Verurteilter sofort zu entlassen, wenn er den rückständigen Betrag gezahlt hat. 358 Die Daten beziehen sich auf 1.540 Verurteilungen zu Geldstrafe im Jahre 1972. 359 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 233. 360 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 71. 361 RGBl I, S. 1604. 356

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

93

RStGB verhängt wurden, durch freie Arbeit zu tilgen. Vor dem Geldstrafengesetz von 1921 konnten lediglich die landesrechtlichen Geldstrafen abgearbeitet werden.362 § 7 des Geldstrafengesetzes von 1921 wurde ohne Änderung durch das Geldstrafengesetz vom 27. April 1923363 in das RStGB eingefügt. § 28b RStGB lautete: „Die Vollstreckungsbehörde kann dem Verurteilten gestatten, eine uneinbringliche Geldstrafe durch freie Arbeit zu tilgen. Das Nähere regelt die Reichsregierung mit Zustimmung des Reichsrats. Soweit dies nicht geschieht, sind die obersten Landesbehörden ermächtigt, das Nähere zu regeln.“

Die Norm stand jedoch nur auf dem Papier. Es kam so gut wie nie zu einer derartigen Regelung des „Näheren“. Lediglich in Thüringen wurde eine Durchführungsverordnung erlassen, die jedoch keine praktische Bedeutung erlangt hat. Auch während der NS-Zeit behielt § 28b StGB sein Schattendasein. Erste Versuche in der Nachkriegszeit gab es erst wieder 1947 in Baden-Württemberg. Es wurde an alle Staatsanwaltschaften und Gerichte ein „Runderlaß“ versandt, der die Möglichkeit einführte, im Wege des Gnadenerweises Strafhaft in „freie Arbeit“ umzuwandeln. Die auszuführenden Arbeiten beschränkten sich jedoch auf Aufbauarbeiten. Praktische Schwierigkeiten führten schließlich dazu, dass dieses Experiment im Sande verlief.364 § 28b StGB wurde im Jahre 1974 durch den Art. 293 EGStGB vom 2.3.1974365 ersetzt.366 Dementsprechend wurden die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnung Regelungen zu treffen, wonach die Vollstreckungsbehörden dem Verurteilten gestatten können, eine uneinbringliche Geldstrafe durch freie Arbeit zu tilgen. Die Landesregierungen konnten die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. Art. 293 EGStGB wurde durch das 23. StrÄndG vom 12.4.1986367 wesentlich erweitert. Das neue Recht stellte fest, dass die Arbeit unentgeltlich sein muss und nicht erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen darf. Ferner wurde klargestellt, dass durch die freie Arbeit kein Arbeitsverhältnis im Sinne der Sozialversicherung oder des Steuerrechts begründet ist. Die Vor362

Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 28b. RGBl I, S. 255. 364 Pfohl, in: Kerner/Kästner (Hrsg.), Gemeinnützige Arbeit in der Strafrechtspflege, S. 8. 365 BGBl. I, S. 469. 366 Der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform hatte es zuvor abgelehnt, § 28b StGB in das neue Recht zu übernehmen. Der Grund dafür lag in den großen Schwierigkeiten seiner praktischen Durchführung, vgl. BT-Drucks. V/4095, S. 22 f. 367 BGBl. I, S. 393. 363

94

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

schriften über den Arbeitsschutz finden jedoch sinngemäße Anwendung (Art. 293 EGStGB). Einen ersten Versuch, die gemeinnützige Arbeit über eine Verordnung nach Art. 293 EGStGB zu regeln, gab es 1978 in Berlin, 1981 folgte Hessen.368 Die ungünstigen Erfahrungen mit der praktischen Durchführbarkeit der Verordnung führten jedoch dazu, dass die übrigen Länder zunächst von der Möglichkeit des Art. 293 EGStGB keinen Gebrauch machten.369 Erst in den 80er und 90er Jahren wurden die entsprechenden Verordnungen erlassen, die im Wesentlichen inhaltsgleich sind.370 Sie definieren „freie Arbeit“ als „gemeinnützige und unentgeltliche Tätigkeit. Die Unentgeltlichkeit wird durch freiwillige geringfügige Zuwendungen an den Verurteilten zum Ausgleich von Auslagen in Zusammenhang mit der Arbeitsleistung nicht berührt“ (§ 1 Abs. 2 der VO Baden-Württemberg vom 2.7.1986). Danach entsteht für den Verurteilten die Möglichkeit der Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige und unentgeltliche Arbeit, wenn er einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat371 bzw. seine Zustimmung erklärt hat.372 Die Vollstreckungsbehörde hat auf diese Möglichkeit bei Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe hinzuweisen.373 Aus einer Untersuchung von Janssen geht jedoch hervor, dass die Verurteilten in der Praxis nicht in allen Fällen eine Information über die Alternative der gemeinnützigen Arbeit erhalten haben. Die Aktenanalyse ergab, dass aus der Gruppe der Vollverbüßer in 56,7% der Fälle auf die Möglichkeit der Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit hingewiesen wurde.374 Bei den Ratenzahlern erfolgte die Belehrung erheblich öfter: In 80,8% der Fälle.375 Zu Recht betont Janssen, dass diese Praxis kontraproduktiv und schon deshalb unverständlich ist, „als gerade die ‚Freie Arbeit‘ eine Alternative zur Verbüßung darstellen soll.“376 Auch eine Untersuchung von Feuerhelm bestätigt die Feststellungen von Janssen: In 15% der Fälle erhalten die Betreffenden keine Belehrung über die Möglichkeit der gemeinnützigen Arbeit bei der Ladung zur Ersatzfreiheitsstrafe.377 Wurde ein Antrag gestellt (dies ist lediglich bei 14% 368

Kähler, Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch gemeinnützige Arbeit,

S. 2. 369

Ebenda. LK-Häger, § 43 RN 12. 371 Ebenda. 372 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 29. 373 LK-Häger, § 43 RN 12. 374 Janssen, Die Praxis der Geldstrafenvollstreckung, S. 183. 375 Ebenda. 376 Ebenda. 377 Feuerhelm, BewHi 1993, S. 203. 370

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

95

der Belehrten der Fall378), so ergab dieselbe Untersuchung, dass die Vollstreckungsbehörde in 14% der Fälle einschlägigen Anträgen nicht stattgab.379 Noch aufschlussreicher ist die Hamburger Befragung von 54 Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern aus dem Jahre 1995: Nur 17 der Befragten gaben an, „schon zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung die Alternative gemeinnütziger Arbeit gekannt zu haben, und nur 12 meinten, im weiteren Verlauf, vor allem von der Gerichtshilfe entsprechend belehrt worden zu sein“380, was besagt, dass fast die Hälfte der Befragten keine Information über die Alternative der gemeinnützigen Arbeit hatte. Dabei ist zu beachten, dass die Regelungen der einzelnen Bundesländer die Vollstreckungsbehörde von der Pflicht zur Belehrung befreien können, wie dies z. B. bei der Verordnung des Justizministeriums Baden-Württemberg381 der Fall ist. Danach erfolgt keine formularmäßige Belehrung, wenn die Verurteilten „sich in anderer Sache in Haft befinden, unbekannten Aufenthalts sind, erkennbar keine Arbeit leisten wollen oder hierzu in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein werden“. Regelmäßig beträgt der Anrechnungsmaßstab für die Tilgung eines Tagessatzes sechs Stunden freier Arbeit,382 wobei die Spannweite von 3 bis 8 Stunden reicht.383 Als Einsatzstellen kommen Gartenbauämter, Altenpflege- und Behinderteneinrichtungen, Kindergärten, Jugendzentren, Tierheime, Forstämter, Museen und Feuerwehren in Betracht.384 Privatfirmen scheiden nach der Begriffsbestimmung der gemeinnützigen Arbeit aus.385 Die Untersuchung von Feuerhelm ergab folgende Besetzung der Beschäftigungsstellen: 16,6% bei Gemeinde-/Stadtverwaltung; 29% bei Krankenhaus/Betreuungseinrichtung; 4,7% bei Sportverein; 7,3% bei Straffälligenhilfeverein; 26,3% bei karitativem Verein/Kirchengemeinde und 16,7% bei sonstigen Arbeitsstellen.386 Insgesamt ist festzuhalten, dass die gemeinnützige Arbeit in der Praxis eine geringe Rolle spielt: Nur ca. 8,5% der uneinbringlichen Geldstrafen 378

Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 77, 93. 379 Ebenda, S. 77–79. 380 Villmow, FS für Kaiser, S. 1305. 381 Merkblatt zur Durchführung der Verordnung des Justizministeriums BadenWürttemberg über die Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit vom 2. Juni 1986. 382 LK-Häger, § 43 RN 12. 383 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 32. 384 LK-Häger, § 43 RN 14. 385 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 28. 386 Ebenda, S. 109.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

werden durch diese Maßnahme erledigt.387 Nach der StaatsanwaltschaftsStatistik von 1998 sind 54.251 Personen der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe (ganz oder teilweise) durch gemeinnützige Tätigkeit entgangen.388 Ihre seltene Anwendung muss verwundern, wenn man den Befund berücksichtigt, dass nur etwa jeder zehnte Fall von begonnener Abarbeitung mit einer Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafe endet, was vom Erfolg dieser Erledigungsform zeugt.389 Auch sehen die Prognosen für diese Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe eher schlecht aus, weil aufgrund der Hartz IV Reform, die die so genannten „1-e-Jobs“390 eingeführt hat, viele Arbeitsmöglichkeiten für Straftäter entfallen werden. Man kann davon ausgehen, dass viele Beschäftigungsgeber lieber den Arbeitslosen als den Verurteilen die betreffende gemeinnützige Tätigkeit anbieten werden. Das wird jedenfalls aller Voraussicht nach gesellschaftlich eher akzeptiert werden, andererseits wird damit aber die Möglichkeit zur Abarbeitung der Geldstrafe erheblich eingeschränkt. Am häufigsten kommt die gemeinnützige Arbeit bei mittelschweren Sanktionen (zwischen 41 und 50 Tagessätze) zur Anwendung, während bei leichteren und schweren Strafen die Abarbeitung der Geldstrafe eine geringere Bedeutung hat.391 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sehr viele Ersatzfreiheitsstrafen in Unterbrechung der in anderer Sache angeordneten Untersuchungshaft verbüßt werden, was auf die Möglichkeiten der Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit ein ergänzendes Licht wirft.392 c) Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung Das RStGB in seiner ursprünglichen Fassung gab den Richtern keine Möglichkeit, die Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Diese Alternative sah das Begnadigungsrecht vor, so z. B. § 10 der preußischen Allgemeinen Verfügung über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung vom 19. Oktober 1920393. Auch die Verordnung des Reichsministers der 387

Feuerhelm, BewHi 1993, S. 200. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 130. 389 Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 150. 390 Unter dem Schlagwort „1-e-Euro Jobs“ ist die Initiative zu verstehen, die Arbeitslose zur Annahme gemeinnütziger Tätigkeiten verpflichtet. Der Lohn beträgt dabei ein bis zwei Euro pro Stunde. Dieses Entgelt stellt einen Zusatz zum Arbeitslosengeld dar. Durch diese Initiative sollen die Arbeitslosen ermuntert werden, in die Arbeitswelt zurückzukehren, und wieder an geregelte Arbeit gewöhnt werden. 391 Feuerhelm, BewHi 1993, S. 202. 392 LK-Häger, § 43 RN 2. 388

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

97

Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935394 ließ den Gnadenbehörden ausdrücklich in § 20 Abs. 1 die Möglichkeit, die Ersatzfreiheitsstrafen bis zu sechs Monaten bedingt auszusetzen. Wenn die erkannte Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr als 1 Monat betrug, war der Amtsrichter als Vollstreckungsbehörde zur Gewährung bedingter Strafaussetzung ermächtigt. Demgegenüber ließen die Vorschriften über die Strafaussetzung, die 1954 in Kraft getreten sind, die Frage über die Anwendung der Vorschriften über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung auf die erkannten Ersatzfreiheitsstrafen offen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage führte jedoch zu der überwiegenden Schlussfolgerung, dass die Ersatzfreiheitsstrafe auf der Grundlage der Vorschrift des § 23 StGB a. F. (§ 56 StGB n. F.) nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Die entscheidende Rolle spielte das Argument, dass § 23 StGB a. F. (§ 56 StGB n. F.) über die Aussetzung der Geldstrafe und der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung schweigt. Dementsprechend kann von der Vergünstigung lediglich bei Verurteilungen zu Freiheitsstrafe Gebrauch gemacht werden. Inzwischen besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Ersatzfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann,395 obwohl weiterhin das Argument geltend gemacht wird, „dass derjenige, der schon von Anfang an zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt wird, bessergestellt ist, als derjenige, der aufgrund leichteren Tatgewichts oder aufgrund besserer Prognose bzw. fehlender generalpräventiver Bedürfnisse (§ 47 Abs. 1 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.“396 d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe Das RStGB sah in seiner ursprünglichen Fassung die vorläufige Entlassung der Verurteilten mit ihrer Zustimmung vor, wenn drei Viertel, mindestens aber ein Jahr der ihnen auferlegten Freiheitsstrafe verbüßt waren (§ 23 RStGB a. F.). Dementsprechend konnten die Gerichte von diesem Rechtsinstitut gegenüber den Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern keinen Gebrauch machen, weil das Höchstmaß der Ersatzfreiheitsstrafe gem. § 29 RStGB a. F. ein Jahr betrug. Erst nach der Reform des 3. StrÄndG397 von 1953 konnte die Frage entstehen, ob die Aussetzung der Vollstreckung einer (Rest-)Ersatzfreiheitsstrafe in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung der Vorschriften über die bedingte Entlassung möglich ist. Das 3. StrÄndG von 393 394 395 396 397

JMBl. S. 565. DJ, S. 203. LK-Häger, § 43 RN 4, m.w.N; Fischer/Tröndle (2006), § 56 RN 2. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 6. BGBl. I, S. 1083.

98

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

1953 sah die Entlassung des zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten vor, wenn dieser zwei Drittel der Freiheitsstrafe, mindestens jedoch drei Monate, verbüßt hatte (§ 26 StGB a. F.), so dass die Frage nach der Anwendung des § 26 StGB a. F. (= § 57 StGB n. F.) bei den Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern vollkommen berechtigt war. Das Problem hat zu einer umfangreichen Judikatur der Oberlandesgerichte und Kommentarliteratur geführt.398 Für die Möglichkeit der Aussetzung wird vorgebracht, dass durch die Versagung dieser Vergünstigung der ursprünglich nur zu einer Geldstrafe Verurteilte schlechter gestellt werde als derjenige, der von vornherein zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei.399 Die Gegenansicht geht davon aus, dass Gesetzeswortlaut, Gesetzessystematik und Sinn des § 57 StGB einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift auf die Ersatzfreiheitsstrafe entgegensteht.400 Betrachtet man die gegenwärtig zum Forschungsstand vorliegende Kommentarliteratur, so ist zusammenfassend festzustellen, dass es nach wie vor umstritten ist, ob die Vollstreckung einer (Rest-)Ersatzfreiheitsstrafe in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung des § 57 StGB zulässig ist.401 e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Die ursprünglichen Fassungen des RStGB und der RStPO gaben dem Richter keine Möglichkeit, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen. Erst das Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsbereiches der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe von 1921 ließ den Verzicht auf die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe zu. Der einschlägige § 8 lautete: „Nach Anhörung der Staatsanwaltschaft kann das Gericht (§ 494 der Strafprozeßordnung) anordnen, daß die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unterbleibt, wenn der Verurteilte ohne sein Verschulden außerstande ist, die Geldstrafe zu zahlen oder durch freie Arbeit zu tilgen.“402

Auf der Grundlage des Geldstrafengesetzes vom 27. April 1923 wurde die Vorschrift in einer geänderten Fassung in das RStGB eingefügt (§ 29 398

Siehe dazu: LK-Häger, § 43 RN 4. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 6; Eisenberg, Kriminologie, S. 413; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 245. 400 LK-Häger, § 43 RN 4, m. w. N. 401 Für eine solche Aussetzungsmöglichkeit: OLG Hamm StV 1998, S. 151; OLG Koblenz NStZ 1995, S. 254; Albrecht, NK-StGB, § 47 RN 6; Schönke/Schröder/ Stree (2001), § 47 RN 2; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 245. Dagegen: OLG Bamberg StV 1999, S. 493; OLG Celle MDR 1977, S. 65; OLG Hamm StV 1999, S. 495; SK-Horn, § 57 RN 3; Lackner/Kühl, § 57 RN 1; Fischer/Tröndle (2006), § 43 RN 2. 402 RGBl. S. 1604. 399

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

99

Abs. 6). Die Änderungen betrafen zwei Punkte: Zum einen konnte das Gericht die Unterbleibensanordnung ohne Anhörung der Staatsanwaltschaft treffen und zum anderen wurde die Prämisse der fehlenden Abarbeitungsmöglichkeit der Geldstrafe gestrichen. Die Literatur postulierte jedoch eine weitgehende Zurückhaltung bei der Anwendung der Vorschrift des § 29 Abs. 6 RStGB.403 Die bloße Zahlungsunfähigkeit sollte nicht ausreichen.404 Sie musste durch besondere hinzukommende Umstände herbeigeführt worden sein, die einen ausnahmsweisen Entschuldigungsgrund dafür abgaben, dass die Mittel zur Zahlung der Geldstrafe fehlten.405 Als Beispiele für die unverschuldete Uneinbringlichkeit kamen in Betracht: Plötzlicher unverschuldeter Vermögensverlust, durch unverschuldete Krankheit oder andere Umstände eingetretene Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunmöglichkeit.406 Dabei ist zu beachten, dass die Anordnung nicht zu einem völligen oder teilweisen Erlass der Strafe führte.407 Hatten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten wieder verbessert, so konnte die Geldstrafe beigetrieben werden.408 Die Vorschrift des § 29 Abs. 4 StGB409 galt bis zum 31.12.1974, als das EGStGB den § 459f in die StPO einfügte. § 459f StPO ist § 29 Abs. 4 StGB a. F. mit drei Abweichungen nachgebildet: Zum einen ist die bisherige Kann-Vorschrift in eine Muss-Vorschrift umgewandelt worden, zum anderen wird „unbillige Härte“ als Voraussetzung einer Unterbleibensanordnung gefordert und zum dritten verzichtete der § 459f StPO auf das Verschuldenselement. Dementsprechend muss das Gericht auf Antrag des Verurteilten oder auf Anregung der Vollstreckungsbehörde anordnen, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unterbleibt, wenn sie für den Verurteilten eine unbillige Härte wäre. Auch bei dieser Klausel, wie dies gewöhnlich bei unbestimmten Rechtsbegriffen der Fall ist, tauchen Interpretationsprobleme auf. Was unter „unbillige Härte“ zu verstehen ist, bleibt im Einzelnen umstritten.410 Nach Fischer liegt „eine unbillige Härte“ nur dann vor, „wenn die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe eine außerhalb des Strafzwecks liegende zusätzliche Härte bedeuten würde.“411 Die Vorschrift soll demgemäß nur dann Anwendung finden, „wenn es dem Verurteilten 403 404 405 406 407 408 409 410 411

LK-Lobe, § 29 Anm. 11. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Schönke (1951), § 29 Anm. IV.2, m. w. N. Ebenda. Abs. 6 des § 29 StGB wurde auf der Grundlage des 1. StrRG zu Abs. 4. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 11. Fischer/Tröndle (2006), § 43 RN 10.

100

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

auch bei äußersten Anstrengungen nicht möglich ist, ratenweise Mittel für die Strafe aufzubringen, und zu erwarten ist, dass allein die Verhängung der Strafe die Strafwirkung erzielt hat.“412 Einigkeit besteht auf der theoretischen Ebene wohl inzwischen weitgehend darüber, dass die unbillige Härte sich nicht mit der unverschuldeten Zahlungsunfähigkeit deckt.413 Im Vergleich zu § 29 Abs. 4 StGB a. F., nach dem die Ersatzfreiheitsstrafe unterbleiben konnte, wenn der Verurteilte ohne sein Verschulden außerstande war, die Geldstrafe zu zahlen oder durch freie Arbeit zu tilgen, bedeutet § 459f StPO ohne Zweifel eine Verschärfung. „Diese relative Strenge bei der Anwendung dieser Vorschrift rechtfertigt sich daraus, daß zum einen niemand allein wegen seiner Mittellosigkeit mit Freiheitsstrafe belegt werden darf (. . .), es aber zum anderen ebensowenig gerechtfertigt wäre, wegen (verschuldeter oder unverschuldeter) Vermögenslosigkeit von der Verhängung einer (Geld-)Strafe überhaupt abzusehen.“414

In der Praxis wird jedoch auch an ein Verschuldenselement angeknüpft.415 Krankheit, unverschuldeter Verlust des Arbeitsplatzes, die Situation einer zahlungsunfähigen Hausfrau, die Kinder zu versorgen hat, sind Beispiele, die in der Kommentarliteratur am meisten angeführt werden. Aber auch für einen Süchtigen könnte die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe eine unbillige Härte darstellen, wenn sie die Aufnahme in eine Therapieeinrichtung gefährdet.416 Obwohl § 459f StPO eine Muss-Vorschrift ist417, zeigen dazu vorliegende Untersuchungen, dass die Praxis von der Härteklausel des § 459f StPO selten Gebrauch macht. Dies traf auch schon auf § 29 Abs. 4 StGB a. F. zu. Albrecht stellte fest, dass in den 1.540 Akten aus dem Jahr 1972 kein Fall der Anwendung des § 29 Abs. 4 StGB a. F. oder des § 459f StPO aufzufinden war.418 Obwohl dies für § 459f StPO verständlich ist (die Vorschrift gilt seit 1.1.1975 und die Datenerfassung wurde gegen Ende 1976 vorgenommen), lässt sich schwer eine Erklärung für die Abneigung der Praxis gegenüber § 29 Abs. 4 StGB a. F. finden. „Der von ihm erhobene Befund lässt sich verallgemeinern. Von § 459f StPO wird so gut wie kein Gebrauch gemacht. Die Praxis zeigt, daß von den Gerichten allein dann, wenn beispielsweise ein Gerichtshelfer im Rahmen der Arbeitsprojekte näheren Kontakt zum Verurteilten begründet hat und die Ableistung der gemeinnützigen Arbeit unmöglich erscheint – Beispiel: bei alleinerziehenden Eltern –, ein 412 413 414 415 416 417 418

Ebenda, m. w. N. OLG Düsseldorf MDR 1983, S. 341; Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 11. LK-Häger, § 43 RN 18; Vgl. BGHSt. 27, S. 94. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 11; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 43 RN 8. Schönke/Schröder/Stree (2001), § 43 RN 8; Schleswig StV 1998, S. 673. LK-Häger, § 43 RN 19, m. w. N. Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 252.

1. Abschn.: Die Entwicklung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB

101

Absehen von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe erfolgt. Zwar wird eine vermehrte Anwendung von § 459f StPO immer wieder gefordert, aber auch in Zukunft ist nicht zu erwarten, daß die Gerichte in einem wesentlich höheren Umfang von § 459f StPO Gebrauch machen. Dies liegt zum einen in der von § 459f StPO normierten Voraussetzung, daß eine ‚unbillige Härte‘ vorliegen muß. Dies gibt schon vor, daß nur in Ausnahmefällen von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abgesehen werden soll. Durch die Möglichkeit der Abarbeitung werden sich auch in Zukunft die Gerichte abhalten lassen, das Absehen von der Vollstreckung anzuordnen, da sie die Abarbeitung der Geldstrafe voraussetzen werden. Dies in Zusammenhang mit der engen gesetzlichen Fassung läßt eine Ausweitung der Anwendung von § 459f StPO kaum erwarten.“419

Auch Feuerhelm hat in seiner Untersuchung festgestellt, dass die Härteklausel des § 459f StPO für die Praxis nahezu ohne Bedeutung ist. Nur in 0,1% der untersuchten Fälle kam diese Erledigungsform zur Anwendung.420 Die relativ seltene Anwendung des § 459f StPO lässt sich auch damit erklären, dass es sich bei den Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern meistens um randständige Personen handelt, deren soziale Kompetenz sich überwiegend als gering erweist. Von dieser Gruppe zu erwarten, dass sie einen Antrag auf Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe auf der Grundlage von § 459f StPO stellen werden, grenzt an Naivität. Man kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermuten, dass sie über diese Vorschrift gar nichts wissen. Dass die Vollstreckungsbehörde keine Initiative in dieser Hinsicht zeigt, kann nicht verwundern, weil Institutionen regelmäßig auch eigene Interessen verfolgen. Die erfolgversprechende Lösung könnte allenfalls in einer effektiven Rechtshilfe für diese Personen liegen. Schließlich soll betont werden, dass die Anordnung nach § 459f StPO lediglich den Aufschub der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe bewirkt. Das Gericht kann die Anordnung daher widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen nachträglich entfallen sind, wenn sich z. B. die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten so gebessert haben, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe keine unbillige Härte mehr darstellt.421 Die Vorschriften zur Vollstreckung der Geldstrafe schließen den Teil der vorliegenden Untersuchung ab, in dem die wesentlichen Aspekte der Regelungen zur Geldstrafe im deutschen (R)StGB dargestellt werden sollten. Aus alledem ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber viel dafür getan hat, der selbstständigen Geldstrafe eine starke Stellung in der gegenwärti419

Bublies, BewHi 1992, S. 193. Feuerhelm, Gemeinnützige Arbeit als Alternative in der Geldstrafenvollstreckung, S. 69–70. 421 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 459f RN 3, m. w. N. 420

102

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

gen Sanktionierungspraxis zu sichern. Es wird zu zeigen sein, dass sich die Entwicklung der Rechtsgrundlagen zur Geldstrafe im deutschen Strafrecht ganz erheblich von der Entwicklung der diesbezüglichen polnischen Rechtslage unterscheidet (Dritter Abschnitt des vorliegenden Kapitels). Bevor auf diese Unterschiede eingegangen wird, muss jedoch zunächst die Entwicklung der Rechtsgrundlagen zur Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes näher dargestellt werden. Zweiter Abschnitt

Die Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe 1. Die selbstständige Geldstrafe Der Anwendungsbereich der selbstständigen Geldstrafe erfuhr im Rahmen der polnischen Strafrechtskodizes eine langsame, aber systematische Erweiterung. In diesem Prozess lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die erste Etappe bildete der kodeks karny von 1932 (im Folgenden: KK von 1932), der der selbstständigen Geldstrafe eine eher bescheidene Rolle zuwies422 (a). Eine relative Erweiterung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe brachte der KK von 1969 (b). Die dritte Etappe eröffnete der KK von 1997; eines seiner Hauptziele lag in der Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe (c). Im Folgenden wird auf die Regelungen der einzelnen Vorschriften und ihre Auswirkungen in der Praxis eingegangen. a) KK von 1932 Nach Makarewicz, einem der wichtigsten Schöpfer des KK von 1932,423 sollte in diesem Kodex der Schwerpunkt der strafrechtlichen Sanktionen für Kleinkriminalität bei der selbstständigen Geldstrafe liegen.424 Der Anwendungsbereich der Geldstrafe war im Gesetz jedoch relativ gering.425 Das 422 Bafia, NP 5/1964, S. 449; Pawela, Wykonanie orzeczen ´ w sprawach karnych, S. 191–192. 423 Sójka-Zielin ´ ska, Historia prawa, S. 308; Bardach/Les´nodorski/Pietrzak, Historia ustroju i prawa polskiego, S. 553; Warylewski, Palestra 5–6/1999, S. 78; Płaza, Historia prawa w Polsce na tle porównawczym, Band III, S. 327. 424 Makarewicz, S. 212.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 103

Gericht konnte eine Geldstrafe allein auf der Grundlage der Vorschriften des Besonderen Teils sowie der Vorschriften über die außerordentliche Strafmilderung (Art. 59 § 1 Punkt d KK von 1932) verhängen. Im Besonderen Teil fand sich keine Vorschrift, die ausschließlich die Geldstrafe vorsah. Die Geldstrafe war alternativ mit der Freiheitsstrafe in nur 28 Vorschriften426 vorgesehen. Wirschubski hat bei der Analyse des KK von 1932 schon im Jahre 1933 ausgeführt: „Die Regelung der Geldstrafe im polnischen StGB gibt zu manchen Bedenken Anlaß. Vor allem ist u.E. die Beschränkung der Anwendung der Geldstrafe auf bestimmte Delikte verfehlt. Es entspricht dem Leitgedanken der Strafrechtsreform, dem Richter möglichst viele verschiedene Mittel zur Behandlung jedes einzelnen Täters an die Hand zu geben, um, ohne zu den Gesichtspunkten moralischer und ökonomischer Zweckmäßigkeit in Widerspruch zu treten, dessen Resozialisierung herbeizuführen.“427

Und weiter: „Die Abneigung der Verfasser des polnischen StGB gegen die Geldstrafe ging ursprünglich so weit, daß sie im zweiten Entwurf selbst für Beleidigung und Verleumdung (Art. 247/278 des zweiten Entwurfs) und Hausfriedensbruch (Art. 244 Abs. 1) obligatorisch Freiheitsstrafe vorschrieben. Indessen ist ihnen anscheinend die Lust, alle keifenden Megären der Hintertreppen Polens einzusperren, vergangen, so daß im dritten Entwurf und im StGB für diese Delikte schon alternativ Geldstrafe vorgesehen ist.“428

Dieser Kodex beinhaltete im Allgemeinen Teil keine generelle Klausel, die die Freiheitsstrafe alternativ zur Geldstrafe vorsah. Demzufolge waren die statistisch besonders bedeutsamen Straftaten wie z. B. der Diebstahl (Art. 257 § 1 KK von 1932) nur mit Freiheitsstrafe bedroht. Eine Präferenzklausel zugunsten der selbstständigen Geldstrafe wies nur eine Vorschrift auf – Art. 57 § 2 KK von 1932. Im Folgenden wird auf diese Vorschrift (aa) und die Regelung über die außerordentliche Strafmilderung (Art. 59 § 1 Punkt d KK von 1932) näher eingegangen (bb).

425 Änlich Melezini, Punitywnos ´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 47. 426 Art. 104 § 2, 124, 127, 128, 139, 145 § 1, 150 § 1, 159 § 1 und § 2, 161, 169, 178, 196, 215 § 2, 216 § 2, 217 § 2, 237 § 2, 239 § 1, 242 § 3, 252 § 1, 253 § 1 und § 2, 256 § 1, 262 § 3, 265, 270 § 1, 272 § 1, 280. 427 Wirschubski, Das polnische Strafgesetzbuch vom 11.7.1932 und die kriminalpolitischen Forderungen der Gegenwart, S. 25. 428 Ebenda, S. 26.

104

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

aa) Art. 57 § 2 KK von 1932 Die von Makarewicz beabsichtigte Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe sollte insbesondere durch Art. 57 § 2 des KK von 1932 verwirklicht werden, der eine klare Richtlinie hinsichtlich der Anwendung der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe aufstellte. Art. 57 § 2 des KK von 1932 lautete: „Falls das Gesetz dem Gericht die Wahl zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe gibt, verhängt das Gericht nur dann die Freiheitsstrafe, wenn eine Verurteilung zu einer Geldstrafe unzweckmäßig wäre.“429

Diese Vorschrift brachte die Idee zum Ausdruck, dass die Geldstrafe immer dann zur Anwendung kommen sollte, wenn sie wahlweise mit der Freiheitsstrafe vorgesehen war und eine Verurteilung zu einer Geldstrafe nicht „unzweckmäßig“ wäre. Die Präferenz zugunsten der Geldstrafe war somit ganz klar und fand eine Beschränkung nur im Begriff der „Unzweckmäßigkeit“, dessen Inhalt durch Lehre und Rechtsprechung ausgefüllt werden sollte. Makarewicz vermutete, dass die Fälle, in denen das Gericht wegen Unzweckmäßigkeit auf eine Geldstrafe verzichtete, eher selten auftreten würden. Er sah zwei Situationen voraus, in denen die Geldstrafe unzweckmäßig sein könnte. Zum einen, wenn die höchstmögliche Geldstrafe (200.000 zł) kein genügendes Übel für den Verurteilten darstellen würde, und zum anderen, falls von Anfang an ersichtlich war, dass die Geldstrafe vom Verurteilten nicht beigetrieben werden und er diese Strafe nicht abarbeiten konnte.430 Die Gerichte folgten dieser Auffassung weitgehend und verzichteten auf die Geldstrafe, falls der Verurteilte kein Vermögen besaß.431 Erst nach dem 2. Weltkrieg hat sich das Oberste Gericht dieser Praxis entgegengestellt. In einem Urteil aus dem Jahre 1954 brachte es eindeutig zum Ausdruck, dass die Höhe des Einkommens des Täters keinen Einfluss auf die Auswahl der Strafart haben könne, weil diese Annahme die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz antasten würde.432 In einem Urteil aus dem Jahre 1957 folgerte das Oberste Gericht, dass die Richter bei der Abwägung der Zweckmäßigkeit der Strafe bei Art. 57 § 2 KK von 1932 außer der materiellen Lage des Täters auch seinen Charakter, die Erziehungsmöglichkeiten und die Generalprävention berücksichtigen sollten.433 Eine ähnliche 429

Übersetzung vom Verf. Makarewicz, S. 212. Ähnlich: Jamontt/Rappaport, S. 308; Makowski, Art. 57 RN 5–6; Wolter, Zarys systemu prawa karnego, S. 74–75; Bafia, NP 5/1964, S. 456. 431 Goettel, Gł. S. 1938, S. 693. 432 Urteil vom 18. Dezember 1954, I KRN 1039/54, in: Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego z zakresu materialnego prawa karnego 1945–1957, S. 658. 433 Urteil vom 11. November 1957, OSN 2/1958, Pos. 26. 430

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 105

Position bezog das Oberste Gericht in seinen Richtlinien.434 Die Literatur stimmte dieser Auffassung zu.435 Eine weitere Beschränkung der Anwendung des Art. 57 § 2 KK von 1932 lag im Besonderen Teil des KK von 1932: Er enthielt – wie bereits erwähnt – lediglich 28 Vorschriften436, die die Geldstrafe alternativ zur Freiheitsstrafe vorsahen, so dass von einer weitgehenden Anwendung des Art. 57 § 2 KK von 1932 keine Rede sein konnte. Der Besondere Teil des KK von 1932 war primär auf die Freiheitsstrafe bezogen und die Präferenzklausel zugunsten der Geldstrafe im Allgemeinen Teil hatte eher symbolischen Charakter, der keine praktischen Wirkungen entfalten konnte. bb) Art. 59 § 1 Punkt d KK von 1932 Der KK von 1932 sah die Möglichkeit der außerordentlichen Strafmilderung in Art. 59 vor. Neben den Bestimmungen über die Ersetzung der Todesstrafe und die Milderung der Freiheitsstrafe wies Art. 59 § 1 Punkt d KK von 1932 die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe in Fällen auf, die mit Arreststrafe bedroht waren. Um eine Geldstrafe anstelle der Arreststrafe zu verhängen, musste eine Vorschrift des Allgemeinen oder des Besonderen Teils dies zulassen. Im Allgemeinen Teil ließen folgende Vorschriften die außerordentliche Strafmilderung zu: Art. 18 § 1 (Verminderte Schuldfähigkeit), Art. 20 § 2 (gegenüber einem Täter, der in entschuldbarer Unkenntnis der Rechtswidrigkeit handelte), Art. 21 § 2 und Art. 22 § 4 (bei Überschreitung der Notwehr und des Notstands), Art. 24 § 2 (beim untauglichen Versuch), Art. 29 § 2 (gegenüber dem Anstifter und dem Gehilfen beim Unterbleiben des Versuchs einer verbotenen Straftat), Art. 30 § 2 (gegenüber dem Anstifter oder dem Gehilfen, der die Folgen seiner Handlung zu verhindern versucht hat), Art. 76 § 1 (gegenüber einem Täter, der eine Straftat nach der Vollendung des 13. Lebensjahres begangen hat und bei dem das Verfahren nach der Vollendung des 17. Lebensjahres eingeleitet wurde), Art. 77 (gegenüber einem Täter, der zur Unterbringung in einem Erziehungshaus verurteilt wurde, aber vor Vollstreckung des Urteils das 20. Lebensjahr vollendet hat). Nach Art. 76 § 1 KK von 1932 und Art. 77 KK von 1932 war die Anwendung der Strafmilderung obligatorisch. In den übrigen Fällen lag es im Ermessen des Gerichts, ob eine Strafe gemildert wurde. Die ursprüngliche 434 435 436

OSN 2/1962. Bafia, NP 5/1964, S. 456; Siewierski, Art. 56 RN 6. Siehe Fußnote 426.

106

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Fassung des KK von 1932 beinhaltete insgesamt 89 Strafandrohungen,437 die auf der Grundlage der außerordentlichen Strafmilderung zu einer Geldstrafe führen konnten. Im Besonderen Teil fanden sich lediglich 3 Vorschriften, die im Wege der Strafmilderung die Ersetzung einer Arreststrafe durch Geldstrafe zuließen: Art. 142 KK von 1932 (Berichtigung einer falschen Angabe), Art. 262 § 4 KK von 1932 (Unterschlagung geringwertiger Sache für den Eigenbedarf), Art. 263 § 2 KK von 1932 (Sachbeschädigung in minder schweren Fällen). Schließlich soll noch auf die Auswirkungen der Einführung des KK von 1932 auf die Sanktionierungspraxis eingegangen werden. Es ist jedoch zunächst hervorzuheben, dass die entsprechenden Zahlen sehr vorsichtig interpretiert werden müssen, weil die Änderungen auch anderen Faktoren als der geänderten Sanktionierungspraxis zuzurechen sind: So wurden insbesondere Daten aus den Jahren 1932–1936 nach einer anderen Methode als im Jahre 1937 in der Statistik erfasst.438 Dementsprechend können die Daten aus dem Jahre 1937 mit den Daten aus den vorangehenden Jahren nicht unmittelbar verglichen werden. Aber schon vor der Änderung der Methode bei der Erfassung der statistischen Daten ist der Anteil der Geldstrafen an allen Verurteilungen deutlich gesunken. Hatte die Geldstrafe im Jahre 1932 noch einen Anteil in Höhe von 51,5% (374.928) an allen Verurteilungen, so lässt sich im Jahre 1936 nur noch ein Anteil in Höhe von 22% (108.294) feststellen. Die Abbildung 6 zeigt die Entwicklung der Sanktionierungspraxis in den Jahren 1932–1937. Auffallend ist zudem, dass der Anteil der (bedingten) Freiheitsstrafen unter der Geltung des KK von 1932 im angezeigten Zeitraum signifikant zugenommen hat. Während Arrest- und Gefängnisstrafen im Jahre 1932 noch 48% (351.788) der verhängten Strafen ausmachten, stieg ihr Anteil an allen Verurteilungen im Jahre 1937 auf 87,3% (305.661) an. In der Praxis überwogen jedoch die kurzen Freiheitsstrafen (Arreststrafen), deren Obergrenze die Lehre damals überwiegend bei 6 Monaten gesehen hat.439 Die Freiheits437 Art. 100 § 2, 103, 105 § 4, 111 § 2, 112 § 1, 115, 117, 118, 119, 120, 129, 130, 132 § 1 und § 2, 136, 138, 140 § 1, 143, 144, 146, 147, 148 § 1, 150 § 2 und § 3, 151 § 1 und § 2, 152, 153, 154 § 1, 155 § 1, 156, 157, 162, 164 § 1 und § 2, 165 § 1 und § 2, 168, 170, 174, 181, 182, 189, 191, 192 § 1 und § 2, 193, 195, 201 § 1 und § 2, 202, 213, 214 § 1 und § 2, 215 § 2, 216 § 2, 222 § 1 und § 2, 223, 224, 227, 231, 236 § 2, 237 § 1, 238 § 1, 243 § 2, 244, 245 § 1, 247, 250, 251, 254 § 1 und § 2, 255 § 1, 262 § 1 und § 2, 263 § 1, 266, 268, 271, 273, 277, 282, 283 § 1 und § 2, 284, 286 § 3, 288, 289 § 3. 438 Siehe dazu: Melezini, Punitywnos ´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 293, m. w. N. 439 Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci w Polsce, S. 21, m. w. N.

Anzahl

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 107 400 000 350 000 300 000 250 000 200 000 150 000 100 000 50 000 0

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe

1932

1933

1934

1935

1936

1937

Jahr Ohne Todesstrafen. Die Daten aus dem Jahre 1937 erfassen nicht die Verurteilungen aus der Privatklage. Im Jahre 1937 wurden auf der Grundlage der Privatklage 29.190 Freiheitsstrafen und 15.159 Geldstrafen verhängt. Quelle der Daten: Kleine statistische Jahrbücher (Małe Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1934–1939.

Abb. 6: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1932–1937

strafen bis zu einschließlich 6 Monaten machten im Jahre 1937 fast 85% aller Freiheitsstrafen aus. Der KK von 1932 sah jedoch keine Vorschrift vor, die anstelle der kurzen Freiheitsstrafe eine Geldstrafe bevorzugt hätte. Art. 57 § 2 KK von 1932 stellte nur eine generelle Klausel zugunsten der Geldstrafe dar, die aber nur mittelbar der Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe diente. b) KK von 1969 Dem KK von 1969 lagen zwei Ideen zugrunde: Die „Polarisierung“ der strafrechtlichen Verantwortung440 und die Beschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafen441. Die Geldstrafe sollte nach der Ansicht der Schöpfer des KK von 1969 zur Realisierung dieser Ziele beitragen.442 Es ist dabei jedoch zu beachten, dass man die Geldstrafe in den sozialistischen Staaten eher kritisch beurteilte.443 Nach einer weit verbreiteten Auffassung gab sie den 440 Das hieß, dass mildere Strafen bei kleiner und mittlerer Kriminalität verhängt werden sollten, dagegen härtere Strafen bei Schwerkriminalität zur Anwendung kommen sollten. Siehe dazu: Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 270. 441 Projekt Kodeksu Karnego, Uzasadnienie, S. 1, 107. 442 Projekt Kodeksu Karnego, Uzasadnienie, S. 1, 107. 443 Marek, Prawo karne – zagadnienia teorii i praktyki (1997), S. 259.

108

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Reichen, insbesondere in den kapitalistischen Staaten, die Möglichkeit, sich leicht von der strafrechtlichen Verantwortung freizukaufen, dagegen mussten die Armen wegen Mittellosigkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen.444 Daher kann der Befund nicht verwundern, dass die selbstständige Geldstrafe grundsätzlich in der Sanktionierungspraxis der sozialistischen Staaten keine wesentliche Rolle spielte.445 Es überrascht deshalb, dass der gesetzliche Anwendungsbereich der Geldstrafe unter der Geltung des KK von 1969 systematisch erweitert wurde, wobei festzuhalten ist, dass schon die ursprüngliche Fassung des KK von 1969 im Vergleich zum KK von 1932 einen wesentlich weiteren Anwendungsbereich der Geldstrafe vorsah.446 Neben zahlreicheren Strafandrohungen des Besonderen Teils447 und der weiter gehenden Vorschriften über die Strafmilderung (Art. 57 § 3 Ziff. 3 StGB) führte der KK von 1969 eine dem KK von 1932 unbekannte Klausel in den Allgemeinen Teil ein, die die Ersetzung der Freiheitsstrafen von bestimmter Dauer (sie unterlag gewissen Änderungen) durch die Geldstrafe erlaubte (Art. 54 § 1 KK von 1969). Der KK von 1969 verzichtete allerdings auf eine Präferenzklausel zugunsten der Geldstrafe, wie sie der KK von 1932 in Art. 57 § 2 vorsah. Dementsprechend lag es nach dem neuen Gesetz vollkommen im Ermessen des Gerichts, ob eine Geldstrafe verhängt wurde. Im Folgenden soll auf den Inhalt der einzelnen Vorschriften näher eingegangen werden. aa) Art. 54 KK von 1969 Bevor auf den Inhalt der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 näher eingegangen wird, sei er zunächst in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahre 1969 wiedergegeben: „§ 1. Droht das Gesetz nur Freiheitsstrafe an, wobei die untere Androhungsgrenze drei Monate nicht übersteigt und die verhängte Freiheitsstrafe nicht höher als 444 Ebenda, S. 259. Eine solche Auffassung vertrat z. B. Buchała. Siehe dazu Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 85; ders., Prawo karne materialne, S. 532. 445 Zielin ´ ska, Kary nie zwia˛zane z pozbawieniem wolnos´ci w ustawodawstwie i praktyce sa˛dowej pan´stw socjalistycznych, S. 15. 446 Projekt Kodeksu Karnego, Uzasadnienie, S. 107; Klemke/Wojciechowski, Grzywna jako kara, jej wymiar i wykonanie, BS 3/1983, S. 3. 447 Der Besondere Teil des KK von 1969 beinhaltete 45 Vorschriften, die die Geldstrafe neben Freiheitsstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe vorsahen: Art. 146, 147 § 1 und § 2, 156 § 3, 160 § 3, 163 § 2, 166, 167 § 1, 171 § 1, 172 § 1 und § 2, 173 § 1 und § 2, 177, 178 § 1, 181 § 1, 182 § 1, 189 § 2, 191 § 2, 198, 199 § 2, 203 § 2, 204 § 3, 205 § 2, 216, 228, 236, 237, 238, 241 § 2, 246 § 3, 251, 255 § 1 und § 2, 257 § 2, 258, 259, 265 § 2 und § 3, 266 § 3, 267, 282, 284 § 2, 285, 288 § 2.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 109 6 Monate wäre, so kann das Gericht dann, wenn die Verhängung einer solchen Strafe unzweckmäßig wäre, eine Freiheitsbeschränkungs- oder Geldstrafe verhängen. § 2. Die Bestimmung des § 1 findet keine Anwendung auf den Täter eines vorsätzlichen Vergehens, der bereits früher für eine vorsätzliche Straftat mit Freiheitsstrafe bestraft worden ist.“448

Die Einführung des Art. 54 KK von 1969, den der KK von 1932 nicht kannte, diente vor allem der Verdrängung der unerwünschten kurzen Freiheitsstrafen,449 deren Obergrenze nach Auffassung des Gesetzgebers aus dem Jahre 1969 bei 6 Monaten lag.450 Nach dem Wortlaut des Art. 54 KK von 1969 hatte die Geldstrafe keine Präferenz zu Lasten der Freiheitsbeschränkungsstrafe. Damit wurde eine Konkurrenz zwischen Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe innerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 54 KK von 1969 hervorgerufen und auf diese Weise die potentielle Anwendung der Geldstrafe geschwächt. Die Regelung des Art. 54 § 1 KK von 1969 wurde als Kann-Vorschrift formuliert. Daher entstand keine Pflicht für den Richter, Gebrauch von der Vorschrift zu machen. Es lag im freien Ermessen des Richters, ob die kurze Freiheitsstrafe (bis zu 6 Monaten) durch die Geldstrafe oder durch die Freiheitsbeschränkungsstrafe ersetzt wurde. Die Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 gab somit lediglich die Möglichkeit, entweder auf eine Geldstrafe oder eine Freiheitsbeschränkungsstrafe zu erkennen, wenn die Strafandrohung eines bestimmten Straftatbestandes nur Freiheitsstrafe vorsah. Das Gesetz präzisierte auch nicht den Begriff der „Unzweckmäßigkeit“, der in einem anderen Kontext schon bei Art. 57 § 2 KK von 1932 eine Rolle spielte. Seinerzeit konnte – wie erwähnt – das Gericht gemäß Art. 57 § 2 KK von 1932 von Geldstrafe absehen, wenn eine Verurteilung zu Geldstrafe unzweckmäßig war. Im Zusammenhang des Art. 54 § 1 KK von 1969 taucht dieser Begriff nun in Verbindung mit der Freiheitsstrafe wieder auf. Die herrschende Meinung vertrat die Auffassung, dass die Spezialprävention in diesem Punkt im Vordergrund stehen sollte, d.h. die Freiheitsstrafe war immer dann unzweckmäßig, wenn sie zur Erziehung des Täters nicht notwendig war.451 Manche Autoren sprachen sich auch für die Be448 Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex, 1970. Zu Freiheitsbeschränkungsstrafe im KK von 1997 siehe Fußnote 18 in der Einleitung. 449 Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 54 RN 1; Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 54 RN 1. 450 Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci w Polsce, S. 181. 451 Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 177; Andrejew/S´wida/Wolter, Art. 54 RN 4; Andrejew, Polskie prawo karne w zarysie, S. 288; Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 54 RN 3; Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 103; Bafia, Polskie prawo karne, S. 225.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

rücksichtigung der Generalprävention aus.452 Zudem erachtete Sługocki die Verhängung einer Freiheitsstrafe für zweckmäßig, wenn das Gericht zu der Schlussfolgerung kam, dass der Verurteilte eine Geldstrafe nicht zahlen werde.453 Als Beispiel nannte er einen Alkoholiker ohne festen Beruf und Vermögen.454 Wie schon unter der Geltung des Art. 57 § 2 KK von 1932 wurde die Geldstrafe nach Auffassung von Sługocki demnach mit der finanziellen Leistungsfähigkeit des Verurteilten verbunden.455 Damit aber wurde der Anwendungsbereich der Geldstrafe eingeschränkt. Außerdem hat der KK von 1969 zwei Beschränkungen für die Anwendung des Art. 54 § 1 KK von 1969 eingeführt. Die erste enthält Art. 54 § 2 KK von 1969. Danach kann die Vergünstigung des Art. 54 § 1 KK von 1969 auf denjenigen Täter eines vorsätzlichen Vergehens456 keine Anwendung finden, der bereits früher für eine vorsätzliche Straftat mit Freiheitsstrafe bestraft worden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach der herrschenden Lehre schon die vorherige Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe die Anwendung des Art. 54 § 1 KK von 1969 ausschloss.457 Eine weitere Einschränkung der Anwendbarkeit des Art. 54 § 1 KK von 1969 sah Art. 59 § 2 KK von 1969 vor. Danach war die Vergünstigung des Art. 54 § 1 KK gegenüber dem Täter eines vorsätzlichen Vergehens „hooliganischer Natur“458 ausgeschlossen, es sei denn, dass besondere Umstände hinzutraten. 452 Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 178; Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 54 RN 3; Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 103. 453 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 103. 454 Ebenda. 455 Ähnlich Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 36 RN 15. 456 Das Gesetz sprach nur über Vergehen (wyste ˛ pek), weil Verbrechen (zbrodnia) angesichts der unteren Androhungsgrenze der Freiheitsstrafe (mindestens 3 Jahre) von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Art. 54 § 1 KK von 1969 herausfielen. 457 So Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 54 RN 8; Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 104. 458 Eine Legaldefinition dieses Begriffes fand sich in Art. 120 § 14 KK von 1969. Er lautete: „Hooliganischer Natur sind Vergehen, die sich in einem vorsätzlichen Angriff auf die öffentliche Sicherheit, auf die Gesundheit, Freiheit, persönliche Würde bzw. die Integrität des Menschen, auf ein Organ der Staatsgewalt oder der Staatsverwaltung bzw. auf die Tätigkeit einer staatlichen oder gesellschaftlichen Institution, auf die öffentliche Ordnung oder in einer vorsätzlichen Vernichtung oder Beschädigung von Vermögenswerten äußern, sofern der Täter öffentlich und nach allgemeiner Ansicht grundlos oder aus einem nichtigen Anlass gehandelt und dadurch seine grobe Mißachtung der Hauptgrundsätze der Rechtsordnung bekundet hat.“ Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 111

Trotz der obigen gesetzlichen Einschränkungen war den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 § 1 aus der Perspektive des Besonderen Teils des KK von 1969 nicht klein. Insgesamt 60 Vorschriften459 lassen sich feststellen, deren Strafenkatalog auf der Grundlage des Art. 54 § 1 KK um Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe erweitert wurde. Wieder jedoch blieben die statistisch bedeutsamsten Straftaten wie z. B. Diebstahl (Art. 203 § 1 KK von 1969) oder Misshandlung eines Verwandten (Art. 184 § 1 KK von 1969) außerhalb des Anwendungsbereiches der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969. Auf der Grundlage einer Änderung des Strafrechtskodexes, die das Gesetz vom 10. Mai 1985460 herbeigeführt hatte, wurde die Anwendung der Vorschrift auf die Fälle erweitert, in denen das vermutete Strafmaß ein Jahr Freiheitsstrafe nicht übersteigen würde. Im Jahre 1995461 hat sich der Gesetzgeber entschieden, noch weiter zu gehen, indem der bisherige Art. 54 KK von 1969 den folgenden Wortlaut erhielt: „Droht das Gesetz nur Freiheitsstrafe an, wobei die obere Androhungsgrenze 5 Jahre nicht übersteigt und die verhängte Freiheitsstrafe nicht höher als 1 Jahr wäre, so kann das Gericht dann, wenn die Verhängung einer solchen Strafe unzweckmäßig wäre, eine Freiheitsbeschränkungs- oder Geldstrafe verhängen.“462

Zunächst fällt auf, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 wesentlich erweitert wurde. Alle Straftaten, derer Androhungsgrenze fünf Jahre nicht überstieg, konnten auf der Grundlage des Art. 54 KK von 1969 nunmehr mit Freiheitsbeschränkungs- oder Geldstrafe bestraft werden. Es lassen sich insgesamt 115 Tatbestände463 im Besonde459 Art. 137 § 2, 139 § 2, 145 § 1, 154 § 1 und § 2, 155 § 2, 156 § 2, 158 § 1, 160 § 1, 161, 162 § 1, 164 § 1, 178 § 2, 185, 186 § 1 und § 2, 190, 192, 193 § 1, 196, 197 § 1, 204 § 1, 214 § 1, 219, 221 § 2 und § 3, 222, 223 § 1 und § 2, 224 § 1 und § 2, 225 § 1 und § 2, 229 § 1 und § 2, 230, 231, 235, 245, 247 § 1, 250 § 1, 252 § 1, 256 § 1, 260 § 3, 262 § 1, 262 § 2, 263, 264 § 1, 268, 269, 271 § 1, 274 § 1, 278 § 1, 280 § 1, 281, 283 § 3, 284 § 1, 286, 287, 288. 460 Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 85.23.100. 461 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. Das Gesetz trat am 20.11.1995 in Kraft. 462 Übersetzung vom Verf. 463 Art. 132, 137 § 2, 139 § 2, 140 § 2, 142, 144, 145 § 1, 149, 149a, 150, 151, 152, 155 § 2, 156 § 1, 156 § 2, 156a § 1, 158 § 1, 159, 160 § 1, 160 § 2, 162 § 1, 163 § 1, 164 § 1, 165 § 1, 170 § 1, 175, 178 § 2, 183 § 1, 184 § 1, 185, 186 § 1, 186 § 2, 187 § 1, 188, 189, 190, 191 § 1, 192, 193, 196, 197 § 1, 199 § 1, 203 § 1, 204 § 1, 204 § 2, 205 § 1, 206, 207, 210 § 11, 212 § 1, 213 § 1, 214 § 1, 215 § 1, 218 § 1, 219, 221 § 1, 221 § 2, 221 § 3, 222, 223 § 1, 223 § 2, 224 § 1, 224 § 2,

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

ren Teil des KK von 1969 feststellen, die damit in den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 fielen. Diese Änderung sollte nicht unterschätzt werden. Betrachtet man allerdings z. B. die Strafandrohungen bei Diebstahl (Art. 199 KK von 1969, Art. 203 KK von 1969) oder bei der Fälschung von Dokumenten (Art. 265 KK von 1969), deren Anteil in der Strafzumessungspraxis bedeutend war, so zeigt sich, dass die Gerichte in Polen bis 1995 Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe für diese Straftaten nur im Falle der Annahme eines minder schweren Falles oder auf der Grundlage einer außerordentlichen Strafmilderung (Art. 57 KK von 1969) verhängen konnten. Den Anwendungsbereich der terte auch die Aufhebung der 1969 und des Art. 59 § 2 KK Wiederholungstäter und Täter Geldstrafe bestrafen.

Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 erweiBeschränkungen des Art. 54 § 2 KK von von 1969. Das Gericht konnte somit auch von Straftaten „hooliganischer Natur“ mit

bb) Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 Auch der Anwendungsbereich der Strafmilderung wurde im KK von 1969 im Vergleich zum KK von 1932 wesentlich erweitert.464 Außer den Rechtsgrundlagen, die der KK von 1932 vorsah, führte der KK von 1969 die Vorschriften zur Strafmilderung ein, die dem KK von 1932 vollkommen unbekannt waren. Die Geldstrafe erlangte somit im Rahmen der außerordentlichen Strafmilderung noch größere Bedeutung. Die Verhängung einer Geldstrafe statt Freiheitsstrafe auf der Grundlage der außerordentlichen Strafmilderung war bei Vergehen zulässig, die mit einer Freiheitsstrafe unter einem Jahr bedroht waren und wenn eine Vorschrift des Allgemeinen Teils oder des Besonderen Teils eine Strafmilderung zuließ (Art. 57 § 1 und § 3 Ziff. 3 KK von 1969). Dementsprechend stand der Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 in vielen Fällen in Konkurrenz zum bereits besprochenen Art. 54 § 1 KK von 1969. Nach Melezini sollte Art. 54 § 1 KK von 1969 grundsätzlich immer vor dem Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 zur Anwendung kommen, falls die Voraussetzungen der bei225 § 1, 225 § 2, 227 § 3, 227 § 4, 229 § 1, 229 § 2, 230, 231, 235, 239 § 1, 241 § 1, 242, 246 § 1, 247, 248, 249, 250, 252 § 1, 254 § 1, 256 § 1, 256 § 2, 257 § 1, 260, 260 § 1, 260 § 3, 262 § 1, 262 § 2, 263, 264 § 1, 264 § 2, 265 § 1, 266 § 1, 266 § 2, 268 § 1, 269, 271 § 1, 271 § 2, 272, 273 § 2, 274 § 1, 274 § 2, 275 § 1, 276 § 1, 278 § 1, 278 § 2, 278 § 3, 279, 280, 281, 283 § 2, 283 § 3, 284 § 1, 288 § 1. 464 Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 57 RN 8; Wojciechowska, in: Skupin´ski (Hrsg.), Polityka karna w Polsce, S. 126; Niewiadomska, Grzywna w polskim prawie karnym, S. 110.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 113

den Vorschriften erfüllt waren.465 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass Art. 54 § 2 KK von 1969 und Art. 59 § 2 KK von 1969 bestimmte Täter aus dem Anwendungsbereich des Art. 54 § 1 KK von 1969 ausschließen, so dass in diesen Fällen Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 statt des Art. 54 § 1 KK von 1969 zur Anwendung kommen sollte. Würde man die Vorschriften des Besonderen Teils ausschließen, die in den Anwendungsbereich des Art. 54 § 1 KK von 1969 fielen, so würde sich erweisen, dass Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 insgesamt 73 Vorschriften des Besonderen Teils erfasste.466 Das ist weniger als im KK von 1932, der in 89 Fällen die Verhängung der Geldstrafe statt Freiheitsstrafe bei Strafmilderung zuließ, aber der KK von 1932 kannte keine Vorschrift wie den Art. 54 § 1 KK von 1969, der in Konkurrenz zu den Vorschriften über die Strafmilderung stand. Im Allgemeinen Teil des KK von 1969 wiesen folgende Vorschriften auf die Möglichkeit der Strafmilderung hin: Art. 57 § 1 KK (gegenüber einem Minderjährigen), Art. 57 § 1 KK (in besonders begründeten Fällen gegenüber einem Heranwachsenden), Art. 12 § 2 KK (beim untauglichen Versuch), Art. 13 § 2 KK (gegenüber einem Täter, der freiwillig die Folgen der Straftat zu verhindern versucht hat), Art. 20 § 2 KK (gegenüber dem Anstifter und dem Gehilfen beim Unterbleiben des Versuchs einer verbotenen Straftat), Art. 21 § 2 KK (gegenüber dem Anstifter oder dem Gehilfen, der freiwillig die Ausführung der verbotenen Tat zu verhindern versucht hat), Art. 22 § 3 KK und Art. 23 § 2 KK (Überschreitung der Grenzen der Notwehr und des Notstands), Art. 24 § 3 KK (gegenüber einem Täter, der in Unkenntnis der Rechtswidrigkeit gehandelt hat, wenn er den Irrtum vermeiden konnte) und Art. 25 § 2 KK (bei verminderter Schuldfähigkeit). Im einzelnen kann den Unterschieden zum KK von 1932 hier nicht mehr nachgegangen werden. Es genügt die Feststellung, dass die bereits erwähnten Rechtsgrundlagen des KK von 1969 mit dem KK von 1932 vergleichbar sind, wobei der KK von 1932 die Strafmilderung bei dem Täter, der die Folgen der Straftat zu verhindern versucht hat (Art. 13 § 2 KK von 1969), nicht zuließ. Der KK von 1932 kannte auch keine Vorschrift wie Art. 57 § 2 KK von 1969. Nach dieser Regelung konnte das Gericht die Strafe in besonders begründeten Ausnahmefällen mildern, „in denen selbst die niedrigste für diese Straftat vorgesehene Strafe unangemessen hart wäre, insbesondere in nachfolgenden Fällen: 1. bei Berücksichtigung des Verhaltens des Täters, insb. wenn er sich um den Ersatz oder um die Verhinderung des Schadens bemüht oder wenn er zur Aufdeckung der Straftat beigetragen hat; 465 466

Melezini, NP 1/1987, S. 64. Ebenda.

114

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

2. gegenüber einem Täter einer Straftat, die von mehreren Personen gemeinsam begangen wurde, wenn er hierbei eine untergeordnete Rolle spielte und der durch ihn erlangte rechtswidrige Vorteil unbedeutend war.“467

Im Besonderen Teil erlaubten es nur wenige Vorschriften, eine Freiheitsstrafe im Wege der außerordentlichen Strafmilderung durch Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe zu ersetzen. Wenn man die Fälle ausschließt, die in den Anwendungsbereich des Art. 54 § 1 KK von 1969 fielen, blieben im Besonderen Teil des KK von 1969 lediglich 7 Vorschriften übrig,468 bei denen auf der Grundlage der außerordentlichen Strafmilderung eine Geldstrafe oder eine Freiheitsbeschränkungsstrafe verhängt werden konnte. Schließlich sollen nun noch die Auswirkungen des KK von 1969 auf die Anwendung der Geldstrafe erläutert werden. Angesichts der Tatsache, dass die Vorschriften des Art. 54 KK von 1969 nach ihrer Einführung zweimal modifiziert wurden, soll die Analyse dabei in drei Schritten erfolgen. Zunächst werden die Auswirkungen der ursprünglichen Fassung des KK von 1969 dargestellt, dann die Folgen der Reform aus dem Jahre 1985 und schließlich soll die Strafzumessungspraxis nach der Reform aus dem Jahre 1995 untersucht werden. Dabei ist zu beachten, dass die publizierten offiziellen Statistiken keine Nachweise über die Anwendung des Art. 54 KK liefern, so dass die Analyse sich insofern auf die empirischen Untersuchungen von Sługocki,469 Melezini,470 Wojciechowska471 und Kunicka-Michalska472 beziehen muss. (1) Vor und nach der Einführung des KK von 1969 Zunächst ist festzuhalten, dass in den letzten 10 Jahren unter der Geltung des KK von 1932 die kurzen Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten mehr und mehr an Bedeutung verloren haben, was den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 von vornherein wesentlich minderte. Im letzten Jahr der Geltung des KK von 1932473 betrug der Anteil aller Frei467

Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex. Nach den Art. 141 KK, Art. 243 und Art. 277 § 2 KK konnte das Gericht in den Fällen der Art. 136–140 KK, der Art. 239–242 KK und des Art. 276 § 1 KK eine außerordentliche Strafmilderung zur Anwendung bringen. Eine Geldstrafe konnte jedoch lediglich bei Art. 137 § 1, 139 § 1, 140 § 2, 239 § 1, 241 § 1 und 276 § 1 KK zur Anwendung kommen. Ferner ließ Art. 218 § 2 KK es zu, im Falle des Art. 218 § 1 KK die Strafe zu mildern. 469 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 52–53, 105 ff. 470 Melezini, NP 1/1987, S. 61. 471 Wojciechowska, in: Skupin ´ ski (Hrsg.), Polityka karna w Polsce, S. 108. 472 Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 74. 473 Der KK von 1932 galt bis zum Jahre 1969. 468

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 115

heitsstrafen bis zu einschl. 6 Monaten lediglich noch 28,4% (35.146)474. Wa˛sik sieht für die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen vor der Reform folgende Ursachen. Zum einen wirkten sich die Forderungen des UNO-Kongresses von 1960 und der Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeitspartei (Sekretariat KC PZPR) vom 20. November 1961 aus.475 Auch die Lehre sprach sich für einen Verzicht auf die kurzfristigen Freiheitsstrafen und die Einführung ambulanter Sanktionen an ihrer Stelle aus.476 Aufgrund dieser Empfehlungen richtete das Justizministerium seine Strafpolitik auf die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen.477 Zum anderen musste sich das Gesetz aus dem Jahre 1966478 auf die Zahl der Freiheitsstrafen bis zu 3 Monaten auswirken, indem es mehrere Vergehen als Übertretungen der strafrechtlich-administrativen Rechtsprechung überwies.479 Eine erhebliche Anzahl der Strafsachen wurde dadurch von der Zuständigkeit der Gerichte auf administrative Organe verschoben. Im Folgenden soll die strukturelle Verteilung der verhängten Strafen vor und nach der Einführung des KK von 1969 untersucht werden. Dabei ist zu beachten, dass ein direkter Vergleich der Daten aus dem Jahre vor der Reform und nach der Reform aus zumindest zwei Gründen ausgeschlossen ist. Zum einen hat der KK von 1969 die vorläufige Einstellung des Verfahrens eingeführt. Nach Wa˛sik trug dieses Rechtsinstitut in der Praxis wesentlich zur Verdrängung der freiheitsentziehenden sowie der ambulanten Sanktionen bei,480 was sich auf die Verteilungsstruktur der Strafen auswirken musste. Allein im Jahre 1972 stellte die Staatsanwaltschaft 40.153 Verfahren ein.481 Dazu kommen 4.000 bis 8.000 Einstellungen, die im gerichtlichen Verfahren erfolgten.482 Nach Wa˛sik wären ohne das neue Rechtsinstitut normalerweise Freiheitsstrafen verhängt worden.483 Zum anderen bewirkte die Einführung des Übertretungskodexes von 1971484 im Jahre 1972 eine bedeutende Verschiebung der Strafsachen, für die vorher die Gerichte 474

Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1970. 475 Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci, S. 175. 476 Ebenda. 477 Ebenda. 478 Ustawa z dnia 17 czerwca 1966 r. o przekazaniu niektórych drobnych przeste˛pstw jako wykroczen´ do orzecznictwa karno-administracyjnego. Dz. U. 69.23.149. 479 Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci, S. 175. 480 Ebenda, S. 182. 481 Rocznik Statystyczny, 1974. 482 Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci, S. 182. 483 Ebenda, S. 182–183. 484 Der Kodex trat am 1. Januar 1972 in Kraft.

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe 140 000 120 000 100 000 80 000 60 000 40 000 20 000 0

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe

68 19 70 19 72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84

Freiheitsbeschränkungsstrafe

19

19

66

Anzahl

116

Jahr Ohne Todesstrafen. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1968, 1970, 1976, 1978, 1980, 1981, 1986.

Abb. 7: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1966–1984

zuständig waren (wie z. B. Diebstahl geringfügiger Sachen). Im Jahre 1972 wurden immerhin 40.800 Strafen für Delikte aus dem Bereich der Taten gegen das Vermögen (Kapitel XIV des Übertretungskodexes von 1971) verhängt.485 Die Abbildung 7 zeigt nun, wie sich die Verurteilungen in Polen in der Zeit von 1966–1984 auf die Strafarten verteilten. Würde man die ersten Jahre unmittelbar nach der Einführung des KK von 1969 mit den letzten Jahren der Geltung des KK von 1932 vergleichen, so würde sich zeigen, dass die Struktur der Strafen keiner bedeutsamen Änderung unterlag.486 Weiterhin lag der Primat bei den bedingten Freiheitsstrafen. Den zweiten Platz nahmen die Freiheitsstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung ein. Die Zahl der selbstständigen Geldstrafen blieb fast auf dem gleichen Stand. Aus statistischer Perspektive hat der KK von 1969, insbesondere Art. 54 § 1 KK von 1969, somit keinen Umbruch bei der Anwendung der Geldstrafe verursacht. Man sprach in der Literatur sogar von einem Regress dieser Strafart.487 Auch in den nächsten Jahren musste sich die Geldstrafe mit dem dritten Platz begnügen. In den Jahren 1978–1981 fiel ihr sogar der letzte Platz hinter der Freiheitsbeschränkungsstrafe zu. Die seltene Anwendung des Art. 54 § 1 KK von 1969 bestätigte auch die empirische Forschung. Eine Untersuchung von Sługocki ergab, dass Art. 54 485 486 487

Rocznik Statystyczny, 1976. Ähnlich Michalski, Zeszyty Naukowe IBPS 9/1978, S. 68. Ebenda.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 117

§ 1 KK von 1969 nur bei 44 Verurteilten aus einer Gruppe von 316 Personen488 angewandt wurde.489 Er stellte auch fest, dass sich die Verurteilungen auf der Grundlage des Art. 54 § 1 KK von 1969 auf eine geringe Zahl der Straftaten konzentrierten.490 Noch seltener kam die Strafmilderung gemäß Art. 57 KK von 1969 zur Anwendung: Lediglich in 13 Fällen aus 316 Verurteilungen wurde eine Geldstrafe auf der Grundlage der außerordentlichen Strafmilderung verhängt. Auch Melezini kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Ihre Untersuchung von 1.365 Geldstrafenverurteilungen ergab, dass die Geldstrafe in den Jahren 1970–1975 auf der Grundlage des Art. 54 § 1 KK von 1969 nur in 18,3% der Fälle verhängt wurde.491 Erst in den Jahren 1976–1978 lässt sich eine häufigere Anwendung des Art. 54 § 1 KK von 1969 feststellen (31,6% der Verurteilungen zu Geldstrafe).492 Die Untersuchung von Melezini ergab auch, dass der Besondere Teil des KK die häufigste Rechtsgrundlage der Verhängung der Geldstrafe in den beiden zuvor genannten Zeiträumen war.493 In den Jahren 1970–1975 wurden 79,9% der Geldstrafen auf der Grundlage der Vorschriften des Besonderen Teils verhängt, dagegen betrug der entsprechende Anteil in den Jahren 1976–1978 fast 59%.494 Am seltensten griffen die Richter zu den Vorschriften über die Strafmilderung: Lediglich 1,8% aller Geldstrafen wurden in den Jahren 1970–1975 auf der Grundlage des Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969 verhängt.495 In den Jahren 1975–1978 stieg der Anteil auf 9,7%.496 Einige sehr wichtige Ergebnisse brachte eine Untersuchung von Wojciechowska, die sich auf unpublizierte Materialien des Justizministeriums stützte. Der Vorteil dieser Untersuchung lag insbesondere darin, dass sie alle Verurteilungen nach Art. 54 § 1 KK von 1969 und Art. 57 KK von 1969 aus den Jahren 1979–1980 erfasste.497 Die Auswertung von 23.795 Fällen aus den Jahren 1979–1980, bei denen Art. 54 § 1 KK von 1969 und Art. 57 KK von 1969 zur Anwendung kamen, ergab, dass die Geldstrafe überwiegend auf der Grundlage der Sanktionen des Besonderen Teils verhängt worden war (61% der Geldstrafenverurteilungen im Jahre 1979 und 488 Die Gruppe bestand aus den Personen, die im Jahre 1970 und im Jahre 1978 verurteilt wurden. 489 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 52–53, 105. 490 Ebenda, S. 105. 491 Melezini, NP 1/1987, S. 61. 492 Ebenda. 493 Ebenda. 494 Ebenda. 495 Ebenda. 496 Ebenda. 497 Wojciechowska, in: Skupin ´ ski (Hrsg.), Polityka karna w Polsce, S. 108.

118

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

58,2% der Geldstrafenverurteilungen im Jahre 1980).498 Art. 54 § 1 KK von 1969 lag lediglich 19% der Geldstrafenverurteilungen im Jahre 1979 zugrunde (im Jahre 1970: 18,8%).499 Auf der Grundlage der Strafmilderung wurden 19,9% der Geldstrafen im Jahre 1979 und 23,6% im Jahre 1980 verhängt.500 Auch in den Jahren 1982–1985 wurde die Geldstrafe überwiegend auf der Grundlage der Sanktionen des Besonderen Teils verhängt. Eine Untersuchung von Kunicka-Michalska zeigte, dass die Gerichte Art. 54 § 1 KK von 1969 allein bei 18,5% der Verurteilungen zu Geldstrafe im Jahre 1980 in Anspruch nahmen.501 In den nächsten Jahren (1981–1984) betrug der entsprechende Anteil 20,4%; 13,8%; 13,5%; 12,3%. Die Analyse zeigt somit deutlich den sinkenden Anteil der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 an allen Verurteilungen zu Geldstrafe in den Jahren 1981–1984. Auch bei der Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung ließ sich eine sinkende Tendenz feststellen – 1980: 22,7%; 1981: 22%; 1982: 17,3%; 1983: 16,6%; 1984: 12,6%; 1985: 6,8%.502 (2) Vor und nach dem Gesetz vom 10. Mai 1985 Wie oben dargestellt, hat das Gesetz vom 10. Mai 1985503 die Anwendung der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 auf die Fälle erweitert, in denen das voraussichtliche Strafmaß der Freiheitsstrafe nicht höher als ein Jahr sein würde. Zunächst ist festzuhalten, dass die Freiheitsstrafen bis zu einschließlich einem Jahr innerhalb der ersten Hälfte der achtziger Jahre eine immer größere Rolle gespielt haben. Sie stellten 43,2% der Verurteilungen zu Freiheitsstrafe im Jahre 1980 dar.504 Vier Jahre später lässt sich schon ein Anteil in Höhe von 51% feststellen.505 Daraus lässt sich folgern, dass die Hälfte der Freiheitsstrafen auf der Grundlage des neuen Art. 54 § 1 KK von 1969 potentiell durch Geldstrafen ersetzt werden konnten. Die strukturelle Verteilung der Strafen vor und nach der Einführung des Gesetzes vom 10. Mai 1985 zeigt die Abbildung 8. 498

Ebenda, S. 124. Ebenda. 500 Ebenda. 501 Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 74. 502 Ebenda. 503 Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 85.23.100. 504 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1986. 505 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1986. 499

80 000 70 000 60 000 50 000 40 000 30 000 20 000 10 000 0

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe

89

88

87

86

85

19

19

19

19

19

83

84 19

82

Ohne Todesstrafen.

19

19

81

Freiheitsbeschränkungsstrafe

19

Anzahl

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 119

Jahr

Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1986, 1989, 1992.

Abb. 8: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1981–1989

Aus der statistischen Analyse ergibt sich, dass die Verurteilungen zu Freiheitsstrafe und zur Geldstrafe nach 1985 zugenommen haben. Während 19.038 Personen im Jahre 1984 zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, verzeichnete die Statistik im Jahre 1986 schon eine Zahl in Höhe von 29.345.506 Dies stellt einen Zuwachs um 50% dar. Weiterhin blieb jedoch die bedingte Freiheitsstrafe die führende Sanktion im Bereich der ambulanten Sanktionen, obwohl ihre absolute Anzahl sank. Ob in diesen Fällen die bedingte Freiheitsstrafe durch Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe ersetzt wurde, lässt sich nicht mehr klären. Jedenfalls ist offenkundig, dass die Anwendung des Art. 54 KK von 1969 auf dem Stand vor der Reform geblieben ist. Dies hat etwa die Analyse von Kunicka-Michalska eindeutig gezeigt. Während die Geldstrafe des Art. 54 § 1 KK von 1969 einen Anteil in Höhe von 11,2% an allen Verurteilungen zu Geldstrafe im Jahre 1985 hatte, betrug der entsprechende Anteil im Jahre 1986 fast 11% und im Jahre 1987 fast 13%.507 Auch die Analyse, die Bien´kowska und Skupin´ski durchführten, berechtigte zu denselben Schlussfolgerungen. Betrug der Anteil der Geldstrafe des Art. 54 § 1 KK von 1969 an allen rechtskräftigen Verurteilungen im Jahre 1983 2,7%, so lässt sich im Jahre 1986 ein Anteil in Höhe von 3,7% feststellen.508 Diese Daten erhärten die These, dass der neue Art. 54 § 1 KK von 1969 auch nach der Reform weiterhin nur einen geringen Einfluss auf die Praxis ausübte. 506 507 508

Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1986 und 1989. Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 74. Bien´kowska/Skupin´ski, PiP 2/1982, S. 78.

120

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

(3) Vor und nach der Einführung des Gesetzes vom 12. Juli 1995 Das Gesetz vom 12. Juli 1995509 hat den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 erheblich erweitert. Wie oben gezeigt wurde, konnten die Richter nach der Novelle der Vorschrift alle Straftaten mit Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe belegen, deren obere Androhungsgrenze 5 Jahre nicht überstieg und bei denen das Strafmaß der hypothetischen Freiheitsstrafe nicht höher als 1 Jahr war. Außerdem wurden Einschränkungen des Art. 54 § 2 KK von 1969 und des Art. 59 § 2 KK von 1969 aufgehoben. Dabei ist zu beachten, dass die Ausgangslage für die Reform sehr günstig war. Die kurzen Freiheitsstrafen im Bereich von 3 bis zu 6 Monaten begannen in der ersten Hälfte der 90er Jahre eine immer größere Rolle zu spielen. Wurden nur 5.660 Freiheitsstrafen in dieser Höhe im Jahre 1990 verhängt, so lassen sich für das Jahr 1994 schon 18.702 Strafen feststellen.510 Auch die Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu einem Jahr haben an Bedeutung gewonnen: Im Jahre 1990 stellten sie ungefähr 46% aller Freiheitsstrafen dar und im Jahre 1994 stieg ihr Anteil auf ungefähr 54% an.511 Der Anfang der neunziger Jahre kann somit als ein Wendepunkt in der Strafpolitik angesehen werden. Für ihn ist charakteristisch, dass die kurzen Freiheitsstrafen (bis zu 6 Monten) einen größeren Anteil an der Sanktionierungspraxis gewinnen, während die längeren Freiheitsstrafen (über ein Jahr) ständig an Bedeutung verlieren. Dies stellte eine sehr günstige Ausgangslage für die Reform dar, die die Ersetzung der Freiheitsstrafen durch Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe beabsichtigte. Inwieweit die Reform sich auf das Verhältnis zwischen Geldstrafe und Freiheitsstrafe auswirkte, zeigt die Abbildung 9. Zunächst ist festzuhalten, dass die statistische Rangfolge der verhängten Strafen nach Maßgabe ihrer Anzahl gerade vor der Reform verändert wurde: Im Jahre 1994 wurden mehr Geldstrafen als unbedingte Freiheitsstrafen verhängt. Daher lässt sich jedenfalls nicht behaupten, dass diese Verschiebung eine Folge der Reform wäre. Auch nach der Einführung des Gesetzes von 1995 gehörte das Primat wieder der bedingten Freiheitsstrafe. Obwohl die Zahl der Geldstrafen und ihr prozentualer Anteil an allen Verurteilungen gestiegen ist (Jahr 1996: 509 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. Das Gesetz trat am 20.11.1995 in Kraft. 510 Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1994 und 1996. 511 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage der Statistischen Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1994 und 1996.

Anzahl

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 121 140 000 120 000 100 000 80 000

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe

60 000 40 000 20 000 0

Geldstrafe Freiheitsbeschränkungsstrafe

91

19

92

19

93

19

94

19

95

19

96

19

97

19

98

19

Jahr Im Jahre 1995 wurden zusätzlich 16.000 Personen verurteilt. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1997–1998 erfassen nur Verurteilungen aus öffentlichen Klagen. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1997 sind nur bis zum 31. August berücksichtigt. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1994, 1996, 1998, 2000.

Abb. 9: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1991–1998

27,6%)512, lässt sich kaum behaupten, dass diese einen bedeutenden Zuwachs gegenüber den vorangehenden Jahren erfahren haben (Jahr 1994: 24,3%)513. Allerdings ist einzuräumen, dass der Anteil der Geldstrafen immerhin zugenommen hat. c) KK von 1997 Die Begrenzung der Anwendung der Freiheitsstrafe und der weitere Gebrauch der Geldstrafe in der polnischen Praxis waren zwei der wichtigsten Reformziele der Kodifikation des Jahres 1997.514 Die Geldstrafe sollte die Hauptsanktion im Bereich der „kleinen“ und „mittleren“ Kriminalität werden.515 Man schätzte, dass die Geldstrafe einen Anteil in Höhe von 30–40% an allen Verurteilungen erreichen könnte.516 Die Abkehr von der 512 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1998. 513 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1996. 514 Buchała, PiP 6/1991, S. 23; ders., in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 275; Zoll, PiP 5/1994, S. 8. 515 Uzasadnienie do projektu kodeksu karnego, Wkładka do PiP 2/1994, S. 25; Zoll, PiP 5/1994, S. 7. 516 Marek, PiP 2/2003, S. 17.

122

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

auf Freiheitsstrafe beruhenden Strafpolitik sollte mit dem neuen Kodex vollzogen werden. In der Tat wurde im KK von 1997 der Anwendungsbereich der Geldstrafe im Vergleich zum KK von 1969 und zum KK von 1932 erweitert.517 Abgesehen von einer Erhöhung der Anzahl jener Vorschriften im Besonderen Teil, die eine Geldstrafe vorsehen,518 und abgesehen von den eine Geldstrafenverhängung stärker fördernden Regelungen bei Strafmilderung (Art. 60 § 6 KK von 1997) lässt der KK von 1997 die Verhängung der Geldstrafe bei Straftaten zu, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht sind (Art. 58 § 3 KK von 1997). Ferner legt Art. 58 § 1 KK von 1997 den Grundsatz der Präferenz der ambulanten Strafen und Strafmaßnahmen fest. Schließlich lässt der KK von 1997 in Art. 4 § 3 die Umwandlung einer Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe zu, falls nach dem KK von 1997 im Gegensatz zu der alten Rechtslage eine Tat nicht mehr mit Freiheitsstrafe bedroht ist.519 Der KK von 1997 kennt jedoch keine Vorschrift, die sich der Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafen durch die Geldstrafe oder die Freiheitsbeschränkungsstrafe widmete. Dies soll im Folgenden anhand der einschlägigen Vorschriften näher gezeigt werden. aa) Art. 58 § 1 und § 3 KK von 1997 Die ambulanten Sanktionen sollten insbesondere durch die Regelungen in Art. 58 § 1 und § 3 KK von 1997 zu häufigerer Anwendung gelangen. Be517

Niewiadomska, Grzywna w polskim prawie karnym, S. 94. Der Besondere Teil des KK von 1997 enthielt in seiner ursprünglichen Fassung 106 Vorschriften, die die Geldstrafe neben Freiheitsbeschränkungsstrafe und Freiheitsstrafe oder nur neben Freiheitsbeschränkungsstrafe vorsahen: Art. 136 § 4, 137 § 1 und § 2, 143 § 3, 144 § 2 und § 3, 145 § 1 und § 2, 157 § 2 und § 3, 160 § 3, 161 § 2, 179, 181 § 2, § 3, § 4 und § 5, 182 § 2, 183 § 4, 184 § 3, 186 § 1, § 2 und § 3, 187 § 1 und § 2, 188, 190 § 1, 192 § 1, 193, 194, 195 § 1 und § 2, 196, 202 § 1 und § 2, 206, 208, 209 § 1, 212 § 1 und § 2, 216 § 1 und § 2, 217 § 1, 218 § 1 und § 2, 219, 220 § 2, 221, 222 § 1, 226 § 1 und § 3, 227, 228 § 2, 229 § 2, 231 § 3, 234, 236 § 1, 238, 241 § 1 und § 2, 242 § 1, § 2 und § 3, 244, 251, 255 § 1und § 3, 256, 260, 261, 262 § 1, 263 § 3 und § 4, 264 § 1, 265 § 3, 266 § 1, 267 § 1, § 2 und § 3, 268 § 1, 270 § 1, § 2 und § 3, 271 § 2, 273, 274, 275 § 1 und § 2, 276, 277, 278 § 3 und § 5, 284 § 3, 286 § 3, 287 § 2, 288 § 2, 291 § 2, 292 § 1, 293 § 1, 301 § 3, 302 § 1, 303 § 3, 312, 314, 315 § 1und § 2. 519 Die einschlägige Vorschrift des Art. 4 § 3 KK von 1997 lautet: „Ist nach dem neuen Gesetz eine bereits abgeurteilte Tat nicht mehr mit Freiheitsstrafe bedroht, so wird die bereits verhängte, zu vollstreckende Freiheitsstrafe nach folgendem Umrechungsmaßstab in eine Geld- oder Freiheitsbeschränkungsstrafe umgewandelt: ein Monat Freiheitsstrafe entspricht sechzig Tagessätzen oder zwei Monaten Freiheitsbeschränkung.“ Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. 518

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 123

vor die Vorschrift des Art. 58 KK von 1997 analysiert wird, sei sie zunächst vollständig wiedergegeben: „§ 1. Sieht das Gesetz die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Arten von Strafe vor, so verhängt das Gericht nur dann die Freiheitsstrafe ohne Bewährung, wenn die anderen Strafen und Strafmaßnahmen ihre Strafzwecke nicht erfüllen können. § 2. Die Geldstrafe darf nicht verhängt werden, wenn die Einkünfte des Täters, seine Vermögensverhältnisse oder Verdienstmöglichkeiten die Annahme rechtfertigen, daß er sie nicht begleichen und die Zwangsvollstreckung erfolglos bleiben wird. § 3. Droht das Gesetz eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren an, so kann das Gericht anstelle der Freiheitsstrafe eine Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe verhängen, insbesondere dann, wenn es gleichzeitig eine Strafmaßnahme anordnet. § 4. Für den Täter eines vorsätzlichen Vergehens, der zuvor zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt worden war, gilt § 3 nicht.“520

Es wird später noch ausführlicher auf den Inhalt des Art. 58 § 2 KK von 1997 einzugehen sein. Diese Vorschrift wird hier nur deshalb mit zitiert, um den Kontext zu zeigen, in dem die Vorschriften des Art. 58 § 1 und § 3 KK von 1997 stehen. Auch die Systematik der Vorschriften spricht eindeutig dafür, dass die Anwendung der Geldstrafe hier von der Zahlungsfähigkeit des Täters abhängig gemacht wurde. Gemäß der Vorschrift des Art. 58 § 1 KK von 1997 darf das Gericht im Falle der Wahl zwischen verschiedenen Arten von Strafen die Freiheitsstrafe ohne Bewährung nur dann verhängen,521 wenn die anderen Strafen oder Strafmaßnahmen den Strafzweck nicht erfüllen können. Dies bedeutet, dass Art. 58 § 1 KK von 1997 nur dann Anwendung findet, wenn die Sanktion der betreffenden strafrechtlichen Vorschrift mehrere Strafarten vorsieht und die Freiheitsstrafe neben den ambulanten Strafen auftritt (z. B.: „. . . wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem 520

Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Der Besondere Teil des KK von 1997 sah in seiner ursprünglichen Fassung insoweit insgesamt 98 Tatbestände vor, die in den Anwendungsbereich des Art. 58 § 1 KK von 1997 fielen. Art. 136 § 4, 137 § 1 und § 2, 143 § 3, 144 § 2, 145 § 1 und § 2, 157 § 2 und § 3, 160 § 3, 161 § 2, 179, 181 § 2, § 3 und § 4, 182 § 2, 183 § 4, 184 § 3, 186 § 1 und § 2, 187 § 1, 188, 190 § 1, 192 § 1, 193, 194, 195 § 1 und § 2, 196, 202 § 1 und § 2, 206, 208, 209 § 1, 212 § 1 und § 2, 216 § 2, 217 § 1, 218 § 1 und § 2, 219, 220 § 2, 222 § 1, 226 § 1 und § 3, 227, 228 § 2, 229 § 2, 231 § 3, 234, 236 § 1, 238, 241 § 1 und § 2, 242 § 1, § 2 und § 3, 244, 251, 255 § 1 und § 3, 256, 260, 262 § 1, 263 § 3 und § 4, 264 § 1, 265 § 3, 266 § 1, 267 § 1, § 2 und § 3, 268 § 1, 270 § 1, § 2 und § 3, 273, 274, 275 § 1 und § 2, 276, 277, 278 § 3 und § 5, 284 § 3, 286 § 3, 287 § 2, 288 § 2, 291 § 2, 292 § 1, 293 § 1, 301 § 3, 302 § 1, 303 § 3, 312, 314, 315 § 1 und § 2. 521

124

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Jahr bestraft“).522 In einem solchen Fall ist das Gericht grundsätzlich zur Verhängung der ambulanten Strafe oder Strafmaßnahme verpflichtet. Unter den „Strafzwecken“ versteht man die Zwecke, die Art. 53 § 1 KK von 1997 erwähnt. In Betracht kommt demgemäß die Schuld, der Grad der Sozialschädlichkeit der Tat sowie die Spezial- und die Generalprävention.523 Es bleibt indes zweifelhaft, ob das Gericht dazu verpflichtet ist, die Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe zu begründen, wenn die Sanktion der strafrechtlichen Vorschrift mehrere Strafarten vorsieht. Nach Buchała sollte das Gericht dies in jedem Fall tun, wenn es vom Grundsatz des Art. 58 § 1 KK von 1997 absieht.524 Zu Recht betonen jedoch Mozgawa und Szumski, dass diese Forderung keine Unterstützung in der polnischen Strafprozessordnung (Kodeks poste˛powania karnego; im Folgenden: KPK von 1997) findet,525 so dass die erwähnte Begründung des Gerichts eher selten zu erwarten sein dürfte. Eine unmittelbare Unterstützung der Geldstrafe findet sich demgegenüber in Art. 58 § 3 KK von 1997. Dieser Vorschrift entsprechend kann das Gericht anstelle der Freiheitsstrafe eine Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe verhängen, wenn eine Straftat lediglich mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht ist. Der Besondere Teil des KK von 1997 sah in seiner ursprünglichen Fassung insgesamt 144 Vorschriften526 vor, die in den Anwendungsbereich der Regelung des Art. 58 § 3 KK von 1997 fielen. Ob522

Gardocki, Prawo karne (2004), RN 328; Górniok/Hoc/Kalitowski/Przyjemski/ Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 58 RN 3. 523 Gardocki, Prawo karne (2004), RN 328; Górniok/Hoc/Kalitowski/Przyjemski/ Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 58 RN 4. 524 Buchała, in: Bojarski/Skre ˛ towicz (Redaktion), Problemy reformy prawa karnego, S. 43. Ähnlich Wróbel, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 58 RN 4; Hofman´ski/Paprzycki, in: Górniok (Redaktion), Art. 58 RN 5. 525 Mozgawa/Szumski, in: Zoll (Redaktion), Racjonalna reforma prawa karnego, S. 31. 526 Art. 117 § 3, 119 § 1 und § 2, 126 § 1 und § 2, 128 § 2, 133, 135 § 1 und § 2, 136 § 1, § 2 und § 3, 140 § 3, 141 § 1, 142 § 1, 143 § 1 und § 2, 144 § 1, 145 § 3, 149, 150 § 1, 151, 152 § 1 und § 2, 155, 156 § 2, 157 § 1, 158 § 1, 160 § 1 und § 2, 161 § 1, 162 § 1, 163 § 2, 164 § 2, 165 § 2, 167 § 1 und § 2, 168, 172, 173 § 2, 174 § 2, 175, 177 § 1, 180, 181 § 1, 182 § 1, 183 § 1, § 2 und § 3, 184 § 1 und § 2, 189 § 1, 191 § 1 und § 2, 197 § 2, 199, 201, 202 § 3, 204 § 1 und § 2, 207 § 1, 210 § 1, 211, 220 § 1, 224 § 1, § 2 und § 3, 225 § 1 und § 2, 229 § 1, 230, 231 § 1, 232, 233 § 1, § 4 und § 6, 235, 239 § 1, 240 § 1, 242 § 4, 243, 245, 247 § 1 und § 3, 248, 249, 250, 252 § 3, 253 § 2, 254 § 1 und § 2, 255 § 2, 257, 258 § 1 und § 2, 264 § 2 und § 3, 265 § 1, 266 § 2, 268 § 2 und § 3, 271 § 1, 272, 278 § 1, § 2 und § 5, 283, 284 § 1 und § 2, 285 § 1, 287 § 1, 288 § 1 und § 3, 289 § 1, 290 § 1, 291 § 1, 292 § 2, 293 § 1, 296 § 1 und § 4, 297 § 1 und § 2, 298 § 1, 299 § 1, § 2, § 3 und § 4, 300 § 1 und § 2, 301 § 1 und § 2, 302 § 2 und § 3, 303 § 1 und § 2, 304, 305 § 1 und § 2, 306, 310 § 4, 311, 313 § 1 und § 2.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 125

wohl die Behauptung, dass fast jeder Artikel des Besonderen Teils des KK von 1997 eine Vorschrift beinhaltet, die in den Anwendungsbereich des Art. 58 § 3 KK von 1997 fällt, etwas übertrieben klingen mag, ist der breite Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 58 § 3 KK von 1997 nicht zu bestreiten. Auch solche Straftaten wie Diebstahl (Art. 279 § 1 KK von 1997) oder Misshandlung eines Verwandten (Art. 207 § 1 KK von 1997) können auf der Grundlage des Art. 58 § 3 KK von 1997 mit Geldstrafe bestraft werden. Die statistisch bedeutsamste Straftat – Einbruchsdiebstahl (Art. 279 § 1 KK von 1997) – wurde jedoch außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift gelassen. Ausgeschlossen ist auch die Anwendung des § 3 des Art. 58 KK von 1997 für die Täter eines vorsätzlichen Vergehens, die zuvor zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt wurden (Art. 58 § 4 KK von 1997). Obwohl Art. 58 § 3 KK von 1997 dem Art. 54 § 1 KK von 1969 sehr ähnlich ist, lässt sich nicht sagen, dass die Funktion beider Vorschriften gleich wäre. Art. 54 § 1 KK von 1969 in seiner ursprünglichen Fassung beabsichtigte die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen. Art. 58 § 3 KK von 1997 schafft lediglich eine Möglichkeit zur Verhängung einer Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe, falls eine Strafandrohung diese Strafarten nicht vorsieht. Ein weiterer Unterschied zwischen der letzten Fassung des Art. 54 von 1969 und dem Art. 58 § 3 KK von 1997 beruht darauf, dass die alte Regelung nur dann die Austauschbarkeit zwischen den Strafarten zuließ, wenn die virtuelle Freiheitsstrafe ein Jahr nicht überschritten hätte. Diese Prämisse muss auf der Grundlage des neuen KK nicht mehr erfüllt sein. Außerdem kannte der KK von 1969 in der letzten Fassung die Beschränkung nicht, die in § 4 des Art. 58 KK von 1997 normiert ist. Art. 58 § 3 KK von 1997 ist ähnlich wie Art. 54 § 1 KK von 1997 eine Kann-Vorschrift. Eine Pflicht zur Anwendung der Vorschrift besteht daher nicht. Sie kommt nur in Betracht, wenn der Richter die Anwendung der Freiheitsstrafe oder der bedingten Freiheitsstrafe verneint. Die Geldstrafe konkurriert demnach auch im Rahmen des Art. 58 § 3 KK von 1997 mit der Freiheitsbeschränkungsstrafe. bb) Art. 60 KK § 6 Ziff. 2 und 3 KK von 1997 Der Anwendungsbereich der außerordentlichen Strafmilderung wurde im KK von 1997 im Vergleich zum KK von 1969 noch erweitert.527 Der neue Kodex behielt im Wesentlichen die dem KK von 1969 bekannten Rechts527 Uzasadnienie do projektu Kodeksu karnego, PiP 3/1994; Niewiadomska, Grzywna w polskim prawie karnym, S. 111.

126

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

grundlagen zur Strafmilderung bei und führte zugleich neue Regelungen ein, die die Rolle der Geldstrafe bei der Strafmilderung noch stärker hervorhoben. Zunächst das Selbstverständliche: Während der KK von 1969 die Geldstrafe im Falle der außerordentlichen Strafmilderung lediglich bei Vergehen zuließ, deren untere Grenze der Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr betrug (Art. 57 § 3 Ziff. 3 KK von 1969), gestattet der KK von 1997 in Art. 60 § 2 Ziff. 2 und 3 die Anwendung der Geldstrafe bei allen Vergehen, soweit eine Vorschrift des Allgemeinen oder des Besonderen Teils eine Strafmilderung vorsieht. Ferner führte der neue KK folgende Unterscheidung ein: Ist die begangene Straftat ein Vergehen, bei dem die gesetzlich angedrohte Mindeststrafe eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ist, so verhängt das Gericht eine Geldstrafe, eine Freiheitsbeschränkungsstrafe oder eine Freiheitsstrafe (Art. 60 § 6 Ziff. 2 KK von 1997).528 Ist dagegen die begangene Straftat ein Vergehen, bei dem die gesetzlich angedrohte Mindeststrafe eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr ist, so bleibt dem Gericht, entweder auf eine Geldstrafe oder auf eine Freiheitsbeschränkungsstrafe zu erkennen (Art. 60 § 6 Ziff. 3 KK von 1997).529 Selbstverständlich steht Art. 60 § 6 Ziff. 3 KK von 1997 in Konkurrenz zu dem bereits be528 Der BT des KK von 1997 sieht 56 Vorschriften vor, die in den Anwendungsbereich des Art. 60 § 6 Ziff. 2 KK von 1997 fallen: Art. 121 § 1 und § 2, 125 § 1, 128 § 3, 129, 130 § 1, 132, 140 § 1 und § 2, 148 § 4, 153 § 2, 154 § 1 und § 2, 156 § 1 und § 3, 158 § 3, 163 § 1 und § 3, 165 § 3, 166 § 1, 170, 173 § 1 und § 3, 185 § 2, 189 § 2, 197 § 1 und § 3, 200 § 1 und § 2, 203, 204 § 3 und § 4, 207 § 2 und § 3, 223, 228 § 3, § 4 und § 5, 231 § 2, 246, 247 § 2 und § 3, 252 § 1 und § 2, 263 § 1, 279 § 1, 280 § 1, 281, 282, 289 § 3, 294 § 1 und § 2, 296 § 3, 299 § 5 und § 6, 310 § 2. 529 Insgesamt 179 Vorschriften fallen in den Anwendungsbereich des Art. 60 § 6 Ziff. 3 KK von 1997: Art. 117 § 3, 119 § 1 und § 2, 126 § 1 und § 2, 128 § 2, Art. 130 § 3, 133, 135 § 1 und § 2, 136 § 1, § 2 und § 3, 140 § 3, 141 § 1 und 2, 142 § 1 und § 2, 143 § 1 und § 2, 144 § 1, 145 § 3, 149, 150 § 1, 151, 152 § 1, § 2 und § 3, 153 § 1, 155, 156 § 2, 157 § 1, 158 § 1, 159, 160 § 1 und § 2, 161 § 1, 162 § 1, 163 § 2 und 4, 164 § 1 und § 2, 165 § 1, § 2 und § 4, 167 § 1 und § 2, 168, 171 § 1, § 2 und § 3, 172, 173 § 2 und § 4, 174 § 1 und § 2, 175, 177 § 1 und § 2, 180, 181 § 1, 182 § 1, 183 § 1, § 2 und § 3, 184 § 1 und § 2, 185 § 1, 189 § 1, 191 § 1 und § 2, 197 § 2, 198, 199, 201, 202 § 3, 204 § 1 und § 2, 207 § 1, 210 § 1 und § 2, 211, 220 § 1, 224 § 1, § 2 und § 3, 225 § 1 und § 2, 228 § 1, 229 § 1, § 3 und § 4, 230, 231 § 1, 232, 233 § 1, § 4 und § 6, 235, 239 § 1, 240 § 1, 242 § 4, 243, 245, 247 § 1 und § 3, 248, 249, 250, 252 § 3, 253 § 2, 254 § 1 und § 2, 255 § 2, 257, 258 § 1, § 2 und § 3, 264 § 2 und § 3, 265 § 1, 266 § 2, 268 § 2 und § 3, 271 § 1, 272, 278 § 1, § 2 und § 5, 283, 284 § 1 und § 2, 285 § 1, 262 § 2, 263 § 2, 265 § 2, 269 § 1 und § 2, 271 § 3, 286 § 1 und § 2, 287 § 1, 288 § 1 und § 3, 289 § 1 und § 2, 290 § 1, 291 § 1, 292 § 2, 293 § 1, 296 § 1, § 2 und § 4, 297 § 1 und § 2, 298 § 1, 299 § 1, § 2, § 3 und § 4, 300 § 1, § 2 und § 3, 301 § 1 und § 2, 302 § 2 und § 3, 303 § 1 und § 2, 304, 305 § 1 und § 2, 306, 310 § 4, 311, 313 § 1 und § 2.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 127

sprochenen Art. 58 § 3 KK von 1997. Würde man die Vorschriften des Besonderen Teils ausschließen, die in den Anwendungsbereich des Art. 58 § 3 KK von 1997 fallen, so zeigte sich, dass Art. 60 § 6 Ziff. 3 KK von 1997 lediglich 35 Vorschriften erfasst.530 Die Zulässigkeit der Anwendung der Strafmilderung hängt im KK von 1997 wie im vorangehenden Kodex von den Vorschriften des Allgemeinen und des Besonderen Teils ab. Im Allgemeinen Teil des KK von 1997 lassen folgende Vorschriften die Strafmilderung zu: Art. 10 § 3 KK (gegenüber einem Minderjährigen), Art. 14 § 2 KK (beim untauglichen Versuch), Art. 15 § 2 KK (gegenüber einem Täter, der freiwillig die Folgen der Straftat zu verhindern versucht hat), Art. 19 § 2 (gegenüber einem Gehilfen), Art. 21 § 3 (gegenüber einem Mittäter), Art. 22 § 2 KK (gegenüber dem Anstifter und dem Gehilfen beim Unterbleiben des Versuchs einer verbotenen Straftat), Art. 23 § 2 KK (gegenüber einem Mittäter, der freiwillig die Ausführung der verbotenen Tat zu verhindern versucht hat), Art. 25 § 2 KK (Überschreitung der Grenzen der Notwehr), Art. 26 § 3 KK (Überschreitung der Grenzen des Notstandes), Art. 29 KK (gegenüber einem Täter, der unentschuldbar irrig angenommen hat, dass ein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorliegt), Art. 30 KK (gegenüber einem Täter, der in unentschuldbarer Unkenntnis der Rechtswidrigkeit gehandelt hat), Art. 31 § 2 KK (bei verminderter Schuldfähigkeit), Art. 60 § 1 KK (gegenüber einem Heranwachsenden), Art. 60 § 3 KK (gegenüber einem Mittäter, der dem für die Strafverfolgung zuständigen Organ Informationen über andere an der Straftat Beteiligte und wesentliche Umstände der Tatbegehung offenbart hat) und Art. 60 § 4 KK (gegenüber einem Täter, der unabhängig von seinen Aussagen in der eigenen Strafsache dem für die Strafverfolgung zuständigen Organ wesentliche bisher unbekannte Umstände einer mit Freiheitsstrafe über fünf Jahren bedrohten Straftat offenbart und diese Umstände näher erläutert hat). Es kann davon abgesehen werden, im Einzelnen auf die Unterschiede zum KK von 1932 und KK von 1969 einzugehen. Es lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass der Anwendungsbereich der Strafmilderung im Allgemeinen Teil des KK von 1997 im Vergleich zum KK von 1932 und KK von 1969 erweitert wurde. Der KK von 1997 behielt auch im Art. 60 § 2 die Möglichkeit der Strafmilderung in besonders begründeten Fällen bei, „in denen sogar die niedrigste für die entsprechende Straftat vorgesehene Strafe unangemessen streng wäre, insbesondere wenn: 530 Art. 130 § 3, 141 § 2, 142 § 2, 152 § 3, 153 § 1, 158 § 2, 159, 163 § 4, 164 § 1, 165 § 1 und § 4, 171 § 1, § 2 und § 3, 173 § 4, 174 § 1, 177 § 2, 185 § 1, 198, 210 § 2, 228 § 1, 229 § 3 und § 4, 258 § 3, 262 § 2, 263 § 2, 265 § 2, 269 § 1 und § 2, 271 § 3, 286 § 1 und § 2, 289 § 2, 296 § 2, 300 § 3.

128

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

1. der Verletzte und der Täter sich versöhnt haben, der Schaden wiedergutgemacht wurde oder der Verletzte und der Täter sich über die Art der Schadenswiedergutmachung geeinigt haben, 2. die Haltung des Täters es rechtfertigt, vor allem, wenn er sich um Schadenswiedergutmachung oder um die Verhinderung der Entstehung eines Schadens bemüht hat, 3. der Täter einer fahrlässigen Straftat selbst oder ein Allernächster in Zusammenhang mit der Begehung der Straftat einen erheblichen Nachteil erlitten hat.“531

Diese Konstruktion kannte, wie oben gezeigt wurde, auch der KK von 1969 in Art. 57 § 2. Der KK von 1969 sah allerdings keine Strafmilderung in den Fällen des Art. 60 § 2 Ziff. 1 und 3 KK von 1997 vor. Der KK von 1997 verzichtete jedoch auf die Strafmilderung gegenüber einem Täter, der bei der Begehung einer Straftat eine untergeordnete Rolle spielte, wenn der durch ihn erlangte Vorteil unbedeutend war (Art. 57 § 2 Ziff. 2 KK von 1969). Im Besonderen Teil des KK von 1997 lassen 15 Vorschriften532 in 53 Fällen533 zu, die Geldstrafe statt der Freiheitsstrafe auf der Grundlage der außerordentlichen Strafmilderung zu verhängen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass 39 Vorschriften534 von 53 Fällen schon in den Anwendungsbereich des Art. 58 § 3 KK von 1997 fallen, so dass von einem breiten Anwendungsbereich der außerordentlichen Strafmilderung im Besonderen Teil des KK von 1997 keine Rede sein konnte. Schließlich soll auf die Verteilungsstruktur der Strafen nach der Einführung des KK von 1997 eingegangen werden. Aus der Abbildung 10 geht hervor, dass die Zahl der Geldstrafen nach der Einführung des KK von 1997 gesunken ist. Wurden im Jahre 1997 noch 57.689535 Geldstrafen verhängt, so wurden in den Jahren 1999 und 2000 531

Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Art. 146, 147, 150 § 2, 169 § 2 und § 3, 176 § 2, 233 § 5 und § 6, 239 § 3, 295 § 1 und § 2, 299 § 8, 307 § 1 und § 2, 310 § 3. 533 Art. 143 § 1, 144 § 1, 145 § 3, 150 § 1, 163 § 1 und § 2, 165 § 1 und § 2, 166 § 1, 173 § 1 und § 2, 233 § 1 und § 4, 239 § 1, 278 § 1, § 2, § 5, 284 § 1 und § 2, 285 § 1, 286 § 1 und § 2, 287 § 1, 288 § 1 und § 3, 289 § 1, § 2 und § 3, 291 § 1, 292 § 2, 294 § 1 und § 2, 296 § 1, § 2, § 3 und § 4, 299 § 1, § 2, § 3 und § 4, 300 § 1, § 2 und § 3, 301 § 1 und § 2, 302 § 2 und § 3, 303 § 1 und § 2, 304, 305 § 1 und § 2, 310 § 2. 534 Art. 143 § 1, 144 § 1, 145 § 3, 150 § 1, 163 § 2, 165 § 2, 173 § 2, 233 § 1 und § 4, 239 § 1, 278 § 1, § 2, § 5, 284 § 1 und § 2, 285 § 1, 287 § 1, 288 § 1 und § 3, 289 § 1, 291 § 1, 292 § 2, 296 § 1 und § 4, 299 § 1, § 2, § 3 und § 4, 300 § 1 und § 2, 301 § 1 und § 2, 302 § 2 und § 3, 303 § 1 und § 2, 304, 305 § 1 und § 2. 532

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 129 300 000

Unbedingte Freiheitsstrafe

Anzahl

250 000 200 000 150 000

Bedingte Freiheitsstrafe

100 000

Geldstrafe

50 000

Freiheitsbeschränkungsstrafe

04 20

02

03 20

00

99

01

20

20

20

19

98 19

19

97

0

Jahr Die Todesstrafe wurde durch den KK von 1997 abgeschafft. Im Jahre 1997 wurden auf der Grundlage des KK von 1969 keine Todesstrafen verhängt. Die Freiheitsstrafen erfassen nicht die 25jährigen Freiheitsstrafen und lebenslangen Freiheitsstrafen. Die Verurteilungen zu Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe berücksichtigen auch die Strafaussetzungen (im Jahre 2004 wurde die Vollstreckung von 4.207 Geldstrafen und 3.966 Freiheitsbeschränkungsstrafen ausgesetzt). Die Daten aus den Jahren 1997–2004 zeigen nur die Verurteilungen aus öffentlichen Klagen. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1998 erfassen nur die Daten bis zum 31. August. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 2000, 2001, 2003, 2004, 2005.

Abb. 10: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1997–2004

nur noch 38.186536 und 33.699537 Geldstrafen verhängt, so dass eines der wichtigsten Ziele der Reform, und zwar die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe,538 nicht verwirklicht wurde.539 Die Erwartungen, dass die Geldstrafe einen Anteil in Höhe von 30–40% an allen Verurteilungen erreichen würde,540 haben sich offensichtlich nicht erfüllt. Die Geldstrafe hatte im Jahre 1999 einen Anteil in Höhe von 18,4%; im Jahre 2000 sank dieser Anteil auf 15,1%.541 Zwei Ursachen werden am häufigsten genannt: Das Verbot der Verhängung der Geldstrafe gegenüber Zahlungsunfähigen (Art. 58 § 2 KK von 1997) und (oder) die Zurückhaltung der Richter gegenüber dem bereits eingeführten Tagessatzsystem.542 Dabei wird betont, 535

Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2000. Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2001. 537 Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2001. 538 Buchała, PiP 6/1990, S. 23; Zoll, PiP 5/1994, S. 8. 539 Merkwürdigerweise konzentriert sich die strafrechtliche Debatte in der Rechtswissenschaft überwiegend auf die Frage, ob die Sanktionierungspraxis weniger repressiv wurde oder nicht. Das Problem der geringen Anwendung der selbstständigen Geldstrafe scheint am Rande zu stehen. 540 Marek, PiP 2/2003, S. 17. 541 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Stytystyczny) aus dem Jahre 2001. 536

130

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

dass die Geldstrafen nach der Reform durch bedingte Freiheitsstrafen verdrängt wurden.543 Nach Kubicki zeugt dieser Prozess von einer Verschärfung der Strafpolitik und widerspricht den Auffassungen, die dem neuen Kodex eine Liberalisierung der Strafpolitik zum Vorwurf machen.544 Andererseits ist es nicht zu verkennen, dass die Anzahl der Geldstrafen nach dem Jahre 2000 deutlich gestiegen ist. So haben die polnischen Gerichte in den Jahren 2003 und 2004 immerhin 93.272 und 111.491 Geldstrafen verhängt.545 Dieser Zuwachs ist jedoch größtenteils auf den Umstand zurückzuführen, dass das Delikt der Trunkenheit im Verkehr am 16. Dezember 2000 ein Vergehen wurde (früher Übertretung),546 so dass der Zuwachs auch in der Änderung des Besonderen Teils seine Ursache hatte. 2. Geldstrafe neben anderen Strafarten Der KK von 1932 in seiner ursprünglichen Fassung sah die Geldstrafe neben Freiheitsstrafe bei allen aus Gewinnsucht begangenen Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe bedroht waren (Art. 42 § 2 KK), und in einzelnen Vorschriften des Besonderen Teils vor.547 Sowohl Art. 42 § 2 KK von 1932 als auch die Regelungen des Besonderen Teils waren als Muss-Vorschriften ausgestaltet, so dass das Gericht nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen von einer zusätzlichen Geldstrafe absehen konnte. Dies war nur dann der Fall, wenn eine zusätzliche Geldstrafe bei einer aus Gewinnsucht begangenen Straftat unzweckmäßig war (Art. 42 § 2 KK von 1932), d.h. wenn die Vollstreckung der Geldstrafe keinen Erfolg bringen würde.548 Das 542 Szymanowski, PiP 1/2000, S. 28; ders., PiP 12/2000, S. 50; ders., Polityka karna i penitencjarna w Polsce w okresie przemian prawa karnego, S. 61; ders., PiP 6/2005, S. 32; Kubicki, Auszug aus der Diskussion, in: Wolf (Hrsg.), Przeste˛pczos´c´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny, S. 242; Melezini, Punitywnos´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 531–532; Krajewski, PiP 3/2004, S. 87–88; Bojarski/Giezek/Sienkiewicz, S. 273–273; Skupin´ski, in: Bojarski/ Nazar/Nowosad/Szwarczyk (Redaktion), Zmiany w polskim prawie karnym po wejs´ciu w z˙ycie Kodeksu karnego z 1997 roku, S. 144. 543 Szymanowski, PiP 12/2000, S. 39; ders., PiP 10/2002, S. 24; ders., Polityka karna i penitencjarna w Polsce w okresie przemian prawa karnego, S. 61; ders., PiP 6/2005, S. 33; Kubicki, Auszug aus der Diskussion, in: Wolf (Hrsg.), Przeste˛pczos´c´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny, S. 242; Krajewski, CPKiNP 1/2003, S. 202. 544 Kubicki, Auszug aus der Diskussion, in: Wolf (Hrsg.), Przeste ˛ pczos´c´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny, S. 242. 545 Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2005. 546 Ustawa z dnia 14.4.2000 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny, Dz. U. 48.548.00. 547 Art. 134, 135, 160, 170, 210, 211, 212, 255 § 1, 283 § 1 und § 2. 548 Makowski, Art. 42 RN 8; Makarewicz, S. 176. Anders Siewierski, Art. 42 RN 8.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 131

Absehen von der Geldstrafe musste das Gericht in jedem Fall im Urteil begründen.549 Von der Verhängung einer zusätzlichen Geldstrafe, die die Vorschriften des Besonderen Teils vorsahen, konnte das Gericht auf der Grundlage des Art. 42 § 2 KK von 1932 nicht absehen.550 Eine wichtige Änderung der Rechtslage brachte das Gesetz vom 16. November 1960.551 Es fügte Art. 42 § 2 KK von 1932 einen Satz hinzu, der das Absehen von Geldstrafe im Sinne des Art. 42 § 2 KK von 1932 nur dann zuließ, wenn Wiedergutmachung erfolgte. Außerdem führte diese Reform den neuen § 3 in Art. 42 KK von 1932 ein, der dem Gericht die Möglichkeit gab, eine zusätzliche (fakultative) Geldstrafe zu verhängen, wenn der Täter einen Schaden an Gemeineigentum verursachte. Schließlich änderte das Gesetz von 1960 die Vorschrift des Art. 63 § 2 KK von 1932. Dementsprechend konnte das Gericht die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe auch dann widerrufen, wenn der Verurteilte die zusätzliche Geldstrafe nicht gezahlt hatte. Der KK von 1969 hat § 3 des Art. 42 KK von 1932 übernommen, wobei die Anwendung der fakultativen Geldstrafe auf die vorsätzlichen Straftaten beschränkt wurde (Art. 36 § 4 KK von 1969). Die Anwendung der (obligatorischen) zusätzlichen Geldstrafe wurde einfacher gestaltet: Sie war in jedem Fall zu verhängen, wenn der Täter in der Absicht gehandelt hatte, einen rechtswidrigen Vermögensvorteil552 zu erlangen, oder wenn das Gesetz sie vorsah (Art. 36 § 3 KK von 1969). Der KK von 1969 verzichtete somit auf die Prämisse der Zweckmäßigkeit. Das Merkmal des „Handelns aus Gewinnsucht“ aus dem KK von 1932 wurde in der Literatur enger ausgelegt als die Bestimmung des Art. 36 § 3 KK von 1969. Nach der herrschenden Meinung in der polnischen Lehre lag ein Handeln aus Gewinnsucht dann vor, „wenn der Beweggrund des Täters für die Begehung der Tat nur sein Wille ist, sein oder eines Dritten Vermögen rechtswidrig und sichtbar zu vermehren, sei es durch Erweiterung der Aktiva oder durch Verminderung der Passiva.“553 Ein Handeln in der Absicht, einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu erlangen, konnte hingegen schon dann angenommen werden, „wenn die Tat nicht nur gegen das Vermögen, sondern auch gegen an549

Makowski, Art. 42 RN 8. Ebenda, Art. 42 RN 9. 551 Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 50.51.299. 552 Die Definition des Begriffes ließ sich aus Art. 120 § 3 KK von 1969 entnehmen. Darin hieß es: „Einen Vermögensvorteil stellt sowohl der Vorteil dar, den der Täter für sich erlangt, als auch der Vorteil, den er für einen Dritten erlangt.“ Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex. 553 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 760. 550

132

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

dere Rechtsgüter gerichtet“ war.554 Demgemäß war die Vorlage eines gefälschten Diplomzeugnisses zum Zweck der Erlangung einer besser bezahlten Arbeitsstelle kein gewinnsüchtiges Tun, wohl aber ein Handeln in der Absicht, einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu erlangen.555 Wichtig ist, dass der KK von 1969 einen großen Unterschied bei der Höhe der oberen Androhungsgrenze der selbstständigen und der zusätzlichen Geldstrafe eingeführt hat. Diese hohen Androhungsgrenzen und die Nichtbeachtung der Zahlungsfähigkeit der Verurteilten trugen zur sehr hohen Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen wesentlich bei.556 Eine sehr bedeutsame Entscheidung des Gesetzgebers des Jahres 1969 lag auch in der Einführung der gesonderten Rechtsgrundlage für die Verhängung der zusätzlichen Geldstrafe im Falle der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung (Art. 75 § 1 KK von 1969). Diese Möglichkeit sollte gewährleisten, dass in der Gesellschaft nicht der Eindruck entsteht, die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung bedeute einen Freispruch.557 In der Tat machten die Richter bei der bedingten Freiheitsstrafe einen häufigeren Gebrauch von der zusätzlichen Geldstrafe.558 Die Geldstrafe sollte diese Form der Bestrafung vor der Bagatellisierung schützen.559 Dies hat auch das Oberste Gericht in seinen Richtlinien mit Nachdruck betont: „(. . .) die auf Grund des Art. 75 Abs. 1 StGB verhängte Geldstrafe soll, als Bestandteil der verhängten Strafe, deren tatsächliche Empfindlichkeit gewährleisten sowie der Meinung vorbeugen, daß der Täter mit Nachsicht behandelt wird, und sie soll ein zusätzliches Element für die Einhaltung der Rechtsordnung durch den Verurteilten darstellen.“560

Die Anwendung der zusätzlichen Geldstrafe erfolgte in der Strafpolitik der Volksrepublik Polen sehr häufig. Die statistischen Daten zeigen, dass der Anteil der Freiheitsstrafen, die mit einer zusätzlichen Geldstrafe verhängt wurden, zwischen 57% und 71% in den 70er Jahren schwankte.561 In den 80er Jahren betrug der entsprechende Anteil von 59% bis zu 74%.562 Die Bedeutung der zusätzlichen Geldstrafe unter der Geltung des 554

Ebenda. Ebenda. 556 Marek, Prawo karne (2005), RN 376. 557 Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 87; Andrejew/S´wida/Wolter, Art. 72 RN 2. 558 Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 75. 559 Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 87; Andrejew/S´wida/Wolter, Art. 75 RN 1. 560 Wytyczne Sa˛du Najwyz ˙ szego z dnia 28 czerwca 1978, OSNKW 4/1978, Pos. 41. Übersetzung nach Lammich, MschrKrim 35 (1981), S. 85. 561 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage der statistischen Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1976, 1978, 1980, 1981. 555

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 133

KK von 1969 wird noch deutlicher im Lichte einer Untersuchung der Verurteilungen aus dem Jahre 1991, die im Rahmen des Projekts „Die Probation im System des Vollstreckungsrechts“ an der Universität Wrocław durchgeführt wurde. Daraus ergibt sich, dass fast 90% der Verurteilten aus einer Gruppe von 486 Personen mit einer zusätzlichen Geldstrafe belegt wurden.563 Noch höher war der Anteil der zusätzlichen Geldstrafe bei den Verurteilten, die wegen Diebstahls verurteilt wurden: Er betrug 97%.564 Eine bedeutsame Änderung der Rechtsgrundlagen zur zusätzlichen Geldstrafe brachte erst das Gesetz vom 12. Juli 1995565. Erstmals seit In-KraftTreten des KK von 1932 wurde von der obligatorischen zusätzlichen Geldstrafe abgesehen. Nach der neuen Fassung des Art. 36 § 3 KK von 1969 konnte das Gericht eine zusätzliche Geldstrafe verhängen, wenn der Täter in der Absicht gehandelt hatte, einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu erlangen oder wenn er einen solchen Vermögensvorteil erlangt hatte. Die Möglichkeit der Verhängung der fakultativen Geldstrafe in den Fällen, in denen Schaden am Gemeineigentum vorlag (Art. 36 § 4 KK von 1969), wurde abgeschafft. Die höhere Obergrenze bei zusätzlicher Geldstrafe wurde jedoch beibehalten. Der KK von 1997 hat den Gedanken des Art. 36 § 3 KK von 1969 in der letzten Fassung übernommen. Art. 33 § 2 KK von 1997 lautet: „Hat der Täter zum Zwecke der Erzielung eines Vermögensvorteils gehandelt oder hat er durch die Tatbegehung einen Vermögensvorteil erzielt, so kann das Gericht neben der in Art. 32 Ziff. 3 bezeichneten Freiheitsstrafe auch eine Geldstrafe verhängen.“566

Drei Unterschiede gegenüber dem KK von 1969 lassen sich feststellen. Zum einen kann die Geldstrafe nach dem KK von 1997 nur zusätzlich zur in Art. 32 Ziff. 3 bezeichneten Freiheitsstrafe verhängt werden, d.h. eine Geldstrafe zusätzlich zu einer 25jährigen Freiheitsstrafe (Art. 32 Ziff. 4) oder zusätzlich zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (Art. 32 Ziff. 5) ist ausgeschlossen. Zum anderen kann durch die neue Formulierung567 kein 562 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage der statistischen Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1986, 1991. 563 Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s ´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 109. 564 Ebenda. 565 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95. 95.475. 566 Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. 567 Die obige Übersetzung verwendet das Wort „handeln“, was jedoch mit dem polnischen Original nicht übereinstimmt. Im Art. 33 § 2 KK von 1997 wird das

134

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Zweifel daran bestehen, dass auf eine zusätzliche Geldstrafe auch bei Taten erkannt werden kann, die durch Unterlassen verwirklicht werden.568 Der dritte Unterschied liegt im Verzicht auf eine unterschiedliche Obergrenze bei der selbstständigen und der zusätzlichen Geldstrafe, die auf der Grundlage des Art. 33 § 2 KK von 1997 verhängt wird. Der Gesetzgeber des Jahres 1997 hat auch nicht von einer Rechtsgrundlage abgesehen, die dem Gericht die Möglichkeit gibt, auf eine Geldstrafe zu erkennen, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Dementsprechend lautet Art. 71 KK von 1997: „§ 1. Bei der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung kann das Gericht eine Geldstrafe von höchstens hundertachtzig Tagessätzen verhängen, auch wenn eine andere Grundlage für ihre Verhängung nicht besteht; bei der Aussetzung der Freiheitsbeschränkungsstrafe zur Bewährung kann das Gericht eine Geldstrafe von höchstens neunzig Tagessätzen verhängen. § 2. Ordnet das Gericht die Vollstreckung der Freiheits- oder Freiheitsbeschränkungsstrafe an, wird die aufgrund von § 1 verhängte Geldstrafe nicht vollstreckt. Hat der Verurteilte bereits einen Teil der Geldstrafe beglichen, so wird die zu vollstreckende Freiheits- oder Freiheitsbeschränkungsstrafe um die Dauer gekürzt, die der Anzahl der bereits bezahlten Tagessätze entspricht; hierbei wird auf volle Tage abgerundet.“569

Die Begründung für die Beibehaltung dieser Rechtsgrundlage ist dieselbe, wie schon beim KK von 1969: Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass der Täter, dessen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, straffrei aus dem Verfahren herauskommt.570 Allerdings sind drei Unterschiede im Vergleich mit Art. 75 KK von 1969 gegeben. Art. 71 KK von 1997 stellt ausdrücklich die Höhe der zusätzlichen Geldstrafe fest. Ferner wurde die Möglichkeit der Verhängung der Geldstrafe zusätzlich zur Freiheitsbeschränkungsstrafe geschaffen, wenn diese zur Bewährung ausgesetzt wurde. Schließlich wurde eindeutig entschieden, dass die Geldstrafe bei Widerruf der Aussetzung nicht vollgestreckt werden kann. Außerdem hat der KK von 1997 eine völlig neue Rechtsgrundlage für die Verhängung einer zusätzlichen Geldstrafe eingeführt. Nach Art. 90 Abs. 2 KK von 1997 kann das Gericht bei der Verhängung einer Gesamtfreiheits- oder Gesamtfreiheitsbeschränkungsstrafe, falls es sie zugleich zur Verb „dopus´cic´ sie˛“ verwendet. Es umfasst auch die Taten, die durch Unterlassen verwirklicht werden. 568 Wróbel, NKPK 15/1998, S. 28. 569 Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. 570 Górniok/ Hoc /Kalitowski/Przyjemski /Sienkiewicz /Szumski /Tyszkiewicz /Wa˛sek, Art. 71 RN 1.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 135

Bewährung aussetzt, die in Art. 71 § 1 bezeichnete Geldstrafe verhängen, selbst wenn diese für keine der zusammentreffenden Straftaten verhängt wurde. In der gegenwärtigen Praxis spielt die zusätzliche Geldstrafe weiterhin eine nicht unbeachtliche Rolle, obwohl die Geldstrafe neben Freiheitsstrafe bei Taten zur Erlangung eines Vermögensvorteils seit 1995 nicht mehr obligatorisch ist. Obwohl eine sinkende Tendenz erkennbar wird, wurde im Jahr 2004 fast jede dritte Freiheitsstrafe mit einer zusätzlichen Geldstrafe verhängt. Das ist weniger im Vergleich zum Jahre 1994, zeugt aber davon, dass die Geldstrafe noch weit von einer autonomen Stellung im Strafsystem entfernt ist.

Tabelle 3 Der Anteil der Freiheitsstrafen, die in Polen mit zusätzlicher Geldstrafe in den Jahren 1994–2004 verhängt wurden Jahr

Zahl der Freiheitsstrafen

Zahl der Geldstrafen zusätzlich zu Freiheitsstrafen

Prozent

1994

133.515

89.731

67,2

1995

138.120

94.051

68,0

1996

159.972

92.263

57,6

1997

141.965

73.782

51,9

1998

92.692

46.250

49,8

1999

153.520

60.743

39,5

2000

174.223

65.654

37,6

2001

221.762

81.439

36,7

2002

250.275

86.143

34,4

2003

269.643

89.186

33,0

2004

327.331

111.154

33,9

Die Freiheitsstrafen erfassen nicht die 25jährigen Freiheitsstrafen und lebenslangen Freiheitsstrafen. Die Daten aus den Jahren 1997–2004 zeigen nur die Verurteilungen aus öffentlichen Klagen. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1998 erfassen nur die Daten bis zum 31. August. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1996, 1999, 2000, 2001, 2003, 2004, 2005.

136

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe Dem KK von 1932 und dem KK von 1969 lag das Gesamtsummensystem zugrunde. Einen Umbruch brachte erst der KK von 1997, indem er das System der Bemessung der Geldstrafe auf das Tagessatzsystem umstellte. Im Folgenden werden beide Etappen nacheinander erörtert. 1. Gesamtsummensystem Nach dem KK von 1932 setzten die Richter die Geldstrafe in einem Betrag fest. Der Rahmen der Geldstrafe reichte von 5 bis zu 200.000 zł. Diese große Spannweite sollte gewährleisten, dass zum einen die Geldstrafe an die Leistungsfähigkeit des Täters angepasst und zum anderen die Anwendung der Freiheitsstrafe auf minder schwere Fälle vermieden wurde.571 Die Elastizität des Systems sollte auch der Art. 56 KK von 1932 sichern, der den Richter zur Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Verurteilten bei der Festsetzung von Geldstrafe verpflichtete. Dieser Artikel wurde auf der Grundlage des Gesetzes von 1960572 geändert, indem das Gericht außer den Vermögensverhältnissen des Täters den durch die Straftat verursachten Schaden und den erlangten Vorteil berücksichtigen musste. Daher sollte nach Siewierski die Geldstrafenhöhe der Schadenshöhe oder dem erlangten Vorteil grundsätzlich entsprechen.573 Hinweise zur Ermittlung der Vermögensverhältnisse des Täters waren im KK von 1932 nicht vorhanden. Sie sah aber der KPK von 1928 in Art. 82 vor, nach dem die Vermögensverhältnisse des Täters in jedem Verfahren festgestellt werden mussten. Der KPK von 1928 schwieg jedoch dazu, welches Organ diese Aufgabe erfüllen sollte. Nach Nisenson und Siewierski sollte die Polizei grundsätzlich die entsprechenden Daten des Täters erheben.574 Auch der KK von 1969 folgte dem klassischen Gesamtsummensystem der Geldstrafe. Warum der Gesetzgeber im KK von 1969 dem Tagessatzsystem eine Absage erteilt hat, lässt sich nicht genau sagen.575 Nach Cies´lak und Weigend wäre das Tagessatzsystem in der Praxis auf größere 571 Górniok / Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski / Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 33 RN 1; ders., PiP 11/2000, S. 39. 572 Ustawa z dnia 16.11.1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 573 Siewierski, Art. 56 RN 3. 574 Nisenson/Siewierski, KPK, Art. 82 RN 1. 575 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 761.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 137

Schwierigkeiten gestoßen als das Gesamtsummensystem.576 Ferner schrieb man dem Letzteren eine bessere generalpräventive Wirkung zu.577 Die ursprüngliche Fassung des KK von 1969 sah die selbstständige Geldstrafe in einer Höhe von 500 zł bis zu 25.000 zł vor. Die zusätzliche Geldstrafe konnte von 500 zł bis zu 1.000.000 zł betragen. In den 80er und 90er Jahren wurden die Androhungsgrenzen der Geldstrafe mehrmals erhöht.578 Die Kritik der Lehre konnte den Gesetzgeber von der Erhöhung der Androhungsgrenzen nicht abbringen.579 Obwohl Sługocki schon im Jahre 1984 die Ergebnisse seiner Untersuchung zur Vollstreckung der selbstständigen Geldstrafe publizierte, die den Beweis lieferten, dass der wichtigste Grund der Nichtzahlung der Geldstrafe in den zu hohen Summen lag,580 entschied sich der Gesetzgeber im Gesetz vom 10. Mai 1985 für eine drastische Erhöhung der Androhungsgrenzen der Geldstrafe. Die hohen Summen standen nicht nur auf dem Papier, sondern hatten einen enormen Einfluss auf die Praxis. Der KK von 1969 verpflichtete das Gericht bei der Bemessung der Geldstrafe, wie der KK von 1932, zur Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Täters. Nach Art. 50 § 3 KK von 1969 sollte das Gericht bei der Verhängung der Geldstrafe neben den Vermögensverhältnissen des Täters sein Einkommen und die Vorteile berücksichtigen, die der Täter aus der Begehung einer Straftat erlangte oder erlangen wollte. Nach Art. 50 § 2 KK von 1969 sollte das Gericht auch den Schaden berücksichtigen, den der Täter durch die Tat verursachte. Das Oberste Gericht definierte die Vermögensverhältnisse wie folgt: 576

Ebenda. Ebenda. 578 Art. 36 § 1 wurde durch folgende Gesetze geändert: – Ustawa z dnia 26 maja 1982 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 82.16.125. – Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 85.23.100. – Ustawa z dnia 28 wrzes´nia 1990 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 90.72.422. – Ustawa z dnia 28 lutego 1992 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego, prawa o wykroczeniach i o poste˛powaniu w sprawach nieletnich. Dz. U. 92.24.101. – Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 579 Siehe Kritik von Sługocki zum Gesetz vom 26. Mai 1982. Siehe dazu: Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 56. Auch die Kritik von Ratajczak zum Gesetz vom 10. Mai 1985, Ratajczak, PiP 2/1988, S. 72. Die letzte Erhöhung durch das Gesetz vom 12. Juli 1995 hat Marek kritisiert. Marek, Prawo karne – Zagadnienia teorii i praktyki (1997), S. 261. 580 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 212. 577

138

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

„Unter den Vermögensverhältnissen und den Einkünften des Täters versteht man sein ganzes Vermögen und alle seine Einkünfte. Die Vermögensverhältnisse und die Einkünfte des Täters beurteilt man insbesondere unter Berücksichtigung des Familienstandes und der daraus entstehenden ökonomischen Verpflichtungen sowie der Gesamtheit aller gegen ihn aus der Verurteilung bestehenden ökonomischen Belastungen.“581

Die Pflicht zur Ermittlung der Vermögensverhältnisse normierte der KPK von 1969 in Art. 8 § 1. Dementsprechend mussten die Vermögensverhältnisse des Täters in jedem Fall festgestellt werden. Das Gesetz sah keine Ausnahme von dieser Regel vor. Das Oberste Gericht hat in seinem Urteil vom 14. Januar 1986582 die Auffassung vertreten, dass die Nichterfüllung der Verpflichtung aus Art. 8 § 1 KPK von 1969 einen Mangel darstellt, der die Zurückweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft begründen kann. Trotzdem lassen die durchgeführten Untersuchungen bedeutende Defizite bei der Basisinformation erkennen. Die Untersuchung von Melezini ergab, dass in 230 Fällen aus 1.365 Fällen der Geldstrafenverurteilung keine Angaben über die Vermögensverhältnisse sowie über die Zahlungsfähigkeit des Verurteilten vorlagen.583 Eine sehr ausführliche Datenlage hinsichtlich der Vermögensverhältnisse bei Verurteilungen zur selbstständigen Geldstrafe brachte die Untersuchung von Sługocki. Daraus ergibt sich, dass in der ausgewählten Gruppe der Täter, die im Jahre 1970 zu selbstständiger Geldstrafe verurteilt wurden, in 12,1% der Fälle keine Informationen bezüglich der finanziellen Lage der Täter vorhanden waren.584 Im Jahre 1978 betrug der entsprechende Anteil 5%.585 Daher kann es nicht verwundern, dass Sługocki diese Praxis eher kritisch beurteilte.586 2. Tagessatzsystem Obwohl die Einführung des Tagessatzsystems in das polnische Rechtssystem schon im Jahre 1979 gefordert wurde,587 inkorporierte erst der KK von 1997 dieses System.588 Es folgte dem klassischen Modell, das die Zumes581 Beschluss vom 28. April 1978, VII KZP 15/76, OSNKW 4–5/1978, Pos. 41 (Übersetzung des Verf.). 582 OSNPG 1968/8/113. 583 Melezini, PPK 9/1993, S. 18. 584 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 141. 585 Ebenda, S. 144–145. 586 Ebenda, S. 144–145. 587 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 796. 588 Eine Untersuchung, deren Ergebnisse im Jahr 1995 publiziert wurden, ergab, dass 76,8 % der Richter und 73,2 % der Staatsanwälte sich für die Beibehaltung des Gesamtsummensystems aussprachen. Siehe dazu: Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 20.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 139

sung der Geldstrafe in zwei Phasen teilt. Im ersten Akt legt das Gericht die Anzahl der Tagessätze nach den Grundsätzen der Art. 53–55 KK von 1997 fest,589 im zweiten Akt wird die Höhe des Tagessatzes „unter Berücksichtigung der Einkünfte des Täters, seiner persönlichen und familiären Lage sowie seiner Vermögensverhältnisse und Verdienstmöglichkeiten“ (Art. 33 § 3 KK von 1997) festgesetzt. Bemerkenswert ist zudem, dass die vom erkennenden Gericht festgesetzte Zahl und die Höhe der Tagessätze im Vollstreckungsverfahren geändert werden können. Gemäß Art. 47 § 4 KKW von 1997 kann das Gericht bei der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe oder der gemeinnützigen Arbeit eine günstigere Umrechnung (Verhältnis Zahl – Höhe) annehmen, wenn der Verurteilte innerhalb der festgesetzten Frist mindestens die Hälfte der Geldstrafe entrichtet hat und der Restbetrag im Wege der Zwangsvollstreckung nicht beigetrieben werden konnte. Dies kann jedoch nicht zur Änderung der Gesamtsumme einer Geldstrafe führen.590 a) Die Anzahl der Tagessätze Die Zahl der Tagessätze kann von 10 bis zu 360 betragen, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt (Art. 33 § 1 KK von 1997). Diese Zahl gilt sowohl für die selbstständige als auch für die zusätzliche Geldstrafe, falls der Täter zum Zwecke der Erzielung eines Vermögensvorteils gehandelt hat (Art. 33 § 2 KK von 1997). Wenn die Geldstrafe neben einer bedingten Freiheitsstrafe oder neben einer bedingten Freiheitsbeschränkungsstrafe verhängt wird, beträgt das Höchstmaß der Tagessätze entsprechend 180 oder 90 (Art. 71 § 1 KK von 1997). Bei einer außerordentlich geschärften Strafe (Art. 38 § 2 KK von 1997) und bei einer Gesamtstrafe (Art. 86 § 1 KK von 1997) kann die Zahl der Tagessätze bis auf 540 steigen. Bei der Festsetzung der Zahl der Tagessätze soll das Gericht die Schuld des Täters, die Sozialschädlichkeit der Tat, die Individual- sowie die Generalprävention berücksichtigen (Art. 53 § 1 KK von 1997). Ferner sollen die Umstände gemäß Art. 53 § 2591 und § 3 KK von 1997 sowie der besondere Status eines Jugendlichen oder Heranwachsenden (Art. 54 KK von 1997) Daher war die Sorge der Lehre, ob die Richter das neue System anwenden würden, vollkommen begründet. Siehe dazu: Szkotnicki, Prok. i Pr. 5/1995, S. 72; ders., Rzeczpospolita vom 17. April 1996; Majewski, Palestra 3–4/1998, S. 8. 589 Buchała/Zoll, Art. 33 RN 7. 590 Hołda/Postulski (2005), Art. 47 RN 13. 591 Zu Recht betont Majewski, dass das theoretische Konzept in diesem Punkt nicht kohärent ist, weil die persönlichen Verhältnisse des Täters sowohl bei der Zahl der Tagessätze (Art. 53 § 2 KK von 1997) als auch bei der Höhe eines Tagessatzes (Art. 33 § 3 KK von 1997) berücksichtigt werden müssen. Majewski, Palestra 3–4/1998, S. 7.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

beachtet werden. Schließlich soll der Grundsatz der Individualisierung (Art. 55 KK von 1997) Ausdruck in der Zahl der Tagessätze finden. Die Lehre ist sich weitgehend darin einig, dass in dieser Phase der Strafzumessung die Vermögensverhältnisse des Täters außer Betracht bleiben müssen, es sei denn, dass sie seine Schuld beeinflussen.592 b) Die Höhe der Tagessätze Die Höhe eines Tagessatzes kann von 10 zł bis zu 2.000 zł betragen. Das Gericht soll bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe die Einkünfte des Täters, seine persönliche und familiäre Lage sowie seine Vermögensverhältnisse und Verdienstmöglichkeiten (Art. 33 § 3 KK von 1997) berücksichtigen. Im KK von 1997 wurde auf die Bestimmung der maßgebenden Kriterien verzichtet, die dem Gericht bei der Abwägung der Umstände gemäß Art. 33 § 3 KK von 1997 behilflich sein könnten.593 Zu den Einkünften werden Lohn, Rente, Pension, Alimente, Zinsen u. a. gezählt.594 Die Einkünfte des Täters sollen auf der Grundlage der Arbeitsbescheinigungen und der Informationen des Finanzamtes festgestellt werden.595 Diese zweite Quelle erachtete man als condicio sine qua non für die Einführung des neuen Systems.596 Der Gesetzgeber hat nicht entschieden, ob unter den Einkünften des Täters das Netto- oder das Bruttoeinkommen zu verstehen ist.597 Melezini,598 Szumski599 und Marek600 sprechen sich für die erste Möglichkeit aus, wobei ihr Verständnis des Nettobegriffs weit über die steuerrechtliche Auslegung hinausgeht. Darunter versteht Melezini die Quote, die dem Täter nach dem Abzug der Einkommens- und Unterhaltskosten, der Unterhaltsverpflichtungen, der Kosten einer Heilbehandlung sowie der Wohnkosten verbleibt.601 Grundlage für die Bestimmung der Höhe eines Tagessatzes sollen somit die Einkünfte sein, die dem Täter nach Befriedigung der grundsätzlichen Le592 Melezini, MP 3/1998, S. 90; Kolasin ´ ski, Prok. i Pr. 3/1999, S. 18; Marek, PiP 2/2003, S. 15. 593 Melezini, MP 3/1998, S. 91. 594 Górniok / Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski / Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 33 RN 12. 595 Marek, PiP 2/2003, S. 15. 596 Ebenda. 597 Es ist schwer mit Wróbel einverstanden zu sein, dass dieser Begriff keine größeren Auslegungsprobleme verursachen soll. Wróbel, NKK 15/1998, S. 10. 598 Melezini, MP 3/1998, S. 91. 599 Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 13. 600 Marek, PiP 2/2003, S. 16. 601 Melezini, MP 3/1998, S. 91.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 141

bensbedürfnisse bleiben, d.h. alles, was über das Existenzminimum hinausgeht.602 Strittig bleibt, ob Verpflichtungen berücksichtigt werden sollen, insbesondere wenn sie nach der Begehung einer Straftat entstanden sind.603 Man ist sich darin einig, dass sie eventuell auf die Bewilligung der Zahlungserleichterungen einen Einfluss haben können.604 Die persönliche Lage des Angeklagten bestimmen zunächst sein Alter, seine Ausbildung, seine psychischen und physischen Prädispositionen sowie seine beruflichen Qualifikationen.605 Es wird angenommen, dass diese Umstände direkt die Möglichkeiten der Einkommenserlangung beeinflussen.606 Nach Wróbel limitiert die persönliche Lage die Höhe der Geldstrafe, indem das Gericht das Existenzminimum des Verurteilten bei der Bemessung der Tagessatzhöhe berücksichtigen muss.607 Ferner wird in der Lehre die Auffassung vertreten, dass die familiäre Lage des Verurteilten nie die Schlussfolgerung begründen könne, dass bei der Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes die Einkünfte des Ehegatten oder von anderen Angehörigen berücksichtigt werden dürften.608 Der Umstand der familiären Lage sollte bloß die Aufmerksamkeit des Gerichts auf die Unterhaltsverpflichtungen des Verurteilten lenken.609 Man kann vermuten, dass die herrschende Meinung bei der Auslegung des Begriffes „Vermögensverhältnisse“ im Allgemeinen an den Beschluss des Obersten Gerichts vom 28. April 1978 (vgl. obiges Zitat unter 1.) anknüpfen wird.610 Aus diesem Beschluss des Obersten Gerichts geht hervor, dass die Vermögensverhältnisse grundsätzlich das Vermögen umfassen. Dies bedeutet für das System der Bemessung der Geldstrafe, dass bei der Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes das Vermögen des Verurteilten unter Einbeziehung aller Verpflichtungen berücksichtigt werden kann. Wróbel bringt dies wie folgt zum Ausdruck: „Je höher das Vermögen, das der Täter besitzt, desto höher soll der Tagessatz sein, unabhängig von den Einkommensmöglichkeiten des Täters.“611 602 Ebenda. Ähnlich Górniok/Hoc/Kalitowski/Przyjemski/Sienkiewicz/Szumski/ Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 33 RN 11. 603 Melezini, MP 3/1998, S. 91. 604 Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 13; Marek, PiP 2/2003, S. 16; Górniok/Hoc/ Kalitowski/Przyjemski/Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 33 RN 11. 605 Wróbel, NKK 15/1998, S. 11. 606 Ebenda. 607 Ebenda. Ähnlich Majewski, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze ˛ s´c´ ogólna, Art. 33 RN 22. 608 Wróbel, NKK 15/1998, S. 11–12. 609 Ebenda. 610 So z. B. Wojciechowska, in: Rejman (Redaktion), Art. 33 RN 8. 611 Wróbel, NKK 15/1998, S. 11 (Übersetzung des Verf.).

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Auch Melezini bezieht die Vermögensverhältnisse auf das gesamte Vermögen des Verurteilten.612 Nicht ohne Bedeutung für die Feststellung der Vermögensverhältnisse – wie Melezini betont – bleiben andere gegen den Täter verhängte ökonomische Maßnahmen, die das Vermögen des Verurteilten erheblich belasten können.613 Szumski ergänzt diese Auffassung um den Aspekt der ehelichen Vermögensbeziehungen: Soweit das Vermögen zum Gemeinschaftseigentum der Ehegatten gehört, sollen die aus ihm stammenden Einkünfte auch bei der Festsetzung der Höhe des Tagessatzes berücksichtigt werden.614 Die Berücksichtigung des potentiellen Verdienstes des Täters sollte nach Melezini und Szumski nur dann stattfinden, wenn der Täter sich der Arbeit entzieht, eine schlecht bezahlte Arbeit annimmt oder auf die Führung eines eigenen Geschäfts verzichtet, um die Höhe der Geldstrafe zu beeinflussen.615 Es geht somit nicht um den maximalen Verdienst, den der Täter haben könnte, wenn er alle seine Fähigkeiten und Qualifikationen nutzen würde, sondern um böswilliges Verhalten, um eine angemessene Geldstrafe zu vermeiden. Ganz anders legen Marek616 und Majewski617 den Begriff der Verdienstmöglichkeiten aus. Danach sollte das Gericht den potentiellen Verdienst des Täters berücksichtigen, ohne die Einschränkung auf böswilliges Verhalten. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Denn die Auslegung des Begriffes „Verdienstmöglichkeiten“ durch Melezini und Szumski geht über den Wortlaut des Art. 33 § 3 KK von 1997 hinaus. Auch kann das künftige Einkommen des Täters von Bedeutung sein, wenn das Gericht bei der Festsetzung der Höhe eines Tagessatzes feststellt, dass die Einkünfte des Täters sich in Kürze bedeutend verändern werden, z. B. durch Aufnahme einer besser bezahlten Arbeit.618 In jedem Fall soll jedoch die Situation auf dem Arbeitsmark berücksichtigt werden.619 Fraglich ist dagegen, ob der Anspruch auf Arbeitslosengeld durch den Begriff „Verdienstmöglichkeiten“ umfasst wird. Angesichts der relativ hohen Anzahl von Arbeitslosen unter den Kriminellen hat das Problem eine sehr bedeutende praktische Dimension. Dies betrifft auch die Sozialhilfeberechtigten, die von ihrem Recht auf Sozialhilfe keinen Gebrauch machen. 612

Melezini, MP 3/1998, S. 91. Ebenda. 614 Górniok / Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski / Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 33 RN 12. 615 Melezini, MP 3/1998, S. 92; Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 14. 616 Marek, Art. 33 RN 6. 617 Majewski, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze ˛ s´c´ ogólna, Art. 33 RN 26. 618 Melezini, MP 3/1998, S. 92. 619 Wróbel, NKK 15/1998, S. 10; Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 14. 613

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 143

Wróbel beantwortet die Frage positiv.620 Er gibt jedoch kein Argument an, das seine Meinung unterstützen würde. Gegen eine solche Auffassung lässt sich zumindest einwenden, dass das polnische Wort „zarobkowe“ (Verdienst) eindeutig auf die Arbeit „robota“ hinweist, was wenig mit dem Arbeitslosengeld zu tun hat. Wie die Praxis vorgeht, lässt sich mangels entsprechenden Zahlenmaterials gegenwärtig nicht überprüfen. Kommt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Einkünfte des Täters, seine Vermögensverhältnisse oder Verdienstmöglichkeiten für die Begleichung einer angemessenen Geldstrafe nicht ausreichen und die Zwangsvollstreckung erfolglos bleiben wird, so verbietet ihm Art. 58 § 2 KK von 1997, eine Geldstrafe zu verhängen. Ein so strenges Verbot der Verhängung der Geldstrafe im Falle der Überzeugung von der Nichtzahlung durch den Verurteilten hatte der KK von 1969 noch nicht vorgesehen. Die Einführung dieser Vorschrift in das polnische Strafrechtssystem wird als Ausdruck der Rationalität des neuen Kodexes bezüglich des Strafens und der Strafpolitik angesehen.621 Der Begründung zum Projekt des Kodexes von 1997 kann man entnehmen, dass der Einführung dieser Vorschrift zwei Gedanken zugrunde gelegen haben: 1. jede Strafe sollte individuell empfunden werden, was in diesem Kontext bedeutet, dass die Familie nicht die Lasten der Geldstrafe tragen soll; 2. es sollte die Praxis maximal begrenzt werden, die zur Umwandlung der Geldstrafe in Freiheitsstrafe geführt hatte, wie es bisher geschah.622 Mangels entsprechender empirischer Untersuchungen lässt sich zur Zeit noch nicht präzise feststellen, inwieweit die Praxis den Art. 58 § 2 KK von 1997 beachtet. Einige der Urteile weisen jedoch darauf hin, dass die Gerichte dem Art. 58 § 2 KK von 1997 folgen.623 Andererseits hat das Appellationsgericht Katowice im Jahre 2000 angenommen, dass das Verbot des Art. 58 § 2 KK von 1997 für denjenigen Täter keine Anwendung findet, der arbeitsfähig, mit Berufsausbildung und ohne Unterhaltspflicht ist.624 Meine eigenen Erfahrungen aus der Zeit des Referendardienstes sprechen eher dafür, dass die Idee des Art. 58 § 2 KK von 1997 weitgehend von den Richtern praktiziert wird.625 Auch die geringe Zahl der Stellungnahmen der 620 Kritisch dazu: Majewski, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze ˛ s´c´ ogólna, Art. 33 RN 27. 621 Buchała/Zoll, Art. 58 RN 9; Warylewski, Prawo karne, S. 358. 622 Uzasadnienie do projektu Kodeksu karnego, PiP 3/1994. 623 Urteil des Appellationsgerichts vom 16.9.1998, II Aka 165/98, Prok. i Pr. 4/1999. 624 Urteil des Appellationsgerichts vom 26.10.2000, II Aka 27/00, Prok. i Pr. 7–8/2001. 625 Siehe dazu Urteil des Appellationsgerichts vom 16.9.1998, II Aka 165–98, Prok. i Pr. 4/1999.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Lehre hinsichtlich der Festsetzung der Tagessatzhöhe gegenüber den einkommensschwachen Gruppen der Verurteilten spricht dafür, dass diese Personen aufgrund des Art. 58 § 2 KK von 1997 überwiegend von vornherein von der Anwendung der Geldstrafe ausgeschlossen sind.626 Zu den Ausnahmen gehört die Meinung von Szumski, wonach das Gericht gegenüber Arbeitslosen, Studenten, Hausfrauen, Rentnern, Soldaten eine andere Sanktion als die Geldstrafe verhängen soll, die jedoch nicht zum Freiheitsentzug führen darf. In einem solchen Fall kann nicht auf eine kurze Freiheitsstrafe wegen Mittellosigkeit erkannt werden. Er stützt seine Auffassung auf die Annahme, dass die Sanktion nur auf den Verurteilten einwirken soll.627 Von einer ähnlichen Prämisse geht Melezini aus, wenn sie dazu vorschlägt, von der Anwendung der Geldstrafe abzusehen, wenn sie andere Personen als den Verurteilten belasten würde.628 Schließlich bleibt zu untersuchen, wie die Pflicht zur Ermittlung der materiellen Lage des Täters im Rahmen des neuen Systems geregelt wurde. Wie im alten Recht findet sich die entsprechende Norm im Verfahrensrecht: Art. 213 KPK von 1997. Dementsprechend müssen alle am Verfahren beteiligten Organe, neben der Identität des Angeklagten, seinem Alter und seiner Ausbildung, auch seine Familien- und Vermögensverhältnisse feststellen. Auch sein Beruf sowie seine Einkommensquellen sollen ermittelt werden. Nach Waltos´, Hofman´ski, Sadzik und Zgryzek müssen diese Daten in jedem Verfahren, ohne Ausnahme (Waltos´), festgestellt werden.629 Um die materielle Lage des Täters festzustellen, kann sich die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren und das Gericht im gerichtlichen Verfahren an die Finanzorgane wenden, die zur Bereitstellung der genannten Daten verpflichtet sind (Art. 297 und 298 der Finanzordnung630). Die Ermittlung der materiellen Lage des Verurteilten wird aus der Sicht des Gerichts auch dadurch begünstigt, dass die Frage nach den Vermögensverhältnissen des Angeklagten schon am Anfang der Gerichtsverhandlung nach den in der Literatur herausgearbeiteten methodischen Hinweisen zur Arbeit der Richter gestellt werden sollte,631 d.h. vor der Verlesung der Anklageschrift und der Belehrung des Angeklagten über sein Aussageverweigerungsrecht, was bedeutet, dass der Täter über sein Aussageverweigerungsrecht erst nach den Fragen zu seiner materiellen Lage belehrt wird. 626

Die Kommentare widmen dieser Problematik nur ein paar Zeilen. Górniok / Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski / Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 33 RN 13. 628 Melezini, MP 3/1998, S. 91. 629 Waltos ´, Proces karny, S. 388; Hofman´ski/Sadzik/Zgryzek, Art. 213 RN 4. 630 Ustawa z dnia 29 sierpnia 1997 r. Ordynacja podatkowa. Dz. U. 97.137.926. 631 Siehe dazu: Samborski, Zarys metodyki pracy se ˛ dziego w sprawach karnych, S. 192. 627

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 145

III. Zahlungserleichterungen Auf der Grundlage des KPK von 1928 konnte das Gericht oder der Staatsanwalt die Beitreibung der Geldstrafe aufschieben oder sie in Raten aufteilen, wenn die sofortige Beitreibung für den Verurteilten oder seine Familie eine unzumutbare Härte darstellte (Art. 543 KPK). Beide Zahlungserleichterungen konnten erst im Vollstreckungsverfahren angeordnet werden und nur dann, wenn der Verurteilte einen entsprechenden Antrag stellte. Die Ratenzahlung oder die Stundung im Urteil von Amts wegen schied somit aus. Beide Zahlungserleichterungen konnten für ein Jahr gewährt werden (Art. 543 KPK von 1928). Auf der Grundlage eines Erlasses des Präsidenten vom 21. November 1938632 wurde dem Art. 543 KPK von 1928, inzwischen Art. 563 KPK von 1928, ein § 2 hinzugefügt, der in Ausnahmefällen einen Zeitraum von bis zu 3 Jahren zuließ. Der KPK von 1928 beinhaltete keine Vorschriften über den Widerruf der Zahlungserleichterungen. Die Regelungen des danach einschlägigen polnischen Strafvollstreckungsgesetzbuches von 1969 (Kodeks karny wykonawczy; im Folgenden: KKW von 1969) sowie des KKW von 1997 haben in vielen Punkten an die Vorschriften des KPK von 1928 angeknüpft. Es lassen sich jedoch auch beachtliche Unterschiede feststellen. Art. 49 KKW von 1997 wiederholt dabei fast wörtlich den Inhalt des Art. 155 KKW von 1969. Er lautet: „§ 1. Das Gericht kann die Beitreibung der Geldstrafe aufschieben oder sie in Raten aufteilen, und zwar für einen Zeitraum, der ein Jahr von dem Tag an gerechnet, an dem der erste Beschluß in dieser Angelegenheit ergangen ist, nicht überschreitet, wenn die sofortige Beitreibung für den Verurteilten oder seine Familie eine unzumutbare Härte bedeuten würde. § 2. In Fällen, die eine besondere Rücksichtnahme erfordern, insbesondere wenn die Höhe der Geldstrafe bedeutend ist, kann die Geldstrafe in Raten für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren aufgeteilt werden. § 3. Das Gericht kann jederzeit einen Beschluß nach § 1 oder § 2 fassen, bis zur vollständigen Beitreibung der Geldstrafe oder der vollständigen Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe durch den Verurteilten.“633

Auch Art. 50 KKW von 1997 knüpft an Art. 156 § 2 KKW von 1969 an. Er lautet: „§ 1. Das Gericht widerruft den Aufschub für die Entrichtung der Geldstrafe oder deren Aufteilung in Raten, wenn neue oder vorher nicht bekannte Umstände be632 Dekret Prezydenta Rzeczypospolitej z dnia 21 listopada 1938 r. o usprawnieniu poste˛powania sa˛dowego. Dz. U. 38.89.609. 633 Übersetzung nach Łukan ´ ko/Zboralska, Kodeks karny wykonawczy.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

kannt geworden sind, die für die Entscheidung erheblich sind; Art. 24 § 2 findet keine Anwendung. § 2. Die Aufteilung in Raten kann auch dann widerrufen werden, wenn der Verurteilte mit der Zahlung auch nur einer Rate in Verzug kommt, es sei denn, er kann nachweisen, daß dies aus Gründen geschah, die er nicht zu vertreten hat.“634

Aus den zitierten Vorschriften geht hervor, dass sowohl der KKW von 1969 als auch der KKW von 1997 im Gegensatz zur vorherigen Rechtslage die Gewährung der Zahlungserleichterungen von Amts wegen zugelassen haben. Ferner haben die Nachfolger des KPK von 1928 die Bedingungen zum Widerruf der Vergünstigung bestimmt. Bemerkenswert ist zudem, dass der KK von 1969 in Art. 87 im Gegensatz zum KK von 1932 und dem KK von 1997 die Gewährung der Ratenzahlung bereits im Urteil zuließ.635 Leider lässt sich mangels entsprechender empirischer Untersuchungen nicht feststellen, wie oft die Gerichte unter der Geltung der oben dargestellten Regelungen von der Einräumung der Ratenzahlung Gebrauch machten. Eine Ausnahme stellen allerdings die Untersuchungen von Klemke/Wojciechowski und Sługocki dar, die einen Einblick in die Praxis der 70er und 80er Jahre zulassen. So zeigte die Untersuchung von Klemke und Wojciechowski, dass der Anteil der Geldstrafen, die in der Form von Ratenzahlung getilgt wurden, in den Jahren 1974–1982 zwischen 22,8% und 29% schwankte.636 Die Untersuchung von Sługocki ergab, dass bei der Gruppe von 157 Verurteilten, die im Jahre 1970 zu selbstständiger Geldstrafe verurteilt wurden, die Ratenzahlung in 47,1% der Fälle bewilligt wurde.637 Der entsprechende Prozentsatz bei der Gruppe von 159 Verurteilten, die im Jahre 1978 verurteilt wurden, betrug 38,3.638 Aus diesen Daten geht hervor, dass die Gerichte den Anträgen auf Ratenzahlung nicht selten stattgegeben haben. Das Problem lag jedoch in der Bewilligung der Ratenzahlung für einen Zeitraum von über einem Jahr (Art. 155 § 2 KKW von 1969). Die Einführung des Merkmals „besondere Rücksichtnahme“, das der Art. 49 § 2 KKW von 1997 wiederholt, beschränkte die Bewilligung der Ratenzahlung von bis zu 3 Jahren erheblich. Solche Entscheidungen gehörten zu den Ausnahmen (Jahr 1970: 1 Fall, Jahr 1978: 6 Fälle)639, obwohl die von Sługocki durchgeführte Analyse der Akten ergab, dass Ratenzahlungen von bis zu 3 Jahren häufiger zur Anwendung kommen sollten.640 Man kann auch nicht ausschließen, dass die Richter sol634

Übersetzung nach Łukan´ko/Zboralska, Kodeks karny wykonawczy. Cies´lak und Weigend vertraten die Auffassung, dass auch die Stundung im Urteil bewilligt werden konnte. Cies´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 774–775. 636 Klemke/Wojciechowski, BS 3/1983, S. 16. 637 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 172. 638 Ebenda. 639 Ebenda, S. 180. 635

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 147

che Anträge nur ungern bewilligt haben, weil sie die Dauer des Verfahrens unangemessen verlängerten. Zu den Ausnahmen gehörte auch die Bewilligung von Zahlungserleichterungen von Amts wegen.641 Leider gab die Untersuchung keine Auskunft darüber, ob und inwieweit die Gewährung der Zahlungserleichterungen bereits im Urteil erfolgte.

IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe 1. Vollstreckungsorgan Nach dem KPK von 1928 hing die Zuständigkeit für die Vollstreckung der Strafe von der Instanz des Gerichtes ab, das eine Strafe verhängte. Das Amtsgericht (sa˛d grodzki) ordnete zum einen die Vollstreckung eigener Urteile an und zum anderen die Vollstreckung der Urteile, die das Bezirksgericht (sa˛d okre˛gowy) als Gericht der zweiten Instanz erlassen hatte (Art. 525 § 1 KPK von 1928). Für die Vollstreckung sämtlicher Urteile war der Staatsanwalt des Bezirksgerichtes zuständig (Art. 525 § 2 KPK von 1928). Das Gericht der ersten Instanz und die Staatsanwaltschaft entschieden auch über die Gewährung von Zahlungserleichterungen im Vollstreckungsverfahren (Art. 543 KPK von 1928). Die Durchführung der Zwangsvollstreckung der Geldstrafe gehörte zur Kompetenz der Gerichtsvollzieher. Im Falle der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe ordnete das Gericht der ersten Instanz die Abarbeitung der Geldstrafe (Art. 43 KK von 1932642) oder die Ersatzfreiheitsstrafe an, wenn sie im Urteil nicht ausdrücklich erwähnt wurden. Die skizzierte Rechtslage galt bis Ende der 40er Jahre, bis im Jahre 1950 die Vollstreckung der Strafen ausschließlich der Staatsanwaltschaft anvertraut wurde (Art. 424 KPK von 1928).643 Auch die Gewährung von Zahlungserleichterungen lag im Geschäftsbereich der Staatsanwälte (Art. 446 KPK von 1928). Die Gerichte der ersten Instanz waren lediglich für die Anordnung der Arbeit und der Ersatzfreiheitsstrafe zuständig, soweit die gemeinnützige Arbeit oder die Ersatzfreiheitsstrafe im Urteil nicht angeordnet wurden (Art. 434 KPK von 1928 und Art. 432 § 1 KPK von 1928). Der Geschäftsbereich der Gerichte wurde jedoch nach zwei Jahren wieder er640

Ebenda, S. 181. Ebenda, S. 261–262. 642 Erst der Präsidentenerlass Rozporza˛dzenie Prezydenta Rzeczypospolitej z dnia 23 sierpnia 1932 r. zmieniaja˛ce niektóre przepisy poste˛powania karnego (Dz. U. 32.73.662) führte in den KPK von 1928 die Vorschriften über die Zuständigkeit für die Anordnung der gemeinnützigen Arbeit ein. 643 Ustawa z dnia 20 lipca 1950 r. o zmianie przepisów poste ˛ powania karnego. Dz. U. 50.38.348. 641

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

weitert: Gemäß dem neuen Art. 404 KPK von 1928 war erneut das Gericht der ersten Instanz für die Einleitung der Vollstreckung der Geldstrafe zuständig.644 Nach Pawela sollte jedoch nicht der erkennende Richter über die Einleitung der Strafvollstreckung entscheiden, sondern der Vorsitzende der Gerichtsabteilung im Wege einer Anordnung.645 Auf der Grundlage des Gesetzes vom 28. April 1952646 wurde auch die Kompetenz für die Bewilligung beider Zahlungserleichterungen an den Präsidenten des Gerichts des ersten Rechtszuges übertragen. Zahlungserleichterungen konnte zudem auch der Vorsitzende einer Gerichtsabteilung erlassen.647 Diese Rechtslage galt bis zum In-Kraft-Treten des KKW von 1969. Die Befugnis zur Vollstreckung der Geldstrafe wurde im KKW von 1969 und im KKW von 1997 sehr ähnlich geregelt, so dass die Vorschriften beider KKW gemeinsam dargestellt werden können. Der Schwerpunkt der Vollstreckung der Geldstrafe liegt in beiden KKW bei dem Gericht der ersten Instanz. Dieses Gericht übersendet die Zahlungsforderung an den Verurteilten (Art. 149 § 1 KKW von 1969, Art. 44 § 1 KKW von 1997), entscheidet über die Anordnung der gemeinnützigen Arbeit (Art. 85 § 1 KK von 1969, Art. 45 KKW von 1997) und ordnet die Ersatzfreiheitsstrafe an (Art. 152 KKW von 1969 und Art. 46 § 1 KKW von 1997). Die Staatsanwaltschaft wurde somit aus dem Verfahren der Vollstreckung der Geldstrafe ausgeschlossen. 2. Zwangsvollstreckung Für die Entwicklung der polnischen Kodizes ist die Tendenz zur weitgehenden Anwendung der Zwangsvollstreckung kennzeichnend. Nach der ursprünglichen Fassung des KK von 1932 war das Gericht in jedem Fall zur Anordnung der Zwangsvollstreckung verpflichtet, es sei denn, dass die Zwangsvollstreckung zum Ruin des Verurteilten führen würde (Art. 43 § 1 KK von 1932). Die Reform von 1960648 hat die Rechtslage insofern geändert, als Art. 43 KK von 1932 die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe schon dann zuließ, wenn der Verurteilte die Geldstrafe nicht rechtzeitig gezahlt hat. Dementsprechend wurde die Zwangsvollstreckung fakultativ, wo644 Ustawa z dnia 28 kwietnia 1952 r. o zmianie niektórych przepisów poste ˛ powania karnego. Dz. U. 52.25.170. 645 Pawela, Wykonanie orzeczen ´ w sprawach karnych, S. 194. 646 Ustawa z dnia 28 kwietnia 1952 r. o zmianie niektórych przepisów poste ˛ powania karnego. Dz. U. 52.27.170. 647 § 23 Regulaminu czynnos ´ci sa˛dów wojewódzkich i powiatowych z dnia 9 wrzes´nia 1953 r. Dz. U. 53.44.216. 648 Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 149

bei zu betonen ist, dass das Gesetz keine Hinweise gab, wann das Gericht von der Anordnung der Zwangsvollstreckung absehen konnte. Die mangelhafte Formulierung der Vorschrift des Art. 43 § 1 KK von 1932 führte dazu, dass die Gerichte in dieser Hinsicht unterschiedlich agiert haben: Ein Teil der Gerichte ordnete weiterhin die Zwangsvollstreckung in jedem Fall an, als ob das Gesetz nicht geändert worden wäre, der andere Teil dagegen verzichtete auf die Zwangsvollstreckung und griff sofort zu der Ersatzfreiheitsstrafe, was allerdings auf Kritik gestoßen ist.649 Die Reform von 1969 ist der letzten Fassung der Vorschrift des Art. 43 § 1 KK von 1932 nicht gefolgt. Der KKW von 1969 verpflichtete das Gericht zur Anordnung der Zwangsvollstreckung grundsätzlich in jedem Fall (Art. 149 § 2 KKW von 1969). Dementsprechend war die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe nur dann zulässig, wenn die Zwangsvollstreckung erfolglos blieb oder erfolglos wäre, weil dem Verurteilten die Freiheit entzogen wurde oder sein fester Wohnsitz im Ausland lag (Art. 152 § 2 KKW von 1969). Auch der KK von 1997 in seiner ursprünglichen Fassung ließ dem Gericht bei der Anordnung der Zwangsvollstreckung keinen Spielraum. Gemäß Art. 44 § 2 KKW von 1997 musste das Gericht in jedem Verfahren die Zwangsvollstreckung anordnen. Die Anordnung der gemeinnützigen Arbeit, der Ersatzfreiheitsstrafe sowie die Tilgung der Geldstrafe war nur dann zulässig, wenn die Zwangsvollstreckung durchgeführt wurde und erfolglos blieb. Die Unelastizität dieser Regelungen wurde erst durch die Reform von 2003650 aufgehoben. Nach dem neuen Recht kann das Gericht von der Zwangsvollstreckung in zwei Fällen absehen: Wenn es gemeinnützige Arbeit anordnet oder die Geldstrafe getilgt wird (Art. 45 § 1 KKW von 1997 und Art. 51 KKW von 1997). Aus den Umständen des Falles muss jedoch hervorgehen, dass eine Zwangsvollstreckung voraussichtlich erfolglos wäre. Weiterhin muss das Gericht jedenfalls dann zunächst die Zwangsvollstreckung anordnen, wenn es die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe beabsichtigt (Art. 46 § 1 KKW von 1997). 3. Ersatzfreiheitsstrafe Der KK von 1932 sah ein für den Verurteilten sehr günstiges System der Ersatzsanktionen im Falle der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe vor. Die Ersatzfreiheitsstrafe stand im Gesetz an zweiter Stelle: Ihre Vollstreckung 649

Kuleba, BMS 7–8/1962, S. 7. Ustawa z dnia 23 lipca 2003 r. o zmianie ustawy Kodeks karny wykonawczy oraz niektórych innych ustaw. Dz. U. 03.142.1380. 650

150

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

war nur dann zulässig, wenn die Ableistung der Arbeit für den Verurteilten unmöglich war oder wenn er die Aufnahme der Arbeit hartnäckig verweigerte (Art. 43 § 2 KK von 1932). Die Schöpfer des KK von 1932 vertraten die Auffassung, dass die Freiheitsentziehung ein letztes Mittel darstellen sollte, wenn andere Erledigungsformen nicht anwendbar waren.651 Hatte der Verurteilte von der Möglichkeit der Abwendung der Geldstrafe in Form von Arbeit keinen Gebrauch gemacht, wandelte das Gericht die Geldstrafe in eine Arreststrafe nach dem Maßstab 1 Tag der Arreststrafe = 5 bis 50 zł um (Art. 43 § 2 KK von 1932). Wurde die Geldstrafe neben der Gefängnisstrafe verhängt, kam nur die Umwandlung in eine Gefängnisstrafe (1 Tag = 10 bis 100 zł) in Betracht (Art. 43 § 3 KK von 1932). Die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe hing davon ab, ob die Geldstrafe in eine Arreststrafe oder in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde. Die Höchstdauer betrug dementsprechend 3 Jahre (bei Arrest) und 2 Jahre (bei Gefängnis), wobei sie das für die betreffende Straftat vorgesehene Maximum an Freiheitsstrafe nicht überschreiten durfte. Die Mindestdauer belief sich in beiden Fällen auf einen Tag. Die Rechtslage wurde auf der Basis des schon erwähnten Gesetzes vom 16. November 1960652 geändert. Die Ersatzfreiheitsstrafe wurde obligatorisch, die Abarbeitung der Geldstrafe fakultativ (Art. 43 § 1 KK von 1932). Die Tilgung der Geldstrafe in Form der Arbeit kam lediglich bei Geldstrafen unter 3.000 zł in Betracht (Art. 43 § 2 KK von 1932). Die Mindestdauer der Ersatzfreiheitsstrafe wurde auf drei Tage erhöht. Die Höchstdauer der Ersatzfreiheitsstrafe wurde vereinheitlicht: Sie betrug sowohl bei Arrest als auch bei Gefängnisstrafe drei Jahre, wobei sie das für die betreffende Straftat vorgesehene Maximum an Freiheitsstrafe nicht überschreiten durfte (Art. 43 § 4 KK von 1932). Ferner erlaubte der neue Art. 43 Abs. 1 KK von 1932 die Anordnung der Geldstrafe schon nach Ablauf der Forderungsfrist (die vorangegangene Version des Art. 43 § 1 KK von 1932 sprach von „Uneinbringlichkeit“, was die Umwandlung der Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe erst nach der Durchführung einer Zwangsvollstreckung erlaubte). Die Gerichte machten von dieser Möglichkeit einen weiten Gebrauch, sogar in den Fällen, in denen das bewegliche Vermögen des Verurteilten gepfändet wurde.653 Der Verzicht auf die Anordnung der Arbeit auf „Rechnung der Geldstrafe“ und der Einsatz der Ersatzfreiheitsstrafe konnte nicht ohne Einfluss auf die Anzahl der Gefängnisinsassen bleiben: Im Jahr 1961 ordneten die Gerichte die Ersatzfreiheitsstrafe in 21.527 Fällen 651

Makarewicz, S. 180. Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 653 Kuleba, BMS 7–8/1962, S. 33. 652

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 151

an, und in den ersten 9 Monaten des darauf folgenden Jahres lassen sich bereits 27.771 Anordnungen feststellen.654 Der KK von 1969 hat auf die Ersatzfreiheitsstrafe nicht verzichtet, obwohl diese Kodifikation die Verdrängung der kurzen Freiheitsstrafen bezweckte. Der KK von 1969 sah jedoch in seiner ursprünglichen Fassung nur die Ersatzfreiheitsstrafe als einzige Sanktion für die Nichtzahlung von Geldstrafen über 1.000 zł vor. Die Begrenzung hatte allerdings fast keine praktische Bedeutung, weil die Gerichte infolge der Verschärfung der ökonomischen Repression die Geldstrafe in einer solchen Höhe kaum je verhängt haben.655 Ferner konnte das Gericht gemäß Art. 37 Abs. 1 KK von 1969 schon im Urteil die Ersatzfreiheitsstrafe bestimmen.656 Dies sollte den Verurteilten zur Zahlung der Geldstrafe zwingen.657 Das Gericht war jedoch auf der Grundlage des Art. 149 KKW von 1969 verpflichtet, zunächst das Zwangsvollstreckungsverfahren einzuleiten und erst nach der Feststellung der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe die Ersatzfreiheitsstrafe anzuordnen. Die Ausnahmefälle regelte Art. 152 § 2 Ziff. 2 des KKW von 1969. Die Ersatzfreiheitsstrafe durfte generell 3 Jahre nicht übersteigen,658 und das für die betreffende Straftat vorgesehene Maximum an Freiheitsstrafe nicht überschreiten. Das Gesetz von 1990659 hat eine Begrenzung von sechs Monaten für die Straftaten eingeführt, die nicht mit Freiheitsstrafe bedroht waren. Eine Mindestdauer der Ersatzfreiheitsstrafe hat der KK von 1969 nicht festgesetzt. Dies führte dazu, dass die Mindestdauer der Ersatzfreiheitsstrafe von der Höhe der ersetzungsfähigen Geldstrafen und dem Umrechnungsmaßstab abhing. Beide Faktoren wurden in der Entwicklung des KK von 1969 geändert,660 so dass die Mindestdauer der Ersatzfreiheitsstrafe von 7 bis zu 17 Tagen schwankte. 654

Kuleba, BMS 7–8/1962, S. 55; Szumski, PiP 11/2000, S. 42. Jasin´ski, Arch. Krym. VIII–IX/1982, S. 72. 656 Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 85 RN 3. 657 Buchała, Palestra 6/1988, S. 35. 658 Die höchste obere Androhungsgrenze in Europa, so Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 38. 659 Ustawa z dnia 28 wrzes ´nia 1990 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 90.72.422. 660 Ustawa z dnia 26 maja 1982 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 82.16.125. Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 85.23.100. Ustawa z dnia 28 wrzes´nia 1990 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 90.72.422. Ustawa z dnia 28 lutego 1992 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego, prawa o wykroczeniach i o poste˛powaniu w sprawach nieletnich. Dz. U. 92.24.101. Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o 655

152

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Die Schöpfer der Kodifikation des Jahres 1997 wollten das Auftreten der Ersatzfreiheitsstrafen im Rechtssystem möglichst weitgehend beschränken. Die sehr hohe Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung der vorangehenden Kodifikation verlangte nach einer radikalen Lösung des Problems. Ob Art. 46 KKW von 1997 diese Ansprüche erfüllt hat, bleibt allerdings zweifelhaft. „§ 1. Zahlt der Verurteilte die Geldstrafe, obwohl es ihm möglich ist, innerhalb der Frist nicht und kommt er auch der in Art. 45 bestimmten Ersatzform ihrer Vollstreckung nicht nach, und wird festgestellt, daß die Geldstrafe im Wege der Zwangsvollstreckung nicht beigetrieben werden kann, ordnet das Gericht die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe an, wobei angenommen wird, daß ein Tag Freiheitsstrafe zwei Tagessätzen entspricht; die Ersatzstrafe darf 12 Monate Freiheitsstrafe sowie die obere Grenze der Freiheitsstrafe für die betreffende Straftat nicht überschreiten. Sieht das Gesetz für die Straftat keine Freiheitsstrafe vor, darf die obere Grenze der Ersatzfreiheitsstrafe 6 Monate nicht überschreiten. § 2. Wurde die Geldstrafe nur teilweise bezahlt oder im Wege der Zwangsvollstreckung nur teilweise in Form gemeinnütziger Arbeit entrichtet, bestimmt das Gesetz das Strafmaß der Ersatzfreiheitsstrafe nach den in § 1 vorgesehenen Grundsätzen. § 3. Das Gericht kann die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen, für eine Bewährungszeit, die von einem Jahr bis zu zwei Jahren beträgt.“661

Viele bedeutsame Unterschiede lassen sich im Vergleich zu der Regelung des KK von 1969 und des KKW von 1969 feststellen. Auf der Grundlage von Art. 46 KKW von 1997 können alle Geldstrafen nach der Erfüllung der Voraussetzungen in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden. Dagegen sah der KK von 1969 in Art. 37 § 1 eine Beschränkung vor, die die Geldstrafen von geringerem Betrag (letzte Fassung: bis zu 500 zł) von vornherein von der Umwandlung ausschloss. Ferner hat Art. 46 KKW von 1997 die Umwandlung der Geldstrafe in die Ersatzfreiheitsstrafe von der Möglichkeit der Zahlung der Geldstrafe durch den Verurteilten abhängig gemacht, was sich auf die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen günstig auswirken kann. Außerdem muss nach der neuen Rechtslage bei allen Geldstrafen die Zwangsvollstreckung durchgeführt werden (Der KK von 1969 sah die Möglichkeit des Verzichts in Art. 152 § 2 vor). Schließlich wurde die maximale Höhe der Ersatzfreiheitsstrafe von drei Jahren auf 12 Monate herabgesetzt und die Umrechnung der Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe an das Tagessatzsystem angepasst (2 Tagessätze = ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe). podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 661 Übersetzung nach Łukan ´ ko/Zboralska, Kodeks karny wykonawczy.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 153

Insbesondere die Prämisse der Zahlungsfähigkeit des Verurteilten in Art. 46 KKW von 1997 ist von besonderem Interesse. Dieses Merkmal stellt eine Neuerung dar und kann die Praxis der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe erheblich verändern. Dies hängt allerdings von der herrschenden Meinung ab, die die Praxis in der kommenden Zeit leiten wird. Ein Ansatz dafür kann in der Auffassung von Postulski liegen. Er kommt nach der Auslegung dieses Begriffes zu folgenden Schlussfolgerungen: • Soweit eine reale Möglichkeit (eine Chance, Aussicht) auf freiwillige Zahlung oder im Wege der Zwangsvollstreckung (auch in Form der Stundung oder der Ratenzahlung) besteht, soll das Gericht keine Ersatzfreiheitsstrafe anordnen.662 Auch soll die Möglichkeit der Tilgung in Form gemeinnütziger Arbeit berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass das Protokoll, das die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe feststellt, nicht der einzige Beweis bei der Anordnung der Geldstrafe sein kann. • Die Möglichkeit der Zahlung der Geldstrafe soll nur unter dem Gesichtspunkt der Änderung der Vermögenslage sowie der persönlichen Lage nach der Verurteilung zur Geldstrafe abgewogen werden. Die Feststellungen des erkennenden Gerichts können in dieser Hinsicht nicht beanstandet werden. • Die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe erfolgt somit nur dann, wenn der Verurteilte von der Tilgung der Geldstrafe in Form der Zahlung oder in anderer Form nicht Gebrauch gemacht hat, die Zwangsvollstreckung scheiterte und seine Vermögenslage sowie seine persönliche Lage keinen wesentlichen Veränderungen nach der Verurteilung zur Geldstrafe unterlag.663 Ob diese Auslegung herrschende Meinung wird, muss man abwarten. Sie ist jedenfalls für den Verurteilten sehr günstig, weil sie das Gericht faktisch in jedem Fall zur Erwägung der Anwendung der gemeinnützigen Arbeit verpflichtet. Wenn eine Chance auf Ableistung der gemeinnützigen Arbeit besteht, soll das Gericht sie nach der Zwangsvollstreckung und der Einwilligung durch den Verurteilten anordnen und einstweilen auf die Anordnung der Geldstrafe verzichten. Nachfolgend muss noch auf die Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafen in der Praxis eingegangen werden. Man kann ohne Gefahr der Übertreibung sagen, dass eine der größten Sorgen der polnischen Lehre seit langem in der Zahl der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer liegt. Insbesondere unter der Geltung des KK von 1969 gewann das Problem an Gewicht. Buchała 662 Ähnlich das Appellationsgericht in seinem Beschluss vom 17. Januar 2001, II AKz 478/00, OSA 11/2001, Pos. 77. 663 Hołda/Postulski (2005), Art. 46 RN 7.

154

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

schätzt, dass fast drei Viertel der auf der Grundlage des KK von 1969 zu einer Geldstrafe Verurteilten am Ende im Gefängnis saßen.664 Marek nimmt an, dass ungefähr 20.000–30.000 Personen unter der Geltung dieses Gesetzes jährlich eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mussten.665 Weniger pessimistische Ergebnisse brachte eine Untersuchung von Sługocki, wobei diese sich nur auf die selbstständige Geldstrafe bezog. Daraus geht hervor, dass 13,4% der Verurteilten zur selbstständigen Geldstrafe aus einer Stichprobe von 1970 teilweise oder vollständig eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mussten.666 Bei den Verurteilungen aus dem Jahre 1978 lässt sich schon eine Quote von 18% feststellen.667 Die vom zuständigen Ministerium publizierten Daten zu der selbstständigen und der zusätzlichen Geldstrafe zeigten, dass ungefähr 11%–12% der Verurteilten in den Jahren 1979–1981 zur Abbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe antreten mussten.668 Die Untersuchung von Wojciechowska hat gezeigt, dass in den Jahren 1982–1987 der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an allen Verurteilungen zu Geldstrafe zwischen 6,3% und 10,9% schwankte, wobei der Anteil bei der zusätzlichen Geldstrafe wesentlich höher war (z. B. im Jahre 1987: 28,8%).669 Obwohl diese Zahlen weniger dramatisch erscheinen, gab es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Fast jede zehnte Geldstrafe im Jahr 1987 wurde in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. Auch in den 90er Jahren stellten die Anordnungen von Ersatzfreiheitsstrafen ein beachtliches Problem dar. Die Untersuchung von Szumski zeigte, dass der Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen bei allen Geldstrafen in den Jahren 1990–1997 zwischen 13% und 22% schwankte.670 Vier Ursachen scheinen die sehr hohe Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung des KK von 1969 und des KKW von 1969 vor allem zu beeinflussen: Die Höhe der verhängten Strafen im Verhältnis zum Einkommen des Verurteilten (a), die Verbindung der Geldstrafe mit der Freiheitsstrafe (b), die mangelnde soziale Kompetenz der Verurteilten (c) und die Anwendung der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe als wirksame Beitreibungsmaßnahme (d). Zu a) Obwohl der Gesetzgeber erst in den 80er Jahren eingegriffen hat,671 lässt sich schon in den 70er Jahren die größte Zahl der verhängten 664

Buchała/Zoll, Art. 33 RN 2. Marek, in: Marek (Hrsg.), Ksie˛ga jubileuszowa wie˛ziennictwa polskiego 1918–1988, S. 234; ders., PiP 2/2003, S. 13. 666 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 162. 667 Ebenda. 668 Klemke/Wojciechowski, BS 3/1983, S. 17–18. 669 Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 45–47. 670 Szumski, PiP 11/2000, S. 48. 665

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 155

selbstständigen Geldstrafen im Bereich des ungünstigsten Verhältnisses zwischen dem Einkommen des Verurteilten und der Höhe der Geldstrafe feststellen.672 Die Untersuchung von Sługocki zeigte zudem, dass eine Verschiebung dieser Konzentration nach oben erfolgte: Während im Jahr 1970 von den 157 Geldstrafenverurteilungen in 61 Fällen die Geldstrafe im Bereich von 2.000–5.000 zł bei einem Monatseinkommen von 1.500–3.000 zł verhängt wurde,673 lässt sich schon im Jahre 1978 die größte Verdichtung auf die Geldstrafen zwischen 5.000–10.000 zł (36 Verurteilte mit einem Einkommen zwischen 2.000–4.000 zł) feststellen.674 Sługocki fasst die Praxis der Gerichte mit der Schlussfolgerung zusammen, dass im Zeitraum 1970–1978 eine Loslösung der selbstständigen Geldstrafe vom Einkommen des Verurteilten stattgefunden hat. Dies führte zu Schwierigkeiten im Vollstreckungsverfahren und in der Konsequenz zur Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafen.675 Diese negative Entwicklung bestätigt auch Jasin´ski. Nach seinen Feststellungen verdoppelten sich die Löhne von 1972 bis 1980, während die selbstständigen Geldstrafen sich fast verfünffachten.676 Eine Fortsetzung dieser negativen Tendenz kann man auch in den 80er Jahren beobachten. Eine ausführliche statistische Analyse, die Kunicka-Michalska durchgeführt hat, lässt diese Entwicklung nachvollziehen. Im Jahre 1982 betrug ein monatlicher Durchschnittslohn 11.575 zł, dagegen der Durchschnitt einer Geldstrafe 15.008 zł. Drei Jahre später bei einem Durchschnittslohn in Höhe von 20.005 zł lässt sich eine durchschnittliche Geldstrafe in Höhe von 49.300 zł feststellen. Im Jahre 1987 erhöhte sich die durchschnittliche Geldstrafe auf 95.336 zł bei einem Durchschnittslohn in Höhe von 27.702 zł.677 671

Art. 36 § 1 KK von 1969 wurde durch folgende Gesetze geändert: – Ustawa z dnia 26 maja 1982 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 82.16.125. – Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 85.23.100. – Ustawa z dnia 28 wrzes´nia 1990 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego i prawa o wykroczeniach. Dz. U. 90.72.422. – Ustawa z dnia 28 lutego 1992 r. o zmianie niektórych przepisów prawa karnego, prawa o wykroczeniach i o poste˛powaniu w sprawach nieletnich. Dz. U. 92.24.101. – Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 672 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 97. 673 Ebenda, S. 96. 674 Ebenda, S. 96–97. 675 Ebenda, S. 98. 676 Jasin ´ ski, in: Skupin´ski (Hrsg.), Polityka karna w Polsce 1970–1980, S. 26.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Von 1970 bis 1987 erhöhte sich der Durchschnittslohn 12 mal, dagegen die durchschnittliche Geldstrafe 30 mal.678 Diese Praxis musste sich auf die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen auswirken. Die allgemeine Geldwertinflation konnte die Folgen einer solchen Politik nur teilweise mildern. Dazu Kunicka-Michalska: „Die Erhöhung der Geldstrafen in der Zeit der ökonomischen Krise, der Verarmung der Gesellschaft, der Inflation, der Abnahme des Vermögens sowie des Fehlens der Aussicht auf realen Zuwachs der Einkommen (. . .) lässt die Schlussfolgerung ziehen, dass die Geldstrafe keine Funktion der gerechten Strafe mehr hat, sondern für den Staat zu einer Quelle von Einkünften wurde (. . .).“679

Zur Zusammenfassung dieser Aspekte der Problematik können die Worte von Siwik aus dem Jahre 1983 dienen: „Wir hatten wohl zu oft in der Praxis mit der Unmöglichkeit der freiwilligen Zahlung einer Geldstrafe zu tun, um zwischen dieser Tatsache und der nicht an die Zahlungsmöglichkeit angepassten Geldstrafe keinen Zusammenhang zu sehen.“680

Zu b) Dass die Kumulation der Geldstrafe mit der Freiheitsstrafe die Gefahr der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe unter der Geltung des KK von 1969 erhöhte, kann keinem Zweifel unterliegen. Eine statistische Untersuchung von Daten, die Wojciechowska durchgeführt hatte, weist eindeutig auf den unproportionalen Anteil der zusätzlichen Geldstrafe an der Anzahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafe hin. Die Aufteilung beider Formen der Geldstrafe macht den Unterschied noch deutlicher (s. Tabelle 4). Wojciechowska interpretiert die Zahlen in Tabelle 4 wie folgt: „Diese Befunde lassen die Schlussfolgerung zu, dass im obigen Zeitraum der kumulativen Geldstrafe nicht nur im Gesetz, sondern auch in der Praxis ein sehr repressiver Charakter verliehen wurde, der in der Regel sowohl die Zahlungsfähigkeit des Verurteilten als auch die Möglichkeit der Vollstreckung der Geldstrafe überschritt.“681

Auch in den neunziger Jahren lässt sich keine bessere Situation feststellen. Die Untersuchung von Szumski ergab folgendes Bild (s. Tabelle 5). Angesichts der wiedergegebenen Daten kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass die zusätzlichen Geldstrafen im Vergleich zu den selbstständigen Geldstrafen unter der Geltung des KK von 1969 und des KKW von 1969 häufiger zur Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe führten. 677 678 679 680 681

Alle Daten stammen von Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 78. Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 82. Siwik, Palestra 5–6/1983, S. 107. Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 48, Übersetzung vom Verf.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 157 Tabelle 4 Der Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in der Untersuchung von Wojciechowska Jahr

Zahl der Die AnordVerurteilunnung der gen zur EFS im Fall selbst. der selbst. Geldstrafe Geldstrafe

%

Zahl der Die AnordVerurteilun- nung der EFS gen zur im Fall der zusätzlichen zusätzlichen Geldstrafe Geldstrafe

%

1982

25.583

2.053

8,0

79.938

22.122

27,7

1983

23.856

2.072

8,6

78.681

25.870

32,9

1984

19.038

2.262

11,6

72.665

28.238

38,9

1985

22.112

2.017

9,1

77.094

30.346

39,4

1986

29.345

2.534

8,6

63.068

28.519

45,2

1987

32.211

3.047

9,4

63.164

27.500

43,6

Quelle: Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 47. (EFS = Ersatzfreiheitsstrafe)

Tabelle 5 Der Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in der Untersuchung von Szumski Jahr

Prozent der Anordnungen Prozent der Anordnungen der EFS im Falle der selbst- der EFS im Falle der zuständigen Geldstrafe sätzlichen Geldstrafe

1990

3,6

23,6

1991

4,5

18,0

1992

8,3

20,1

1993

7,9

15,5

1994

10,1

17,8

1995

20,0

24,4

1996

12,6

19,0

1997

16,4

23,9

Quelle: Szumski, PiP 11/2000, S. 48. (EFS = Ersatzfreiheitsstrafe)

158

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Zu c) Wichtig ist weiterhin die soziale Kompetenz der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer. Eine ausführliche Untersuchung von Sługocki brachte ein sehr klares sozioökonomisches Bild der Personen, die im Ergebnis wegen der Nichtzahlung der Geldstrafe in den 70er Jahren eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen mussten. Von 100 Ersatzfreiheitsstrafeverbüßern stammten 70 aus Arbeiterfamilien und 26 aus Bauernfamilien.682 Nur eine Person gehörte zur Schicht der Intelligenz.683 Auch vom Gesichtspunkt der Ausbildung sind gering ausgebildete Personen deutlich in der Ersatzfreiheitsstrafenpopulation überrepräsentiert: 73 Personen haben nur die Grundschule abgeschlossen, 14 die Fachschule und 2 das Technikum. Nur eine Person war Absolvent einer allgemeinbildenden Schule, dagegen haben 9 Personen gar keine Grundschule absolviert.684 Dies setzte sich im Hinblick auf den Beruf fort: 60 Personen waren Arbeiter (30 davon Facharbeiter), 26 Personen ohne Beruf, 9 Bauern und 1 Person war selbstständig.685 In Erstaunen können die Zahlen versetzen, die die Arbeitsverhältnisse aufzeigen: 42 Personen hatten ein festes Arbeitsverhältnis, 23 Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer lebten von Gelegenheitsarbeiten, 7 Verurteilte arbeiteten in einem landwirtschaftlichen Betrieb, 7 lebten vom Unterhalt des Ehegatten oder der Eltern, 4 bekamen eine Pension oder eine Rente und nur 26 Personen waren arbeitslos.686 Diese Zahlen erhärten die These, dass die verhängten Geldstrafen zu hoch waren, wenn sogar die Verurteilten mit monatlichem Einkommen die Geldstrafe nicht tilgen konnten. Die Untersuchung von Sługocki ergab auch, dass die Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer in mehreren Fällen keine Kompetenz hatten, einer Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe entgegenzuwirken, die eine Folge der zu hoch festgesetzten Geldstrafe war.687 Sie resignierten sehr schnell bei der Zahlung der Geldstrafe.688 Die niedrige Sozialkompetenz trug zum Verzicht auf Versuche bei, die zur Zahlung der Geldstrafe hätten führen können.689 Auf der Grundlage dieser Befunde können keine Zweifel daran bestehen, welche soziale Schicht der Gesellschaft in den 70er Jahren durch die Ersatzfreiheitsstrafe am meisten betroffen war. Zu d) Eine weitere Ursache der hohen Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung des KK von 1969 dürfte in der Funktion der Anordnung 682 683 684 685 686 687 688 689

Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 56. Ebenda. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 62. Ebenda, S. 201. Ebenda. Ebenda, S. 208.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 159

der Ersatzfreiheitsstrafe als wirksame Beitreibungsmaßnahme liegen. Dazu Cies´lak: „Eine Analyse der Vorschriften über die Ersatzfreiheitsstrafe führt zur Feststellung zweier eng miteinander verbundener Funktionsbereiche dieser Ersatzfreiheitsstrafe; einerseits soll die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe stimulierend und zwingend auf den Täter einwirken, die verhängte Geldstrafe vollständig und rechtzeitig zu begleichen, andererseits stellt sie im Vergleich zu einer nicht vollstreckbaren Geldstrafe ein echtes Ersatzübel dar. Aufgrund dieses zweiten Funktionsbereiches hat die Ersatzfreiheitsstrafe den Charakter einer echten Kriminalstrafe.“690

Aus alledem ergibt sich, dass viele Faktoren die hohe Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung des KK von 1969 und des KKW von 1969 beeinflussten. Es ist daher unberechtigt, wie dies gegenwärtig im polnischen juristischen Diskurs erfolgt, die hohe Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen primär auf die Zahlungsunfähigkeit der Verurteilten zurückzuführen. Die Zahlung einer Geldstrafe hängt nicht davon ab, ob der Verurteilte reich oder arm ist, sondern davon, ob die Geldstrafe seiner Zahlungsfähigkeit angemessen ist, ob die Geldstrafe mit der Freiheitsstrafe verbunden wird, ferner ob der Verurteilte genügende soziale Kompetenz hat, um die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe abzuwenden, und schließlich ob die Richter nicht zu schnell zu der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe greifen, um die Zahlung der Geldstrafe zu erzwingen. Nur eine solche komplexe Betrachtungsweise lässt das Problem der hohen Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung des KK von 1969 und des KKW von 1969 angemessen erklären, wobei nicht auszuschließen ist, dass weitere Faktoren auch eine Rolle gespielt haben. Es bleibt zu untersuchen, welchen Einfluss das In-Kraft-Treten des KK von 1997 auf die Zahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafe hatte (s. Tabelle 6). Auf der Grundlage der hier wiedergegebenen Daten lässt sich feststellen, dass das erste statistisch vollständig erfasste Jahr nach dem In-Kraft-Treten des KK von 1997 keinen positiven Umbruch in der Zahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafe zeigt. Sowohl die Zahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen als auch ihr prozentualer Anteil an der Anzahl der rechtskräftigen Verurteilungen zu Geldstrafe blieben auf einem hohen Stand. Traditionell ist die Anzahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafe bei zusätzlichen Geldstrafen höher als bei den selbstständigen Geldstrafen. Auch ist die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen, die vollstreckt wurden, beachtlich. Sie betrug in den Jahren 2000–2004: 15.086, 18.232, 18.601, 19.730 und 690 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 785.

160

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Tabelle 6 Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen an den Verurteilungen zu selbstständiger und zusätzlicher Geldstrafe in Polen in den Jahren 1999–2004 Jahr

1

Zahl der Anordnung rechtskräfti- der Ersatzgen Verfreiheitsstrafe urteilungen im Fall der zur selbst. selbst. GeldGeldstrafe1 strafe1

%

Zahl der Anordnung rechtskräfti- der Ersatzgen Verurtei- freiheitsstrafe lungen zur im Fall der zusätzlichen zusätzlichen Geldstrafe Geldstrafe

%

1999

38.186

7.7511

20,3

60.743

11.3151

18,6

2000

33.699

8.934

26,5

65.654

13.789

21,0

2001

64.475

9.783

15,2

81.439

16.884

20,7

2002

75.698

10.203

13,5

86.143

17.688

20,5

2003

93.274

10.265

11,0

89.186

19.943

22,4

2004



14.453





23.078



Zahlen nur aus dem Kreisgericht.

Quelle der Daten: Informacja statystyczna o działalnos´ci wymiaru sprawiedliwos´ci w 1999 r., Statystyka sa˛dowa i penitencjarna, Cze˛s´c´ I, Działalnos´c´ sa˛dów i jednostek penitencjarnych, 2000; Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 2001, 2003, 2004. Die Anzahl der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafe in den Jahren 2000–2004 wurde auf der Grundlage der Materialien dargestellt, die das Ministerium der Justiz auf Anfrage des Verf. zur Verfügung gestellt hat.

23.158.691 Angesichts dieser Daten lässt sich kaum bestreiten, dass die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen weiterhin ein ernstes Problem darstellt. 4. Möglichkeiten zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe In der Entwicklung der polnischen Strafrechtskodizes lassen sich verschiedene Konzepte zur Abwendung der unerwünschten Ersatzfreiheitsstrafen feststellen. Sie werden im Folgenden im Einzelnen dargestellt. a) Zahlung der Geldstrafe Die erste und einfachste Alternative beruhte auf der Zahlung der Geldstrafe während der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe. Sowohl der KK von 1932 (Art. 43 § 6) als auch der KK von 1969 (Art. 85 § 2) und der 691 Quelle der Daten: Materialien, die das Ministerium der Justiz auf Anfrage des Verf. zur Verfügung gestellt hat.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 161

KKW von 1997 (Art. 47 § 2) ließen diese Form der Tilgung der Geldstrafe zu. Hat der Verurteilte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, wurde die Geldstrafe getilgt. Im Fall der teilweisen Zahlung musste die Restersatzfreiheitsstrafe entsprechend gemindert werden. (Art. 43 § 7 KK von 1932, Art. 85 § 3 KK von 1969, Art. 47 § 1 KKW von 1997). b) Arbeit Die nächste Tilgungsform der Geldstrafe, die sich im Rahmen des polnischen Strafensystems jedoch nur mit Schwierigkeiten durchsetzte, erlaubte dem Verurteilten, die Geldstrafe abzuarbeiten. Der KK von 1932 sah in dieser Hinsicht ein für die Verurteilten sehr günstiges zweistufiges System von Ersatzsanktionen vor. Gemäß Abs. 1 des Art. 43 KK von 1932 war der Richter in erster Linie verpflichtet, im Falle der Feststellung der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe oder der Gefahr des Ruins des Verurteilten, die „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ (praca na rachunek grzywny) anzuordnen. Die Umwandlung der Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe war nur dann zulässig, wenn die Ausführung der Arbeit durch den Verurteilten unmöglich war oder er sich hartnäckig der Arbeit entzog (Art. 43 § 2 KK von 1932). Die für den Verurteilten günstigen Vorschriften des Art. 43 § 1 KK von 1932 fanden in der Praxis allerdings keine Anwendung.692 Aus einem Rundschreiben des Justizministeriums vom 31. Oktober 1934693 geht hervor, dass wegen der Arbeitsmarktverhältnisse von dem Vorhaben der Arbeit statt der Geldstrafe abgesehen wurde. Dies wurde als Anzeichen einer Krise in der Kriminalpolitik angesehen.694 Die Grundsätze der Ausführung der „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ wurden erst im Gesetz vom 28. Juni 1939695 geregelt, also fast 7 Jahre nach dem In-Kraft-Treten des KK von 1932. Das Gesetz vom 28. Juni 1939 trat jedoch nie in Kraft, weil die Verordnung, die den Termin des In-Kraft-Tretens dieses Gesetzes festlegen sollte, nicht erlassen wurde.696 Auch fand der Art. 43 KK von 1932 in der Nachkriegszeit in der Praxis keine Anwendung.697 Er wurde jedoch bald durch das Gesetz vom 16. No692

Leonieni, NP 12/1964, S. 1153; Szumski, PiP 11/2000, S. 40. Okólnik Ministerstwa Sprawiedliwos´ci z 31 paz´dziernika 1934. Dz. Urz. Nr. 22. 694 Radzinowicz, Gł. S. 2/1937, S. 113. 695 Ustawa z dnia 28 czerwca 1939 r. o wykonywaniu pracy na rachunek grzywny. Dz. U. 39.60.395. 696 Leonieni, NP 12/1964, S. 1153. 697 Andrejew/Lernell/Sawicki, Prawo karne Polski Ludowej, S. 288; Leonieni, NP 12/1964, S. 1153. 693

162

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

vember 1960698 tiefgreifend geändert. Dieses Gesetz schaffte die für den Verurteilten günstigen Vorschriften ab. Die Reihenfolge der Sanktionen wurde in Art. 43 KK von 1932 umgedreht. Nach der neuen Rechtslage war das Gericht gemäß Abs. 1 des Art. 43 KK von 1932 zunächst verpflichtet, die Geldstrafe in Arrest oder – wenn die Geldstrafe neben der Gefängnisstrafe verhängt wurde – in Gefängnisstrafe umzuwandeln, wenn der Täter zum vorgeschriebenen Termin eine Geldstrafe nicht gezahlt hatte. Aufgrund des zweiten Absatzes konnte Arbeit zugelassen werden, insbesondere dann, wenn die Vollstreckung der Geldstrafe für den Verurteilten oder seine Familie schwerwiegende Folgen gehabt hätte. Nur Geldstrafen bis zu 3.000 zł konnten in dieser Tilgungsform erledigt werden. Das Gesetz verlieh somit dieser Erledigungsform einen Ausnahmecharakter, deren Anwendung einer besonderen Begründung seitens des Gerichts bedurfte.699 Die auf der Grundlage des Gesetzes vom 16. November 1960 erlassene Verordnung des Ministerrates700 brachte noch eine zusätzliche bedeutsame Einschränkung in der Anwendung dieser Erledigungsform. Sie konnte nur gegenüber Verurteilten angewendet werden, die Arbeitnehmer in staatlichen oder privaten Arbeitsstätten waren.701 Selbstständige und Arbeitslose wurden somit von der Anwendung der „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ ausgeschlossen.702 Es wurde den Verurteilten kein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt, sondern der Lohn des Verurteilten wurde durch den Wert der Geldstrafe gemindert. Man kann daher sagen, dass die Reform des Jahres 1960 die „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ faktisch abgeschafft hat, weil ihre Gestalt sich von der Zwangsvollstreckung kaum noch unterschied. Die Möglichkeit zur Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe nach Ablauf der Forderungsfrist trug wesentlich dazu bei, dass die Gerichte auf die Anwendung der „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ fast vollkommen verzichteten: Im Jahre 1961 ordneten sie diese Erledigungsform in nur 106 Fällen an.703 Während der nächsten 10 Monate des kommenden Jahres lassen sich 569 Anordnungen feststellen,704 obwohl die Gerichte die faktische Möglichkeit hatten, diese Erledigungsform öfter anzuwenden: 98% der Verurteilten 698 Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 699 Lernell, Wykład prawa karnego, S. 280; Leonieni, NP 12/1964, S. 1160. 700 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 9 lutego 1961 r. w sprawie zasad i trybu potra˛cen´ z wynagrodzenia na rachunek grzywny. Dz. U. 61.13.62. 701 Kaczmarek, Se ˛ dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w s´wietle badan´ ankietowych, S. 254. 702 Pawela, Wykonanie orzeczen ´ w sprawach karnych, S. 200; S´wida, Prawo karne (1967), S. 292; Kaczmarek, Se˛dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w s´wietle badan´ ankietowych, S. 254. 703 Szumski, PiP 11/2000, S. 42. 704 Ebenda.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 163

arbeiteten im Jahre 1961–1962 im staatlichen Bereich, und mehr als 90% der Verurteilungen zur Geldstrafe betrugen nicht mehr als 3.000 zł.705 Die vom Justizministerium am 19. Mai 1962 durchgeführte Befragung der Gerichtspräsidenten ließ folgende Hindernisse ans Licht kommen: 1. Die Adresse des Verurteilten sowie seines Arbeitgebers fehlten. 2. Die Verurteilten nahmen nach der Entlassung aus dem Gefängnis keine Arbeit auf. 3. Die Verurteilten waren keine Arbeitnehmer. 4. Die Verurteilten verließen den bisherigen Arbeitsplatz und informierten das Gericht nicht über die Adresse des neuen Arbeitgebers. 5. Die Arbeitgeber erfüllten die vom Gericht auferlegten Pflichten nicht, z. B. weil ihnen die Kenntnis der Prozeduren fehlte etc.706

Sehr interessante Ergebnisse brachte in dieser Hinsicht die Befragung der Richter, die Kaczmarek im Jahre 1966 durchgeführt hat. Die sehr allgemeine Frage, ob die Vorschrift des Art. 43 § 2 richtig sei, haben 235 Richter (71%) von 333 Befragten positiv beantwortet.707 Noch interessanter waren die Antworten auf die Frage, worin die Ursache der Zurückhaltung bei ihrer Anwendung liege.708 Es ergab sich, dass eine beachtliche Zahl der Antworten auf sachlich nicht gerechtfertigte Gründe verweist: Konservatismus (44 Antworten), Schwierigkeiten mit der Ausführung (32 Antworten), Auferlegung zusätzlicher Pflichten (23 Antworten), Überbelastung (15 Antworten) sowie Mangel an Information (10 Antworten) erwiesen sich als häufigste Hindernisse bei der Anwendung der „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“.709 Eine völlig neue Rechtslage bezüglich der Anwendung „der Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ brachte der KK von 1969. Obwohl diese Ersatzsanktion im Allgemeinen positiv beurteilt wurde,710 hat der KK von 1969 in seiner ursprünglichen Fassung die Ableistung der „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe überhaupt nicht vorgesehen. Dementsprechend war die Tilgung der Geldstrafe durch Arbeit seit dem 1.1.1970 unmöglich, weil – nach Cies´lak und Weigend – „die praktische Durchsetzung der Vorschriften sich nicht als möglich erwiesen hat.“711 Diese Entscheidung des Gesetzgebers bedeutete für den Verurteil705

Leonieni, NP 12/1964, S. 1155. Klimek, BMS 11–12/1962, S. 34–35. 707 Kaczmarek, Se ˛ dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w s´wietle badan´ ankietowych, S. 255. 708 Diese Frage beantworteten nur die Richter, die die erste Frage positiv beantwortet hatten. 709 Kaczmarek, Se ˛ dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w s´wietle badan´ ankietowych, S. 255–256. 710 Klimek, BMS 11–12/1962; Leonieni, NP 12/1964, S. 1152–1153. 706

164

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

ten, dass er die Ersatzfreiheitsstrafe grundsätzlich nur durch Zahlung abwenden konnte. Dies führte zu der von der Literatur stark kritisierten Situation, dass das Gericht keine Möglichkeit hatte, eine Freiheitsstrafe zu verhindern, die es ursprünglich bei der Auswahl der Sanktion als unbegründet erkannt hatte.712 Die Möglichkeit der Abarbeitung einer uneinbringlichen Geldstrafe wurde erst in der Zeit des demokratischen Systems in Polen geschaffen. Auf der Grundlage des Gesetzes von 1995713 wurde die Arbeit als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe nach fast 35 Jahren wieder in das polnische Strafsystem eingeführt. Dieses Gesetz trat am 20. November 1995 in Kraft. Die neu eingeführten Vorschriften des Art. 85 § 1 und § 11 KK von 1969 fanden in der Praxis jedoch keine Anwendung, weil die zugehörigen Vollstreckungsvorschriften vom Ministerrat nicht erlassen wurden.714 Die Verordnung des Ministerrates wurde erst am 17. Juni 1997715 erlassen und trat am 18. Juli 1997 in Kraft. Daher konnte die „Arbeit auf Rechnung der Geldstrafe“ bis zu diesem Datum keine geeignete Alternative gegenüber der Ersatzfreiheitsstrafe darstellen (in den Jahren 1996 und 1997 wurde dementsprechend gegenüber 25.381 und 27.079 Personen die Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet, was einen Anteil von 16,4% und 20,6% an allen Verurteilungen zur Geldstrafe darstellte716). Theoretisch konnten die Gerichte Art. 85 § 1 und § 11 KK von 1969 anwenden, aber wegen des Fehlens der Vollstreckungsvorschriften bis zum 18. Juli 1997 konnte insofern weitgehende Zurückhaltung erwartet werden. Die Kodifikation des Jahres 1997 hat an die Vorschriften des Art. 85 § 1 und § 11 KK von 1969 angeknüpft. Die gemeinnützige Arbeit (praca społecznie uz˙yteczna) wurde jedoch nicht im KK, sondern im KKW717 geregelt 711 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 746. Die Autoren sind jedoch Anhänger dieser Erledigungsform. Siehe: Ebenda, S. 796. 712 Buchała, Palestra 6/1988, S. 35. 713 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 714 Hołda/Postulski (2005), Art. 45 RN 1. 715 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 17 czerwca 1997 r. w sprawie okres´lenia trybu wyznaczania zakładów pracy, w których jest wykonywana praca, o której mowa w art. 85 § 1 Kodeksu karnego, szczegółowych obowia˛zków tych zakładów i instytucji uz˙ytecznos´ci publicznej w zakresie wykonywania tej pracy oraz szczegółowych zasad gospodarowania s´rodkami uzyskanymi z jej wykonywania, jak równiez˙ szczegółowych zasad wynagradzania wyznaczonych pracowników odpowiedzialnych za organizacje˛ pracy skazanych i jej przebieg, a takz˙e okres´lenia ulg podatkowych dla tych zakładów i instytucji. Dz. U. 97.70.444. 716 Szumski, PiP 11/2000, S. 48.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 165

(Art. 45 KKW von 1997). Der KKW von 1997 trat gleichzeitig mit der neuen Verordnung des Ministerrates in Kraft,718 die die vorangehende Verordnung vom 17. Juni 1997 ersetzte. Gemäß der ursprünglichen Fassung des Art. 45 § 1 KKW von 1997 konnten die Gerichte seit dem 1. September 1998 die Geldstrafe in Arbeit umwandeln, auch wenn die Ersatzfreiheitsstrafe gerade vollstreckt wurde (Art. 47 § KKW von 1997). Voraussetzung war, dass 1. die Geldstrafe uneinbringlich war, 2. die Geldstrafe 100 Tagessätze nicht überschritt und 3. der Verurteilte dieser Erledigungsform zugestimmt hatte. Diese Prämissen wurden durch das Gesetz von 2003719 allerdings wesentlich geändert.720 Nach der neuen Rechtslage kann das Gericht die gemeinnützige Arbeit ohne Einleitung des Zwangsvollstreckungsverfahrens anordnen. Nach dem alten Recht musste die Zwangsvollstreckung der gemeinnützigen Arbeit in jedem Fall vorangehen. Die Uneinbringlichkeit der Geldstrafe musste der Gerichtsvollzieher im Protokoll feststellen.721 Die Ursache der Uneinbringlichkeit spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle.722 Das Gesetz von 2003 erhöhte auch die Anzahl der Tagessätze bis zu 120, die in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden können. Unter „Tagessätze“ versteht man dabei sowohl die Zahl aus dem Urteil als auch den Rest der freiwillig vom Verurteilten gezahlten Geldstrafe.723 Keine Änderung hat die Reform des Jahres 2003 hinsichtlich der Zustimmung des Verurteilten zu der gemeinnützigen Arbeit gebracht. Sie soll vor 717

Ustawa z dnia 1997 r. Kodeks karny wykonawczy. Dz. U. 97.90.557. Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 25 sierpnia 1998 r. w sprawie wyznaczania zakładów pracy, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna orzeczona w zamian nies´cia˛galnej grzywny, szczegółowych obowia˛zków tych zakładów w zakresie zatrudniania skazanych i zasad gospodarowania uzyskanymi z tego tytułu s´rodkami oraz przysługuja˛cych ulg zakładom. Dz. U. 98.113.720. Diese Verordnung wurde inzwischen durch die Verordnung von 2004 ersetzt. Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 23 marca 2004 r. w sprawie podmiotów, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna. Dz. U. 04.56.544. 719 Ustawa z dnia 24 lipca 2003 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny wykonawczy oraz niektórych innych ustaw. Dz. U. 03.142.138. 720 Zagórski, Orzekanie i wykonanie kary ograniczenia wolnos ´ci oraz pracy społecznie uz˙ytecznej w Polsce w s´wietle analizy przepisów i wyników badan´, S. 99. 721 Hołda/Postulski (2005), Art. 45 RN 6. 722 Ebenda. 723 Ebenda, Art. 45 RN 8; Ginalski, NKPK IV/1999, S. 249. 718

166

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

der Entscheidung des Gerichts erfolgen. Dies ist dann erforderlich, wenn sich das Gericht aus eigener Initiative an den Verurteilten wendet. Nach Postulski soll das Gericht in jedem Fall vor der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe die Alternative der gemeinnützigen Arbeit berücksichtigen.724 Wenn der Verurteilte einen Antrag auf Umwandlung stellt, wozu er aufgrund des Art. 45 KKW von 1997 befugt ist, beinhaltet dieser Antrag die Zustimmung. Das Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, auf die Alternative der gemeinnützigen Arbeit hinzuweisen. Das Gesetz von 2003 hat auch den Anrechnungsmaßstab für die Tilgung eines Tagessatzes in den KKW von 1997 eingeführt (vor der Reform gab das Gesetz dazu keine Hinweise). Danach entsprechen 10 Tagessätze einem Monat gemeinnütziger Arbeit (Art. 45 § 1 KKW von 1997). Die Dauer der gemeinnützigen Arbeit wurde durch die Reform nicht geändert: Sie beträgt, wie vor der Reform, von einem bis zu zwölf Monaten (Art. 45 § 1 KKW von 1997). Sie muss in Monaten festgesetzt werden (Art. 45 § 1 KKW von 1997). Das Gesetz sieht keine Hinderungsgründe für die Umwandlung der Geldstrafe in gemeinnützige Arbeit vor. Gegen die Anwendung der gemeinnützigen Arbeit könnte – nach Postulski – jedoch insbesondere sprechen: – der Mangel an Arbeit am Wohnort des Verurteilten, – die voraussehbar negative Einstellung des Verurteilten gegenüber dieser Erledigungsform, – das Fehlen eines festen Wohnsitzes, – Krankheit, Behinderung und Alter, – die Familienverhältnisse, – Verbüßung einer Freiheitsstrafe.725 Angesichts der Tatsache, dass die gemeinnützige Arbeit als Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe erst im Jahre 1995 wieder in das polnische System eingeführt wurde, kann nicht verwundern, dass sie bislang keine allzu große Rolle spielt. Es ist jedoch zu betonen, dass eine steigende Tendenz zu verzeichnen ist.726 So wurde gemeinnützige Arbeit in den Jahren 1996–2002 in folgender Zahl der Fälle angeordnet: 620, 647, 902, 1.436, 2.495, 3.689, 5.215.727 In der ersten Hälfte des Jahres 2003 kam die gemeinnützige Arbeit in 3.655 Fällen zur Anwendung.728 724

Hołda/Postulski (2005), Art. 45 RN 4. Ebenda. 726 Die Entwicklung der gemeinnützigen Arbeit unterstützte insbesondere der ehemalige Ombudsmann Prof. Andrzej Zoll. Siehe dazu: Zagórski, Orzekanie i wykonanie kary ograniczenia wolnos´ci oraz pracy społecznie uz˙ytecznej w Polsce w s´wietle analizy przepisów i wyników badan´, S. 156. 725

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 167

Die Hindernisse für die weitere Anwendung der gemeinnützigen Arbeit sind vielfältig. Sie lassen sich im Wesentlichen auf folgende Punkte zurückführen. 1. Die organisatorischen Probleme, die ohne bedeutenden finanziellen Aufwand nicht zu überwinden sind.729 2. Das Fehlen des politischen Willens für die wirksame Organisation der gemeinnützigen Arbeit. 3. Die Belastung der Gemeinden mit den Kosten der Ausführung der gemeinnützigen Arbeit. Die neu erlassene Verordnung des Ministerrates vom 23. März 2004730 hat in dieser Hinsicht keine Änderung gebracht. 4. Die Begrenzung der Anwendung auf Geldstrafen bis zu 120 Tagessätzen. 5. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe, die die zusätzliche Geldstrafe von der Anwendung der gemeinnützigen Arbeit ausschließt.731 6. Der Konservatismus und die Abneigung der Richter gegenüber zusätzlichen Pflichten.732 c) Die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung Der KK von 1932 ließ in Art. 61 § 1 die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung zu. Die Voraussetzungen waren sowohl für die Freiheitsstrafe als auch für die Ersatzfreiheitsstrafe gleich (Art. 61 § 2 KK von 1932), d.h. der Gesetzgeber hatte die Anwendung dieser Form der Vergünstigung von keinen besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht. Der KK von 1969 war hinsichtlich der Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung sehr restriktiv. Sie war grundsätzlich unzulässig, es sei denn, dass das Gericht sie auf der Grundlage der beson727 Ebenda, S. 193. Die Zahlen beziehen sich nur auf die selbstständige Geldstrafe. 728 Ebenda. 729 Eine Untersuchung, die unter dem Patronat des polnischen Ombudsmannes durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass die Gemeinden kein Geld haben, um die Arbeitsplätze für die Verurteilten zu finanzieren. Dies führt dazu, dass es nicht genug Arbeitsplätze für gemeinnützige Arbeit gibt. Angesichts der geschilderten Lage wendete sich der ehemalige Ombudsmann Prof. Andrzej Zoll an den Präsidenten des Ministerrates mit der Forderung nach Verbesserung der Situation in diesem Bereich. Siehe Biuletyn RPO 7/1999, S. 12. 730 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 23 marca 2004 r. w sprawie podmiotów, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna. Dz. U. 04.56.544. 731 Konarska-Wrzosek, PiP 4/2001, S. 46. 732 Szumski, PiP 11/2000, S. 49.

168

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

deren Umstände für zweckmäßig erachtete (Art. 86 KK von 1969). Diese restriktive Formulierung sollte den Verurteilten zur Zahlung der Geldstrafe veranlassen.733 Es liegt auf der Hand, dass die Tilgung der Geldstrafe in dieser Erledigungsform bei einer solchen Rechtsgrundlage gering war,734 und in der Praxis keine Bedeutung hatte.735 Dazu trug auch der Beschluss des Obersten Gerichts vom 18. Januar 1973 bei,736 der dem Verurteilten das Recht zur Anfechtung einer negativen Entscheidung absprach. Art. 86 KK von 1969 wurde erst aufgrund des Gesetzes vom 12. Juli 1995737 geändert. Seit der Reform ließ der neue Art. 86 KK von 1969 die Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung zu, wenn das Gericht sie auf der Grundlage der besonderen Umstände für zweckmäßig hielt. Durch diese geringfügige Änderung brachte der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung öfter erfolgen soll. Die Kodifikation des Jahres 1997 hat an die Regelungen des KK von 1932 angeknüpft. Nach Art. 46 § 3 KKW von 1997 kann das Gericht die Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen, ohne sich dabei auf besondere Umstände berufen zu müssen. Die Bewährungszeit beträgt von einem Jahr bis zu zwei Jahren (Art. 46 § 3 KKW). In der ursprünglichen Fassung des Art. 46 § 3 KKW von 1997 hat der Gesetzgeber nicht entschieden, ob bei der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung die Grundsätze des Art. 69 KK von 1997 Anwendung finden sollen, die die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung regeln. Selbstverständlich führte diese Lücke zu zwei Auffassungen, die sich gegenseitig ausschließen. Postulski738 ließ die Anwendung des Art. 69 KK von 1997 zu, was unter anderem eine positive Prognose bezüglich des Verurteilten voraussetzte, dagegen schloss Lelental739 die Anwendung aller Vorschriften der Art. 68–73 KK von 1997 aus. Das Problem war von großer praktischer Bedeutung, und angesichts der Interpretationsprobleme konnte dies auch zu einer weitgehenden Zurückhaltung der Praxis in der Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe 733

Andrejew/S´wida/Wolter, Art. 86 RN 1; Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 86

RN 2. 734 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 30; Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 39. 735 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 161; Wojciechowska, PPK 1/1990, S. 40; Hołda/Postulski (2005), Art. 46 RN 15. 736 OSNKW 7–8/1973, Pos. 85. 737 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 738 Hołda/Postulski (1998), Art. 46 RN 15. 739 Lelental, Art. 46 RN 5.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 169

zur Bewährung beitragen. Schließlich hat der Gesetzgeber im Jahre 2003740 eingegriffen, indem er dem Art. 46 § 3 KKW von 1997 einen zweiten Satz hinzufügte, der auf die entsprechende Anwendung des Art. 69 § 1 und § 2 KK von 1997 (die allgemeinen Grundsätze der Strafaussetzung) und des Art. 75 KK von 1997 (die allgemeinen Grundsätze des Widerrufs der Strafaussetzung) verwies. Damit wurde der Streit der Lehre über die Anwendung des Art. 69 KK von 1997 bei der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe abgeschlossen. Ob die Vorschrift des Art. 46 § 3 KK von 1997 eine breite Anwendung in der Praxis finden wird, lässt sich zur Zeit noch nicht sagen. Dagegen kann der Umstand sprechen, dass es keine Tradition gibt, die die Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe fördern würde. Der KK von 1997 hat auch kein Instrument eingeführt, das die Richter zu einer breiten Anwendung dieses Rechtsinstitutes veranlassen würde. Angesichts der Tatsache, dass die Vollstreckung der Geldstrafe grundsätzlich vom Gericht geleitet wird, kann man erwarten, dass die Gerichte ungern ein Institut anwenden werden, das das Verfahren noch verlängert. Wieder hat der Gesetzgeber des Jahres 1997 den arbeitsökonomischen Aspekt der Vollstreckung der Strafe unterschätzt. Ferner dürften die praktischen Hinweise von Postulski und Lelental eine breite Anwendung der Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung hemmen. Nach der von ihnen vertretenen Auffassung kann gegen eine breite Anwendung dieses Instituts gerade der Zweck der Ersatzfreiheitsstrafe sprechen, der im Zwang des Verurteilten zur Zahlung der Geldstrafe liegt.741 Das heißt, wenn der Verurteilte eine Möglichkeit hatte, eine Geldstrafe zu zahlen oder sie in anderer Form zu tilgen, und diese Möglichkeit nicht genutzt hat, soll die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgeschlossen sein.742 Auch soll der Art. 46 § 3 KK von 1997 keine Anwendung bei den Verurteilten finden, die eine Freiheitsstrafe verbüßen.743 Diese Meinung stützt Postulski auf die Annahme, dass die Ablehnung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung dieselbe Folge bei der Ersatzfreiheitsstrafe haben solle.744

740

Ustawa z dnia 24 lipca 2003 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny wykonawczy oraz niektórych innych ustaw. Dz. U. 03.142.1380. 741 Hołda/Postulski (2005), Art. 46 RN 18; Lelental, Art. 46 RN 7. 742 Lelental, Art. 46 RN 7. 743 Hołda/Postulski (2005), Art. 46 RN 18. 744 Ebenda.

170

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe Der KK von 1932 schwieg in seiner ursprünglichen Fassung dazu, ob der Rest einer Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Erst das Gesetz von 1957745 ließ ausdrücklich im Art. 1 Abs. 2 diese Möglichkeit zu. Die Vorschrift wurde jedoch in den KK von 1932 nicht eingeführt. Der KK von 1969 schloss in seiner ursprünglichen Fassung die Anwendung dieses Institutes aus, es sei denn, dass die besonderen Umstände des Einzelfalles dafür sprachen (Art. 90 § 2 KK von 1969). Im Jahre 1995 wurde die Formulierung des Art. 90 § 2 KK von 1969 auf der Grundlage des Gesetzes vom 12. Juni 1995746 geändert. Nach der neuen Fassung war die Aussetzung zulässig, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dafür sprachen. Der KK von 1997 schweigt dagegen in dieser Hinsicht. Die Lehre schließt jedoch eine solche Möglichkeit vollkommen aus.747 e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Der KK von 1932 gab dem Gericht die Möglichkeit, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen, wenn der Verurteilte arbeitsunfähig war und dadurch die Ersatzfreiheitsstrafe in Form der Arbeit nicht abwenden konnte (Art. 43 § 5 KK von 1932). Diese Humanitätsklausel wurde auf der Grundlage des Gesetzes vom 16. November 1960748 gestrichen. Nach Cies´lak und Weigend wäre eine solche Klausel auch überflüssig, „weil das System der Zahlungserleichterungen so ausgebaut ist, daß auch Härtefällen in zufriedenstellender Weise Rechnung getragen werden kann.“749 Der KK von 1969 in seiner ursprünglichen Fassung gab dem Gericht keine Möglichkeit, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen. Auch das Gesetz vom 12. Juli 1995 änderte diese Rechtslage nicht. 745 Ustawa z dnia 29 maja 1957 r. o warunkowym zwolnieniu osób odbywaja˛cych kare˛ pozbawienia wolnos´ci. Dz. U. 57.31.134. 746 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 747 Lelental, Art. 52 RN 1; Buchała/Zoll, Art. 77 RN 9; Górniok/Hoc/Kalitowski/ Przyjemski/Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 77 RN 2. 748 Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 749 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 79.

2. Abschn.: Entwicklung der Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes 171

Der durch das Gesetz von 1995 geänderte Art. 87 KK von 1969 erlaubte dem Gericht nur diejenigen Geldstrafen zu erlassen, die nicht in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden konnten (d.h. bis zu 500 zł in der letzten Fassung des KK von 1969). Dementsprechend wurde dem Gericht unter der Geltung des KK von 1969 keine Möglichkeit gegeben, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen. Der KKW von 1997 hat auch in dieser Hinsicht an die Regelungen des KK von 1932 angeknüpft. Art. 51 KKW von 1997 lautete in seiner ursprünglichen Fassung: „Kann der Verurteilte die Geldstrafe aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht entrichten und hat sich die Vollstreckung der Strafe auf andere Weise als unmöglich oder nicht zweckmäßig erwiesen, kann das Gericht die Geldstrafe in besonders begründeten Fällen vollständig oder teilweise tilgen.“750

Die Reform des Jahres 2003751 hat Art. 51 KKW von 1997 geändert, indem sie den Erlass der Ersatzfreiheitsstrafe ohne Durchführung der Zwangsvollstreckung zuließ. Dies ist dann der Fall, wenn aus den Umständen hervorgeht, dass eine Zwangsvollstreckung wirkungslos wäre. Ohne Zweifel hat der Gesetzgeber dem Art. 51 KKW von 1997 einen Ausnahmecharakter zugesprochen. Die Beschränkung seiner Anwendung auf „besonders begründete Fälle“ lässt einen seltenen Gebrauch in der Praxis erwarten. Die Häufigkeit der Anwendung der Härteklausel wird sicherlich davon abhängen, ob die Praxis „die Unmöglichkeit“ nur vom Gesichtspunkt der Situation aus beurteilen wird, die nach dem Urteil entstanden ist, oder auch die Umstände berücksichtigen wird, die dem erkennenden Gericht bekannt waren. Die erste, insbesondere von Postulski vertretene Auffassung stützt sich auf die Annahme, dass das Gericht im Vollstreckungsverfahren nicht befugt ist, die vom erkennenden Gericht festgestellten Tatsachen zu beanstanden.752 Wäre dem erkennenden Gericht bekannt, dass der Verurteilte die Geldstrafe nicht zahlen wird, so würde das Gericht sicherlich den Art. 58 § 2 KKW von 1997 anwenden und von der Verhängung der Geldstrafe absehen.753 Dagegen nimmt Lelental an, dass der Zeitpunkt der Entstehung der „Unmöglichkeit“ oder der „Unzweckmäßigkeit“ keine Bedeutung für die Anwendung des Art. 51 KKW von 1997 haben kann, weil es keine Gründe gibt, die eine solche Begrenzung rechtfertigen würden.754 Wenn man einmal annimmt, dass die Begriffe „Unmöglichkeit“ 750

Übersetzung nach Łukan´ko/Zboralska, Kodeks karny wykonawczy. Ustawa z dnia 24 lipca 2003 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny wykonawczy oraz niektórych innych ustaw. Dz. U. 03.142.1380. 752 Hołda/Postulski (2005), Art. 51 RN 5. 753 Ebenda. 754 Lelental, Art. 51 RN 3. 751

172

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

oder „Unzweckmäßigkeit“ objektiv verstanden werden müssen, kann – so Lelental – die Tatsache keine Bedeutung haben, wann diese Situation entstanden ist.755 Ohne Zweifel erweitert die Auslegung von Lelental die Anwendung der Härteklausel des Art. 51 KKW von 1997. Dem kann hinzugefügt werden, dass vor allem pragmatische Gründe für diese Auslegung sprechen, die bei der sehr hohen Zahl der angeordneten Ersatzfreiheitsstrafen nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Die Auslegung von Lelental lässt die Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung des erkennenden Gerichts zu, die auf einem Informationsmangel oder einer falschen Beurteilung der zur Verfügung stehenden Informationen beruht. Die Auffassung von Postulski stützt sich auf die Annahme, dass das erkennende Gericht immer in der Lage ist, die Zahlungsfähigkeit der Verurteilten zutreffend festzustellen. Das oben erläuterte empirische Material widerspricht dieser Annahme. Die Richter arbeiteten, und man kann vermuten, dass dies heute immer noch der Fall ist, auf der Grundlage einer nur knappen Informationsbasis hinsichtlich der materiellen Lage des Verurteilten. Die Annahme, dass sie immer in der Lage wären, die Zahlungsfähigkeit des Verurteilten zu beurteilten, erscheint angesichts der Befunde der empirischen Forschung daher als unrealistisch.

Dritter Abschnitt

Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen Der Anwendungsbereich der selbstständigen und der zusätzlichen Geldstrafe, das System ihrer Bemessung sowie die Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens waren im deutschen (R)StGB und in den polnischen Strafrechtskodizes – wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt – sehr unterschiedlich ausgestaltet. Auch die heutige Rechtslage weicht in beiden Ländern in vielen Punkten voneinander ab. Die Analyse der einzelnen Vorschriften lässt die folgende Feststellung zu: In der Entwicklung des deutschen (R)StGB lässt sich eine Tendenz zur möglichst weitgehenden Erweiterung der Anwendung der selbstständigen Geldstrafe erkennen, dagegen weisen die Rechtsgrundlagen zu der selbstständigen Geldstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes darauf hin, dass der Gesetzgeber der Geldstrafe im Strafensystem eher eine untergeordnete Rolle zugewiesen hat. Allerdings lassen sich zu dieser grundsätzlichen Feststellung durchaus Ausnahmen finden. Es gibt Punkte im polnischen Konzept der Geldstrafe, die 755

Ebenda.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

173

im Vergleich zum Konzept der Geldstrafe im deutschen StGB geldstrafenfördernder wirken. Sie können jedoch die Schlussfolgerung nicht in Frage stellen, dass der deutsche Gesetzgeber wesentlich mehr für die Entwicklung der Geldstrafe getan hat als der polnische Gesetzgeber. Wie im Ersten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt wurde, wirkten sich diese Tendenzen in erheblichem Ausmaß auf die Strafzumessungspraxis aus. Um die vorangehend aufgestellte These plausibel zu machen, soll nunmehr auf folgende Punkte eines Vergleichs der beiden Strafrechtsordnungen im Einzelnen eingegangen werden: Anwendungsbereich und Förderung der Geldstrafe (I), das System der Bemessung der Geldstrafe (II), Zahlungserleichterungen (III) und die Vollstreckung der Geldstrafe (IV).

I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe Der Vergleich der Rechtsgrundlagen führt zu der These, dass der Anwendungsbereich und die Förderung der Geldstrafe im Rahmen des deutschen (R)StGB und im Rahmen der polnischen Strafrechtskodizes unterschiedlich geregelt wurden: Während das deutsche (R)StGB den Anwendungsbereich und die Förderung der selbstständigen Geldstrafe systematisch erweiterte [insbesondere durch § 27b (R)StGB a. F. und durch § 14 StGB a. F.], wiesen der KK von 1932 und der KK von 1969 der Geldstrafe die Funktion einer Zusatzstrafe und einer Strafe im Rahmen der außerordentlichen Strafmilderung zu. Erst der KK von 1997 hat den Anwendungsbereich der selbstständigen Geldstrafe wesentlich erweitert, wobei der Gesetzgeber sich allerdings nicht für eine Förderung der selbstständigen Geldstrafe zu Lasten der bedingten Freiheitsstrafe und der Freiheitsbeschränkungsstrafe entschieden hat. Diese These erhärten die folgenden Argumente: 1. Die selbstständige Geldstrafe Die im Ersten Abschnitt dieses Kapitels ausführlich dargestellte Präferenzklausel zugunsten der Geldstrafe [§ 27b (R)StGB a. F. und § 14 StGB a. F.] lassen keinen Zweifel daran, dass der deutsche Gesetzgeber der Geldstrafe im Bereich der Freiheitsstrafen bis zu 3 (später bis zu 6) Monaten eine führende Stelle zugewiesen hat. Dafür spricht schon die Konstruktion der Vorschriften des § 27b (R)StGB a. F. und des § 14 StGB a. F.: Beide Regelungen ließen die Geldstrafen bei Strafandrohungen des Besonderen Teils zu, die keine Geldstrafe vorsahen und beinhalteten zudem eine MussVorschrift, die die Richter zur Verhängung der Geldstrafe zwang. Kam eine Freiheitsstrafe unter 3 Monaten unter der Geltung des § 27b StGB a. F.

174

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

oder unter 6 Monaten unter der Geltung des § 14 StGB a. F. in Betracht, so musste der Richter eine Geldstrafe verhängen. Dass dabei auch andere Voraussetzungen erfüllt sein mussten, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden, da es hier nur um die Konstruktion der Vorschriften geht. Demgegenüber stand die selbstständige Geldstrafe im KK von 1932 vollkommen im Schatten der Freiheitsstrafe. Der Besondere Teil des KK von 1932 sah eine Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe lediglich in 28 Vorschriften vor.756 Dieser Kodex hatte keine generelle Klausel in den Allgemeinen Teil eingeführt, die die Freiheitsstrafe alternativ zur Geldstrafe vorgesehen hätte. Lediglich bei einer außerordentlichen Strafmilderung spielte die selbstständige Geldstrafe eine größere Rolle. Bei einem solchen Anwendungsbereich konnte die Präferenzklausel zugunsten der Geldstrafe (MussVorschrift des Art. 57 § 2 KK von 1932) keine entscheidende Wirkung entfalten. Wenn man dazu die Auslegung der Vorschrift des Art. 57 § 2 KK von 1932 durch Makarewicz berücksichtigt, der den Anwendungsbereich der Geldstrafe auf zahlungsfähige Personen beschränkte,757 so kommt man zu der Schlussfolgerung, dass schon vor der Einführung der Vorschrift ihre bescheidene Rolle vorauszusehen war. Die Muss-Konstruktion konnte hier wenig helfen, wenn die Zahl der in Betracht kommenden Straftatbestände gering war und die Vorschrift nur Zahlungsfähigen zugute kam. Einen weiteren Anwendungsbereich hat dagegen der polnische Gesetzgeber aus dem Jahre 1969 für die selbstständige Geldstrafe vorgesehen: Er hat den Besonderen Teil des KK von 1969 mit einer Erhöhung der Anzahl von Deliktstatbeständen mit Geldstrafeandrohung versorgt und in den Allgemeinen Teil eine Vorschrift eingeführt, die die Verhängung der Geldstrafe zuließ, wenn eine Strafandrohung des Besonderen Teils keine Geldstrafe vorsah und die verhängte Freiheitsstrafe nicht höher als sechs Monate wäre (Art. 54 KK von 1969). Wieder jedoch blieben statistisch bedeutsame Straftaten wie z. B. der Diebstahl (Art. 203 § 1 KK von 1969) oder die Misshandlung von Verwandten (Art. 184 KK von 1969) außerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten im Jahre 1969 (letztes Jahr der Geltung des KK von 1932) nur 28,4%758 der verhängten Freiheitsstrafen darstellten, so dass die Mehrzahl der Freiheitsstrafen überhaupt nicht in den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 fallen konnte. 756

Zu den Ziffern der Tatbestände siehe Fußnote 426. Jakubowska-Hara, Grzywna w prawie wykroczen´, S. 23. 758 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1970. 757

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

175

Ferner beinhaltete der KK von 1969 zwei gesetzliche Ausschließungsgründe (Art. 54 § 2 KK von 1969 und Art. 59 § 2 KK von 1969), deren praktische Bedeutung bei der Einschränkung der Anwendung der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 nicht zu unterschätzen ist. Neben den gesetzlichen Einschränkungen stand der weiteren Anwendung der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 der Gedanke entgegen, der die Auswahl der Strafen mit der Zahlungsfähigkeit der Verurteilten verknüpfte.759 Auch das Oberste Gericht hat mit seinem Urteil vom 8. August 1975760 den Anwendungsbereich eingegrenzt, indem es die Anwendung der Vorschrift nur auf Taten beschränkte, deren Sozialgefährlichkeit „nicht allzu groß“ war. Obwohl aus praktischer Perspektive die Definition der Sozialgefährlichkeit unklar blieb, brachte das Oberste Gericht durch dieses Urteil zum Ausdruck, dass die Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 nicht allzu schnell zur Anwendung kommen sollte. Weiterhin soll hervorgehoben werden, dass Art. 54 KK von 1969 eine Kann-Vorschrift war. Demzufolge waren die Richter in keinem Fall dazu verpflichtet, anstelle der Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten eine Geldstrafe zu verhängen. Man kann davon ausgehen, dass gerade diese Eigenschaft der Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 ihrer breiteren Anwendung entgegenwirkte. Auch die Änderungen der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 im Jahre 1985 und im Jahre 1995 konnten nicht bewirken, dass die Geldstrafe in der Praxis der Gerichte den Platz vor der bedingten Freiheitsstrafe eingenommen hätte, obwohl einzuräumen ist, dass die Anzahl der selbstständigen Geldstrafen nach den Reformen deutlich gestiegen ist. Insbesondere im Jahre 1995 wurde der Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969 durch die Erfassung weiterer bedeutsamer Tatbestände (115) des Besonderen Teils wesentlich erweitert. Die statistisch wichtigsten Straftaten, wie Diebstahl (Art. 203 § 1 KK von 1969), konnten seitdem mit Geldstrafe bestraft werden. Auch die Aufhebung der Einschränkungen (Art. 54 § 2 KK von 1969 und 59 § 2 KK von 1969) gab die Möglichkeit einer breiteren Anwendung der Vorschrift des Art. 54 KK von 1969. Diese gesetzgeberischen Maßnahmen haben jedoch noch nicht ausgereicht, um der Geldstrafe einen herausragenden Platz in der polnischen Sanktionierungspraxis zu sichern. Der KK von 1997 weitete den Anwendungsbereich der Geldstrafe aus, vernachlässigte jedoch die Förderung der Geldstrafe gegenüber ihrem Hauptkonkurrenten (der bedingten Freiheitsstrafe). Die Präferenzklausel zu759 Siehe dazu die oben zitierten Ausführungen von Sługocki im Zweiten Abschnitt dieses Kapitels Punkt I.1.b)aa). 760 V KRN 89/75.

176

1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

gunsten der ambulanten Strafen (Art. 58 § 1 KK von 1997) könnte auf den ersten Blick dafür sprechen, dass die Vorschrift zur Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe wesentlich beitragen kann. Es ist jedoch zu beachten, dass Art. 58 § 1 KK von 1997 keine Präferenz nur zugunsten der Geldstrafe darstellt, sondern er strebt vor allem an, den Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen zu beschränken, d.h. er lässt dem Richter die Wahl zwischen den ambulanten Strafen. Demzufolge kann sich der Richter für die bedingte Freiheitsstrafe, die Freiheitsbeschränkungsstrafe oder die bedingte Freiheitsbeschränkungsstrafe entscheiden, ohne die Vorschrift des Art. 58 § 1 KK von 1997 zu verletzen. Die Muss-Konstruktion der Vorschrift des Art. 58 § 1 KK von 1997 wirkt somit zugunsten aller ambulanten Strafen, bevorzugt aber in keinem Fall die Geldstrafe unter den ambulanten Strafen. Man kann somit sagen, dass diese Vorschrift eine Muss-Konstruktion bezüglich der ambulanten Strafe und eine Kann-Konstruktion bezüglich der Geldstrafe darstellt. Angesichts der Tatsache, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung in der Rechtsprechung und der Lehre überwiegend als eigenständiges Strafmittel angesehen wird,761 schafft Art. 58 § 1 KK von 1997 damit eine Konkurrenz zwischen bedingter Freiheitsstrafe und Geldstrafe. Aus der Vorschrift lässt sich nichts dazu entnehmen, was die Geldstrafe zu Lasten der anderen Strafen, insbesondere der bedingten Freiheitsstrafe, bevorzugen würde. Wenn man bedenkt, dass eine wesentliche Erweiterung der Geldstrafe grundsätzlich nur zu Lasten der statistisch bedeutendsten Strafe, und zwar der bedingten Freiheitsstrafe, realisierbar ist, muss daher aus der Perspektive, die eine breitere Anwendung der Geldstrafe fordert, Art. 58 § 1 KK von 1997 kritisch beurteilt werden. Außerdem ist zu beachten, dass die durchaus bedeutsame Anzahl von 98 Vorschriften des BT des KK von 1997, die in den Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 58 § 1 KK von 1997 fallen, auch die fahrlässigen Delikte und die minder schweren Fälle umfasst. Die Sozialschädlichkeit dieser Delikte ist geringer und man kann erwarten, dass sie auch ohne die Vorschrift des Art. 58 § 1 KK von 1997 mit ambulanter Strafe belegt würden. Ferner ist hervorzuheben, dass die Stellung der Geldstrafe relativ zu sämtlichen anderen ambulanten Strafen durch das Verbot der Verhängung der Geldstrafe gegenüber Zahlungsunfähigen (Art. 58 § 2 KK von 1997) deutlich geschwächt wird. Eine solche Vorschrift wäre im System des deutschen StGB undenkbar. Wie oben aus historischer Perspektive gezeigt wurde, hat der Kampf der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland mit den Ansätzen, die auf die Geldstrafe wegen Mittellosigkeit des 761 Siehe dazu noch den Zweiten Abschnitt des Zweiten Kapitels Punkt II.3., in dem das Wesen der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung in den polnischen Strafrechtskodizes dargestellt wird.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

177

Verurteilten verzichten wollten, eine lange Tradition. Heutzutage herrscht jedoch auf offizieller Ebene weitgehende Einigkeit darüber, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bei der Auswahl der Sanktion keine Bedeutung haben dürfen.762 Der Gedanke des Art. 58 § 2 KK von 1997 ist keineswegs neu – er ist schon bei Makarewicz erkennbar.763 Obwohl der KK von 1969 eine solche Vorschrift nicht vorsah, wurde der Gedanke in der Kommentarliteratur764 und der monographischen Literatur765 lebhaft vertreten. Demzufolge setzte Art. 58 § 2 KK von 1997 nur eine lange Tradition fort, die bei der Auswahl der Strafen die Zahlungsfähigkeit des Angeklagten berücksichtigt. Die Hervorhebung dieser Entwicklungslinie ist deshalb so wichtig, weil sie zeigt, dass der Gedanke des Art. 58 § 2 KK von 1997 sehr gut zu den Anschauungen der gegenwärtigen Praktiker über die Strafzumessung passt. Daher lässt sich kaum die These von Szymanowski verteidigen, dass gerade die Einführung des gesetzlichen Verbots der Verhängung der Geldstrafe gegenüber den Einkommensschwachen (Art. 58 § 2 KK von 1997) das Absinken der Verurteilungen zu Geldstrafe verursachte.766 Man kann vermuten, dass der Gedanke des Art. 58 § 2 KK von 1997 ohne die gesetzliche Regelung genauso lebhaft in der Praxis vertreten wäre. Daher spricht viel dafür, dass gerade die Unterlassung eines Kampfes gegen die Denkweise, die die Auswahl der Sanktionen mit den Vermögensverhältnissen verbindet, für das Absinken der Anzahl der Geldstrafen verantwortlich ist. Deshalb sollte man auch nicht allzu viel von einer Abschaffung der Vorschrift des Art. 58 § 2 KK von 1997 erwarten: Der Gedanke dieser Vorschrift wird sicherlich in Bewusstsein der Praktiker noch lange (auch heimlich) weiterleben. Im Lichte des Art. 58 § 2 KK von 1997 konnte daher auch nicht viel von Art. 58 § 3 KK von 1997 erwartet werden, der die Strafandrohungen des Besonderen Teils, die nur Freiheitsstrafe (bis zu fünf Jahren) vorsehen, um die Geldstrafe (aber zugleich auch um die Freiheitsbeschränkungsstrafe) erweitert. Obwohl die Vorschrift solche statistisch bedeutsamen Straftatbestände wie Diebstahl, Unterschlagung und Körperverletzung umfasst, hat sie – im Gegensatz zu Art. 58 § 1 KK von 1997 – eine Kann-Konstruktion und es steht daher vollständig im Ermessen des Richters, ob er anstelle einer Freiheitsstrafe eine Geldstrafe verhängt. Art. 58 § 3 KK von 1997 gibt lediglich eine Möglichkeit, die Geldstrafe zu verhängen; er trifft jedoch keine Aussage 762 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 891; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 76; LK-Gribbohm, § 47 RN 21. 763 Makarewicz, S. 212; Ähnlich Jamontt/Rappaport, S. 308; Makowski, Art. 57 RN 5–6; Wolter, Zarys systemu prawa karnego, S. 74–75. 764 Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 36 RN 15. 765 Sługocki, Kara grzywny samoistnej i jej wykonanie, S. 103. 766 Szymanowski, PiP 10/2002, S. 23.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

zum Vorrang der Geldstrafe gegenüber der (bedingten) Freiheitsstrafe. Angesichts der Tatsache, dass die Strafzumessung und insbesondere die Auswahl der Strafen einem starken Druck der Tradition (dem Taxensystem) ausgesetzt ist, konnte von Anfang an nicht viel von Art. 58 § 3 KK von 1997 erwartet werden. Man kann nicht ernsthaft daran glauben, dass es ausreicht, den Richtern eine Möglichkeit zur Verhängung der Geldstrafe zu geben, damit sie die Geldstrafe in den Fällen bevorzugen, in denen sie längst eine (bedingte) Freiheitsstrafe verhängt haben. Der Gesetzgeber, soweit er tatsächlich die Erweiterung der Anwendung der selbstständigen Geldstrafe im neuen KK anstrebte, hat in Art. 58 § 3 KK von 1997 das traditionelle Moment der Entscheidungen über die Strafzumessung wesentlich unterschätzt. Der geringe Anwendungsbereich der selbstständigen Geldstrafe im KK von 1932 und im KK von 1969 (bis 1995) und die Kann-Konstruktion der Präferenzklausel zugunsten der Geldstrafe im KK von 1969 (Art. 54) und im KK von 1997 (Art. 58 § 3) stehen somit im krassen Gegensatz zu § 27b RStGB a. F. und zu § 14 StGB a. F., die den Anwendungsbereich der selbstständigen Geldstrafe im deutschen Strafgesetzbuch wesentlich erweitert und die Verhängung der Geldstrafe gefördert haben. Man kann vertreten, dass dieser Unterschied nicht überschätzt werden sollte, weil auch die deutschen Muss-Vorschriften einen Ausweg zur Nichtanwendung der Regelungen vorsahen. Dieser Einwand ist richtig, aber man muss stets im Auge behalten, dass das Absehen von Geldstrafe in den deutschen Muss-Vorschriften immer mit Begründungszwang (und das heißt mit Arbeitsaufwand) verbunden war. So hat das Reichsgericht767 schon im Jahre 1926 die Revision zugelassen, wenn nach den Umständen des Falles die Anwendbarkeit des § 27b RStGB als möglich erschien, das Gericht sich aber darüber nicht äußerte.768 Auch zwang § 267 Abs. 3 StPO das Gericht ausdrücklich zur Angabe der Gründe, weshalb eine Freiheitsstrafe in den Fällen des § 14 StGB a. F. verhängt wurde. Diese Umstände dürfen bei der Beurteilung der Vorschriften daher nicht vernachlässigt werden. Schließlich ist hervorzuheben, dass die deutschen und die polnischen Vorschriften zur Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe eine jeweils ganz andere Konkurrenz im Rechtsinstitut der Strafaussetzung gehabt haben. Wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, hatte die Rechtsprechung (das Oberste Gericht sowie Gerichte der unteren Instanz) in Polen 767

RGSt. 60, S. 115. Zustimmend Erwig, Die strafrechtliche und strafprozessuale Bedeutung des § 27b des Reichsstrafgesetzbuches, S. 57; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27b. Nach der Neufassung des § 267 Abs. 3 StPO musste das Urteil die Anwendbarkeit des § 27b StGB ausdrücklich erörtern. So Schönke (1952), § 27b Anm. III. 768

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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schon vor dem Krieg der Strafaussetzung Eigenständigkeit beigemessen. Seit der Einführung des KK von 1969 lässt sich auch in der Lehre eine Mehrzahl an Stimmen feststellen, die sich der herrschenden Meinung in der Praxis angeschlossen haben. Dies führte dazu, dass die bedingte Freiheitsstrafe schon unter der Geltung des KK von 1932 als eine eigenständige Strafe neben der Geldstrafe und Freiheitsstrafe angesehen wurde. Der KK von 1969 hat zum Katalog der Strafen die Freiheitsbeschränkungsstrafe, der KK von 1997 die bedingte Geldstrafe und die bedingte Freiheitsbeschränkungsstrafe hinzugefügt. Die Richter konnten aus dem Katalog dieser Strafarten wählen. Angesichts der Eigenständigkeit der Strafaussetzung, die es erlaubte, die Höhe der Freiheitsstrafe von der Entscheidung über die Strafaussetzung abhängig zu machen, stellte die bedingte Freiheitsstrafe eine sehr konkurrenzfähige Alternative gegenüber der Geldstrafe dar. Die präventionsorientierten Richter, die eine Unterstützung in Art. 54 KK von 1932 und in Art. 50 KK von 1969 fanden, konnten die hohen bedingten Freiheitsstrafen zu Lasten der Geldstrafe bevorzugen, insbesondere dann, wenn die finanziellen Mittel des Verurteilten knapp waren. Sie konnten erwarten (ob zu Recht, kann hier dahinstehen), dass eine hohe zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe besser als die Geldstrafe den Verurteilten von der Begehung der nächsten Straftaten abschrecken würde. Das Oberste Gericht in Polen und die Lehre, die eine Vermengung der Gesichtspunkte im Sinne einer einheitlichen Festsetzung der Höhe von Freiheitsstrafe und einer Entscheidung über Strafaussetzung erlaubten, konnten somit zur Erhöhung der Attraktivität der bedingten Freiheitsstrafe beitragen und die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe gefährden. Demgegenüber verneinten sowohl die herrschende Meinung in der Lehre als auch der BGH in Deutschland die Eigenständigkeit der bedingten Freiheitsstrafe, was den Katalog der Strafen grundsätzlich auf Geldstrafe und Freiheitsstrafe beschränkte. Nach dem zugrundeliegenden dogmatischen Konzept soll der Richter zunächst zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe wählen, dann die Höhe von Geldstrafe oder Freiheitsstrafe unter dem Gesichtspunkt des Schuldausgleichs festsetzen und schließlich, falls eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, über die Strafaussetzung entscheiden. Die Bedeutung dieser vom BGH und der herrschenden Meinung im Schrifttum vertretenen Vorgehensweise kann man nur dann zutreffend einschätzen, wenn man gleichzeitig die Regelungen des § 27b StGB a. F. und des § 14 StGB a. F. mitbetrachtet. Als die Vorschriften über die Strafaussetzung im Jahre 1953 in das StGB eingeführt wurden, waren die Gerichte nach § 27b StGB a. F. schon längst dazu verpflichtet, eine Geldstrafe anstelle der Freiheitsstrafe unter drei Monaten zu verhängen, wenn der Strafzweck auch durch eine Geldstrafe erreicht werden konnte. Diese Pflicht wurde später durch § 14 StGB a. F. auf Freiheitsstrafen unter sechs Monaten erweitert.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Wenn der Richter nach dem herrschenden dogmatischen Konzept zunächst die Freiheitsstrafe bemessen sollte, um dann die Entscheidung über die Strafaussetzung zu treffen, ist es klar, dass die Frage einer Strafaussetzung erst gar nicht entstehen konnte, wenn eine Freiheitsstrafe unter 3 Monaten (§ 27b StGB a. F.) verwirkt war und der Strafzweck durch die Geldstrafe erreicht werden konnte. Dieselbe Situation entstand bei den Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nach der Einführung des § 14 StGB a. F., wobei im Vergleich zu § 27b StGB a. F. andere Voraussetzungen erfüllt werden mussten. Das Verschieben der Frage der Strafaussetzung auf dogmatischer Ebene in die Etappe der Vollstreckung bewirkte, dass die Strafaussetzung grundsätzlich keine Konkurrenz zu denjenigen Geldstrafen darstellte, die die Freiheitsstrafen (zunächst) bis zu 3 Monaten (§ 27b StGB a. F.) und später bis zu 6 Monaten (§ 14 StGB a. F.) ersetzen sollten. Würden herrschende Lehre und BGH der Strafaussetzung einen eigenständigen Charakter verleihen, so würde dies dem Richter erlauben, zwischen Geldstrafe, Freiheitsstrafe und bedingter Freiheitsstrafe zu wählen. Dabei kann man erwarten, dass die bedingte Freiheitsstrafe tendenziell höher als die Freiheitsstrafe wäre. Sie könnte drei Monate (§ 27b StGB a. F.) oder sechs Monate (§ 14 StGB a. F.) übersteigen. Dies hieße, den Anwendungsbereich des § 27b StGB a. F. bzw. des § 14 StGB a. F. zu schwächen. Die herrschende Lehre sowie die Rechtsprechung des BGH, die die Eigenständigkeit der Strafaussetzung bestreiten, unterstützen damit weitgehend die Reform, die eine Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafen durch Geldstrafe bezweckte. Damit hat sich gezeigt, dass die Bestimmung des Wesens der Strafaussetzung nicht nur ein Problem theoretischer Natur ist. Die bedingte Freiheitsstrafe als ambulante Maßnahme konkurriert nicht nur mit der Freiheitsstrafe, sondern auch mit der Geldstrafe. Die Definition der Rechtsnatur der Strafaussetzung im Rechtssystem beeinflusst daher das Verhältnis zwischen Geldstrafe und bedingter Freiheitsstrafe erheblich. Außerdem kann sich das Verständnis der Strafaussetzung maßgeblich auf Reformen auswirken, und zwar hier auf dem Gebiet des Anwendungsbereiches der Geldstrafe.

2. Geldstrafe neben anderen Strafarten Sowohl auf der Grundlage des KK von 1932 als auch des KK von 1969 mussten die polnischen Richter die Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe bei Taten aus Gewinnsucht (KK von 1932) oder Taten zum Zwecke der Erlangung eines Vermögensvorteils (KK von 1969) obligatorisch verhängen. Außerdem sahen der KK von 1932 (ab 1960) und der KK von 1969 zwei selbstständige Grundlagen zur Verhängung der zusätzlichen Geldstrafe vor, die im deutschen StGB nie aufgetaucht sind: Seit 1960 konnten die pol-

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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nischen Gerichte eine zusätzliche (fakultative) Geldstrafe verhängen, wenn der Täter einen Schaden am Gemeineigentum verursachte, und seit 1970 bis heute besteht die Möglichkeit zur Verhängung einer Geldstrafe neben der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe. Ferner hat der KK von 1997 die Möglichkeit vorgesehen, eine Geldstrafe neben der bedingten Freiheitsbeschränkungsstrafe zu verhängen. Die Bereitschaft der Gerichte, Geldstrafe neben Freiheitsstrafe zu verhängen, wurde auch durch die Richtlinien des Obersten Gerichts über die Geldstrafe nachhaltig unterstützt.769 Dagegen ist in der Entwicklung des deutschen StGB eine weitgehende Zurückhaltung gegenüber der Förderung der zusätzlichen Geldstrafe erkennbar. Seit 1975 kann das Gericht eine Geldstrafe neben Freiheitsstrafe nur dann verhängen, wenn „dies auch unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters angebracht ist.“ Nie waren die deutschen Gerichte dazu verpflichtet, eine Geldstrafe nach der allgemeinen Klausel bei Taten aus Gewinnsucht oder mit Bereicherungsabsicht obligatorisch neben einer Freiheitsstrafe zu verhängen. Die vereinzelten Vorschriften des Besonderen Teils, die eine obligatorische zusätzliche Geldstrafe vorsahen, wurden durch das 2. StrRG abgeschafft. Das Schrifttum770 und die Rechtsprechung des BGH771 haben zudem der bisher geltenden Vorschrift des § 41 S. 1 StGB „Ausnahmecharakter“ zugesprochen. Man betonte im Falle der Kumulierung der Geldstrafe mit der unbedingten Freiheitsstrafe die Gefahr der Entsozialisierung des Täters. In der Regel sollte sie daher nur bei vermögenden oder einkommensstarken Tätern in Betracht kommen.772 Insbesondere die begüterten Täter der sog. Weißen-Kragen-Kriminalität sollten die Adressaten der Norm des § 41 S. 1 StGB sein.773 Man forderte schließlich eine weitgehende Zurückhaltung in ihrer Anwendung,774 der die Praxis vollkommen gefolgt ist. Im Jahre 1978 schrieb Grebing in seiner rechtsvergleichenden Untersuchung: „Der modernen Konzeption der Geldstrafe widerspricht schließlich auch jede andere Form ihrer Kumulierung mit der Freiheitsstrafe oder sonstigen Strafen, weil sie durch die Zusatzfunktion ihren selbstständigen Strafcharakter einbüßt. Dies 769 Richtlinien des Obersten Gerichts vom 28. April 1978, OSNKiW 4–5/1978, Pos. 41. 770 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 66; Albrecht, NK-StGB, § 41 RN 1; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 1; LK-Häger, § 41 RN 5; Lackner/Kühl, § 41 RN 1; Fischer/Tröndle (2006), § 41 RN 2. 771 BGHSt. 26, S. 330; 32, S. 65. 772 LK-Häger, § 41 RN 11. 773 Fischer/Tröndle (2003), § 41 RN 5. 774 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 41 RN 1, m. w. N.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

gilt einmal für die vereinzelt vorgesehene Geldstrafekumulierung zur Strafverstärkung und Beeindruckung des Täters, zum anderen für die gängige Kumulierung der Geldstrafe mit der Strafaussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung oder mit der Bewährungsstrafe als Hauptstrafe, um diese ambulanten Reaktionen mit einem zusätzlichen Strafübel zu versehen. Gerade im letzten Fall erscheint die zusätzliche Geldstrafe nicht nur als Ausdruck eines Mißtrauens gegen das Bewährungssystem selbst, sondern letztlich auch als Relikt des Vergeltungsgedankens; mögen pekuniäre Auflagen wie die Schadenswiedergutmachung oder die Leistung von Unterhaltszahlungen mit den spezialpräventiven Zielen des Bewährungssystems konform sein, Zusatzgeldstrafen oder (unter bloß anderem Etikett) Geldauflagen stehen dazu in offenem Widerspruch.“775

Aus dieser Perspektive müssen die Regelungen des KK von 1997 zur zusätzlichen Geldstrafe (Art. 33 § 2 KK von 1997, Art. 71 des KK von 1997, Art. 89 § 2 KK von 1997 und Art. 89 § 2 KK von 1997) kritisch beurteilt werden. Mit diesen Regelungen gewährleistete der neue Kodex der Geldstrafe keine autonome Stellung im Sanktionensystem. Die Beibehaltung der Möglichkeit einer Verhängung von Geldstrafe neben der Freiheitsstrafe bei Taten zur Erlangung eines Vermögensvorteils und der selbstständigen Grundlage bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung sowie die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe bei Aussetzung der Freiheitsbeschränkungsstrafe zur Bewährung und bei Aussetzung der Gesamtfreiheits- und Gesamtfreiheitsbeschränkungsstrafe stehen ohne Zweifel einem Implementierungsprogramm entgegen, das die Ausweitung einer Anwendung der selbstständigen Geldstrafe im Rechtssystem beabsichtigt. Diese Vorschriften ermöglichen die Fortsetzung gerade der Tradition, die sich unter der Geltung des KK von 1932 und von 1969 herauskristallisiert hat. Wie könnte man annehmen, dass die Richter die selbstständige Geldstrafe z. B. beim Diebstahl öfter anwenden werden, wenn in ihrem Bewusstsein die Geldstrafe in diesem Fall grundsätzlich nur als ein Zusatz zu der „wahren“ Strafe (Freiheitsstrafe) gilt? Die oft angewandte zusätzliche Geldstrafe muss deshalb zu einer weitgehenden Verminderung der Bedeutung der selbstständigen Geldstrafe führen. Dies ist zugleich ein Phänomen, das „die Hierarchie“ der Strafen im Rechtssystem deutlich werden lässt.776 Gegen diesen Befund kann der Einwand erhoben werden, dass auch in der deutschen Praxis Freiheitsstrafen sehr oft mit einer Geldauflage aufgrund des § 56b Abs. 2 Ziff. 2 StGB a. F. (= § 56b Abs. 2 Ziff. 2 und 4 775 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 1244, m. w. N. 776 Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Geldstrafen fast 85 % der Verurteilungen aufgrund des Übertretungsrechts im Jahre 2004 darstellten, obwohl Art. 24 § 2 des Übertretungskodexes auch eine Kumulierung der Geldstrafe mit der Arreststrafe vorsieht. Berechnungen des Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny), 2005.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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StGB n. F.) verbunden werden.777 Grebing meint sogar, dass „die deutsche Geldauflage eigentlich doch nur als ein anderes Etikett für Geldstrafe erscheint“778. Sie hat jedoch nie den Umfang der zusätzlichen Geldstrafe neben der ausgesetzten Freiheitsstrafe wie in Polen erreicht. Daher kann es nicht verwundern, dass in beiden Rechtssystemen die Geldstrafe gegenwärtig verschiedene Funktionen erfüllt. Abgesehen davon, dass sich in Deutschland der Anteil der selbstständigen Geldstrafen an allen Verurteilungen auf 80% beläuft, wird die Geldstrafe von den deutschen Gerichten nur in Ausnahmefällen in Verbindung mit einer (bedingten) Freiheitsstrafe verhängt. Die Geldstrafe wird von der Rechtsprechung als autonome Sanktion angesehen, die die mutmaßlichen oder realen Strafzwecke selbstständig erfüllen kann. Dagegen wurden 49,9% aller Geldstrafen in Polen im Jahre 2004 neben einer Freiheitsstrafe verhängt.779 Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass die selbstständige Geldstrafe in der polnischen Praxis weiterhin im Schatten der zusätzlichen Geldstrafe bleibt.780 Sie wird sehr oft nur als ein 777 Es lässt sich der Verurteilungsstatistik nicht entnehmen, wieviel Geldauflagen neben bedingten Freiheitsstrafen verhängt wurden, weil die Statistik nur die Anzahl aller Auflagen angibt. Im Jahre 2004 wurden 58.274 Auflagen neben 91.806 bedingten Freiheitsstrafen verhängt. Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. Nach Schäfer ist die Geldbuße die häufigste Auflage. Siehe dazu: Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 174. Auch die empirischen Untersuchungen zeigen, dass der Anteil für die Geldauflage traditionell am höchsten ist. So ergab z. B. die Untersuchung von Sydow, dass neben 33,5 % der Freiheitsstrafen eine Geldbuße verhängt wurde. Siehe dazu: Sydow, Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung, S. 43. Etwas höher war der prozentuale Anteil in der Untersuchung von Bindzus. Er betrug 39,1 % (27 Fälle). Siehe dazu: Bindzus, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Untersuchung über den Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung an 120 Jugendlichen und Heranwachsenden, die im Landgerichtsbezirk Göttingen in den Jahren 1953–1957 zu einer Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt wurden, S. 54. Wesentlich mehr Geldbußen neben einer Freiheitsstrafe haben Wittig (50,8 % aller Freiheitsstrafen), Mattheis (60,7 % aller Freiheitsstrafen), Zugehör (64 % aller Freiheitsstrafen) festgestellt. Siehe dazu: Wittig, Die Praxis der Strafaussetzung zur Bewährung bei Erwachsenen, S. 50–51; Mattheis, Die Strafaussetzung zur Bewährung im Amtsgerichtsbezirk Gelsenkirchen-Buer, S. 53–54; Zugehör, Die Strafaussetzung zur Bewährung in der Praxis, S. 90–91. Die Untersuchung von Hausen, die auf den Urteilen aus den Jahren 1971–1972 beruht, ergab einen niedrigeren prozentualen Anteil, der 43,5 % betrug. Siehe dazu: Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 304. 778 Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 1215. 779 Berechnungen vom Verf. auf der Grundlage des Statistischen Jahrbuches (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2005. 780 Auf dieses Problem haben schon Bien ´ kowska und Skupin´ski im Jahre 1988 aufmerksam gemacht. Siehe dazu: Bien´kowska/Skupin´ski, PiP 2/1988, S. 75.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

„Zusatz“ zu der „wahren“ Strafe, der Freiheitsstrafe, betrachtet.781 Ihre Funktion als selbstständige Strafe wurde somit weitgehend verfehlt.782

II. Das System der Bemessung der Geldstrafe Die Tendenz zur möglichst weitgehenden Erweiterung der Anwendung der selbstständigen Geldstrafe wird im deutschen (R)StGB nicht nur auf dem Gebiet des Anwendungsbereiches und der Förderung der selbstständigen Geldstrafe sichtbar. Auch das System der Bemessung der Geldstrafe lässt im Vergleich zu den polnischen Kodizes eine weitergehende Sorge um eine möglichst praktikable und weitgehende Anwendung der Geldstrafe erkennen. Es geht hier nicht um den früheren Übergang des deutschen StGB zum Tagessatzsystem (Jahr: 1975), weil dieses aus sich selbst heraus eine starke Position der selbstständigen Geldstrafe nicht gewährleisten könnte.783 Das Tagessatzsystem kann ohne Zweifel zu transparenter und gerechter Bemessung der Geldstrafe beitragen, aber es ist doch wichtiger, in welchem Rahmen eine Geldstrafe bemessen werden kann (1), welche Prinzipien dem System der Bemessung der Geldstrafe zugrundelegt sind (2) und ob das System der Ermittlung der materiellen Lage des Verurteilten praktikabel ausgestaltet ist (3). In diesen drei Bereichen lassen sich beachtliche Unterschiede zwischen der Rechtslage in Deutschland und Polen feststellen, die in diesem Punkt für das deutsche StGB sprechen. 1. Die Androhungsgrenzen der Geldstrafe Es ist heute praktisch unmöglich, die alten Androhungsgrenzen der Geldstrafe des deutschen StGB mit denen der polnischen Kodizes von 1932 und 1969 zu vergleichen, weil ein solcher Vergleich die Kenntnis eines entsprechenden Umrechungsfaktors voraussetzen würde. Deshalb muss sich die vorliegende Untersuchung auf die Analyse der gegenwärtigen Regelungen beschränken. Der Vergleich ist sehr überraschend: Die niedrigste Geldstrafe darf nach dem KK von 1997 nicht weniger als 100 zł784 (10 Tagessätze mal 10 zł) 781 Ähnlich Bałandynowicz, in: Probacyjne s ´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 201. 782 Kunicka-Michalska, RPEiS 3/1989, S. 81. 783 Es ist nicht zu übersehen, dass die Geldstrafe in Deutschland schon weit früher eine breite Anwendung gefunden hat, bevor das Tagessatzsystem eingeführt wurde. Das heißt, dass auch unter dem Regime des Gesamtsummensystems eine breite Anwendung der Geldstrafe möglich war. 784 Das macht ungefähr 25 e aus.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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betragen (Art. 33 KK von 1997), dagegen lässt das deutsche StGB in § 40 Abs. 1 StGB eine Geldstrafe schon in Höhe von 5 Euro (5 Tagessätze mal 1 Euro) zu. Angesichts der Höhe der Einkünfte der Bürger beider Völker in allen Bereichen muss die polnische Norm Bedenken erwecken. Eine Geldstrafe in Höhe von 100 zł kann für einen Obdachlosen, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger, Schüler etc. zu hoch sein, was den Angeklagten von der Anwendung dieser Sanktion ausschließt oder mit der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe bedroht. Der polnische Gesetzgeber hat dem absoluten Wert einer Geldstrafe (Generalprävention) eine zu große Rolle beigemessen und die Situation einkommensschwacher Gruppen (Spezialprävention) zu wenig berücksichtigt, für die auch eine Geldstrafe von unter 100 zł empfindlich sein kann. Wenn man von der spezialpräventiven Annahme ausgeht, dass der Zweck der Geldstrafe schließlich in der Einwirkung auf den Täter liegt, ist Geldstrafe in jeder Höhe denkbar. Ihr absoluter Wert ist in einem solchen Fall zweitrangig. Andererseits passt die recht hohe Mindesthöhe der Geldstrafe sehr gut zu Art. 58 § 2 KK von 1997, der explizit annimmt, dass es Personen gibt, die von vornherein von der Anwendung der Geldstrafe ausgeschlossen sind. Eine eventuelle Aufhebung des Art. 58 § 2 KK von 1997 müsste somit auch eine Änderung des Art. 33 KK von 1997 zur Folge haben. Am Rande kann man die Frage stellen, ob für die polnischen Staatsanwälte und die Richter eine niedrigere Geldstrafe als 100 zł akzeptabel wäre. Die Strafverfolgungsstatistik zeigt, dass die bevorzugten Bereiche in der Praxis weiter oben verlaufen (300 zł–500 zł, 500 zł–1.000 zł).785 Geldstrafen unter 100 zł, die aufgrund anderer Gesetze als dem KK von 1997 verhängt werden, bilden die Ausnahme. Die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe im letztgenannten Bereich bedarf somit einer Änderung des leitenden Gesichtspunktes, eines Übergangs von der generalpräventiven Denkweise zur spezialpräventiven Festsetzung der Geldstrafe,786 was jedoch ohne Aufhebung des Art. 58 § 2 KK von 1997 und des in ihm verkörperten Gedankens unerreichbar ist. Würde es den Richtern nicht mehr offiziell erlaubt sein, auf die Anwendung der Geldstrafe wegen Mittellosigkeit zu verzichten, gäbe es eine Chance, dass sie zur Festsetzung niedrigerer Geldstrafen greifen würden, um den Angeklagten mit einer Geldstrafe zu belegen. Dazu müssten selbstverständlich zusätzlich noch andere Voraussetzungen erfüllt sein, aber in erster Linie erscheint eine Zurückdrängung des Gedankens des Art. 58 § 2 KK von 1997 erforderlich.

785 786

Rocznik Statystyczny, 2005. Zu den Strafzwecken im KK von 1997 siehe 3. Kapitel, Punkt II.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

2. Gesichtspunkte bei der Bemessung der Geldstrafe Auf der ersten Blick könnte der Vergleich der Gesichtspunkte, die das deutsche (R)StGB und die polnischen Kodizes der Bemessung der Geldstrafe zugrundegelegt haben, zu der Schlussfolgerung führen, dass sie bei der Bemessung der Geldstrafe auch in ihrer historischen Entwicklung an ähnliche Grundsätze angeknüpft haben. So verwiesen sowohl das deutsche StGB als auch die polnischen Kodizes bei der Bemessung der Geldstrafe auf die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze, die seinerzeit gegolten haben (wie insbesondere Schuld, Spezialprävention, Generalprävention, etc).787 Die Einführung des Tagessatzsystems verursachte keine Revolution in den maßgeblichen Orientierungspunkten, die der Richter bei der Bemessung der Geldstrafe berücksichtigen sollte. Ebenfalls wurde sowohl in das deutsche StGB als auch in die polnischen Kodizes eine Klausel eingeführt, die die Berücksichtigung der materiellen Lage des Verurteilten bei der Bemessung der Geldstrafe gebot.788 787 Bemerkenswert ist zudem, dass weder das deutsche StGB noch die polnischen Kodizes feste Maßstäbe angegeben haben, die bei der Bemessung der Geldstrafe (Anzahl der Tagessätze) behilflich sein könnten. Sie verweisen nach der Einführung des Tagssatzsystems bei der Festsetzung der Anzahl der Tagessätze auf die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze, was in der Tat bedeutet, dass alle schwachen Seiten der Grundlagenformel in die Phase der Festsetzung der Tagessatzzahl verschoben werden. Welche Anzahl der Tagessätze etwa der Schuld (in beiden Ländern) oder der Sozialschädlichkeit der Tat (in Polen) konkret entsprechen soll, lässt sich den Strafgesetzbüchern, den Lehrbüchern sowie den Kommentaren beider Länder nicht entnehmen. Ähnlich muss die Frage im Hinblick auf die Spezial- oder Generalprävention beantwortet werden. Die Konkretisierung ist grundsätzlich der Intuition und der Tradition ausgeliefert, die sich bei Massenkriminalität großenteils vom Taxensystem leiten lässt, um zumindest dem Vorwurf der Ungleichbehandlung zu entgehen. Wenig hilfreich für die Lösung des aufgezeigten Problems ist der Streit innerhalb der deutschen Lehre, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, ob der Richter die Höhe der hypothetischen Freiheitsstrafe bei der Bemessung der Zahl der Tagessätze berücksichtigen kann. Dass die deutsche Praxis sich weitgehend an den Maßstab der Ersatzfreiheitsstrafe anlehnt, geht mit sehr großer Wahrscheinlichkeit aus dem Mangel an konkret messbaren Hinweisen für die Bemessung der Tagessatzzahl hervor, die eine alternative Orientierung erlauben würde. Angesichts der Tatsache, dass die faktische und die geschriebene Begründung eines Urteils auch in dieser Hinsicht voneinander abweichen können, verspricht eine Kritik der heutigen Praxis ohne Angabe eines anderen Orientierungshinweises keinen Erfolg. Ohne eine Lösung der Probleme der allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze kann auch kein Fortschritt bei der Festsetzung der Tagessatzzahl in beiden Ländern erwartet und die Gefahr einer Entstellung des Tagessatzsystems beseitigt werden. Bis heute hat die Lehre in den beiden Ländern der Praxis auf diesem Gebiet wenig zu bieten. Somit ist festzuhalten, dass die Praxis beider Länder grundsätzlich vor demselben Problem steht und die gesetzliche Vorgehensweise bei der Bemessung der Anzahl der Tagessätze beider Strafgesetzbücher für den Richter wenig hilfreich ist.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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Bei näherer Betrachtung lässt sich jedoch erkennen, dass die Schwerpunktsetzung in beiden Rechtsordnungen unterschiedlich erfolgt ist. § 40 Abs. 2 des deutschen StGB gebietet dem Gericht, in der Regel von dem Nettoeinkommen auszugehen, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte. Somit hat der deutsche Gesetzgeber das Einbußeprinzip abgelehnt789 und das Nettoeinkommensprinzip angenommen.790 Die Tagessatzhöhe soll sich also nicht daran orientieren, was der Angeklagte pro Tag über sein Existenzminimum hinaus entbehren kann, sondern daran, was er an Nettoeinkommen hat oder haben könnte. Der Konflikt zwischen dem Nettoeinkommensprinzip und der Gefahr der Entsozialisierung des Täters soll dadurch gelöst werden, dass die zusätzliche Belastung, die bei einer hohen Tagessatzzahl durch die volle Ausschöpfung des Nettoeinkommensprinzips entsteht, durch eine Minderung des Tagessatzes ausgeglichen werden soll. Das Nettoeinkommensprinzip wird auf diese Weise wesentlich entschärft. Demgegenüber muss das Gericht nach Art. 33 § 3 des KK von 1997 die Einkünfte des Täters, seine persönliche und familiäre Lage sowie seine Vermögensverhältnisse und Verdienstmöglichkeiten bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe berücksichtigen. Die herrschende Meinung legt Art. 33 § 3 KK von 1997 nach dem klassischen Einbußeprinzip aus. Danach muss das Gericht bei der Bemessung der Höhe eines Tagessatzes das Existenzminimum des Täters und seiner Familie berücksichtigen.791 Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung ist somit offensichtlich. Die deutsche Auslegung betont den Faktor des Einkommens und die Möglichkeit seiner Erlangung, dagegen konzentriert sich die polnische herrschende Meinung auf das Element des Existenzminimums des Täters und vernachlässigt den Faktor „Verdienstmöglichkeiten“, indem der Anwendungsbereich nur auf die Situation beschränkt wird, in der der Täter sich der Arbeit entzieht, eine schlecht bezahlte Arbeit aufnimmt oder auf die Führung eines eigenen Geschäfts verzichtet, um die Höhe der Geldstrafe zu beeinflussen.792 Diese 788 In das deutsche StGB wurde eine entsprechende Klausel im Jahre 1923 eingeführt. In Polen gebot schon der KK von 1932, die materielle Lage des Täters bei der Bemessung der Geldstrafe zu berücksichtigen. 789 Man befürchtete ein zu starkes Absinken der Geldstrafenhöhe gegenüber der früheren Praxis; vgl. BT-Drucks. VII/1261 S. 5. 790 Zur Geschichte dieser Entscheidung siehe: Grebing, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 98–99. 791 Melezini, MP 3/1998, S. 91; Wróbel, NKK 15/1998, S. 11; Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 13; Marek, PiP 2/2003, S. 16; Majewski, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 33 RN 22. 792 Melezini, MP 3/1998, S. 92; Szumski, Prok. i Pr. 1/1999, S. 14; Górniok/Hoc/ Kalitowski/Przyjemski/Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 33 RN 12. Anders Majewski, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 33 RN 26; Marek, Art. 33 RN 6.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Schwerpunktsetzung auf verschiedene Faktoren darf nicht unterschätzt werden, weil sie einen bedeutsamen Einfluss auf die Zahl der selbstständigen Geldstrafen in einem Rechtssystem haben kann. Der Richter ist in einer ganz anderen Situation, wenn er bei der Bemessung der Tagessatzhöhe das Nettoeinkommen in Betracht ziehen soll, das der Angeklagte hat oder haben könnte (Deutschland), oder den Betrag, den der Angeklagte pro Tag über sein Existenzminimum hinaus entbehren kann, wobei seine „Verdienstmöglichkeiten“ nur unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung der Festsetzung höherer Geldstrafe berücksichtigt werden sollen (Polen). Im zweiten Fall kann der Richter von vornherein auf die Anwendung der Geldstrafe verzichten, wenn der Angeklagte über keine oder nur sehr geringe finanzielle Mittel verfügt und nichts unternimmt, das auf die Beschränkung der „Verdienstmöglichkeiten“ hinweist. Der entscheidende Punkt ist in solchen Fällen das potentielle Einkommen. Wird das Recht in diesem Punkt so ausgelegt, wie Szumski und Melezini es tun, kann der Richter revisionssicher in dem oben skizzierten Fall auf die Geldstrafe verzichten. Eine solche Auslegung kann demzufolge die Entwicklung der selbstständigen Geldstrafe hemmen, wobei dieser Befund nur als eine These betrachtet werden kann, weil er sich nicht auf eine empirische Prüfung stützt. Andererseits kann nicht übersehen werden, dass das Einbußeprinzip und die Auslegung des Faktors „Verdienstmöglichkeiten“ von Melezini und Szumski sehr gut zu dem Gedanken des Verbotes der Verhängung der Geldstrafe gegenüber Einkommensschwachen (Art. 58 § 2 KK von 1997) passen. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die polnische Interpretation des Tagessatzsystems sehr stark von dem Gedanken des Art. 58 § 2 KK von 1997 beeinflusst worden ist. 3. Die Ermittlung der persönlichen und der materiellen Lage des Täters Die Erhebung sicherer Informationen über die materielle Lage des Verdächtigen oder des Angeklagten spielt ohne Zweifel eine sehr große Rolle für das Funktionieren der Geldstrafe in einem Rechtssystem. Eine mangelnde Informationsbasis hinsichtlich der materiellen Lage des Täters kann letztlich zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen. Andererseits kann eine zu strenge Verpflichtung zur Feststellung der materiellen Lage die am Verfahren beteiligten Organe von der Anwendung der Geldstrafe abschrecken. Das deutsche StGB und die polnischen Kodizes haben in dieser Hinsicht an verschiedene Konzepte angeknüpft. Während das deutsche StGB dem Gericht schon im Jahre 1975 die Möglichkeit gab, die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes zu schätzen (§ 40 Abs. 3 StGB), sah keiner der polnischen Kodizes

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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eine ähnliche Regelung vor. Demzufolge mussten alle am Verfahren beteiligten Organe sich an Art. 82 KPK von 1928, später an Art. 8 § 1 KPK von 1969 und schließlich an Art. 213 § 1 KPK von 1997 halten, die zur Feststellung (im Gegensatz zur bloßen Schätzung) der Vermögensverhältnisse und der Einkommensquellen des Angeklagten verpflichteten. Die bessere Praktikabilität der deutschen Regelung ist offenkundig. Kennt das Gericht z. B. nur den Beruf des Angeklagten, muss es sich darüber hinaus in der Regel nicht um andere Daten kümmern. Andererseits bringt die Möglichkeit der Schätzung die Gefahr mit sich, dass Staatsanwälte und Richter ohne zuverlässige Informationen über Art und Umfang des Einkommens des Täters vorgehen. Angesichts der Befunde der empirischen Forschung zur Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters muss die Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen in Deutschland wirklich verwundern. Man sollte erwarten, dass sie wesentlich größer wäre. Dieser Befund unterstützt jedoch die These, dass die Befugnis zur Schätzung des Einkommens in keinem Fall zu einer unakzeptablen Zahl an Ersatzfreiheitsstrafen führen muss. Die restriktiven Vorschriften des Art. 82 KPK von 1928, des Art. 8 § 1 KPK von 1969 und des Art. 213 § 1 KPK von 1997 sollten jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass die polnischen Gerichte mit einer vollständigen Informationsbasis hinsichtlich der materiellen Lage des Täters arbeiten. Die Befunde der empirischen Forschung zu Art. 8 § 1 KPK von 1969 (Vorläufer des Art. 213 KPK von 1997) haben deutlich gezeigt, dass die Nichtbeachtung dieser Pflicht in der Vergangenheit in nicht geringer Zahl stattfand. Man kann erwarten, dass dies auch heute der Fall ist, obwohl dafür gegenwärtig keine empirischen Daten verfügbar sind.793 Die deutsche Regelung (§ 40 Abs. 3 StGB) ist sowohl in ihrer Auslegung durch die herrschende Meinung als auch durch die Mindermeinung zweifellos stärker geldstrafenfördernd als die polnischen Vorschriften des Art. 82 KPK von 1928, des Art. 8 § 1 KPK von 1969 und des Art. 213 § 1 KPK von 1997. Darf der Richter eine Geldstrafe auf der Grundlage einer Schätzung des Einkommens des Täters verhängen, wird er eher diese Strafe bei der Auswahl der Sanktion berücksichtigen als dann, wenn das Einkommen des Angeklagten, sein Vermögen etc. auf der Grundlage fester Beweise festgestellt werden muss. Zumindest braucht der Richter in dem letztgenannten Fall eine Erklärung des Angeklagten. Verweigert dieser sie, muss der Richter sich auf Daten aus dem Ermittlungsverfahren stützen oder selbstständig eine 793 Ähnlich Skupin ´ ski, in: Bojarski/Nazar/Nowosad/Szwarczyk (Redaktion), Zmiany w polskim prawie karnym po wejs´ciu w z˙ycie Kodeksu karnego z 1997 roku, S. 145.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

Beweisaufnahme durchführen, die jedoch ohne entsprechenden Aufwand nicht zu leisten ist. Andererseits muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass Ersttäter, die vor der Alternative der Geldstrafe oder der bedingten Freiheitsstrafe stehen, nicht selten die zweite Möglichkeit bevorzugen, weil sie ihnen Geld spart. In einem solchen Fall zu erwarten, dass der Täter bereit wäre, sein wahres Einkommen und Vermögen darzulegen, grenzt an Naivität. Seine schwache materielle Lage „schützt“ ihn vor der Geldstrafe und sichert zugleich die Bewährungsstrafe, die in seinem Empfinden nichts „kostet“. Auch sollte die Befugnis nicht überschätzt werden, die den polnischen Staatsanwälten und Richtern für den Zugang zu Daten der Finanzorgane gewährt wird. Man kann vermuten, dass diese Befugnis angesichts der damit verbundenen Verfahrensverlängerung nur selten genutzt wird.

III. Zahlungserleichterungen Einer der größten Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Strafensystem im Hinblick auf die Geldstrafe besteht im Bereich der Zahlungserleichterungen. Während die Regelungen zur Ratenzahlung und Stundung in den polnischen Kodizes eine marginale (KK von 1969) oder keine Rolle (KPK von 1928 und KK von 1997) bei der Zumessung der Geldstrafe spielten, erlangten sie in dem deutschen (R)StGB sehr früh eine zentrale Bedeutung. Seit der Einführung des Tagessatzsystems spricht man sogar in der deutschen Lehre nicht nur von der Zweiaktigkeit des Strafzumessungsvorgangs bei der Geldstrafe, sondern von der (fakultativen) dritten Phase des Strafzumessungsvorgangs, in der durch die Gewährung von Zahlungserleichterungen die Strafe an den jeweiligen Verurteilten angepasst werden soll.794 Diese letzte Phase ermöglicht die Verhängung höherer Strafen bei Personen ohne Vermögen und geringerem Einkommen.795 Demgegenüber überwog in den polnischen Kodizes die Tendenz zum Ausschluss der Zahlungserleichterungen aus dem Strafzumessungsvorgang. Die Zahlungserleichterungen spielen gegenwärtig nur im Vollstreckungsverfahren eine Rolle. Drei Unterschiede in den diesbezüglichen Regelungen in Deutschland und Polen seien im Folgenden näher erörtert. 1. Die Gewährung von Zahlungserleichterungen im Urteil Zahlungserleichterungen können in Deutschland seit 1921 schon im Urteil gewährt werden. Dagegen hatten die polnischen Richter nur unter der 794 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 77; LK-Häger, § 42 RN 1; Fischer/ Tröndle (2006), § 42 RN 2. 795 LK-Häger, § 42 RN 1.

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Geltung des KK von 1969 (Art. 87) die Möglichkeit, eine Ratenzahlung im Urteil zu bewilligen. Die Gewährung von Zahlungserleichterung ist nach der Kodifikation des Jahres 1997 lediglich im Vollstreckungsverfahren möglich. Die Möglichkeit der Gewährung von Zahlungserleichterungen im Urteil unter der Geltung des KK von 1969 darf jedoch nicht überschätzt werden. Aus dem Gesetz ging diese Alternative nicht eindeutig hervor. Der Kommentarliteratur ließ sich auch nicht entnehmen, ob die erkennenden Richter die Zahlungserleichterungen schon im Urteil gewähren konnten.796 Die Möglichkeit der Gewährung von Zahlungserleichterungen im Urteil hat eine sehr wichtige Funktion im Rechtssystem. Sie unterstützt die Auffassung, dass auf die Geldstrafe nicht deswegen verzichtet werden kann, weil der Verurteilte die Geldstrafe nicht zahlen kann. Einer Argumentation, die auf Geldstrafe wegen Mittellosigkeit des Verurteilten verzichten will, kann sofort mit der Begründung begegnet werden, dass dem Einkommensschwachen schon im Urteil eine Zahlungserleichterung gewährt werden kann. Aus dieser Perspektive sollte der Verzicht des polnischen Gesetzgebers des Jahres 1997 auf die Möglichkeit einer Gewährung von Zahlungserleichterungen im Urteil kritisch beurteilt werden. Angesichts der Zahl der Einkommensschwachen unter den Verurteilten kann erst eine Ratenzahlung die Möglichkeit geben, eine aus der Sicht des Richters akzeptable Geldstrafe zu verhängen, die der Verurteilte auch zahlen kann. 2. Die Gewährung von Zahlungserleichterungen von Amts wegen Nach der gegenwärtigen Rechtslage beider Rechtssysteme können Zahlungserleichterungen von Amts wegen bewilligt werden. Es lässt sich aber auch hier ein deutlicher Unterschied zwischen den Regelungen beider Länder feststellen. § 42 des deutschen StGB wird in der Lehre als Muss-Vorschrift betrachtet, d.h. das erkennende Gericht muss die Zahlungserleichterungen von Amts wegen bewilligen, soweit die Voraussetzungen dafür vorliegen.797 Diese Pflicht gilt seit 1923.798 Die aus § 42 StGB hervorgehende Verpflichtung in Verbindung mit der Möglichkeit der Gewährung von Ratenzahlung im Urteil ist die Folge der Auffassung, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters keine Rolle bei der Auswahl der Sanktion spielen dürfen. Abgesehen davon, dass es nach der heutigen polnischen Rechtslage 796 Siehe dazu: Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 87; Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 87. 797 RGSt. 63, S. 208; OLG Bremen NJW 1954, S. 522; BayObLG OLG NJW 1956, S. 1166; OLG Köln NJW 1977, S. 308; OLG Stuttgart StV 1993, S. 475. 798 Geldstrafengesetz vom 27. April 1923.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

überhaupt nicht möglich ist, eine Zahlungserleichterung im Urteil zu gewähren, besteht für das Gericht auch im Vollstreckungsverfahren keine Pflicht, die Gewährung einer Stundung oder einer Ratenzahlung abzuwägen. Ebenfalls hatte Art. 87 KK von 1969, der die Bewilligung der Ratenzahlung im Urteil erlaubte, keine zwingende Natur. Die Lehre hat ihn nie als Muss-Vorschrift ausgelegt. Es lässt sich somit auch in diesem Punkt eine unterschiedliche Entwicklungslinie in den beiden Rechtssystemen feststellen, die sich deutlich abzeichnet. 3. Die Dauer der Zahlungserleichterungen Der Zeitraum oder der Termin der Zahlungserleichterungen waren im deutschen StGB nie beschränkt, was dazu geführt hat, dass in der Praxis nicht selten Ratenzahlungen für einen Zeitraum von weit mehr als zwei Jahren bewilligt werden.799 Die Dauer der Zahlungserleichterungen war dagegen in den polnischen Kodizes (schon im KK von 1932) gesetzlich beschränkt. Bei einem Zeitraum von mehr als 1 Jahr bis zu 3 Jahren war und ist eine Gewährung von Ratenzahlung sogar von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht.800 Zudem muss die deutsche Lösung auch hier als geldstrafenfördernder im Vergleich zu den polnischen Regelungen beurteilt werden. Bei hohen Geldstrafen kann nicht nur bei den Einkommensschwachen die lange Ratenzahlung die einzige Möglichkeit für eine Zahlung der Geldstrafe sein. Die polnische Regelung, Art. 49 KKW von 1997, die in der Regel nur einen Zeitraum bis zu einem Jahr zulässt, hemmt demgegenüber einen weiteren Gebrauch der selbstständigen Geldstrafe. Andererseits passt die kurze Dauer der Zahlungserleichterung wieder sehr gut zu dem Gedanken des Art. 58 § 2 KK von 1997, der eine Anwendung der Geldstrafe gegenüber Einkommensschwachen ausschließt.

IV. Die Vollstreckung der Geldstrafe Ohne Zweifel ist die Ausgestaltung der Beitreibung der Geldstrafe für beide Rechtsgebiete von besonderer Bedeutung. Diese Phase erlaubt eine Korrektur der fehlerhaft an die Zahlungsfähigkeit angepassten Geldstrafe und ermöglicht es, auf die Änderung der materiellen Situation des Verurteil799 Bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) gibt es auch Fälle, in denen für eine Ratenzahlung ein Zeitraum von 5 Jahren bewilligt wurde. Quelle: Gespräch mit den Rechtspflegerinnen der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder). 800 Marek hat eine Ratenzahlung bis 3 Jahre als Regel schon im Jahre 1981 vorgeschlagen. Marek, NP 7–9/1981, S. 110.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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ten zu reagieren. Ihre richtige Ausgestaltung kann der Umwandlung der Geldstrafe in Ersatzfreiheitsstrafe entgegenwirken. Die Regelungen zur Vollstreckung der Geldstrafe können somit – kurz gesagt – die Anwendung der Geldstrafe im Rechtssystem fördern oder jedes Implementierungsprogramm der Geldstrafe zum Scheitern verurteilen. Tröndle bringt dies mit wenigen, aber deutlichen Worten zum Ausdruck: „Der Prüfstand der Geldstrafenregelung liegt letztlich bei der Vollstreckung. Die kühnen Pläne der Reformer stehen und fallen damit, ob das Vollstreckungsverfahren im Gesetz handlich ausgestaltet und von den Behörden zügig praktiziert wird.“801

Nicht weit von dieser These entfernt liegen die Auffassungen derjenigen polnischen Strafrechtswissenschaftler, die die Ursache für das Misstrauen gegen die Geldstrafe gerade in ihrer unzureichenden Beitreibung sehen.802 Auch die Analyse der Vollstreckungsregelungen beider Rechtsordnungen führt daher zu der These, dass der deutsche Gesetzgeber im Allgemeinen mehr für das geldstrafenfördernde Vollstreckungsverfahren getan hat als der polnische Gesetzgeber. Diese These wird durch den Vergleich der Vollstreckungsverfahren in folgenden Punkten noch erhärtet: Vollstreckungsorgan (1), Zwangsvollstreckung (2), Ersatzfreiheitsstrafe (3) und Alternativen zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe (4). 1. Vollstreckungsorgan Für die Entwicklung der deutschen Rechtsordnung sind zwei Tendenzen kennzeichnend: Zum einen wurde die Vollstreckung der Geldstrafen dem Geschäftsbereich der Gerichte entzogen und zum anderen erfolgte eine Verschiebung der Zuständigkeit von den Volljuristen auf Hilfskräfte der Justiz (Rechtspfleger). Beide Prozesse verliefen stufenweise und unabhängig voneinander. Diese Prozesse fanden in Polen nicht statt. Dementsprechend sind gegenwärtig in beiden Rechtssystemen für das Verfahren der Geldstrafenvollstreckung unterschiedliche Organe zuständig: Während die Geldstrafenvollstreckung in Deutschland zu den Aufgaben der Staatsanwaltschaft (in der Praxis zu den Aufgaben der Rechtspfleger) gehört, obliegt diese Aufgabe in Polen dem Gericht der ersten Instanz. Abgesehen davon, dass die polnische Lösung die Zeit der Richter verschwendet (das Vollstreckungsverfahren ist in beiden Ländern meistens Routinearbeit), birgt sie die Gefahr, dass die erkennenden Richter bei der Auswahl der Sanktion auch arbeits801

Tröndle, ZStW 86 (1976), S. 560. Bałandynowicz, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 197. Ähnlich Siemaszko, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 65. 802

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

ökonomische Aspekte und Schwierigkeiten der Geldstrafevollstreckung berücksichtigen werden.803 Angesichts der Tatsache, dass das Geldstrafevollstreckungsverfahren nicht selten einen bedeutenden Aufwand (Zahlungserleichterungen, Anordnung der Zwangsvollstreckung, Einleitung der gemeinnützigen Arbeit, Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe etc.) erfordert, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Richter bei der Auswahl der Sanktion der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe den Vorzug geben werden, insbesondere dann, wenn keine zusätzliche Geldstrafe oder keine Auflage oder Weisung verhängt wird. Der Arbeitsaufwand ist in den beiden Alternativen offenkundig unvergleichbar. Auf ähnliche Weise können die Schwierigkeiten mit der Vollstreckung der Geldstrafe804 und insbesondere die Probleme im Bereich der Ausführung der gemeinnützigen Arbeit die Richter, die sich mit der Vollstreckung der Strafen beschäftigen, dazu veranlassen, die erkennenden Richter von der Verhängung der Geldstrafen abzubringen. Ein Indiz dafür stellt die Auskunft eines anonym gebliebenen Richters dar, die in einer der größten polnischen Tageszeitungen (Rzeczpospolita) veröffentlicht wurde. Dieser Fall betraf die Freiheitsbeschränkungsstrafe, aber er lässt erkennen, wie die Schwierigkeiten mit der Vollstreckung einer Strafe den Strafzumessungsvorgang beeinflussen können. Der befragte Richter, der in der Vollstreckungsabteilung tätig war, kündigte seinen Kollegen an, dass sie angesichts der praktischen Schwierigkeiten, die mit der Vollstreckung der Freiheitsbeschränkungsstrafe verbunden sind, selber die Freiheitsbeschränkungsstrafe vollstrecken werden, falls sie diese Strafe weiter verhängen werden.805 Diese Aussage bringt die gewissermaßen pathologischen Beziehungen ans Licht, die zwischen den erkennenden und den vollstreckenden Richtern entstehen können. Dies mag für diejenigen Autoren, die die Auswahl der Sanktionen nur auf die Grundsätze des Art. 53 KK von 1997 zurückführen, unwahrscheinlich erscheinen, aber in der Praxis wird die Strafzumessung eben nicht selten auch durch außergesetzliche Faktoren beeinflusst, die nichts mit der Schuld, der Spezialoder der Generalprävention zu tun haben. Diese Schlussfolgerung kann allerdings in dieser Arbeit nur als These vertreten werden, weil dazu bisher keine empirischen Forschungen vorliegen.806 803

Auf diesen Aspekt hat Pawela schon im Jahre 1973 aufmerksam gemacht. Siehe dazu Pawela, NP 9/1973, S. 1216. 804 Während meines Referendardienstes hat ein Richter mir informell gesagt, dass er deshalb keine Geldstrafen verhängt, weil sie große Probleme im Vollstreckungsverfahren hervorrufen. Dieser Richter arbeitete zugleich in der Vollstreckungsabteilung. 805 Rzeczpospolita vom 19. Juli 2003, Prawo co dnia, C1. 806 Gegen diese Auffassung könnte geltend gemacht werden, dass die Vollstreckung der Strafen in Polen nicht durch die Richter durchführt wird, die die Urteile

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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2. Zwangsvollstreckung Generell betrachtet lässt sich die These aufstellen, dass die deutschen Vorschriften im Vergleich zu den polnischen Regelungen hinsichtlich der Anordnung der Zwangsvollstreckung mehr Elastizität aufwiesen. In Deutschland liegt es seit dem Erlass des Geldstrafengesetzes von 1921 im Ermessen der Vollstreckungsbehörde, ob die zwangsweise Beitreibung der Geldstrafe mit Erfolg rechnen kann und demzufolge ob eine Zwangsvollstreckung angeordnet werden soll. Die polnischen Regelungen ließen dem Richter in dieser Hinsicht weniger Freiheit. Nach der ursprünglichen Fassung des KK von 1932 konnte das Gericht von der Zwangsvollstreckung nur dann absehen, wenn sie zum Ruin des Verurteilten geführt hätte. Die Regelungen des KKW von 1969 waren noch restriktiver: Das Absehen von der Zwangsvollstreckung war nur dann zulässig, wenn sie erfolglos wäre, weil dem Verurteilten die Freiheit entzogen wurde oder sein fester Wohnsitz im Ausland lag. Der KKW von 1997 ließ das Gericht erst im Jahre 2003 auf die Zwangsvollstreckung verzichten, wenn keine Aussicht auf Erfolg besteht, aber auch nur dann, wenn das Gericht die gemeinnützige Arbeit anordnet oder die Geldstrafe getilgt wird. Will das Gericht die Ersatzfreiheitsstrafe anordnen, muss es zuvor die Zwangsvollstreckung durchführen. Die deutschen Regelungen beschleunigen das Verfahren, bringen aber die Gefahr mit sich, dass die Vollstreckungsbehörden zu schnell nach dem Mittel der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe greifen, was insbesondere bei den „nicht-beitreibungsorientierten“ Staatsanwaltschaften in Deutschland nicht ausgeschlossen werden kann. Der Preis für diese Beschleunigung kann in einer höheren Anzahl von Ersatzfreiheitsstrafen liegen. Andererseits darf auf dem Gebiet der polnischen Praxis nicht außer Acht gelassen werden, dass die Pflicht zur Einleitung einer Zwangsvollstreckung (grundsätzlich in jedem Fall) der sehr hohen Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen unter der Geltung des KKW von 1969 nicht entgegengewirkt hat. Die mangelnde Elastizität des polnischen Vollstreckungsverfahrens, insbesondere unter der Geltung des KKW von 1969, hat jedoch zu einer Überbelastung der Richter mit unnötiger Arbeit und demzufolge zur Abneigung gegenüber der Geldstrafe geführt. erlassen haben, sondern durch die Richter des Gerichts der ersten Instanz, die sich nur oder neben anderen Tätigkeiten mit der Vollstreckung aller Urteile der Abteilung beschäftigen, wie dies zum Beispiel der Fall in den Bezirksgerichten in Słubice und in Zielona Góra ist. Die Richter, die in der Vollstreckungsabteilung arbeiten, erkennen aber auch als Richter in Strafsachen. Bei ihnen ist daher die oben geschilderte Gefahr besonders groß. Zudem muss berücksichtigt werden, dass in den kleinen und mittleren Gerichten die Richter die Möglichkeit haben, im Kontakt zu bleiben. Die Probleme, die bei der Geldstrafenvollstreckung auftreten, können somit sofort im Kreis aller Richter verbreitet werden.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

3. Ersatzfreiheitsstrafe Beide Rechtssysteme haben auf die Ersatzfreiheitsstrafe nicht verzichtet. Die Lösung Schwedens, wo seit 1983 die Ersatzfreiheitsstrafe praktisch abgeschafft wurde807, bleibt somit nur als Bezugspunkt der Diskussion. Dass beide Rechtssysteme so entschieden haben, hängt mit dem Verständnis der Ersatzfreiheitsstrafe zusammen, die weitgehend als Beugemittel verstanden wird. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer zeigt, wie die Geldstrafe in einem Rechtssystem funktioniert. In beiden Rechtssystemen stellt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen gegenwärtig ein ernstes Problem dar. Es ist weder der deutschen noch der polnischen Lehre gelungen, ein Konzept zu finden, das die Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Alltag der Praxis beider Länder verschwinden lässt. Man kann daher die These aufstellen, dass die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen sich nicht nur auf die Zahl der kurzfristigen Freiheitsstrafen in einem Strafrechtssystem auswirkt, sondern auch auf die Häufigkeit der Verhängung der Geldstrafe Einfluss haben kann. Dies gilt insbesondere in einem Rechtssystem (Polen), in dem die erkennenden Richter an dem Vollstreckungsverfahren teilnehmen oder sehr nahe zu diesem Verfahren stehen und mit eigenen Augen sehen, dass die zunächst verhängte ambulante Sanktion (Geldstrafe) sich in eine freiheitsentziehende Sanktion (Ersatzfreiheitsstrafe) umwandelt. Man kann erwarten, dass die häufige Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafen eine weitgehende Zurückhaltung bei der Verhängung der Geldstrafe hervorrufen wird. Es gibt zudem einen Punkt, in dem die Praktiker sehen, dass es ungefährlicher für den Angeklagten ist, statt einer Geldstrafe eine bedingte Freiheitsstrafe zu verhängen. Im letzteren Fall kann der Richter zumindest sicher sein, dass der Verurteilte (zumindest zunächst) nicht hinter Gittern sitzen wird. Die Richter können somit in durchaus guter Absicht die bedingte Freiheitsstrafe bevorzugen, nachdem sie das „Vertrauen“ in die Geldstrafe verloren haben. Dies ist damit ein weiteres Beispiel, wie sich das Vollstreckungsverfahren auf die Auswahl der Sanktionen auswirken kann. Es scheint so zu sein, dass die polnischen Richter angesichts der Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen in den 70er, 80er und 90er Jahre den Glauben an die Geldstrafe verlieren konnten. Ein direkter Vergleich mit der deutschen Sanktionierungspraxis ist aufgrund des Mangels vergleichbarer Daten ausgeschlossen, es lässt sich aber durchaus die These vertreten, dass die Geldstrafen, insbesondere die zusätzlichen Geldstrafen, wesentlich öfter in Polen als in Deutschland in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt wurden. Auch der KK von 1997 hat mit seinem Art. 58 § 2 KK das Problem nicht gelöst. 807

Siehe dazu: Hamdorf/Wölber, ZStW 111 (1999), S. 929.

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Obwohl die Zahl der Geldstrafen gesunken ist, bleibt der prozentuale Anteil der Anordnungen der Ersatzfreiheitsstrafen an allen Geldstrafenverurteilungen weiterhin sehr hoch. Dies erhärtet die These, dass eine Erweiterung der Verhängung der Geldstrafe in Polen bei unveränderter Praxis der Bemessung und der Vollstreckung dieser Strafe keinen Erfolg haben kann. Das betrifft auch die deutsche Sanktionierungspraxis: Obwohl die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen in der Menge der Geldstrafen (mehr als 500.000 jährlich) ertrinkt und die Richter grundsätzlich keinen Einfluss auf das Vollstreckungsverfahren haben, kann die steigende Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen, insbesondere bei der Staatsanwaltschaft (Vollstreckungsbehörde), die Überzeugung zugunsten der Geldstrafe erschüttern. Dies scheint heute noch unwahrscheinlich zu sein, ist aber bei steigender Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen durchaus denkbar. Die Untersuchung der Rechtsgrundlagen zur Ersatzfreiheitsstrafe lässt jedoch nicht die These zu, dass die deutschen Regelungen im Vergleich zu den polnischen Vorschriften für den Verurteilten günstiger wären. Die geringere Anzahl der Ersatzfreiheitsstrafen muss somit ihre Ursache in einer besseren Anpassung der Geldstrafe an die Zahlungsfähigkeit des Verurteilten, den Zahlungserleichterungen und in den wirksameren Mitteln zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe haben. Die gegenwärtigen polnischen Regelungen zur Ersatzfreiheitsstrafe sind sogar im Vergleich zu den deutschen Vorschriften zumindest in drei wesentlichen Punkten für den Verurteilten günstiger. – Zum einem kann die Ersatzfreiheitsstrafe nach Art. 46 KKW von 1997 nicht angeordnet werden, wenn der Verurteilte keine Möglichkeit hatte, die Geldstrafe zu zahlen oder die gemeinnützige Arbeit aufzunehmen. Nach der Auslegung von Postulski kann z. B. schon die veränderte materielle oder persönliche Lage des Verurteilten der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe entgegenstehen.808 Die Veränderung der wirtschaftlichen Lage des Verurteilten kann dagegen nach § 43 des deutschen StGB die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht hemmen. Auch die Härteklausel des § 459f StPO kommt in einem solchen Fall nicht in Betracht, weil nach herrschender Meinung sich die unbillige Härte nicht mit der unverschuldeten Zahlungsunfähigkeit deckt.809 Die polnische Regelung – zumindest in der Auslegung von Postulski – lässt somit dem Gericht wesentlich größeren Spielraum, der ohne Zweifel der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe entgegenwirken kann. – Zum zweiten sieht Art. 46 des KKW von 1997 einen für den Verurteilten günstigen Umrechnungsmaßstab von 1:2 (ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe = 808 809

Hołda/Postulski (2005), Art. 46 RN 7. Albrecht, NK-StGB, § 43 RN 11, m. w. N.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

zwei Tagessätze) vor, während die deutsche Regelung (§ 43 StGB) bei dem strengen Verhältnis von 1:1 geblieben ist. Die Bedeutung dieser Entscheidung für die tatsächliche Dauer der Freiheitsentziehung ist offenkundig und bedarf keiner näheren Erläuterung. – Zum dritten kennt die deutsche Rechtsordnung nicht den Gedanken des Art. 47 § 4 KKW von 1997, nach dem das Gericht bei der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe oder der gemeinnützigen Arbeit eine günstigere Umrechnung (Verhältnis Zahl der Tagessätze zur Höhe eines Tagessatzes) annehmen kann, wenn der Verurteilte innerhalb der festgesetzten Frist mindestens die Hälfte der Geldstrafe entrichtet hat und der Restbetrag im Wege der Zwangsvollstreckung nicht beigetrieben werden konnte. Diese Umrechnung kann jedoch nicht zur Änderung der Gesamtsumme einer Geldstrafe führen. Angesichts der Tatsache, dass nur die Geldstrafen bis zu 120 Tagessätzen nach dem KKW von 1997 durch gemeinnützige Arbeit getilgt werden können, gibt Art. 46 KKW von 1997 dem Verurteilten mit einer höheren Tagessatzzahl die Möglichkeit, seine Geldstrafe nach der Umrechnung abzuarbeiten. 4. Möglichkeiten zur Abwendung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Eine besondere Bedeutung kommt jedoch den Alternativen zu, die die Anordnung oder die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abwenden können. In beiden Rechtsordnungen wurde insoweit im Wesentlichen an vergleichbare Konzepte angeknüpft, wobei die Ausgestaltung der konkreten Tilgungsformen der Ersatzfreiheitsstrafe beachtliche Differenzen in vielen Punkten zeigt. Eine Ausnahme bildet allerdings die im Wesentlichen in beiden Ländern gleich gestaltete Alternative der Zahlung der Geldstrafe nach Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe (a). Wesentlich größere Entwicklungsdifferenzen lassen sich in den Rechtsgrundlagen feststellen, die die Abarbeitung der uneinbringlichen Geldstrafe regeln (b). Vollkommen unterschiedlich entwickeln sich die Rechtsgrundlagen zur Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung (c). Leider ist in den beiden Rechtsordnungen bisher nicht eindeutig entschieden, ob die Restersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (d). Schließlich ist auf die Unterschiede beim Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe einzugehen (e). a) Zahlung der Geldstrafe In beiden Rechtssystemen kann sich der Verurteilte durch Zahlung der Geldstrafe in jedem Moment dem Vollstreckungsverfahren der Ersatzfrei-

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heitsstrafe entziehen. Die Teilzahlungen bewirken eine entsprechende Minderung der Ersatzfreiheitsstrafe. Die Zahlung der Geldstrafe ist die überwiegende Erledigungsform der uneinbringlichen Geldstrafe in der deutschen Praxis. Es ließ sich leider nicht feststellen, welche Rolle die Teil- oder Vollzahlung in der gegenwärtigen polnischen Praxis spielt. Schlussfolgerungen in dieser Hinsicht ohne eine feste empirische Basis würden berechtigte Kritik nach sich ziehen und daher soll an dieser Stelle auch auf Schätzungen verzichtet werden. b) Arbeit Die Alternative der Arbeit als Tilgungsform der Ersatzfreiheitsstrafe setzte sich in beiden Rechtsordnungen nur mit sehr großen Schwierigkeiten durch. Obwohl diese Erledigungsform für die Ersatzfreiheitsstrafen des (R)StGB schon in den 20er Jahren in Deutschland und in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Polen in die Rechtsordnungen eingeführt wurde, stand sie doch vor allem wegen des Mangels von Durchführungsverordnungen und wegen der praktischen Schwierigkeiten viele Jahrzehnte nur auf dem Papier.810 Es ist jedoch zu beachten, dass die Rechtsgrundlagen zur gemeinnützigen Arbeit als Tilgungsform der Ersatzfreiheitsstrafe in Deutschland seit 1921 ununterbrochen vorliegen, dagegen hat der Gesetzgeber des Jahres 1969 in Polen auf diese Alternative zur Ersatzfreiheitsstrafe verzichtet, und erst seit 1995 ließen die Vorschriften des KK von 1969 zu, dass der Verurteilte die Ersatzfreiheitsstrafe abarbeiten konnte. Die gemeinnützige Arbeit als Tilgungsform der Geldstrafe spielt in der gegenwärtigen Praxis beider Länder eine relativ geringe Rolle. Die sehr hohe Arbeitslosenquote in beiden Ländern ermuntert nicht gerade zu gesetzlichen und organisatorischen Maßnahmen, die den Verurteilten Arbeitsstellen ohne Limitierung zur Verfügung stellen würden. Auch die neuerdings in Deutschland eingeführten „1-e Jobs“ für Arbeitslose stellen eine beachtliche Konkurrenz für die Alternative der Abarbeitung der Geldstrafe dar. Demzufolge gelang es beiden Rechtsordnungen nicht, die gemeinnützige Tätigkeit nach der Vervollständigung der Rechtsgrundlagen so auszubauen, dass sie die Ersatzfreiheitsstrafe vollständig verdrängen könnte. Die Ursachen 810 Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich die Erweiterung der Anwendung der Geldstrafe im deutschen System ohne die faktische Alternative der gemeinnützigen Arbeit vollzog. Als in den Jahren 1983–1995 die einzelnen Bundesländer die einschlägigen Durchführungsverordnungen erlassen haben, hatte die Geldstrafe schon einen breiten Anwendungsbereich im Rechtssystem. Der Mangel dieser Erledigungsform hatte somit die Entwicklung der Geldstrafe nicht gehemmt.

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

hierfür sind in beiden Ländern unterschiedlich, was in den vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels im Einzelnen erörtert wurde. Die praktische Ausgestaltung dieses Rechtsinstitutes kann allerdings zugunsten einer Erweiterung der Anwendung der selbstständigen Geldstrafe wirken, insbesondere in einem System, in dem die erkennenden Richter sehr eng mit der Vollstreckung der Geldstrafe verbunden sind wie in Polen. Die Sicherheit des Richters, dass eine uneinbringliche Geldstrafe im Vollstreckungsverfahren faktisch in gemeinnützige Arbeit umgewandelt werden kann, soweit der Verurteilte daran ein Interesse zeigt, kann die Bereitschaft der Richter zur Verhängung der Geldstrafe steigern. Insbesondere kann dies in dem Fall der Einkommensschwachen von Bedeutung sein. Als Beleg für diese These können Gespräche mit den Richtern des Amtsgerichts und des Landgerichts Frankfurt (Oder) dienen, in denen diese betont haben, dass die Gefahr der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe bei einem Einkommensschwachen gering ist, weil er eine faktische Möglichkeit hat, die uneinbringliche Geldstrafe in der Form gemeinnütziger Arbeit zu tilgen.811 Die faktische Möglichkeit zur Aufnahme gemeinnütziger Arbeit kann somit die Wahl zwischen Geldstrafe und bedingter Freiheitsstrafe erheblich zugunsten der ersten Alternative beeinflussen. Die gegenwärtigen Regelungen beider Länder zur gemeinnützigen Arbeit als Form der Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen zeigen jedoch bedeutsame Unterschiede. Zunächst fällt auf, dass die gemeinnützige Arbeit in Deutschland im Landesrecht geregelt ist, während in Polen eine gesamtgebietsumfassende Verordnung des Ministerrates812 vorliegt. Obwohl die deutschen Verordnungen zur gemeinnützigen Arbeit in den Ländern fast inhaltsgleich sind, sollte die Befugnis eines Landes zum Erlass einer eigenen Verordnung nicht unterschätzt werden. Dies ermöglicht es den Ländern, die gemeinnützige Arbeit den landesregionalen Verhältnissen anzupassen. Angesichts des organisatorischen Aufwands, der mit der gemeinnützigen Arbeit notwendig verbunden ist, ist die deutsche Regelung besonders beachtenswert. In beiden Rechtssystemen hat der Verurteilte keinen Anspruch auf die Zuteilung gemeinnütziger Arbeit. Das Gericht (Polen) oder die Vollstreckungsbehörde (Deutschland) können ihm die Tilgung der Geldstrafe in Form von Arbeit verweigern. Der Unterschied besteht jedoch in den Kriterien: Wäh811

Tatsächlich haben auch Gespräche mit drei Rechtspflegerinnen der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) bestätigt, dass jeder Verurteilte eine faktische Möglichkeit hat, eine gemeinnützige Arbeit aufzunehmen. 812 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 23 marca 2004 r. w sprawie podmiotów, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna. Dz. U. 04.56.544.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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rend der polnische KKW von 1997 und die Verordnung des Ministerrates von 2004813 über die Ablehnungsgründe vollkommen schweigen, darf z. B. nach § 3 Abs. 2 der Verordnung des Landes Brandenburg814 die Strafvollstreckungsbehörde den entsprechenden Antrag des Verurteilten nur dann ablehnen, „wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass der Verurteilte freie Arbeit nicht leisten will oder dazu in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein wird, oder die von dem Verurteilten vorgeschlagene Beschäftigungsstelle ungeeignet ist und ein anderes Beschäftigungsverhältnis nicht vermittelt werden kann.“815 Der Unterschied zur polnischen Regelung ist offensichtlich: Schlägt der Verurteilte der Vollstreckungsbehörde des Landes Brandenburg eine Beschäftigungsstelle vor und sind die negativen Prämissen nicht erfüllt, muss der Rechtspfleger die gemeinnützige Arbeit bewilligen. Dagegen besteht in Polen die Gefahr, dass die Gerichte die Bewilligung der gemeinnützigen Arbeit mangels gesetzlicher Kriterien ablehnen werden. Weiterhin ist festzuhalten, dass beide Rechtsordnungen verschiedene Zeitpunkte für die Anordnung gemeinnütziger Arbeit vorsehen. Während die gemeinnützige Arbeit in Polen in der Regel schon vor der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet werden kann (nach der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe kommt sie nur in begründeten Fällen in Betracht), sehen die deutschen Regelungen erst nach der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe die Möglichkeit der Anordnung der gemeinnützigen Arbeit als Form der Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe vor. Selbstverständlich hängt der Unterschied von der Auslegung des Begriffes „begründete Fälle“ in Art. 47 § 2 KKW von 1997 ab. Würde die Praxis der Auslegung von Postulski folgen, der keine Besonderheit in diesem Begriff sieht, wird der Unterschied bedeutungslos. Er kann jedoch erhebliche Wirkungen entfalten, wenn die Praxis ihm einen Ausnahmecharakter zuschreibt. Angesichts der Tatsache, dass viele Geldstrafenschuldner erst nach der Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe die entsprechende Initiative zeigen, muss die polnische Lösung Bedenken hervorrufen. Weder der KKW von 1997 in seiner ursprünglichen Fassung noch die Verordnungen des Ministerrates von 1998816 und 2004817 haben einen An813 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 23 marca 2004 r. w sprawie podmiotów, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna. Dz. U. 04.56.544. 814 Verordnung über die Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch freie Arbeit vom 4. März 1992, GVBl. II, S. 86. 815 GVBl. II, S. 86. 816 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 25 sierpnia 1998 r. w sprawie wyznaczania zakładów pracy, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna orzeczona w zamian nies´cia˛galnej grzywny, szczegółowych obowia˛zków tych zakładów w zakresie zatrudniania skazanych i za-

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

rechnungsmaßstab für die Tilgung eines Tagessatzes festgelegt. Erst die Reform von 2003818 hat die entsprechende Regelung (1 Monat = 10 Tagessätze) in den KKW von 1997 eingeführt. Dies bedeutet jedoch in der Praxis, dass die polnischen Einrichtungen im Vergleich zu den deutschen Institutionen mindestens bis zu drei Mal mehr mit der Organisation der gemeinnützigen Arbeit belastet sind (gewöhnlich sehen die deutschen Verordnungen 3–6 Stunden Arbeit für 1 Tagessatz vor). Angesichts der organisatorischen Probleme sprechen pragmatische Gründe für eine möglichst kurze Dauer der Arbeit. Die deutschen Regelungen sind in dieser Hinsicht ohne Zweifel weniger restriktiv. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der KKW von 1997 im Gegensatz zu den deutschen Regelungen die Tilgung der uneinbringlichen Geldstrafen lediglich bis zu 120 Tagessätzen zulässt. c) Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung Die polnischen Kodizes lassen die Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ab 1932 ausdrücklich zu (Art. 61 § 2 KK von 1932, Art. 86 KK von 1969, Art. 46 § 3 KKW von 1997). Demgegenüber gab das deutsche (R)StGB in seiner ursprünglichen Fassung dem Gericht keine Möglichkeit, die Ersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Die Alternative lag zunächst im Begnadigungsrecht, das die bedingte Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe, allerdings unter strengen Voraussetzungen, zuließ. Nach der Einführung der Strafaussetzung in das StGB im Jahre 1953 entstand die Frage, ob die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe auch gemäß § 56 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Die herrschende Meinung neigt zu der Antwort, dass die Strafaussetzung hier unzulässig sei.819 Demzufolge ist die polnische Rechtsordnung im Vergleich zu dem deutschen Strafensystem im Bereich der Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe um eine Alternative reicher. Dies kann durchaus Einfluss auf die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen in einem Rechtssystem haben. Außerdem können die Richter schneller zur Geldstrafe greifen, wenn sie die Alternative haben, dass die Ersatzfreiheitsstrafe beim Scheitern der Zwangsvollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. sad gospodarowania uzyskanymi z tego tytułu s´rodkami oraz przysługuja˛cych ulg zakładom. Dz. U. 98.113.720. 817 Rozporza˛dzenie Rady Ministrów z dnia 23 marca 2004 r. w sprawie podmiotów, w których jest wykonywana kara ograniczenia wolnos´ci oraz praca społecznie uz˙yteczna. Dz. U. 04.56.544. 818 Ustawa z dnia 24 lipca 2003 r. o zmianie ustawy – Kodeks karny wykonawczy oraz niektórych innych ustaw. Dz. U. 03.142.138. 819 Fischer/Tröndle (2006), § 56 RN 2.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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d) Aussetzung des Strafrestes bei der Ersatzfreiheitsstrafe Es ist in den beiden Rechtsordnungen nicht eindeutig entschieden, ob die Restersatzfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Nach der herrschenden Meinung in der deutschen Lehre ist eine Reststrafen-Aussetzung bei der Ersatzfreiheitsstrafe nicht möglich. In Polen schließen Lelental,820 Zoll821 und Kalitowski822 diese Möglichkeit vollkommen aus. Mangels empirischer Untersuchungen in dieser Hinsicht kann bisher nicht festgestellt werden, wie die Praxis vorgeht. e) Unterbleiben der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe Beide Rechtsordnungen lassen die Möglichkeit zu, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen. Die Rechtsgrundlagen weisen jedoch bedeutsame Unterschiede auf. Auch in der Entwicklung dieser Rechtsgrundlagen lassen sich verschiedene Tendenzen feststellen. Zunächst ist zu betonen, dass zumindest eine Rechtsgrundlage in der deutschen Rechtsordnung kontinuierlich seit 1921 bis heute vorlag, die dem Gericht die Möglichkeit gab, von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe abzusehen. Demgegenüber hatte die Reform des Jahres 1960823 die einzige Tilgungsform der Ersatzfreiheitsstrafe in den polnischen Kodizes abgeschafft. Erst der KKW von 1997 ließ nach 37 Jahren dem Gericht wieder die Möglichkeit, die Geldstrafe zu tilgen. Dieser Unterschied darf jedoch nicht überschätzt werden, weil die Möglichkeit, die der Gesetzgeber in § 8 des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21.12.1921824 (= § 29 Abs. 4 StGB a. F.) und in § 459f StPO geschaffen hat, kam in der Praxis nur sehr selten zur Anwendung. Ferner ist festzuhalten, dass die gesetzliche Entwicklung der Härteklausel in den beiden Ländern in Richtung einer Verschärfung ging. Während Art. 43 § 5 KK von 1932 und § 8 des GeldstrG vom 21.12.1921825 relativ günstig für den Verurteilten waren, haben Art. 51 KKW von 1997 und § 459f StPO die Härtefälle zur seltenen Ausnahme gemacht. Diese Ent820

Lelental, Art. 52 RN 1. Buchała/Zoll, Art. 77 RN 9. 822 Górniok/Hoc /Kalitowski/Przyjemski /Sienkiewicz /Szumski /Tyszkiewicz /Wa˛sek, Art. 77 RN 2. 823 Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 824 RGBl. I, S. 1604. 825 RGBl. I, S. 1604. 821

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1. Kap.: Die Entwicklung der Geldstrafe

wicklung muss angesichts der heutigen Zahl an Ersatzfreiheitsstrafen kritisch beurteilt werden. Es lässt sich nicht allgemein sagen, welche Formel für den Verurteilten günstiger ist. Dies hängt von Einzelheiten des konkreten Falles ab. Ein Punkt gilt jedoch für beide Formeln gleichermaßen: Für die Anwendung der Härteklausel reicht es nicht aus, dass der Verurteilte ohne sein Verschulden die Geldstrafe nicht gezahlt hat. Für die Anwendung der Härteklausel des Art. 51 KKW von 1997 und des § 459f StPO müssen vielmehr noch andere, zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein. Dies zeugt von der grundsätzlichen Repressivität beider Klauseln. Art. 51 KKW von 1997 ist in einem Punkt allerdings im Vergleich zu § 459f StPO für den Verurteilten günstiger: Die teilweise- oder vollständige Tilgung der Geldstrafe ist nach Art. 51 KKW von 1997 endgültig. Dagegen bewirkt die Anordnung nach § 459f StPO lediglich den Aufschub der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe, den das Gericht widerrufen kann. Man kann sich die Frage stellen, warum beide Rechtsordnungen so vorsichtig an die Tilgung der Ersatzfreiheitsstrafe herangehen. Die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen sollte eigentlich Lösungen veranlassen, die dem Richter in dieser Hinsicht mehr Freiheit geben. Auch sollte die steigende Zahl der Arbeitslosen in beiden Ländern und die wachsende Armut der niedrigen Schichten der Gesellschaft die Entwicklung einer Rechtsprechung begünstigen, die dem Verurteilten nachsichtiger gegenüber steht. Auch die Befunde der empirischen Forschung, die zeigen, dass es den Verbüßern von Ersatzfreiheitsstrafe überwiegend an sozialer Kompetenz mangelt, sollten die Gesetzgeber beider Länder zur Initiative bewegen. Dieser Fragenkomplex kann indes in dieser Untersuchung nicht vollständig ausgeschöpft werden. Sie muss sich mit dem Befund zufrieden geben, dass die Entwicklung der selbstständigen Geldstrafe in Deutschland bei einer weitgehenden Zurückhaltung der Praxis gegenüber der Anwendung der Härteklausel erfolgt ist und die heutigen Rechtsgrundlagen beider Länder zur Tilgung der Geldstrafe als vergleichbar restriktiv erscheinen.

Zweites Kapitel

Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB und in den polnischen Strafrechtskodizes Erster Abschnitt

Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB Das RStGB von 1871 sah die Möglichkeit der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht vor. Die Diskussion über den bedingten Straferlass1 beginnt nach von Liszt in Deutschland erst im Jahre 1888.2 Die Befürworter des neuen Rechtsinstitutes hatten jedoch einen schwierigen und langen Weg vor sich, da das neue Rechtsinstitut seitens der klassischen Schule starker Kritik ausgesetzt war. Die Argumente der Gegner (insbesondere von Kirchenheim, Wach, Appelius) lassen sich wie folgt zusammenfassen: „Die bedingte Verurteilung widerspreche einer der Grundregeln des Strafrechts, nämlich, daß der Schuld die Strafe folgen müsse. Bei Verletzung dieser Regel trete der das Strafrecht beherrschende Vergeltungsgedanke nicht in Wirksamkeit. Ferner leide das Ansehen des Strafgesetzes, dessen Strafdrohung nicht ausgeführt wird, wenn man in dem bedingten Urteil lediglich eine neue Drohung ausspreche. In Wirklichkeit bedeute diese Maßregel die Ausübung eines Gnadenrechts durch den Richter, was an sich unzulässig und um so bedenklicher sei, als sie naturgemäß meist bei den unteren Gerichten stattfände. Vom Volke werde diese Einrichtung entweder gar nicht verstanden, oder mißverstanden werden, nämlich dahin: daß für das erste Delikt nicht gestraft werde. Aus diesem Mißverständnis könne geradezu ein Anreiz hervorgehen, es mit der Befolgung der Gesetze nicht allzu genau zu nehmen. Da endlich das Interesse des Verletzten an der Bestrafung ganz unberücksichtigt bleibe, so werde der Glaube an die Gerechtigkeit des Staates erschüttert werden.“3 1 Diesen Begriff verwendet v. Liszt in dem Artikel „Bedingte Verurteilung und bedingte Begnadigung“, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 173. 2 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 173, m. w. N. 3 Fischer, Die bedingte Strafaussetzung, S. 14.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Ob Argumente dieser Art allein für die Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber dem neuen Gedanken entscheidend waren, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Sie zeigen jedoch, wie stark die auf Vergeltung gerichtete Kantische und Hegelsche Strafphilosophie das damalige deutsche Strafsystem beherrschte. Die Regierungen der deutschen Einzelstaaten hatten jedoch den praktischen Wert der Strafaussetzung erkannt und wollten dieses Rechtsinstitut zumindest erproben.4 Sie wählten den Umweg über das Begnadigungsrecht. Als erster deutscher Staat führte das Königreich Sachsen im Jahre 1895 die bedingte Begnadigung ein.5 Von Liszt bezeichnete dieses Jahr als einen Wendepunkt in der Entwicklung der strafrechtlichen Anschauungen und bezeichnete die Einführung der bedingten Begnadigung als das erste grundlegende Zugeständnis an die neue Richtung.6 Die Regelungen der einzelnen Staaten waren jedoch sehr unterschiedlich, was zu einer divergierenden Praxis führte.7 Um diesem Nachteil entgegenzuwirken, einigten sich die einzelnen Staaten unter Mitwirkung der Reichsjustiz im Jahre 1902 auf gemeinsame Grundsätze ihrer Anwendung. Erst nach dem 1. Weltkrieg wurden allerdings die Befugnisse zur Gewährung der bedingten Begnadigung in den meisten Einzelstaaten auf die Gerichte übertragen; eine Ausnahme bildete Württemberg, wo die Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörden (d.h. grundsätzlich der Staatsanwaltschaft) für die Vorbereitung der Entscheidungen des Königs und des Justizministers für die Gewährung der Strafaussetzung bestehen blieb.8 Die vom Gericht gewährte Vergünstigung hieß „bedingte Strafaussetzung“, falls die Tilgung der Strafe nach der Bewährungszeit eines Erlasses bedurfte, oder „bedingter Straferlass“, falls die Strafe mit dem Ablauf der Bewährungszeit als erlassen galt, ohne dass es noch einer besonderen Entscheidung bedurfte. Ein Schritt in die Richtung einer allgemeinen gesetzlichen Regelung ist jedoch erst in der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Ver4

Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 190. Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1869. Im Jahre 1895 haben noch Hessen, Preußen und Schwarzburg-Sondershausen Verordnungen zu bedingter Verurteilung erlassen. Im Jahre 1896 schlossen sich Schwarzburg-Rudolstadt, Baden, Bayern, Sachsen-Coburg-Gotha, Elsaß-Lothringen, Württemberg, Sachsen-Meinigen, Hamburg, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin, Bremen und Oldenburg an. Dann 1897: Anhalt; 1898: Schaumburg-Lippe; 1899: Lippe; 1903: Sachsen-Weimar, Braunschweig, Sachsen-Altenburg. Die Aufzählung vgl. bei v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 176. 6 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 186. 7 Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1869. 8 Junker, ZStW 63 (1951), S. 445. 5

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 207

fahren in Gnadensachen vom 6. Februar 19359 (GnadenO) zu sehen. Diese Rechtsgrundlage erfasste das ganze Reichsgebiet und galt in einigen Staaten bis zur Einführung der Strafaussetzung in das StGB im Jahre 1953, so z. B. in Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern, Berlin und Bremen. Andere Staaten haben in der Nachkriegszeit eigene Begnadigungsregelungen erlassen:10 Bayern ist z. B. in der Bekanntmachung vom 24.7.1947 zum bedingten Straferlass durch die Gerichte zurückgekehrt. Damit ging die Rechtseinheit verloren, die auf diesem Gebiet durch die GnadenO von 1935 geschaffen worden war.11 Eine in rechtlicher Hinsicht einheitliche Regelung ist in der BRD erst wieder mit der Einführung der Strafaussetzung in das StGB im Jahre 1953 entstanden. Das Rechtsinstitut heißt seither „Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung“. Das Begnadigungsrecht verlor damit an Bedeutung.

I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe In der Entwicklung des (R)StGB von 1871 lassen sich drei Phasen feststellen, in denen der Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe unterschiedlich geregelt war. Die erste Phase begann im Jahre 1895, in dem als erster deutscher Staat das Königreich Sachsen die Regelungen zur bedingten Begnadigung einführte. In dieser Phase war die bedingte Freiheitsstrafe in der Form der bedingten Begnadigung, der bedingten Strafaussetzung oder des bedingten Straferlasses ausgestaltet. Der Anwendungsbereich der Vergünstigung war dabei uneinheitlich geregelt und im Vergleich zu kommenden Phasen der Rechtsentwicklung grundsätzlich sehr eng. Keinesfalls lässt sich sagen, dass die Anwendung dieser Vergünstigung gefördert wurde (1). Die zweite Phase eröffnete das 3. StrÄndG von 195312, das die Strafaussetzung in das StGB einführte. Auch für diese Phase war eine weitgehende Zurückhaltung hinsichtlich des Anwendungsbereichs des neuen Rechtsinstitutes kennzeichnend (2). Einen Wendepunkt stellte das 1. StrRG von 196913 dar, das den Anwendungsbereich der Strafaussetzung zur Bewährung wesentlich erweiterte und eine Muss-Vorschrift zur Förderung der Strafaussetzung einführte (3). Im Folgenden wird auf die erwähnten Phasen im Einzelnen eingegangen.

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Veröffentlicht in DJ 1935, S. 203. Siehe dazu: Wahl, BAnz. 243/1952. 11 Junker, ZStW 63 (1951), S. 428. 12 BGBl. I, S. 735. 13 BGBl. I, S. 645. 10

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

1. Von 1895 bis zum 3. StrÄndG von 1953 Das RStGB sah in seiner ursprünglichen Fassung vier Arten der Freiheitsstrafe vor, und zwar Zuchthaus, Gefängnis, Festungshaft (seit dem 3. StrÄndG: Einschließung) und Haft. Die schwerste Strafe für Verbrechen war die Zuchthausstrafe. Ihre Dauer war lebenslang oder zeitig (ein Jahr bis zu 15 Jahren). Die Gefängnisstrafe war eine Strafe für Vergehen und leichtere Verbrechen. Ihr Mindestmaß war ein Tag, das Höchstmaß fünf Jahre, bei Gesamtstrafe zehn Jahre. Die Einschließung war eine lebenslange oder zeitige Strafe, die von einem Tag bis zu 15 Jahren dauern konnte. Diese Strafe bestand aus einer einfachen Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Lebensweise des Häftlings.14 Die Haft war die leichteste Übertretungsstrafe und vereinzelt auch Vergehensstrafe. Ihr Mindestmaß betrug einen Tag, das Höchstmaß sechs Wochen. Nach § 20 RStGB, mit dem das Gesetz die Auswahl zwischen Zuchthaus und Festungshaft gestattete, durfte auf Zuchthaus nur dann erkannt werden, wenn festgestellt wurde, dass die als strafbar befundene Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung hervorgegangen war. In der Praxis wurden jedoch seit der Einführung des RStGB bis zur Einführung der Einheitsfreiheitsstrafe durch das 1. StrRG von 1969 fast ausschließlich Gefängnisstrafen verhängt.15 Sowohl in der Zeit des Zweiten Reiches, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches als auch in der Nachkriegszeit spielten Haft und Einschließung im Alltag der Gerichte keine Rolle. Die Verhängung der Zuchthausstrafe hat nur ein einziges Mal im Zeitraum 1882–1925 die Grenze von 13.000 Verurteilungen (und zwar gerade im Jahre 1882) überschritten.16 Im Nationalsozialistischen Staat blieb die Anzahl auf ähnlichem Niveau (1935: 11.821 Verurteilungen zu Zuchthausstrafe, 1936: 11.153).17 In der Zeit nach dem Krieg ist die Anzahl der Verurteilungen zu Zuchthausstrafe sogar deutlich gesunken: Im Zeitraum 1950–1969 hat sie nie 3.500 Verurteilungen erreicht.18 Die Vorschriften der einzelnen Länder stellten in der Regel nicht fest, welche Art der Freiheitsstrafe bedingt begnadigt werden konnte. Sie be14 Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1759. 15 Siehe dazu die statistischen Daten in: Pitschel, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, S. 44 und Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 77. 16 Pitschel, Die Praxis in der Wahl der Geldstrafe, S. 44. 17 Kriminalstatistik für die Jahre 1935 und 1936 mit Hauptergebnissen für die Jahre 1937, 1938, 1939, 1942, S. 63. 18 Siehe die Daten in: Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, S. 71.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 209

stimmten nur das Höchstmaß der Freiheitsstrafe, welches das Gericht bei Gewährung der Vergünstigung nur ausnahmsweise überschreiten durfte. Im Jahre 1908 stellte von Liszt fest, dass in Bayern, Württemberg, Oldenburg und Lippe die Freiheitsstrafen bis zu 3 Monaten bedingt begnadigt werden konnten.19 In Preußen und in der Mehrzahl der übrigen Staaten wurde die Grenze der aussetzungsfähigen Strafen auf 6 Monate festgesetzt. In Baden wurden die Freiheitsstrafen von über 3 Monaten aus dem Anwendungsbereich der bedingten Begnadigung vollkommen ausgeschlossen.20 Lübeck schloss die Freiheitsstrafen von über 6 Monaten aus.21 Demzufolge waren die Zuchthausstrafen aus dem Anwendungsbereich der bedingten Begnadigung zunächst völlig eliminiert. Ein Versuch in Richtung auf eine Erweiterung der Anwendung der bedingten Begnadigung ist in der Vereinbarung zwischen den Regierungen der beteiligten Länder aus dem Jahre 1902 zu sehen. Danach sollte es auf die Höhe der erkannten Freiheitsstrafe bei der Bewilligung der Strafaussetzung nicht ankommen. In der kommenden Zeit begannen die Länder, den Anwendungsbereich der bedingten Begnadigung wesentlich zu erweitern. In Preußen durften die Gerichte ab 1921 Gefängnis-, Festungshaft- und Haftstrafen unabhängig von ihrer Dauer bedingt aussetzen.22 Bei Zuchthausstrafe durfte die Vollstreckung eines nicht mehr als 6 Monate betragenden Teils der Strafe ausgesetzt werden.23 Es ist jedoch zu beachten, dass die Lehre die bedingte Strafaussetzung der höheren Strafen in Preußen als unvereinbar mit generalpräventiven Anforderungen ansah. „Da jedoch bei Straftaten, die zur Verhängung einer erheblichen Freiheitsstrafe geführt haben, das öffentliche Interesse regelmäßig die Vollstreckung mindestens eines Teiles der erkannten Strafe fordert und da ferner das Institut der bed. Auss. in erster Linie als ein Mittel zur Verhütung der Vollstreckung kurzfristiger Freiheitsstrafen gedacht ist (. . .), so ergibt sich, daß eine Aussetzung der ganzen erkannten Strafe – anders wie bei der Aussetzung von Strafteilen (. . .) – grundsätzlich nur bei kürzeren Freiheitsstrafen in Betracht kommt.“24

Demzufolge musste – nach Grau und Schäfer – die bedingte Aussetzung einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe grundsätzlich als unzulässig an19 20 21 22

vom vom 23

vom vom 24

v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 177. Ebenda. Ebenda. Allgemeine Verfügung über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung 19. Oktober 1920 (JMBl. S. 565) in der Fassung der Allgemeinen Verfügung 15. Juni 1921 (JMBl. S. 349) und vom 29. Juni 1921 (JMBl. S. 370). Allgemeine Verfügung über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung 19. Oktober 1920 (JMBl. S. 565) in der Fassung der Allgemeinen Verfügung 15. Juni 1921 (JMBl. S. 349) und vom 29. Juni 1921 (JMBl. S. 370). Grau/Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, S. 279.

210

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

gesehen werden.25 Aber auch die Freiheitsstrafen über sechs Monaten sollten eher selten bedingt ausgesetzt werden.26 Außer Preußen verzichteten auf die Grenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen auch zwei andere Länder: Oldenburg und Lübeck.27 Bayern, Sachsen und Thüringen ließen die Vergünstigung bei den Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr zu.28 Im Übrigen waren die Gefängnisstrafen von mehr als sechs Monaten ausgeschlossen (z. B. Baden, Hamburg, Bremen).29 Auch der Kreis der Verurteilten, die in den Anwendungsbereich der bedingten Begnadigung fielen, wurde erweitert. Während nach der Vereinbarung zwischen den Regierungen der beteiligten Länder aus dem Jahre 1902 die bedingte Begnadigung in erster Linie nur gegenüber den Verurteilten unter 18 Jahren bewilligt werden sollte und von Liszt im Jahre 1908 noch behaupten konnte, dass das Begnadigungsrecht der einzelnen Staaten die bedingte Begnadigung grundsätzlich bei Jugendlichen zuließ,30 sah die preußische Allgemeine Verfügung von 1920 keine Klausel vor, die die bedingte Strafaussetzung bei Erwachsenen zur Ausnahme machte.31 Dementsprechend wurden Jugendliche und Erwachsene gewissermaßen gleichgestellt.32 Das Begnadigungsrecht der einzelnen Länder beließ es im Ermessen des zuständigen Organs, ob der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte bedingt begnadigt werden sollte. Es lässt sich kaum behaupten, dass die entsprechenden Regelungen die Anwendung des neuen Rechtsinstitutes förderten. Es ist jedoch zu beachten, dass die preußische Allgemeine Verfügung von 1920 dem Gericht bei der Festsetzung einer Freiheitsstrafe gebot, von Amts wegen zu prüfen, ob Anlass zur Aussetzung der Strafvollstreckung gegeben war (§ 8). Im Falle der Verneinung dieser Frage musste das Gericht einen besonderen Beschluss erlassen, wenn dies von der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten oder seinem Verteidiger beantragt worden war, oder wenn der Verurteilte zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte (§ 8). Andererseits postulierte die Lehre eine weitgehende Zurückhaltung bei der Gewährung der Strafaussetzung. Dazu Hellwig: 25

Ebenda. Ebenda, m. w. N. 27 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 132. 28 Ebenda. 29 Ebenda. 30 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 177. 31 Allgemeine Verfügung vom 19. Oktober 1920, JMBl. S. 565. 32 Es ist zu beachten, dass die Strafaussetzung schon im RJGG von 1923 vorgesehen war. 26

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 211 „Die Aussetzung muß immer die Ausnahme bleiben, darf nie die Regel werden, auf die jeder, der zum ersten Mal verurteilt wird, mit einer gewissen Sicherheit rechnen kann.“33

Die Rechtslage hinsichtlich der bedingten Strafaussetzung änderte sich radikal erst im Jahre 1934, als die Justiz auf das Reich übergeleitet worden war. Eine erhebliche Einschränkung in der Anwendung der bedingten Strafaussetzung brachte die Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 193534. Diese Verordnung erfasste das gesamte Reichsgebiet. Danach wurde die Grenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen auf sechs Monate herabgesetzt.35 Die Richter konnten jedoch die Freiheitsstrafen nur bis zu einem Monat bedingt aussetzen. Außerdem ließ § 21 Abs. 1 GnadenO keinen Zweifel daran, dass die bedingte Strafaussetzung eine Ausnahme bleiben sollte:36 „Bei der Ausübung der ihr erteilten Ermächtigung hat die Gnadenbehörde stets davon auszugehen, daß die Bewilligung der Strafaussetzung nur ausnahmsweise erfolgen soll. Die Achtung vor den Gesetzen und der staatlichen Straffestsetzung gebietet, daß die im Gesetz angedrohte Strafe gegen den Gesetzesbrecher regelmäßig voll zur Verwirklichung kommt. Die Frage, ob Strafaussetzung unter Bewilligung einer Bewährungsfrist ausnahmsweise gewährt werden soll, ist daher in jedem einzelnen Falle mit größter Sorgfalt zu prüfen und dabei vor allem zu beachten, daß die Bewilligung der Strafaussetzung nur angängig ist, wenn trotz dieses Gnadenerweises die Erreichung des vom Gesetzgeber mit der Aufstellung der Strafbestimmungen verfolgten Zwecks in keiner Hinsicht beeinträchtigt oder in Frage gestellt wird.“37

Ferner sollte eine bedingte Strafaussetzung in der Regel nicht gewährt werden, wenn der Verurteilte schon als Vorbestrafter galt (§ 21 Abs. 3 GnadenO von 1935). War ein Verurteilter mit Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als drei Monaten vorbestraft, die im Strafregister noch nicht getilgt waren, so durfte ihm die bedingte Strafaussetzung nur gewährt werden, wenn ganz besondere Umstände eine solche Vergünstigung tragbar erscheinen ließen (§ 21 Abs. 3 GnadenO von 1935). Andererseits ist jedoch zu beachten, dass die Vollstreckungsbehörde nach § 26 Abs. 1 GnadenO von 1935 ohne Verzögerung der Strafvollstreckung von Amts wegen prüfen musste, ob Anlass zur Bewilligung bedingter Strafaussetzung gegeben war. Die Bejahung dieser Frage musste allerdings nicht notwendig zur Gewährung der bedingten Strafaussetzung führen; es lag im 33

Hellwig, Die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung in Preußen, S. 10. Veröffentlicht in DJ 1935, S. 203. 35 Erst im Jahre 1939 (RV des RJM von 29.8.1939) wurde die Obergrenze auf 1 Jahr heraufgesetzt. 36 Ähnlich Schröder, NJW 1952, S. 10. 37 DJ, 1935, S. 206. 34

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

vollen Ermessen der Vollstreckungsbehörde oder des Gerichts, ob die Vergünstigung angeordnet werden sollte. Nach dem 2. Weltkrieg, als die einzelnen Bundesländer eigene Regelungen zur Strafaussetzung erließen, wurde das Anwendungsgebiet der Strafaussetzung wieder uneinheitlich. So konnten z. B. die Gerichte in Bayern die Gefängnisstrafen bis zu 1 Jahr bedingt erlassen.38 Demgegenüber kamen dafür in Hamburg lediglich die Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten in Betracht.39 In Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen konnte die Gnadenbehörde eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten ganz oder teilweise aussetzen.40 Der Richter durfte jedoch in Rheinland-Pfalz die Strafaussetzung lediglich bei einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 1 Monat gewähren.41 Die Ermächtigung der Gnadenbehörde zur Gewährung der Strafaussetzung war in Hessen im gleichen Umfange vorgesehen wie in der Gnadenordnung von 1935.42 Auch in den übrigen Ländern galten die Grenzen, die die Gnadenordnung von 1935 festgesetzt hatte.43 Die Anwendung des Rechtsinstituts war zunächst relativ selten, wobei eine steigende Tendenz zu verzeichnen ist. Die absolute Anzahl betrug im Reichsgebiet im Jahre 1898 durchschnittlich 6.041; 1899: 7.000; 1900: 7.177; 1901: 8.381; 1902: 11.415; 1903: 13.779; 1904: 14.783; 1905: 16.389; 1906: 19.026.44 In Preußen lässt sich in dem nachfolgenden Zeitraum auch eine steigende Tendenz, zumindest ab 1920, feststellen (s. Abb. 11). Stapenhorst schätzt, dass der Anteil der Strafaussetzungen an allen Verurteilungen in Preußen in dem Zeitraum 1925–1928 im Durchschnitt 15% betrug.45 Bemerkenswert ist, dass im Jahre 1921 fast 125.000 Freiheitsstrafen in Preußen bedingt ausgesetzt wurden. Das waren sicherlich die Auswirkungen der Allgemeinen Verfügung von 192046, die das Anwendungsgebiet der bedingten Strafaussetzung – wie oben gezeigt wurde – wesentlich erweiterte. Noch interessanter ist jedoch das drastische Absinken der Strafaussetzungen im Jahre 1922: Von zirka 125.000 ist ihre Anzahl auf 38

Wahl, BAnz. 243/1952, S. 7. Ebenda. 40 Ebenda, S. 7–8. 41 Ebenda, S. 8. 42 Ebenda, S. 7. 43 Ebenda, S. 6–8. 44 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 179. 45 Stapenhorst, Die Entwicklung des Verhältnisses von Geldstrafe zu Freiheitsstrafe seit 1882, S. 50. 46 Allgemeine Verfügung über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung vom 19. Oktober 1920 (JMBl. S. 565) in der Fassung der Allgemeinen Verfügung vom 15. Juni 1921 (JMBl. S. 349) und vom 29. Juni 1921 (JMBl. S. 370). 39

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 213 140 000 120 000 Anzahl

100 000 80 000

Strafaussetzung

60 000 40 000 20 000 0

20

19

2

2 19

24

19

26

19

28

19

30

19

32

19

Jahr Quelle der Daten: Grau, in: Gürtner (Hrsg.), Das deutsche kommende Strafrecht, S. 183.

Abb. 11: Strafaussetzung in Preußen in den Jahren 1920–1932

72.000 gesunken. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese Änderung dem im vorangehenden Kapitel dargestellten Geldstrafengesetz von 1921,47 insbesondere dem § 3, zuzurechnen ist.48 Die wesentliche Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe sowie ihre Förderung im Bereich der Freiheitsstrafen unter drei Monaten brachte somit eine wesentliche Zunahme der Geldstrafen zu Lasten der bedingten Freiheitsstrafen mit sich. 2. Vom 3. StrÄndG von 1953 bis zum 1. StrRG von 1969 Eine wesentliche Änderung der Rechtslage hinsichtlich der Strafaussetzung brachte erst das 3. StrÄndG von 195349. Es führte die Strafaussetzung zur Bewährung in das StGB ein. Der zentrale § 23 StGB a. F. erlaubte dem Gericht, die Vollstreckung einer Gefängnis- oder Einschließungsstrafe von nicht mehr als neun Monaten oder einer Haftstrafe auszusetzen, damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlass erlangen konnte. Dementsprechend wurden die Zuchthausstrafen aus dem Anwendungsbereich der Vergünstigung ausgeschlossen. Bemerkenswert ist zudem, dass das 3. StrÄndG die Grenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen im Vergleich zur GnadenO von 1935 herabgesetzt hat (nach der letzten Fassung der GnadenO von 1935 konnten die Verurteilten zu Freiheits47 48 49

Dieses Gesetz trat am 1. Januar 1922 in Kraft. Junker, ZStW 63 (1951), S. 446. BGBl. I, S. 735. Es ist am 1.1.1954 wirksam geworden.

214

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Anzahl

strafen bis zu einem Jahr bedingt begnadigt werden).50 Andererseits sah das neue Recht keine Einschränkung des § 21 Abs. 1 GnadenO von 1935 vor. Demzufolge wurde der Ausnahmecharakter des Rechtsinstitutes verneint. Es lässt sich allerdings nicht sagen, dass die Vorschriften des StGB das neue Rechtsinstitut irgendwie gefördert hätten. § 23 StGB a. F. wurde als KannVorschrift gefasst, so dass es vollständig im Ermessen des Gerichts lag, ob eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. Die Begründung des Urteils musste sich auf die Strafaussetzung nur dann beziehen, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden war (§ 267 Abs. 3 StPO nach dem 3. StrÄndG). Ferner wurden die Vorbestraften – wie in der GnadenO von 1935 – aus dem Anwendungsbereich der Strafaussetzung ausgeschlossen: Nach § 23 Abs. 3 Punkt 2 und 3 StGB a. F. konnte die Vergünstigung in zwei Fällen nicht angeordnet werden. Zum einen, wenn die Vollstreckung einer gegen den Verurteilten im Inland erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung oder im Gnadenweg während der letzten fünf Jahre vor Begehung der Straftat ausgesetzt wurde. Zum anderen, wenn der Verurteilte innerhalb dieses Zeitraumes im Inland zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als sechs Monaten verurteilt wurde. In der Praxis wurde jedoch nicht selten gleichwohl von der Strafaussetzung Gebrauch gemacht.

400 000 350 000 300 000 250 000 200 000 150 000 100 000 50 000 0

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe

54 19

56 19

58

19

60

19

62

19

64

19

66

19

68

19

Jahr Ohne Arreststrafen. Der Begriff „Unbedingte Freiheitsstrafe“ erfasst die Verurteilungen zu Zuchthaus, Gefängnis, Haft und Einschließung. Der Begriff „Bedingte Freiheitsstrafe“ bezieht sich auf Gefängnis, Haft und Einschließung. Quelle der Daten: Heinz, ZStW 94 (1982), S. 640.

Abb. 12: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1954–1969 50 Es ist jedoch zu beachten, dass die Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten 90 % der Verurteilungen zu freiheitsentziehenden Strafen im Jahre 1954 darstellten.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 215

Aus den Strafverfolgungsstatistiken geht hervor, dass die bedingten Freiheitsstrafen schon im ersten Jahr nach dem In-Kraft-Treten der Vorschriften über die Strafaussetzung einen Anteil von 9,2% (42.411)51 an allen Verurteilungen erreichten. Der entsprechende Anteil stieg im Jahre 1968 bis zu 13,1% (75.078) an.52 Im September 1969 traten Übergangsvorschriften des 1. StrRG in Kraft, so dass die Daten aus dieser Zeit nur eingeschränkt verwendet werden können. Die Anzahl der verhängten Geldstrafen überstieg allerdings in dem untersuchten Zeitraum die Anzahl der verhängten bedingten Freiheitsstrafen wesentlich (vgl. Abb. 12). 3. Vom 1. StrRG von 1969 bis zur Gegenwart Eine wesentlich neue Rechtslage hinsichtlich der Freiheitsstrafe und der Strafaussetzung brachte das 1. StrRG vom 25. Juni 196953. Dieses Gesetz hat zum einen eine einheitliche Freiheitsstrafe eingeführt und zum anderen das Konzept der Strafaussetzung im StGB grundlegend verändert. An die Stelle der Zuchthausstrafe, der Gefängnisstrafe, der Einschließung und der Haft trat eine einzige freiheitsentziehende Hauptstrafe. Soweit sie nicht als lebenslang angedroht wurde, betrug ihr Höchstmaß 15 Jahre, ihr Mindestmaß 1 Tag. Erst das 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 196954 hat das Mindestmaß der Freiheitsstrafe auf 1 Monat heraufgesetzt. Diese gesetzgeberische Entscheidung sollte das damalige Reformziel der Zurückdrängung kurzer Freiheitsstrafen umsetzen.55 Nach Tröndle kam damit der Kampf gegen die kurzfristige Freiheitsstrafe, den Franz von Liszt in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eröffnet hatte, zu einem vorläufigen Abschluss.56 Die Bestimmungen über die Strafaussetzung zur Bewährung erfuhren noch weitergehenden Änderungen. Nach dem 1. StrRG lautete der neue § 23 StGB ab dem 1.4.197057:

51

Heinz, ZStW 94 (1982), S. 640. Ebenda. 53 BGBl. I, S. 645. 54 BGBl. I, S. 717. Das Gesetz trat am 1.1.1975 in Kraft. 55 Fischer/Tröndle (2006), § 38 RN 1, m. w. N. 56 LK-Tröndle, vor § 38 RN 24. 57 Zunächst galt jedoch vom 1.9.1969 bis zum 31.3.1970 die Übergangsfassung des Art. 106 Nr. 1 des 1. StrRG, der im Wesentlichen dem § 23 StGB entsprach. Die Bestimmung der Übergangsfassung kannte jedoch nicht die ab dem 1.4.1970 gegebene Möglichkeit, Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren auszusetzen. 52

216

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

§ 23 StGB „(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. (2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen. (3) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird die Vollstreckung nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet. (4) Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt werden. Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen.“

Zunächst fällt auf, dass der Anwendungsbereich der Strafaussetzung wesentlich erweitert wurde. Nach der ursprünglichen Fassung des § 23 StGB, „die deutlich eine vorsichtige Haltung des Gesetzgebers gegenüber diesem neuen Rechtsinstitut erkennen ließ“,58 waren nur Gefängnis- und Einschließungsstrafen bis zu neun Monaten aussetzbar. Der neue § 23 StGB ließ zu, die Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung auszusetzen. Außerdem ist zu beachten, dass das 1. StrRG drei Zeitbereiche im Sinne unterschiedlich langer Freiheitsstrafen mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Strafaussetzung einführte. Damit wurde nicht nur der Anwendungsbereich des Rechtsinstitutes erweitert, sondern eine dreiteilige Konstruktion der Gewährung von Strafaussetzung installiert. Ferner wurde die Regelung abgeschafft, die bestimmte Kategorien der Vorbestraften aus dem Anwendungsbereich der Vergünstigung ausdrücklich ausschloss. Schließlich ist hervorzuheben, dass die Absätze 1 und 3 des neuen § 23 StGB im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung der Vorschriften als Muss-Vorschriften ausgestaltet wurden. Dementsprechend lag die Gewährung der Strafaussetzung bei Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr nicht mehr im Ermessen des Gerichts, soweit die vom Gesetz vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt waren. Nachfolgend wird auf die Förderung der Strafaussetzung bei einzelnen Zeitbereichen im Sinne unterschiedlich langer Freiheitsstrafen eingegangen. 58

LK-Gribbohm, vor § 56 RN 4.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 217

a) Aussetzung von Strafen bis zu sechs Monaten Wie bereits erwähnt wurde, ist die Aussetzung von Freiheitsstrafen im Bereich bis zu sechs Monaten nach dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG obligatorisch – soweit eine gute (Legalbewährungs-)Prognose vorliegt (§ 23 Abs. 1 StGB a. F. = § 56 Abs. 1 StGB n. F.). Der Tatrichter hat in diesem Bereich also kein Ermessen, wenn die Prognose positiv ausfällt. Allerdings steht dem Tatrichter bei der Prognose selbst ein Beurteilungsspielraum zu. Ist die Prognose nach dem dargelegten Maßstab ungünstig, so muss die Strafaussetzung abgelehnt werden. b) Aussetzung von Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr Auch die Aussetzung der Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr ist obligatorisch, soweit eine gute (Legalbewährungs-)Prognose vorliegt (§ 23 Abs. 1 StGB a. F. = § 56 Abs. 1 StGB n. F.). Das Gesetz verlangt hier jedoch die Erfüllung einer weiteren Prämisse, und zwar dürfen die Bedürfnisse der Verteidigung der Rechtsordnung der Strafaussetzung nicht entgegenstehen (Vgl. § 23 Abs. 3 StGB a. F. = § 56 Abs. 3 StGB n. F.). Damit ist die Generalprävention in ihrer positiven Variante angesprochen, d.h., es geht nicht um die Abschreckung anderer potentieller Täter, sondern primär um die Stärkung des Rechtsbewusstseins.59 Jedenfalls ist die Präferenz des Gesetzgebers für die Strafaussetzung bei Strafen im Bereich bis zu einschließlich einem Jahr deutlich.60 c) Aussetzung von Strafen von über einem Jahr bis zu zwei Jahren Einen ganz anderen Spielraum hat das Gericht bei der Gewährung von Aussetzung bei den Freiheitsstrafen von über einem bis zu zwei Jahren. In diesem Bereich zeigte der Gesetzgeber weitgehende Zurückhaltung. Zu Recht betont Streng, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafen über einem Jahr wegen der restriktiven Voraussetzungen und wegen des Charakters einer bloßen Kann-Vorschrift eher als Ausnahme- denn als Regelentscheidung des Richters konstruiert ist.61 Es wird noch näher zu zeigen sein, welchen Veränderungen die Auslegung der Voraussetzungen des § 23 Abs. 2 StGB 59

Ostendorf, NK-StGB, § 56 RN 32, m. w. N. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 149. 61 Ebenda, RN 149 mit Verweis auf BT-Drs. V/4094, S. 11; BGHSt. 29, 319 ff., S. 324. 60

218

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe 600 000

Anzahl

500 000 400 000

Unbedingte Freiheitsstrafe

300 000

Bedingte Freiheitsstrafe

200 000

Geldstrafe

100 000 0 67 19

69 19

71

19

73

19

75

19

77

19

79

19

Jahr Ohne Strafarrest. Bis zum Jahre 1969 umfasst der Begriff „Unbedingte Freiheitsstrafe“ die Verurteilungen zu Zuchthaus, Gefängnis, Haft und Einschließung. Der Begriff „Bedingte Freiheitsstrafe“ bezieht sich auf Gefängnis, Haft und Einschließung. Quelle der Daten: Heinz, ZStW 94 (1982), S. 640.

Abb. 13: Verurteilte in der BRD nach Strafart in den Jahren 1967–1979

a. F. = § 56 Abs. 2 StGB n. F. unterlag. An dieser Stelle ist zunächst nur der Charakter der Vorschrift hervorzuheben. Schließlich sei auf die strukturelle Verteilung der Strafen vor und nach der Reform des Jahres 1969 eingegangen. Die erste Fassung der Vorschriften über die Strafaussetzung trat am 1.9.1969 in Kraft. Zum Vergleich werden in Abbildung 13 auch die Daten aus den Jahren 1967–1968 angegeben. Aus den obigen Daten geht deutlich hervor, dass sowohl der Anteil der bedingten Freiheitsstrafen an allen Verurteilungen als auch ihre Anzahl nach dem 1. StrRG gesunken sind. Während im Jahre 1969 die bedingten Freiheitsstrafen einen Anteil von 13,9% (73.590)62 an allen Verurteilungen hatten, sank ihr Anteil im Jahre 1970 auf 8,5% (46.972)63. Dieses Phänomen mag verwundern, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass das 1. StrRG den Anwendungsbereich der bedingten Freiheitsstrafen wesentlich erweiterte. Außerdem konnte nach der Einführung der Muss-Vorschriften des § 23 Abs. 1 und Abs. 3 StGB a. F. erwartet werden, dass die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen steigen würde. Diese Entwicklung ist größtenteils auf den Umstand zurückzuführen, dass das 1. StrRG neben den weitergehenden Regelungen über die Strafausset62 63

Heinz, ZStW 94 (1982), S. 640. Ebenda.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 219

zung den im Ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung bereits besprochenen § 14 StGB a. F. einführte, der die Ersetzung der Freiheitsstrafen unter 6 Monaten durch die Geldstrafe förderte. Wenn man bedenkt, dass sich die gesetzgeberische Präferenz für die Geldstrafe gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe, wie sie in § 14 StGB a. F. zum Ausdruck kam, sowohl gegen die zu vollstreckende als auch gegen die nach § 23 StGB a. F. zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe richtete, wird klar, warum die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen gesunken ist. Selbstverständlich fehlt es nicht an kritischen Stimmen in der Literatur, die die Präferenz der Geldstrafe gegenüber der kurzen bedingten Freiheitsstrafe heftig kritisierten. Nach Jescheck und Weigend steht sie damit „quer zu der kriminologisch allein bedeutsamen Unterscheidung zwischen freiheitsentziehenden und ambulanten Sanktionen und hat zur Folge, daß auch die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe mit Aussetzung unter Auflagen und/oder Weisungen, die im Einzellfall spezialpräventiv durchaus sinnvoller sein kann als eine Geldstrafe, nur für Ausnahmefälle zugelassen wird.“64 Der Gesetzgeber hält sich jedoch bisher an das Konzept, das der Geldstrafe gegenüber jeder Form der Freiheitsstrafe unter sechs Monaten den Vorrang einräumt. Zusammenfassend ist festzuhalten: Obwohl die bedingten Freiheitsstrafen nach dem 1. StrRG im Vergleich zu den vorangehenden Phasen am stärksten gefördert waren, ist ihre Anzahl nach der Reform nicht gestiegen. Ohne Berücksichtigung der Regelungen über die Geldstrafe wäre dieses Phänomen nicht zu erklären.

II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung Unter der Geltung des Begnadigungsrechts erfolgte die Gewährung der bedingten Begnadigung ursprünglich im Wege „allerhöchster Gnade“ aufgrund einer Prüfung durch eine Zentralstelle.65 Die Gerichte waren somit für die Gewährung der Vergünstigung nicht zuständig. Die Vereinbarung der Länder von 1902 erwähnt jedoch schon ein Äußerungsrecht des Gerichts in Punkt 4, was als Anzeichen der Übertragung der Befugnisse an die Gerichte angesehen werden kann. Die Übertragung erfolgte in den meisten Ländern jedoch erst nach dem ersten Weltkrieg.66 Es ist allerdings zu beachten, dass die Gerichte in Anhalt, Braunschweig, Lippe-Detmold, Mecklen64

Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 760, m. w. N. Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1869. 66 LK-Gribbohm, vor § 56 RN 2. 65

220

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

burg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Württemberg und Hessen noch im Jahre 1932 für die Gewährung der Vergünstigung nicht zuständig waren.67 In denjenigen Staaten, in denen die Delegation des Gnadenrechts an die Gerichte erfolgte, waren die Gerichte allerdings „an langatmige und wachsende Ministerialverordnungen für die Ausübung“68 gebunden. Diese Verschiebung änderte jedoch nichts an dem Charakter der Strafaussetzung als Gnadenakt.69 Die Gerichte gewährten die bedingte Strafaussetzung „nicht als Rechtsakt eines selbstständigen Richters, sondern als Beauftragte des Trägers des Gnadenrechts, die dessen Weisungen nachkommen mußten.“70 Es bestand daher in Preußen jederzeit die Möglichkeit, dass die Staatsregierung Richtlinien aufstellte oder gar bindende Weisungen gab, von welchen maßgebenden Gesichtspunkten das Gericht ausgehen sollte.71 Auf die Stellungnahme des Gerichts im einzelnen Fall konnte jedoch kein Einfluss ausgeübt werden.72 Wie vorsichtig die einzelnen Staaten dieses Rechtsinstitut behandelten, bezeugt die preußische Allgemeine Verfügung vom 19. Oktober 1920,73 die in 30 Paragraphen ausführlich die Aussetzung der Strafvollstreckung durch die Gerichte regelte. Jedenfalls wurde das erreicht, was die Reformentwürfe vergeblich anstrebten: „Die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung wurde institutionalisiert und in die Hand des Richters gelegt.“74 Eine Einschränkung brachte die Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 193575. Danach war das Gericht nur für die Freiheitsstrafen bis zu einem Monat zuständig (§ 20 Abs. 2 GnadenO). Höhere Strafen gehörten zur Kompetenz der Gnadenbehörde. In der Nachkriegszeit, als die einzelnen Länder eigene Regelungen zur Strafaussetzung erließen, wurde die Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung wieder uneinheitlich. Als Gnadenbehörde handelte auch das Gericht. Den größten Spielraum hatte es in Bayern, wo es zur Gewährung des bedingten Straferlasses bei Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr zuständig war.76 In Hamburg konnten die Richter die Freiheitsstrafen bis zu 3 67 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 129. 68 Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, S. 422. 69 LK-Gribbohm, vor § 56 RN 2. 70 Ebenda. Kritik an diesem Modell siehe bei Schmidt, ZStW 64 (1952), S. 8. 71 Hellwig, Die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung in Preußen, S. 9. 72 Ebenda. 73 JMBl. S. 565. 74 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 191. 75 Veröffentlicht in DJ 1935, S. 203. 76 Wahl, BAnz. 243/1952, S. 7.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 221

Monaten bedingt aussetzen.77 In Nordrhein-Westfalen bis zu 6 Monten und in Rheinland-Pfalz bis zu 1 Monat.78 Die Länder, die bei der GnadenO von 1935 blieben, ermächtigten die Richter, die bedingte Strafaussetzung lediglich bei den Freiheitsstrafen bis zu einem Monat zu gewähren. Die Einführung der Strafaussetzung in das StGB im Jahre 1953 vereinheitlichte die Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung: Die Gerichte im Bundesgebiet wurden ermächtigt, die Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten zur Bewährung auszusetzen. Die Strafaussetzungsentscheidung war nicht mehr ein Gnadenakt, so dass die Gerichte als unabhängige Organe über die Strafaussetzung entscheiden konnten. 2. Die Prämissen der Strafaussetzung Schon das Begnadigungsrecht der einzelnen Länder sah eine Reihe von Voraussetzungen für die Gewährung der bedingten Begnadigung bzw. der bedingten Strafaussetzung vor.79 Im Vordergrund standen dabei spezial- und generalpräventive Gründe. Ferner kam die Rücksicht auf die Interessen des Verletzten in Betracht (so in Bayern, Sachsen und Baden). Das preußische Begnadigungsrecht brachte den spezialpräventiven Gedanken in der Weise zum Ausdruck, dass es zwei Voraussetzungen aufstellte, die gleichzeitig erfüllt sein mussten. Zum einen durfte die Tat „nicht durch Verdorbenheit und verbrecherische Neigung verursacht sein, sondern“ musste ihren Grund „in Leichtsinn, Unerfahrenheit, Verführung oder Not“ haben (§ 2 der preußischen Allgemeinen Verfügung von 1920). Zum anderen musste erwartet werden können, dass „der Verurteilte sich durch gute Führung während der Bewährungsfrist eines künftigen Gnadenerweises würdig erzeigen wird“ (§ 2 der preußischen Allgemeinen Verfügung von 1920). Wesentlich weiter gingen die sächsischen Regelungen. Während in Preußen die Straftat überhaupt nicht in der Verdorbenheit und verbrecherischen Neigung des Täters ihren Grund haben durfte, kam es in Sachsen nur darauf an, dass sie vorwiegend auf Leichtsinn, Unerfahrenheit oder Not beruhte, wohingegen ein Mitwirken der Verdorbenheit oder verbrecherischen Gesinnung nicht ausgeschlossen war.80 Das bayerische Begnadigungsrecht brachte die spezialpräventiven Gründe in § 30 der Begnadigungsvorschriften von 192781 zum Ausdruck. Danach konnte die Strafaussetzung nur 77

Ebenda. Ebenda. 79 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 140. 80 Ebenda, S. 140–141. 78

222

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

„dann bewilligt werden, wenn die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben und sein Verhalten nach der Tat die Erwartung begründet, daß er künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen werde“. Ähnlich in Bremen, wo der Verweis auf das Vorleben jedoch fortgelassen wurde (§ 5 der Verordnung betreffend die bedingte Strafaussetzung und die Ablösung von Freiheitsstrafen durch Geldbußen vom 11. August 192982). Die hamburgischen Ausführungsbestimmungen83 (II Ziff. 1) stellten auf die berechtigte Erwartung zukünftig straffreier Führung ab. Die generalpräventiven Gründe kamen in verschiedenen Formen zum Ausdruck. Das bayerische84 und das badensche85 Begnadigungsrecht schrieben die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an der Strafvollstreckung allgemein vor. Die sächsische Verordnung verwies auf Rücksichtnahme auf das Volksempfinden.86 Das preußische Begnadigungsrecht brachte die generalpräventiven Gesichtspunkte zunächst bei Schleichhandelund Wucherverbrechen zur Anwendung (§ 2 Abs. 2 S. 3 der preußischen Allgemeinen Verfügung von 1920). Dem Erlass des preußischen Justizministers vom 24.6.1924 lässt sich entnehmen, dass sie auch bei anderen Kategorien der Straftaten berücksichtigt werden sollten: „Bei der Entscheidung darüber, ob einem Verurteilten bedingte Strafaussetzung gewährt werden kann, muss erwogen werden einerseits, ob von dieser Aussetzung eine bessernde Wirkung auf den Verurteilten zu erwarten ist, anderseits, welche Bedeutung ihr für andere Personen und für das Gemeinwohl zukommt, so z. B. ob andere – etwa als Mittäter Verurteilte – darin mit Recht eine Ungerechtigkeit ihnen gegenüber erblicken würden, ob die Aussetzung voraussichtlich die abschreckende Wirkung der Strafdrohung abschwächen würde und ähnliches. Von Erheblichkeit sind hierbei Tatsachen wie einerseits die bisherige Unbescholtenheit des Verurteilten, andererseits bereits erfolgte Strafvollstreckung gegen Mittäter oder wegen ähnlicher Vergehen Verurteilter, starke Zunahme von Straftaten derselben Art u. dgl. m.“87

Die GnadenO von 1935 knüpfte an das preußische Gnadenrecht an. Sie wiederholte fast wörtlich die spezialpräventiven Prämissen der preußischen 81 Die hier besprochenen Begnadigungsvorschriften wurden am 31. Dezember 1927 erlassen (JMBl. S. 83) mit Änderungen und Ergänzungen vom 14. März 1928 (JMBl. S. 27), vom 24. September 1928 (JMBl. S. 252) und vom 22. Mai 1930 (JMBl. S. 116). 82 GBl. S. 159. 83 Ausführungsverordnung vom 28. September 1929 (Hamb. JVBl. S. 59). 84 § 30 der Begnadigungsbestimmungen vom 31. Dezember 1927 (JMBl. S. 83). 85 § 18 der Begnadigungsbestimmungen vom 12. Juni 1930 (Amtliche Ausgabe der Vorschriften für Strafsachen, S. 219). 86 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 141. 87 Zitiert nach Grau/Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, S. 278.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 223

Allgemeinen Verfügung von 1920. Auch die generalpräventiven Gesichtspunkte waren berücksichtigt, wobei allerdings der Begriff des „öffentlichen Interesses“ nicht erwähnt wurde. Der Satz „Die Achtung vor Gesetzen und der staatlichen Straffestsetzung gebietet, daß die im Gesetz angedrohte Strafe gegen den Gesetzbrecher regelmäßig voll zur Verwirklichung kommt“ (§ 21 Abs. 1 der GnadenO von 1935) ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass damit generalpräventive Gesichtspunkte gemeint waren. Nach dem In-Kraft-Treten des 3. StrÄndG vom 4.8.195388 konnte das Gericht gemäß § 23 Abs. 2 StGB a. F. eine Strafaussetzung zur Bewährung nur dann anordnen, „wenn die Persönlichkeit des Verurteilten und sein Vorleben in Verbindung mit seinem Verhalten nach der Tat oder einer günstigen Veränderung seiner Lebensumstände erwarten lassen, daß er unter der Einwirkung der Aussetzung in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird.“ Die generalpräventive Prämisse sah in § 23 Abs. 3 Punkt 1 StGB a. F. vor, dass die Strafaussetzung zur Bewährung nicht angeordnet werden durfte, „wenn das öffentliche Interesse die Vollstreckung der Strafe erfordert“. Zu einer Neufassung der Bestimmungen über die Strafaussetzung zur Bewährung hat das 1. StrRG geführt. Der Wortlaut des neuen, ab dem 1.4. 1970 geltenden § 23 StGB89 sei hier noch einmal (vgl. bereits oben I. 3.) wiedergegeben. § 23 StGB „(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. (2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen. (3) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird die Vollstreckung nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet. 88

BGBl. I, S. 735. Zunächst galt jedoch vom 1.9.1969 bis zum 31.3.1970 die Übergangsfassung des Art. 106 Nr. 1 des 1. StrRG, der im Wesentlichen dem § 23 StGB entsprach. Die Bestimmung der Übergangsfassung kannte jedoch nicht die ab dem 1.4.1970 gegebene Möglichkeit, Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren auszusetzen. 89

224

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

(4) Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt werden. Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen.“

Die heute geltende Vorschrift des § 56 StGB90 entspricht, abgesehen von seinem Abs. 2, der Vorschrift des § 23 StGB a. F. Abs. 2 des § 56 StGB wurde durch das 23. StrÄndG91 vom 13.4.1986 folgendermaßen modifiziert: „(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen.“

Eine Ergänzung des Abs. 2 des § 56 StGB brachte das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom Jahre 1994 mit der Einfügung eines Satzes 2, wonach bei der Prüfung besonderer Umstände „namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen“ ist. Aus den zitierten Gesetzestexten geht hervor, dass die Prämissen der Strafaussetzung durch das 1. StrRG tiefgreifend geändert wurden. Zunächst fällt auf, dass das 1. StrRG die formellen absoluten Ausschlussgründe aufgelöst und an die Stelle des sachlichen Ausschließungsgrundes „öffentliches Interesse“ den enger aufzufassenden Begriff „Verteidigung der Rechtsordnung“ gesetzt hat. Er wird in der Lehre92 und in der Rechtsprechung des BGH93 nicht als derselbe Begriff wie der des „öffentlichen Interesses“ angesehen. Er ist aber grundsätzlich derselbe wie in § 47 StGB.94 Durch die Verwendung des Begriffs „Verteidigung der Rechtsordnung“ anstelle des Ausdrucks „öffentliches Interesse“ soll die Versagung der hinsichtlich der Prognose an sich möglichen Strafaussetzung nicht an ganz andere, sondern vor allem an engere Voraussetzungen als bisher geknüpft werden.95 Ferner ist zu beachten, dass die Voraussetzung des „gesetzmäßigen und geordneten Lebens“ durch die Prämisse ersetzt wurde, dass der Verurteilte „keine Straftaten mehr begehen“ wird. Damit kam zum Ausdruck, dass Legalität, nicht Moralität gefordert wird.96 Bemerkenswert ist zudem, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Strafaussetzung bei der jeweiligen Höhe der Freiheitsstrafe nach der 90 91 92 93 94 95 96

Die neue Nummer geht auf das 2. StrRG zurück. BGBl. I, S. 393. LK-Gribbohm, § 56 RN 45, m. w. N. BGHSt. 24, S. 40. Schönke/Schröder/Stree (2001), § 56 RN 35. LK-Gribbohm, § 56 RN 45, m. w. N. Kunert, MDR 1969, S. 705 ff.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 225

Reform unterschiedlich sind. Wie sich aus § 56 Abs. 3 StGB (§ 23 StGB a. F.) ergibt, dominieren die spezialpräventiven Erwägungen nur im Bereich unter sechs Monaten. Demgegenüber können die Bedürfnisse der Verteidigung der Rechtsordnung bei den Freiheitsstrafen von 6 Monaten und mehr selbst die gewichtigsten spezialpräventiven Argumente wirkungslos machen.97 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die generalpräventiven Gesichtspunke bei den Freiheitsstrafen unter sechs Monaten völlig außer Acht bleiben sollen. Denn die generalpräventiven Bedürfnisse sind bei Freiheitsstrafen unter sechs Monaten schon dadurch befriedigt worden, dass aus Gründen der Verteidigung der Rechtsordnung nach § 47 StGB die kurze Freiheitsstrafe überhaupt verhängt wurde.98 Aus dem Umstand, dass eine kurze Freiheitsstrafe nach § 47 StGB unerlässlich ist, kann jedoch nicht automatisch auf eine ungünstige Prognose geschlossen werden.99 Schließlich ist darauf zu verweisen, dass das 1. StrRG bei Freiheitsstrafen von einem Jahr bis zu zwei Jahren eine besondere Prämisse einführte. Dementsprechend konnte eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr nach der ursprünglichen Fassung des § 23 Abs. 2 StGB a. F. nur dann zur Bewährung ausgesetzt werden, „wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen.“ Seit dem 1. StrRG hat sich die Auffassung des BGH sowie des Gesetzgebers hinsichtlich der Aussetzung von Freiheitsstrafen von einem bis zu zwei Jahren jedoch wesentlich geändert. Diese Entwicklung kennzeichnet den Übergang von restriktiver zu weitergehender Auslegung der Vorschrift des § 23 Abs. 2 StGB a. F. = § 56 StGB Abs. 2 StGB n. F. In seinem ersten Urteil vom 3.11.1970 zu dieser Vorschrift hatte der BGH die folgenden Leitsätze aufgestellt: 1. „Die Vorschrift des § 23 Abs. 2 StGB setzt voraus, daß außer der günstigen Sozialprognose (§ 23 Abs. 1 StGB) besondere Umstände sowohl in der Tat als auch in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen.“ 2. „§ 23 Abs. 2 StGB ist eine Ausnahmevorschrift, die namentlich die Berücksichtigung einer Konfliktslage ermöglichen soll.“100

Der BGH stützte sich dabei auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Die späteren Entscheidungen des BGH beziehen sich auf dieses Urteil. Die Umschreibung der besonderen Umstände in der Rechtsprechung der BGH aus dem Jahre 1972–1973 lässt sich nach Hausen folgendermaßen zusammenfassen: 97

Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 149. Ebenda. 99 BGHSt. 24, S. 164, LK-Gribbohm, § 56 RN 24; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 56 RN 33; Fischer/Tröndle (2006), § 56 RN 12; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 56 RN 33. 100 BGHSt. 24, S. 3 = NJW 1971, S. 151 = MDR 1971, S. 146. 98

226

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

„Hat ein Täter so schweres Unrecht begangen und so schwere Schuld auf sich geladen, daß eine solche Freiheitsstrafe verhängt werden muß, so ist die Aussetzung grundsätzlich unangebracht. Die vom Gesetz verlangten besonderen Umstände betreffen vorwiegend einmalige Taten, die in einer ganz besonderen Konfliktslage begangen worden sind. Der Gesetzgeber hat nur an außergewöhnliche Fälle gedacht, an Straftaten, die trotz ihres hohen Unrechts- und Schuldgehalts wegen der sie begleitenden und der in der Täterpersönlichkeit liegenden außerordentlichen Umstände insgesamt betrachtet noch in einem so milden Licht erscheinen, daß die Strafaussetzung ohne Gefährdung der allgemeinen Interessen verantwortet werden kann.“101

Schon die vom BGH verwendeten Formulierungen wie z. B. „außergewöhnlich gelagerte Fälle“,102 „ungewöhnliche Ausnahmefälle“,103 „außergewöhnliche Umstände“,104 weisen auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift des § 23 Abs. 2 StGB a. F. = § 56 Abs. 2 StGB n. F. hin. Daher kann es nicht verwundern, dass die Gerichte die Freiheitsstrafen über einem Jahr zunächst sehr selten zur Bewährung ausgesetzt haben. Die Tabelle 7 zeigt, dass ungefähr 10% der Freiheitsstrafen aus diesem Bereich zur Bewährung ausgesetzt wurden. Diese strenge Auslegung der Vorschrift wurde jedoch vom BGH nicht lange durchgehalten. Schon in einem Urteil aus dem Jahre 1973 lässt sich eine Lockerung seiner Rechtsprechung feststellen. So führt der BGH in diesem Urteil aus, dass „sich in aller Regel die Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Täters nicht scharf voneinander trennen lassen, weil einzelne Tatfaktoren zugleich die Täterpersönlichkeit beleuchten können, und umgekehrt.“105 Sie sollen daher in eine Gesamtbewertung miteinbezogen werden.106 Dies ist ein deutlicher Unterschied zu dem ersten Urteil des BGH107 zu der Vorschrift des § 23 Abs. 2 StGB a. F. aus dem Jahre 1970, in dem die strenge Kumulativität beider Kriterien betont wurde. Dieser Wandel der Rechtsprechung ist deshalb wichtig, weil viele Strafaussetzungen gerade wegen der Nichterfüllung dieser Voraussetzung nicht bewilligt wurden.108

101 Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 35. 102 BGH, Urteil vom 17.12.1970, 4 StR 444/70 nach Wahl, BewHi 1972, S. 225. 103 BGH, Urteil vom 3.11.1971, 2 StR 461/71 nach Wahl, BewHi 1972, S. 226. 104 BGH, Urteil vom 7.6.1972, 3 StR 80/72 nach Wahl, BewHi 1972, S. 231. 105 BGH, Urteil vom 20.12.1973, 4 StR 565/73, DRiZ 1974, S. 62. 106 Ebenda. 107 BGHSt. 24, S. 3. 108 Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 37.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 227 Tabelle 7 Der Anteil der Freiheitsstrafen, die in der BRD in den Jahren 1970–1974 zur Bewährung ausgesetzt wurden Jahr

Bis sechs Monate

> 6 bis 9 M.

> 9 M. bis 1 J.

> 1 J. bis 2 J.

1970

57,6

63,8

56,4

10,0

1971

59,7

62,3

59,5

13,1

1972

64,2

61,8

59,0

11,4

1973

67,9

64,3

61,5

10,4

1974

69,7

64,3

61,9

10,0

Quelle: Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 54.

Noch weiter geht der BGH im Urteil vom 29.4.1976.109 Zwar betont er auch in dieser Entscheidung, dass die Strafaussetzung bei Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr grundsätzlich unangebracht ist, stellt aber zugleich klar, dass die Strafaussetzung nicht auf einmalige Taten beschränkt ist, die in einer ganz besonderen Konfliktlage begangen worden sind. Noch eindeutiger wird diese Auffassung in einem Urteil vom 13.1.1977110 ausgeführt: „Aus dem Gesetz ergibt sich nicht, daß die Strafaussetzung nach § 56 II StGB auf Fälle ganz besonderer Konfliktslagen beschränkt sei. (. . .). Die Abgrenzungsformel der ‚besonderen Umstände‘ besagt eindeutig nur, daß ‚gewöhnliche‘, durchschnittliche, allgemeine, nur einfache Strafmilderungsgründe eine Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach § 56 II StGB nicht rechtfertigen (. . .). Sie kommt nur in Betracht, wenn mildernde Umstände vorliegen, die von besonderem Gewicht sind, weil sie Ausnahmecharakter haben, dem Fall zugunsten des Täters den Stempel des Außergewöhnlichen aufdrücken (. . .).“111

Diese Entwicklung der Rechtsprechung im Laufe der 70er Jahre beinhaltet, wie Dünkel zutreffend bemerkte, „noch keine vollständige Aufgabe der Forderung, es müsse sich um einen besonderen Ausnahmefall handeln, sondern lediglich eine Abmilderung der besonders strengen Voraussetzungen des Gesetzes.“112 Erst in den achtziger Jahren hat der BGH seine vorangehende Rechtsprechung wesentlich verändert.113 In zwei Beschlüssen aus 109 110 111 112 113

NJW 1976, S. 1413. NJW 1977, S. 639. Ebenso BGH DRiZ 1979, S. 187; BGHSt. 29, S. 319. Dünkel, ZStW 95 (1985), S. 1052. LK-Gribbohm, § 56 RN 32, m. w. N.

228

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

dem Jahre 1982114 verlangt er nicht mehr, dass Umstände vorliegen müssen, die der Tat „Ausnahmecharakter“ verleihen und dem Fall zugunsten des Angeklagten den Stempel „des Außergewöhnlichen“ aufdrücken. Auch die Beschränkung auf Ausnahmefälle wurde aufgegeben.115 Mit der Neufassung des § 56 Abs. 2 StGB durch das 23. StrÄndG von 1986 hat auch der Gesetzgeber der neueren Rechtsprechung des BGH Rechnung getragen.116 Danach müssen nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Täters besondere Umstände vorliegen. Obwohl auch die neue Formel zum Ausdruck bringen will, dass im Bereich von Freiheitsstrafen über einem Jahr bis zu zwei Jahren die Aussetzung an engere Voraussetzungen gebunden sein soll als bei geringeren Strafen,117 hat die Praxis das Merkmal der „besonderen Umstände“ deutlich relativiert und es dadurch weitgehend der ihm ursprünglich zugedachten Begrenzungsfunktion entkleidet.118 Nach der nunmehr gesicherten, ständigen Rechtsprechung des BGH sind besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind, die eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts der Taten, wie er sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen.119 Als besondere Milderungsgründe werden z. B. schon Schuldeinsicht und Reue,120 fortgeschrittenes Lebensalter des Verurteilten,121 schwere Erkrankung122 oder berufliche Nachteile123 anerkannt. Auch kann sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 56 Abs. 2 StGB aus dem Zusammentreffen (Häufung) durchschnittlicher (normaler) Milderungsgründe ergeben.124

114

Beschluss vom 24. Juni 1982, StV 1982, S. 419; Beschluss vom 6. Oktober 1982, StV 1983, S. 18. 115 BGH StV 1982, S. 570. 116 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 156. 117 Ebenda, RN 157. 118 LK-Gribbohm, vor § 56 RN 35. 119 BGH NStZ 1986, S. 27; BGHR StGB 56 Abs. 2 Umstände, besondere 1 und 6; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 158. 120 BGHR § 56 Abs. 2, Umstände, besondere 3. 121 BGHR § 56 Abs. 2, Umstände, besondere 4. 122 BGH StV 1995, S. 132. 123 BGH NStZ 1987, S. 172; BGH wistra 1990, S. 190. 124 NJW 1983, S. 1624; NStZ 1983, S. 118; 1984, S. 360–361; 1991, S. 581; NStZ/D 1990, S. 579; StV 1982, S. 570; 1983, S. 503; 1984, S. 376; 1992, S. 13; 1996, S. 20; 1998, S. 260.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 229

3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung Bevor das Rechtsinstitut der Strafaussetzung in das StGB eingeführt wurde, erfolgte die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafen in der Form eines Gnadenaktes, der nach der Verhängung der Freiheitsstrafe vorgenommen wurde. Verhängung der Strafe und Aussetzung der Strafe erfolgten mithin in zwei unabhängigen Verfahren. Die Rechtsnatur beider Entscheidungen war unterschiedlich. Erst nach der Übertragung der Befugnisse zur Gewährung der Vergünstigung der Aussetzung auf die Gerichte war ein und dieselbe Entscheidungsinstanz bevollmächtigt, beide Entscheidungen zu treffen. Aus der Rechtsnatur beider Akte ging jedoch klar hervor, dass das Gericht zunächst eine schuldangemessene Freiheitsstrafe bemessen und erst dann als Beauftragte des Trägers des Gnadenrechts die Entscheidung über die bedingte Strafaussetzung treffen sollte. Trotzdem war es umstritten, ob das Gericht bei der Bemessung der Freiheitsstrafe auf eine gleichzeitig bewilligte Bewährungsfrist in der Weise Rücksicht nehmen durfte, dass es unter der Perspektive der Aussetzung der Strafe eine höhere Strafe festsetzte, als es dies sonst für angemessen erachtet hätte.125 Das 3. StrÄndG von 1953,126 das die Strafaussetzung im Jahre 1953 in das StGB einführte, hat diesen Streit nicht aufgehoben. Daher mussten Rechtsprechung und Literatur diese Lücke füllen. So hat Jagusch127 in der bedingten Strafaussetzung eine selbstständige mildere Art der Strafe gesehen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen „Vollstreckungsstrafe“ und „Bewährungsstrafe“ stellte er fest, dass die bedingte Strafaussetzung in der Stufenfolge jeweils leichter sei als die entsprechende Art der Strafe, die vollstreckt werde. Die Entscheidung über die Aussetzung ändere daher gleichzeitig die Art der Strafe. Dies bedeute, „daß SzB, solange sie sich hinsichtlich der Strafdrohung innerhalb derselben Freiheitsstrafeart hält (. . .), nach § 358 II StPO keine Strafänderung zum Nachteil des Angeklagten ist.“128 Diese Auffassung fand zunächst Beifall, wurde jedoch von Schrifttum und Rechtsprechung bald überwiegend abgelehnt.129 Die herrschende Meinung hat in der Strafaussetzung keine selbstständige Strafart gesehen, sondern nur „eine Modifikation der gewöhnlichen Freiheitsstrafe hinsichtlich der Vollstreckung“130. Diese Ansicht fand Unterstützung in den Vorschriften über die gerichtsinterne Ab125 Grau/Schäfer, Das preußische Gnadenrecht, S. 280, m. w. N. Dafür: Eb. Schmidt, ZStW 64 (1952), S. 9. 126 BGBl. I, S. 735. 127 Jagusch, JZ 1953, S. 688. 128 Ebenda, S. 690. „SzB“ bedeutet: „Strafaussetzung zur Bewährung“. 129 Bruns, GA 1956, S. 200, m. w. N.; Armin Kaufmann, JZ 1958, S. 297, m. w. N. 130 Bruns, GA 1956, S. 201, m. w. N.

230

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

stimmung. Der 1953 durch das 3. StrÄndG eingefügte Absatz 4 des § 263 StPO zwang zur gesonderten Abstimmung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung.131 Die von der herrschenden Lehre vertretene Auffassung über das Wesen der Strafaussetzung hat sich auch in der Praxis durchgesetzt. Nach anfänglich farblosen Formulierungen hat der BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1954,132 dessen Hintergrund die Frage nach der Zulässigkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung war, festgestellt: „Das geltende Gesetz hat aber das hergebrachte Strafensystem durch den Einbau der Bewährungsstrafe noch nicht von Grund auf geändert. Es hat eine Zwischenlösung geschaffen, wie nicht nur die Regelung der Gesamtstrafenbildung, sondern auch zB die starre Beschränkung der Strafaussetzung nach dem Strafmaß und die Bestimmung des § 263 Abs. 4 StPO über das Mehrheitsverhältnis bei der Abstimmung zeigen. Die Strafaussetzung zur Bewährung in der Gestalt, wie sie das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz eingeführt hat, lässt das System der Freiheitsstrafen unberührt. Sie gibt nur die Möglichkeit, in einem gewissen Rahmen die Vollstreckung kürzerer Freiheitsstrafen auszusetzen und sie zu erlassen, wenn sich der Verurteilte durch gute Führung während der Bewährungszeit das verdient hat.“133

Die Ablehnung der selbstständigen Natur der Strafaussetzung zur Bewährung als eine besondere Strafart wiederholt sich auch in nachfolgenden Urteilen des BGH. Im Kontext des Verhältnisses zwischen Bewährungsstrafe und Verschlechterungsverbot hat der BGH in einem Urteil aus dem Jahre 1955 ausgeführt: „Die Anordnung über die Strafaussetzung zur Bewährung hat bei Prüfung der Frage einer etwaigen Schlechterstellung außer Acht zu bleiben. Die Strafaussetzungsentscheidung (§§ 23 f. StGB, §§ 20 f. JGG) betrifft die Vollstreckung, nicht aber die Strafe, wie sie § 358 II S. 1 StPO vor Augen hat. Zudem kann die Aussetzung widerrufen werden (§ 25 II StGB; § 26 JGG).“134

Die Erwägungen über die Rechtsnatur der Strafaussetzung begleiteten Hinweise über das richtige Vorgehen bei der Festsetzung der schuldangemessenen Strafe sowie der Gewährung von Strafaussetzung. Im Jahre 1956 schrieb Bruns mit Verweis auf ein Urteil des BGH aus dem Jahre 1953135: „Die Bewilligung oder Ablehnung der StrA ist die letzte Strafzumessungsentscheidung, wenn die Strafhöhe bereits feststeht. Bei der Festsetzung der angemes131 Die Vorschrift des § 263 Abs. 4 StPO ist durch Art. 21 Nr. 67 Buchst. c EGStGB aufgehoben worden. Trotzdem ist allgemein anerkannt, dass über jede einzelne Rechtsfolge gesondert abzustimmen ist. Siehe dazu: Gollwitzer, in: Löwe/ Rosenberg, § 263 RN 11; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 263 RN 8. 132 BGHSt. 7, S. 180. 133 BGHSt. 7, S. 184. 134 JZ 1956, S. 101. 135 NJW 1954, S. 113.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 231 senen und gerechten Strafe darf sich der Richter nicht von dem Gedanken an die StrA beeinflussen lassen; er darf die Strafe weder höher bemessen, als er es getan haben würde, wenn ihm die StrA nicht zur Verfügung stünde; noch darf er, nur um die Voraussetzung der StrA zu schaffen, unter das schuldangemessene Strafmaß heruntergehen.“136

Dieser Methode blieb der BGH treu, wobei die Zahl der aufgehobenen Urteile darauf hinweist, dass die Gerichte der unteren Instanz diese Vorgehensweise nicht selten verkannt haben. So führt der BGH in drei Entscheidungen aus den 80er Jahren aus: „Diese Ausführungen lassen es nicht als ausgeschlossen erscheinen, daß der Tatrichter in rechtlich fehlsamer Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung im Sinne der Findung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) vermengt. Sie können den Eindruck erwecken, daß Freiheitsstrafen von nicht mehr als zwei Jahren nur deshalb ausgesprochen worden sind, damit die Vollstreckung nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden konnte; das aber wäre rechtlich zu beanstanden (BGH, Urt. vom 30. August 1978 – 2 StR 379/78). Der Tatrichter hat vielmehr zunächst die schuldangemessene Strafe zu finden; erst wenn sich ergibt, daß die der Schuld entsprechende Strafe innerhalb der Grenzen des § 56 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB liegt, ist Raum für die Prüfung, ob auch die sonstigen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung gegeben sind.“137 „Allerdings könnten einige Urteilsstellen den Anschein erwecken, als ob die Strafkammer Gesichtspunkte der Strafzumessung im Sinne der Findung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Strafaussetzung zur Bewährung vermengt hätte. Wenn sie auf eine ein Jahr nicht übersteigende Freiheitsstrafe nur deshalb erkannt hätte, um deren Vollstreckung nach § 56 Abs. 1 StGB zur Bewährung aussetzen zu können, wäre dies rechtlich zu beanstanden. Der Tatrichter hat nämlich zunächst die schuldangemessene Strafe zu finden. Erst wenn sich ergibt, daß sie innerhalb der Grenzen des § 56 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB liegt, ist Raum für die Prüfung, ob auch die sonstigen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung gegeben sind (BGHSt 29, 319, 321 m. zust. Anm. Bruns JR 1981, 335 ff.).“138 „Zwar erscheint im vorliegenden Fall nicht etwa die Gefahr begründet, die StrK habe den ihr für die schuldangemessene Strafe gegebenen Spielraum überschritten (vgl. BGHSt 29, 319, 321, 322). Fehlerhaft ist aber die von ihr vorgenommene Vermengung der für die Findung einer schuldangemessenen Strafe herangezogenen Gesichtspunkte mit den für Fragen der Strafzumessung maßgeblichen (BGH, aaO, S. 321; BGHSt 32, 60, 65). Bei der Straffindung haben Erwägungen zur Strafaussetzung außer Betracht zu bleiben. Zwar können im Einzelfall dieselben Schuldgesichtspunkte sowohl für die Festsetzung der Strafe (§ 46 StGB) wie für die Beurteilung der Strafaussetzungsstrafe (§ 56 II) von Bedeutung sein. Das 136 Bruns, GA 1956, S. 203 mit Verweis auf BGH NJW 1954, S. 38. „StrA“ bedeutet: „Strafaussetzung“. 137 Urteil vom 17.9.1980, BGHSt. 29, S. 321. 138 Urteil vom 24.8.1983, BGHSt. 32, S. 65.

232

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

ändert nichts daran, daß der Strafzumessungsvorgang und die Entscheidung über eine Strafaussetzung getrennt voneinander stattzufinden haben.“139

Auch in 90er Jahren musste der BGH die „richtige“ Methode des Strafzumessungsvorgangs bei den Gerichten in Erinnerung rufen: „. . . Die Verhängung der Mindeststrafe kann hier nämlich schon deshalb keinen Bestand haben, weil die StrK dabei eine rechtlich fehlerhafte Erwägung zugrundegelegt hat. Sie hat sich nämlich ‚von der Überlegung leiten lassen, noch die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung zu eröffnen und daher den vorhandenen Spielraum zugunsten des Angekl. voll ausgeschöpft‘. Damit hat das LG Gesichtspunkte der Strafzumessung im Sinne der Ermittlung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung vermengt. Die Urteilsausführungen ergeben, daß eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als 2 Jahren im wesentlichen deshalb ausgesprochen worden ist, damit die Aussetzung zur Bewährung nach § 56 II StGB möglich werde. Dies ist rechtlich zu beanstanden (BGHSt 29, 319, 321). Der Tatrichter hat zunächst die schuldangemessene Strafe zu finden. Von ihrer Bedeutung, gerechter Schuldausgleich zu sein, darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten lösen (BGHSt 24, 132, 134). Erst wenn sich ergibt, daß die der Schuld entsprechende Strafe innerhalb der Grenzen des § 56 I und II StGB liegt, ist Raum für die Prüfung, ob auch die sonstigen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung gegeben sind.“140 „Es ist dem Tatrichter versagt, Gesichtspunkte der Strafzumessung im Sinne der Findung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Strafaussetzung zur Bewährung zu vermengen (vgl. BGHSt 29, 319, 321; BGHR StGB §§ 46 I – Begründung 19). Die Wendung, eine ‚zwingend zu vollstreckende Gesamtfreiheitsstrafe‘ erscheine ‚der Kammer bei Beachtung aller Strafzwecke nicht tunlich‘, begründet die Besorgnis, daß das LG sich bei der angesichts der Höhe der Einzelschäden und des Gesamtschadens äußerst milden Sanktionierung gerade von solchen verbotenen Erwägungen ausschlaggebend leiten ließ.“141

Nach der gesetzlichen Konstruktion handelt es sich auch heute nach der herrschenden Meinung bei der Strafaussetzung nicht etwa um eine eigenständige Sanktionsform, sondern um eine bloße Modifikation der Strafvollstreckung.142 Die Eigenständigkeit der Strafaussetzung wird nur aus kriminalpolitischer Sicht bejaht.143 Die Festsetzung der Strafhöhe hat sich somit ausschließlich an den in § 46 StGB angegebenen Maßstäben zu orientieren.144 Der Richter muss zunächst die Voraussetzungen für die Verurteilung 139

Beschluss vom 15.3.1988, NStZ 1988, S. 309. Urteil vom 21.5.1992, NStZ 1992, S. 489. 141 Urteil vom 19.12.2000, NStZ 2001, S. 311. 142 BGHSt. 24, S. 43; BGHSt. 31, S. 28; Dünkel, ZStW 95 (1983), S. 1046; Schönke/Schröder/Stree (2001), § 56 RN 4; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 126; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 145; LK-Gribbohm, § 56 RN 1. 143 So Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 126, m. w. N. 144 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 835. 140

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 233

zu einer Freiheitsstrafe prüfen und eventuell bejahen, und erst danach ist über die Aussetzung dieser Freiheitsstrafe zu entscheiden.145 Nach Eisenberg ist aber rechtstatsächlich nicht zu verkennen, dass „in der Praxis verschiedentlich zunächst die Frage der Vollstreckungsaussetzung erörtert und dann erst die Strafe bemessen wird.“146 Auch Kürzinger geht davon aus, dass die Gerichtspraxis die Strafaussetzung zur Bewährung als eigenständige Sanktionsform handhabt.147 Dazu Ostendorf: „Im Gerichtssaal – anders überwiegend in den schriftlichen Urteilsgründen – wird vielfach von der Vorgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach die Strafhöhe der Freiheitsstrafe unabhängig von einer Strafaussetzung festgelegt werden soll (s. BGHSt 29, 321; BGH NStZ 1988, 309; BGH StV 1996, 263; BGH NStZ 2001, 311), abgewichen. Die entscheidende Frage lautet, soll/kann noch Bewährung gegeben werden oder nicht.“148

4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung Das Begnadigungsrecht sah einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen vor, die die Justizbehörde (bzw. das Gericht) dem Verurteilten bei der bedingten Begnadigung (Strafaussetzung) auferlegen konnte.149 Als Beispiel können die preußischen Allgemeinen Verfügungen von 1912150 und 1917151 dienen, die neben der Schadenswiedergutmachung Unterbringung in einer geeigneten Lehr- oder Dienststelle, Fürsorgeerziehung bzw. sonstige Maßnahmen des Vormundschaftsgerichts und Schutzaufsicht erwähnten. Beide Verfügungen sahen jedoch einen geschlossenen Katalog von Auflagen vor, so dass der Justizbehörde (bzw. dem Gericht) allein die im Gesetz erwähnten Auflagen zur Verfügung standen. In Preußen sah erst die Allgemeine Verfügung vom 19. Oktober 1920 einen offenen Katalog von Maßnahmen vor, die das Gericht dem Verurteilten „in geeigneten Fällen“ gleich bei der Strafaussetzung auferlegen oder von deren Erfüllung die Aussetzung der Strafvollstreckung abhängig gemacht werden konnte.152 In diesem Fall musste der Verurteilte die Auflagen zunächst erfüllen, damit die Aussetzung der Strafvollstreckung überhaupt in Betracht kommen konnte. § 3 der AV 145

Ostendorf, NK-StGB, vor § 56 RN 1. Eisenberg, Kriminologie, S. 512. 147 Kürzinger, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 1868. 148 Ostendorf, NK-StGB, vor § 56 RN 5. 149 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 142–143. 150 JMBl. 1912, S. 360. 151 JMBl. 1917, S. 86. 152 Zu diesen beiden Möglichkeiten der Anordnung von Auflagen siehe Grau/ Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, S. 291–292. 146

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

von 1920 erwähnte folgende Auflagen: Unterbringung in einer passenden Lehr- oder Dienststelle, Fürsorgeerziehung oder sonstige Maßnahmen des Vormundschaftsgerichts und Unterstellung unter die Schutzaufsicht einer Vertrauensstelle (Jugendgerichtshilfe, Fürsorger, Fürsorgeausschuss, Kreiswohlfahrtsamt, Jugendamt, Fürsorgeverein, Arbeiterkolonie, Gefängnisverein, Trinkerfürsorgestelle, Berufsorganisation usw.). Der Vorschrift des § 3 der AV von 1920 lagen nach Grau und Schäfer zwei Gedanken zugrunde: „Zunächst und in erster Linie der Gedanke, daß die Gewährung bed. Aussetzung in vielen Fällen vom Standpunkte der Spezialprävention aus betrachtet nicht nur zwecklos, sondern für den Verurteilten geradezu schädlich sein kann, wenn nicht zugleich besondere Maßnahmen ergriffen werden, um dem Verurteilten zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu verhelfen und künftige Rückfälle zu verhüten.“153 „Daneben trägt § 3 der AV. dem Gedanken Rechnung, daß in manchen Fällen vom Standpunkte der Spezial- wie der Generalprävention aus die Nichtvollstreckung der Strafe nur dann gutgeheißen werden kann, wenn statt der Verbüßung der Strafe von dem Verurteilten eine andere Leistung verlangt wird, die er als Übel empfindet.“154

Es ist jedoch zu beachten, wie oben hervorgehoben wurde, dass § 3 der AV von 1920 keinen geschlossenen Katalog von Maßnahmen vorsah. Außer § 3 der AV von 1920 und § 3b der AV von 1920 (die Auflage der Zahlung einer Geldbuße155) standen dem Gericht zur Verfügung: Die Auflage der Leistung freier Arbeit für Rechnung der Staatskasse156; die Verpflichtung zur Wiedergutmachung des durch die Straftat angerichteten Schadens; die Verpflichtung zur Abbitte bei Ehrenkränkungen, Misshandlungen und ähnlichen Straftaten; die Verpflichtung zur Erfüllung solcher Verbindlichkeiten, deren Nichterfüllung mit Strafe bedroht ist (z. B. die Auflage, seine gesetzlichen Unterhaltspflichten zu erfüllen); das Gebot sich des Alkohols zu enthalten; das Verbot, insbesondere bei Jugendlichen, Veranstaltungen zu besuchen, deren Besuch dem Verurteilten nachteilig sein kann; und die Verpflichtung zur Anzeige von Änderungen des Aufenthaltsortes.157 Die Lehre forderte eine weitgehende Anwendung dieser Mittel. Nach Noetzel sollte „die bedingte Strafaussetzung, mindestens soweit sie die ganze Strafe umfasst, überhaupt nicht bewilligt werden, ohne daß der Verurteilte gleichzeitig unter Schutzaufsicht gestellt wird. Seine freiwillige Unterstellung unter 153

Ebenda, S. 285. Ebenda, S. 285. 155 Diese Auflage erschien zum ersten Mal erst in der Fassung der Allgemeinen Verfügung vom 16.6.1921 (JMBl. S. 349). 156 Diese Auflage sah Allgemeine Verfügung vom 29.6.1921 über Vollstreckung der Geldstrafen vor. JMBl. S. 368. 157 Grau/Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, S. 285 ff. 154

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 235

eine solche Aufsicht müsste die regelmäßige Bedingung für die Bewilligung der bedingten Strafaussetzung bilden.“158 Ebenfalls nach Hellwig mussten bei der bedingten Begnadigung „nach Möglichkeit in allen geeigneten Fällen dem Verurteilten bestimmte Auflagen wie Schadenersatz an den Verletzten usw. gemacht werden, (. . .).“159 Die Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935 (GnadenO von 1935) knüpfte an die preußischen AV von 1920 auch im Bereich der Auflagen an. Der offene Katalog der Maßnahmen des § 22 Abs. 1 der GnadenO von 1935 wiederholte fast wörtlich die Formulierungen des § 3 der preußischen AV von 1920. Die Aussetzung konnte jedoch nicht vom Eintritt in den Freiwilligen Arbeitsdienst abhängig gemacht werden, „weil eine derartige Auflage mit der Freiwilligkeit der Dienstleistung nicht vereinbar ist“ (§ 22 Abs. 1 der GnadenO von 1935). Andererseits regelte die GnadenO von 1935 ausdrücklich die Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens. Hatte der Verurteilte einen Dritten geschädigt, so sollte ihm nach § 22 Abs. 2 der GnadenO von 1935 „in der Regel bedingte Strafaussetzung nur unter der Auflage gewährt werden, daß er den angerichteten Schaden nach besten Kräften wieder gutmacht“. Bei Minderjährigen konnte die Strafvollstreckung auch unter der Bedingung ausgesetzt werden, dass der Verurteilte aus der Fürsorge- oder Anstaltserziehung nicht entwich (§ 22 Abs. 3 der GnadenO von 1935). Auch sah die GnadenO von 1935 die Möglichkeit der Auferlegung einer Geldbuße zugunsten der Staatskasse vor (§ 23 Abs. 1 der GnadenO von 1935). Das Modell der Auflagen im StGB knüpfte an die Kataloge der Maßnahmen an, die schon im Begnadigungsrecht entwickelt wurden. Die ursprünglichen Versionen des § 24 StGB a. F. und des § 24a StGB a. F. lauteten: § 24 StGB „Das Gericht macht dem Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit Auflagen. Insbesondere kann es ihm auferlegen, 1. den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, 2. Weisungen zu befolgen, die sich auf Aufenthaltsort, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit beziehen, 3. sich einer ärztlichen Behandlung oder Entziehungskur zu unterziehen, 4. Unterhaltspflichten nachzukommen, 5. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlen oder 6. sich der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen. 158 Noetzel, in: Elster/Lingemann (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften, Erster Band, S. 163. 159 Hellwig, Die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung in Preußen, S. 10.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Von der Anordnung der Auflagen kann abgesehen werden, wenn es zu erwarten ist, daß der Verurteilte auch ohne sie ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen, vor allem den durch die Tat verursachten Schaden nach Kräften wiedergutmachen wird. Der Verurteilte darf durch eine Auflage nicht daran gehindert werden, für ihn günstigere Möglichkeiten der Ausbildung oder Arbeit wahrzunehmen. Entscheidungen nach den Absätzen 1 und 2 kann das Gericht auch nachträglich treffen, ändern oder aufheben. (. . .).“ § 24a StGB „Der Bewährungshelfer (§ 24 Abs. 1 Nr. 6) wird von dem Gericht bestellt. Er überwacht nach dessen Weisungen während der Bewährungszeit die Lebensführung des Verurteilten und die Erfüllung der Auflagen.“

Beginnt man die Analyse bei § 24 StGB a. F., so fällt zunächst auf, dass das ursprüngliche Modell der Auflagen im StGB im Gegensatz zum Begnadigungsrecht eine Muss-Konstruktion beinhaltete: § 24 StGB a. F. verwendete das Wort „macht“, so dass kein Zweifel hinsichtlich des obligatorischen Charakters der Vorschrift bestehen konnte. Das Gericht durfte nur dann von der Anwendung der Auflagen absehen, wenn ein „gesetzmäßiges“ und „geordnetes“ Leben des Verurteilten ohne Auferlegung von Auflagen zu erwarten war und eine Aussicht auf Wiedergutmachung des angerichteten Schadens bestand. Es ist indes offenkundig, für welches Modell der Strafaussetzung sich der Gesetzgeber im Jahre 1953 entschieden hat: Das Modell, das den Verurteilten nicht nur unter Probe stellt, sondern ihm in der Regel bestimmte Auflagen auferlegt. Dafür sprechen auch die empirischen Untersuchungen, die die Praxis der Strafaussetzung erforscht haben. Nach einer Untersuchung von Sydow, die den Zeitraum 1953–1955 umfasste, haben die Gerichte nur in 34,6% der Fälle keine Auflagen gemacht.160 Zu den häufigsten Auflagen gehörten die Geldbuße (33,5% der Fälle) und die Schadenswiedergutmachung (21,8% der Fälle).161 Die Untersuchung von Mattheis (Zeitraum 1954–1955) hat gezeigt, dass die Gerichte nur in 14,4% der Fälle von der Auferlegung der Auflagen absahen.162 Die Geldbuße wurde in 60,7% der Fälle verhängt, dagegen verpflichteten die Gerichte in 10,9% der Fälle die Verurteilten zur Erfüllung der Unterhaltspflichten.163 Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt Zugehör, dessen Untersuchung die Jahre 1956–1957 umfasste: 11,2% der Fälle – keine Auflage; 64,0% der Fälle – Geldbuße; 19,8% der Fälle – Schadenswiedergutmachung.164 Relativ selten dagegen bestellten die Gerichte einen Bewährungshelfer: 1,6% der Fälle bei Sy160

Sydow, Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung, S. 43. Ebenda. 162 Mattheis, Die Strafaussetzung zur Bewährung im Amtsgerichtsbezirk Gelsenkirchen-Buer, S. 53–54. 163 Ebenda. 164 Zugehör, Die Strafaussetzung zur Bewährung in der Praxis, S. 90–91. 161

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 237

dow.165 Diese Lage änderte sich auch in den 60er Jahren nicht. Nach Göppinger waren von den im Jahre 1966 nach allgemeinem Strafrecht zu Gefängnis- oder Haftstrafe mit Bewährung Verurteilten rund 2,4% der Verurteilten der Aufsicht des Bewährungshelfers unterstellt worden.166 Ähnliche Anteile stellte Kaiser für das Jahr 1965 und 1968 fest.167 Die Bedeutung der Bewährungshilfe für Erwachsene wurde erst durch das 1. StrRG betont.168 Dieses Gesetz änderte jedoch nicht nur die Voraussetzungen für die Bestellung eines Bewährungshelfers, es gab den aufgrund der Strafaussetzung zur Bewährung zulässigen gerichtlichen Maßnahmen eine ganz neue Gestalt, die im Wesentlichen bis heute gilt. Daher sollen die neuen Vorschriften vollständig zitiert werden: § 24a StGB „(1) Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen erteilen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Dabei dürfen an den Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. (2) Das Gericht kann dem Verurteilten auferlegen 1. nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, 2. einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen oder 3. sonst gemeinnützige Leistungen zu erbringen. (3) Erbietet sich der Verurteilte zu angemessenen Leistungen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, so sieht das Gericht in der Regel von Auflagen vorläufig ab, wenn die Erfüllung des Anerbietens zu erwarten ist.“ § 24b StGB „(1) Das Gericht erteilt dem Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit Weisungen, wenn er dieser Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen. Dabei dürfen an die Lebensführung des Verurteilten keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden. (2) Das Gericht kann den Verurteilten namentlich anweisen, 1. Anordnungen zu befolgen, die sich auf Aufenthalt, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit oder auf die Ordnung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse beziehen, 2. sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht oder einer anderen Stelle zu melden, 3. mit bestimmten Personen oder mit Personen einer bestimmten Gruppe, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen, 165

Sydow, Erfolg und Mißerfolg der Strafaussetzung zur Bewährung, S. 43. Göppinger, Kriminologie, S. 281. 167 Kaiser, Kriminologie (1996), S. 1004. 168 Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 309. 166

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

4. bestimmte Gegenstände, die ihm Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten können, nicht zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen oder 5. Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen. (3) Die Weisung, 1. sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen oder 2. in einem geeigneten Heim oder einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen, darf nur mit Einwilligung des Verurteilten erteilt werden. (4) Macht der Verurteilte entsprechende Zusagen für seine künftige Lebensführung, so sieht das Gericht in der Regel von Weisungen vorläufig ab, wenn die Einhaltung der Zusagen zu erwarten ist.“

Wie oben bemerkt wurde, gelten die Vorschriften des § 23a StGB a. F. und des § 23b StGB a. F. bis heute in fast unveränderter Gestalt. Außer der Änderung der Paragraphennummern (seit dem 2. StrRG von 1969: § 56b StGB und § 56c StGB) wurden allein § 56b Abs. 2 StGB und § 56c Abs. 3 StGB geändert. In § 56b StGB Abs. 2 wurde die Möglichkeit eingeführt, einen Geldbetrag zugunsten der Staatskasse anzuordnen, dagegen wurde die Auflage zur Zahlung eines Geldbetrages zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung davon abhängig gemacht, ob „dies im Hinblick auf die Tat und die Persönlichkeit des Täters angebracht ist.“ Außerdem hat das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1999169 der Wiedergutmachung gegenüber den übrigen Geldauflagen einen relativen Vorrang eingeräumt, indem es den Gerichten vorgeschrieben hat, von Geldauflagen nur dann Gebrauch zu machen, „soweit die Erfüllung der Auflage einer Wiedergutmachung des Schadens nicht entgegensteht“ (§ 56b Abs. 2 S. 2 StGB). Geringeren Änderungen unterlag dagegen die Vorschrift über Weisungen: Nach dem neuen § 56c Abs. 3 StGB war die Einwilligung des Verurteilten in eine Heilbehandlung nur dann erforderlich, wenn die Heilbehandlung „mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist.“ Bei der Analyse des § 24a StGB a. F. fällt zunächst auf, dass das 1. StrRG im Gegensatz zum 3. StrÄndG von 1953 eine strenge Unterscheidung zwischen Auflagen (§ 24a StGB a. F.) und Weisungen (§ 24b StGB a. F.) einführte. Den Auflagen wurde dabei ein ausgesprochen repressiver Charakter zugesprochen – sie sollten der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen, und zwar dann, wenn die Auflagen „in der Rechtsgemeinschaft ein Gefühl der Befriedigung darüber hervorrufen, daß die vom Täter verursachte Rechtsverletzung nicht ohne Sanktion geblieben ist.“170 Damit sollte eine Sühnemöglichkeit für das begangene Unrecht geschaffen wer169 170

BGBl. I, S. 3186. Schönke/Schröder (1972), § 24a RN 4.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 239

den.171 Dagegen wurde den Weisungen eine spezialpräventive Funktion zugewiesen, d.h., sie sollten zur Unterstützung des Täters bei der Wiedereingliederung in die staatliche Gemeinschaft dienen und wurden damit Hilfsmittel, die nach der Auffassung des Gerichts erforderlich sind, um das Bewährungsziel zu erreichen.172 Eine weitere Änderung, die das 1. StrRG einführte, lag in der Erweiterung des Spielraums des Richters bei der Auferlegung der Auflagen: Seit der Reform stand die Anordnung der Auflagen im Ermessen des Gerichts. Nach Schröder sollte jedoch die Anordnung „die Regel bilden, da § 24a nicht nur die Möglichkeit gibt, der Rechtsgemeinschaft Genugtuung für das begangene Unrecht zu gewähren, sondern zugleich zum Ausdruck bringt, daß die Gemeinschaft hierauf ein Anrecht hat.“173 Bei der Auferlegung der Weisungen ließ das Gesetz dem Richter einen geringeren Spielraum: Brauchte der Verurteilte die Hilfe, um nicht weitere Straftaten zu begehen, so mussten die Weisungen angeordnet werden. Schließlich ist hervorzuheben, dass das 1. StrRG eine Limitierung der Auflagen einführte. Die nach dem alten Recht geltende Befugnis des Gerichts, auch im gesetzlichen Katalog nicht genannte Auflagen auszusprechen, hatte bald nach der Einführung der Strafaussetzung ins StGB im Schrifttum im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot gem. Art. 103 Abs. 2 GG zu Bedenken geführt.174 Diesen Bedenken trug die abschließende Aufzählung in § 24a Abs. 2 StGB a. F. Rechnung. Ob die Einführung des 1. StrRG eine Zunahme in der Anwendung der Weisungen und der Auflagen mit sich brachte, lässt sich nicht feststellen. Über die Häufigkeit der Anordnung von Bewährungsauflagen und (oder) -weisungen informiert die Statistik erst seit 1975.175 Jedenfalls zeigt die Untersuchung von Hausen, die sich auf die Praxis der Jahre 1971–1972 (also gerade nach der Einführung der 1. StrRG) konzentrierte, dass eine Strafaussetzung ohne Anordnung von Auflagen oder Weisungen sowie ohne Festsetzung eines Bewährungshelfers die Ausnahme war (lediglich 13% der Fälle).176 Heinz stellte auf der Grundlage der Analyse des statistischen Materials fest, dass in den Jahren 1975–1979 in durchschnittlich 38,8% der Fälle Auflagen und in 22% der Fälle Weisungen erteilt wurden.177 Nach 171

Ebenda. Ebenda, § 24a RN 2. 173 Ebenda, § 24a RN 18. 174 LK-Ruß, § 56b RN 3, m. w. N. 175 Heinz, MschrKrim 64 (1981), S. 166. 176 Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 304. 177 Heinz, MschrKrim 64 (1981), S. 166. 172

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Eisenberg lassen die statistischen Daten der Jahre 1979–1995 die Schlussfolgerung zu, dass die Anordnung der Auflagen in diesem Zeitraum „erheblichen Schwankungen“ unterlag, dagegen wies der Anteil der Fälle, in denen Weisungen erteilt wurden, eine „steigende Tendenz“ auf.178 So betrug der Anteil der Verfahren, in denen im Rahmen der Ausgestaltung der Strafaussetzung Auflagen erteilt wurden, in den Jahren 1979 bis 1995 bei jeweils 4jährigem Intervall 43,2%; 51,4%; 54,2%; 53%; 50,6% sowie 1996 54,7% und 1997 58,4%.179 Bei Weisungen: 26%; 31,4%; 38,3%; 39,7%; 38,4% sowie 1996 40,9% und 1997 44,7%.180 Auf die steigende Tendenz weisen auch die neuesten Daten hin. Der Anteil der Fälle, in denen Weisungen erteilt wurden, betrug im Jahre 2002 ungefähr 53%181 und in den Jahren 2003–2004 zirka 57%182. Aber auch Auflagen haben mit einem Anteil von 65,7% im Jahre 2002183 und 63,4% im Jahre 2004184 zugenommen. Das 1. StrRG erweiterte auch die Regelungen über die Bewährungshilfe wesentlich. Während das 3. StrÄndG dem Bewährungshelfer nur zwei Zeilen in § 24b StGB a. F. (siehe oben) widmete, führte das 1. StrRG eine umfangreiche Regelung zur Bestellung und Ausführung der Bewährungshilfe ein. Der neue § 24c StGB a. F. lautete: § 24c StGB „(1) Das Gericht unterstellt den Verurteilten für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers, wenn dies angezeigt ist, um ihn von Straftaten abzuhalten. (2) Eine Weisung nach Abs. 1 erteilt das Gericht in der Regel, wenn es eine Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten aussetzt und der Verurteilte noch nicht siebenundzwanzig Jahre alt ist. (3) Der Bewährungshelfer steht dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite. Er überwacht im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen. Er berichtet über die Lebensführung des Verurteilten in Zeitabständen, die das Gericht bestimmt. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Auflagen oder Weisungen teilt er dem Gericht mit. 178

Eisenberg, Kriminologie, S. 518–519. Ebenda, S. 518. 180 Ebenda, S. 519. 181 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2003. 182 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistiken, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2004; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 183 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2003. 184 Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2005. 179

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 241 (4) Der Bewährungshelfer wird vom Gericht bestellt. Es kann ihm für seine Tätigkeit nach Absatz 3 Anweisungen erteilen. (5) Die Tätigkeit des Bewährungshelfers wird haupt- oder ehrenamtlich ausgeübt.“

Die Vorschriften des § 24c StGB a. F. gelten bis heute in fast unveränderter Gestalt (seit dem 2. StrRG als § 56d StGB). Die einzigen Änderungen brachte das EGStGB (Einfügung der Worte „Anerbieten oder Zusagen“ in Absatz 3 Satz 4) und das 23. StrÄndG vom 13.4.1986185 (Einfügung der Worte „oder einen Teil“ nach dem Wort „Dauer“ im Absatz 1). Nach dem Erlass des 1. StrRG blieb die Bestellung eines Bewährungshelfers weiterhin im Ermessen des Gerichts. Nur im Falle der Aussetzung einer höheren Freiheitsstrafe als 9 Monate soll ein Bewährungshelfer bestellt werden, sofern der Verurteilte noch nicht siebenundzwanzig Jahre alt ist. Das Gericht kann von dieser Weisung nur dann absehen, „wenn die Tat des Verurteilten lediglich Reaktion auf einen Ausnahmezustand war, dessen Wiederholung nicht zu erwarten ist (. . .), oder wenn der Verurteilte ohnedies der Aufsicht einer Autoritätsperson unterstellt ist (z. B. beim Wehrdienst).“186 Wie bereits oben betont wurde, trugen die neuen Regelungen über die Bewährungshilfe zu einer wesentlich erweiterten Anwendung dieser Weisung bei. Ihr Anteil bei den im Wege der „Regelaussetzung“ (§ 56 Abs. 1 StGB) ausgesetzten Freiheitsstrafen ist etwa von 8,7% im Jahre 1970 (das 1. StrRG trat am 1. April 1970 in Kraft) auf ungefähr 25,2% im Jahre 1991 angestiegen.187 Bei der Strafaussetzung gemäß § 56 Abs. 2 StGB wurde Bewährungshilfe noch häufiger ausgesprochen.188 Dies zeigt auch eine Untersuchung von Hausen189 deutlich, die sich auf die Praxis der Jahre 1971–1972 konzentrierte. Diese Untersuchung ergab, dass die Gerichte in 30,4% der Fälle den Verurteilten einem Bewährungshelfer unterstellt haben.190

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BGBl. I, S. 393. Schönke/Schröder (1972), § 24c RN 5. 187 Kaiser, Kriminologie (1996), S. 1004. 188 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 174, m. w. N. Siehe auch die Tabelle in: Heinz, MschrKrim, 64 (1981), S. 165. 189 Der Untersuchung lagen 136 Fälle zugrunde, in denen Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren ausgesprochen wurden. 190 Hausen, Die Strafaussetzung zur Bewährung bei Strafen von über 1 Jahr bis zu 2 Jahren gemäss § 23 Abs. 2 StGB und § 21 Abs. 2 JGG, S. 304. 186

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe 1. Vollstreckungsorgan Die Analyse des Begnadigungsrechts sowie der entsprechenden Vorschriften, die nach der Einführung der Strafaussetzung in das StGB die Überwachung der Lebensführung des Verurteilten während der Bewährungszeit und den Widerruf der Strafaussetzung sowie den Erlass der Strafe regelten, lässt einen Prozess deutlich werden: Die mit der Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe verbundenen Aufgaben (z. B. Überwachung, Widerruf der Vergünstigung und Erlass der Freiheitsstrafe) gingen von der Zuständigkeit der Justizbehörden und der Staatsanwaltschaft in den Aufgabenbereich des Gerichts über. Diese Entwicklung blieb im engen Zusammenhang mit der Übertragung der Befugnisse zur Gewährung der Strafaussetzung auf die Gerichte nach dem 1. Weltkrieg. Als allein die Justizminister bzw. die Staatsanwälte für die Gewährung der bedingten Begnadigung zuständig waren, erfolgte der Widerruf ebenfalls durch diese Organe.191 Eine besondere amtliche Überwachung des Verurteilten während der Bewährungszeit fand nicht statt. Für die Begnadigung selbst war der Landesherr zuständig.192 Als nach dem 1. Weltkrieg die Befugnisse zur Gewährung der Strafaussetzung in den meisten Staaten auf die Gerichte übertragen wurden, wurden die Gerichte auch zum Erlass der Freiheitsstrafen ermächtigt. So konnten die Gerichte in Preußen nach § 13 der Allgemeinen Verfügung von 1920, nach Anhörung der Staatsanwaltschaft, die Freiheitsstrafen von nicht mehr als sechs Monaten erlassen.193 Auch in Sachsen (Stand: 1932),194 Hamburg (Stand: 1932)195 und Bayern (Stand: 1927)196 waren die Gerichte für den Erlass der Freiheitsstrafe zuständig. Ähnliche Regelungen sah die GnadenO von 1935 vor.197 Nachdem die Strafaussetzung im Jahre 1953 in das StGB eingeführt wurde, war das Gericht für die Änderung der Auflagen, den Widerruf und den Erlass der Strafe zuständig. Wem die Überwachung oblag, war nach der Einführung des § 453 StPO im Jahre 1953 durch das 3. StrÄndG streitig. Der enge Wortlaut der Vorschrift führte zu der Frage, ob die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde oder das Gericht die Aufgabe der 191 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 179. Siehe dazu: die preußische Allgemeine Verfügung von 1912 und von 1917. 192 v. Liszt, in: Aufsätze und Monographien, Band 3, S. 179. 193 JMBl., S. 565. 194 Grau/Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, S. 261. 195 Ebenda, S. 261. 196 Fischer, Die bedingte Strafaussetzung, S. 28. 197 § 1 Abs. 2 und § 32 Abs. 1 GnadenO von 1935.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 243

Überwachung übernehmen sollte. Obwohl es an vereinzelten Gegenstimmen in Rechtsprechung und Schrifttum nicht fehlte, ging die herrschende Meinung davon aus, dass die Überwachung Sache des Gerichts sei, weil es sich dabei um eine richterliche und nicht um eine vollstreckungsrechtliche Aufgabe handele.198 Die Einführung des § 453b StPO durch Art. 10 Nr. 10 StPÄG vom 19.12.1964,199 die eindeutig die Aufgabe der Überwachung dem Gericht zuwies, bereinigte die Streitfrage im Sinne der schon früher herrschenden Meinung. 2. Widerruf der Strafaussetzung Auch die Regelungen zum Widerruf der bedingten Begnadigung (Strafaussetzung) waren unter der Geltung des Begnadigungsrechts in einzelnen Staaten sehr verschieden ausgestaltet. Nach der preußischen Allgemeinen Verfügung von 1920 war das Gericht ermächtigt, „nach Anstellung der etwa erforderlichen weiteren Ermittlungen und nach Anhörung der Staatsanwaltschaft“ die Aussetzung der Strafvollstreckung zu widerrufen, wenn dem Gericht eine Mitteilung zuging, dass der Verurteilte sich schlecht führte (§ 11 der AV von 1920). Die Justizbehörden, insbesondere die Strafverfolgungsbehörden, die Strafvollstreckungsbehörden und das Vormundschaftsgericht hatten dem erkennenden Gericht mitzuteilen, wenn ihnen bekannt wurde, dass der Verurteilte sich schlecht führte (§ 11 der AV von 1920). Bemerkenswert ist zudem, dass die Gerichte in Preußen nach der Verfügung des Justizministers vom 19. Januar 1922 über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung200 die Vollstreckung der erkannten Strafen auch dann anordnen konnten, wenn nach der Gewährung der Strafaussetzung Tatsachen bekannt wurden, die es, wenn sie dem Gericht zur Zeit des Beschlusses bekannt gewesen wären, bei Würdigung des Wesens der bedingten Strafaussetzung von der Gewährung dieser Vergünstigung abgehalten haben würden. Abweichend war der Widerruf der Strafaussetzung in Bayern geregelt (Stand: 1927). Wurde der Verurteilte wegen einer vor oder während der Bewährungsfrist begangenen Straftat erneut verurteilt, so hatte das Gericht über den Widerruf zu entscheiden.201 Das Gericht durfte, wenn die neue Verurteilung auf Freiheitsstrafe lautete, in der Regel vom Widerruf nur dann absehen, wenn es auch für die neue Strafe eine Bewährungsfrist bewilligte.202 Eine frühere Strafaussetzung konnte fortdauern, wenn der Täter 198 199 200 201

Wendisch, in: Löwe/Rosenberg, § 453b RN 1. BGBl, S. 1067. JMBl. S. 30. Fischer, Die bedingte Strafaussetzung, S. 27.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

wegen eines unbedeutenden Deliktes verurteilt wurde und daher eine gute Führung doch angenommen werden konnte.203 Der Widerruf war nicht möglich, wenn die neue Strafe ausgesetzt war, denn damit hatte das Gericht ausgesprochen, dass es auch ohne Strafverbüßung eine Besserung des Täters erhoffte.204 Demgegenüber hatte das Gericht bei Widerruf der Strafaussetzung freie Hand, wenn die neue Strafe in einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bestand.205 Die GnadenO von 1935 wiederholte im Wesentlichen die Regelungen der preußischen Allgemeinen Verfügung von 1920. Der Begriff „sich nicht gut führt“ wurde durch den Begriff „sich nicht tadellos führt“ ersetzt (§ 29 Abs. 1 GnadenO von 1935). Die GnadenO von 1935 sah auch die Zurücknahme der Aussetzung vor, wenn der Gnadenbehörde die Tatsachen (z. B. erhebliche Vorstrafen, andere schwebende Vorstrafen) nachträglich bekannt wurden, die von der Gewährung der Vergünstigung abgehalten haben würden (§ 30 der GnadenO von 1935). Die Regelungen zum Widerruf der Strafaussetzung unterlagen auch einem erheblichen Wandel nach der Einführung der Strafaussetzung in das StGB. Um ihn nachvollziehen, ist es notwendig, auf die ursprüngliche Fassung des § 25 StGB a. F., das heißt nach dem In-Kraft-Treten des 3. StrÄndG, zurückzukommen. § 25 StGB a. F. lautete seinerzeit: § 25 StGB „(. . .) Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn 1. Umstände bekannt werden, die bei Würdigung des Wesens der Aussetzung zu ihrer Versagung geführt hätten, 2. der Verurteilte wegen eines innerhalb der Bewährungszeit begangenen Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens im Inland zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, 3. er den Bewährungsauflagen gröblich zuwiderhandelt oder 4. sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war. Leistungen, die der Verurteilte auf Grund von Auflagen erbracht hat, werden nicht zurückerstattet.“

Aus der obigen Vorschrift geht hervor, dass zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht nur die nächste Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe führen konnte, sondern auch die Feststellung von Umständen, die außerhalb der 202 203 204 205

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 245

Bewährungszeit lagen. Stellte der Richter die Umstände fest, die „bei Würdigung des Wesens der Aussetzung zu ihrer Versagung geführt hätten“, so musste er die Strafaussetzung widerrufen. Die Verbindungen zu dem preußischen Begnadigungsrecht und der GnadenO von 1935 sind offensichtlich. Eine tiefe Umgestaltung der Widerrufsgründe im Sinne der Erweiterung und der Einschränkung der Widerrufsvoraussetzungen brachte erst das 1. StrRG von 1969. Diese Reform verlieh den Vorschriften über den Widerruf der Strafaussetzung die Gestalt, die sie im Wesentlichen bis heute haben. Der neue § 25 StGB a. F. erhielt ab 1.4.1970 folgende Fassung: § 25 StGB „Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn der Verurteilte 1. in der Bewährungszeit eine Straftat begeht, 2. gegen Auflagen oder Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder 3. sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, die Bewährungszeit zu verlängern (§ 24 Abs. 2) oder weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, namentlich den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen (§ 24d). Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung der Auflagen, Anerbieten, Weisungen oder Zusagen erbracht hat, werden nicht erstattet. Das Gericht kann jedoch, wenn es die Strafaussetzung widerruft, Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen nach § 24a Abs. 2 Nr. 2, 3 oder entsprechenden Anerbieten nach § 24a Abs. 3 erbracht hat, auf die Strafe anrechnen.“

Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber sich mit dem 1. StrRG von dem Konzept verabschiedet hat, das dem Richter keinen Spielraum bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung gewährte. Beging der Verurteilte eine erneute Straftat, verstieß er gegen Auflagen und Weisungen, oder entzog er sich der Aufsicht der Leitung des Bewährungshelfers, so musste dies nach dem 1. StrRG nicht mehr zwingend zum Widerruf führen. Der Richter konnte durch Verlängerung der Bewährungszeit oder Erteilung weiterer Auflagen oder Weisungen die Vollstreckung der Freiheitsstrafe abwenden. Ferner wurden die Widerrufsgründe in rechtsstaatlicher Weise auf solche Tatsachen und Umstände beschränkt, die innerhalb der Bewährungszeit lagen. Auch wurde durch das 1. StrRG die Generalklausel des § 25 Abs. 2 Nr. 4 StGB a. F. in der Fassung des 3. StrÄndG aufgehoben. Andererseits ist jedoch nicht zu verkennen, dass das 1. StrRG auch eine wesentliche Erweiterung der Widerrufsvoraussetzungen gebracht hat. Während der Verurteilte nach der alten Regelung innerhalb der Bewährungsfrist zu Frei-

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

heitsstrafe verurteilt werden musste, damit der Widerruf erfolgte, reichte es nach dem 1. StrRG aus, dass der Verurteilte eine erneute Straftat beging. Dabei verlangten die ganz herrschende Lehre und die überwiegende Rechtsprechung bislang nicht, dass die Tat abgeurteilt sein musste.206 Die Begehung einer Straftat reichte jedoch nach dem 1. StrRG nicht aus, um die Strafaussetzung zu widerrufen. Der Richter musste zudem in jedem Fall feststellen, dass der Verurteilte durch die Begehung einer Straftat gezeigt hat, „dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat“. Es musste somit eine neue Prognose gestellt werden, und daraus musste das Gericht den Schluss ziehen können, dass die bisherige positive Prognose hinfällig ist.207 Dementsprechend wurde ein Automatismus der Art ausgeschlossen, dass der Verurteilte sich durch eine neue Straftat als „bewährungsunwürdig“ erwiesen habe.208 Es ist jedoch bis heute in der Lehre umstritten, ob zwischen der neuen und der abgeurteilten Tat ein „kriminologischer Zusammenhang“ bestehen muss.209 Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass Gelegenheits- und Fahrlässigkeitstaten in der Regel nicht ausreichen, um eine ursprünglich günstige Prognose zu gefährden.210 Aber auch die Begehung einer schwerwiegenden Straftat genügt für sich allein nicht ohne weiteres den Anforderungen an den Widerruf; es kommt wieder darauf an, ob das bewährungswidrige Verhalten darauf hindeutet, dass erneute Straftaten zu erwarten sind.211 Die oben erwähnten Vorschriften unterlagen darüber hinaus weiteren Änderungen.212 Ihre Grundideen wurden jedoch beibehalten. Man kann sagen, dass der Gesetzgeber die Vorschriften des § 25 StGB a. F. lediglich präzi206 Diese Ansicht ist heute allerdings immer schwieriger zu verteidigen, weil sie in einem Konflikt mit der Rechtsprechung des EGMR (Siehe dazu: Urteil des EGMR vom 3.10.2002 – 37 568/97 [Böhmer/Deutschland] NJW 2004, S. 43 ff.) steht, der den Widerruf der Strafaussetzung ohne rechtskräftige Verurteilung als Verletzung der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK ansieht. Angesichts dessen fordert man in der neueren Kommentarliteratur eine gesetzliche Neuregelung und bis dahin eine sehr restriktive Handhabung des Widerrufs der Strafaussetzung. Eine ungeklärte Beweis- oder Rechtslage, plausibles Bestreiten oder die Aufhebung einer Verurteilung im Rechtsmittelverfahren werden als ausreichende Hindernisse für den Widerruf der Strafaussetzung angesehen. Siehe dazu: Fischer/Tröndle (2006), § 56 f. RN 7. 207 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 183. 208 SK-Horn, § 56 f. RN 12; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 183. 209 Bejahend SK-Horn, § 56 f. RN 12, m. w. N. Dagegen LK-Gribbohm, § 56f RN 13, m. w. N. 210 Fischer/Tröndle (2006), § 56f RN 8a, m. w. N. 211 Ebenda, m. w. N. 212 Eine der wichtigsten Änderungen von sachlichem Gewicht führte das EGStGB von 1974 (BGBl. I, S. 469) ein. Außerdem hat das 23. StrÄndG von 1986 dem Abs. 1 den Satz 2 angefügt, der die Straftaten erfasst, die in der Zeit zwischen der

1. Abschn.: Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen (R)StGB 247

siert hat, ohne in ihre Grundlagen einzugreifen. Schließlich hat § 25 StGB a. F., der inzwischen zu § 56f StGB wurde, folgende Gestalt angenommen: § 56f StGB „(1) Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn der Verurteilte 1. in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat, 2. gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird, oder 3. gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt. Satz 1 Nr. 1 gilt entsprechend, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden ist. (2) Das Gericht sieht jedoch von dem Widerruf ab, wenn es ausreicht, 1. weitere Auflagen oder Weisungen zu erteilen, namentlich den Verurteilten einem Bewährungshelfer zu unterstellen, oder 2. die Bewährungs- oder Unterstellungszeit zu verlängern. In den Fällen der Nummer 2 darf die Bewährungszeit nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten Bewährungszeit verlängert werden. (3) Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen, Anerbieten, Weisungen oder Zusagen erbracht hat, werden nicht erstattet. Das Gericht kann jedoch, wenn es die Strafaussetzung widerruft, Leistungen, die der Verurteilte zur Erfüllung von Auflagen nach § 56b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 4 oder entsprechenden Anerbieten nach § 56b Abs. 3 erbracht hat, auf die Strafe anrechnen.“

3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe Die Tilgung der Freiheitsstrafe nach Ablauf der Bewährungszeit bedurfte nach dem Begnadigungsrecht der einzelnen deutschen Staaten überwiegend einer Entscheidung einer Behörde bzw. des Gerichts, d.h. die Tilgung der Freiheitsstrafen erfolgte nicht automatisch. Eine Ausnahme stellte das bayerische Begnadigungsrecht dar, nach dem die Freiheitsstrafe nach Ablauf der Bewährungszeit als erlassen galt.213 Man mag fragen, warum die anderen Staaten das bayerische Modell abgelehnt haben. Die Antwort lautet: Aus einer weitgehenden Skepsis gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe. Als treffendes Beispiel kann § 12 der preußischen Allgemeinen Verfügung vom 19. Oktober 1920 dienen: Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden sind. 213 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 129.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

„Gegen Ablauf der Bewährungsfrist zieht das Gericht erster Instanz Erkundigungen nach der Führung des Verurteilten in der Zwischenzeit ein. Soweit den Auskunftspersonen der Zusammenhang der Anfrage mit einer früheren Bestrafung bekanntgegeben werden muß, ist kenntlich zu machen, daß es sich um die Frage des Erlasses der Strafe auf Grund guter Führung handelt; es ist zu verhüten, daß die Nachfrage unter dem Gesichtspunkt einer kriminalpolizeilichen Ermittlung aufgefaßt wird. Zum Nachweis einer guten Führung ist nicht genügend, daß über den Verurteilten nichts Nachteiliges bekanngeworden ist, sondern es bedarf der tatsächlichen Feststellung eines zufriedenstellenden Gesamtverhaltens. Insbesondere ist zu prüfen, ob der Verurteilte den bei Erwirkung der Strafaussetzung in ihn gesetzten besonderen Erwartungen (Unterstellung unter Schutzaufsicht, Eintritt in die Lehre, Leistung von Schadensersatz, Enthaltung von geistigen Getränken usw.) entsprochen hat.“

Aus der Norm geht hervor, dass das Gericht dazu verpflichtet war, die Informationen über das Verhalten des Verurteilten gegen Ablauf der Bewährungsfrist zu sammeln. Das Gericht konnte sich jedoch nicht damit begnügen, dass über den Verurteilen „nichts Nachteiliges“ bekannt geworden ist. Vielmehr mussten die positiven Aspekte des Verhaltens des Verurteilten festgestellt werden, damit der Erlass der Strafe in Betracht kommen konnte. Ähnliche Regelungen lassen sich auch der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935 entnehmen (§ 31). Die Tilgung der Freiheitsstrafe erfolgte auch nach der Einführung der Strafaussetzung in das StGB nicht automatisch, sondern bedurfte eines Erlasses durch gerichtlichen Ausspruch. § 25 Abs. 1 StGB a. F. nach der Reform von 1953 ließ daran keinen Zweifel: „Hat der Verurteilte sich bewährt, so wird die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen. Das Gericht kann anordnen, daß über die Verurteilung nur noch beschränkt Auskunft erteilt wird.“

Der Straferlass führte jedoch nicht dazu, dass die Bestrafung als nicht erfolgt galt. Damit hat der deutsche Gesetzgeber das französisch-belgische Model des „Sursis“ abgelehnt. Der Täter war vielmehr weiterhin „vorbestraft“, die Eintragung im Strafregister blieb bestehen, und der Richter konnte nur anordnen, dass über die Verurteilung nur beschränkt Auskunft erteilt wird. Eine weitgehende Änderung brachte das 1. StrRG von 1969. Nach der Reform lautete § 25a StGB a. F.: „(1) Widerruft das Gericht die Strafaussetzung nicht, so erläßt es die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit. § 25 Abs. 3 Satz 1 ist anzuwenden. Das Gericht kann anordnen, daß über die Verurteilung nur beschränkt Auskunft erteilt wird. (2) Das Gericht kann den Straferlaß widerrufen, wenn der Verurteilte im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes wegen einer in der Bewährungszeit began-

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

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genen vorsätzlichen Straftat zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird. Der Widerruf ist nur innerhalb von einem Jahr nach Ablauf der Bewährungszeit und von sechs Monaten nach Rechtskraft der Verurteilung zulässig. § 25 Abs. 3 gilt entsprechend.“

Es fällt auf, dass das 1. StrRG die Möglichkeit des Widerrufs des Straferlasses einführte (§ 25a Abs. 2 StGB a. F.). Nach dem alten Recht war der Erlass der Freiheitsstrafe endgültig. Damit wurden die Möglichkeiten der Vollstreckung der Freiheitsstrafe wesentlich erweitert. Die heute geltende Fassung des § 25a StGB a. F. weicht nur geringfügig von der ursprünglichen Fassung ab. Das 2. StrRG von 1969 hat die Nummerierung geändert: Seither sind die Vorschriften des § 25a StGB a. F. in § 56g StGB zu finden. Ferner wurde der dritte Satz des ersten Absatzes durch das EGStGB gestrichen. Außerdem wurde § 25 Abs. 2 S. 3 StGB a. F. durch eine Verweisung auf § 56f Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 StGB ersetzt. Die Tilgung der Freiheitsstrafe bildet den letzten Punkt der Darstellung der bedingten Freiheitsstrafe. Aus der dargestellten Entwicklung lässt sich entnehmen, dass die bedingte Freiheitsstrafe sich in Deutschland nur mit erheblichen Schwierigkeiten durchsetzte. Es wird zu zeigen sein, welche Unterschiede im Vergleich zu der polnischen Rechtsordnung vorlagen (Abschnitt 3 dieses Kapitels). Dies setzt allerdings eine Darstellung der Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes voraus. Zweiter Abschnitt

Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes Alle drei polnischen Strafrechtskodizes, d.h. von 1932, von 1969 und von 1997, sahen Regelungen zur Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung vor. Die Einführung dieses Rechtsinstitutes in den KK von 1932 war unumstritten.214 Man diskutierte im Rahmen der Kodifikationskommission nur über das Modell, dem die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung im KK folgen sollte.215 Schließlich wurde die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung nach dem französisch-belgischen Modell ausgestaltet.216 214 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 71. Zum Kodifikationsprozess siehe Lityn´ski, Wydział karny Komisji Kodyfikacyjnej II Rzeczypospolitej. 215 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 71.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe Der KK von 1932 sah zwei Formen der Freiheitsstrafe vor: Die Gefängnisstrafe und den Arrest. Die Gefängnisstrafe war eine lebenslängliche oder eine zeitige Strafe (von 6 Monaten bis zu 15 Jahren). Nach den Motiven zum KK von 1932 sollte sie gegenüber Personen angewendet werden, die einer „geistigen Regenerierung“217 bedurften oder aus der Gesellschaft isoliert werden sollten.218 Ihre Mindestgrenze wurde daher auf 6 Monate festgesetzt. Die Schöpfer des KK von 1932 vertraten die Auffassung, dass die Freiheitsentziehung erst ab dieser Zeitspanne ein rationales Strafvollzugsverfahren erlaube.219 Dagegen war der Arrest für solche Täter vorgesehen, die angesichts ihrer individuellen Eigenschaften keiner erzieherischen Maßnahmen bedurften.220 Diese Strafe sollte dabei nicht entehrend sein.221 Der Arrest konnte für die Dauer von einer Woche bis zu 5 Jahren verhängt werden. Bemerkenswert ist zudem, dass, soweit das Gesetz die Möglichkeit vorsah, zwischen einer Arreststrafe und einer Gefängnisstrafe zu wählen, das Gericht nach Art. 57 § 1 KK von 1932 keine Arreststrafe verhängen konnte, wenn die Tat aus niedrigen Beweggründen begangen worden war.222 Auch die Anwendung der außerordentlichen Strafmilderung (Art. 59 § 2 KK von 1932) war ausgeschlossen, falls der Täter aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte. Diese lagen dann vor, wenn der Täter aus Gewinnsucht, Rachsucht oder „angeborener Wildheit“ („wrodzona dzikos´c´“223) gehandelt hat.224 Obwohl S´wida meint, dass die Richter sich an den Tatumständen orientierten und die Persönlichkeit des Täters vernachlässigten,225 was gewissermaßen den Sinn der Vorschriften verkehrt, wirkten die 216

Buchała, in: Buchała (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe, ZNUJ 127/1989, S. 14. Makarewicz, S. 167. 218 S ´ wida, Prawo karne (1966), S. 284. 219 Makarewicz, S. 169. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein erster Entwurf zum KK von 1932, den Makarewicz vorgelegt hat, die Mindestgrenze auf 1 Jahr festsetzte. Siehe dazu Lityn´ski, Wydział karny Komisji Kodyfikacyjnej II Rzeczypospolitej, S. 115. 220 Nisenson/Siewierski, KK, Art. 37 RN 7; Makowski, Art. 40 RN 1; S ´ wida, Prawo karne (1966), S. 284. 221 Makarewicz, S. 172; Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 264. 222 In der Praxis wurden die Unterschiede beider Formen der Freiheitsstrafe jedoch weitgehend verwischt. So: Buchała, Prawo karne materialne, S. 521; ders., in: Buchała (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe, ZNUJ 127/1989, S. 13; Melezini, Punitywnos´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 47. 223 Der Ausdruck klingt in der gegenwärtigen polnischen Sprache genauso merkwürdig wie in der deutschen Sprache. 224 Makarewicz, S. 212. 217

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

251

Regelungen des Art. 57 § 1 KK von 1932 und des Art. 59 § 2 KK von 1932 zugunsten der Gefängnisstrafe. Diese Form der Freiheitsstrafe wurde auch durch die Vorschrift des Art. 60 § 1 KK von 1932 unterstützt, die die Anwendung der Arreststrafe gegenüber den Rückfalltätern im Sinne des Art. 60 § 1 KK von 1932 ausschloss. Es kann daher nicht verwundern, dass die Gefängnisstrafen nach der Einführung des KK von 1932 einen bedeutsamen Anteil an den Verurteilungen hatten. Ihre Anzahl schwankte zwischen ca. 120.000 Verurteilungen im Jahre 1932 und ca. 99.000 Verurteilungen im Jahre 1937. Die Arreststrafen machten jedoch die Mehrzahl der Freiheitsstrafen vor dem Krieg aus: Ihr Anteil betrug von 65% bis zu 79% an allen Freiheitsstrafen in den Jahren 1932–1937.226 Der KK von 1932 eröffnete dem Gericht schon in seiner ursprünglichen Fassung die Möglichkeit, die Vollstreckung einer verhängten Freiheitsstrafe unter bestimmten Voraussetzungen auszusetzen (Art. 61 § 1 KK von 1932). Die Obergrenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen wurde auf zwei Jahre festgesetzt. Die Rückfalltäter im Sinne des Art. 60 KK von 1932 wurden von der Anwendung des Art. 61 KK von 1932 ausgeschlossen. Diese Personengruppe galt nach der Auffassung der soziologischen Schule227 als nicht besserungsfähig.228 Die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung konnte nur gegenüber einer Person angewendet werden, die angesichts ihres Charakters, der Tatumstände sowie ihres Verhaltens nach der Tat die Annahme begründete, dass sie trotz der unterbleibenden Vollstreckung der Freiheitsstrafe keine neuen Straftaten begehen würde (Art. 61 § 2 KK von 1932). Aus den statistischen Daten geht hervor, dass die Richter diese Voraussetzungen immer häufiger bejaht haben (s. Abb. 14). Während die zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen nur 14% (101.584) aller Verurteilungen im Jahre 1932 ausmachten, stieg ihr Anteil in der Sanktionierungspraxis des Jahres 1937 auf fast 48% (165.043). Obwohl dieser Zuwachs auch der Änderung der statistischen Kategorien zuzurechen ist, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass die Richter von der bedingten Freiheitsstrafe wachsenden Gebrauch machten.229 Diese Tendenz war erheblicher Kritik seitens der Lehre ausgesetzt.230 Dem Rechtsinstitut S´wida, Prawo karne (1982), S. 287. Berechnung vom Verf. auf der Grundlage der kleinen statistischen Jahrbücher (Małe Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1934, 1935, 1936, 1937, 1938, 1939. 227 Zu der soziologischen Schule in Polen siehe Wa˛sowicz, Nurt socjologiczny w polskiej mys´li prawnokarnej. 228 Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 264. 229 Melezini, Punitywnos ´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 304. 230 Siehe dazu: Radzinowicz, Gł. S. 2/1937, S. 112. 225 226

252

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe 400 000 350 000 Unbedingte Freiheitsstrafe

Anzahl

300 000 250 000

Bedingte Freiheitsstrafe

200 000 150 000

Geldstrafe

100 000 50 000 0 1932 1933 1934 1935 1936

1937

Jahr Ohne Todesstrafen. Die Daten aus dem Jahre 1937 erfassen nicht die Verurteilungen aus der Privatklage. Im Jahre 1937 wurden auf der Grundlage der Privatklage 29.190 Freiheitsstrafen und 15.159 Geldstrafen verhängt. Quelle der Daten: Kleine statistische Jahrbücher (Małe Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1934–1939.

Abb. 14: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1932–1937

wurde vor allem vorgeworfen, dass es zur faktischen Straflosigkeit des Verurteilten führe.231 Man mag jedoch fragen, wie es dazu gekommen ist, dass die bedingte Freiheitsstrafe eine so weite Anwendung in der Praxis fand, obwohl der KK von 1932 keine Regelung vorsah, die die bedingte Freiheitsstrafe zu Lasten der unbedingten Freiheitsstrafe oder der Geldstrafe gefördert hätte. Dem Allgemeinen Teil des KK von 1932 lässt sich keine Regelung entnehmen, die einen so beachtlichen Erfolg der bedingten Freiheitsstrafe hätte voraussehen lassen. Die Antwort auf diese Frage ist zunächst in den Strafandrohungen des Besonderen Teils des KK von 1932 zu suchen. Aus der Analyse des Besonderen Teils des KK von 1932 geht hervor, dass er überwiegend Tatbestände vorsah, die nur mit Gefängnisstrafe bedroht waren. Es wäre wohl übertrieben zu behaupten, dass der KK von 1932 auf der Gefängnisstrafe aufgebaut war, es trifft jedoch zu, dass kaum ein Tatbestand im Besonderen Teil des KK von 1932 zu finden ist, der keine Gefängnisstrafe vorgesehen hätte.232 Die qualitative Analyse ergibt, dass nicht nur 231

Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 84. Die ursprüngliche Fassung des KK von 1932 umfasste 123 Vorschriften, die nur Gefängnisstrafe oder Gefängnisstrafe alternativ mit Todesstrafe vorsahen. Art. 93 § 1, 93 § 2, 94 § 1, 94 § 2, 95, 96, 97 § 1, 98 § 1, 99, 100 § 1, 101 § 1, 101 § 2, 102, 104 § 1, 105 § 1, 105 § 2, 105 § 3, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 113, 114, 116, 121, 122, 123, 125, 126, 131, 133 § 1, 133 § 2, 137, 149, 154 § 2, 232

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

253

schwerste Verbrechen gegen den Staat wie z. B. die aus Kapitel XVII und XVIII des KK von 1932 nur mit Gefängnisstrafe bedroht waren, sondern auch für solche statistisch bedeutsamen Straftaten wie die gegen das Vermögen (Kapitel XXXIX des KK von 1932) war überwiegend keine Alternative zur Gefängnisstrafe vorgesehen. Diese Unelastizität der Strafandrohungen des Besonderen Teils stieß auf den Widerstand der Richter: Sie verhängten nicht selten die Arreststrafe oder die Geldstrafe anstatt der Gefängnisstrafe, obwohl der Tatbestand des Besonderen Teils ausschließlich eine Gefängnisstrafe vorsah.233 Aus heutiger Perspektive mag eine solche Behauptung unplausibel erscheinen, aber die Untersuchung von Kulesza und S´liwowski liefert für diesen Befund eindeutige Beweise. Obwohl für den Normalfall des Diebstahls (Art. 257 § 1 KK von 1932) lediglich eine Gefängnisstrafe vorgesehen war, verhängten die Gerichte im Jahre 1934 in fast der Hälfte aller Fälle (48,4%) eine Arreststrafe.234 Die Massenhaftigkeit dieser Praxis zeugt davon, dass die untere Grenze der Gefängnisstrafe (6 Monate) für die Richter grundsätzlich unakzeptabel war. Dieser (rechtswidrige) Hang zur Milde kam auch bei der Aussetzung der Freiheitsstrafe zum Ausdruck. Wie Rappaport schon im Jahre 1939 zutreffend gezeigt hat, griffen die Richter zum Mittel der Strafaussetzung, um die unangemessene Strafwirkung der Gefängnisstrafe zu mildern.235 Auch die Befragung der Richter, die S´wida und Wróblewski durchgeführt haben, blieb im Einklang mit der Feststellung von Rappaport: Die Auswertung von 263 Antworten zeigte, dass die Richter in 123 der Fälle zur Strafaussetzung griffen, um der als unangemessen empfundenen Mindestgrenze der Gefängnisstrafe zu entgehen.236 Weitere 45 Richter brachten die Strafaussetzung wahlweise mit Freispruch oder dem Übergang zum milderen Tatbestand zur Anwendung, um die als unangemessen empfundene Wirkung der Gefängnisstrafe zu mildern.237 Diese Antworten stellten fast 64% aller 155 § 2, 158, 163, 166 § 1, 166 § 2, 167 § 1, 167 § 2, 171, 172, 173, 175 § 1, 175 § 2, 176, 177, 179, 180 § 1, 183, 184, 185, 187, 188, 190 § 1, 190 § 2, 194, 197, 198 § 1, 199, 200, 203, 204 § 1, 205 § 1, 206, 207, 208, 209, 215 § 1, 216 § 1, 217 § 1, 218, 219 § 1, 221, 225 § 1, 225 § 2, 226, 228, 229, 230 § 1, 230 § 2, 232, 234, 235 § 1, 235 § 2, 236 § 1, 240, 242 § 1, 242 § 2, 243 § 1, 246, 248 § 1, 248 § 2, 249, 257 § 1, 258, 259, 260, 261, 263 § 3, 264 § 1, 267, 269, 270 § 2, 274, 275, 276, 278, 279 § 1, 279 § 2, 281, 286 § 1, 286 § 2, 287 § 1, 287 § 2, 289 § 1, 289 § 2, 290 § 1, 290 § 2. 233 Sitnicki, Gł. S. 9/1934, S. 655. 234 Kulesza/S ´ liwowski, Ustawowy a se˛dziowski wymiar kary, S. 53. 235 Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 12–13. 236 Wróblewski/S ´ wida, Se˛dziowski wymiar kary w Rzeczypospolitej Polskiej, S. 441. 237 Ebenda.

254

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Antworten dar, so dass man von einem massenhaften Phänomen in diesem Zusammenhang sprechen darf.238 Diese Praxis wurde als verfehlt kritisiert, weil sie den spezialpräventiven Charakter des Rechtsinstitutes vernachlässigte.239 Daraus lässt sich aber folgern, dass die hohe Mindestgrenze der Gefängnisstrafe des KK von 1932 wesentlich zur Erweiterung der Anwendung der Strafaussetzung beitrug. Ferner ist zu beachten, wie dies im vorangehenden Kapitel gezeigt wurde, dass der KK von 1932 einen sehr geringen Anwendungsbereich für die selbstständige Geldstrafe vorsah. Wollten die Richter eine ambulante Strafe verhängen, mussten sie zur bedingten Freiheitsstrafe greifen. Lediglich mit einer so komplexen Betrachtungsweise lässt sich die Häufigkeit der Strafaussetzung erklären. Auch in der Zeit der Volksrepublik Polen machten die Gerichte von den bedingten Freiheitsstrafen einen sehr weiten Gebrauch, obwohl die Verordnungen des Staatsrates von 1953240 und das Gesetz von 1959241 die Anwendung der Strafaussetzung bei Straftaten gegen Gemeineigentum grundsätzlich ausschlossen. Aus Abbildung 15 geht hervor, dass in der ersten Hälfte der 50er Jahre die unbedingten Freiheitsstrafen überwogen. Ab 1957 begann das Übergewicht der bedingten Freiheitsstrafen (80.747)242, allerdings mit Ausnahme der Jahre 1959–1960 und des Jahres 1964. Die Geldstrafen blieben ab dem Jahre 1954 hinter den bedingten Freiheitsstrafen zurück. Es fällt auf, dass in den Jahren 1946–1969 mehr unbedingte Freiheitsstrafen als Geldstrafen verhängt wurden. Anders als der KK von 1932 ging der KK von 1969 vom Prinzip der Einheitsstrafe aus.243 Er sah nur eine Freiheitsstrafe vor, die von 3 Monaten 238

Die Befragung ergab zudem, dass 220 Richter (77 % der Befragten) in einzelnen Fällen eine Strafe unter dem Mindestmaß verhängen wollten, das Gesetz dies aber nicht zuließ. Siehe dazu: Wróblewski/S´wida, Se˛dziowski wymiar kary w Rzeczypospolitej Polskiej, S. 429. Der Grund dafür lag darin, dass der KK von 1932 im Empfinden der Richter sehr repressiv und zu wenig elastisch war. 239 Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 12–13. 240 Dekret o wzmoz ˙ eniu ochrony własnos´ci społecznej. Dz. U. 53.17.68. Dekret o ochronie własnos´ci społecznej przed drobnymi kradziez˙ami. Dz. U. 53.17.69. Beide Verordnungen wurden im Jahre 1959 aufgehoben. 241 Ustawa z dnia 18 czerwca 1959 r. o odpowiedzialnos ´ci karnej za przeste˛pstwa przeciw własnos´ci społecznej. Dz. U. 59.36.228. Das Gesetz galt bis zum In-KraftTreten des KK von 1969. 242 Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 1959. 243 Dieses Prinzip wurde jedoch nicht vollkommen realisiert, weil gegenüber den Soldaten weiterhin die Arreststrafe verhängt werden konnte.

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

255

140 000 120 000 Unbedingte Freiheitsstrafe

Anzahl

100 000 80 000 60 000

Bedingte Freiheitsstrafe

40 000

Geldstrafe

20 000

67 19

64 19

61

58

19

19

55 19

49

52 19

19

19

46

0

Jahr Ohne Todesstrafen und lebenslange Freiheitsstrafen. Quelle der Daten: Die Daten für die Jahre 1946–1955 wurden dem Buch von Melezini (Punitywnos´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 332) entnommen. Ab 1956: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1958, 1960, 1962, 1964, 1967, 1968, 1970.

Abb. 15: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1946–1969

bis zu 15 Jahren betragen konnte (Art. 32 KK von 1969). Die Anhebung der Mindesthöhe der Freiheitsstrafe auf drei Monate war eine Folge der Auffassungen, die die Freiheitsstrafen aus diesem Bereich bei der Kriminalitätsbekämpfung nicht nur als unbrauchbar betrachteten, sondern sie sogar für schädlich hielten.244 Die Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten sollten durch ambulante Sanktionen, insbesondere durch Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe, ersetzt werden.245 Die Hoffnungen, dass die ambulanten Sanktionen die kurzfristigen Freiheitsstrafen ersetzen würden, erfüllten sich jedoch nicht. Buchała stellte schon im Jahre 1977 nach dem Vergleich der Verurteilungen aus den Jahren 1965–1969 sowie 1971–1975 fest, dass die kurzen Freiheitsstrafen grundsätzlich durch die längeren Freiheitsstrafen ersetzt wurden.246 Auf die kurzfristigen Freiheitsstrafen von einer Dauer bis zu 3 Monaten hat der Gesetzgeber allerdings keineswegs verzichtet. Es erfolgte lediglich eine gewisse Verlagerung der Zuständigkeit für die Verhängung von Strafen unter 3 Monaten.247 Sie konnten seit dem 1.1.1972 nur von besonderen außergerichtlichen Organen, nämlich den Kollegien für Übertretungssachen, verhängt werden. Als Sonderformen der Freiheitsstrafe 244

Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos´ci, S. 175. Weigend, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 735. 246 Buchała, in: Zeszyty Naukowe IBPS 9/1979, S. 54. 247 Lammich, MschrKrim (63) 1981, S. 87. 245

256

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

hat der KK von 1969 schließlich noch den Militärarrest für Soldaten und die 25jährige Freiheitsstrafe vorgesehen, die anstelle der abgeschafften lebenslangen Freiheitsstrafe eingeführt wurde. Beide Formen können in der vorliegenden Untersuchung aber unberücksichtigt bleiben. Die Grundsätze der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung im KK von 1969 knüpften an den KK von 1932 an.248 Es lassen sich jedoch beachtliche Unterschiede feststellen. Zunächst wurde der Anwendungsbereich der Vergünstigung davon abhängig gemacht, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hatte. Im ersten Fall kamen Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren für eine Aussetzung in Betracht. Bei den Fahrlässigkeitdelikten war die Obergrenze auf drei Jahre festgesetzt. Die Rückfalltäter im Sinne des Art. 60 § 1 und § 2 KK von 1969 wurden in der ursprünglichen Fassung des KK von 1969 von der Anwendung der Strafaussetzung vollkommen ausgeschlossen. Erst das mehrfach erwähnte Gesetz vom 12. Juli 1995249 hat die Rechtslage liberalisiert, wobei die Freiheitsstrafen bei Mehrfachtätern im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1969 bis zum Ende der Geltung dieses Gesetzes nur nach Bejahung besonderer Umstände ausgesetzt werden konnten. Eine weitere Einschränkung der Anwendung der Strafaussetzung bei bestimmten Straftaten führte das Gesetz von 1985 ein.250 Trotz dieser Einschränkungen spielten die zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen in der Praxis der Gerichte nach der Einführung des KK von 1969 eine erhebliche Rolle. Wie die Abbildung 16 zeigt, ist ihre Dominanz mit Ausnahme der Jahre 1974, 1985 und 1986 unbestreitbar. Ab 1991 stellten sie mehr als 50% aller Verurteilungen dar. Siemaszko bezeichnet diese Zunahme der 90er Jahre als dramatisch;251 und dieser Feststellung ist schwer zu widersprechen. Einen weiteren Schritt in der Entwicklung der polnischen Strafrechtspflege stellt der KK von 1997 dar. Er änderte sowohl die Gestalt der Freiheitsstrafe als auch den Anwendungsbereich der Strafaussetzung. Der KK von 1997 geht auch, ähnlich wie der KK von 1969, vom Prinzip der Einheitsstrafe aus. In seinem Katalog der Strafen sind die Freiheitsstrafe, die 25jährige Freiheitsstrafe und die lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen. Die Höchstdauer der Freiheitsstrafe wurde ähnlich wie im KK von 1969 auf 15 Jahre festgesetzt (Art. 37 KK von 1997). Ihre Mindestdauer Andrejew/S´wida/Wolter, vor Art. 73 RN 2. Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym, Dz. U. 95.95.475. 250 Ustawa z dnia 10 maja 1985 r. o szczególnej odpowiedzialnos ´ci karnej. Dz. U. 85.23.101. Das Gesetz galt bis zum Jahre 1988. 251 Siemaszko, in: Probacyjne s ´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 53. 248 249

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

257

140 000 120 000

Unbedingte Freiheitsstrafe Bedingte Freiheitsstrafe Geldstrafe

Anzahl

100 000 80 000 60 000 40 000

Freiheitsbeschränkungsstrafe

20 000 0 66

19

70

19

4

7 19

78

19

82

19

86

19

90

19

94

19

98

19

Jahr Außer den Todesstrafen und den 25jährigen Freiheitsstrafen. Bis zur Einführung der Einheitsstrafe im Jahre 1969 erfassen die Begriffe der „unbedingten Freiheitsstrafe“ und der „bedingten Freiheitsstrafe“ sowohl Arrest- als auch Gefängnisstrafen. Ferner wurden im Jahre 1995 zusätzlich 16.000 Personen verurteilt, die jedoch in den statistischen Jahrbüchern nicht berücksichtigt wurden. Die Verurteilungen aus den Jahren 1997–1998 erfassen nur Verurteilungen aus öffentlichen Klagen. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1998 sind nur bis zum 31. August berücksichtigt. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 1968, 1970, 1976, 1978, 1980, 1981, 1986, 1989, 1992, 1994, 1996, 1998, 2000.

Abb. 16: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1966–1998

wurde jedoch von drei Monaten auf einen Monat herabgesetzt. Auf diese Entscheidung haben zwei Faktoren Einfluss gehabt. Zum einen bewirkte die gesetzliche Beseitigung der Freiheitsstrafen unter drei Monaten im KK von 1969 eine Erhöhung sämtlicher Freiheitsstrafen. Zum anderen änderte sich die kriminalpolitische Bewertung der kurzen Freiheitsstrafe. Nach Buchała kann auch eine Freiheitsstrafe in relativ geringer Höhe durchaus eine spezialpräventive Aufgabe (z. B. Bekräftigung der Geltung eines Verbots im Bewusstsein des Täters oder Abschreckung von Rückfalltätern) sowie generalpräventive Funktionen erfüllen.252 Die Regelungen des KK von 1997 zur Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung knüpfen an den KK von 1969 an. Es lassen sich aber einige wesentliche Unterschiede im Anwendungsbereich und in der Förderung der Vergünstigung durch Strafaussetzung erkennen. Folgende Unterschiede sind hervorzuheben: Die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe (a), die Dauer der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe (b) und der Kreis der Täter (c). 252 Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 275.

258

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

a) Zunächst ist hervorheben, dass der KK von 1997 mit Art. 58 § 1 eine Klausel zur Förderung der ambulanten Strafen einführte, die unter anderem die Anwendung der bedingten Freiheitsstrafen begünstigt. Art. 58 § 1 KK von 1997 lautet: „§ 1. Sieht das Gesetz die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Arten von Strafe vor, so verhängt das Gericht nur dann die Freiheitsstrafe ohne Bewährung, wenn die anderen Strafen und Strafmaßnahmen ihre Strafzwecke nicht erfüllen können.“253

Eine solche Klausel sahen weder der KK von 1932 noch der KK von 1969 vor. b) Ferner verzichtete der KK von 1997 bei der Gewährung der Strafaussetzung auf eine Differenzierung zwischen den vorsätzlichen Straftaten und den fahrlässigen Straftaten: In jedem Fall sind grundsätzlich nur Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren aussetzungsfähig. Eine Ausnahme brachte jedoch Art. 60 § 5 KK von 1997, der erlaubt, auch Freiheitsstrafen bis zu 5 Jahren zur Bewährung auszusetzen, wenn der Verurteilte den Strafverfolgungsorganen Informationen über Mittäter (Art. 60 § 3 KK von 1997) oder eine andere Straftat (Art. 60 § 4 KK von 1997) liefert. Diese Vergünstigung gilt nicht für Mehrfachtäter im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1997 (Art. 69 § 3 KK von 1997). Eine Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsorganen soll somit mit der Aussetzung zur Bewährung von Freiheitsstrafen belohnt werden, die bisher nicht aussetzungsfähig waren. Solche Regelungen sollen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität beitragen.254 c) Die Rückfalltäter im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1997 werden aus der Anwendung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgeschlossen, es sei denn, es liegt ein Ausnahmefall vor. Wie oben gezeigt wurde, hatte die ursprüngliche Fassung des KK von 1969 die Mehrfachtäter im Sinne des Art. 60 §§ 1 und 2 KK von 1969 von der Anwendung der Aussetzung der Freiheitsstrafe vollkommen ausgeschlossen. Ob diese Änderungen für einen bedeutsamen Zuwachs der bedingten Freiheitsstrafen verantwortlich sind, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die gesetzlichen Reformen zu einer breiteren Anwendung der bedingten Freiheitsstrafe beitrugen. 253

Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Marek, Prawo karne (2005), RN 434. – Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Reform des KPK von 2003 (Dz. U. 03.17.155) eine weitere Ausnahme eröffnet hat. Nach den neuen Art. 335 § 1 KPK von 1997 und Art. 343 § 2 Punkt 2 KPK von 1997 kann das Gericht unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 69 §§ 1–3 KK von 1997 die Vollstreckung der Freiheitsstrafe, die fünf Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn die Tatumstände keine Bedenken erwecken und die Haltung des Täters darauf hinweist, dass die Ziele des Verfahrens erfüllt werden. Die Regelungen sollen zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen. 254

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

259

300 000 Unbedingte Freiheitsstrafe

Anzahl

250 000 200 000 150 000

Bedingte Freiheitsstrafe

100 000

Geldstrafe Freiheitsbeschränkungsstrafe

50 000

19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04

0

Jahr Die Freiheitsstrafen erfassen nicht die 25jährigen Freiheitsstrafen und lebenslangen Freiheitsstrafen. Die Verurteilungen zu Geldstrafe und Freiheitsbeschränkungsstrafe berücksichtigen auch die Strafaussetzungen (im Jahre 2004 wurde die Vollstreckung von 4.207 Geldstrafen und 3.966 Freiheitsbeschränkungsstrafen ausgesetzt). Die Daten aus den Jahren 1997–2004 zeigen nur die Verurteilungen aus öffentlichen Klagen. Die Verurteilungen aus dem Jahre 1998 erfassen nur die Daten bis zum 31. August. Quelle der Daten: Statistische Jahrbücher (Roczniki Statystyczne) aus den Jahren 2000, 2001, 2003, 2004, 2005.

Abb. 17: Verurteilte in Polen nach Strafart in den Jahren 1997–2004

Aus Abbildung 17 geht deutlich hervor, dass die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen nach der Einführung des KK von 1997 erheblich zunahm. Wurden im Jahre 1997 116.159255 bedingte Freiheitsstrafen verhängt, so lassen sich im Jahre 2000 schon 143.497256, im Jahre 2001 184.819257 und im Jahre 2002 214.485258 Verurteilungen zu bedingter Freiheitsstrafe feststellen. Im Jahre 2003 haben die Gerichte 233.055259 bedingte Freiheitsstrafen verhängt. Im nächsten Jahr verzeichnete die Statistik schon 278.338 bedingte Freiheitsstrafen.260 Auch die dazu durchgeführten Untersuchungen betonen einstimmig die Vorherrschaft der bedingten Freiheitsstrafe in der gegenwärtigen Sanktionierungspraxis.261 Einige Autoren (wie z. B. Siemaszko) bezeichnen die Zunahme der Verurteilungen zu bedingter Freiheitsstrafen sogar als „dramatisch“.262 Dabei ist es zu beachten, dass der Zuwachs der Ver255

Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2000. Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2003. 257 Ebenda. 258 Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2004. 259 Ebenda. 260 Statistisches Jahrbuch (Rocznik Statystyczny) aus dem Jahre 2005. 261 Szymanowski, PiP 10/2002, S. 27; Melezini, Punitywnos ´c´ wymiaru sprawiedliwos´ci karnej w Polsce w XX wieku, S. 531. 262 Siemaszko, in: Probacyjne s ´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 53. 256

260

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

urteilungen zu bedingter Freiheitsstrafe gewissermaßen zu Lasten der Geldstrafe erfolgte.263 Ob diese Tendenz einen dauerhaften Charakter hat, lässt sich nicht einfach voraussehen. Man kann jedoch nicht ausschließen, dass die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen auch in Zukunft steigen wird. Es lässt sich jedoch schon heute feststellen, dass die bedingte Freiheitsstrafe den Charakter der polnischen Sanktionierungspraxis wesentlich prägt. II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung Nach allen drei polnischen Strafgesetzbüchern waren die erkennenden Gerichte für die Gewährung der Strafaussetzung zuständig. Die Vergünstigung konnte darüber hinaus auch im Gnadenwege durch den Präsidenten oder den Staatsrat gewährt werden. Unter der Geltung der Verfassung von 1921264 und der Verfassung von 1935265 stand das Begnadigungsrecht dem Präsidenten zu; nach der Einführung der Verfassung von 1952266 wurde diese Kompetenz auf den Staatsrat übertragen. Das Gesetz von 1992267 (sog. Kleine Verfassung) ist zu dem Konzept der Verfassung von 1921 und der Verfassung von 1935 zurückgekehrt. Nach der heute geltenden Verfassung von 1997268 ist auch der Präsident der Republik Polen für die Ausübung des Begnadigungsrechts zuständig (Art. 139). 2. Die Prämissen der Strafaussetzung Die bedingte Freiheitsstrafe konnte nach Art. 61 § 2 KK von 1932 nur gegenüber einer Person angewendet werden, die angesichts ihres Charakters, der Tatumstände sowie ihres Verhaltens nach der Tat die Annahme begründete, dass sie trotz der unterbleibenden Vollstreckung der Freiheits263

Szymanowski, PiP 12/2000, S. 39; ders., PiP 10/2002, S. 24; ders., Polityka karna i penitencjarna w Polsce w okresie przemian prawa karnego, S. 61; Kubicki, Auszug aus der Diskussion, in: Wolf (Hrsg.), Przeste˛pczos´c´ przygraniczna. Tom 2: Nowy polski kodeks karny, S. 242; Krajewski, CPKiNP 1/2003, S. 202. 264 Ustawa z dnia 17 marca 1921 r. Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej. Dz. U. 21.44.267. 265 Ustawa Konstytucyjna z dnia 23 kwietnia 1935 r. Dz. U. 35.30.227. 266 Konstytucja Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej uchwalona przez Sejm Ustawodawczy w dniu 22 lipca 1952 r. Dz. U. 52.33.232. 267 Ustawa Konstytucyjna z dnia 17 paz ´ dziernika 1992 r. o wzajemnych stosunkach mie˛dzy władza˛ ustawodawcza˛ i wykonawcza˛ Rzeczypospolitej Polskiej oraz o samorza˛dzie terytorialnym. Dz. U. 92.83.426. 268 Konstytucja Rzeczypospolitej Polskiej z dnia 2 kwietnia 1997 r. Dz. U. 97.78.483.

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

261

strafe neue Straftaten nicht begehen würde. Obwohl der Wortlaut der Vorschrift eindeutig nur auf die Spezialprävention hinwies, war es umstritten, ob die Gerichte auch generalpräventive Gesichtspunkte berücksichtigen sollten. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichts überwog in der Vorkriegszeit die Meinung, dass die positive Prognose hinsichtlich des Täterverhaltens für die Bewilligung einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung entscheidend sein sollte.269 Die Gegenansicht betonte die Schädlichkeit, die Gefährlichkeit der Tat sowie die Generalprävention als zusätzliche Bezugspunkte einer Entscheidung.270 Die herrschende Lehre sprach sich auch für die positive Prognose hinsichtlich des Täterverhaltens aus. Die Strafrechtsdogmatiker und Kommentatoren des KK von 1932, wie Makarewicz,271 Makowski,272 Wolter,273 Glaser und Mogilnicki274 betonten übereinstimmend, dass die Spezialprävention für die Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe entscheidend sein sollte. In der Nachkriegszeit setzte das Oberste Gericht zunächst die Rechtsprechung der Vorkriegszeit fort.275 Einen Umbruch brachte erst der Beschluss des Obersten Gerichts vom 27. Februar 1948,276 in dem der Generalprävention neben der Spezialprävention bei der Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung Platz eingeräumt wurde. Nach Leonieni hatte die Generalprävention seit dieser Zeit das Primat in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts.277 In diesem Kontext sind auch die Richtlinien des Obersten Gerichts vom 16. Oktober 1957278 zu erwähnen, in denen das Oberste Gericht der richtigen Anwendung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung in erheblichem Umfang Beachtung geschenkt hat. Die genaue Auffassung des Obersten Gerichts zu der Problematik lässt sich allerdings aus den Richtlinien nicht eindeutig entnehmen, was dazu geführt hat, dass diese in der Lehre ganz unterschiedlich verstanden wurden. Aus der Sicht von Gubin´ski und Sawicki hat sich das Oberste Gericht eindeutig nur für die Spezialprävention ausgesprochen.279 Völlig anders hat 269

Siehe dazu das Urteil vom 3. März 1934, ZO 140/1935. Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 101, 125. 271 Makarewicz, S. 227 ff. 272 Makowski, Art. 61 RN 1. 273 Wolter, Zarys systemu prawa karnego, S. 121, 124. 274 Glaser/Mogilnicki, S. 257–258. 275 Siehe dazu die Urteile vom 18. September 1946 (K 936/46), 26. September 1946 (K 978/46), 28. Mai 1946 (K 379/46), in: Orzecznictwo Sa˛du Najwyz˙szego w zakresie materialnego prawa karnego, S. 666–667. Ähnlich Leonieni, Warunkowe zawieszenie, S. 102; Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 93. 276 ZO 30/1948. 277 Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 102. 278 OSN 1/1958, S. 109. 270

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

die Richtlinien Leonieni verstanden, demzufolge das Oberste Gericht durch die Betonung der Sozialgefährlichkeit der Tat auch andere Gesichtspunkte als die Spezialprävention hervorgehoben hat.280 Die späteren Urteile des Obersten Gerichts haben die Intuition von Leonieni bestätigt: In zwei Urteilen von 1958 hat das Oberste Gericht eindeutig das Gleichgewicht beider Präventionen betont.281 Die Meinungen in der Lehre waren in dieser Zeit geteilt. S´liwin´ski,282 ´Swida,283 Gubin´ski und Sawicki284 haben sich für die Spezialprävention als einziges Kriterium bei der gerichtlichen Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesprochen. Die Gegenansicht, insbesondere Leonieni, teilte allerdings die Bedenken von Gubin´ski und Sawicki nicht und meinte, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung eine Form der Strafzumessung sei, die vom Richter auch die Berücksichtigung generalpräventiver Zwecke der Strafe verlangte.285 Die Voraussetzungen für die Bewilligung der Aussetzung der Freiheitsstrafe wurden im KK von 1969 im Vergleich zum KK von 1932 geändert. Das Gericht durfte nur dann eine Freiheitsstrafe aussetzen, wenn nach der Berücksichtigung der Eigenschaften und der persönlichen Lage des Täters die Annahme gerechtfertigt erschien, dass er trotz der unterbliebenen Vollstreckung der Strafe die Rechtsordnung einhalten und insbesondere keine weiteren Straftaten begehen werde (Art. 73 § 2 KK von 1969). Der KK von 1932 schwieg über die Einhaltung der Rechtsordnung und sprach nur von weiteren Straftaten. Ferner musste das Gericht nach dem KK von 1969 in allen Fällen prüfen, ob generalpräventive Erwägungen – das Gesetz verwendete den Begriff „soziale Auswirkungen der Strafe“ (Art. 73 § 2 KK von 1969) – gegen die Strafaussetzung sprachen. Der Streit, der die Lehre unter der Geltung des KK von 1932 beschäftigte, war damit endgültig abgeschlossen. Die Generalprävention stand zudem nicht nur auf dem Papier: Das Oberste Gericht hat in einem Urteil aus dem Jahre 1973 festgestellt, dass die Begründung eines Urteils ganz klar zum Ausdruck bringen müsse, ob die „sozialen Auswirkungen der Strafe“ der Aussetzung der Strafe nicht ent279

Gubin´ski/Sawicki, PiP 12/1958, S. 946. Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 107. Nach Skupin´ski hat Leonieni die Intention des Obersten Gerichts zutreffend verstanden. Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 101. 281 Urteile vom 1. Februar 1958, III KRN 135/56 und vom 12. Februar 1958, II K 1119/57. 282 S ´ liwin´ski, Polskie prawo karne, S. 501, 503. 283 S ´ wida, Prawo karne (1966), S. 328. 284 Gubin ´ ski/Sawicki, PiP 12/1958, S. 947. 285 Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 94. Für Generalprävention hat sich auch Siewierski ausgesprochen. Siehe: Siewierski, Art. 61 RN 11. 280

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

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gegenstanden.286 Ferner wurde die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung gegenüber denjenigen Tätern ausgeschlossen, die ein vorsätzliches Vergehen hooliganischer Natur287 begangen hatten, „es sei denn, daß besondere Umstände dies erforderlich machen“288 (Art. 59 Abs. 2 KK von 1969).289 Auch der KK von 1997 hat insoweit an die Tradition der KK von 1932 und von 1969 angeknüpft. Die zentralen Vorschriften hinsichtlich der Strafaussetzung in Art. 69 KK von 1997 lauten: „§ 1. Bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren, zu einer Freiheitsbeschränkungsstrafe oder zu einer Geldstrafe, die als alleinige Strafe verhängt wird, kann das Gericht die Vollstreckung dieser Strafen zur Bewährung aussetzen, falls trotz der Aussetzung die im Hinblick auf den Täter bestehenden Strafziele ausreichend erfüllt werden, insbesondere der Rückfall verhindert werden kann. § 2. Bei der Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung berücksichtigt das Gericht vor allem die Haltung des Täters, seine Eigenschaften und seine persönliche Lage, seinen bisherigen Lebenswandel sowie sein Verhalten nach der Begehung der Straftat. § 3. Die Strafaussetzung zur Bewährung findet keine Anwendung auf einen Täter im Sinne des Art. 64 § 2, es sei denn, es liegt ein durch besondere Umstände begründeter Ausnahmefall vor; die in Art. 60 §§ 3 und 5 bezeichnete Strafaussetzung zur Bewährung findet keine Anwendung auf einen Täter im Sinne des Art. 64 § 2.“290

Nach dem Wortlaut des Art. 69 § 1 KK von 1997 können generalpräventive Erwägungen der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht 286

Urteil vom 19. Januar 1973, IV KR 323/72, OSNPG 7/1973, Pos. 91. Eine Legaldefinition dieses Begriffes sah Art. 120 § 14 KK von 1969 vor; er lautete: „Hooliganischer Natur sind Vergehen, die sich in einem vorsätzlichen Angriff auf die öffentliche Sicherheit, auf die Gesundheit, Freiheit, persönliche Würde bzw. die Integrität des Menschen, auf ein Organ der Staatsgewalt oder der Staatsverwaltung bzw. auf die Tätigkeit einer staatlichen oder gesellschaftlichen Institution, auf die öffentliche Ordnung oder in einer vorsätzlichen Vernichtung oder Beschädigung von Vermögenswerten äußern, sofern der Täter öffentlich und nach allgemeiner Ansicht grundlos oder aus einem nichtigen Anlass gehandelt und dadurch seine grobe Mißachtung der Hauptgrundsätze der Rechtsordnung bekundet hat.“ Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex. 288 Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex. 289 Eine Beschränkung der Anwendung der Strafaussetzung zur Bewährung bei Tätern, die eine Tat hooliganischer Natur begangen haben, postulierte das Oberste Gericht schon vor der Einführung des KK von 1969 in seinen Richtlinien aus dem Jahre 1966. Danach sollte diese Vergünstigung nur ausnahmsweise bewilligt werden. Siehe dazu: Wytyczne wymiaru sprawiedliwos´ci i praktyki sa˛dowej w sprawie przeste˛pstw o charakterze chuligan´skim, OSNKW 7/1966, Pos. 68. 290 Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. 287

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

mehr entgegenstehen. Das Gericht muss nur prüfen, ob „die im Hinblick auf den Täter bestehenden Strafziele ausreichend erfüllt werden.“ Die negative oder die positive Generalprävention können somit bei der Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung keine Rolle mehr spielen.291 Eine abweichende Auffassung vertritt jedoch Zoll, dem zufolge eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung bei der Gesellschaft nicht den Eindruck erwecken darf, dass der Verurteilte aus dem Verfahren straflos herausgekommen ist.292 Auf der Grundlage des Art. 53 KK von 1997 möchte Zoll auch die generalpräventiven Erwägungen auf die Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausdehnen.293 Dass dieses Argument dem Wortlaut des Art. 69 § 1 KK von 1997 entgegensteht, ist offensichtlich. Die Auffassung von Zoll begründet jedoch die Vermutung, dass der Streit über die Generalprävention, die die Lehre unter der Geltung des KK von 1932 beschäftigte, wieder aufleben kann.294 Dafür sprechen auch die abweichenden Urteile in der Rechtsprechung.295 3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung Keiner der bisherigen polnischen Strafrechtskodizes enthielt eine Vorschrift, die den Strafzumessungsvorgang bei gleichzeitiger Gewährung von Strafaussetzung regelt. Die Frage, ob der Richter zunächst die Freiheitsstrafe bemessen und dann die Entscheidung über die Strafaussetzung treffen soll, oder aber die Höhe der Freiheitsstrafe von der Gewährung der Strafaussetzung abhängig zu machen hat, blieb daher offen.296 Dies führte dazu, dass Lehre und Rechtsprechung die Methode selbst bestimmen mussten. 291

Bojarski, Polskie prawo karne, S. 259. Zoll, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 69 RN 3. 293 Ebenda; ders., in: Fundowicz/Rymarz/Gomułowicz (Hrsg.), Ksie ˛ ga pamia˛tkowa w 70. rocznice˛ urodzin Profesora Wojciecha Ła˛czkowskiego, S. 385. 294 Ähnlich Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s ´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 56. 295 Mit der Auffassung von Zoll stimmen folgende Urteile überein. Urteil des Appellationsgerichts vom 30.9.1998, II Aka 184/98, Prok. i Pr. 4/1999, Pos. 15; Urteil des Appellationsgerichts vom 23.11.2000, II Aka 217/2000, Prok. i Pr. 6/2001, Pos. 16; Urteil des Appellationsgerichts vom 9.3.1999, II Aka 18/98, OSA 3/1999, Pos. 22. Anderer Meinung sind: Urteil des Appellationsgerichts vom 12.6.2002, II Aka 182/2002, OSA 11/2002, Pos. 77; Urteil des Appellationsgerichts vom 5.5.2001, II Aka 279/2000, KZS 1/2002, Pos. 14. 296 Die Auffassung von Skupin ´ ski (Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 326), dass der KK von 1969 dem Richter ein zweistufiges Verfahren (zunächst Festsetzung der Höhe einer Freiheitsstrafe, dann die Entscheidung über die Strafaussetzung) vorschrieb, kann nicht geteilt werden. Die Analyse der Vorschriften über die Strafzumessung (Art. 50 KK von 1969) und die Strafaussetzung (Art. 73 KK von 1969) führt zu der Schlussfolgerung, dass beide 292

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

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Unter der Geltung des KK von 1932 lässt sich in der Praxis der Gerichte eine eindeutige Auffassung hinsichtlich der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung feststellen. Die Richter sahen in diesem Rechtsinstitut eine besondere Form der Strafzumessung.297 Das heißt, dass die Festsetzung der Höhe der Freiheitsstrafe sowie die Abwägung hinsichtlich ihrer Aussetzung zur Bewährung in ein und demselben gedanklichen Schritt erfolgte. Diese Vorgehensweise hat ihre Unterstützung sowohl in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts298 als auch in der Vorschrift über die Abstimmung des jeweiligen Spruchkörpers gefunden. Nach Art. 361 KPK von 1928 war keine gesonderte Abstimmung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung vorgesehen. Die Höhe der Freiheitsstrafe und die Aussetzung ihrer Vollstreckung sollten daher zusammen abgestimmt werden.299 Auch sah die Rechtsprechung es nicht als eine Schlechterstellung des Verurteilten an, wenn er vom Gericht der höheren Instanz zu einer bedingten Freiheitsstrafe bei gleichzeitiger Erhöhung der Freiheitsstrafe verurteilt wurde.300 Damit wurde in der Praxis das Modell abgelehnt, das die Erwägungen über die Aussetzung der Freiheitsstrafe erst nach der Festsetzung der Höhe einer Freiheitsstrafe zuließ. Das Verschmelzen der Festsetzung der Höhe einer Freiheitsstrafe mit der Entscheidung über ihre Aussetzung zur Bewährung erfolgte jedoch nicht zufällig, sondern hatte einen bestimmten Zweck: Die Erhöhung des Strafmaßes bei gleichzeitiger Aussetzung zur Bewährung sollte die abschreckende Wirkung einer Strafe verstärken. Die Umfrage unter Richtern, die Wróblewski und S´wida durchgeführt haben, zeigte dies eindeutig: Die Richter waren bereit, höhere Strafen zu verhängen, falls diese zur Bewährung ausgesetzt werden sollten.301 Ein Teil der Lehre akzeptierte diese Methode der Zumessung der Freiheitsstrafen vollkommen.302 Auch das Oberste Gericht hat in seinem Urteil vom 27. Mai 1921 eine Grundlage für eine derartige Praxis geschaffen.303 Die Gegner dieser Praxis,304 die argumentierten, Methoden (zunächst die Festsetzung der Höhe einer Freiheitsstrafe und danach die Entscheidung über die Strafaussetzung oder umgekehrt) vertretbar waren. Jedenfalls war dies nicht eindeutig geregelt, wovon nicht zuletzt die Anzahl der Entscheidungen des Obersten Gerichts sowie der Streit in der Lehre zeugen. 297 Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 32. 298 Schon vor dem In-Kraft-Treten des KK von 1932 hat das Oberste Gericht in einem Urteil aus dem Jahre 1921 eine solche Vorgehensweise akzeptiert. ZO 230/1921, S. 390. 299 S ´ liwin´ski, Proces karny, S. 501. 300 Leonieni, Wymiar kary a warunkowe skazanie, NP 5/1960, S. 632. 301 Wróblewski/S ´ wida, Se˛dziowski wymiar kary w Rzeczypospolitej Polskiej, S. 480–482. 302 Cyprian, Gł. S. 6/1936, S. 469, 471. 303 ZO 230/1921, S. 390.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

dass der Verurteilte bei einem Widerruf der Aussetzung der Strafe eine höhere Strafe verbüßen müsse, als er verdient habe, scheinen damals einen geringen Einfluss auf die Rechtsprechung gehabt zu haben. Die Konsequenzen dessen waren ganz klar: Es kam zu einer Erhöhung der Dauer der Freiheitsstrafen. Um den abschreckenden Effekt der Freiheitsstrafe zu erhöhen, griffen die Richter zu immer höheren Strafen. Auch in der Nachkriegszeit überwog in Lehre305 und Rechtsprechung306 die Auffassung, die die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung als eine Form der Strafzumessung verstand, wobei es allerdings auch einzelne Stimmen gab, die die Selbstständigkeit der Festsetzung der Freiheitsstrafe und ihrer Aussetzung betonten.307 Die Einführung des KK und des KPK von 1969 hat in dieser Hinsicht keine Änderung gebracht. Der KPK von 1969 normierte keine Pflicht zur gesonderten Abstimmung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe (Art. 97 KPK von 1969). In Rechtsprechung und Lehre überwog wieder die Ansicht, die in der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung keine Modifikation der Vollstreckung der Freiheitsstrafe sah. Leonieni ging weiterhin davon aus, dass die Strafaussetzung eine besondere Form der Strafzumessung sei.308 Einen ähnlichen Standpunkt bezogen Bafia309 und Zoll310. Marek vertrat die Auffassung, dass die Strafaussetzung ein selbstständiges Sanktionsmittel mit präventiv-erzieherischem Charakter sei.311 Skupin´ski wollte das Denken über die Strafaussetzung vollkommen vom Ballast der Freiheitsstrafe befreien.312 Skeptisch gegenüber den Auffassungen, die die Eigenständigkeit der Strafaussetzung hervorhoben, war Gardocki. Er betonte, dass die Methode einer Strafzumessung, die die Höhe der Freiheitsstrafe von der Entscheidung über die Strafaussetzung abhängig machte, dann scheitere, wenn die Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet werde. Dann müsse der Verurteilte eine Freiheitsstrafe erleiden, die er nicht verdient habe.313

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Glaser/Mogilnicki, S. 256; Peiper, S. 176. Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary, S. 21. 306 Urteil des Obersten Gerichts vom 27. November 1957, III K 589/57, OSN 5/1958, S. 7. 307 Gubin ´ ski/Sawicki, PiP 12/1958, S. 948. 308 Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 59. Ähnlich Bafia, Polskie prawo karne, S. 267. 309 Bafia, Polskie prawo karne, S. 267. 310 Zoll, in: Buchała (Redaktion), vor Art. 73 RN 2. 311 Marek, Prawo karne (2005), RN 431. 312 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 326. 313 Gardocki, Prawo karne (1996), RN 343. 305

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

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Festzuhalten ist jedoch, in Übereinstimmung mit Skupin´ski, dass in der Lehre unter der Geltung des KK von 1969 die Auffassungen überwogen, die dem Rechtsinstitut Eigenständigkeit zuschrieben.314 Die Praxis folgte in dieser Hinsicht der herrschenden Meinung. Eine Untersuchung, die im Rahmen des Projekts „Die Probation im System des Vollstreckungsrechts“ an der Universität Wrocław durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass im richterlichen Alltag vor Erlass des Urteils zunächst die Frage beantwortet wurde, ob eine unbedingte oder eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt werden solle, und erst später die Höhe der Freiheitsstrafe festgestellt wurde.315 Man wird insoweit auch von KK und KPK von 1997 keinen Umbruch erwarten können. Diese Gesetze lassen die Frage des Verhältnisses zwischen Festsetzung der Freiheitsstrafe und ihrer Aussetzung ebenfalls offen. Immerhin spricht die Stellung der Vorschriften über die Strafaussetzung in dem Kapitel, das den Titel „Bewährungsmaßnahmen“316 trägt, eher für eine Eigenständigkeit des Rechtsinstitutes. Dabei ist aber zu beachten, dass Art. 110 KPK von 1997 von den Richtern keine gesonderte Abstimmung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verlangt. Nach Samborski, der methodische Hinweise zur Arbeit des Richters gibt, sollen die Richter über die konkrete Strafe mit allen ihren Rechtsfolgen abstimmen,317 was bedeutet, dass eine gesonderte Entscheidung über die Strafaussetzung nicht notwendig ist. Weiterhin wird das Rechtsinstitut in der Lehre überwiegend als besondere Form der Strafzumessung318 oder als eigenständiges Strafmittel319 angesehen. Gardocki, der auch unter der Geltung des KK von 1997 solchen Vorschlägen gegenüber skeptisch bleibt, scheint in der Mindermeinung zu sein.320 Man kann auch annehmen, dass die Praxis angesichts der langen Tradition von der Eigenständigkeit der Strafaussetzung ausgehen wird.321 Eine Ausnahme aus der letzten Zeit stellt jedoch das Ur314 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 326. 315 Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s ´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 154. 316 Im Polnischen verwendet man den Ausdruck „Maßnahmen, die mit der Unterwerfung des Täters unter eine Probe verbunden sind“. Die Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. 317 Samborski, Zarys metodyki pracy se ˛ dziego w sprawach karnych, S. 252. 318 Zoll, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze ˛ s´c´ ogólna, Art. 69 RN 7. 319 Marek, Prawo karne (2005), RN 431. 320 Siehe dazu: Gardocki, Prawo karne (2004), RN 341. 321 Während meines Referendardienstes habe ich den Eindruck gewonnen, dass für die Staatsanwälte und die Richter klar ist, dass die Höhe der Freiheitsstrafe von der Antwort auf die Frage abhängt, ob die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Wurde die Frage bejaht, griffen sie zu langen Freiheitsstrafen, um den abschreckenden Effekt der Strafe zu erhöhen.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

teil des Appellationsgerichts in Kraków vom 5. Dezember 2001322 dar, in dem betont wird, dass die Festsetzung der Höhe der Freiheitsstrafe mit der Entscheidung über die Strafaussetzung nicht verbunden werden darf. Die oben erörterten Auffassungen hinsichtlich der Rechtsnatur der Strafaussetzung haben gezeigt, dass Teile der Lehre, das Oberste Gericht sowie Gerichte der unteren Instanz die Rechtsnatur der Strafaussetzung einheitlich definiert haben. Danach wurde und wird die Strafaussetzung als eigenständiges Sanktionsmittel begriffen. Die Entscheidung über die Strafaussetzung soll zusammen mit der Entscheidung über die Höhe der Freiheitsstrafe getroffen werden. Am Rande ist bemerkenswert, dass dies einer der seltenen Fälle auf dem Gebiet der Strafzumessung ist, in dem die Praxis mit dem größten Teil der Lehre übereinstimmt. 4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung Der KK von 1932 in seiner ursprünglichen Fassung stellte dem Richter nur zwei zusätzliche Maßnahmen zu Verfügung, die neben der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe angeordnet werden konnten. Nach Art. 62 KK von 1932 kamen insoweit lediglich Schutzaufsicht und Wiedergutmachung des angerichteten Schadens in Betracht. Diese zwei Maßnahmen konnte das Gericht nur im Urteil anordnen. Die Schutzaufsicht durfte nur von den Personen oder den Institutionen ausgeführt werden, die in den Augen des Verurteilten „Vertrauen verdienten“ (Art. 62 § 1 KK von 1932). Da ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Angestellten einer Behörde und dem Verurteilten kaum erreichbar war, sollten „die Personen behördlichen Charakters“ nach Makarewicz von der Ausführung dieser Maßnahme ausgeschlossen sein.323 Den gesellschaftlichen Charakter der Schutzaufsicht betonten auch Nisenson und Siewierski.324 In der Praxis spielte jedoch die Schutzaufsicht bis Anfang der 60er Jahre keine Rolle.325 Nach Rappaport waren die Gerichte im Zeitraum 1932–1939 so mit Arbeit überlastet, dass sie nicht genügend Zeit hatten, um geeignete Personen für die Ausführung der Aufsicht auszuwählen.326 Auch in der Nachkriegszeit machten die Gerichte von Art. 63 § 1 KK von 1932 keinen 322

II AKa 279/00, KZS 1/2001, Pos. 14. Makarewicz, S. 231. 324 Nisenson/Siewierski, KK, Art. 62 RN 1. In der Zeit der Volksrepublik Polen siehe: Siewierski, Art. 62 RN 1. 325 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 108; Ste˛pniak, Funkcjonowanie kurateli sa˛dowej, S. 42–43. 326 Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 10. Zur Überlastung der Gerichte siehe auch: Płaza, Historia prawa w Polsce na tle porównawczym, Band 3, S. 650 ff. 323

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Gebrauch.327 Die Ursache dafür lag nach Skupin´ski328 und Leonieni329 im Mangel an entsprechenden Vollstreckungsvorschriften. In der Tat wurde eine Ermächtigung für den Justizminister zur Vorbereitung der entsprechenden Vorschriften erst im Jahre 1959 erlassen.330 Die Verordnung unterschrieb der Justizminister im Jahre 1961,331 so dass der organisatorische Rahmen für die Schutzaufsicht erst ab diesem Datum gegeben war. Auf der Grundlage dieser Verordnung konnten die Präsidenten der Gerichte ehrenamtliche Kuratoren berufen, die zur Führung einer Aufsicht über den Verurteilten verpflichtet waren. Außerdem setzte die Verordnung die Art und Weise fest, nach der die Institutionen die Aufsicht über den Verurteilten ausführen konnten. Obwohl die Verordnung des Justizministers von 1961 in vielen Punkten, auf die es hier nicht ankommt, juristisch fehlerhaft war, erlaubte sie den Richtern, von der Schutzaufsicht faktisch (und nicht nur theoretisch) Gebrauch zu machen.332 Einen weiteren Schritt in der Entwicklung der Schutzaufsicht in der polnischen Rechtsordnung stellte die Verordnung des Justizministers von 1965333 dar, die eine Grundlage für die Berufung der Berufskuratoren schuf. Zu den Aufgaben der Berufskuratoren gehörte jedoch nur die Organisation und die Koordination der Arbeit der ehrenamtlichen Kuratoren, die sich weiterhin unmittelbar mit den Verurteilten beschäftigten.334 Diese organisatorischen Änderungen trugen dazu bei, dass sich seit Anfang der 60er Jahre eine steigende Tendenz in der Anwendung des Art. 62 § 1 KK von 1932 feststellen lässt (1960: 9 Aufsichten, 1961: 55, 1962: 2.004, 1963: 436, 1964: 273, 1965: 2.445, 1966: 9.461, 1967: 10.475, 1968: 12.535, 1969: 9.226335). Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die Höchstzahl des Jahres 1969 nur 14% der Verurteilungen zu 327 Siehe dazu die Tabelle in: Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 353. 328 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 112. 329 Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 151. 330 Ustawa z 18 czerwca 1959 r. o zmianie przepisów poste ˛ powania karnego. Dz. U. 59.36.229. 331 Siehe dazu: Rozporza˛dzenie Ministra Sprawiedliwos ´ci z dnia 24. VI. 1961 r. w sprawie sposobu wykonania orzeczen´, o których mowa w art. 62 kodeksu karnego. Dz. U. 61.34.173. 332 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 119. 333 Rozporza˛dzenie Ministra Sprawiedliwos ´ci z 3 marca 1965 r. w sprawie dozoru nad osobami, którym wykonanie kary pozbawienia wolnos´ci warunkowo zawieszono, oraz w sprawie nadzoru nad osobami warunkowo zwolnionymi. Dz. U. 65.12.80. 334 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 120; Ste˛pniak, Funkcjonowanie kurateli sa˛dowej, S. 90.

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bedingter Freiheitsstrafe ausmachte, so dass von einem breiten Gebrauch der Schutzaufsicht unter der Geltung des KK von 1932 keine Rede sein kann.336 Auch eine Pflicht zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens wurde den Verurteilten sehr selten auferlegt. Im Zeitraum 1934–1937 betrug der Anteil der bedingten Freiheitsstrafen mit zusätzlicher Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens an allen bedingten Freiheitsstrafen weniger als 1%.337 Auch in der Zeit der Volksrepublik Polen spielte die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens eine geringe Rolle338: Lediglich im Zeitraum 1949–1950 wurde die Grenze von einem Prozent (geringfügig) überschritten.339 Die Abneigung der Richter gegenüber der Anordnung dieser Verpflichtung vermochten auch die Richtlinien des Obersten Gerichts nicht zu brechen, die eine häufigere Anwendung der Vorschrift des Art. 62 § 2 KK von 1932 ausdrücklich postulierten.340 Rappaport sah die Ursache der seltenen Anordnung dieser Verpflichtung in der vorsichtigen Formulierung der Vorschrift des Art. 62 § 2 KK von 1932.341 Nach dieser Vorschrift konnte der Verurteilte nur dann zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens verpflichtet werden, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse (stosunki gospodarcze) dies erlaubten. Legte das Gericht dem Verurteilten diese Pflicht auf, so musste es im Urteil ausdrücklich feststellen, dass diese Verpflichtung nicht den finanziellen Ruin des Verurteilten mit sich bringt.342 Die seltene Anwendung der Vorschrift des Art. 62 § 2 KK von 1932 und die Nichtanwendung der Vorschrift des Art. 62 § 1 KK von 1932 bis Anfang der 60er Jahre rief in der Lehre heftige Kritik hervor. Sowohl vor dem 2. Weltkrieg343 als auch in der Zeit der Volksrepublik Polen344 mehrten sich 335 Die Daten stammen von Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 353. 336 Ebenda. 337 Siehe die Daten in: Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 28. 338 Gubin ´ ski/Sawicki, PiP 12/1958, S. 958. 339 Siehe die Daten in: Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 353. 340 Obwieszczenie Ministra Sprawiedliwos ´ci z dnia 29.10.1957 r. o wytycznych wymiaru sprawiedliwos´ci i praktyki sa˛dowej w sprawie prawidłowego orzekania kar przez sa˛dy, Mon. Pol., Nr. 86, Pos. 519. 341 Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 29. 342 Urteil des Obersten Gerichts vom 17. Juni 1935, ZO 59/1936. 343 S ´ liwowski, Gł. S. 9/1934, S. 666 ff.; Cyprian, Gł. S. 2/1937, S. 201; Leonieni, WPP 1/1937, S. 9; Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 28.

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die Stimmen, die der Praxis vorwarfen, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ohne Auferlegung der Verpflichtungen aus Art. 62 KK von 1932 dem Verurteilten eigentlich kein Übel zufügt. Dies führte nach S´wida dazu, dass die Richter die Strafaussetzung als die mildeste Form der Strafzumessung ansahen.345 In der Bevölkerung entstand die Überzeugung, dass die erste Verurteilung (regelmäßig mit Strafaussetzung) eigentlich einen Freispruch bedeutete.346 Dieses Modell änderte erst der KK von 1969, der dem Richter in Art. 75 § 2 einen breiten Katalog von Auflagen zur Verfügung stellte. Dementsprechend konnte das Gericht dem Verurteilten die folgenden Auflagen machen: „1. den mit der Straftat zugefügten Schaden gänzlich oder teilweise zu ersetzen, 2. sich beim Geschädigten zu entschuldigen, 3. die Erfüllung der ihm obliegenden Unterhaltsverpflichtungen gegenüber einer anderen Person, 4. die Ausführung von bestimmten Arbeiten oder Leistungen für gesellschaftliche Zwecke, 5. die Ausübung einer Erwerbs-, Lerntätigkeit oder Vorbereitung auf einen Beruf, 6. die Unterlassung des Alkoholmißbrauchs, 7. die Unterwerfung unter ein Heilverfahren, 8. die Unterlassung des Aufenthalts in einer bestimmten Umgebung oder an einer bestimmten Örtlichkeit, 9. andere zweckmäßige Maßnahmen während der Probezeit, sofern diese geeignet sind, die Verübung einer weiteren Straftat zu verhindern.“347

Aus Ziff. 9 des Art. 75 § 2 KK von 1969 ging eindeutig hervor, dass der Gesetzgeber einen offenen Katalog der Auflagen vorsah,348 so dass das Gericht einen großen Spielraum bei der Auswahl der konkreten Verpflichtungen hatte. Das Gericht bestimmte auch die Dauer und die Art der auferlegten Verpflichtungen (Art. 77 § 1 KK von 1969) und konnte die im Art. 75 Ziff. 4–9 KK von 1969 bezeichneten Verpflichtungen während der Bewährungszeit erweitern, ändern sowie den Verurteilen sogar von ihrer Erfüllung befreien, soweit erzieherische Gründe dafür sprachen (Art. 77 § 2 KK von 344 Leonieni, Warunkowe zawieszenie kary, S. 128–129; S ´ wida, Prawo karne (1961), S. 254. 345 S ´ wida, Prawo karne (1960), S. 207. 346 Gubin ´ ski/Sawicki, PiP 12/1958, S. 957–958; S´wida, Prawo karne (1961), S. 254; Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 109. 347 Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex. 348 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 109.

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1969). Außerdem lag es nach dem Gesetzeswortlaut im Ermessen des Gerichts, ob die Auflagen überhaupt zur Anwendung kamen. Nur dann, wenn der Täter das Delikt der Entwendung gesellschaftlichen Vermögens beging, musste ihn das Gericht zur Leistung von Schadensersatz verpflichten (Art. 75 § 3 KK von 1969). Es ist jedoch zu beachten, dass es Stimmen in der Literatur gab, die das Ermessen des Gerichts in dieser Hinsicht wesentlich einzuschränken versuchten. Nach Leonieni349 sollte das Gericht dem Verurteilten in jedem Fall Auflagen erteilten, falls die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auch das Oberste Gericht versuchte die Anordnung der Auflagen zur Pflicht zu machen, wenn aus der Perspektive der Gesellschaft die Umstände des Falles dafür sprachen.350 Eine einschränkende Auslegung der Vorschrift des Art. 75 § 2 KK von 1969 lässt sich bei den Autoren feststellen, die die Individualisierung bei der Anordnung der Auflagen betonten,351 sowie auch in einem Urteil des Obersten Gerichts, in dem dieses sich ausdrücklich gegen die Anordnung von Auflagen aussprach, die in ihrem Inhalt den Nebenstrafen ähnelten.352 Jedenfalls wurde die Tradition des KK von 1932 gebrochen, indem die Gerichte nach der Einführung des KK von 1969 einen wesentlich weiteren Gebrauch von den Auflagen machten. Nach Leonieni wurden im Jahre 1970 in 37% der Verurteilungen zu bedingten Freiheitsstrafen Auflagen angeordnet.353 Im Jahre 1971 stieg die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen mit Auflagen auf bis zu 46,7%.354 Lammich geht davon aus, dass die Gerichte im Jahre 1978 bei 41,9% der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen eine bzw. mehrere Auflagen anordneten.355 Weigend schätzte die Anzahl der Fälle, in denen Auflagen die Strafaussetzung begleiteten, auf 35%.356 Der KK von 1969 änderte auch die Rechtsgrundlagen der Aufsicht. Nach Art. 76 § 2 KK von 1969 konnte die Aufsicht von einer bestimmten Person, Institution oder gesellschaftlichen Organisation durchgeführt werden. Die Verordnung des Justizministers von 1971357 stellte jedoch fest, dass mit der Aufsicht nur ein Kurator, eine Arbeitsstätte oder eine Organisation (Ge349 Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 117 ff. 350 Urteil des Obersten Gerichts vom 6. November 1970, V KRN 419/70, OSNKW 2/1971. 351 Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 75 RN 6. 352 Urteil des Obersten Gerichts vom 28. September 1972, I KR 134/72, OSNKW 1/1973. 353 Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 157. 354 Ebenda. 355 Lammich, MschrKrim 63 (1981), S. 86. 356 Weigend, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 754.

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werkschaften, Jugendorganisationen usw.) betraut werden konnte, so dass die Personen, die keine Kuratoren waren, von der Durchführung der Aufsicht ausgeschlossen wurden. Die Verordnung von 1971 blieb bei dem Modell, dass die unmittelbare Aufsicht von ehrenamtlichen Kuratoren wahrzunehmen war, dagegen oblag den hauptamtlichen Kuratoren die Anleitung und die Kontrolle der ehrenamtlichen Kuratoren (§ 22). Nur in besonders schweren Fällen sollten die hauptamtlichen Kuratoren die Aufsicht selbst ausüben (§ 22).358 Diese Aufteilung der Aufgaben wurde unter der Geltung des KK von 1969 in der Praxis auch vollkommen realisiert.359 Die Auferlegung der Aufsicht blieb im KK von 1969 fakultativ. Nur bei einer Aussetzung der Freiheitsstrafe eines Heranwachsenden zur Bewährung war die Anordnung der Aufsicht obligatorisch, falls eine vorsätzliche Straftat der Verurteilung zugrunde lag (Art. 76 § 3 KK von 1969). Die obligatorische Aufsicht gegenüber den Rückfalltätern im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1969 wurde dagegen erst im Jahre 1995 eingeführt,360 so dass das Gericht einen beachtlichen Spielraum bei der Auferlegung der Aufsicht unter der Geltung des KK von 1969 hatte. Nach Leonieni sollte das Gericht grundsätzlich die Aufsicht in jedem Fall anordnen, falls dem Verurteilten Auflagen gemacht wurden.361 In der Praxis lässt sich ein weiter Gebrauch der Aufsicht nach der Einführung des KK von 1969 feststellen. Wurde im Jahre 1969 die Aufsicht lediglich bei 14% aller Strafaussetzungen angeordnet, so lässt sich in den Jahren 1970–1972 schon ein Prozentsatz von 30% feststellen.362 Die Analyse des statistischen Materials ergab, dass die Anzahl der Aufsichten in den anschließenden Jahren bis zur Aufhebung des KK von 1969 durchschnittlich zwischen 30% und 40% aller bedingten Freiheitsstrafen schwankte.363 In absoluten Zahlen wurden bis Ende der 80er Jahre ungefähr 357 Rozporza˛dzenie Ministra Sprawiedliwos ´ci z dnia 2 kwietnia 1971 r. w sprawie dozoru i nadzoru ochronnego. Dz. U. 71.9.95. 358 Rozporza˛dzenie Ministra Sprawiedliwos ´ci z dnia 24 listopada 1986 r. w sprawie kuratorów sa˛dowych. Dz. U. 86.43.212. Diese Verordnung verpflichtete die Kuratoren zur Ausführung zumindest von fünf Aufsichten in besonders schweren Fällen. 359 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 302. Siehe dazu die Daten in Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 188. 360 Art. 76 § 3 des KK von 1969 wurde durch Art. 1 Pkt 13 des Gesetzes vom 12. Juli 1995 geändert. Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 361 Leonieni, Warunkowe zwieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 178. 362 Ebenda, S. 353. 363 Siehe dazu Statistisches Jahrbuch des jeweiligen Jahres.

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20.000 Aufsichten jährlich auferlegt. Seit Anfang der 90er Jahre stieg die Anzahl auf mehr als 40.000 im Jahre 1997 an.364 Der KK von 1969 sah noch ein weiteres Rechtsinstitut, die Bürgschaft, vor, die in ihrer Funktion der Aufsicht ähnelte. Der KK von 1932 kannte dieses Rechtsinstitut noch nicht. Nach dem Wortlaut des Art. 76 § 1 KK von 1969 konnte das Gericht die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung von der Bürgschaft einer gesellschaftlichen Organisation, einer Institution oder einer vertrauenswürdigen Person abhängig machen, durch die gewährleistet werden sollte, dass der Verurteilte die Rechtsordnung einhält und insbesondere keine weiteren Straftaten begeht. Die Bürgschaft spielte jedoch in der Praxis eine sehr geringe Rolle.365 In den Jahren 1970–1976 kam dieses Institut lediglich bei 0,6% der bedingten Freiheitsstrafen zur Anwendung.366 Der KK von 1969 schuf auch eine Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe neben der Strafaussetzung, soweit deren Zumessung auf einer anderen Rechtsgrundlage nicht vorgesehen war (Art. 75 § 1 KK von 1969). Diese zusätzliche Geldstrafe hatte zwei Funktionen: Zum einen sollte sie die Bagatellisierung der Strafe durch die Strafaussetzung verhindern,367 d.h. sie sollte gewährleisten, dass in der Gesellschaft nicht der Eindruck entsteht, die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung komme einem Freispruch gleich;368 zum anderen sollte sie dem Täter klar machen, dass diese Form der Bestrafung keine Nachsicht bedeutet.369 Beide Funktionen hat das Oberste Gericht in seinen Richtlinien mit Nachdruck hervorhoben: „(. . .) die auf Grund des Art. 75 Abs. 1 StGB verhängte Geldstrafe soll, als Bestandteil der verhängten Strafe, deren tatsächliche Empfindlichkeit gewährleisten sowie der Meinung vorbeugen, daß der Täter mit Nachsicht behandelt wird, und sie soll ein zusätzliches Element für die Einhaltung der Rechtsordnung durch den Verurteilten darstellen.“370 364

Siehe dazu Statistisches Jahrbuch des jeweiligen Jahres. Lammich, MschrKrim (63) 1981, S. 86; ders., in: Dünkel/Spiess (Hrsg.), Alternativen zur Freiheitsstrafe. Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe im internationalen Vergleich, S. 229; Weigend, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht, S. 755. 366 Lammich, MschrKrim 63 (1981), S. 86. 367 Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 75 RN 1. 368 Ebenda, Art. 72 RN 2; Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w polskim prawie karnym, S. 87. 369 Vgl. Urteil des Obersten Gerichts vom 3. August 1976, VI KRN 170/76, OSNKW 10–11/1979. Dazu auch: Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 278. 370 Wytyczne Sa˛du Najwyz ˙ szego z dnia 28 czerwca 1978 r., OSNKW 4/1978. Übersetzung nach Lammich, MschrKrim (63) 1981, S. 85. 365

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Ob die Einführung der zusätzlichen Rechtsgrundlage zu einer breiteren Anwendung der zusätzlichen Geldstrafe beitrug, lässt sich nicht sagen. Die Statistik informiert nur über die Anzahl der Geldstrafen, die neben der (bedingten) Freiheitsstrafe verhängt wurden, ohne eine Rechtsgrundlage für ihre Festsetzung anzugeben. Der KK von 1997 hat hinsichtlich der Auflagen und der Aufsicht an die Tradition des KK von 1969 angeknüpft. Der neue Kodex verzichtete auf die Bürgschaft, weil die Erfahrungen aus der Zeit der Geltung des KK von 1969 darauf hinwiesen, dass eine breitere Anwendung dieses Rechtsinstitutes nicht zu erwarten war. Der Katalog der Auflagen mit Ausnahme der Pflicht zur Ausführung von bestimmten Arbeiten oder Leistungen für gesellschaftliche Zwecke (Art. 75 § 2 Ziff. 4) wurde vom KK von 1969 im Wesentlichen in den KK von 1997 übernommen. Es wurde nur eine Auflage eingeführt, die der KK von 1969 noch nicht kannte: Das Gericht kann den Verurteilten verpflichten, das Gericht oder den Kurator über den Verlauf der Bewährungszeit zu informieren (Art. 72 § 1 Ziff. 1 KK von 1997). Im Gegensatz zum KK von 1969 ist jedoch im KK von 1997 die Anordnung aller Auflagen fakultativ. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied liegt in der Verpflichtung des Gerichts zur Anhörung des Verurteilten, bevor die Dauer und die Art und Weise der Auflagen festgelegt wird.371 Auch die Aufsicht ist im KK von 1997 (Art. 73 § 1) wie schon im KK von 1969 grundsätzlich fakultativ. Das Gericht muss lediglich in drei Fällen die Aufsicht anordnen: Gegenüber einem heranwachsenden Täter einer vorsätzlichen Straftat (Art. 73 § 2 KK von 1997), einem Rückfalltäter im Sinne des Art. 64 § 2 KK von 1997 (Art. 73 § 2 KK von 1997) sowie einem Täter der organisierten Kriminalität (Art. 65 KK von 1997). Die Einführung des KK von 1997 hat auch keine prozentuale Zunahme der Aufsichten mit sich gebracht: In den Jahren 1999–2000 ordneten die Gerichte mehr als 50.000 Aufsichten an, was fast 40% aller bedingten Freiheitsstrafen betraf.372 In den Jahren 2003–2004 ist sogar der Anteil der bedingten Freiheitsstrafen mit angeordneten Aufsichten an allen Verurteilungen zu bedingter Freiheitsstrafe gesunken. Er betrug im Jahre 2003 fast 30% (69.398) und im Jahre 2004 fast 29% (80.706).373 Der KK von 1997 hat auch vom KK von 1969 die Regel übernommen, die die Verhängung der Geldstrafe erlaubt, wenn eine andere Rechtsgrund371 Górniok/Hoc /Kalitowski/Przyjemski /Sienkiewicz /Szumski /Tyszkiewicz /Wa˛sek, Art. 74 RN 1. Der Katalog der Verpflichtungen wurde durch das Gesetz vom 27.7.2005 (Dz. U. 05.163.1363) und durch das Gesetz vom 29.7.2005 (Dz. U. 05.180.1493) geändert. 372 Siehe dazu Rocznik Statystyczny, 2001. 373 Rocznik Statystyczny, 2005.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

lage (z. B. die Strafandrohung des Besonderen Teils) nicht besteht (Art. 71 § 1 KK von 1997). Im Gegensatz zum KK von 1969 hat der KK von 1997 jedoch die Höchstgrenze der Geldstrafe in Art. 71 § 1 KK von 1997 mit 180 Tagessätzen festgesetzt, so dass heute kein Zweifel an der Obergrenze dieser Geldstrafe mehr bestehen kann.374

III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe 1. Vollstreckungsorgan Nach allen drei polnischen Strafrechtskodizes war das Gericht für die Überwachung des Verurteilten während der Bewährungszeit, der Änderung von Maßnahmen neben der Strafaussetzung sowie für die Anordnung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zuständig. Da die Tilgung der Strafe nach dem in den polnischen Strafrechtskodizes angenommenen Konzept automatisch erfolgte, brauchte das Gericht in dieser Hinsicht keine Maßnahmen zu ergreifen. 2. Widerruf der Strafaussetzung Schon der KK von 1932 sah eine obligatorische Anordnung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe vor. Wurde der Verurteilte während der Bewährungszeit rückfällig, indem er eine erneute Straftat aus denselben Beweggründen oder von derselben Art beging, so hatte das Gericht die Vollstreckung der Strafe anzuordnen (Art. 63 § 1 KK von 1932). Der Widerruf der Aussetzung war nur dann fakultativ, wenn der Verurteilte eine andere Straftat begangen, sich der Aufsicht entzogen, sich schlecht betragen oder die Pflicht zur Schadenswiedergutmachung nicht erfüllt hatte (Art. 63 § 2 KK von 1932).375 Nach Makarewicz musste jedoch eine erneute Verurteilung vorliegen, damit der Widerruf der Strafaussetzung zulässig war.376 In der Nachkriegszeit vertrat Leonieni dieselbe Auffassung.377 In der Praxis wurden die Aussetzungen der Freiheitsstrafe nur auf der Grundlage des Art. 63 § 1 KK von 1932 widerrufen.378 Die Gerichte vernachlässigten fast voll374 Zur Geschichte des Streites, der unter der Geltung des KK von 1969 geführt wurde, siehe: Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 279–280. 375 Das Gesetz vom 16. November 1960 hat die zusätzliche Prämisse der Nichtzahlung der Geldstrafe eingeführt. Ustawa z dnia 16 listopada 1960 r. o zmianie przepisów dotycza˛cych kary grzywny, kosztów i opłat sa˛dowych w sprawach karnych. Dz. U. 60.51.299. 376 Makarewicz, S. 233. 377 Leonieni, Warunkowe zawieszenie wykonania kary, S. 154. 378 Ebenda, S. 150.

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kommen die fakultative Grundlage des Art. 63 § 2 KK von 1932.379 Nach Leonieni lag die Ursache dafür in dem Opportunismus der Richter und in der Unbestimmtheit des Begriffes „sich schlecht betragen hat“.380 Eine Untersuchung der Verurteilungen von 4.061 Personen aus dem Jahre 1959, die die Staatsanwaltschaft im Jahre 1963 durchgeführt hat, hat gezeigt, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nur gegenüber 67 Personen (1,6%) angeordnet wurde.381 In 54 Fällen haben die Verurteilten in der Bewährungszeit ein ähnliches Delikt begangen.382 In 13 Fällen wurden sie wegen einer anderen Straftat verurteilt.383 Diese geringe Anordnungsquote hatte ihren Grund allerdings nicht primär im rechtstreuen Verhalten der Verurteilten, sondern vor allem in der fehlenden Kenntnis des Richters von erneuten Verurteilungen. Die Untersuchung ergab, dass die Gerichte bei 220 Verurteilungen innerhalb der Bewährungszeit keine Informationen über die Begehung von weiteren Delikten erhielten,384 was die Anordnung von Freiheitsstrafe verhinderte. Auch die Widerrufsgründe der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe wurden im KK von 1969 tiefgreifend geändert, wobei sie im Vergleich zum KK von 1932 teils eingeschränkt teils erweitert wurden. Die obligatorische Anordnung war gemäß Art. 78 § 1 KK von 1969 davon abhängig, ob der Verurteilte ein der ersten Tat ähnliches vorsätzliches Delikt begangen hat, für das eine rechtskräftige Verurteilung zur Freiheitsstrafe erfolgte, oder die Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens am gesellschaftlichen Vermögen nicht erfüllte (Art. 78 § 1 KK von 1969). Folgende Unterschiede lassen sich im Vergleich zum KK von 1932 feststellen: a) Während ein obligatorischer Grund zur Anordnung der Freiheitsstrafe nach dem KK von 1932 unabhängig von der Form der Strafe vorlag, die wegen der in der Bewährungszeit begangenen Straftat verhängt wurde, beschränkte Art. 78 § 1 KK von 1969 die obligatorische Anordnung auf die Fälle, in denen die Verurteilung in der Bewährungszeit auf eine Freiheitsstrafe entfiel; wobei das Gesetz keine Antwort auf die Frage gab, ob die bedingte oder die unbedingte Freiheitsstrafe gemeint war. Selbstverständlich führte die Unklarheit des Gesetzes zu einem Streit in der Lehre.385 Das 379

Ebenda, S. 157. Ebenda, S. 156. 381 Moszyn ´ ski, NP 2/1964, S. 149. 382 Ebenda. 383 Ebenda. 384 Ebenda. 385 Zoll sprach sich für eine unbedingte Freiheitsstrafe aus. Zoll, in: Buchała (Redaktion), Art. 78 RN 6. 380

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Oberste Gericht hat sich in einer Reihe von Entscheidungen386 für die Alternative ausgesprochen, die nicht zwischen der bedingten und der unbedingten Freiheitsstrafe differenzierte, d.h. der Grund zur Anordnung der obligatorischen Freiheitsstrafe war nach der Auffassung des Gerichts unabhängig davon, ob die in der Bewährungszeit verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. b) Eine weitere Modifizierung durch den KK von 1969 lag in der Beschränkung des Widerrufs auf die Straftaten, die innerhalb der Bewährungszeit vorsätzlich begangen wurden. Der KK von 1932 hatte demgegenüber in Art. 63 § 1 über die Form der Straftat geschwiegen, was zu der Annahme berechtigte, dass auch fahrlässige Taten den Widerruf begründen konnten. c) Außerdem hatte der KK von 1932 die obligatorische Anordnung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe – wie gezeigt – davon abhängig gemacht, ob der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen hatte, die von derselben Art wie die Erste war, oder ob er aus denselben Beweggründen gehandelt hatte (Art. 63 § 1 KK von 1932). Der KK von 1969 erweiterte die Möglichkeit des Widerrufs der Aussetzung durch die Definition „der ähnlichen Tat“, die in Art. 120 § 2 KK von 1969 zum Ausdruck gebracht wurde. Sie lautete: „Unter ähnlichen Straftaten sind Straftaten zu verstehen, die gegen das gleiche oder ein gleichartiges Rechtsgut gerichtet sind, sowie solche, die aus gleichen Beweggründen begangen wurden; in der Absicht der Erlangung von Vermögensvorteilen begangene Straftaten gelten als ähnlich.“387

Es ist selbstverständlich, dass die Redewendung des Art. 120 § 2 KK von 1969 „das gleiche oder ein gleichartiges Rechtsgut“ einen wesentlich weiteren Umfang als der Begriff „Straftat derselben Art“ des Art. 63 § 1 KK von 1932 hat. d) Ferner führte der KK von 1969 eine neue Prämisse ein, die die obligatorische Anordnung der Freiheitsstrafe begründete. Hatte der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit die Verpflichtung zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens am Gemeineigentum nicht erfüllt, so musste das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe anordnen. e) Auch im Bereich der fakultativen Anordnung der Freiheitsstrafe hat der Gesetzgeber eingegriffen. Der Widerruf der Strafaussetzung stand nach dem neuen KK im Ermessen des Gerichts, wenn der Verurteilte während der Bewährungszeit in anderer Weise gröblich gegen die Rechtsordnung 386 Beschluss vom 31. Juli 1996, IV KKN 31/96, Prok. i Pr. 1/1997, S. 1; Beschluss vom 17. September 1996, I KZP 19/96, OSNKW 11–12/1996, S. 75; Beschluss vom 2. Juli 1997, V KKN 321/96, Prok. i Pr. 1/1998, S. 4; Beschluss vom 6. November 1997, II KKN 277/96, Prok. i Pr. 5/1998, S. 2. 387 Übersetzung nach Geilke, Der polnische Strafkodex.

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verstoßen oder sich der Erfüllung der Auflagen entzogen hatte. Nach dem KK von 1932 war die Anordnung der Freiheitsstrafe fakultativ, wenn der Verurteilte eine andere Straftat begangen, sich der Aufsicht entzogen, sich schlecht betragen oder die Pflicht der Schadenswiedergutmachung nicht erfüllt hatte (Art. 63 § 2 KK von 1932). f) Schließlich ist hervorzuheben, dass der KK von 1969 im Vergleich zum KK von 1932 die Frist von 3 Monaten bis zu 6 Monaten verlängerte, innerhalb deren die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe angeordnet werden konnte. In der Praxis war der Widerruf der Aussetzung auf der Grundlage des KK von 1969 keine Ausnahme. Die Befunde der Untersuchung von 276 Fällen aus den Jahren 1972–1973, die das Institut zur Erforschung des Richterrechts (Instytut Badania Prawa Sa˛dowego) durchgeführt hat, ergaben, dass die Anordnungsquote in den untersuchten Bezirken der Woiwodschaftsgerichte von 4,6% bis zu 8% schwankte.388 Die Differenz war bei bestimmten Gerichten noch größer: Die Anordnungsquote betrug z. B. im Kreisgericht (sa˛d powiatowy) Warszawa 4,5% und im Kreisgericht Wołomin 12%.389 Eine Untersuchung, die im Rahmen des Projekts „Die Probation im System des Vollstreckungsrechts“ an der Universität Wrocław durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass aus einer Gruppe von 486 Personen, die im Jahre 1991 zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurden, die Aussetzung der Freiheitsstrafe gegenüber 83 Personen (17%) widerrufen wurde.390 In 7,6% der Fälle wurde Art. 78 § 1 KK von 1969 (obligatorische Anordnung) angewendet und in 9,2% der Fälle haben die Richter zu Art. 78 § 2 KK von 1969 gegriffen.391 Nur in einem Fall wurde die Strafaussetzung auf der Grundlage des Art. 78 § 3 KK von 1969 (fakultative Anordnung) widerrufen.392 Die Widerrufsquote war noch wesentlich höher bei Personen, die wegen Diebstahls verurteilt wurden: Sie betrug dort 35,9%.393 Die Widerrufsgründe wurden im KK von 1997 im Vergleich zum KK von 1969 anders ausgestaltet, wobei die Aufteilung auf obligatorische und fakultative Widerrufsgründe beibehalten wurde. Art. 75 KK von 1997 lautet: 388

Bułacin´ski, NP 11/1976, S. 1535. Ebenda. 390 Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s ´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 140. 391 Ebenda, S. 169. 392 Ebenda. 393 Ebenda, S. 140. 389

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

„§ 1. Das Gericht ordnet die Vollstreckung der Strafe an, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine ähnliche vorsätzliche Straftat begangen hat, für die er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. § 2. Das Gericht kann die Vollstreckung der Strafe anordnen, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit in grober Weise die Rechtsordnung verletzt, insbesondere wenn er eine andere als die in § 1 bezeichnete Straftat begangen hat, wenn er sich der Begleichung der Geldstrafe, der Aufsicht, der Erfüllung der ihm auferlegten Pflichten oder der ihm gegenüber angeordneten Strafmaßnahmen entzieht. § 3. Das Gericht kann die Vollstreckung der Strafe anordnen, wenn der Verurteilte nach Verhängung des Urteils, aber bevor dieses rechtskräftig wurde, in grober Weise die Rechtsordnung verletzt und insbesondere, wenn er in diesem Zeitraum eine Straftat begangen hat. § 4. Die Anordnung der Vollstreckung der Strafe kann nicht später als innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgen.“394

Erkennbar ist, dass im Bereich der obligatorischen Widerrufsgründe im Vergleich zum KK von 1969 die Prämisse der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens am gesellschaftlichen Vermögen entfallen ist. Der Gesetzgeber hat jedoch wiederum nicht entschieden, ob die Verurteilung zur bedingten oder zur unbedingten Freiheitsstrafe während der Bewährungszeit zur Anordnung der Freiheitsstrafe führen soll. Die Lehre lässt schon eine bedingte Freiheitsstrafe ausreichen.395 Die Rechtsgrundlagen zur fakultativen Anordnung der Freiheitsstrafe hat der KK von 1997 fast wörtlich aus dem KK von 1969 übernommen. Ein bedeutsamer Unterschied ist bei der nicht gezahlten zusätzlichen Geldstrafe gegeben. Während der KK von 1969 nur über die Nichtzahlung der Geldstrafe sprach, wendet der KK von 1997 in Art. 75 § 2 den Begriff „Entziehung“ an, was das „Können“ hervorhebt. Diese Änderung darf jedoch nicht überschätzt werden, weil schon unter der Geltung des KK von 1969 die Kommentarliteratur hervorhob, dass die bloße Nichtzahlung der zusätzlichen Geldstrafe nicht automatisch zur Anordnung der Freiheitsstrafe führen dürfe.396 Das Gericht musste in jedem Fall zunächst prüfen, ob der Verurteilte eine Möglichkeit hatte, seine Geldstrafe zu zahlen.397 Wie viele Freiheitsstrafen letztlich in der Praxis tatsächlich widerrufen werden, lässt sich nicht genau feststellen. Empirische Forschungen in dieser 394

Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Zoll, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 75 RN 7; Górniok/ Hoc/Kalitowski/Przyjemski/Sienkiewicz/Szumski/Tyszkiewicz/Wa˛sek, Art. 75 RN 2; Marek, Prawo karne (2005), RN 439. 396 Siehe dazu: Andrejew/S ´ wida/Wolter, Art. 78 RN 8; Zoll, in: Buchała (Redaktion), Art. 78 RN 12. 397 Zoll, in: Buchała (Redaktion), Art. 78 RN 12. 395

2. Abschn.: Die Entwicklung in den polnischen Strafrechtskodizes

281

Hinsicht fehlen heutzutage weitgehend. Die Lehre ist geteilter Auffassung. Während Siemaszko die Widerrufsquote auf 6% im Jahre 1999 schätzt,398 geht Szymanowski von 19–20% aus.399 3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe Nach allen drei polnischen Strafrechtskodizes erfolgte die Tilgung der Verurteilung automatisch, soweit die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht innerhalb der festgesetzten Fristen angeordnet wurde. Der Unterschied lag im Wesentlichen in dem Zeitraum, in dem die Tilgung erfolgte. Nach dem KK von 1932 hatte das Gericht drei Monate nach dem Ende der Bewährungszeit, um die Vollstreckung der ausgesetzten Freiheitsstrafe anzuordnen (Art. 64 KK von 1932). Nach dem KK von 1969 betrug der entsprechende Zeitraum 6 Monate. Auch der KK von 1997 blieb bei der Grenze von sechs Monaten (Art. 76 § 1 KK von 1997). Wurde jedoch der Täter zu einer zusätzlichen Geldstrafe verurteilt oder wurde ihm gegenüber eine Strafmaßnahme (s´rodek karny) angeordnet, so kann die Tilgung der Verurteilung nicht vor ihrer Vollstreckung, dem Erlass der Strafe oder Maßnahme oder dem Eintreten ihrer Vollstreckungsverjährung erfolgen (Art. 76 § 2 KK von 1997). Dies betrifft allerdings die Pflicht zur Schadenswiedergutmachung (Strafmaßnahme) nicht (Art. 76 § 2 KK von 1997). Die Tilgung der Verurteilung zu Freiheitsstrafe kraft Gesetzes war mit einer anderen Vergünstigung verbunden: Schon unter der Geltung des KK von 1932 sollte die Information über die Verurteilung nach der Tilgung aus dem Strafregister entfernt werden.400 Die Bestrafung galt nach der Tilgung der Verurteilung als nicht erfolgt.401 Der Verurteilte konnte von diesem Moment an behaupten, dass er nicht bestraft sei. Ähnliche Grundsätze waren unter der Geltung des KK von 1969 in Kraft und gelten auch nach dem InKraft-Treten des KK von 1997. Auf der Basis der beiden dargestellten Rechtssysteme zur bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland und Polen kann nunmehr im nachfolgenden Abschnitt ein Vergleich dieser Rechtssysteme vorgenommen werden.

398

Siemaszko, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 67. Szymanowski, Auszug aus der Diskussion, in: Probacyjne s´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 91. 400 Makarewicz, S. 235. 401 Ebenda. 399

282

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

Dritter Abschnitt

Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen „Das deutsche Recht hat sich mit dem Institut der bedingten Verschonung mit Freiheitsstrafe nur zögernd befreundet.“402

Dieser Satz gibt die Entwicklung der Strafaussetzung im deutschen Strafsystem zutreffend wieder. Obwohl die Autoren dieser Behauptung als Maßstab die Rechtsentwicklung in verschiedenen Ländern gemeint haben, gilt sie ohne Zweifel auch für den Vergleich mit den polnischen Strafrechtskodizes, zumindest bis zum In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969, das das Rechtsinstitut der Strafaussetzung im deutschen Strafgesetzbuch tiefgreifend umbaute. Die Zurückhaltung gegenüber der Strafaussetzung ist in der deutschen Rechtsordnung, insbesondere hinsichtlich der Einführung des Rechtsinstitutes in das StGB, sichtbar. Während in Polen schon der KK von 1932 dem Richter das Instrument der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung in die Hand gab, wurde dieses Rechtsinstitut in Deutschland erst im Jahre 1953 mit dem 3. StrÄndG in das StGB eingeführt. Nicht einmal die Kraft der soziologischen Schule in Deutschland und die Entschlossenheit von Liszts sowie aller Befürworter der bedingten Freiheitsstrafe reichten aus, um die zahlreichen Projekte einer Einführung des neuen Rechtsinstitutes in das StGB Realität werden zu lassen.403 Die Entwicklung ging den Umweg über das Begnadigungsrecht,404 was nach von Hippel ein Musterbeispiel dafür ist, wie Gesetzesreformen nicht gemacht werden sollten.405 Die Einzelstaaten in Deutschland erließen schon im Jahre 1895 die Verordnungen über die bedingte Begnadigung, was als erste Probe einer Einführung der Strafaussetzung in der deutschen Praxis angesehen werden kann. Von der Zurückhaltung der deutschen Rechtsordnung gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe zeugt nicht nur der späte Zeitpunkt ihrer Einführung in das StGB. Auch in anderen Hinsichten weisen die deutschen Vorschriften im Vergleich zu den polnischen Regelungen eine vorsichtigere Haltung gegenüber der Strafaussetzung auf, wobei allerdings zu beachten ist, dass seit dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 die deutschen Regelungen in einigen Punkten strafaussetzungsfördernder als die Vorschriften der polnischen Kodizes sind. Um dies zu zeigen, wird nachfolgend auf drei Aspekte eingegangen: Den gesetzlichen Anwendungsbereich und die Förderung der 402

Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 65 I RN 7. Zur Geschichte der Entwürfe siehe: Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel. 404 LK-Gribbohm, vor § 56 RN 2. 405 Hippel, ZStW 22 (1921), S. 197. 403

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

283

bedingten Freiheitsstrafe (I), das System der Gewährung der bedingten Freiheitsstrafe (II) und die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe (III). I. Der gesetzliche Anwendungsbereich und die Förderung der bedingten Freiheitsstrafe 1. Die Höhe der Freiheitsstrafe Beginnt man die Analyse bei der Dauer der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen, so zeigt sich, dass sich die Rechtsgrundlagen beider Strafrechtsysteme ganz verschieden entwickelt haben. Während schon der KK von 1932 dem Gericht gestattete, eine zweijährige Freiheitsstrafe auszusetzen (der KK von 1969 schob die Grenze bei Fahrlässigkeitsdelikten auf drei Jahre und der KK von 1997 bei bestimmten Tätern sogar auf fünf Jahre herauf), spiegelt demgegenüber die Entwicklung der deutschen Vorschriften eine große Vorsicht in dieser Hinsicht wider. Bevor das Rechtsinstitut im Jahre 1953 in das StGB eingeführt und die Obergrenze der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen auf 9 Monate festgesetzt wurde, ließ das Begnadigungsrecht der einzelnen deutschen Länder überwiegend nur niedrige Grenzen der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen zu.406 Das bedeutet, dass die Gerichte in Polen im Jahre 1953, als das 3. StrRG für die BRD die Grenze auf 9 Monate festsetzte, schon seit 1932 bis zu 2jährige Freiheitsstrafen zur Bewährung aussetzen konnten. Erst das 1. StrRG von 1969 erhöhte die Obergrenze auf zwei Jahre, wobei sehr strenge Voraussetzungen gegenüber den Freiheitsstrafen im Bereich über 1 bis zu 2 Jahren festgelegt wurden. Wie oben aufgezeigt, hatte die Rechtsprechung des BGH bezüglich der Strafaussetzung von Freiheitsstrafen über einem Jahr während der 70er Jahre zu einer liberaleren Auffassung tendiert, wobei es erst in den 80er Jahren zu einem Durchbruch kam. Auch heute müssen jedoch „besondere Umstände“ im Sinne des § 56 StGB vorliegen, wenn die Aussetzung der Freiheitsstrafe über einem Jahr in Betracht kommen soll. Das StGB ließ die Aussetzung der Freiheitsstrafen über 2 Jahren nie zu, was nach dem KK von 1969 (bei Fahrlässigkeitsdelikten, Art. 73 § 1 KK von 1969) und dem KK von 1997 (bei reuevollen Tätern, Art. 60 § 5 KK von 1997 und bei Tätern, die auf die Gerichtsverhandlung verzichtet haben, Art. 343 § 2 Punkt 2 KPK von 1997) durchaus möglich ist. In diese Richtung gehende Forderungen nach einer Gesetzesänderung können sich in Deutschland bisher nicht durchsetzen. Ein Beispiel dafür aus der letzten Zeit stellt der Vorschlag der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrecht dar, der eine Strafaussetzung 406

Siehe dazu: Erster Abschnitt dieses Kapitels Punkt I.1.

284

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

bei einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren vorsah. Die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Kommission hat entsprechende Forderungen jedoch abgelehnt.407 Ein wichtiges Gegenargument war, dass bei einer Ausweitung der Aussetzungsmöglichkeiten auch die Freiheitsstrafen angehoben werden müssten, so dass im Falle eines Widerrufs der Verurteilte eine längere Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte.408 2. Der Kreis der Täter Wie oben bereits festgestellt wurde, baute das 1. StrRG von 1969 die Regelungen zur Strafaussetzung im deutschen StGB erheblich um. Die Reform bestimmte den Kreis der Täter neu, die dank der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung vom Haftantritt verschont bleiben konnten (§ 23 StGB a. F.), d.h., es lag seither im Ermessen des Gerichts, ob die Vorstrafen der Strafaussetzung entgegenstehen. Demgegenüber wurden die polnischen Kodizes, insbesondere die von 1969 und von 1997, von ähnlichen Regelungen nicht befreit. Nach Art. 73 § 3 KK von 1969 wurden die Rückfalltäter im Sinne des Art. 60 § 1 und § 2 KK von 1969 in der ursprünglichen Fassung des KK von 1969 von der Anwendung der Strafaussetzung vollkommen ausgeschlossen. Erst das mehrfach erwähnte Gesetz vom 12. Juli 1995409 hat die Rechtslage liberalisiert, wobei die Freiheitsstrafen bei Mehrfachtätern im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1969 bis zum Ende der Geltung dieses Gesetzes nur nach Bejahung besonderer Umstände ausgesetzt werden konnten. Auch der KK von 1997 schließt die Rückfalltäter im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1997 aus der Anwendung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, es sei denn, es liegt ein Ausnahmefall vor. In dieser Hinsicht ist das deutsche StGB nach dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 offenkundig der Gewährung von Strafaussetzung förderlicher als das polnische Recht. 407

Abschlußbericht, 2000, Ziffer 7.2. Ostendorf, NK-StGB, vor § 56 RN 7. Das ist nur eine der unerwünschten Folgen der Ausweitung der Aussetzungsmöglichkeiten. Eine andere ist darin zu sehen, dass die Verlängerung der Freiheitsstrafen im Rechtssystem die Durchführung einer Reform erschwert (oder sogar unmöglich macht), die die Ersetzung der Freiheitsstrafen durch die Geldstrafe oder andere ambulante Strafen bezweckt. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass nur die kurzen Freiheitsstrafen (die Dauer kann im konkreten Strafsystem innerhalb der Jahrzehnte variieren) durch ambulante Strafen ersetzt werden können. Werden die kurzen unbedingten Freiheitsstrafen durch die bedingten längeren ersetzt, so hat eine Reform, die auf Ersetzung der Freiheitsstrafen durch die Geldstrafen zielt, weniger Aussicht auf Erfolg. 409 Ustawa z dnia 12 lipca 1995 r. o zmianie Kodeksu karnego, Kodeksu karnego wykonawczego oraz o podwyz˙szeniu dolnych i górnych granic grzywien i nawia˛zek w prawie karnym. Dz. U. 95.95.475. 408

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

285

3. Förderung der bedingten Freiheitsstrafe Es ist in der Tat interessant, dass die Anzahl der bedingten Freiheitsstrafen in Polen bald nach dem In-Kraft-Treten des KK von 1932 so relativ hoch angewachsen ist, obwohl dieser Kodex keine Muss-Vorschrift zur Förderung der bedingten Freiheitsstrafen vorsah. Die Förderung der bedingten Freiheitsstrafen kann jedoch nicht nur durch Muss-Vorschriften erfolgen. Die Mindestdauer der Freiheitsstrafe kann ebenfalls zur Erweiterung der Anwendung der bedingten Freiheitsstrafe beitragen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Mindestgrenze der Freiheitsstrafe im Empfinden des Richters zu hoch angesetzt ist und die Praxis von der Strafaussetzung Gebrauch macht, um die Wirkung der Strafe zu mildern. Das deutsche StGB und die polnischen Kodizes haben in ihrer Entwicklung die Mindestgrenze der Freiheitsstrafe unterschiedlich festgesetzt. Die unterste Grenze bei Gefängnis, Haft und Festungshaft betrug im RStGB jeweils 1 Tag. Nur die Mindestgrenze der Zuchthausstrafe wurde auf ein Jahr festgesetzt. Diese Form der Freiheitsstrafe spielte jedoch in der Praxis eine marginale Rolle, so dass die Mindestdauer der Freiheitsstrafen im System des RStGB der Verhängung der kurzen Freiheitsstrafen grundsätzlich nicht entgegenwirkte. Der deutsche Gesetzgeber blieb lange zurückhaltend gegenüber einer Erhöhung der Mindestgrenze der Freiheitsstrafe, obwohl die kurzen Freiheitsstrafen einer starken Kritik seitens der Lehre ausgesetzt waren. Erst das 2. StrRG vom 4. Juli 1969410 hat das Mindestmaß der Freiheitsstrafe auf 1 Monat heraufgesetzt.411 Demgegenüber war im polnischen KK von 1932 nur die Mindestgrenze der Arreststrafe auf 1 Tag festgesetzt. Die Mindestdauer der Gefängnisstrafe betrug 6 Monate. Wie aufgezeigt – und die Ausführungen im vorangehenden Abschnitt haben dies durch statistisches Anschauungsmaterial zu verdeutlichen gesucht – spielte die Gefängnisstrafe in Polen sowohl vor dem Krieg als auch in der Zeit der Volksrepublik Polen eine beachtliche Rolle. Obwohl im Empfinden der Richter die Mindestgrenze der Gefängnisstrafe mitunter zu hoch war, mussten sie diese Strafart in dieser Höhe grundsätzlich verhängen. Wie Rappaport412, S´wida und Wróblewski413 schon vor 410

BGBl. I, S. 717. Das Gesetz trat am 1.1.1975 in Kraft. Es ist hervorzuheben, dass die Erhöhung der Untergrenze der Freiheitsstrafe erst nach den Reformen durchgeführt wurde, deren Zweck in der Ersetzung der Freiheitsstrafe durch Geldstrafe lag. Dadurch wurde der Effekt vermieden, dass die kurzen Freiheitsstrafen anstatt durch Geldstrafen durch längere Freiheitsstrafen ersetzt wurden. Diese Reihenfolge der gesetzgeberischen Eingriffe hatte einen fundamentalen Einfluss auf die Stellung der Geldstrafe in der heutigen Praxis. Dazu siehe im Einzelnen noch das Dritte Kapitel der vorliegenden Untersuchung. 411

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

dem 2. Weltkrieg zutreffend gezeigt haben, griffen die Richter in einem solchen Fall zur Strafaussetzung, um auf diese Weise die ihnen unangemessen erscheinende Wirkung der Strafe zu mildern. Für die deutsche Praxis lassen sich der Literatur Hinweise auf ein ähnliches Phänomen nicht entnehmen. Die unmittelbare Förderung der bedingten Freiheitsstrafe lässt sich in Deutschland erst nach dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 feststellen. Die Aussetzung von Freiheitsstrafen zur Bewährung im Bereich bis einschließlich einem Jahr wurde nach der Reform obligatorisch, soweit eine gute (Legalbewährungs-)Prognose vorliegt; bei Strafen von sechs Monaten und mehr, wenn die Bedürfnisse der Verteidigung der Rechtsordnung nicht entgegenstehen. Demgegenüber sah in Polen erst der KK von 1997 eine Vorschrift (Art. 58 § 1 KK von 1997) vor, die unmittelbar die Strafaussetzung fördert. Der polnische Gesetzgeber hat sich somit 27 Jahre später als der deutsche Gesetzgeber entschieden, die Strafaussetzung unmittelbar zu unterstützen. Dabei ging er weiter als der deutsche Gesetzgeber, indem die Aussetzung von Freiheitsstrafen zur Bewährung im Bereich bis zu einschließlich zwei Jahren obligatorisch wurde, soweit eine gute (Legalbewährungs-)Prognose vorliegt. II. Das System der Gewährung der Strafaussetzung 1. Zuständigkeit für die Gewährung der Strafaussetzung Alle drei polnischen Strafgesetzbücher ließen die Gerichte die Entscheidung über die Strafaussetzung selbstständig treffen. Im Vergleich dazu waren die deutschen Gerichte wesentlich benachteiligt. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde ausführlich gezeigt, dass die Übertragung der Befugnisse zur Bewilligung der bedingten Strafaussetzung auf die Gerichte in dem deutschen Strafensystem erst nach dem ersten Weltkrieg begann,414 wobei zu beachten ist, dass einzelne Länder415 die Gerichte noch am Anfang der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht zur Gewährung der Strafaussetzung bevollmächtigten.416 Die Übertragung änderte jedoch nichts an dem Charakter der Strafaussetzung als Gnadenakt.417 Dabei gewährten die 412 Rappaport, Teoria i praktyka skazania warunkowego w Polsce (1917–1939), S. 12–13. 413 Wróblewski/S ´ wida, Se˛dziowski wymiar kary w Rzeczypospolitej Polskiej, S. 441. 414 LK-Gribbohm, vor § 56 RN 2. 415 So Anhalt, Braunschweig, Lippe-Detmold, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Württemberg, Hessen. 416 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 129.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

287

Gerichte die bedingte Strafaussetzung „nicht als Rechtsakt eines unabhängigen Richters, sondern als Beauftragte des Trägers des Gnadenrechts, die dessen Weisungen nachkommen mussten.“418 Eine wesentliche Einschränkung brachte dabei § 20 Abs. 2 der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935419, nach dem die Gerichte die Strafaussetzung nur bei Freiheitsstrafen bewilligten konnten, die nicht mehr als 1 Monat betrugen. Dieser Zustand dauerte – wie dargestellt – im Wesentlichen bis zum Jahre 1954, als die Strafaussetzung in das StGB eingeführt wurde und die Gerichte bei der Gewährung der Strafaussetzung Eigenständigkeit erlangten. Die Übertragung der Befugnisse zur Bewilligung der Strafaussetzung auf die Gerichte verlief somit in den beiden Strafrechtssystemen unterschiedlich. Das deutsche System zeigte im Vergleich zu den polnischen Regelungen auch in dieser Hinsicht eine größere Zurückhaltung. Diese Vorsicht blieb jedoch nicht ohne Einfluss auf die Strafzumessungspraxis. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass den Gerichten in Deutschland bis 1954 nur die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe zur Verfügung standen. Das Gericht musste zunächst die Entscheidung treffen, ob gegenüber dem Verurteilten eine ambulante (Geldstrafe) oder eine stationäre Strafe (Freiheitsstrafe) verhängt werden sollte. Die Möglichkeit der Strafaussetzung war vom Prozess der Strafzumessung ausgeschlossen. Sie kam erst in der Etappe der Vollstreckung als Gnade in Betracht. In dieser Etappe waren jedoch die Richter nicht mehr unabhängig. Vielmehr unterlagen sie den Weisungen des Trägers des Gnadenrechts. Dies musste sich auf die Anwendung der Strafaussetzung auswirken. Nicht von ungefähr wollten die Anhänger der Strafaussetzung möglichst schnell die Befugnisse zur Gewährung der Strafaussetzung den Gerichten übertragen – sie wussten, dass dies zur Erweiterung der Anwendung der Strafaussetzung beitragen würde. 2. Die Prämissen der Strafaussetzung Es ist beiden Rechtsordnungen gemeinsam, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung von einer positiven (Legalbewährungs-)Prognose abhängt. Angesichts des spezialpräventiven Charakters des Rechtsinstitutes kann dies nicht besonderes verwundern. Es lassen sich jedoch beachtliche Unterschiede in Hinsicht auf den Gedanken der Generalprävention feststellen. Während der polnische KK von 1932 und der KK von 1997 eindeutig generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafaussetzung ausschlossen, ver417 418 419

LK-Gribbohm, vor § 56 RN 2. Ebenda. Kritik an diesem Modell siehe bei: Schmidt, ZStW 64 (1952), S. 8. Veröffentlicht in DJ 1935, S. 203.

288

2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

knüpft das deutsche StGB seit 1954 bis heute die Entscheidung über die Strafaussetzung mit den Erfordernissen der Generalprävention, wobei das 1. StrRG eine Differenzierung bei den unterschiedlichen Strafhöhen gebracht hat; wie sich aus § 56 Abs. 3 StGB n. F. (§ 23 StGB a. F.) ergibt, dominieren die spezialpräventiven Erwägungen nur im Bereich der Strafen unter sechs Monaten. Auch vor der Einführung der Strafaussetzung in das StGB (im Jahre 1953) spielten generalpräventive Gesichtspunkte in den Verordnungen der einzelnen Länder (siehe z. B. für Preußen § 2 der Allgemeinen Verfügung vom 19. Oktober 1920) eine beachtliche Rolle. Ferner ist zu beachten, dass die Freiheitsstrafen über einem Jahr nach dem 1. StrRG von 1969 nur dann zur Bewährung ausgesetzt werden konnten, „wenn besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorliegen.“ Die Vorschrift des § 23 StGB a. F. wurde durch das 23. StrÄndG420 vom 13.4.1986 geändert, die Prämisse der „besonderen Umstände“ wurde jedoch durch die Reform nicht aufgehoben, so dass sie bis heute gilt. Eine solche Beschränkung sah keiner der polnischen Kodizes vor. Die Prämisse der „besonderen Umstände“ trat in den polnischen Kodizes (KK von 1969 in der letzen Fassung und KK von 1997) lediglich im Falle der Anwendung der Vergünstigung gegenüber den Rückfalltätern (Art. 73 § 3 KK von 1969, Art. 69 § 3 KK von 1997) auf. Diese Unterschiede sind deswegen bedeutsam, weil sie einen direkten Einfluss auf die Sanktionierungspraxis, insbesondere auf die Auswahl der Sanktionen, haben dürften. Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Rechtsinstitut umso häufiger zur Anwendung kommt, je weniger Beschränkungen es unterliegt. Es ist daher die Annahme berechtigt, dass die Strafaussetzung in einem Rechtssystem öfter zur Anwendung kommt, in dem sie nur mit spezialpräventiven Gesichtspunkten verbunden wird, als in einem Rechtssystem, in dem zusätzlich generalpräventive Anforderungen (und damit zusätzliche Hindernisse) gestellt werden. Man kann auch davon ausgehen, dass solche Voraussetzungen wie „besondere Umstände“ einer breiten Anwendung eines Rechtsinstitutes entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund sahen die anfänglichen Rechtsgrundlagen zur bedingten Freiheitsstrafe in beiden Rechtssystemen ganz unterschiedlich aus. Während der KK von 1932 eindeutig nur an die Spezialprävention anknüpfte, verbot das Begnadigungsrecht der deutschen Länder, die Verurteilten zu Freiheitsstrafe bei entgegenstehenden generalpräventiven Gründen bedingt zu begnadigen (bzw. die Bestrafung auszusetzen). Auch die ursprüngliche Fassung des § 25 StGB a. F. schloss die Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung aus, wenn „das öffentliche Interesse die Vollstre420

BGBl. 1986 I, S. 393.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

289

ckung der Strafe erfordert“. Gerade die Situation in dieser Anfangsphase darf nicht unterschätzt werden, weil sie die Bahnen für die üblicherweise streng an die Tradition gebundene Rechtsprechung vorzeichnete. 3. Die Methode der Gewährung der Strafaussetzung Man kann nicht ausschließen, dass einer der wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen in der Bestimmung der Methode der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung liegt. Um die Einzelheiten zeigen zu können, erscheint es sinnvoll, hinsichtlich dreier Ebenen (Lehre, höchstrichterliche Rechtsprechung und Rechtsprechung der Gerichte der unteren Instanzen) zu differenzieren. a) Lehre Es ist weder der deutschen noch der polnischen Lehre gelungen, zu weitgehender Einigkeit über die Rechtsnatur des Rechtsinstitutes der Strafaussetzung zur Bewährung zu kommen. Über die Jahrzehnte der Rechtsentwicklung hinweg wurden verschiedene Konzeptionen über die Aussetzung der Freiheitsstrafe vertreten. Daher lässt sich nicht sagen, dass die Rechtsnatur der Strafaussetzung in der Theorie vollkommen geklärt wäre. Immerhin kann man die These vertreten, dass bestimmte Konzeptionen in den beiden Ländern zur jeweils herrschenden Meinung geworden sind. Während in Polen die Strafaussetzung als eine besondere Form der Strafzumessung (als eigenständiges Strafmittel) angesehen wird, sieht die herrschende Meinung in Deutschland in diesem Rechtsinstitut eine Modifikation der gewöhnlichen Freiheitsstrafe hinsichtlich ihrer Vollstreckung. Dies führt zu unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Entscheidung über Rechtsfolgen. Während die herrschende Meinung in Polen die Entscheidung über die Höhe der Freiheitsstrafe und der Strafaussetzung in einem Schritt akzeptiert, fordert die deutsche Lehre ein zweistufiges Verfahren: Zunächst soll über die Höhe der Freiheitsstrafe entschieden werden und erst danach ist Raum für die Entscheidung über die Strafaussetzung. b) Höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH bzw. Oberstes Gericht) Der Unterschied in der Auffassung über die Strafaussetzung wird in der Rechtsprechung der Gerichte der höchsten Instanz beider Länder noch deutlicher. Während der BGH bald nach dem In-Kraft-Treten der Vorschriften über die Strafaussetzung die Unabhängigkeit der Entscheidung über die Aussetzung von der Entscheidung über die Festsetzung der Strafhöhe be-

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

tonte, akzeptierte das Oberste Gericht in Polen eine Praxis, die die beiden Aspekte verbindet. Sowohl der BGH als auch das Oberste Gericht blieben den anfänglich getroffenen Entscheidungen über die Jahrzehnte hinweg treu. Der BGH vertritt bis heute die Auffassung, dass die Strafaussetzung zur Bewährung eine Modifikation der Strafvollstreckung sei und dass es unzulässig sei, die Gesichtspunkte der Strafzumessung im Sinne der Ermittlung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung zu vermengen. Dagegen geht das Oberste Gericht von der Eigenständigkeit der Strafaussetzung aus und macht die Höhe der Freiheitsstrafe von der Entscheidung über die Strafaussetzung abhängig. c) Gerichte der unteren Instanzen Es ist festzuhalten, dass die Gerichte in Polen die herrschende Meinung sowie die Rechtsprechung des Obersten Gerichts hinsichtlich der Rechtsnatur der Strafaussetzung weitgehend teilen. Die Untersuchung von Wróblewski und S´wida aus dem Jahre 1937 hat klar gezeigt, dass Richter die Entscheidung über die Strafaussetzung mit der Festsetzung der Strafhöhe verbinden. Auch die Untersuchung, die im Rahmen des Projekts „Die Probation im System des Vollstreckungsrechts“ im Jahre 1996 an der Universität Wrocław durchgeführt wurde, hat deutlich gemacht, dass die Richter vor Erlass des Urteils zunächst die Frage beantworten, ob eine unbedingte oder eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt werden soll, und erst später die Höhe der Freiheitsstrafe feststellen.421 Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine solche Vorgehensweise bis heute praktiziert wird.422 Es gibt auch kaum einleuchtende Gründe, die die Richter zur Anwendung einer anderen Methode bringen könnten: Warum auch sollten die Richter die Strafaussetzung nicht als eigenständiges Strafmittel betrachten, wenn die Lehre und die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichts dies weitgehend akzeptieren? Wie die Praxis in Deutschland vorgeht, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Jedenfalls zeigt die relativ hohe Zahl der Urteile des BGH, die die Vermengung der Gesichtspunkte im Sinne der Ermittlung einer schuldangemessenen Strafe mit solchen der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung beanstanden, dass die Tendenz zur Verbindung beider Gesichtspunkte im Alltag der Gerichte noch durchaus lebendig ist. Dafür sprechen 421

Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 154. 422 Meine Erfahrungen aus der Zeit des Referendardienstes sprechen zumindest auch dafür.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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auch die bereits oben zitierten Hinweise von Eisenberg423 und Ostendorf424. Immerhin kann festgehalten werden, dass die Gerichte der unteren Instanzen einem starken Druck seitens der Lehre und der Rechtsprechung des BGH hinsichtlich der Teilung der Entscheidung über die Höhe der Freiheitsstrafe und der Strafaussetzung ausgesetzt sind. Fast jeder Kommentar zum StGB fordert ein zweistufiges Verfahren. Außerdem waren die Richter in Deutschland – im Gegensatz zu denen an polnischen Gerichten – auf der Grundlage des § 263 Abs. 4 StPO a. F., der gleichzeitig mit der Einführung der Strafaussetzung eingeführt wurde, zur gesonderten Abstimmung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verpflichtet. Nach der Aufhebung der Vorschrift (durch Art. 21 Nr. 67 Lit. c EGStGB) wird von der Lehre auch weiterhin die Meinung vertreten, dass über jede einzelne Rechtsfolge gesondert abzustimmen sei.425 Es ist mehr als eine zufällige Analogie, dass Lehre und höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland die Eigenständigkeit der Strafaussetzung zur Bewährung auf der dogmatischen Ebene abgelehnt haben. Dass die Strafaussetzung lediglich als eine Modifikation der gewöhnlichen Freiheitsstrafe hinsichtlich ihrer Vollstreckung verstanden wird, bleibt im engen Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die das Rechtsinstitut der Strafaussetzung in Deutschland bewältigen musste, ehe es in das StGB eingeführt wurde: Zunächst der Umweg über das Gnadenrecht, die Beschränkung des Anwendungsbereichs, die Ausschaltung der Gerichte von der Entscheidung über die Strafaussetzung und die vorsichtige Einführung der Strafaussetzung in das StGB im Jahre 1953, also zu einer Zeit, als die Strafaussetzung in anderen europäischen Strafsystemen bereits fest verwurzelt war. Die Bedenken gegenüber der Strafaussetzung in Deutschland prägten das Verständnis dieses Rechtsinstitutes nachhaltig. Oder anders ausgedrückt: Die Skepsis gegenüber der Strafaussetzung beeinflusste das Denken über ihr Wesen. 4. Maßnahmen neben der Strafaussetzung Auch bei der Entwicklung der Maßnahmen, die die bedingte Freiheitsstrafe begleiten sollen, lassen sich bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Ländern feststellen. Die zentrale These dieses Teils der vorliegenden Untersuchung lautet dabei: Die deutschen Rechtsgrundlagen spiegeln in dieser Hinsicht im Vergleich zu den polnischen Kodizes eine deutlich größere Vorsicht wider. Den Hintergrund für diese These bildet die Feststellung, 423

Eisenberg, Kriminologie, S. 512. Ostendorf, NK-StGB, vor § 56 RN 1. 425 Siehe dazu: Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 263 RN 11; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 263 RN 8. 424

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

dass sowohl das deutsche Begnadigungsrecht als auch das deutsche StGB die Auferlegung verschiedener Maßnahmen forderten, die auf den Täter erzieherisch und (oder) repressiv wirken sollten. Die zögernde Einführung der Strafaussetzung in Deutschland war begleitet von der Sorge um die Ausgestaltung der Maßnahmen, die die Repressivität der Strafe betonen sollten. Genau umgekehrt war es im polnischen Sanktionensystem: Die relativ frühe Einführung der Strafaussetzung in den Kodex (gemeint ist der KK von 1932) wurde von einer Vernachlässigung der Maßnahmen begleitet, die die Strafaussetzung ergänzen sollten. Die Unterschiede in der Ausgestaltung der in Rede stehenden Maßnahmen in den beiden Staaten seien nachfolgend hervorgehoben. a) Katalog der Maßnahmen neben der Strafaussetzung Die größten Unterschiede zwischen den Sanktionensystemen der beiden Staaten lassen sich in dem Zeitraum der Geltung des KK von 1932 feststellen, also bis zum Jahre 1970. Es liegt auf der Hand, dass der Katalog der Maßnahmen des KK von 1932 im Vergleich zum deutschen Begnadigungsrecht wesentlich kleiner war. Während der KK von 1932 allein Schadenswiedergutmachung und Aufsicht vorsah, stellten z. B. die preußische Allgemeine Verfügung vom 19. Oktober 1920 und die nachfolgende Gnadenordnung von 1935 dem Richter einen wesentlich größeren Katalog an Maßnahmen zur Verfügung. Die ersten Regelungen über Auflagen im deutschen StGB (im Jahre: 1953) sahen ebenfalls einen größeren Katalog der Maßnahmen als der KK von 1932 vor. Man kann sagen, dass erst der KK von 1969 den Katalog der Maßnahmen soweit ausbaute, dass er mit den deutschen Regelungen der 70er Jahre vergleichbar war. Außerdem sahen die preußische AV von 1920 und die Gnadenordnung von 1935 im Gegensatz zum KK von 1932 einen offenen Katalog der Maßnahmen vor, so dass das Gericht auch andere als die vom Gesetz vorgesehenen Maßnahmen anordnen konnte. Auch diese Rechtslage änderte in Polen erst der KK von 1969. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass den deutschen Gerichten wesentlich früher ein größerer Spielraum bei der Gestaltung der begleitenden Verpflichtungen bei der Strafaussetzung eingeräumt wurde. b) Anordnung der Maßnahmen Der Nachteil des KK von 1932 lag nicht nur in der knappen Anzahl der Maßnahmen, die das Gericht bei der Strafaussetzung anordnen konnte. Zu kritisieren ist hier die fehlende Flexibilität im Vergleich zu den deutschen

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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Regelungen. Während das Gericht auf der Grundlage des KK von 1932 im Urteil lediglich die Aufsicht und die Schadenswiedergutmachung anordnen konnte, erlaubte schon die preußische AV von 1920 (später Gnadenordnung von 1935) dem Gericht, die Entscheidung sowohl zugleich mit der Strafaussetzung als auch nachträglich zu treffen (§ 3 AV von 1920, § 33 Abs. 4 der GnadenO von 1935). Die angeordneten Maßnahmen konnte das Gericht auch nachträglich ändern (§ 3 AV von 1920, § 33 Abs. 4 der GnadenO von 1935), so dass der Spielraum der deutschen Gerichte im Vergleich zu den polnischen Gerichten bis zum Ende der 60er Jahre wesentlich größer war, also genau bis zu der Zeit, als der KK von 1969 erlassen wurde. c) Ermessen des Gerichts und Anordnung der Maßnahmen Weiterhin fällt auf, dass zunächst das deutsche Begnadigungsrecht und später das deutsche StGB (bis zum Jahre 1969) im Gegensatz zum polnischen KK von 1932 die Gerichte gleichsam zur Anordnung der gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen neben der bedingten Strafaussetzung (später: der Strafaussetzung zur Bewährung) zwangen. So sah § 22 Abs. 2 der Gnadenordnung von 1935 die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens „in der Regel“ als Voraussetzung einer Gewährung von bedingter Begnadigung vor. Auch die erste Fassung der Vorschriften über Auflagen im StGB ließ keinen Zweifel daran, dass die Vergünstigung der Strafaussetzung grundsätzlich mit zusätzlichen Verpflichtungen verknüpft werden sollte. Demgegenüber beließ der KK von 1932 es im Ermessen des Gerichts, ob bei der Strafaussetzung dem Verurteilten die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens oder die Bewährungsaufsicht auferlegt werden sollte. Daher kann es nicht verwundern, dass unter der Geltung dieses Kodexes die zusätzlichen Maßnahmen mit Ausnahme der letzten Phase des Geltungszeitraums kaum zur Anwendung kamen. Erst der KK von 1969 änderte die Rechtslage, indem er bei der Entwendung gesellschaftlichen Vermögens die obligatorische Schadenswiedergutmachung sowie die obligatorische Aufsicht bei Heranwachsenden und bei Rückfalltätern im Sinne des Art. 60 § 2 KK von 1969 einführte. d) Die Maßnahmen als Bedingung der Gewährung der Strafaussetzung Keiner der polnischen Strafrechtskodizes sah eine Konstruktion vor, die die Gewährung der Strafaussetzung von der Erfüllung bestimmter Auflagen abhängig machte. Diese Konstruktion enthielt dagegen die preußische AV von 1920 und die Gnadenordnung von 1935, so dass sie in Deutschland in

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

einigen Ländern bis 1953 galt. Gerade diese Konstruktion lässt wieder ganz deutlich erkennen, mit welcher Vorsicht sich die deutsche Rechtsordnung der Strafaussetzung näherte. Nach dem zugrunde liegenden theoretischen Konzept sollte der Verurteilte zunächst etwas leisten, bevor ihm die Strafaussetzung gewährt wurde. Diese Konstruktion spiegelt deutlich die Überzeugung wider, dass die bedingte Begnadigung ein reales Verhalten des Verurteilten voraussetzt. Diese Bedingung sollte den Richtern grundsätzlich helfen, den Verurteilten zur Erfüllung der Verpflichtungen zu motivieren, aber sie zeugt zugleich von der deutlichen Sorge um die Auferlegung der zusätzlichen Belastungen. Insgesamt gesehen stellen die Rechtsgrundlagen für die Maßnahmen neben der Strafaussetzung wahrscheinlich den Punkt dar, in dem der Unterschied bei der Annäherung der beiden Strafsysteme an das Rechtsinstitut der Strafaussetzung am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Einer fast unglaublichen Nachsicht des KK von 1932 in dieser Hinsicht steht eine große Vorsicht des deutschen Begnadigungsrechts und der ersten Fassung der Strafaussetzung im deutschen StGB gegenüber. Es ist mehr als ein zufälliges Zusammentreffen, dass der KK von 1932 zugleich die repressiven und die erzieherischen Elemente bei der Strafaussetzung so deutlich vernachlässigte. Dies führte dazu, dass in den Jahren 1932–1969 in Polen ein Kodex galt, der dem Richter nur zwei Maßnahmen zur Verfügung stellte und eine dieser Maßnahmen (Aufsicht) zudem mangels eines organisatorischen Rahmens bis Anfang der 60er Jahre nur auf dem Papier stand. Demgegenüber wirkten sich die Bedenken gegen die Strafaussetzung in Deutschland unmittelbar auf die Ausgestaltung der Maßnahmen aus, die dem Verurteilten bei Gewährung der Vergünstigung auferlegt werden sollten. Die ausgearbeiteten Kataloge des Begnadigungsrechts und des StGB lassen keinen Zweifel daran, dass die Strafaussetzung keine Nachsicht bedeuten und der Verurteilte auch bei Strafaussetzung das Übel der Strafe fühlen sollte. Das primär schuldorientierte Strafrecht konnte sich mit einer Strafaussetzung ohne zusätzliche Elemente nicht zufrieden geben. III. Die Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe 1. Vollstreckungsorgan In beiden Strafrechtsystemen sind die Gerichte für die Entscheidungen nach der Verhängung einer bedingten Freiheitsstrafe (Widerruf, Änderung der Maßnahmen etc.) zuständig. Es lässt sich jedoch ein wesentlicher Unterschied feststellen: Während nach dem deutschen Recht (§ 462a Abs. 2 StPO) in der Regel das erkennende Gericht die Entscheidungen zu der be-

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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dingten Freiheitsstrafe trifft, lässt das polnische Recht zu, die diesbezüglichen Befugnisse des erkennenden Gerichts auf einen Richter zu übertragen, der in der Vollstreckungsabteilung tätig ist. Demzufolge können die erkennenden Richter in Polen von den Verpflichtungen des Vollstreckungsverfahrens vollkommen befreit werden.426 Die Richter in Deutschland dagegen müssen den Arbeitsaufwand, der nach der Verhängung einer bedingten Freiheitsstrafe entsteht, selbst bewältigen. Dies führt dazu, dass es für das polnische Gericht aus arbeitsökonomischen Gesichtspunkten vollkommen gleichgültig ist, ob es eine Geldstrafe oder eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt: Die Sache wird in beiden Fällen der Vollstreckungsabteilung übergeben und ist damit für das erkennende Gericht erledigt. Dagegen besteht für den deutschen Richter ein großer Unterschied darin, ob er eine Geldstrafe oder eine bedingte Freiheitsstrafe verhängt: Im ersten Fall wird das Urteil durch die Staatsanwaltschaft (Rechtspfleger) vollstreckt, im zweiten Fall muss das Gericht selbst die Durchführung der Vollstreckungsmaßnahmen leiten und überwachen. Schon aus arbeitsökonomischen Gesichtspunkten ist daher das Institut der bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland im Vergleich zu Polen erheblich benachteiligt. 2. Widerruf der Strafaussetzung Zunächst fällt der Unterschied auf, dass das deutsche StGB auf der Grundlage des 1. StrRG von 1969 im Gegensatz zur Entwicklung der polnischen Strafrechtskodizes von dem Automatismus „erneute Verurteilung = Widerruf“ befreit wurde.427 Dieser Unterschied kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutschen Regelungen zum Widerruf der Strafaussetzung im Unterschied zu den polnischen Vorschriften einmal mehr 426

Dies ist der Fall z. B. im Amtsgericht Słubice und im Amtsgericht Zielona

Góra. 427

Abgesehen davon, dass die polnische (strengere) Konzeption unmittelbar zur Vergrößerung der Gefängnispopulation beiträgt (der Richter hat keine Möglichkeit, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe abzuwenden, falls eine erneute Verurteilung vorliegt), wirkt sie auch (mittelbar) zuungunsten der anderen ambulanten Strafen. Auf den ersten Blick könnte die These zweifelhaft erscheinen, dass die Rechtsgrundlagen zum Widerruf der Strafaussetzung irgendeinen Einfluss auf die Wahl der Sanktion durch den Richter haben können. Es ist jedoch zu beachten, dass für die an Spezialprävention orientierten Richter, für die mithin die Individualabschreckung im Vordergrund steht, die polnische (strengere) Konzeption einen höheren Reiz hat. Weiß der Richter, dass der Verurteilte im Falle der erneuten Verurteilung die zunächst zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verbüßen muss, so kann er sich im Moment der Auswahl der Sanktion eine größere abschreckende Wirkung bei bedingter Freiheitsstrafe als bei Geldstrafe oder Freiheitsbeschränkungsstrafe versprechen. Dies muss kriminologisch nicht begründet sein, kann jedoch im Moment der Auswahl der Sanktion „vernünftig“ erscheinen.

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

eine deutliche Vorsicht gegenüber diesem Rechtsinstitut zeigen. Die Vorsicht der deutschen Rechtsordnung gegenüber der Strafaussetzung wird im vorliegenden Kontext in folgendem Punkt deutlich. Schon das preußische Begnadigungsrecht428 sah die Möglichkeit des Widerrufs der Strafaussetzung vor, wenn nach der Gewährung der Vergünstigung Tatsachen bekannt wurden, die das Gericht bei ihrer Kenntnis von einer Gewährung der Strafaussetzung abgehalten haben würden. Eine solche Befugnis sah auch die GnadenO von 1935 (§ 30) vor. Diesen Gedanken übernahm der Gesetzgeber im Jahre 1953, als die Strafaussetzung in das StGB eingeführt wurde (§ 25 StGB a. F. in der Fassung des 3. StrÄndG). Diese Befugnis galt bis zum In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969, d.h. bis zum Jahre 1970. Demgegenüber ließen die polnischen Kodizes den Widerruf der Strafaussetzung niemals zu, wenn dem Gericht neue Umstände bekannt waren, „die bei Würdigung des Wesens der Aussetzung zu ihrer Versagung geführt hätten“. 3. Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe Die Vorsicht gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe spiegelt in Deutschland insbesondere auch das Konzept der Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe wider. Danach wird die Freiheitsstrafe nach dem Ablauf der Bewährungszeit nicht automatisch getilgt, wie dies nach allen polnischen Kodizes der Fall ist, sondern es bedarf einer besonderen Entscheidung des zuständigen Organs. Eine Ausnahme stellte das Begnadigungsrecht von Bayern dar, nach dem die Freiheitsstrafe nach Ablauf der Bewährungszeit als erlassen galt.429 Das Begnadigungsrecht der anderen Länder, die GnadenO von 1935 und die Regelungen der Strafaussetzung zur Bewährung im StGB verneinten die automatische Tilgung der Freiheitsstrafe. Der Zweck dieses Konzeptes ist ganz klar: Das für den Erlass der Freiheitsstrafe zuständige Organ sollte prüfen, ob die Freiheitsstrafe erlassen werden sollte. Die Kriterien dieser Beurteilung unterlagen im Laufe der Zeit durchaus Änderungen, aber der Sinn des Konzeptes ist bis heute erhalten geblieben. Außerdem ist zu beachten, dass das deutsche Begnadigungsrecht im Vergleich zu Regelungen des KK von 1932 erheblich höhere Ansprüche an den Verurteilten stellte, damit die Freiheitsstrafe erlassen werden konnte. So musste das Gericht erster Instanz nach § 12 der preußischen Allgemeinen Verfügung vom 19. Oktober 1920 gegen Ablauf der Bewährungsfrist Erkun428

Allgemeine Verfügung des Justizministers vom 19.1.1922 über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung. JMBl. S. 30. 429 Peters, Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen, S. 129.

3. Abschn.: Rechtsvergleich und Schlussfolgerungen

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digungen über die Führung des Verurteilten in der Zwischenzeit einziehen. Zum Nachweis einer guten Führung war es nicht ausreichend, dass über den Verurteilten nichts Nachteiliges bekannt geworden war, sondern es bedurfte der tatsächlichen Feststellung eines zufriedenstellenden Gesamtverhaltens. Es war insbesondere zu prüfen, ob der Verurteilte den bei Erwirkung der Strafaussetzung in ihn gesetzten besonderen Erwartungen (Unterstellung einer Schutzaufsicht, Eintritt in die Lehre, Leistung von Schadensersatz, Enthaltung geistiger Getränke usw.) entsprochen hat. Aus der Norm geht eindeutig hervor, dass das Gericht dazu verpflichtet war, Informationen über das Verhalten des Verurteilten gegen Ablauf der Bewährungsfrist zu sammeln und sich eben nicht damit begnügen konnte, dass über den Verurteilen „nichts Nachteiliges“ bekannt geworden war. Vielmehr mussten die positiven Aspekte des Verhaltens des Verurteilten festgestellt werden, damit der Erlass der Strafe in Betracht kommen konnte. Ähnliche Regelungen lassen sich auch der Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6. Februar 1935 entnehmen (§ 31), so dass diese Entwicklungslinie bis zur Einführung der Strafaussetzung im Jahre 1953 erhalten blieb. Schließlich ist hervorzuheben, dass nach allen drei polnischen Strafrechtskodizes die Bestrafung als nicht erfolgt gilt, falls der Verurteilte erfolgreich die Bewährungszeit abgeschlossen hat. (Nach dem Konzept, das das deutsche StGB übernommen hat, führt der Straferlass demgegenüber nicht dazu, dass die Bestrafung als nicht erfolgt gilt. Der Täter ist vielmehr weiterhin „vorbestraft“, die Eintragung im Strafregister bleibt bestehen, und der Richter konnte – jedoch nur bis zum In-Kraft-Treten des EGStGB – lediglich anordnen, dass über die Verurteilung nur beschränkt Auskunft erteilt wird). Dieser Überblick zur Frage der Tilgung der bedingten Freiheitsstrafe lässt wiederum deutlich die Sorge erkennen, die die deutsche Rechtsordnung mit dem Erlass der Freiheitsstrafe verbindet. Der Inhalt dieser Sorge lässt sich wie folgt formulieren: Keiner der Verurteilten darf aus dem Verfahren straffrei herauskommen, falls er das in ihn gelegte Vertrauen missbraucht. Diese Entwicklungslinie ist mehr als eine zufällige Nachzeichnung der juristischen Konzeptionen. Sie spiegelt sehr deutlich die Vorsicht im Umgang mit dem Rechtsinstitut der Strafaussetzung zur Bewährung wider. Aus alledem ergibt sich, dass die am Anfang dieses Abschnitts aufgestellte These durchaus plausibel ist: Das deutsche Recht hat sich mit dem Institut der bedingten Freiheitsstrafe im Vergleich zu den polnischen Kodizes nur sehr zögernd angefreundet, obwohl die deutschen Regelungen nach dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969 in einigen wichtigen Punkten durchaus strafaussetzungsfördernder ausgestaltet waren als die Vorschriften

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2. Kap.: Die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe

der polnischen Kodizes. Die Analyse der Vorschriften zum Anwendungsbereich der bedingten Freiheitsstrafe, zum System der Gewährung der Strafaussetzung sowie der Rechtsgrundlagen zum Widerruf der Strafaussetzung liefert dafür – wie gezeigt – eine Reihe von Belegen. Im nachfolgenden Dritten Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, die festgestellten Unterschiede in den Entwicklungen der Sanktionensysteme in Deutschland und Polen im Lichte der unterschiedlichen Grundauffassungen gegenüber der Strafe in beiden Rechtskulturen näher zu erklären.

Drittes Kapitel

Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede I. Zusammenfassung der Unterschiede Aus der Untersuchung ergibt sich, dass die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes sehr unterschiedlich geregelt waren. Auch heute noch weisen die Rechtsgrundlagen beider Länder in dieser Hinsicht viele erhebliche Unterschiede auf. Aus dem Ersten Kapitel der Arbeit geht hervor, dass sich in der Entwicklung des deutschen (R)StGB eine Tendenz zur möglichst weitgehenden Erweiterung der Anwendung der selbstständigen Geldstrafe erkennen lässt. Seit dem Erlass des Geldstrafengesetzes von 1921 wird die Geldstrafe zu Lasten der kurzen Freiheitsstrafe mit Hilfe von Muss-Vorschriften gefördert. Diese Tendenz spiegelt sich auch im System der Bemessung der Geldstrafe und in den Regelungen zur Vollstreckung der Geldstrafe wider. Demgegenüber ergab die Analyse der polnischen Strafrechtskodizes, dass der KK von 1932 und der KK von 1969 der Geldstrafe eher die Funktion einer Zusatzstrafe bzw. einer Strafe im Rahmen der außerordentlichen Strafmilderung zuwiesen und erst der KK von 1997 die Bedeutung der selbstständigen Geldstrafe hervorhob, wobei sich der Gesetzgeber nicht für eine Förderung der selbstständigen Geldstrafe zu Lasten der bedingten Freiheitsstrafe und der Freiheitsbeschränkungsstrafe entschieden hat (Art. 58 KK von 1997). Die Zurückhaltung gegenüber der Geldstrafe lässt sich in den polnischen Strafrechtskodizes darüber hinaus auch im System der Bemessung der Geldstrafe und in den Regelungen zur Vollstreckung der Geldstrafe feststellen. Ganz anders verlief demgegenüber – wie im Zweiten Kapitel gezeigt – die Entwicklung der Rechtsgrundlagen zur bedingten Freiheitsstrafe: Während der KK von 1932 eine sehr breite Möglichkeit zur Anwendung dieser Vergünstigung vorsah, was der KK von 1969 und der KK von 1997 fortschrieben, setzte sich das Rechtsinstitut der Strafaussetzung im deutschen Recht nur mit sehr großen Schwierigkeiten durch. Diese Vergünstigung wurde in das deutsche StGB erst im Jahre 1953 eingeführt. Der Anwendungsbereich, das System der Gewährung der Strafaussetzung und die Re-

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3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

gelungen zur Vollstreckung der bedingten Freiheitsstrafe zeigen im Vergleich zu der Entwicklung der polnischen Regelungen eine weitgehende Zurückhaltung des Gesetzgebers gegenüber diesem Institut zumindest bis zum In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 1969. Eines ist beiden Rechtssystemen allerdings gemeinsam: Die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe wurden nur als Ersatz der unerwünschten (kurzen) Freiheitsstrafe angesehen, so dass die breitere Anwendung der Geldstrafe bzw. der bedingten Freiheitsstrafe im Grunde eine Folge der Skepsis gegenüber der (kurzen) Freiheitsstrafe war. Anders ausgedrückt: Die entsprechenden Reformen wurden nicht durchgeführt, weil man gute Erfahrungen mit der Geldstrafe bzw. der bedingten Freiheitsstrafe gemacht hatte und man einen Bereich suchte, in dem sie eine breitere Anwendung finden konnten, sondern der Anstoß zur Reform entstand vor allem als Konsequenz der Kritik an der (kurzen) Freiheitsstrafe.

II. Die konventionelle Erklärung der festgestellten Unterschiede Auf den ersten Blick liegt es nahe anzunehmen, dass die Förderung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB in einem engen Zusammenhang mit dem steigenden Reichtum der deutschen Gesellschaft stand, wohingegen die Mittellosigkeit der polnischen Kriminellen einer breiteren Anwendung der Geldstrafe in Polen entgegenstand und zugleich den Einsatz der bedingten Freiheitsstrafe gefördert hat. Nach dieser (in ihrem Kern übrigens marxistischen) Auffassung, hängt die Wahl der Strafart vor allem von der wirtschaftlichen Situation eines Landes ab.1 Selbstverständlich hat die materielle Lage einer Gesellschaft Einfluss auf ihre Strafpolitik; es ist jedoch zu beachten, dass die Förderung der Geldstrafe im deutschen (R)StGB bald nach dem Ende des 1. Weltkriegs begann (siehe dazu: 1. GeldstrG von 1921), also in einer Zeit, zu der die deutsche Gesellschaft mit allen negativen Folgen des 1. Weltkrieges konfrontiert war. Schwere Einbußen an Menschenleben, der Verlust eines beachtlichen Wirtschaftsraumes sowie des gesamten Kolonialbesitzes, der Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft, Reparationen, hohe Arbeitslosigkeit, Verarmung breiter Schichten der Gesellschaft und insbesondere die Inflation prägten die ökonomische Lage Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg.2 Da der wirtschaftli1

Rusche/Kirchheimer, Sozialstruktur und Strafvollzug. Zu Einwänden gegen die Befunde von Rusche und Kirchheimer aus soziologischer Perspektive siehe: Garland, Punishment and Modern Society, S. 106. 2 Siehe dazu: Bechtel, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, S. 381 ff.; Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, S. 200 ff.

3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

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che Aufschwung erst im Jahre 1924 begann,3 kann man mit Kubink hervorheben, dass die Geldstrafenreform ein kriminalpolitisches Umfeld vorgefunden hat, das nach dem 1. Weltkrieg von sozialer Depression gekennzeichnet war.4 Trotz dieser negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen wurden die Geldstrafengesetze erlassen. Ein nur an den wirtschaftlichen Bedingungen orientierter Ansatz zeigt somit auch in dieser Hinsicht seine allenfalls beschränkte Interpretationskraft. Die Entwicklung der Strafsysteme ist viel zu komplex, als dass sie mit einfachen monokausalen Erklärungsansätzen eingefangen werden könnte.

III. Die prägenden Auffassungen Die hier vorzuschlagende Erklärung will die Entwicklung der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes demgegenüber als die Auswirkung bestimmter Ideen interpretieren. So lässt sich auf der Grundlage des juristischen Diskurses, der in der Fachliteratur und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung beider Länder geführt wurde und wird, ein Katalog von Auffassungen feststellen, die seinerzeit untereinander konkurrierten und schließlich ihren Ausdruck in den Gesetzen der jeweiligen Rechtsordnung fanden. Dabei muss zwischen den Auffassungen unterschieden werden, die die Entwicklung der jeweiligen Strafe förderten, und den Ansichten, die der breiten Anwendung einer Strafe entgegenwirkten. Auch muss berücksichtigt werden, dass sich eine Auffassung auf die Ausgestaltung des nationalen Gesetzes jeweils mit durchaus unterschiedlicher „Stärke“ auswirken konnte und dass diese „Stärke“ in ihrer Dynamik zur Kenntnis genommen werden muss. Man kann demzufolge auf der Grundlage der entsprechenden Vorschriften feststellen, wie bestimmte Auffassungen (z. B. die Kritik an der bedingten Freiheitsstrafe aus der Perspektive der Generalprävention in Deutschland) im Laufe der Zeit an Wirksamkeit verloren. Ferner muss beachtet werden, wie die Beurteilung einer Strafe (z. B. der kurzfristigen Freiheitsstrafe) in den beiden Ländern zu ganz unterschiedlichen gesetzgeberischen Maßnahmen führte. Es wird noch ausführlicher darauf einzugehen sein, welchen Charakter diese Auffassungen hatten und inwieweit sie im gegenwärtigen Stand der Forschung eine feste empirische Basis finden. Davor soll jedoch zunächst der Katalog der in Betracht kommenden Auffassungen zusammengestellt und deren Auswirkungen auf die Gesetze im Einzelnen erörtert werden. 3 4

Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 544. Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, S. 183.

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Auffassung 1 Die kurze Freiheitsstrafe bewirkt in spezialpräventiver Hinsicht mehr Schaden als Nutzen. Die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe wirkte sich sehr stark sowohl auf das deutsche StGB als auch auf die polnischen Strafrechtskodizes aus. Beginnt man die Untersuchung mit dem deutschen Strafrechtssystem, so zeugt schon die Wortwahl der juristischen Literatur in Deutschland von der Einstellung der Lehre gegenüber der kurzfristigen Freiheitsstrafe. Worte wie „Kampf“ oder „Kreuzzug“, die in der Fachliteratur mehrfach verwendet werden, passen eigentlich besser in die Militärliteratur als in juristische Aufsätze oder in Lehrbücher zur Kriminologie. Sie spiegeln jedoch sehr deutlich die tiefe Überzeugung der Autoren von der Schädlichkeit der kurzzeitigen Freiheitsstrafe wider und veranschaulichen die Entschlossenheit zu ihrer Verdrängung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Inhalt des Begriffes „kurzzeitige Freiheitsstrafe“ während der letzten hundert Jahre in Deutschland einem ständigen Wandel unterlag. Während Franz von Liszt unter einer „kurzzeitigen Freiheitsstrafe“ eine Freiheitsstrafe bis zu einer Dauer von sechs Wochen verstand,5 ging der Gesetzgeber im Jahre 1921 beim Erlass des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen6 von einer Freiheitsstrafe von unter drei Monaten aus. Das In-Kraft-Treten des 1. StrRG von 19697 brachte wieder eine bedeutende Änderung, die den Zeitraum der kurzen Freiheitsstrafe auf bis zu 6 Monate ausdehnte. Die Tendenz war damals deutlich: Die kurze Freiheitsstrafe wird immer länger. Die kurze Freiheitsstrafe wurde und wird in Deutschland vor allem wegen ihrer geringen Dauer kritisiert. Die Liste der Vorwürfe eröffnet das Argument, dass die kurze Haftzeit keine Möglichkeit zur Realisierung von Hilfs- und Betreuungsprogrammen für die Gefängnisinsassen bietet. Dies verwandelt den Vollzug in einen Verwahrvollzug, der jedoch den Gefangenen mit fast allen negativen Seiten der Freiheitsentziehung konfrontiert.8 Der Kontakt zur Gefängnissubkultur, die soziale Stigmatisierung sowie die Belastung der Familienkontakte können eine weitgehende De-Sozialisierung verursachen, was die letzte gewünschte Folge der Strafvollstreckung wäre.9 Außerdem wird die These aufgestellt, dass die Hafterfahrung den in präven5 6 7 8 9

v. Liszt, in: Aufsätze und kleinere Monographien, Band 1, S. 515. RGBl. I, S. 604. BGBl. I, S. 645. Dieses Gesetz trat am 1.4.1970 in Kraft. Kunz, Kriminologie, S. 389. Ebenda.

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tiver Hinsicht schädlichen Eindruck vermitteln könne, der Strafvollzug sei gar nicht so schlimm, wie gemeinhin angenommen werde.10 Es wird auch das Argument der weitgehenden „Austauschbarkeit der Sanktionen“11 verwendet. Die Annahme, dass harte Sanktionen in spezialpräventiver Hinsicht zumindest nicht erfolgversprechender sind als weniger harte Sanktionen,12 begünstigte ohne Zweifel die der kurzen Freiheitsstrafe feindliche Strömung. Gegen kurze Freiheitsstrafen sprachen auch Untersuchungen, die zu dem Schluss gelangt waren, dass zu kurzen Freiheitsstrafen Verurteilte in den ersten sechs Monaten nach der Verurteilung überdurchschnittlich viele Rückfälle aufweisen.13 Auch die Annahme, dass die weitgehende Ersetzung der kürzeren Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe mit hoher Wahrscheinlichkeit keine generalpräventiven Nachteile gebracht hat,14 wirkte sich wesentlich zu Gunsten der Geldstrafe aus. Die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe wurde ebenfalls von ökonomischen und organisatorischen Argumenten unterstützt. Eine große Zahl an „Kurzbestraften“ bedeutet einen hohen organisatorischen Aufwand für die Vollzugsanstalten bei der Abwicklung der rasch aufeinanderfolgenden Zu- und Abgänge. Die Kosten der Inhaftierung sind im Vergleich zu nicht freiheitsentziehenden Sanktionen offenkundig unverhältnismäßig höher. Auch in Polen wurden die kurzen Freiheitsstrafen sehr heftig kritisiert. Sowohl vor der Einführung des KK von 1932 als auch nach dem In-KraftTreten dieses Kodexes fehlte es nicht an Stimmen, die die negativen Seiten der kurzen Freiheitsstrafe betonten. Die Gegner warfen der kurzen Freiheitsstrafe vor allem vor, dass sie den Täter nicht zu bessern vermöge.15 Manche Autoren wollten die kurze Freiheitsstrafe überhaupt abschaffen.16 Dass diese Auffassungen einen Einfluss auf das Strafensystem des KK von 1932 hatten, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Auch in der Zeit der Volksrepublik Polen wurden die kurzen Freiheitsstrafen sehr heftig kritisiert.17 Erst die Einführung des KK von 1997 lässt eine Änderung in der Beurteilung der kurzen Freiheitsstrafe erkennen. Es wurde bereits gezeigt, 10

Ebenda. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 278, m. w. N. 12 Ebenda, RN 278. 13 Kaiser, Kriminologie (1996), S. 999. 14 Göppinger, Kriminologie, S. 740. 15 Makowski, Rozwaz ˙ ania prawnicze, S. 240; Wróblewski, Zarys polityki kryminalnej, S. 36; Makarewicz, S. 167. 16 Glaser, Polskie prawo karne w zarysie, S. 262. 17 Siehe dazu: Wa˛sik, Kara krótkoterminowego pozbawienia wolnos ´ci w Polsce, S. 22 ff., m. w. N. 11

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dass die Mindestdauer der Freiheitsstrafe im KK von 1997 auf einen Monat herabgesetzt wurde (der KK von 1969 setzte die Mindestdauer der Freiheitsstrafe noch auf drei Monate fest). Nach Buchała kann auch eine Freiheitsstrafe in dieser Höhe durchaus eine spezialpräventive Aufgabe (z. B. die Bekräftigung der Geltung eines Verbots im Bewusstsein des Täters oder die Abschreckung von Rückfalltätern) sowie generalpräventive Funktionen erfüllen.18 Es ist aber festzuhalten, dass die Abkehr von der kurzen Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch im Vergleich zu den polnischen Kodizes anders verlaufen ist. Während die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe in Deutschland grundsätzlich zur Erweiterung des Anwendungsgebietes der Geldstrafe führte, wurde die kurze Freiheitsstrafe in den polnischen Kodizes im Wesentlichen durch eine längere Freiheitsstrafe ersetzt. Um diese These zu erhärten, müssen die Befunde der vorangehenden Teile der Arbeit insoweit noch einmal zusammengefasst in Erinnerung gerufen werden. Es wurde festgestellt, dass die kurzen Freiheitsstrafen im deutschen StGB zunächst mit Hilfe der Muss-Vorschriften des § 27b (R)StGB a. F. und des § 14 StGB a. F. ersetzt wurden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Vorschriften des § 27b (R)StGB a. F. und des 14 StGB a. F. eingeführt wurden, als das Mindestmaß der Freiheitsstrafe noch 1 Tag betrug. Erst das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 196919 hat das Mindestmaß der Freiheitsstrafe auf 1 Monat heraufgesetzt, so dass alle Freiheitsstrafen unter 1 Monat in den Anwendungsbereich der Vorschrift des § 27b (R)StGB a. F. und des § 14 StGB a. F. fielen, bevor sie gesetzlich abgeschafft wurden. Dadurch brachte der Gesetzgeber klar zum Ausdruck, dass die kurzen Freiheitsstrafen durch die ambulanten Strafen (Geldstrafen) ersetzt werden sollten. Man kann davon ausgehen, dass dies in der Rechtsprechung auch weitgehend so umgesetzt wurde. Anders sah die Abkehr von der kurzen Freiheitsstrafe in den polnischen Kodizes aus. Man kann sagen, dass die Maßnahmen gegen die kurze Freiheitsstrafe im KK von 1932 und im KK von 1969 im Vergleich zu den Vorschriften des § 27b (R)StGB a. F. und des § 14 StGB a. F. erheblich radikaler waren: Sie beruhten im Wesentlichen auf der gesetzlichen Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe. So wurde die Mindestgrenze der Gefängnisstrafe im KK von 1932 auf sechs Monate festgesetzt, was als direkter Einfluss der negativen Bewertung der kurzen Freiheitsstrafe angesehen werden muss. Dass die Gefängnisstrafe im KK von 193220 und auch in der Praxis keine 18 Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Vom totalitären zum rechtsstaatlichen Strafrecht, S. 275. 19 BGBl. I, S. 717. Das Gesetz trat am 1.1.1975 in Kraft.

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Ausnahme war, wurde schon vorher festgestellt. Dabei ist zu beachten, dass der KK von 1932 keine Vorschrift vorsah, die eine Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe erstrebte. Noch radikaler wurde das Problem der kurzen Freiheitsstrafe im KK von 1969 gelöst. Diesem Kodex lagen zwei Ideen zugrunde: Der Zweck der „Polarisierung“ der strafrechtlichen Verantwortung21 und die Beschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafen.22 Das Mindestmaß der Freiheitsstrafe wurde auf drei Monate erhöht, was eine volle Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe auf dem Gebiet des Strafkodexes zur Folge hatte.23 Die Geldstrafe wurde nur im Bereich der Freiheitsstrafe von 3 bis zu 6 Monaten gefördert, aber es ist zu beachten, dass die Vorschrift des Art. 54 § 1 KK von 1969 bis zur Aufhebung des KK von 1969 als Kann-Vorschrift ausgestaltet war, so dass sie selten zur Anwendung kam. Auf die dreimonatige Mindestgrenze der Freiheitsstrafe verzichtete der Gesetzgeber erst im Jahre 1997. Der neue Strafrechtskodex setzte die Mindestgrenze der Freiheitsstrafe auf 1 Monat fest. Daraus lässt sich folgern, dass die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe in der polnischen Rechtsauffassung gewissermaßen abgenommen hat. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass der KK von 1997 keine Vorschrift kennt, die die Geldstrafe zu Lasten der kurzen Freiheitsstrafe gefördert hätte. Aus alledem ergibt sich, dass sich die Skepsis gegen die kurze Freiheitsstrafe auf das deutsche Strafgesetzbuch und auf die polnischen Strafrechtskodizes jeweils unterschiedlich auswirkte. Die Förderung der Geldstrafe im deutschen StGB und die Verlängerung der Dauer der Freiheitsstrafe in den polnischen Kodizes waren aber offenkundig die Hauptinstrumente gegen die kurze Freiheitsstrafe. Auffassung 2 Die unbedingte Freiheitsstrafe bewirkt in spezialpräventiver Hinsicht überhaupt mehr Schaden als Nutzen. Während die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe in beiden Ländern grundsätzlich zur Erweiterung des Anwendungsgebietes der Geldstrafe bzw. zur Erhöhung der Mindestdauer der Freiheitsstrafe führte, wirkten sich 20 Die ursprüngliche Fassung des KK von 1932 umfasste 123 Vorschriften, die nur Gefängnisstrafe oder Gefängnisstrafe alternativ zur Todesstrafe vorsahen. 21 Zum Begriff der „Polarisierung“ siehe Fußnote 440 im Ersten Kapitel. 22 Projekt Kodeksu karnego, Uzasadnienie, 1968, S. 1, 107; Lammich, MschrKrim 63 (1981), S. 82. 23 Die Freiheitsstrafen unter 3 Monaten wurden allerdings im Übertretungskodex beibehalten.

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die Zweifel am Wert der längeren unbedingten Freiheitsstrafen auf die Erweiterung der Anwendung der bedingten Freiheitsstrafe aus. Der folgende Strukturunterschied soll zunächst herausgegriffen werden: Während in Deutschland bis zum Erlass des 1. StrRG von 1969 die Skepsis nur gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe dominierte, lassen sich in Polen schon im KK von 1932 juristische Konzepte finden, die von Skepsis gegenüber den längeren Freiheitsstrafen zeugen. Der erste Teil dieser These findet ihre Unterstützung in den oft zitierten Worten von Jescheck, der das kriminalpolitische Klima in der Diskussion um die Freiheitsstrafe in den 70er Jahren wie folgt zusammengefasst hat: „Das Neue in der kriminalpolitischen Situation unserer Zeit liegt nicht darin, daß man die kurzfristige Freiheitsstrafe soweit wie möglich zu vermeiden sucht. Das Neue ist vielmehr die Skepsis gegenüber der Freiheitsstrafe überhaupt.“24

Jescheck bringt damit zumindest indirekt zum Ausdruck, dass in der Zeit davor jedenfalls noch nicht die Skepsis „gegenüber der Freiheitsstrafe überhaupt“ dominierte. Das lässt sich auch bei einem Blick auf die entsprechenden deutschen Vorschriften verifizieren. Wie im Ersten Abschnitt des Zweiten Kapitels der vorliegenden Untersuchung gezeigt wurde, ließ das deutsche Begnadigungsrecht es überwiegend zu, die zu kurzen Freiheitsstrafen Verurteilten bedingt zu begnadigen. Das Rechtsinstitut war vor allem gegen die kurzen Freiheitsstrafen gerichtet. Auch die erste Fassung der Vorschriften über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ließ es lediglich zu, bis zu neunmonatige Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen. Erst das 1. StrRG von 1969 (die Worte von Jescheck stammen aus dem Jahre 1977!) hat das Rechtsinstitut der Strafaussetzung auf längere Freiheitsstrafen (bis zu zwei Jahren) ausgedehnt. Demgegenüber eröffnete schon der KK von 1932 die Möglichkeit, bis zu zweijährige Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen. Das Rechtsinstitut war im KK von 1932 weniger als Instrument gegen die kurzen Freiheitsstrafen ausgestaltet, sondern diente vielmehr primär der Zurückdrängung der längeren unbedingten Freiheitsstrafen. Im Jahre 1932 schrieb Makarewicz: „Die Hoffnungen des 19. Jahrhunderts bezüglich der kriminalpolitischen Bedeutung der Freiheitsstrafe haben sich nicht erfüllt. Selbst die am besten konzipierten Strafvollzugssysteme bringen Effekte, die in keinem Verhältnis zu Zeitaufwand, Mühe und Kosten stehen. Die Freiheitsstrafe verbessert sehr selten, jedoch verdirbt sehr oft. Das ist der Grund, warum das Rechtsinstitut der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, das noch im 19. Jahrhundert angezweifelt wurde, heute den Beifall der ganzen zivilisierten Welt gewonnen hat. Es ist klar, dass der polnische Strafkodex das Rechtsinstitut der Strafaussetzung sehr liberal ausgestaltet hat.“25 24

Jescheck, FS für Würtenberger, S. 262.

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Das Rechtsinstitut der Strafaussetzung war auch im KK von 1969 und im KK von 1997 gegen die längeren Freiheitsstrafen gerichtet. Die Skepsis gegen die Freiheitsstrafe als solche fand somit in den polnischen Strafrechtskodizes im Vergleich zum deutschen Strafgesetzbuch wesentlich früher ihren Ausdruck. Auffassung 3 Der primäre Zweck der Strafe liegt in der Vergeltung. Eine weitere Auffassung, die einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe in den Strafrechtsordnungen der beiden Staaten gehabt haben könnte, ist im Bereich des jeweils herrschenden Strafkonzeptes angesiedelt. Ist die These richtig, dass sich der Gedanke der Probation erst dann in die Praxis umsetzen lässt, wenn die Idee der Strafe als Vergeltung zugunsten der Konzeption einer zweckmäßigen Strafe an Bedeutung verloren hat,26 so würde daraus folgen, dass die Idee einer vergeltenden Strafe im deutschen Strafrechtssystem im Vergleich mit der Entwicklung der polnischen Rechtsordnung gegenüber dem Gedanken der präventiven Strafzwecke länger den Vorrang behielt.27 Nach Buchała gab es den größten Widerstand gegen die Einführung der Strafaussetzung gerade in Deutschland.28 Er nahm an, dass der Grund dafür in der erheblichen Anzahl der Befürworter einer vergeltenden Strafe zu suchen ist, die sich gegen die Einführung der Strafaussetzung aussprachen.29 In der Tat war die Anzahl der Gegner der bedingten Verurteilung in Deutschland beachtlich. Kirchenheim, Wach und Appelius werden am häufigsten erwähnt. Ihre Auffassung, dass die bedingte Verurteilung einer der Grundregeln des Strafrechts widerspricht, nämlich, dass der Schuld die Strafe folgen müsse, war schon von von Liszt vehement bekämpft worden. Weitere Indizien für den Vorrang der vergeltenden Strafe im deutschen Strafrechtsdenken werden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und in den Regelungen zur Strafzumessung erkennbar. Um diese These zu erhärten, muss auf die entsprechenden Gerichtsurteile, auf die Regelungen zur 25

Makarewicz, S. 42. So z. B. Wróblewski, Penologja-socjologja kar, S. 262; Buchała, Prawo karne materialne, S. 612; Kaczmarek, PiP 1/1994, S. 90; Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 37; Zoll, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 69 RN 6. 27 Siehe dazu: Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 180; ders., Prawo karne materialne, S. 612. 28 Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 180, m. w. N. 29 Ebenda, m. w. N. 26

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Strafzumessung im deutschen Strafgesetzbuch und schließlich auf die Spielraumtheorie hingewiesen werden, die das Problem der Antinomie der Strafzwecke zu lösen versucht. Selbstverständlich ist die Aussagekraft dieser Indizien durchaus begrenzt. Man kann in keinem Fall davon ausgehen, dass eine Strafzumessungsformel den Strafzumessungsvorgang vollständig determiniert.30 Auch ist zu bezweifeln, dass die Begründungen der Urteile immer die wahren Motive des Tatrichters widerspiegeln.31 Die empirischen Untersuchungen zur Relevanz bestimmter Zumessungstatsachen,32 zur Divergenz von Herstellung und Darstellung von Sanktionsentscheidungen33 sowie zur richterlichen Attitüden- und Vorurteilsforschung34 zeigen, „dass die konkrete Strafbemessung in völlig anderen als den von der Dogmatik vorgezeichneten Bahnen verläuft.“35 Die Strafzumessungsformeln lassen jedoch erkennen, welches Konzept der Strafe unter verschiedenen Auffassun30 Dazu Jung (Sanktionssysteme und Menschenrechte, S. 193.): „Das Strafzumessungsrecht und die Strafzumessungslehre befinden sich in einem eigenartigen Zustand. Über einen Mangel an einschlägigen Untersuchungen kann man wahrlich nicht mehr klagen, so daß die Formel von der traditionalen Vernachlässigung dieser Materie ausgedient hat. Gleichwohl münden viele der Beiträge in der Feststellung, daß der gegenwärtige Zustand irgendwie unbefriedigend sei. Diese Übereinstimmung besagt jedoch für sich betrachtet noch nicht viel, da die Analysen von unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Ausgangspunkten ausgehen, unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und dementsprechend auch die Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Straftheoretisch-rechtsphilosophische, kriminologische und strafrechtsdogmatische Bemühungen laufen parallel und bisweilen seltsam unverbundenen nebeneinander her. Trotzdem stößt man wieder auf ähnliche Monita: Klagen über die Theorielosigkeit der Strafzumessungslehre, über ihre mangelnde dogmatische Durchdringung, über die Unklarheiten hinsichtlich der Ziele, über die mangelnde Transparenz und Kohärenz, über extreme Spielräume und extreme Ungleichheiten suggerieren allesamt dieselbe Vorstellung, daß es nämlich in diesem Bereiche juristischer Praxis insgesamt recht ungeordnet vor sich gehe, um nicht zu sagen, Zufallsergebnisse produziert werden.“ 31 Dazu Kunz (in: Bürgerfreiheit und Sicherheit: Perspektiven von Strafrechtstheorie und Kriminalpolitk, S. 223): „In Justizkreisen wird mit augenzwinkernder Selbstironie die Behauptung kolportiert, es gäbe drei Sorten von Strafzumessungsbegründungen: die mündlich verkündeten, die schriftlich niedergelegten und die wirklich gemeinten. Diese Behauptung trifft Zumessungstheorie und -praxis vernichtend. Dem Bonmot zufolge besitzt die Zumessungslehre keinerlei Relevanz für den Entscheidungsfindungsprozess, während die Praxis ihre unsystematisch und womöglich willkürhaft getroffenen Entscheidungen in den maßgeblichen schriftlichen Urteilsgründen unter Zuhilfenahme dogmatischer Kriterien versteckt. Die Dogmatik als blosses Blendwerk zur revisionssicheren Darstellung einer von verborgenen Gründen getragenen Strafbemessung – eine wahrlich gespenstische Vorstellung, die einem rechtsstaatlichen Strafrecht Hohn spricht.“ 32 Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, S. 116 ff.; Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen, S. 97 ff. 33 R. Hassemer, MSchrKrim 66 (1983), S. 26 ff. 34 Opp/Peuckert, Ideologie und Fakten in der Rechtsprechung.

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gen den Vorrang gewonnen hat, und auf diese Weise lässt sich mittelbar die Einstellung des Gesetzgebers und der mitwirkenden Experten im Hinblick auf eine bestimmte Sanktion feststellen. Da die Strafzumessungsformeln auslegungsbedürftig sind, muss auch auf die Dogmatik und die Gerichtsurteile eingegangen werden, die die Unklarheiten und Missverständnisse der Strafzumessungsformeln beseitigen wollen. Die theoretischen Auffassungen und die Gerichtsurteile offenbaren dabei sehr oft (manchmal auch eher beiläufig) das dahinterstehende Konzept der Strafe. Eine darauf bezogene Analyse lässt den Vorrang des Konzepts einer vergeltenden Strafe im deutschen Strafrechtssystem deutlich werden. Ähnliches kann – wie nachfolgend näher dargelegt – für ein präventiv ausgerichtetes Konzept der Strafe in der polnischen Rechtsordnung gezeigt werden. Dies macht einmal mehr die Förderung der Geldstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in den polnischen Strafrechtskodizes verständlich. Beginnt man die Analyse mit dem deutschen Strafrechtssystem, so ist zunächst festzustellen, dass sich der deutsche Gesetzgeber überhaupt erst relativ spät den Vorschriften über die Strafzumessung widmete. Während die ursprüngliche Fassung des RStGB über den Begriff der Strafe und die Grundsätze der Strafzumessung nahezu völlig schwieg, was Einigkeit in den wesentlichen Grundlagen vermuten lässt, wurde angesichts des Schulenstreits, der Reformbewegungen in der Weimarer Zeit und der modernen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg immer nachdrücklicher „ein klärendes Wort des Gesetzgebers“ gefordert.36 Obwohl es eine Fülle von Vorschlägen in den zahlreichen Entwürfen gab, wurde erst auf der Grundlage des 1. StrRG durch die Einfügung von § 13 StGB a. F. (= § 46 StGB n. F.) eine allgemeine Strafzumessungsvorschrift in das deutsche Strafrechtssystem eingeführt. Der Zustand der gesetzlichen Regelungslosigkeit beruhte nicht darauf, dass man dem Strafausspruch früher geringere Bedeutung als heute zuschrieb, sondern folgte dem Verständnis des richterlichen Ermessens, dem die Strafzumessung weitgehend allein zustand. Bei einer solchen These mussten gesetzliche Vorschriften nur hinderlich erscheinen.37 Selbstverständlich konnte die Rechtsprechung mit den wenigen gesetzlichen Hinweisen zur Strafzumessung nicht auskommen.38 Die Strafzweckproblematik wurde zuerst im Rahmen des § 27b (R)StGB erörtert. Nach § 3 des Geld35 Kunz, in: Bürgerfreiheit und Sicherheit: Perspektiven von Strafrechtstheorie und Kriminalpolitk, S. 224. 36 Lackner, FS für Gallas, S. 119. 37 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT 2, § 62 I RN 1. 38 Ebenda, § 62 I RN 3.

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strafengesetzes von 1921 und nach § 27b RStGB musste der Zweck der Strafe durch die Geldstrafe erreicht werden können, damit eine Geldstrafe die kurze Freiheitsstrafe ersetzen durfte. Die Gesetze schwiegen jedoch zu der Frage, welchen Zweck die Geldstrafe denn erreichen sollte.39 Die Richter mussten hierzu allerdings Stellung beziehen. So stellte die Rechtsprechung zunächst klar, dass es sich dabei um verschiedene Zwecke handele, die üblicherweise in die drei Kategorien der Sühne,40 der Spezial- und der Generalprävention gegliedert wurden.41 Die Anforderungen dieser drei Strafzwecke mussten kumulativ erfüllt werden, d.h. die Umwandlung der Freiheits- in eine Ersatzgeldstrafe war nur bei vollständiger Zweckerreichung möglich.42 Nach Zipf ergibt sich aus allen Urteilen des Reichsgerichts sogar „eine gefestigte Rechtsprechung, die als primären Strafzweck die gerechte Sühne ansieht und daneben die übrigen Strafzwecke mitberücksichtigt.“43 Als Musterbeispiel für die Auffassung in der Rechtsprechung kann ein Urteil aus dem Jahre 1924 gelten: „Maßgebend ist also in erster Linie das Sühnebedürfnis, der Vergeltungszweck der Strafe, daneben auch der Abschreckungszweck. Die sonstigen Strafzwecke, der Besserungs- und Sicherungszweck treten demgegenüber in den Hintergrund.“44

In der Literatur vertrat Schmidt die Auffassung, dass vor allem die Persönlichkeit des Täters für die Entscheidung maßgeblich sein müsse,45 dagegen sah Frank den Strafzweck des § 27b RStGB in der Ausgleichung des ideellen Verbrechensschadens.46 Lobe vertrat die Ansicht, dass der Strafzweck des § 27b RStGB die Vergeltung sei.47 In der Nachkriegszeit sah Schönke die Erfüllung des Strafzwecks des § 27b StGB vor allem in der Zufügung eines Übels zum Zwecke der Vergeltung und der Abschreckung.48 Die erzieherische Seite der Strafe kam nur daneben in Betracht.49 Nach Kleber,50 39

Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27b Anm. I.3. In der deutschen Literatur wird der vom RG verwendeten Begriff „Sühne“ sehr oft mit dem der Vergeltung gleichgesetzt. So z. B. Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 11; Zipf, Die Geldstrafe in ihrer Funktion der Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, S. 101; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 36–37. Auch in der Rechtsprechung des BGH wird der Begriff der Sühne oftmals als Synonym für den Begriff der Vergeltung verwendet. Siehe dazu: Enßlin, Spezialpräventive Strafzumessung, S. 17. 41 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 36. 42 Ebenda. 43 Zipf, Die Geldstrafe in ihrer Funktion der Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, S. 100–101. 44 RGSt. 58, S. 109. 45 v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, S. 407–408, m. w. N. 46 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 27b Anm. I.3. 47 LK-Lobe, § 27b Anm. 1 mit Verweis auf RGSt. 61, S. 417. 40

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Zipf 51 und Kubink52 ist gerade die letzte Auffassung zur herrschenden Meinung geworden, so dass auch von Einigkeit der herrschenden Lehre und des Reichsgerichts über den Vorrang des (Vergeltungs-)Sühne-Prinzips im Rahmen des § 27 RStGB ausgegangen werden kann. Diese Akzentsetzung darf nicht unterschätzt werden, weil sie ganz allgemein die herrschende Meinung zu den Strafzwecken zum Ausdruck bringt. Die gerechte Sühne wurde auch in der Zeit des Dritten Reiches als legitimer Zweck der Strafe angesehen, wobei allerdings ein krasses Vordringen des Schutzgedankens, der nicht mehr durch Schuld-Sühne-Erwägungen limitiert war, zu verzeichnen ist.53 Zu erwähnen ist insbesondere das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches vom 4. September 1941,54 nach dessen § 1 der gefährliche Gewohnheitsverbrecher und bestimmte Sittlichkeitsverbrecher der Todesstrafe verfielen, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern. Wie Bruns zu Recht bemerkt hat, sind mit dem Änderungsgesetz von 1941 an die Stelle der bis dahin kumulativen Voraussetzungen nunmehr nur zwei alternative Strafzwecke (Schutz der Volksgemeinschaft oder gerechte Sühne) getreten, die bald auf die allgemeine Strafzumessung übertragen wurden (RGSt. 76, S. 323).55 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Strafzweckproblematik wieder erörtert, wobei eine Anknüpfung an den „Schutzgedanken“ des Dritten Reiches allerdings nicht mehr in Frage kam.56 Zu erwähnen ist hier insbesondere die aufschlussreiche Judikatur des Deutschen Obersten Gerichtshofes für die britische Zone, die das Maß und die Grenze der gerechten Strafe (nun wieder) im Schuldprinzip fand.57 Der Gedanke der Spezialprävention setzte sich primär auf dem Gebiet der Strafzumessung im weiteren Sinne, namentlich der Strafaussetzung zur Bewährung, durch.58 Auch der BGH nannte schon in den ersten Jahren seiner Tätigkeit als „Grundlage der Straf48 Schönke (1952), § 27b Anm. II.4. mit Verweis auf RGSt. 64, S. 110; OLG Hamburg HESt. 2, S. 349. 49 Ebenda. 50 Kleber, Die Ersatzgeldstrafe nach § 27b Strafgesetzbuch, S. 9. 51 Zipf, Die Geldstrafe in ihrer Funktion der Eindämmung der kurzen Freiheitsstrafe, S. 100. 52 Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, S. 185–186, m. w. N. 53 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 35. 54 RGBl. 1941, S. 549. 55 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 35. 56 Ebenda, S. 89. 57 Ebenda. 58 Ebenda.

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zumessung (. . .) die Bedeutung der Tat für die durch sie verletzte Rechtsordnung“ und den „Grad der persönlichen Schuld des Täters“.59 Wie Frisch zu Recht bemerkt hat, sind die Strafzwecke hier nicht ausdrücklich benannt; es sind aber wohl die, die in der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeführt waren: „Die Sühne der Tat und der Vergeltungszweck, vielleicht auch noch gewisse Aspekte der Generalprävention.“60 Die Rechtsprechung des BGH ist in dieser Hinsicht konstant geblieben. Die Einführung der besonderen Strafzumessungsformel des § 13 StGB a. F. (= § 46 StGB n. F.) durch das 1. StrRG von 1969 änderte in dieser Hinsicht nicht viel. Die Vorschrift lautet: „(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: – die Beweggründe und die Ziele des Täters, – die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, – das Maß der Pflichtwidrigkeit, – die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, – das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse – sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. (3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.“

Die Norm des § 13 StGB a. F. (= § 46 StGB n. F.) lässt sich nicht einfach auslegen. Nach Albrecht legt § 46 Abs. 1 StGB sogar überhaupt keine eindeutige Grundlage fest, „auf der sich zweifelsfrei Sinn und Zweck der Strafe behaupten ließe, um danach die Strafmaßbestimmung zu strukturieren“.61 Noch skeptischer gegenüber der Grundnorm des deutschen Strafzumessungsrechts hat sich Stratenwerth ausgedrückt, indem er behauptete, dass schwerlich eine Norm vorstellbar sei, die weniger Klarheit über das Verhältnis zwischen Schuld und Prävention und damit über die Struktur der verbindlichen Strafzwecke schaffe.62 Sein berühmter Satz – „Eine gesetz59 BGHSt. 3, S. 179 unter Bezugnahme auf RGSt. 58, S. 106 (109); später auch BGHSt. 20, S. 264 (266); BGH NStZ 1985, S. 545. 60 Frisch, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band IV, S. 270–271. 61 Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, S. 25. 62 Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, S. 14.

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geberische Fehlleistung von besonderem Range“63 – wird fast in jedem deutschen Kommentar zitiert. Es gibt selbstverständlich andere Auffassungen hierzu. Eine mittlere Position bezieht Stree, wenn er, durchaus im Bewusstsein aller Probleme, die eine Grundlagenformel birgt, von der Grundnorm der Strafzumessung nur verlangt, dass sie die Gesichtspunkte zusammenstellt, „auf die der Richter bei der Strafzumessung sein besonderes Augenmerk zu richten hat“.64 Die fundamentale Bedeutung des § 46 StGB liegt nach Stree darin, dass die Schuld des Täters expressis verbis zur Grundlage für die Strafzumessung gemacht wurde.65 Und natürlich ist es schwer, dem Satz von Stree zu widersprechen, dass eine Grundnorm, die alle zufrieden stellt, kaum denkbar ist.66 Es wurden aber durchaus auch die positiven Seiten der Norm hervorgehoben, insbesondere deren Elastizität, die eine positive Wirkung auf ihre praktische Anwendung ausüben könnte.67 So meint Horstkotte, dass die Unschärfe der Vorschrift der Praxis eine behutsame Weiterentwicklung in Richtung auf eine stärkere Folgenberücksichtigung im Sinne des § 46 Abs. 1 S. 2 StGB erlauben solle.68 Die positiven Seiten der Vorschrift betont auch Lackner. Nach ihm liegt ein unschätzbarer Vorteil der Vorschrift darin, „dass er den Diskussionsrahmen für die Zukunft denkbar weit spannt.“69 Dies erlaube, die „geistigen Auseinandersetzungen um die richtige Lösung unbehindert von unnötigen gesetzlichen Schranken allein unter sachlichen Gesichtspunkten“70 zu führen, was nach seiner Ansicht einen Vorteil darstellt. Die herrschende Auslegung der Vorschrift fällt im Wesentlichen mit der Auffassung von Jescheck und Weigend zusammen. Nach ihnen enthält § 46 StGB zwei Arten von Regelungen: Dem Absatz 1 lässt sich ein Hinweis „auf die zu berücksichtigenden Zwecke der Strafe“ entnehmen; hingegen weist Absatz 2 den Richter auf die Umstände hin, die sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Täters von Bedeutung sein können.71 Weiterhin stellen Jescheck und Weigend fest, dass § 46 Abs. 1 StGB „ein klares Bekenntnis des Gesetzgebers zugunsten von zwei (unter vielen denkbaren) Strafzwe63 64 65 66 67 68 69 70 71

Ebenda, S. 13. Schönke/Schröder/Stree (2001), § 46 RN 1. Ebenda. Ebenda. Horstkotte, in: Pfeiffer/Oswald (Hrsg.), Strafzumessung, S. 284. Ebenda. Lackner, FS für Gallas, S. 119. Ebenda. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 876.

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cken und auch eine Aussage über deren Gewichtung“ enthält.72 Demgemäß sind der Ausgleich des vom Täter verschuldeten Unrechts (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB) und die Belange der Resozialisierung (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB) zwei legitime Strafzwecke, die der Formulierung des § 46 Abs. 1 StGB zu entnehmen sind.73 Dabei soll „die Strafe in erster Linie dem Ausgleich des vom Täter verschuldeten Unrechts dienen (. . .)“74. Die Schuld und die Strafe sind demgemäß in ein Gleichgewichtsverhältnis zueinander zu bringen.75 Die Prädominanz des Schuld-Sühne-Prinzips ist somit offenkundig. Diese Meinung findet ihre Unterstützung auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts76 und des Bundesgerichtshofes77. Dabei ist festzuhalten, dass die deutsche Lehre bezüglich der die Schuld überschreitenden Strafe weitgehend einig ist. Demgemäß darf das Gericht auf keine Strafe erkennen, die über das Maß der Schuld hinausgeht, auch dann nicht, wenn dies mit der (positiven) Absicht begründet wird, den Täter zu bessern.78 Auch kann der Sicherungsgedanke keine schuldunangemessene Strafe begründen.79 Demgemäß ist die Schuld im Sinne von § 46 Abs. 1 StGB nicht nur Grundlage, sondern auch Obergrenze der Strafe.80 Keine Übereinstimmung liegt in der Literatur hingegen bezüglich der Unterschreitung der schuldangemessenen Strafe vor.81 Das Problem hat eine sehr praktische Dimension. So stellt sich z. B. die Frage, ob das Gericht bei einem sozial integrierten Täter von der Verhängung einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe absehen kann, um den Täter nicht zu entwurzeln. Die präventivorientierten Autoren (Frisch,82 Roxin,83 Stree84), die den Schuldgedanken nur als Begrenzungsmaßstab anerkennen, nehmen konsequent an, dass ein der Schuld entsprechendes Strafmaß auch unterschritten werden darf.85 Die Auffassung stützt sich auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes, 72

Ebenda, S. 876–877. Ebenda, S. 877. 74 Ebenda, m. w. N. 75 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 46 RN 4. 76 BVerfGE 6, S. 389 [439]; 45, S. 187 [256–259]. 77 BGHSt. 20, S. 264 [266 f.], dazu eingehend Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 89–105. 78 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 879, m. w. N. 79 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 454. 80 BVerfGE 50, S. 12; 100, S. 108; BGHSt. 20, S. 266; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 879. 81 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 879. 82 Frisch, ZStW 99 (1987), S. 368–369. 83 Roxin, Strafrecht AT 1, S. 60. 84 Schönke/Schröder/Stree (2001), § 46 RN 5. 85 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 879. 73

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der festgestellt hat, dass die Strafe nicht die Aufgabe habe, Schuld um ihrer selbst willen auszugleichen, sondern Strafe nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist.86 Demgegenüber hält der überwiegende Teil der Lehre jedoch daran fest, dass die Schuld im Sinne von § 46 Abs. 1 StGB auch eine verbindliche Untergrenze für die Strafe darstelle.87 Dies wird mit dem Argument begründet, dass die Höhe der Strafe auch in der unteren Dimension durch den Zusammenhang mit der Schuld des Täters legitimiert sein müsse.88 In den die Schuldgrenze unterschreitenden Strafen hat der Bundesgerichtshof sogar die Gefahr gesehen, dass das ganze Sanktionensystem aus Resozialisierungsgründen unterlaufen werden könnte.89 Der Vorrang des Schuldausgleichs gegenüber den präventiven Zwecken der Strafe wird in Deutschland auch in der dominierenden Theorie zur Autonomie der Strafzwecke sichtbar. Nach der Spielraumtheorie,90 die vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertreten wird91 und die auch in der Literatur dominiert,92 liegt die im Einzelfall schuldangemessene Strafe in einem gegenüber dem gesetzlichen Strafrahmen wesentlich engeren Spielraum (BGH) oder Schuldrahmen (Maurach/Zipf).93 Dem theoretischen Konzept liegt die Annahme zugrunde, „daß sich die im jeweiligen Fall schuldangemessene Strafe nicht exakt bestimmen läßt, sondern daß lediglich ein Bereich angegeben werden kann, innerhalb dessen die Strafe liegen muß, wenn sie ihre Aufgabe, gerechten Schuldausgleich zu verwirklichen, nicht verfehlen soll.“94 Die Festlegung dieses Bereiches stellt einen Zwischenschritt auf dem Weg zum endgültigen Strafmaß dar. Demgemäß sind alle Strafquanten innerhalb dieses Spielraums schuldangemessen.95 Nur innerhalb dieses Spielraums darf der Richter, in einem zweiten Schritt, die präventiven Aufgaben verwirklichen, was nach der Rechtspre86

BGHSt. 24, S. 42. So Schaffstein, FS für Gallas, S. 105–107; Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 96; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 879; LK-Gribbohm, § 43 RN 14. 88 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 96. 89 BGHSt. 29, S. 321; 32, S. 65; zustimmend Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 96. 90 Der Grundgedanke dieser Theorie ist keineswegs neu. Bruns (Das Recht der Strafzumessung, S. 106) gibt an, dass mit einer solchen Konstruktion schon das OLG Jena (HRR 1930 Nr. 1079) gearbeitet habe. 91 BGHSt. 7, S. 32; 20, S. 264; 24, S. 133; NStZ 1982, S. 464; MDR 1976, S. 941; NJW 1987, S. 2686; NStZ 1993, S. 584 = StV 1993, S. 638(639). 92 Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, S. 31, m. w. N. 93 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 461. 94 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 881. 95 LK-Gribbohm, § 46 RN 18. 87

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chung des Bundesgerichtshofes bedeutet, dass die Grenzen dieses Spielraums weder nach oben96 noch nach unten97 überschritten werden dürfen.98 Demgemäß kann das Gericht aus Gründen der Spezial- oder Generalprävention an die Obergrenze dieses Spielraums gehen oder sich der unteren Grenze annähern, wenn die Gefahr der Entsozialisierung des Täters im Mittelpunkt der gerichtlichen Abwägung steht. Auch die umgekehrte Reihenfolge, die zunächst die Strafe unter präventiven Gesichtspunkten konkretisiert und sie anschließend durch den Strafrahmen limitiert, bleibt mit der Grundidee dieser Theorie vereinbar.99 Der Vorteil der Spielraumtheorie wird in ihrer größeren Flexibilität gesehen.100 Ferner darin, dass sie eine theoretische Grundlage für die Auflösung des potentiellen Widerspruchs schafft, der in § 46 Abs. 1 StGB steckt.101 Auch nimmt man an, dass die Spielraumtheorie dem Strafzumessungsvorgang bei den Kollegialgerichten entspricht.102 Dem liegt die These zugrunde, dass der Berichterstatter häufig nach Abwägung der für die Bemessung der Schuld erheblichen Umstände einen Rahmen (z. B. „zwischen zwei und drei Jahren“) zur Diskussion stellt.103 Diesem Vorgang soll die Spielraumtheorie mit ihrem Bereich der schuldangemessenen Strafen entsprechen. Aus alledem ergibt sich, dass die Vergeltung bei der Zumessung der Strafe im deutschen Diskurs über den Zweck der Strafe immer schon eine primäre Rolle gespielt hat. Dabei kann der Schritt vom Terminus der Vergeltungsstrafe zum Begriff der Schuldstrafe, der in der Rechtsprechung des BGH104 und in der Lehre nach dem 2. Weltkrieg vollzogen wurde, nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Gedanken der Vergeltung im Grunde keine Absage erteilt wurde. Zwar werden die Begriffe „Sühne“ und „Vergeltung“ in den neueren Entscheidungen des BGH fast „peinlich“ vermieden,105 aber es lässt sich kaum bestreiten, dass der Schuldausgleich als Inhalt der Strafe „die gedankliche Fortsetzung der Vergeltungstheorie“ bildet.106 Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die „Gerechtigkeit“ durch 96

BGHSt. 20, S. 264. BGHSt. 24, S. 132; BGH JR 1977, S. 159. 98 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 462. 99 Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, S. 31, m. w. N. 100 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 463. 101 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 881, m. w. N. 102 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 463. 103 Ebenda. 104 Frisch, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band IV, S. 272. 105 Ebenda, m. w. N. 97

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Ausgleich des Unrechts der Tat herstellen wollen.107 Dabei wird beim Schuldausgleich im Gegensatz zur Vergeltung keine Begrenzung mehr auf den metaphysischen Gehalt der Vergeltung gesehen.108 Schuldausgleich wird vielmehr auch als eine soziale Aufgabe betrachtet.109 Im Vergleich zum deutschen Strafgesetzbuch sah die Entwicklung der polnischen Kodizes bezüglich der Strafzumessungsformeln erheblich anders aus. Die Strafzumessung regelte in seinem Art. 54 schon der KK von 1932. Danach sollte das Gericht bei der Zumessung der Strafe vor allem „die Beweggründe und die Art des Verhaltens des Täters, sein Verhältnis zum Verletzen, seinen geistigen Entwicklungsgrad, seinen Charakter und Lebenswandel vor der Tatbegehung sowie sein Verhalten danach“ berücksichtigen. Daraus ergibt sich, dass Art. 54 KK von 1932 die täterbezogenen Umstände in den Vordergrund stellte. Sie alle hatten Einfluss auf die Prognose bezüglich des künftigen Täterverhaltens.110 Demzufolge lässt sich festhalten, dass die Strafzumessungsformel des Art. 54 KK von 1932 spezialpräventiv ausgestaltet war.111 Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Art. 54 KK von 1932 die Schuld des Täters nicht erwähnte, weder als Grundlage der Strafzumessung, noch als Obergrenze, die eine spezialpräventiv ausgerichtete Strafe nicht überschreiten durfte.112 Das heißt freilich nicht, dass die Schuld im KK von 1932 keine Rolle spielte. Auf der Grundlage einer Analyse der entsprechenden Vorschriften des Art. 13, 14, 17–20, 22 des KK von 1932 folgerte Buchała, dass die Schuld eine Voraussetzung für die Verantwortung auch im Rahmen des KK von 1932 darstellte.113 Art. 54 KK von 1932 ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass die Generalprävention jedenfalls keinen legitimen Strafzweck darstellt. Demzufolge wandte sich Makarewicz vehement gegen die Urteile des Obersten Gerichts (z. B. Urteil vom 7.1.1935, Nr. 317, 1935), die den generalpräventiven Gedanken hervorhoben.114 Die 106 Enßlin, Spezialpräventive Strafzumessung, S. 15. Siehe dazu Bruns, Das Recht der Strafzumessung, S. 92; Frisch, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Band IV, S. 272. 107 Enßlin, Spezialpräventive Strafzumessung, S. 15. 108 Ebenda, S. 21. 109 Ebenda. 110 Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 265. 111 Makarewicz, S. 206. Siehe dazu: Buchała, Dyrektywy sa˛dowego wymiaru kary, S. 18; Skupin´ski, Warunkowe zawieszenie kary na tle porównawczym, S. 82; Buchała/Zoll, Art. 53 RN 56; Marek, Prawo karne (2005), RN 487; Grzes´kowiak, in: Górna (Redaktion), Prawo karne w pogla˛dach profesora Juliusza Makarewicza, S. 267; Jakubowska-Hara, Grzywna w prawie wykroczen´, S. 60. 112 Buchała, in: Eser/Kaiser/Weigend (Hrsg.), Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 265. 113 Buchała/Zoll, Art. 53 RN 9.

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Abschreckung der Allgemeinheit war ihm zufolge mit Art. 54 des KK von 1932 unvereinbar.115 Art. 54 des KK von 1932 galt in seiner unveränderten Ausgestaltung bis zum In-Kraft-Treten des KK von 1969. Der sozialistische Staat konnte sich jedoch mit der spezialpräventiv ausgerichteten Strafzumessungsnorm nicht begnügen.116 Die Generalprävention als legitimer Zweck der Strafe kam im Verfahrensrecht im Jahre 1949117 deutlich zur Geltung.118 Nach dem neuen Art. 404 Ziff. 2 KPK von 1928 konnte ein Urteil durch das Revisionsgericht auch dann abgeändert werden, wenn die Strafe nicht im richtigen Verhältnis zur Sozialschädlichkeit der Tat stand.119 Der Begriff „Sozialschädlichkeit der Tat“ ließ keinen Zweifel daran, dass damit die Generalprävention angesprochen sein sollte.120 Ob damit auch Vergeltung gemeint war, blieb allerdings offen und dementsprechend in der Lehre umstritten.121 Die Strafzumessungsformel des KK von 1969 wich erheblich von Art. 54 KK von 1932 ab. Nach dem Art. 50 § 1 KK von 1969 sollte das Gericht bei der Bemessung der Strafe den Grad der Sozialgefährlichkeit der Tat, die Auswirkungen der Strafe auf die Gesellschaft (Generalprävention) sowie Präventiv- und Erziehungszwecke gegenüber dem Verurteilten (Spezialprävention) berücksichtigen. Die Unterschiede zu Art. 54 KK von 1932 sind offensichtlich: Neben den täterbezogenen Umständen sind auch die tatbezogenen Umstände (Sozialgefährlichkeit der Tat122) und die gesellschaftsbezogenen Umstände (die Auswirkungen auf die Gesellschaft) zu erwägen. Die Formulierung des Art. 50 § 1 KK von 1969 ließ im Gegensatz zu Art. 54 KK von 1932 keinen Zweifel daran, dass die Strafe einen gemischt repressiv-präventiven Charakter haben sollte.123 Mit der Wendung „. . . Die Strafe 114

Makarewicz, S. 208. Ebenda, S. 209. 116 Siehe dazu: Andrejew/Lernell/Sawicki, Prawo karne Polski Ludowej, S. 309. 117 Ustawa z dnia 27 kwietnia 1949 r. o zmianie przepisów poste ˛ powania karnego. Dz. U. 49.32.238. 118 Kaczmarek, Se ˛ dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej, S. 89, m. w. N. 119 Ebenda, S. 89; Buchała, Dyrektywy sa˛dowego wymiaru kary, S. 26. 120 Die Bedeutung der Generalprävention hob auch das Oberste Gericht in seinen Richtlinien hervor. Siehe dazu: Wytyczne wymiaru sprawiedliwos´ci i praktyki sa˛dowej w sprawie prawidłowego orzekania kar przez sa˛dy, I KO 281/57, OSN 1/1958. 121 Dafür: Kaczmarek, Se ˛ dziowski wymiar kary w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej, S. 89; ders., in: Bojarski/Skre˛towicz (Redaktion), Problemy reformy prawa karnego, S. 49. Dagegen: Buchała, Dyrektywy sa˛dowego wymiaru kary, S. 26. 122 Es ist zu beachten, dass die Lehre nach einem Meinungsstreit zu der Schlussfolgerung gekommen ist, dass der Begriff der „Sozialgefährlichkeit der Tat“ auch die täterbezogenen Umstände erfasst. Siehe dazu: Kaczmarek, Ogólne dyrektywy wymiaru kary w teorii i praktyce sa˛dowej, S. 25, m. w. N. 115

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soll dem Grad der Sozialgefährlichkeit der Tat entsprechen . . .“ war die Vergeltungsfunktion der Strafe angesprochen.124 Das alles ist vor dem Hintergrund des herrschenden Konzepts zur vergeltenden Strafe zu sehen, das versuchte, die Vergeltungsfunktion der Strafe von ihrer metaphysischen Ebene auf die Ebene sozialer Zweckmäßigkeit herabzuholen. Cies´lak und E. Weigend formulieren diesen Gedanken wie folgt: „Hiernach liegt der Hauptzweck jeder vom Gesetz vorgesehenen Strafe in der Erfüllung sozialer Gerechtigkeitsgefühle bzw. -bedürfnisse. ‚Gerechtigkeit‘ ist dabei nicht als etwas Abstraktes ohne konkrete Anhaltspunkte anzusehen, sondern als eine bestimmte, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Gesellschaft vorhandene Durchschnittsvorstellung darüber, was gerecht und was nicht gerecht ist.“125

Die Strafzumessungsformel des KK von 1997 unterscheidet sich nunmehr wesentlich von Art. 50 § 1 KK von 1969. Art. 53 KK von 1997, der das VI. Kapitel (Grundsätze der Zumessung von Strafen und Strafmaßnahmen) des KK von 1997 eröffnet, bestimmt die wichtigsten Grundsätze (Direktiven) der Strafzumessung, wobei zu beachten ist, dass der Gesetzgeber sich nicht dafür entschieden hat, alle Grundsätze (Direktiven) in einer Vorschrift zu regeln, sondern sie auf verschiedene Stellen des Allgemeinen und des Besonderen Teils des KK von 1997 zu verteilen.126 Die wichtigste Rolle spielt jedoch Art. 53 KK von 1997. Er sei hier daher vollständig zitiert: „§ 1. Das Gericht bemißt die Strafe nach eigenem Ermessen innerhalb des gesetzlich bestimmten Rahmens; hierbei achtet es darauf, daß die Übelszufügung durch die Strafe das Ausmaß der Schuld nicht übersteigt, es berücksichtigt den Grad der Sozialschädlichkeit der Tat und zieht sowohl die im Hinblick auf den Verurteilten zu erzielenden präventiven und erzieherischen Auswirkungen der Strafe in Betracht als auch die Belange der Gestaltung des Rechtsbewußtseins der Gesellschaft. § 2. Bei der Strafzumessung berücksichtigt das Gericht insbesondere: die Beweggründe und die Art des Verhaltens des Täters, ob die Straftat gemeinsam mit einem Jugendlichen begangen wurde, die Art und den Grad der Verletzung der dem Täter obliegenden Pflichten, die Art und den Umfang der negativen Folgen der Straftat, die Eigenschaften und die persönliche Lage des Täters, seinen Lebenswandel vor der Tatbegehung sowie sein Verhalten danach, vor allem sein Bemühen um Schadenswiedergutmachung oder um eine Form der Genugtuung zur Wiederherstellung des sozialen Gerechtigkeitsgefühls, sowie das Verhalten des durch die Straftat Verletzten. 123 Cies ´lak/Weigend, in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht, S. 762. 124 Ebenda. 125 Ebenda, S. 762. Siehe dazu: Bafia/Mioduski/Siewierski, Art. 50 RN 8; Cie´slak, NP 2/1969, S. 199 ff.; Kaczmarek, Ogólne dyrektywy wymiaru kary w teorii i praktyce sa˛dowej, S. 21–22. 126 Wojciechowska, in: Rejman (Redaktion), vor Art. 53 RN 17.

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§ 3. Bei der Strafzumessung zieht das Gericht darüber hinaus auch die positiven Ergebnisse einer zwischen dem Täter und dem Verletzten durchgeführten Mediation oder einen zwischen den Parteien im gerichtlichen oder staatsanwaltlichen Verfahren erzielten Vergleich in Betracht.“127

Zunächst ist zu betonen, dass in der polnischen Lehre keine Einigkeit über die Auslegung der Vorschrift des Art. 53 KK von 1997 besteht, wie dies schon unter der Geltung des KK von 1932 und des KK von 1969 der Fall war. Dem Gesetzgeber ist es somit nicht gelungen, ein Strafzumessungskonzept zu formulieren, das die Zwecke der Strafzumessung und das Verhältnis zwischen ihnen klar regeln würde. In dem darauf bezogenen Meinungsstreit spielen zwei Begriffe eine fundamentale Rolle: Direktive und Grundssatz.128 Buchała, einer der wichtigsten Autoren des KK von 1997, geht von der terminologischen Annahme aus, dass diejenigen Grundsätze den Rahmen für die konkrete Strafzumessung bilden, die dem Strafkodex und der Verfassung zu entnehmen sind.129 Die Direktiven (allgemeine Hinweise) hingegen befassen sich mit dem Zweck des Strafens. Gemäß dieser Terminologie erfasst Art. 53 § 1 KK von 1997 folgende Elemente: a) den Grundsatz des eigenen Ermessens des Gerichts im gesetzlich bestimmten Rahmen, b) das Schuldprinzip, c) den Grundsatz der Sozialschädlichkeit der Tat,130 d) die Direktive der Spezialprävention und e) die Direktive der positiven Generalprävention.131 Wie Janiszewski zutreffend bemerkt hat, wurzelt diese Aufteilung insbesondere in dem anfänglich unternommenen Versuch, den Strafzweck der Vergeltung zu übergehen.132 Die Spezial- und die Generalprävention erlangten in diesem Konzept den Vorrang. Sie sind die einzigen Strafzwecke, die 127

Übersetzung nach Weigend, Das polnische Strafgesetzbuch. Eingehend dazu: Konarska-Wrzosek, Dyrektywy wyboru w polskim ustawodawstwie, S. 48 ff. 129 Buchała/Zoll, Art. 53 RN 55. 130 Der Begriff der „Sozialschädlichkeit der Tat“ wurde eingeführt, um die Identifikation mit dem ideologisch gefärbten Begriff der „Sozialgefährlichkeit der Tat“ auszuschließen. Buchała/Zoll, Art. 53 RN 21. 131 Ähnlich Wróbel, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze ˛ s´c´ ogólna, vor Art. 53 RN 8 und 16. Wróbel betrachtet die Sozialschädlichkeit der Tat im Unterschied zu Buchała nicht als Grundsatz. Er erweitert auch den Katalog der allgemeinen Direktiven um das Postulat der Schadenswiedergutmachung. 132 Janiszewski, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet. Band 5/6: Das neue polnische Strafgesetzbuch (Kodeks karny), S. 190. 128

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den Richter bei der Strafzumessung leiten sollten, wobei die Spezialprävention primär berücksichtigt werden soll.133 Gemäß diesem Konzept wird das Ausmaß der Schuld die obere Grenze der Strafe bestimmen, dagegen die Erfordernisse der Gestaltung des Sozialbewusstseins (positive Generalprävention) die untere.134 Dabei ist zu beachten, dass Buchała ursprünglich auf den Grundsatz der Sozialgefährlichkeit der Tat überhaupt verzichten wollte.135 Das Prinzip war nach seiner Auffassung unbrauchbar, weil es in der Zeit der Volksrepublik Polen der Strafe eine rein ideologisch politische Dimension verliehen hatte.136 Diese Annahmen stießen allerdings auf Bedenken, die sich gegen das Maß der Schuld als einziges Kriterium der Begrenzung der Strafe richteten. Die Gegner dieser Konzeption behaupteten, dass das Maß der Schuld die Elemente der Sozialschädlichkeit der Tat beeinflusse und sie deshalb auch berücksichtigt werden müsse.137 Das führte zur Änderung des Entwurfs durch die parlamentarische Kommission, die den Grundsatz der Sozialschädlichkeit der Tat in Art. 53 § 1 KK von 1997 neben dem Grundsatz der Schuld einführte.138 Der andere Teil der Lehre139 unterscheidet innerhalb von Art. 53 KK von 1997 gleichfalls zwischen Grundsätzen und Direktiven, wobei sich dies allerdings nicht einheitlich darstellt. Gemeinsam ist dieser Auffassung, dass in ihr wesentlich öfter als in der Ansicht von Buchała der Begriff „dyrektywa“ (Direktive) verwendet wird. Demzufolge wird der Begriff „Grundsatz“ bzw. „Prinzip“ nur bei einem Element verwendet. Grob skizziert kann man folgendes Schema zugrunde legen: § 1 enthält alle in Art. 53 KK von 1997 vorliegenden Grundsätze und die allgemeinen Direktiven. Namentlich sind zu berücksichtigen: a) der Grundsatz des eigenen Ermessens des Gerichts, b) die Direktive des Ausmaßes der Schuld, c) die Direktive des Grades der Sozialschädlichkeit, d) die Direktive der Generalprävention und e) die Direktive der Individualprävention. 133

Buchała/Zoll, Art. 53 RN 78. Uzasadnienie do projektu kodeksu karnego, PiP 3/1994, S. 37. 135 Buchała, in: Waltos ´ (Hrsg.), Ksie˛ga ku czci Profesora Mariana Cies´laka, S. 146. 136 Ebenda; ders., in: Bojarski/Skre ˛ towicz (Redaktion), Problemy reformy prawa karnego, S. 44. 137 Marek, Prawo karne (2005), RN 487. 138 Ebenda, S. 332. 139 Górniok /Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski /Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 53 RN 10–29; Marek, Prawo karne (2005), RN 489 ff. 134

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Art. 53 §§ 2 und 3 KK von 1997 nennt dagegen die speziellen Direktiven, die als Entwicklung und Konkretisierung der in § 1 erwähnten allgemeinen Direktiven gelten. Die Rolle der allgemeinen Direktiven wird durch die Autoren unterschiedlich bestimmt. Nach Marek sollte die Strafe der Schuld und der Sozialschädlichkeit der Tat entsprechen.140 Er betont neben der limitierenden Funktion der Schuld ihre konstitutive Funktion, die ein „Unterschreiten“ der Schuldstrafe ebenfalls verbietet.141 Die Schuld und die Sozialschädlichkeit der Tat stellen in diesem Konzept die Grenzen dar, in denen die spezial- und generalpräventiven Ziele berücksichtigt werden können, wobei Marek dem präventiven und dem erzieherischen Zweck der Strafe den Vorrang einräumt.142 Der generalpräventive Zweck spielt in diesem Konzept nur „eine ergänzende Rolle“.143 Nach Gardocki spielt dagegen die Schuld nur eine limitierende Rolle.144 Dagegen limitiert der Grad der Sozialschädlichkeit der Tat die Strafe auch von unten.145 Eine ähnliche Auffassung vertreten Sienkiewicz146, Hofman´ski und Paprzycki.147 Aus alledem ergibt sich, dass das mit der Strafe verbundene Übel das Ausmaß der Schuld nicht übersteigen darf.148 Demzufolge können die Sozialschädlichkeit der Tat und die präventiven Ziele nie eine Strafe begründen, die über das Ausmaß der Schuld hinausgehen würde.149 Strittig ist jedoch, ob das Gericht eine Strafe verhängen darf, die unter dem Ausmaß der Schuld liegt, wenn sie erzieherische und präventive Funktionen erfüllen kann. In diesem Streit ist Buchała, Wróbel, Gardocki, Hofman´ski, Paprzycki und Sienkiewicz zuzustimmen. Die wörtliche Auslegung des Art. 53 § 1 KK von 1997 lässt keinen Zweifel daran, dass der Gesetzgeber der Schuld 140

Marek, Prawo karne (2005), RN 489; ders., Art. 53 RN 5–9. Marek, Prawo karne (2005), RN 489; ders., Art. 53 RN 6. Kritisch dazu: Skowron´ski, Palestra 7–8/2003, S. 82. 142 Marek, Prawo karne (2005), RN 493. Ähnlich Góral, Art. 53 RN 11. 143 Marek, Prawo karne (2005), RN 493. 144 Gardocki, Prawo karne (2004), RN 322; Ähnlich Wróbel, in: Zoll (Redaktion), Komentarz, Cze˛s´c´ ogólna, Art. 53 RN 22. 145 Gardocki, Prawo karne (2004), RN 323. 146 Górniok / Hoc / Kalitowski / Przyjemski / Sienkiewicz / Szumski /Tyszkiewicz / Wa˛sek, Art. 53 RN 10–17. 147 Hofman ´ ski/Paprzycki, in: Górniok (Redaktion), Art. 54 RN 5. 148 Kritisch dazu Kochanowski, in: Probacyjne s ´rodki polityki karnej – stan i perspektywy, S. 106. 149 Gegen eine solche Auffassung Konarska-Wrzosek, Dyrektywy wyboru kary w polskim ustawodawstwie karnym, S. 82. 141

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eine limitierende Funktion zuweisen wollte. Hätte er eine Proportionalität zwischen Schuld und Strafe erreichen wollen, hätte er mit Sicherheit einen ganz anderen Ausdruck verwendet. Die polnische Sprache ist reich genug, um solche Einzelheiten präzise zum Ausdruck zu bringen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die These vertreten, dass die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in den polnischen Kodizes in einem engen Zusammenhang mit der Ausgestaltung der entsprechenden Strafzumessungsnormen stand. Es ist kein Zufall, dass der KK von 1932 einen so weiten Anwendungsbereich für die Strafaussetzung vorsah und die Strafzumessungsformel des KK von 1932 (Art. 54) zugleich spezialpräventiv ausgerichtet war. Dass die Strafzumessungsnormen des KK von 1932 (Art. 54) und des KK von 1969 (Art. 50) den Begriff der Schuld nicht erwähnten, was das Überschreiten der Schuldstrafe aus präventiven Gründen zuließ, kann nicht als zufälliges Zusammentreffen betrachtet werden. Zu dieser Entwicklungslinie passt auch sehr gut das Strafkonzept, das Art. 53 § 1 KK von 1997 einführte, in dem der Schuld nur eine limitierende Rolle zugewiesen wurde, was bedeutet, dass das Gericht von der angemessenen Schuldstrafe absehen darf, wenn dies aus präventiven Gründen angebracht ist. Damit hat der Gesetzgeber der primär vergeltenden Vereinigungstheorie eine Absage erteilt, die zwar ebenfalls die Strafe durch das Schuldmaß begrenzt, eine ihm entsprechende Strafe aber auch unabhängig von allen präventiven Notwendigkeiten, d.h. in jedem Fall, fordert. Fasst man diese Befunde zusammen, so ist im deutschen Strafrechtssystem ein deutlicher Vorrang der (vergeltenden) Vereinigungstheorie im Unterschied zur polnischen Rechtsordnung festzustellen. Ist mithin die These zutreffend, dass das Konzept der vergeltenden Strafe die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe hemmt, so lässt sich die abweichende Ausgestaltung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch einerseits und in den polnischen Strafrechtskodizes andererseits gerade auch auf die Hervorhebung jeweils unterschiedlicher Strafzwecke zurückführen. Aber das herrschende Strafkonzept hemmt (oder beschleunigt) nicht nur die Einführung bestimmter Strafen in das Strafrechtssystem. Es kann sich, was bisher noch nicht ausreichend betont wurde, auch auf die Ausgestaltung einer Strafe in dem betreffenden Rechtssystem auswirken. Als Beispiel kann die Geldstrafe im deutschen Rechtssystem dienen, und zwar im Hinblick auf das Problem der Bemessung der Geldstrafe gegenüber den Einkommensschwachen. Um sich diesem Aspekt anzunähern, ist es notwendig, noch einmal zu dem Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1931 zurückzukehren. Die Frage, die der Strafsenat damals zu beantworten hatte, lautete:

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„Darf davon abgesehen werden, nach § 27b StGB an Stelle einer verwirkten Freiheitsstrafe auf eine Geldstrafe zu erkennen, weil diese in einer für den Verurteilten wirtschaftlich nicht tragbaren Höhe festgesetzt werden müßte?“150

Die erkennenden Richter haben diese Frage mit folgender Begründung eindeutig verneint: „Da die Strafe für den Verurteilten stets ein Übel bedeuten soll, kann die Rücksicht auf seine Person allerdings dazu führen, von einer Geldstrafe abzusehen, wenn eine solche von ihm nicht als Übel empfunden werden würde. Aber je schwerer ein Verurteilter nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen eine Geldstrafe zu tragen vermag, desto mehr wird sie in der Regel von ihm als Übel empfunden.“151

Aus diesen Sätzen geht eindeutig hervor, dass aus der Perspektive der erkennenden Richter „die Strafe für den Verurteilten stets ein Übel bedeuten“ sollte, d.h. der primäre Zweck der Strafe lag in der Vergeltung. Daraus folgerten die Richter, dass auf die Geldstrafe nur dann verzichtet werden durfte, wenn sie „von ihm nicht als Übel empfunden werden würde“. Der Zusammenhang zwischen dem Zweck der Strafe und der Prämisse der wirtschaftlichen Verhältnisse ist somit klar. Man kann sagen, dass die Richter diese Prämisse in den Kontext der Strafzwecke (es mag dahinstehen, ob mit Recht) gestellt haben und mit seiner Hilfe das Problem der Geldstrafe bei Einkommensschwachen lösten. Von daher ist zu vermuten, dass der Senat die gestellte Frage ganz anders beantwortet hätte, wenn die Richter die Resozialisierung des Täters in den Vordergrund gestellt hätten. Man kann annehmen, dass ihre Denkweise bei der Beantwortung der hier problematischen Frage dann mehr „pragmatisch“ gewesen wäre, d.h. sie hätten sich mehr auf das Problem konzentriert, ob der Verurteilte die Geldstrafe zahlt oder nicht; und sie hätten sich weniger darum gekümmert, ob der Verurteilte die Strafe spürt. Neben der Geldstrafe wird auch die Ausgestaltung der bedingten Freiheitsstrafe in beiden Rechtssystemen durch das jeweils herrschende Strafkonzept beeinflusst. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen hinsichtlich der bedingten Freiheitsstrafe gerade auf die unterschiedliche Strafzwecksetzung zurückzuführen ist. Dass die polnischen Gerichte schon im Jahre 1932 die 2jährige Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen konnten, dass die Gerichte damals die generalpräventiven Prämissen bei der Gewährung der Strafaussetzung außer Acht lassen konnten, dass die Richter die Höhe der Freiheitsstrafe von der Entscheidung über die Strafaussetzung abhängig machen konnten, und schließlich, dass die Tilgung der Verurteilung zu Freiheits150 151

RGSt. 65, S. 229. RGSt. 65, S. 230.

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strafe ohne besondere Überprüfung (automatisch) erfolgte, erklärt sich aus dem engen Zusammenhang mit der spezialpräventiv ausgerichteten Strafzumessungsnorm des Art. 54 KK von 1932. Demgegenüber beeinflusste die Zurückhaltung des deutschen Gesetzgebers gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe, die ihre Wurzeln gerade in einem vergeltenden Konzept der Strafe hatte, erheblich die Ausgestaltung der bedingten Freiheitsstrafe. Diesen Eindruck hatte Lackner schon im Jahre 1953, wobei er zu Recht die Bedeutung der Generalprävention neben der Vergeltung betonte: „Es war vielleicht kein Zufall, daß man in Deutschland einer Ausgestaltung der bedingten Strafaussetzung zu einem echten Rechtsinstitut erhebliche Bedenken entgegensetzte. Dies beruht möglicherweise darauf, daß die deutsche Strafrechtstheorie die Strafzwecke der Generalprävention und der Vergeltung zu sehr in den Vordergrund gerückt hat. Unter diesem Gesichtspunkt war es verständlich, daß der Gedanke einer bedingten Begnadigung, nicht aber der einer bedingten Verurteilung in der deutschen Strafpraxis Fuß fassen konnte.“152

Man kann hinzufügen, dass das vergeltende Konzept der Strafe auch dafür verantwortlich war, dass die Höhe der aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen im Vergleich zu der polnischen Rechtsordnung erheblich niedriger war, dass der Katalog der Maßnahmen neben der Strafaussetzung im deutschen Begnadigungsrecht im Vergleich zum KK von 1932 wesentlich breiter war, damit der Verurteilte das Übel der Strafe spüren konnte, und schließlich, dass die Tilgung der Freiheitsstrafe nicht automatisch erfolgte, sondern es vielmehr einer besonderen Entscheidung eines zuständigen Organs (des Gerichts) bedurfte und bedarf, damit keiner der Verurteilten aus dem Verfahren straffrei herauskommen konnte, falls er das in ihn gelegte Vertrauen missbrauchte. Das alles sind die Beispiele, die zeigen, dass zwischen dem jeweils herrschenden Strafkonzept und der Entwicklung der Strafen ein enger Zusammenhang besteht. Selbstverständlich lässt sich diese These nicht vollkommen beweisen, wie dies ja auch sonst auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften gewöhnlich der Fall ist. Andererseits wäre es jedoch sicherlich übertrieben, die Entwicklung des Strafkonzeptes und die Entwicklung der Strafen in beiden Rechtsordnungen als eine zufällige Analogie ohne inneren Zusammenhang zu betrachten.

152

Lackner, JZ 1953, S. 429.

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Auffassung 4 Die Aussetzung der Freiheitsstrafen zur Bewährung führt zur Straflosigkeit der Verurteilten und stellt daher für andere einen Anreiz zur Begehung weiterer Straftaten dar. Diese (in ihrem Kern generalpräventive) Kritik der Strafaussetzung hat sich sehr stark auf die Entwicklung des deutschen StGB ausgewirkt. Dass die Strafaussetzung zunächst außerhalb des StGB (und dazu in defizitärer Form) entwickelt und in das StGB erst im Jahre 1953 eingeführt wurde, ist auf die Kraft dieser Auffassung zurückzuführen. Fischer, der die generalpräventiven Bedenken gegen die bedingte Verurteilung sehr heftig bekämpfte, fasst die Argumentation seiner Gegner wie folgt zusammen: Bei der Gewährung der bedingten Verurteilung „leide das Ansehen des Strafgesetzes, dessen Strafdrohung nicht ausgeführt wird, wenn man in dem bedingten Urteil lediglich eine neue Drohung ausspreche. In Wirklichkeit bedeute diese Maßregel die Ausübung eines Gnadenrechts durch den Richter, was an sich unzulässig und um so bedenklicher sei, als sie naturgemäß meist bei den unteren Gerichten stattfände. Vom Volke werde diese Einrichtung entweder gar nicht verstanden, oder missverstanden werden, nämlich dahin: daß für das erste Delikt nicht gestraft werde. Aus diesem Mißverständnis könne geradezu ein Anreiz hervorgehen, es mit der Befolgung der Gesetze nicht allzu genau zu nehmen.“153

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese Auffassung neben der Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe und dem Konzept der Vergeltungsstrafe erheblich dazu beitrug, dass die Geldstrafe die führende Strafe des deutschen StGB wurde. Ohne Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe und der präventiv ausgerichteten Strafe sowie der Strafaussetzung wäre § 27b StGB a. F. wahrscheinlich nicht in das deutsche StGB eingeführt worden. Symptomatisch dafür ist ein Zitat von Erwig aus dem Jahre 1927: „Leider zwingt die Erfahrung in der Praxis zu der Erkenntnis, daß die Strafaussetzung geradezu ein Anreiz zur Begehung von Verbrechen geworden ist. Glaubt doch heute schon ein jeder, der das erste Mal gegen das Strafgesetzbuch verstößt oder besser, der zum ersten Mal dabei ertappt wird, ‚Bewährung‘ für sich in Anspruch nehmen zu dürfen! Die Folge ist, daß er mutig darauf los delinquiert in dem Bewußtsein, doch nur unter Zubilligung einer Bewährungsfrist verurteilt zu werden. Dieser Glaube ist schon fast Allgemeingut unseres Volkes geworden. Wird der Täter unter Gewährung einer Bewährungsfrist verurteilt, so geschieht es oft, daß er nach seinen Vorstrafen befragt, solche in Abrede stellt. Belehrt antwortet er, er sei nicht bestraft worden, habe vielmehr eine Bewährungsfrist erhalten. So wird die bedingt ausgesetzte Strafe häufig nicht als Strafübel empfunden. Der § 27b bietet, richtig angewendet, einen solchen Verbrecheranreiz nicht.“154 153

Fischer, Die bedingte Strafaussetzung, S. 14. Erwig, Die strafrechtliche und strafprozessuale Bedeutung des § 27b des Reichsstrafgesetzbuches, S. 11–12. 154

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Daher kann es nicht verwundern, dass das Begnadigungsrecht der Einzelstaaten in der Weimarer Republik eine generalpräventive Prämisse als Voraussetzung der bedingten (Begnadigung) Verurteilung vorsah.155 Die Sorge um das „Ansehen des Gesetzes“ kam dann wenig später ausdrücklich auch in den nationalsozialistischen Gesetzen zur Geltung: § 21 GnadenO von 1935 „(1) Bei der Aussetzung der ihr erteilten Ermächtigung hat die Gnadenbehörde stets davon auszugehen, daß die Bewilligung der Strafaussetzung nur ausnahmsweise erfolgen soll. Die Achtung vor den Gesetzen und der staatlichen Straffestsetzung gebietet, daß die im Gesetz angedrohte Strafe gegen den Gesetzesbrecher regelmäßig voll zur Verwirklichung kommt.“156

Die Spuren der generalpräventiven Bedenken gegen die Strafaussetzung sind auch noch in den Vorschriften über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung zu erkennen, die nach Erlass des 3. StrRG von 1953 in das StGB eingeführt wurden. Dementsprechend durfte die Aussetzung zur Bewährung nicht angeordnet werden, „wenn das öffentliche Interesse die Vollstreckung der Strafe erfordert“ (§ 23 Abs. 3 Punkt 1 StGB a. F.). Das 1. StrRG von 1969 setzte anstelle des sachlichen Ausschließungsgrundes „öffentliches Interesse“ den enger aufzufassenden Begriff „Verteidigung der Rechtsordnung“ und stellte die spezialpräventiven Erwägungen nur im Bereich von Freiheitsstrafen unter sechs Monaten in den Vordergrund. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die generalpräventiven Aspekte bei den Freiheitsstrafen unter sechs Monaten seit dem In-Kraft-Treten des 1. StrRG völlig außer Acht blieben. Denn die generalpräventiven Bedürfnisse sind bei Freiheitsstrafen unter sechs Monaten schon dadurch befriedigt worden, dass aus Gründen der Verteidigung der Rechtsordnung nach § 47 StGB eine kurze Freiheitsstrafe überhaupt verhängt wurde.157 Daher ergibt sich, dass die generalpräventiven Bedenken einen sichtbaren Ausdruck gerade auch in den Gesetzen fanden. Demgegenüber hatte die polnische Lehre grundsätzlich keine generalpräventiven Bedenken gegenüber der Einführung der Strafaussetzung in das Strafrechtssystem. Wie Skupin´ski zutreffend gezeigt hat, wurde das Rechtsinstitut der Strafaussetzung im polnischen Schrifttum schon vor Wiedergewinnung der Unabhängigkeit, also vor 1918, sehr positiv beurteilt.158 Auch der Hauptvertreter der klassischen Schule in der polnischen Lehre, Krzy155 Siehe dazu: Erster Abschnitt des Zweiten Kapitels Punkt II.2. der vorliegenden Arbeit. 156 Hervorhebung vom Verfasser. 157 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, RN 149. 158 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 61.

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3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

muski, würdigte das neue Rechtsinstitut positiv,159 so dass die Einführung der Strafaussetzung in den KK von 1932 unumstritten war.160 Man diskutierte im Rahmen der Kodifikationskommission nur über das Modell, das die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung im neuen KK annehmen sollte.161 Daher kann es nicht als Zufall betrachtet werden, dass der KK von 1932 bei der Gewährung der Strafaussetzung keine generalpräventive Prämisse vorsah (Art. 61 KK von 1932). Das Rechtsinstitut war spezialpräventiv ausgestaltet und als solches wurde es auch überwiegend in der Lehre vor dem 2. Weltkrieg162 angesehen. Den Umbruch brachte erst die Rechtsprechung in der Nachkriegszeit (insbesondere der Beschluss des Obersten Gerichts vom 27. Februar 1948163), in dem der Generalprävention neben der Spezialprävention bei der Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung Raum gegeben wurde. Der generalpräventive Anknüpfungspunkt – das Gesetz sprach von den „sozialen Auswirkungen der Strafe“ – fand auch im KK von 1969 ausdrücklich Erwähnung (Art. 73 § 2 KK von 1969). Nach dem Wortlaut des Art. 69 § 1 KK von 1997 können generalpräventive Erwägungen der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung allerdings (anders als noch im KK von 1969) nicht mehr entgegenstehen. Aus alledem ergibt sich, dass die generalpräventiven Bedenken die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland – im Unterschied zu der Entwicklung in Polen – sehr stark beeinflusst haben. Selbstverständlich hatte dieser Einfluss dabei eine hemmende Wirkung.

159

Ebenda, S. 56. Ebenda S. 71. Zum Kodifikationsprozess siehe Lityn´ski, Wydział karny Komisji Kodyfikacyjnej II Rzeczypospolitej. 161 Skupin ´ ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 71. Die Kritik aus generalpräventiver Perspektive nahm erst nach dem In-KraftTreten des KK von 1932 zu, als die Richter die Freiheitsstrafen massenhaft zur Bewährung ausgesetzt haben, ohne zugleich Schutzaufsicht anzuordnen, so dass die Verurteilten aus dem Verfahren aus der Sicht der Kritiker „straffrei“ herauskamen, was angeblich eine Zunahme der Kriminalität zur Folge hatte. Siehe dazu: Skupin´ski, Warunkowe skazanie w prawie polskim na tle porównawczym, S. 81 ff., m. w. N. 162 Makowski, Art. 61 RN 1; Wolter, Zarys systemu prawa karnego, S. 121, 124; Glaser/Mogilnicki, S. 257–258; Makarewicz, S. 227 ff. 163 ZO 30/1948. 160

3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

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Auffassung 5 Die Geldstrafe erlaubt den Reichen, sich von der Strafe „freizukaufen“, während die Armen wegen ihrer Mittellosigkeit die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen. Diese Auffassung könnte der wohl wichtigste Grund für die geringe Verwendung der selbstständigen Geldstrafe in den polnischen Kodizes von 1932 und von 1969 sein. Ob es ein Zufall war, dass der KK von 1932 lediglich 28 Geldstrafeandrohungen vorsah164, und Makarewicz die Geldstrafe als Privileg der Reichen bezeichnete,165 lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen. Es spricht jedoch viel dafür, dass die Skepsis der Schöpfer des KK von 1932 gegenüber der Geldstrafe ihre Ursache in dem angeblich antiegalitären Charakter der Geldstrafe hatte. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Makarewicz glaubte, diesen Nachteil der Geldstrafe durch die Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Verurteilten beheben zu können.166 Der angebliche Klassencharakter der Geldstrafe wurde in der Volksrepublik Polen sehr oft hervorgehoben.167 In allen sozialistischen Staaten beurteilte man die Geldstrafe generell sehr kritisch.168 Nach einer weit verbreiteten Auffassung gab sie den Reichen, insbesondere in den kapitalistischen Staaten, die Möglichkeit, sich leicht von der strafrechtlichen Verantwortung freizukaufen, dagegen mussten die Armen wegen ihrer Mittellosigkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen.169 Man glaubte dabei allerdings, dass dieser Nachteil der Geldstrafe in den sozialistischen Staaten durch eine Beseitigung der gravierenden Unterschiede in den Vermögensverhältnissen der Bürger eher behoben würde. Demzufolge wurden „gleich“ begüterte Bürger gegenüber der Geldstrafe als „gleich“ empfindlich angesehen. Die Analyse der statistischen Daten hat jedoch ergeben, dass die selbstständige Geld164 Art. 104 § 2, 124, 127, 128, 139, 145 § 1, 150 § 1, 159 § 1, 159 § 2, 161, 169, 178, 196, 215 § 2, 216 § 2, 217 § 2, 237 § 2, 239 § 1, 242 § 3, 252 § 1, 253 § 1, 253 § 2, 256 § 1, 262 § 3, 265, 270 § 1, 272 § 1, 280. 165 Makarewicz, S. 168. 166 Ebenda. 167 Andrejew/Lernell/Sawicki, Prawo karne Polski Ludowej, S. 282; Bafia, NP 5/1964, S. 450. 168 Marek, Prawo karne (2001), S. 267. 169 Eine solche Auffassung vertraten z. B. S ´ wida, Prawo karne (1967), S. 289; Andrejew, Polskie prawo karne w zarysie, S. 258; Andrejew/Lernell/Sawicki, Prawo karne Polski Ludowej, S. 287; Buchała, in: Buchała/Wolter (Hrsg.), Wykład prawa karnego na podstawie kodeksu karnego z 1969 r., S. 85; ders., Prawo karne materialne, S. 532; Lernell, Rozwaz˙ania o przeste˛pstwie i karze na tle zagadnien´ współczesnos´ci, S. 229; Zielin´ska, Kary nie zwia˛zane z pozbawieniem wolnos´ci w ustawodawstwie i praktyce sa˛dowej pan´stw socjalistycznych, S. 17.

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3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

strafe gleichwohl keine bedeutende Rolle in der Sanktionierungspraxis der sozialistischen Staaten spielte.170 Die Spuren der Auffassung, „die Armen müssen wegen Mittellosigkeit eine Freiheitsstrafe verbüßen“, sind auch noch im KK von 1997 vorhanden. Nach Art. 58 § 2 KK von 1997 muss das Gericht auf die Verhängung einer Geldstrafe verzichten, wenn die Einkünfte des Täters, seine Vermögensverhältnisse oder Verdienstmöglichkeiten für die Begleichung einer angemessenen Geldstrafe nicht ausreichen und die Zwangsvollstreckung voraussichtlich erfolglos bleiben wird. Deutlicher kann die „Sorge“ um die Einkommensschwachen nicht zum Ausdruck gebracht werden. Dass der Art. 58 § 2 KK von 1997 in den Strafkodex eingeführt wurde, kann nicht verwundern: Schon unter der Geltung des KK von 1932 und des KK von 1969 ließ die herrschende Meinung es zu, auf eine Geldstrafe zu verzichten, wenn zu erwarten war, dass die Geldstrafe nicht beigetrieben werden konnte. Demgegenüber wurde und wird eine solche Auffassung durch obergerichtliche Rechtsprechung und Lehre in Deutschland schon seit Langem bekämpft. Im Ersten Abschnitt des Ersten Kapitels der vorliegenden Untersuchung wurde gezeigt, dass das Reichsgericht schon im Jahre 1931 den Verzicht auf die Anwendung der Geldstrafe wegen der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten kritisierte. Und auch heute herrscht in Rechtsprechung und Lehre weitgehende Einigkeit darüber, dass die wirtschaftliche Situation des Täters bei der Auswahl der Sanktion keine Bedeutung haben dürfe.171 Die Anzahl der einschlägigen Urteile sowie die klaren Aufforderungen dazu in der Kommentarliteratur deuten jedoch darauf hin, dass die deutschen Praktiker immer wieder an die „richtigen“ Grundsätze erinnert werden müssen, d.h. dass die Auseinandersetzung mit der Auffassung, wonach die schlechte wirtschaftliche Situation zum Verzicht auf die Geldstrafe führen müsse, noch keinen Abschluss gefunden hat. Im Gegensatz zum polnischen Strafrechtssystem wurde die Auseinandersetzung aber zumindest aufgenommen. Demzufolge hat die polnische Kommentarliteratur dem Richter auch fast nichts zu bieten, wenn es um die Festsetzung der Höhe von Tagessätzen bei Einkommensschwachen geht. Nach welchen Richtlinien sich der Richter bei der Festsetzung der Tagessatzhöhe bei Hausfrauen, Studenten, Praktikanten, Lehrlingen, Schülern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Strafgefangenen, Soldaten leiten lassen soll, dazu schweigen die polnischen Kommentare. Dies ist primär dem Gedanken des Art. 58 § 2 KK von 1997 zuzuschreiben, der die genannten 170

So Zielin´ska, Kary nie zwia˛zane z pozbawieniem wolnos´ci w ustawodawstwie i praktyce sa˛dowej pan´stw socjalistycznych, S. 15. 171 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 891, m. w. N.; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, RN 76; LK-Gribbohm, § 47 RN 21.

3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

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Gruppen aus der Anwendung der Geldstrafe grundsätzlich ausschließt. Fraglos lässt sich voraussehen, dass ohne die Entwicklung der Strafzumessungsdogmatik auf dem Gebiet der Bemessung der Tagessatzhöhe bei einkommensschwachen Gruppen der Bevölkerung eine breitere Anwendung der selbstständigen Geldstrafe in Polen nicht vorstellbar ist. Dazu müsste zunächst der Gedanke des Art. 58 § 2 KK von 1997 aus dem Rechtsbewusstsein der Dogmatiker und der Praktiker verdrängt werden, der – wie gezeigt – die Entwicklung der Strafzumessungsdogmatik auf diesem Gebiet nachhaltig hemmt. Das Problem des Gedankens des Art. 58 § 2 KK von 1997 liegt darin begründet, dass dieser nicht nur einen Beitrag des Gesetzgebers zu der hier relevanten Fragestellung darstellt, sondern seit langem von Rechtsprechung und Lehre geteilt wird. Wie im Zweiten Abschnitt des Ersten Kapitels im Einzelnen dargelegt, funktionierte der Gedanke des Art. 58 § 2 KK von 1997 in der Praxis schon, bevor er überhaupt kodifiziert wurde. Die Abschaffung von Art. 58 § 2 von 1997 würde somit voraussichtlich, auch keine erhebliche Änderung im Bewusstsein der Praktiker bringen. Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland hat gezeigt, dass der „Kampf“ gegen eine solche „pragmatische“ Denkweise seit langem geführt wird und sich gleichwohl auch heute noch Richter finden, die wegen der Mittellosigkeit des Täters auf eine Geldstrafe verzichten.172 Der Unterschied zur polnischen Praxis ist jedoch sehr deutlich: Offiziell darf in einem deutschen Urteil nicht angegeben werden, dass wegen Mittellosigkeit auf die Verhängung einer Geldstrafe verzichtet wurde, wenn das Urteil revisionssicher sein soll. Dass das aufgezeigte Problem in Polen nicht nur rein theoretischer Natur ist, zeigt die Tabelle 8 (s. S. 332), in der die Tatverdächtigen nach ihrer Erwerbstätigkeit zusammengestellt werden. Die Daten beziehen sich auf alle Straftaten, also auch auf die, bei denen das Gesetz keine Geldstrafe vorsieht. Gleichwohl geben sie eine Vorstellung davon, welcher Anteil der Tatverdächtigen zu einer einkommensschwachen Gruppe gehört. Erwerbstätige, illegal Erwerbstätige, Unternehmer, Pensionäre, Rentner und Landwirte stellen nur 35,4% dar, d.h. der Rest der Verurteilten (64.6%) ist der Gefahr ausgesetzt, dass sie von dem Gericht der Gruppe der Personen zugerechnet werden, die die Geldstrafe nicht zahlen können, weil sie kein oder nur ein geringes Einkommen haben. Angesichts 172 Aus Gesprächen mit Richtern des Amtsgerichts und des Landgerichts Frankfurt (Oder) ging beispielsweise klar hervor, dass es solche Fälle in der Praxis gibt. Alle meine Gesprächspartner haben jedoch betont, dass sie selbst nie wegen der Mittellosigkeit des Täters auf eine Geldstrafe verzichtet haben. Siehe dazu auch Traulsen, BewHi 1993, S. 94.

332

3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede Tabelle 8 Die Anzahl der Tatverdächtigen in Polen im Jahre 2004

Zahl der Tatverdächtigen

Lehrlinge, Studenten

578.059

96.056

139.913

42.730

2.547

276.888

19.925

100%

16,6%

24,2%

7,4%

0,4%

47,9%

3,4%

Erwerbs- Pensionäre, Illegal Er- Arbeits- Selbst. tätige Rentner werbstätige lose und und selbst. unselbst. Unternehmer Landwirte

Quelle der Daten: Biuletyn Statystyczny 2004 (rozszerzony), Komenda Główna Policji, S. 89.

der relativ geringen Höhe der Leistungen für Pensionäre und Rentner sowie der finanziellen Situation der Mehrheit der Landwirte im heutigen Polen kann darüber hinaus angenommen werden, dass auch ihnen gegenüber durchaus häufig Art. 58 § 2 KK von 1997 zur Anwendung kommen wird. Auch eine Untersuchung, die im Rahmen des Projekts „Die Probation im System des Vollstreckungsrechts“ an der Universität Wrocław durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass die einkommensschwachen Gruppen einen bedeutenden Anteil der zur bedingten Freiheitsstrafe Verurteilten ausmachen. Unter 486 Personen, die im Jahre 1991 wegen einer Verletzung der Unterhaltspflicht (Art. 186 KK von 1969), der Verursachung eines Unfalls (Art. 145 KK von 1969) oder eines Diebstahls (Art. 203 KK von 1969) zu bedingter Freiheitsstrafe verurteilt wurden, waren 209 Arbeitslose (163 ohne Arbeitslosengeld), 23 Gelegenheitsarbeiter, 12 Schüler, 13 Pensionäre und Rentner.173 Insbesondere die Verurteilungen wegen Diebstahls waren überpräsentiert. Von 156 zu bedingter Freiheitsstrafe Verurteilten waren nur 26,2% erwerbstätig.174 In Deutschland machen ebenfalls Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Ausländer einen nicht unbedeutenden Anteil der deutschen Gesellschaft aus und stellen zugleich eine erhebliche Zahl der Verurteilten. Obwohl die Strafverfolgungsstatistik über die Zahl der arbeitslosen Verurteilten schweigt und die heutige Kriminologie in Deutschland wegen der methodischen Schwierigkeiten175 sowie der Abneigung gegenüber monokausalen Erklä173 Kordik, Warunkowe zawieszenie wykonania kary w systemie s ´rodków probacyjnych i jego efektywnos´c´, S. 148. Gegen diese Untersuchung kann allerdings der Einwand erhoben werden, dass die Fälle ausgelost waren. 174 Ebenda, S. 137. 175 Eisenberg, Kriminologie, S. 824.

3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

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rungsansätzen176 generelle Folgerungen eher vermeidet, die eine starke Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität bestätigen könnten,177 sind viele Untersuchungen zu der Schlussfolgerung gelangt, „dass Arbeitslose unter jugendlichen Tatverdächtigen und Verurteilten signifikant überrepräsentiert sind.“178 Das gilt auch für den Strafvollzug. Würden zusätzlich die Untersuchungen179 berücksichtigt, die den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der heute quantitativ bedeutendsten Straftat in Deutschland (Diebstahl) erforscht haben, so würde sich zeigen, dass die Entwicklung der Strafzumessungsdogmatik und der Rechtsprechung gegenüber einkommensschwachen Personen die Anwendung der Geldstrafe gerade auch gegenüber den quantitativ bedeutenden Verurteiltengruppen ermöglicht hat. Auch die Untersuchung von Fleischer hat gezeigt, dass diese sog. Problemgruppen einen nicht unbeträchtlichen Anteil an den Geldstrafenverurteilungen bilden.180 Die Auswertung von 2.707 Akten der zu Geldstrafe Verurteilen vom Jahrgang 1979 der Staatsanwaltschaft Gießen hat gezeigt, dass 41% der Verurteilten zu der Problemgruppe gehörten.181 Man schätzt, dass etwa ein Drittel der zu Geldstrafe Verurteilten nur über Einkommen im Sozialhilfebereich verfügt.182 Aus alledem ergibt sich, dass die Einkommensschwachen jedenfalls einen beachtlichen Teil der Verurteilten darstellen und ihr Ausschluss aus der Anwendung der Geldstrafe weitreichende Folgen hat. Die Auffassung „die Armen müssen wegen ihrer Mittellosigkeit eine Freiheitsstrafe verbüßen“ hemmt somit erheblich die Entwicklung der Geldstrafe in jedem Rechtssystem. Die vorangehend diskutierten fünf Auffassungen bilden den Katalog der Ideen, die die Entwicklung der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen und im polnischen Strafrechtssystem im Wesentlichen geprägt haben. Es ist erst vor ihrem Hintergrund verständlich, warum im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes unterschiedliche 176

Kaiser, Kriminologie (1993), S. 251. Ebenda, S. 355. 178 Schwind, Kriminologie, S. 240, m. w. N. 179 Blankenburg/Steffen, in: Blankenburg (Hrsg.), Empirische Rechtssoziologie, S. 248. 180 Die Ergebnisse dieser Untersuchung widersprechen einmal mehr der in Polen verbreiteten Meinung, dass die Geldstrafe hierzulande insbesondere wegen der Armut der Gesellschaft nicht im breiten Umfang angewendet werden könne. 181 Der Vorteil dieser Untersuchung liegt darin, dass sie alle Geldstrafenverurteilungen vom Jahre 1979 umfasst. Siehe Fleischer, Die Strafzumessung bei Geldstrafen, S. 86. 182 Hennig, ZRP 1990, S. 101; Bublies, BewHi 1992, S. 184; Villmow, FS für Kaiser, S. 1301; Heinz, ZStW 111 (1999), S. 485. 177

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3. Kap.: Versuch einer Erklärung der festgestellten Unterschiede

Strafarten als Alternative zur unbedingten Freiheitsstrafe gefördert wurden. Dabei ist zu beachten, dass eine Beurteilung der Wirksamkeit der genannten Auffassungen jeweils eine komplexe Betrachtungsweise erfordert, d.h. um die Entwicklung der Geldstrafe in Deutschland zu verstehen, muss man zumindest die in diesem Land vorherrschende Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe, das vergeltende Konzept der Strafe und die Stärke der generalpräventiven Ansichten zugleich berücksichtigen. Das Entsprechende gilt auf dem Gebiet des polnischen Rechts: Um die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe seit dem KK von 1932 zu verstehen, muss man die in Polen vorherrschende Skepsis gegenüber der (unbedingten) Freiheitsstrafe, das präventive Konzept der Strafe und die Abhängigmachung der Geldstrafe von der Zahlungsfähigkeit des Verurteilten zugleich vor Augen haben. Diese Faktoren sind zwar nicht stabil; sie unterlagen im Laufe der Zeit nicht selten Veränderungen. Ihre „Stärke“ kann man aber unter anderem daran „messen“, ob und wie sie in den Gesetzen ihren Ausdruck gefunden haben. Kaum weniger bedeutsam ist daher die Frage, wann eine bestimmte Auffassung ihre Wirkungskraft gewinnt bzw. wieder verliert. Als Beispiel können wiederum die beiden Auffassungen dienen, die sich auf das deutsche StGB sehr stark ausgewirkt haben: Die Skepsis gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe und die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe. Bevor die Vorschriften über die Strafaussetzung in das StGB eingeführt wurden, hatte der „Kampf“ gegen die kurzen Freiheitsstrafen schon längst begonnen, indem das 1. GeldstrG von 1921 die Vorschrift zur Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe einführte. Die Geldsstrafe erlangte damit einen Vorrang, der durch die langjährige anschließende Tradition gefestigt wurde. Als die Vorschriften über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung endlich in das StGB eingeführt wurden, trafen sie auf eine Strafzumessungspraxis, die bereits durch die Geldstrafe dominiert war. Damit war die Stellung der bedingten Freiheitsstrafe von vornherein wesentlich schwächer. Man kann davon ausgehen, dass die bedingte Freiheitsstrafe grundsätzlich eine ganz andere Position in Deutschland erlangt hätte, wenn sie im Jahre 1923 neben § 27b (R)StGB in das StGB eingeführt worden wäre. Dann hätten beide Strafen miteinander „konkurriert“ und der „Siegeszug“ der Geldstrafe wäre kaum so erfolgreich gewesen. Nicht weniger wichtig ist es, auf welche Weise eine Auffassung im Gesetz ihren Ausdruck findet, d.h. welche Maßnahmen und in welcher Reihenfolge sie angewendet werden. Als Beispiel kann wieder die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe in Deutschland dienen. Hätte der Gesetzgeber eine andere Reihenfolge der Reform gewählt (zunächst eine Erhöhung des Mindestmaßes der Freiheitsstrafe, dann die Einführung der Vorschrift des § 27b [R]StGB a. F.), so hätte die Gefahr bestanden, dass die

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Mehrzahl der kurzen Freiheitsstrafen durch längere Freiheitsstrafen ersetzt worden wäre, was sie aus dem Anwendungsbereich der Geldstrafe ausgeschlossen hätte. Damit wäre die Chance auf den Erfolg der Reform, die die Ersetzung der kurzen Freiheitsstrafen durch die Geldstrafe anstrebte, wesentlich geringer gewesen. Die Anwendungspraxis der Geldstrafe in Deutschland würde heute ganz anders aussehen. Während bisher die unterschiedlichen externen Aspekte der Auffassungen erörtert wurden, die die Entwicklung der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes geprägt haben, soll nun abschließend noch auf den internen Charakter der dargestellten Auffassungen näher eingegangen werden.

IV. Zwischen Mythos und Empirie Analysiert man den Charakter der im vorangehenden Abschnitt besprochenen fünf Auffassungen, so zeigt sich, dass sie mehr auf philosophischen, kriminalpolitischen, ideologischen und/oder quasiwissenschaftlichen Prämissen als auf festem empirischen Wissen aufgebaut waren und sind. Nimmt man zuerst die Auffassung, dass die kurze Freiheitsstrafe in spezialpräventiver Hinsicht mehr Schaden als Nutzen bringt, so erweist sich diese Auffassung letztlich nur als quasiwissenschaftlich. Denn, da es bisher an empirischen Belegen für diese oder jene Auswirkung der kurzzeitigen Freiheitsstrafe fehlt, und zwar mangels hinreichender Überprüfbarkeit unterschiedlicher „Rückfall“-Gefährdung des Betreffenden,183 kann die Skepsis gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe nur auf außerempirische Faktoren zurückgeführt werden. Es ist heute kaum noch bestreitbar, dass die Frage, ob ein einmal verurteilter Täter später weitere Straftaten begeht, von einem unentwirrbaren Komplex kaum messbarer Einflussfaktoren (z. B. von der charakterlichen Disposition des Betreffenden, von seiner persönlichen, familiären und beruflichen Situation nach Entlassung aus dem Strafvollzug etc.) abhängt, so dass unsere beschränkten Erkenntnismöglichkeiten in dieser Hinsicht bisher keine sicheren Befunde zulassen.184 Dass die Argumente gegen die kurzfristige Freiheitsstrafe damit notwendigerweise eher außerwissenschaftlicher Natur sind, bezeugen zudem die Tendenzen in anderen europäischen Ländern. Die kurze Freiheitsstrafe liegt in vielen Staaten vollkommen „im kriminalpolitischen Trend“, so dass man sogar von einer „Renaissance“ dieser Strafart sprechen kann.185 Würde die 183 184 185

Eisenberg, Kriminologie, S. 463–464; Weigend, JZ 1986, S. 265. Weigend, JZ 1986, S. 266. Kaiser, Kriminologie (1996), S. 1000.

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kurze Freiheitsstrafe in spezialpräventiver Hinsicht mehr Schaden als Nutzen bringen, so müsste man davon ausgehen, dass Österreich, die Schweiz, Dänemark, Norwegen und Schweden eine irrationale Strafpolitik verfolgen, die quer zu den kriminologischen Erkenntnissen steht. Dies ist jedoch eher nicht der Fall. Plausibler scheint die These, dass diese Staaten die positiven Seiten der kurzfristigen Freiheitsstrafe erkannt haben und dabei die mutmaßlich schädlichen (spezialpräventiven) Auswirkungen der kurzen Freiheitsstrafe mit einem Fragezeichen versehen. Außerdem ist zu beachten, dass die kurze Freiheitsstrafe in Deutschland und in Polen in der letzten Zeit immer mehr Beifall findet. In Polen fand diese Tendenz sogar im Gesetz ihren Ausdruck. In Deutschland behaupten Jescheck und Weigend, dass die kurzen Freiheitsstrafen in spezialpräventiver Hinsicht der längeren Freiheitsentziehung überlegen seien, und folglich könne man diese Form der Bestrafung als Mittel zur Absenkung des Sanktionsniveaus begreifen.186 Nach dieser Konzeption haben die kurzen Freiheitsstrafen die Funktion eines Ersatzmittels, das die längeren Freiheitsstrafen verdrängen soll. Daraus ziehen Jescheck und Weigend den Schluss, dass die kurzen Freiheitsstrafen keineswegs generell ausgeschlossen werden sollten.187 Ähnlichen Einwänden ist auch die Auffassung ausgesetzt, die die Freiheitsstrafe überhaupt kritisch betrachtet. Dass die Freiheitsstrafe in spezialpräventiver Hinsicht mehr Schaden als Nutzen bringt, ist weder bewiesen noch wohl jemals beweisbar. Außerdem ist festzustellen, dass eine solche Aussage zumindest den Bereich der empirisch gesicherten Wissenschaft überschreitet. Denn jede Wertung ist primär außerwissenschaftlicher Natur und dies kann auch nicht dadurch verschleiert werden, dass auf dem Gebiet der Wissenschaft, insbesondere der Kriminologie, sehr oft Wertungen vorgenommen werden. Daraus entsteht zwar mitunter der Eindruck, dass auf diese Weise abgeleitete Aussagen wissenschaftlichen Charakter tragen. Hinter jeder Abwägung etwa der Kategorien „Nutzen“ und „Schaden“ stecken jedoch notwendig subjektive (verdeckte) Präferenzen, die unmittelbar das Ergebnis der „Abwägung“ determinieren. Die wissenschaftliche Methode liefert nur das Instrumentarium zur Entdeckung der Realität188; sie kann aber keine Präferenzen zu Verfügung stellen. Außerwissenschaftlicher Natur ist auch die Frage, welchem Zweck die Strafe dienen soll. Eine empirisch vorgehende Rechtswissenschaft kann versuchen, eine bestimmte Methode auszuarbeiten, die der Erreichung be186

Jescheck/Weigend, Strafrechts AT, S. 760, m. w. N. Ebenda. 188 Einmal ganz abgesehen von den Auffassungen der postmodernen Theorien, die den Begriff der „Realität“ bestreiten und die Wissenschaft nur noch als Machtinstrument begreifen. 187

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stimmter Zwecke dienen könnte; sie kann jedoch keine Zwecke zur Verfügung stellen. Keine empirische Untersuchung kann zu der Schlussfolgerung führen, dass der primäre Zweck der Strafe in der Prävention oder der Vergeltung liegt. Thesen wie diese liegen im Bereich der Wertung. Folglich ist festzuhalten, dass sowohl die vergeltende Vereinigungstheorie als auch die präventive Vereinigungstheorie größtenteils auf außerempirischen Prämissen aufgebaut sind. Dabei ist zu beachten, dass es in beiden Strafrechtssystemen noch kaum gelungen ist, die entwickelten Theorien wissenschaftlich zu operationalisieren. Die vergeltende Vereinigungstheorie stützt sich auf Begriffe, die entweder zweifelhaft erscheinen (Willensfreiheit189) oder sich nicht definieren lassen (Schuld190 und Ausgleich). Die präventive Vereinigungstheorie stellt die präventiven Aspekte der Strafe in den Vordergrund, so als ob eine wissenschaftliche Basis für die Festsetzung einer präventiv orientierten Strafe vorläge. Welche Strafe notwendig ist, um den Täter zu bessern (resozialisieren), lässt sich aber bisher nicht sagen. Ähnliche Probleme treten im Bereich der Theorie über die positive Generalprävention auf. Denn das Quantum dessen, was zur „Normstabilisierung“ notwendig ist, lässt sich bisher nicht ermitteln. „Präventiv orientierte Strafen (. . .) lassen sich zwar prinzipiell kraft ihres sozialen Zwecks (nämlich der Verbrechensverhütung) leichter rechtfertigen, weisen jedoch in zweierlei Hinsicht Defizite bei der Verbindung von Zweck und Maß der Strafe 189 Die große Frage der Philosophie, ob die Menschen frei entscheiden und handeln können, gehört heute nach wie vor zu den offenen Fragen. Obwohl die Entwicklung der Psychologie, die das Problem der Willensfreiheit von der Philosophie übernommen hat, eigentlich optimistisch stimmen sollte, blieben die neuesten Befunde in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Der Optimismus wird weiter gedämpft, wenn man bedenkt, dass von den verschiedenen auf dem Gebiet der Psychologie vertretenen Theorien und Auffassungen (Ein Musterbeispiel stellt der Streit über die Bedeutung der Gene oder der Umwelt für das Verhalten des Individuums dar) nur selten eine Lehrmeinung eine allgemein akzeptierte Eignung zum Grundprinzip (Paradigma) hat. Die wissenschaftliche Debatte bezüglich der Willensfreiheit ist in vollem Gange und man kann nicht erwarten, dass bald eine überzeugende Antwort gefunden wird. Trotzdem geht die Theorie der vergeltenden Strafe davon aus, dass jedem Individuum Willensfreiheit zukommt, so als ob dieser Fragenkomplex schon abschließend geklärt wäre. Siehe dazu: Guss, Willensfreiheit oder: beruht das deutsche Strafrecht auf einer Illusion? 190 Insbesondere der Zentralbegriff der vergeltenden Vereinigungstheorie „Schuld“ stößt in jeder wissenschaftlichen Arbeit auf enorme Schwierigkeiten. Im Kontext seiner Praktikabilität wird dem Schuldbegriff in der deutschen Lehre sogar vorgeworfen, dass in ihn „alles gesteckt werden kann und wird, was irgendwie berücksichtigt werden soll“, was diesen „irrationalen Begriff“ nahezu jeder Interpretation unter dem Gesichtspunkt rechtspolitischer Zweckmäßigkeit ausliefert. Siehe dazu: Scheffler, Grundlegung eines kriminologisch orientierten Strafrechtssystems unter Berücksichtigung wissenschaftstheoretischer Voraussetzungen und des gesellschaftlichen Strafbedürfnisses, S. 79.

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auf: Zum einen läßt sich im Einzelfall normalerweise nicht dartun, dass eine bestimmte Strafe notwendig ist, um Prävention zu erzielen – und dieser Mangel besteht in gleicher Weise für die individualpräventive wie für die generalpräventive Spielart dieses Strafzweckes. Denn es ist zwar leicht plausibel zu machen, daß eine Gesellschaft, die ganz auf staatliche Sanktionen für üble Taten verzichten wollte, alsbald in Anarchie oder Gewaltherrschaft versinken würde; daß aber zur Prophylaxe gegenüber dem Rückfall eines bestimmten Diebes gerade eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten notwendig, aber auch effizient ist – das läßt sich weder retrospektiv noch gar prospektiv in irgendeinem Sinne ‚beweisen‘, und zwar aus dem einfachen Grund, daß staatliche Sanktionierung nur ein relativ unbedeutender Faktor aus einem großen, von außen gar nicht übersehbaren Bündel an möglichen Motiven für und gegen eine erneute Tatbegehung ist. Dieser Mangel an empirischer Überprüfbarkeit tritt noch deutlicher bei der Generalprävention zutage, und zwar sowohl bei ihrer abschreckenden als auch bei ihrer normstabilisierenden Variante: Eine Auswirkung des Maßes der Sanktionierung in einem Einzelfall auf die Rechtstreue der Allgemeinheit läßt sich – vielleicht von ganz extremen Ausnahmefällen abgesehen – schlicht nicht feststellen.“191

Im Kontext dieser Worte wird auch der Charakter der nächsten Auffassung klarer, die sich sehr stark auf die Entwicklung der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch ausgewirkt hat. Die Ansicht, dass die Aussetzung der Freiheitsstrafen zur Bewährung zur Straflosigkeit der Verurteilten führt und demzufolge einen Anreiz zur Begehung weiterer Straftaten für andere darstellt, kann vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen auch nur als quasiwissenschaftlich bezeichnet werden. Denn, da die Rechtswissenschaft heute nach wie vor nicht in der Lage ist, die Auswirkungen der Strafe auf die Allgemeinheit zu bestimmen, kann sie auch nicht beurteilen, ob eine verhängte Strafe (Geldstrafe oder bedingte Freiheitsstrafe) wirklich ein Hemmnis zur Begehung weiterer Straftaten darstellt. Ebenso wenig lässt sich die Ansicht, dass die Geldstrafe es den Reichen erlaubt, sich vom Strafverfahren freizukaufen, die Armen dagegen wegen ihrer Mittellosigkeit die Freiheitsstrafe verbüßen müssen, wissenschaftlich absichern. Wie oben gezeigt wurde, hat sich diese Ansicht erheblich auf die Entwicklung der polnischen Strafrechtskodizes ausgewirkt. Hinter dieser Auffassung verbirgt sich die Annahme, dass die Geldstrafe kein empfindliches Übel für den Reichen darstellt, so als ob nur der Freiheitsstrafe das Attribut der „echten“ Strafe zustünde. Weiterhin basiert diese Auffassung auf der unbegründeten Annahme, dass die zu Geldstrafe verurteilten Armen benachteiligt würden, weil sie eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssten. Der Fehler dieser Auffassung liegt darin, dass sie nicht zwischen gut und schlecht angepasster Geldstrafe differenziert. In der Tat muss ein armer Verurteilter eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, aber nur dann, wenn die 191

Weigend, in: Frisch/v. Hirsch/Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, S. 199.

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Geldstrafe seine Zahlungsfähigkeit übersteigt. Dies ist jedoch nicht notwendig der Fall, wenn die Geldstrafe seiner materiellen Lage angemessen Rechnung trägt und seine Zahlungsfähigkeit eben nicht von vornherein übersteigt. Die vorliegende Untersuchung hat bereits hervorgehoben, dass die hohe Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen in Polen in den 70er und den 80er Jahren grundsätzlich gerade durch die schlecht an die Leistungsfähigkeit des Angeklagten angepasste Geldstrafe und die Kumulation der Geldstrafe mit der Freiheitsstrafe hervorgerufen wurde. Die Spuren der hier betrachteten Auffassung sind – wie gesagt – noch in Art. 58 § 2 KK von 1997 zu erkennen, der dem Gericht ausdrücklich verbietet, eine Geldstrafe zu verhängen, wenn die Einkünfte des Täters, seine Vermögensverhältnisse oder Verdienstmöglichkeiten für die Begleichung einer Geldsstrafe nicht ausreichen und die Zwangsvollstreckung erfolglos bleiben wird. Mit Hilfe von Art. 58 § 2 KK von 1997 versuchte man, die Anordnung und die Vollstreckung von unerwünschten Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden. Zweifellos trägt Art. 58 § 2 KK von 1997 zur Beschränkung der Ersatzfreiheitsstrafen bei, aber er bringt nolens volens die Gefahr mit sich, dass die Richter allzu schnell auf die Geldstrafe (zu Gunsten der bedingten Freiheitsstrafe) verzichten werden, weil die Geldstrafe in vielen Fällen ohne weitgehende Ermittlungen der materiellen Lage des Täters nicht zu verhängen ist. Daher sollte das Gesetz, abgesehen von verfassungsrechtlichen Gründen, den Verzicht auf die Geldstrafe wegen der vermutlichen Mittellosigkeit des Täters keinesfalls zulassen. Die Lösung des Problems der unerwünschten Ersatzfreiheitsstrafen sollte in einer richtigen Anpassung der Geldstrafe an die Leistungsfähigkeit des Täters und in dem Ausbau der Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe, insbesondere im Bereich der gemeinnützigen Arbeit, gesucht werden und nicht im apriorischen Verzicht auf die Geldstrafe. Es scheint jedoch, dass die Richter mit der Unterstützung des Gesetzgebers lieber auf eine Geldstrafe verzichten wollen, als eine niedrige Geldstrafe zu verhängen, die nach ihren Maßstäben lediglich „symbolisch“ wäre. Eine solche Denkweise hemmt allerdings die Entwicklung der Geldstrafe im polnischen Rechtssystem ganz erheblich. Aus alledem ergibt sich, dass die genannten fünf Auffassungen letztlich nur wenig mit einer empirisch begründeten Sanktionsforschung zu tun haben, sondern vielmehr auf unbewiesenen Behauptungen beruhen, die sehr oft allenfalls quasiwissenschaftlich begründet werden. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung wird mehr als deutlich, vor welchen (möglicherweise unüberwindlichen) Schwierigkeiten die Strafrechtsvereinheitlichung auf regionaler und europäischer Ebene steht. Dabei zeigen die Ideen, die sich hinter den unterschiedlichen Regelungen in beiden Rechtssystemen verbergen, eine erstaunlich lange Lebenskraft. Änderungen auf der Gesetzesebene erfolgen sehr selten, und es ist beim heutigen Stand der Forschung oft kaum

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möglich zu sagen, weshalb dieselbe Auffassung in dem einen Strafrechtssystem Beifall gefunden hat, in dem anderen jedoch heftig bekämpft wird.192 Man kann die Frage beantworten, weshalb sich die bedingte Freiheitsstrafe in Deutschland nur mit so erheblichen Schwierigkeiten durchgesetzt hat (und zwar wegen des vergeltenden Konzeptes der Strafe), aber es gibt bisher keine plausible These, die die Frage beantworten würde, warum das Konzept der vergeltenden Strafe in Deutschland so lange so großen Beifall gefunden hat.193 Auch kann man die Frage meist nicht mehr beantworten, wie es möglich war, dass die eine Auffassung im Gesetz ihren Niederschlag gefunden hat, hingegen eine andere stark manifestierte Ansicht im Gesetzgebungsverfahren steckenblieb oder erst nach Jahrzehnten durch den Gesetzgeber berücksichtigt wurde.194 Man kann nicht ausschließen, dass hier auch der Zufall eine wesentliche Rolle gespielt hat. Um in dieser Hinsicht mehr Klarheit zu erlangen, wäre es erforderlich, das Gesetzgebungsverfahren beider Länder im vergangenen Jahrhundert im Einzelnen zu untersuchen. Die vorliegende Untersuchung musste sich mit der Herausarbeitung derjenigen Auffassungen begnügen, deren Formulierung zumindest etwas mehr Licht auf die unterschiedliche Entwicklung der Geldstrafe und der bedingten Freiheitsstrafe im deutschen Strafgesetzbuch und in den polnischen Strafrechtskodizes wirft.

192 Dies ist der Fall bei der Auffassung, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters einen Einfluss auf die Auswahl der Sanktionen haben sollten. 193 Dies alles nur auf den Einfluss von Kant und Hegel zurückzuführen, würde kaum plausibel erklären, warum sich deren Thesen so lange halten konnten. 194 Dies ist der Fall bei der bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland.

Ergebnisse der Untersuchung Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen sich in den acht nachfolgenden Thesen noch einmal zusammenfassen: These 1 Die gegenwärtige deutsche und polnische Strafpolitik unterscheiden sich in einer Reihe wesentlicher Punkte. Insbesondere fällt auf, dass die Geldstrafe die quantitativ bedeutendste Sanktion in Deutschland ist; demgegenüber stellen die polnischen Gerichte die bedingte Freiheitsstrafe in den Vordergrund. Die Unterschiede in der Anzahl dieser verhängten Strafen sind so beachtlich, dass man von zwei voneinander abweichenden Strafkulturen sprechen kann, und zwar von einer „pekuniären Strafkultur“ in Deutschland und einer „Bewährungsstrafkultur“ in Polen. These 2 Die Bevorzugung der unterschiedlichen ambulanten Strafen in der Praxis beider Länder lässt sich nicht allein damit erklären, dass die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands und Polens unterschiedlich verlaufen ist. Gegen diese (in ihrem Kern übrigens marxistische) Auffassung spricht insbesondere der Befund, dass die Förderung der Geldstrafe im deutschen Recht schon bald nach dem Ende des 1. Weltkriegs begann, also in einer wirtschaftlich extrem ungünstigen Zeit, zu der die deutsche Gesellschaft mit allen negativen wirtschaftlichen Folgen des 1. Weltkrieges konfrontiert war. These 3 Die Bevorzugung der unterschiedlichen ambulanten Strafen in der Praxis beider Länder ist vielmehr auf die abweichende historische Entwicklung der Rechtsgrundlagen für die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe zurückzuführen, die jeweils die unerwünschten (kurzen) unbedingten Freiheitsstrafen ersetzen sollten. Die unterschiedliche Entwicklung der Rechtsgrundlagen für die Geldstrafe und die bedingte Freiheitsstrafe in beiden Ländern wurzelte dabei vor allem in einer unterschiedlichen Bewertung dieser Strafen in Deutschland und Polen.

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Ergebnisse der Untersuchung

These 4 Das deutsche Strafensystem wurde bis zur 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine weitgehende Skepsis gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe beherrscht. Den Hintergrund für diese Skepsis bildete vor allem das vergeltende Konzept der Strafe und die Idee der Generalprävention. Diese Zurückhaltung gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe wirkte sich zu Gunsten der Geldstrafe aus. These 5 Im Unterschied dazu kannte das polnische Strafensystem Bedenken jener Art gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe wie in Deutschland nicht. Schon vor dem 2. Weltkrieg gewährte man der bedingten Freiheitsstrafe einen weitreichenden Anwendungsbereich, was sich zu Ungunsten des Instituts der Geldstrafe auswirkte, dem man vor allem vorwarf, dass es ein Privileg der Reichen darstelle, indem es den Reichen erlaube, sich von der Strafe „freizukaufen“, während die Armen wegen ihrer Mittellosigkeit die Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssten. These 6 Sowohl die Skepsis gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland als auch die Skepsis gegenüber der Geldstrafe in Polen beruhten eher auf ideologischen und/oder quasiwissenschaftlichen Überzeugungen als auf festem empirischen Wissen. Denn es lässt sich empirisch kaum nachweisen, dass eine unbedingte kurze/längere Freiheitsstrafe mehr Schaden als Nutzen bringt, oder dass die bedingte Freiheitsstrafe wegen ihres „geringen“ Übels einen Anreiz zur Begehung weiterer Straftaten darstellt. Außerempirisch ist auch die Frage, ob der Zweck der Strafe in der Vergeltung oder in der Prävention liegen sollte. Rein ideologisch ist schließlich die Auffassung, die in der Geldstrafe ein Privileg der Reichen sieht. These 7 Obwohl die Skepsis gegenüber der bedingten Freiheitsstrafe in Deutschland und die Skepsis gegenüber der Geldstrafe in Polen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jeweils deutlich abgenommen haben, was die gegenwärtig geltenden Regelungen des deutschen Strafgesetzbuches und des polnischen Strafrechtskodexes auch widerspiegeln, weichen die diesbezüglichen Rechtsgrundlagen zu der jeweiligen Strafe auch heute noch in beiden Ländern wesentlich voneinander ab.

Ergebnisse der Untersuchung

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These 8 Angesichts der Befunde in den Thesen 6 und 7 steht eine eventuelle Rechtsvereinheitlichung des deutschen und des polnischen Sanktionenrechts nicht zuletzt im Hinblick auf eine europäische Rechtsvereinheitlichung noch vor erheblichen Schwierigkeiten. Insbesondere der nicht-empirische Charakter der Auffassungen, die zu unterschiedlichen Rechtslagen in beiden Ländern geführt haben, wird eine eventuelle Rechtsvereinheitlichung deutlich erschweren.

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Sachverzeichnis Abschreckung 50, 217, 257, 304, 310, 318 Arbeitslosigkeit 72, 300, 333 Arreststrafe 105, 106, 150, 162, 250 f., 253, 285 Auflagen 25, 59, 182 f., 194, 219, 233 ff., 236, 271 Auslieferung 22 Autonomie der Strafe 181 f. Bedingte Verurteilung 205, 326 Bewährungshelfer 239, 241 Bundesverfassungsgericht 22, 314 Bürgschaft einer gesellschaftlichen Organisation 274, 275 Direktiven der Strafzumessung 320 Dunkelziffer 25 Einbußeprinzip 66, 187 f. Einkommensschwache 62, 71 ff., 78, 80, 323 f., 330 f. Ermessen des Gerichts 293, 320 Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse 64 f., 74 ff., 136, 138, 144, 188 ff. Europäische Union 21 f. Europäischer Haftbefehl 21 f. Fahrlässigkeit 246, 256, 258, 278, 283 Frauen (nichtberufstätig) 73 Freiheitsbeschränkungsstrafe 26, 120, 108 f., 114, 120, 122, 123 ff., 139, 173, 176, 194 Gefangenenrate 22 f., 106 Gefängnis 208, 250

Geldbuße 36, 183, 234, 236 Generalprävention 49 f., 139, 185 f., 209, 217, 221 f., 225, 261 f., 264, 316 ff., 320, 326 ff. Gesamtstrafe 134 f., 139, 182 Gewohnheitsverbrecher 311 Gleichheit vor dem Gesetz 63 Gnadenakt 220 f., 229, 286 Haft 208 Heranwachsende 13, 127, 139, 273, 275 Individualprävention 49, 109, 124, 185, 221, 234, 261 f., 288, 317 f., 320 Jugendliche 139, 183, 210, 234, 319, 333 Kriminalität 23, 25, 102, 121 Kriminologie 336 Kurator 269, 273, 275 Kurzzeitige Freiheitsstrafe 38, 107, 209, 302, 335 f. Nettoeinkommensprinzip 66, 84 Normstabilisierung 337 Notstand 105, 113, 127 Notwehr 105, 113, 127 Organisierte Kriminalität 258, 275 Polarisierung der strafrechtlichen Verantwortung 305 Prinzip der Funktionalität 31

Sachverzeichnis Rahmenbeschluss 21 f., 27 Recht der DDR 30 Rechtsvergleichung 32 Resozialisierung 33, 59, 314, 324 Rückfalltäter 251, 256, 258, 275, 284, 293 Sinn und Zweck der Strafe 312 Soziale Kompetenz der Ersatzfreiheitsstrafenverbüßer 91, 95, 158 Sozialgefährlichkeit der Tat 175, 262, 318 f., 321 Sozialschädlichkeit der Tat 124, 176, 318 ff. Soziologische Schule 251 Spielraumtheorie 315 f. Staatsrat 254, 260 Strafbefehlsverfahren 65, 75 Strafkultur 27, 341 Strafmilderung 50, 105, 112, 125 Strafpolitik 21 f., 25 ff., 115, 341 Schuldfähigkeit 105, 113, 127 Schuldprinzip 320 f. Schutzaufsicht 233–238, 240 f., 268 ff., 272 ff., 275 Stigmatisierung 302

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Strafzumessungspraxis in Deutschland 24 Strafzumessungspraxis in Polen 24 Sühne 311 Umrechnungsmaßstab bei Verfahrenseinstellung 25, 115 Verfassung 260 Verfassungsgericht 22 Vergehen hooliganischer Natur 110, 112, 263 Vergeltung 182, 205, 307, 310, 316, 320, 324 Versuch 45, 51, 105, 113, 127 Vorsatz 58, 256 Weißen-Kragen-Kriminalität 59, 181 Weisungen 29, 235, 237 ff., 240 Wiedergutmachung 131, 233 ff., 238, 268, 270, 276–281, 292 f. Willensfreiheit 337 Wirtschaftliche Verhältnisse 62 ff., 70 ff., 143 f. Zuchthaus 208 f.