Verwaltung und Recht in antiken Herrschaftsordnungen: Ägypten, Assyrien, Athen und Rom im Vergleich 9783161613777, 9783161613807, 3161613775

Wie waren antike "Staaten" organisiert und wie sicherten sie sowohl die Legitimation ihrer Ordnung als auch di

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German Pages 283 [298] Year 2022

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
1. Kapitel: Einführung
I. Fragestellung
II. Die Auswahl der Herrschaftsordnungen
III. Frühformen der Verwaltung
1. Verwaltung
2. Bürokratie
3. Verwaltungsaufgaben
IV. Probleme der Begrifflichkeit
1. Staat
2. Funktionen und Ämter
V. Die Struktur der Darstellung
2. Kapitel: Ägypten
I. Historischer Überblick
1. Die Abfolge der Reiche
2. Quellen
II. Herrschaftsorganisation
1. Zentrale Herrschaft
a) König
b) Hohe Amtsträger
c) Weitere Amtsträger
2. Territoriale Herrschaft
a) Tributpflichtige Staaten
b) Provinzen
c) Lokale Verwaltung
III. Verwaltungsfunktionen
1. Bestandsaufgaben
a) Öffentliche Finanzen
b) Öffentliches Bauwesen
2. Ordnungsaufgaben
a) Bodenverwaltung
b) Standardisierung
c) Öffentliche Sicherheit
d) Lebensmittelversorgung
IV. Rechtlicher Rahmen
1. Die Rechtsetzung
2. Die Rechtsprechung
3. Die Rechtsbindung
4. Der Rechtsschutz
V. Fazit
1. Der Herrschaftstyp
2. Die Struktur der Verwaltung
3. Die Rolle des Rechts
4. Die Funktionsweise der Herrschaft
3. Kapitel: Assyrien
I. Historischer Überblick
1. Die Entwicklung in Mesopotamien
2. Die Entwicklung in Assyrien
3. Quellen
II. Herrschaftsorganisation
1. Zentrale Herrschaft
a) König
b) Oberste Amtsträger
c) Weitere Amtsträger
2. Territoriale Herrschaft
a) Die Struktur des Reiches
b) Provinzen
c) Städte und Dörfer
III. Verwaltungsfunktionen
1. Bestandsaufgaben
a) Öffentliche Finanzen
b) Öffentliche Bauten
2. Ordnungsaufgaben
a) Bodenverwaltung
b) Standardisierung
c) Öffentliche Sicherheit
d) Lebensmittelversorgung
IV. Rechtlicher Rahmen
1. Die Rechtsetzung
2. Die Rechtsprechung
3. Die Rechtsbindung
4. Der Rechtsschutz
V. Fazit
1. Der Herrschaftstyp
2. Die Struktur der Verwaltung
3. Die Rolle des Rechts
4. Die Funktionsweise der Herrschaft
4. Kapitel: Athen
I. Historischer Überblick
1. Die Entwicklung in Griechenland
2. Die Entwicklung in Athen
3. Quellen
II. Herrschaftsorganisation
1. Zentrale Herrschaft
a) Versammlung
aa) Volksversammlung
bb) Volksgerichte
cc) Gesetz-Erlasser
b) Rat
aa) Rat des Areopags
bb) Rat der Fünfhundert
c) Ämter
aa) Archonten
bb) Strategen
d) Hilfskräfte
2. Territoriale Organisation
a) Der attische Seebund
b) Die Gemeinden
III. Verwaltungsfunktionen
1. Bestandsaufgaben
a) Öffentliche Finanzen
b) Öffentliches Bauwesen
2. Ordnungsaufgaben
a) Bodenverwaltung
b) Standardisierung
c) Öffentliche Sicherheit
d) Lebensmittelversorgung
IV. Rechtlicher Rahmen
1. Die Rechtsetzung
2. Die Rechtsprechung
3. Die Gesetzesbindung
4. Der Rechtsschutz
V. Fazit
1. Die Staatsleitung
2. Die Organisation der Verwaltung
3. Die Rolle des Recht
4. Die Funktionsweise der Herrschaft
5. Kapitel: Rom
I. Historischer Überblick
1. Die Entwicklung der Republik
2. Quellen
II. Herrschaftsorganisation
1. Zentrale Herrschaft
a) Volksversammlung
aa) Kuriatkomitien
bb) Zenturiatkomitien
cc) Tribuskomitien
dd) Plebejische Versammlung
b) Senat
c) Ämter
aa) Konsuln
bb) Prätoren
cc) Zensoren
dd) Ädile
ee) Quästoren
ff) Volkstribune
d) Hilfskräfte
2. Territoriale Herrschaft
a) Die Struktur des Reiches
b) Provinzen
c) Lokale Organisation
III. Verwaltungsfunktionen
1. Bestandsaufgaben
a) Öffentliche Finanzen
b) Öffentliches Bauwesen
2. Ordnungsaufgaben
a) Bodenverwaltung
b) Standardisierung
c) Öffentliche Sicherheit
d) Lebensmittelversorgung
IV. Rechtlicher Rahmen
1. Die Rechtsetzung
2. Die Rechtsprechung
3. Die Rechtsbindung
4. Der Rechtsschutz
V. Fazit
1. Der Herrschaftstyp
2. Die Struktur der Verwaltung
3. Die Rolle des Rechts
4. Die Funktionsweise der Herrschaft
6. Kapitel: Bilanz
I. Formen der Herrschaftsorganisation
1. Die Staatsleitung
a) Palast
b) Forum
c) Mischformen im Alten Orient
2. Die Ämterorganisation
a) Palast
b) Forum
3. Die territoriale Gliederung
a) Palast
b) Forum
c) Tributpflichtige Staaten
II. Verwaltungsfunktionen
1. Bestandsaufgaben
2. Ordnungsaufgaben
III. Rechtlicher Rahmen
1. Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht
2. Die Rechtsbindung von Amtsträgern
3. Die Funktion der Rechtsprechung
4. Der Rechtsschutz
IV. Wirkungsgeschichte
1. USA
2. Frankreich
3. Schweiz
4. Deutschland
V. Fazit
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister
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 9783161613777, 9783161613807, 3161613775

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Thomas Groß Verwaltung und Recht in antiken Herrschaftsordnungen

Thomas Groß

Verwaltung und Recht in antiken Herrschaftsordnungen Ägypten, Assyrien, Athen und Rom im Vergleich

Mohr Siebeck

Thomas Groß, geboren 1964; Studium in Tübingen, Genf und Heidelberg; Promotion und Habilitation an der Universität Heidelberg; Professuren in Gießen und Frankfurt am Main; seit 2011 Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Osnabrück.

ISBN 978-3-16-161377-7 / eISBN 978-3-16-161380-7 DOI 10.1628/978-3-16-161380-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2022  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Umschlagabbildung: Losmaschine/Kleroterion (Inv.Nr. I 3967); Ephorate of Antiquities of Athens City, Ancient Agora, ASCSA: Agora Excavations; © Hellenic Ministry of Culture and Sports/Hellenic Organization of Cultural Resources Development (H.O.C.RE.D.) Printed in Germany.

Vorwort Dieses Buch analysiert vier frühe Herrschaftsordnungen aus einer juristisch-verwaltungswissenschaftlichen Perspektive und nutzt dafür die Methoden des Rechtsvergleichs. Die Studie richtet sich deshalb sowohl an die Altertumswissenschaften wie auch an historisch interessierte Juristinnen und Juristen. Sie entstand in ihren Grundzügen im Rahmen meines Fellow-Aufenthaltes im Jahr 2020 bei der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe 2615 »Zwischen Demokratie und Despotismus: Governance-Strategien und Partizipationsformen im Alten Orient« an der Freien Universität Berlin. Ich bin sehr dankbar für diese einmalige Gelegenheit, über die zeitlichen Grenzen meiner bisherigen Forschung hinauszuschauen, sowie für vielfältige Unterstützung bei der Arbeit an meinem Projekt. Wegen der pandemiebedingten Beschränkungen ist einiges anders als geplant verlaufen, doch nicht zuletzt dank der wertvollen Hilfestellung durch die studentischen Hilfskräfte Lukas Tröger und Ismail Bekiroglu sowie Sandra Weißbach und Stefanie Schrakamp vom Sekretariat der Kolleg-Forschungsgruppe konnte ich letztlich meine ursprüngliche Planung umsetzen. Neben den Mitgliedern der Kolleg-Forschungsgruppe haben mir viele Fellows wichtige Hinweise zum Verständnis des Alten Orients und zur Materialbeschaffung gegeben. Jan Assmann, Sophie Démare-Lafont und Werner Kogge danke ich für die kritische Lektüre einzelner Kapitel, Andreas Kley für Hinweise zur Rezeption in der Schweiz. Zahra Kubitschek hat den Text außerordentlich sorgfältig Korrektur gelesen. Für verbleibende Fehler trage ich die alleinige Verantwortung. Gewidmet ist das Buch Michael Stolleis, den ich gern um Rat gefragt hätte. Osnabrück, den 10. Dezember 2021

Thomas Groß

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1. Kapitel: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Die Auswahl der Herrschaftsordnungen . . . . . . . . . . . . 4 III. Frühformen der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1. Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3. Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 IV. Probleme der Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Funktionen und Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 V. Die Struktur der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Kapitel: Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I.

Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Die Abfolge der Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

II. Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Zentrale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Hohe Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c) Weitere Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Territoriale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Tributpflichtige Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Provinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 c) Lokale Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Bestandsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Öffentliches Bauwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Ordnungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Bodenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 d) Lebensmittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 IV. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Die Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Die Rechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Der Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Der Herrschaftstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Die Struktur der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3. Die Rolle des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4. Die Funktionsweise der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Kapitel: Assyrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I.

Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Die Entwicklung in Mesopotamien . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Die Entwicklung in Assyrien . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

II. Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Zentrale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Oberste Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Weitere Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Territoriale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Die Struktur des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Provinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 c) Städte und Dörfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III. Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Bestandsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Inhaltsverzeichnis

IX

b) Öffentliche Bauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Ordnungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Bodenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 d) Lebensmittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 IV. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Die Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3. Die Rechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Der Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Der Herrschaftstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. Die Struktur der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Die Rolle des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Die Funktionsweise der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . 103 4. Kapitel: Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I.

Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 1. Die Entwicklung in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Die Entwicklung in Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

II. Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Zentrale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Volksversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Volksgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 cc) Gesetz-Erlasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 aa) Rat des Areopags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 bb) Rat der Fünfhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 c) Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Archonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 bb) Strategen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 d) Hilfskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Territoriale Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Der attische Seebund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

X

Inhaltsverzeichnis

III. Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Bestandsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Öffentliches Bauwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Ordnungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Bodenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 d) Lebensmittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 1. Die Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Die Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Der Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Die Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Die Organisation der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Die Rolle des Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Die Funktionsweise der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Kapitel: Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 I.

Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Die Entwicklung der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

II. Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Zentrale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Volksversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 aa) Kuriatkomitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Zenturiatkomitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 cc) Tribuskomitien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 dd) Plebejische Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Senat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 c) Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 aa) Konsuln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Prätoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Zensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 dd) Ädile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Inhaltsverzeichnis

XI

ee) Quästoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 ff) Volkstribune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 d) Hilfskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Territoriale Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 a) Die Struktur des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 b) Provinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Lokale Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Bestandsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Öffentliche Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Öffentliches Bauwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Ordnungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 a) Bodenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 b) Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 d) Lebensmittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 IV. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Die Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Die Rechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Der Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Der Herrschaftstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Die Struktur der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Die Rolle des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4. Die Funktionsweise der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . 206 6. Kapitel: Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I.

Formen der Herrschaftsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Die Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Palast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 c) Mischformen im Alten Orient . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Die Ämterorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Palast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Die territoriale Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

XII

Inhaltsverzeichnis

a) Palast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 c) Tributpflichtige Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 II. Verwaltungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Bestandsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Ordnungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 III. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1. Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . 231 2. Die Rechtsbindung von Amtsträgern . . . . . . . . . . . . . 234 3. Die Funktion der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Der Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 IV. Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3. Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Abkürzungen AHDO Archives d’histoire du droit oriental Am J Jurisprud American Journal of Jurisprudence APAAA Archaeological Papers of the American Anthropological Association CKLR Chicago-Kent Law Review CQ Classical Quarterly DNP Der neue Pauly DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt GFA Göttinger Forum für Altertumswissenschaft IJPA International Journal of Public Administration JAOS Journal of the American Oriental Society JCS Journal of Cuneiform Studies JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JURA Juristische Ausbildung MAL Middle Assyrian Laws RA Revue d’Assyriologie et d’Archéologie Orientale RG Rechtsgeschichte RlA Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie SAAB State Archives of Assyria Bulletin SAK Studien zur Altägyptischen Kultur VA Varia Aegyptiaca VerwArch Verwaltungsarchiv WdO Welt des Orients ZAR Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte ZRG Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZVglRWiss Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft

Einführung I. Fragestellung Vor etwa 5000 Jahren sind im südlichen Mesopotamien und in Ägypten die ersten dauerhaften Herrschaftsgebilde entstanden, deren innere Ordnung aufgrund von schriftlichen Dokumenten rekonstruiert werden kann. Während sich die Monarchie in Ägypten als langfristig stabil erwies, entstanden im Vorderen Orient immer wieder neue Königreiche, die expandierten und wieder verschwanden oder in andere Reiche integriert wurden. Dort liegen auch die Wurzeln des Stadtstaates, der sich schon früh durch Formen der kollektiven Partizipation auszeichnete. Die Abkehr von der Monarchie erfolgte aber zuerst in den griechischen Stadtstaaten. Unter ihnen sticht insbesondere Athen hervor, das in der Mitte des ersten Jahrtausends1 eine ganz neue Form der Herrschaftsorganisation entwickelt hat. Auch die römische Republik entstand aus einem Stadtstaat, dessen Institutionen während der Expansion zu einem Großreich weitgehend stabil blieben. Die Grundstrukturen der verschiedenen antiken Herrschaften waren schon oft Gegenstand von Untersuchungen. Jedoch wurde noch kaum komparativ und diachron analysiert, wie sie im Alltag funktionierten, um eine dauerhafte gesellschaftliche Ordnung zu erhalten. Wie wurde gewährleistet, dass öffentliche Aufgaben erfüllt wurden, die für die Sicherung des Bestandes eines Gemeinwesens unabdingbar sind, und wer war dafür verantwortlich? Diese Fragestellung richtet den Blick auf die einzelnen Ämter, die auf der zentralen wie auf der lokalen Ebene herausgebildet wurden. Gleichzeitig ist auch zu untersuchen, nach welchen Regeln sie gebildet wurden und ihre Aufgaben erfüllten. Lassen sich rechtliche Bindungen der Amtsträger nachweisen? Es geht im Folgenden also um eine juristisch-verwaltungswissenschaftliche Untersuchung der Organisation und der rechtlichen Grundlage staatlicher Herrschaft in ausgewählten frühen Reichen und Stadtstaaten. Dabei gilt das Interesse sowohl den untergeordneten Ämtern, die im modernen 1 Alle

Jahreszahlen ohne Zusatz gelten für die Zeit vor unserer Zeitrechnung.

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1. Kapitel: Einführung

Staat als »Verwaltung« bezeichnet werden, als auch ihrem Verhältnis zu den Institutionen der Staatsleitung, also der modernen Ebene der Verfassung, denn gerade die Interaktion zwischen beiden ist für das Verständnis ihrer Funktionsweise von zentraler Bedeutung. Dass auch schon in der Antike das Recht eine Rolle bei der Konstitution von Herrschaft 2 und bei der Durchführung staatlicher Aufgaben gespielt hat, wird nur selten analysiert. Zwar sind schon ab etwa 2400 auch juristische Texte überliefert.3 Sogar drei Viertel der bekannten Keilschrifttexte betreffen juristische Themen.4 Untersuchungen des antiken Rechts legen aber regelmäßig ihren Schwerpunkt auf die Bereiche, die heute dem Zivilund Strafrecht zugeordnet werden. Diese Unterteilung der Rechtsgebiete ist für die frühen Rechtsordnungen allerdings problematisch, weil es keine Institution gab, die der Staatsanwaltschaft entspricht, sondern fast alle Prozesse von den geschädigten Privatpersonen initiiert wurden.5 Auch nicht begrifflich, aber der Sache nach kann schon in der gesamten Antike zwischen Rechtsnormen, die sich auf den Staat und sein Verhältnis zu den Bürgern beziehen (heute: öffentliches Recht), und Rechtsnormen, die sich auf die Verhältnisse zwischen Privatpersonen beziehen (heute: Privatrecht), unterschieden werden. 6 Historische Darstellungen des Verwaltungsrechts beginnen in der Regel mit der Entstehung der europäischen Territorialstaaten in der frühen Neuzeit.7 Nur in dem Lehrbuch, das Hans Julius Wolff, ein Kenner des griechischen Rechts, begründet hat, gibt es einen Abschnitt zu »Verwaltungstypen der Frühzeit«, in dem darauf hingewiesen wird, dass besonders in den orientalischen und antiken politischen Einheiten bereits eine institutionelle Verwaltungsorganisation bestand. Als Verwaltungsaufgaben werden neben der Rechtspflege, dem Heer- und Finanzwesen auch das Markt,Münz- und Verkehrswesen, in großen Flächenreichen auch Polizei, Agrarund öffentliche Wohlfahrtsverwaltung genannt. 8

2 Dazu

z. B. Wesel, S.  61–64. Bär, S.  155. 4 Démare-Lafont, S.  40. 5 Für Ägypten Kruchten, in Redford, Bd.   2, S.  277; für Assyrien Cardascia, S.  45: »l’Assyrien, qui ignore la plupart de nos catégories juridiques …«; Renger, in Liverani/Mora, S.  184; Radner, in Westbrook, S.  890; Neumann, in Manthe, S.  65; für Griechenland Osborne, S.  171; für Rom Lintott, Constitution, S.  148. 6 Menu, Bd.  2 , S.  5. 7 Forsthoff, S.   20; Stolleis, in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, S.  69– 76; Maurer/Waldhoff, S.  14 f.; Simon, in Kahl/Ludwigs, S.  3 –39. 8 Wolff/Bachof/Stober/Kluth, S.   87. 3

I. Fragestellung

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Auch die frühen Staaten stellten Großorganisationen dar, die ohne ein Mindestmaß an Regelförmigkeit nicht funktionieren konnten, indem Aufgaben auf verschiedene Ämter verteilt und Koordinationsstrukturen geschaffen wurden.9 Deshalb ist näher zu überprüfen, ob sich rechtliche Bindungen der Amtsträger nachweisen lassen. Während sich Rechtsnormen über Ämter und ihre Aufgaben für Athen und Rom breit belegen lassen, sind die Erkenntnisse für die früheren monarchischen Herrschaftsordnungen des alten Orients deutlich lückenhafter. Weil Rechtsnormen nur sehr partiell überliefert sind, ist oft eine Rekonstruktion aus Sekundärquellen notwendig, wobei aber auch die Rechtspraxis nur sehr selektiv aus den Quellen erschließbar ist. Die Besonderheit der hier gewählten Vorgehensweise ist die Anwendung der Methode der Rechtsvergleichung. Die »fremde« Perspektive des Vergleichens erleichtert das Verständnis und die Erklärung der Besonderheiten eines Staates bzw. einer Rechtsordnung.10 Sie ist aber keineswegs auf den Vergleich in der Gegenwart beschränkt, sondern kann auch auf die Vergangenheit angewendet werden. Ein Vergleich in der Antike ermöglicht ebenfalls die Erkenntnis von Ähnlichkeiten und Unterschieden, sofern nicht zu schematisch vorgegangen wird, sondern Resonanzen aufgespürt werden, also auch Querbezüge und Abgrenzungen zu früheren Herrschaftsformen berücksichtigt werden.11 Weder dürfen Ähnlichkeiten mit der Gegenwart überbetont werden noch die Unterschiede, weil man sich immer der Gefahr des kulturellen Chauvinismus der modernen westlichen Welt bewusst sein muss.12 Unvermeidbar ist aber, dass die Fragestellungen von der heutigen Sicht auf Staat, Verwaltung und Recht geprägt sind. Aus diesem Grund ist es auch nicht berechtigt, dass eines der prominentesten Beispiele der juristischen Analyse, die Darstellung des Staatsrechts der römischen Republik durch Theodor Mommsen, heute nicht nur als zu normativistisch kritisiert, sondern sogar als Sackgasse bezeichnet wird.13 Eine von den rechtlichen Regeln ausgehende Untersuchung bleibt dann legitim, wenn auch ihre Grenzen anerkannt werden. Normative Analyse und historisch-soziologische Wirklichkeitsanalyse des Kontextes müssen

9 Allgemein

zur Konstitutionsfunktion des Organisationsrechts Groß, Kollegialprinzip, S.  10–19. 10 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  170. 11 Démare-Lafont, S.  59. 12 Ober, S.  9. 13 Beck, in Beck, S.  2.

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1. Kapitel: Einführung

sich ergänzen.14 Eine reflektierte (synchrone oder diachrone) Rechtsvergleichung setzt daher voraus, dass auch der ökonomische, soziale, kulturelle und machtpolitische Hintergrund berücksichtigt wird. Dennoch ist gerade eine juristische Analyse geeignet, möglichst präzise Institutionen und Kompetenzen zu erkennen und zu erklären.15 Sie kann aber natürlich nicht den Anspruch erheben, zu beschreiben, wie es wirklich war. Es geht vielmehr um eine kritische Analyse der bisherigen Interpretationen der Quellen durch einen (möglichst) unbefangenen, juristisch geschulten Blick, um die rechtlichen Grundlagen der staatlichen Herrschaft in ihren jeweiligen Grundstrukturen zu erfassen.

II. Die Auswahl der Herrschaftsordnungen Diese Studie untersucht vier Herrschaftsordnungen in Ägypten, Assyrien, Athen und Rom. Ihre Auswahl rechtfertigt sich zum einen durch die Quellenlage und zum anderen durch ihren Einfluss auf spätere Staatswesen, bis hin zum heutigen Europa sowie den USA. Voraussetzung für eine sinnvolle Analyse ist die Überlieferung hinreichend aussagekräftiger Dokumente, aus denen rekonstruiert werden kann, wie die Institutionen organisiert waren und wie sie funktioniert haben. Natürlich bestehen bei allen frühen Staatswesen mehr oder weniger große Lücken in der Überlieferung. Jedoch wurden nur solche Perioden ausgewählt, bei denen das Material ausreicht, um eine vergleichende Darstellung zu ermöglichen. Zwischen den ersten Staaten im Vorderen Orient und in Ägypten gab es vielfältige Wechselbeziehungen. Außerdem wirkten sie in einigen Bereichen über Griechenland und Rom bis in das moderne Europa. Wenn es richtig ist, dass jede Rechtskultur ihr eigenes letztlich zur Gegenwart offenes Ende hat,16 dann zählen alle hier behandelten Rechtsordnungen zu den Vorläufern auch des deutschen Rechts. Insofern ist das Untersuchungsdesign zwar eurozentrisch, aber durch das Erkenntnisinteresse der Einflussbeziehungen gerechtfertigt. Dabei wird nicht übersehen, dass es auch außerhalb Europas frühe Staatsbildungen gab. Am ältesten ist die Harappa-Kultur im Indusgebiet, eine urbane 14 Bedenkenswerte

Überlegungen bei Griwotz, S.  350–357; allgemein zur kontextuellen Rechtsvergleichung Kischel, Rechtsvergleichung, S.  164–216. 15 Waldstein/Rainer, S.   78. 16 Selb, S.  51.

II. Die Auswahl der Herrschaftsordnungen

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Zivilisation, die etwa zwischen 2600 und 1900 bestand. Ihre Erforschung wird aber dadurch stark erschwert, dass ihre Schrift bisher nicht entziffert werden konnte.17 In China, im präkolumbianischen Amerika und im subsaharischen Afrika sind Staatsbildungen dagegen deutlich später erfolgt.18 Ägypten wurde in die Auswahl einbezogen, weil sich dort der älteste Territorialstaat herausbildete. Das über Jahrtausende weitgehend stabile Königreich zeichnete sich durch eine bemerkenswerte institutionelle Kontinuität und kulturelle Homogenität aus. Die Quellen über die ägyptische Rechtsordnung sind indessen relativ dürftig. Assyrien wurde ausgewählt, weil es der am längsten bestehende Staat im alten Mesopotamien und das erste multiethnische Reich der Weltgeschichte war. Insbesondere die Auswertungen der mittelassyrischen Archive ermöglichen ein relativ kohärentes Bild des Staates.19 In Mesopotamien waren die wechselseitigen Einflüsse zwischen den verschiedenen Staaten stärker als z. B. in Ägypten. Da sie insbesondere für das Verständnis der Rechtsordnung wichtig sind, werden deshalb auch Querbezüge zu zeitlich oder räumlich angrenzenden Staaten hergestellt. Das Image Assyriens in der Nachwelt ist stark durch die Bibel und durch griechische Autoren geprägt, die das Reich als brutale Despotie darstellten.20 Eine Untersuchung der Herrschaftspraxis muss allerdings ein differenzierteres Bild zeichnen. Neben diesen beiden autokratischen Königreichen werden zwei der frühen und für die europäische Nachwelt besonders einflussreichen Republiken einbezogen. In der athenischen Polis entstand die erste bürgerschaftliche Demokratie der Geschichte. Sie bildete einen einzigartigen Herrschaftsapparat heraus, der auf die Minimierung persönlicher Macht zielte. Außerdem liegt in Griechenland der Beginn der Gesetzgebung im modernen Sinn. Auch die römische Republik kannte ähnliche Institutionen, die aber durch einen viel stärkeren Einfluss der gesellschaftlichen Führungselite gekennzeichnet waren. Durch die Eroberungen, die zunächst Italien und dann den ganzen Mittelmeerraum erfassten, verwandelte sich der Stadtstaat in ein Reich. Eine Änderung der institutionellen Grundstruktur erfolgte indes erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts mit dem Übergang zum Prinzipat. Diese Auswahl führt dazu, dass jeweils eine große historische Spanne von knapp zweihundert Jahren (demokratische Polis Athen) über fast fünf 17 Michaels,

in Gehrke, S.  768–790. Überblick bei Marquardt, S.  49–55. 19 Postgate, Bureaucracy, S.  4. 20 Portuese, GFA 2020, S.  1 f. 18 Knapper

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1. Kapitel: Einführung

hundert Jahre (Neues Reich Ägypten, römische Republik) bis zu mehr als siebenhundert Jahren (mittel- und neuassyrisches Reich) einbezogen wird. Die Herrschaftsordnungen zeichneten sich jeweils dadurch aus, dass die institutionellen Grundstrukturen stabil geblieben sind. Sofern es aber wichtige Veränderungen in Einzelheiten gab, werden sie berücksichtigt.

III. Frühformen der Verwaltung Die meisten historischen Darstellungen interessieren sich in erster Linie für die Leitungsebene der Staaten, deren Organisation man nach heutiger Terminologie als Verfassung bezeichnet. Um zu verstehen, wie die frühen Herrschaftsformen funktionierten, muss man aber auch die untergeordneten Ämter und ihre Aufgaben einbeziehen. Insofern knüpft diese Untersuchung an das bekannte Diktum von Max Weber an, wonach Herrschaft im Alltag primär Verwaltung ist.21 Aber kann man für die Epoche der Antike, die hier weit verstanden wird, um auch das alte Ägypten und den Vorderen Orient einzubeziehen, 22 überhaupt von »Verwaltung« sprechen? Unpassend ist auf jeden Fall die moderne Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht, weil es in den antiken Rechtsordnungen keine Normenhierarchie gab.23 Zwar wird der Begriff politeia bei Aristoteles24 oft als »Verfassung« übersetzt, er meinte aber primär die politische Struktur25 bzw. das System der Ämter.26 Bei Cicero findet sich der Begriff constitutio, mit dem er die Form der Anordnung des geschaffenen Rechts bezeichnet hat.27 Insofern könnte man ihn möglicherweise mit dem modernen Begriff der materiellen Verfassung gleichsetzen, d. h. den Regeln über die zentralen staatlichen Institutionen. Die Verfassung im formellen Sinn, die sich durch eine erschwerte Abänderbarkeit der Grundregeln eines Staates auszeichnet, ist hingegen eine moderne Erfindung.28 Deshalb kann man in der Antike auch den Bereich der Verwaltung nicht durch eine Normenhierarchie, sondern nur nach den von ihr erfüllten Funktionen bestimmen. 21

Weber, S.  126. üblichen Abgrenzung z. B. Demandt, S.  24–27. 23 Renger, in Liverani/Mora, S.  184. 24 Aristoteles, Politik, 4. Buch, 14. 25 Hansen, Age of Demosthenes, S.  65. 26 Mohnhaupt, in Brunner/Conze/Koselleck, Bd.  6 , S.  834. 27 Mohnhaupt, in Brunner/Conze/Koselleck, Bd.  6 , S.  835. 28 Zu dieser Unterscheidung z. B. Haller/Kölz, S.  95–98. 22 Zur

III. Frühformen der Verwaltung

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1. Verwaltung Der Begriff »Verwaltung« ist in Deutschland als Substantiv schon im 15. Jahrhundert n. Chr. nachgewiesen, seit dem 18. Jahrhundert wird er als Kollektivsingular verwendet.29 Er geht zurück auf die Unterscheidung von administratio und jurisdictio, die im kanonischen Recht im 12. Jahrhundert n. Chr. erfolgte.30 Der lateinische Begriff administratio, der etymologisch mit »zur Hand gehen« (ad manus venire) erklärt wird,31 wurde bereits in römischer Zeit verwendet, um das Handeln der republikanischen Magistrate zu bezeichnen und bezog sich damit auf die Wahrnehmung von Tätigkeiten für das Gemeinwesen.32 Mangels personeller Abgrenzung von den Aufgaben der Rechtsprechung kann man ihn aber nicht als direkten Vorläufer des modernen Begriffs ansehen, denn dieser ist eng mit dem modernen Konzept der Gewaltenteilung verbunden.33 Wenn man in noch früheren Zeiten sucht, so stellt sich bald heraus, dass die Geschichte des Staates untrennbar mit der Geschichte der Verwaltung verknüpft ist. Jedes auf Dauer angelegte, komplexere Gemeinwesen bedarf eines permanenten Stabes, eines Kerns von kontinuierlich besetzten Ämtern, welche die Wahrnehmung der für den Erhalt des Ganzen erforderlichen Aufgaben gewährleisten. Schon die frühen sumerischen Stadtstaaten hatten einen dauerhaften Verwaltungsapparat.34 Der Sache nach gab es Vorläufer dessen, was wir heute als »Verwaltung« bezeichnen, schon seit mehreren Jahrtausenden.

2. Bürokratie In historischen Beschreibungen früher Herrschaftsordnungen wird sehr oft der Begriff der »Bürokratie« verwendet. So hat Wittfogel in seiner einflussreichen Studie zum orientalischen Despotismus einen engen Zusammenhang zwischen der ägyptischen Bürokratie und der Bewässerungswirtschaft hergestellt.35 Die allererste echte öffentliche Bürokratie wurde 29 Koselleck,

in Brunner/Conze/Koselleck, S.  3. in Brunner/Conze/Koselleck, S.  5. 31 Fusco, in Brunner/Conze/Koselleck, S.  16. 32 Fusco, in Brunner/Conze/Koselleck, S.  8 . 33 Simon, in Kahl/Ludwigs, S.  4. 34 Kolb, S.  21; Finer, S.  105. 35 Wittfogel, S.   167: »Pharaonic Egypt was highly bureaucratized…«; ihm folgend ­Pawelka, in Pawelka, S.  39; s. a. Martin-Pardey, in Bard, S.  129: »A fully developed 30 Koselleck,

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1. Kapitel: Einführung

aber den frühen sumerischen Stadtstaaten zugeschrieben.36 Auch für die Spätzeit der athenischen Polis ist die Rede von einer großen Bürokratie.37 In den Altertumswissenschaften wird allerdings nur selten expliziert, was unter dem Begriff »Bürokratie« verstanden wird. Insbesondere in der englischsprachigen Literatur wird er mehr oder weniger als Synonym für den Begriff »Verwaltung« verwendet. Einigen reicht es für die Qualifikation als »Bürokratie« offensichtlich aus, dass überhaupt Zeugnisse schriftlicher Verwaltungsvorgänge vorliegen. In der Tat besteht eine enge Verbindung zwischen der Entwicklung der Schrift und der Entstehung von Frühformen der Verwaltung, weil sie eine Archivierung von Informationen notwendig machte.38 In Uruk waren die ersten schriftlichen Dokumente speziell für administrative Belange des Tempels zur Dokumentation von Einnahmen und Ausgaben gedacht.39 Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die ersten Schriften in Ägypten und Mesopotamien unabhängig voneinander, aber etwa zeitgleich entstanden sind.40 Die Verknüpfung von Staat und Schrift zeigt sich auch darin, dass der wohl älteste Text mit Hinweisen auf Ämter aus der Zeit um das Jahr 3000 stammt.41 Dazu passt die Aussage, wonach die Berufsgruppe der Schreiber als »Bürokratie« das administrative Rückgrat der altorientalischen Staaten bildete.42 Nur manchmal findet sich ein expliziter Bezug auf die Definition von »Bürokratie« durch Max Weber.43 Diese war stark vom preußischen Beamtentum des 19. Jahrhunderts n. Chr. geprägt44 und umfasste sechs Merkmale: eindeutige Zuständigkeitsordnung, Amtshierarchie mit monokratischen administrative bureaucracy is one of the most characteristic features of ancient Egyptian civilization«; Van de Mieroop, Ancient Egypt, S.  40: »a bureaucracy existed from the foundation of the Egyptian state on«; Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  139: »traditionally considered as the quintessential model of a bureaucratic state«. 36 Morony, in Gibson/Biggs, S.  8; Schott, IJPA 2000, S.  69; ähnlich Selb, S.  134; s. a. zu Ur III Altman, S.  38: »highly centralized bureaucratic state«. 37 Hansen, Age of Demosthenes, S.  242. 38 Herzog, S.  281; Pollock, S.  154–172; Bär, S.  149; Vesting, S.  35–39. 39 Radner, in Gehrke, S.  273 f. 40 Radner, in Gehrke, S.  272. 41 Wilcke, S.  18 f. 42 Sassmannshausen, S.   48; ähnlich Wesel, S.  73: ausgedehnte Bürokratie von Schreibern. 43 Z.B. bei Morony, in Gibson/Biggs, S.  7; Garfinkle, in Garfinkle/Johnson, S.  56; Haring, in Lloyd, S.  224. 44 Richtig Finer, S.  63; krit. auch Garfinkle, in Garfinkle/Johnson, S.  57 f.; ausführlich jetzt Magdalene/Wunsch/Wells, S.  197–219.

III. Frühformen der Verwaltung

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Ämtern, Amtsführung mit schriftlichen Akten, Fachschulung der Beamten, Hauptamtlichkeit und Regelgebundenheit der Amtsführung.45 Allerdings war auch bei Weber die Begriffsverwendung inkonsistent. Einerseits stellte er fest, dass die »Bureaukratie« in Patrimonialstaaten, also Staaten mit einer Alleinherrschaft, zuerst entstanden sei. Andererseits räumte er dann aber ein, dass wesentliche Elemente, nämlich die feste Kompetenzordnung, die feste rationale Hierarchie, die geregelte Anstellung und Fachgeschultheit sowie das feste Gehalt fehlten.46 Eine neuere Untersuchung bemerkt, dass in Mesopotamien nur die Merkmale Aktenführung, Hierarchie und Spezialisierung gegeben waren.47 Eine andere Studie spricht von quasi-bürokratischen Reichen in der neubabylonischen und achämenidischen Periode, da sie nicht alle Kriterien von Weber erfüllten.48 Schon diese Unklarheiten in der Definition werfen die Frage auf, ob der Begriff »Bürokratie« geeignet ist, um historische Herrschaftsphänomene zu erfassen. Hinzu kommt, dass er mit Wertungen belastet ist, die nur selten problematisiert werden. Geprägt wurde der Begriff nämlich im 18. Jahrhundert n. Chr. in Frankreich, um eine entfremdete, volksferne und überreglementierte Herrschaft zu kennzeichnen.49 Schon bald wurde er in Deutschland rezipiert und als »Amtsstubenherrschelei« übersetzt.50 Aber nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch im französischen51 und im englischen Sprachgebrauch 52 ist er pejorativ besetzt. Ganz vereinzelt geblieben ist die positive Wendung des Begriffs bei Yuval Harari, der von dem »Wunder der Bürokratie« spricht, die er als effektives Datenverarbeitungssystem versteht.53 Deshalb ist es fragwürdig, wenn angenommen wird, dass der heutige negative Beigeschmack des Begriffs nicht automatisch mit der Bürokratie der alten Staaten verbunden sei.54 45 Weber,

S.  551 f.; erweitert auf zehn Merkmale auf S.  126 f.; eine Variation bei Finer, S.  6 4. 46 Weber, S.  131; auch Postgate, Bureaucracy, S.  2 , sieht die Differenz. 47 Pollock, S.  149; ähnlich Morony, in Gibson/Biggs, S.  7, der noch centralisation nennt. 48 Magdalene/Wunsch/Wells, S.  255. 49 Cancik, Der Staat 2017, S.  3. 50 Cancik, Der Staat 2017, S.  3 –6. 51 Vgl. https://www.cnrtl.fr/definition/bureaucratie. 52 Vgl. https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/bureaucracy: »mainly disapproving«; s. a. Postgate, Bureaucracy, S.  2: »negatively loaded usage«; Wittfogel, S.  306: »In a specific sense, the term is also applied to any official who uses secretarial devices (»red tape«) to delay action, to make himself important, or to idle on the job.«. 53 Harari, S.  161–165. 54 Herzog, S.  256.

10

1. Kapitel: Einführung

Jedenfalls sollte man sich bewusst sein, dass der Begriff weder eindeutig definiert noch wertungsfrei ist. Er überträgt moderne Vorstellungen einer Beamtenherrschaft auf die Antike, deren Berechtigung im Folgenden bei den einzelnen Herrschaftsordnungen untersucht wird.

3. Verwaltungsaufgaben Ob moderne Vorstellungen einer öffentlichen Verwaltung auf die Antike übertragbar sind, lässt sich am besten klären, wenn man konkrete Aufgaben analysiert. Roman Herzog nennt in seiner Studie zu den Staaten der Frühzeit vier grundlegende Staatsaufgaben: Verteidigung, Infrastruktur, Religionspflege und innere Ordnung = Jurisdiktion.55 Die folgende Untersuchung richtet ihr Hauptinteresse nur auf die zivile Verwaltung im engeren Sinn, so dass die Bereiche Verteidigung, Religionspflege und Rechtsprechung weitgehend ausgeklammert werden. Betrachtet werden dabei sechs konkrete Aufgabenbereiche, die sich mehr oder weniger in allen vier Herrschaftsordnungen nachweisen lassen. Aus der Vielzahl an möglichen Einteilungen der Verwaltungsaufgaben wird hier eine Zweiteilung zugrunde gelegt, die Bestandsaufgaben und Ordnungsaufgaben unterscheidet.56 Bestandsaufgaben sind solche, die zur Sicherstellung der personellen und sachlichen Mittel für die Existenz des Staates notwendig erfüllt werden müssen. Hierzu zählt neben der Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben (öffentliche Finanzen) auch die öffentliche Bautätigkeit, durch die Gebäude für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und die Infrastruktur hergestellt bzw. erhalten werden. Insbesondere die Schaffung und Unterhaltung von Verkehrswegen ist epochen­über­greifend eine zentrale Aufgabe gemeinwohlorientierter Staaten.57 Ordnungsaufgaben sind dagegen solche, die der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens dienen. In allen antiken Staaten lässt sich nachweisen, dass sich Verwaltungsstellen um die Ordnung des Bodens, um die Einhaltung der standardisierten Maße und Gewichte oder um die öffentliche Sicherheit gekümmert haben. Im weiteren Sinn zählt hierzu auch die

55

Herzog, S.  75–82. Anlehnung an Grimmer, VerwArch 1990, 492–497, der zusätzlich noch politische Systemaufgaben und Annexaufgaben unterscheidet, die für die Antike aber nicht relevant sind. 57 Marquardt, S.  6 4. 56 In

IV. Probleme der Begrifflichkeit

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Gewährleistung der Lebensmittelversorgung, bei der sich allerdings größere Unterschiede zwischen den Formen der Intervention feststellen lassen. Das Charakteristische an diesen Aufgaben ist, dass sie das Recht auf eine einseitige Entscheidung des zuständigen Amtsinhabers voraussetzen. Die Verpflichtung zu einer Abgabe oder einem Arbeitsdienst, die Festsetzung einer Grundstücksgrenze, die Einziehung einer regelwidrigen Maßeinheit oder die Auferlegung einer Buße wegen anderen Rechtsverstößen sind typisch administrative Handlungen, die nicht vom Einverständnis der Betroffenen abhängig sind und deshalb eine hoheitliche Befugnis des Amtsträgers oder eines beauftragten Privaten voraussetzen. Diese einseitigen Verwaltungsmaßnahmen ergehen in einem bilateralen Verhältnis und in der Regel in einem formlosen Verfahren. Dadurch unterscheiden sie sich von der Aufgabe der Rechtsprechung, die in einem förmlichen Verfahren mit mehreren Parteien erfüllt wird. Wo aber verschiedene Aufgaben und Befugnisse auf bestimmte Ämter verteilt werden, muss es ein Mindestmaß an Regeln geben, durch die einerseits das Handeln der einzelnen Personen koordiniert und andererseits eine Kontrolle der Amtsausübung ermöglicht wird. Eine solche Delegation von Macht setzt ein frühes Verwaltungsrecht voraus.58 Je weiter man zurückgeht, desto rudimentärer werden die Belege für solche Regeln. Wie sich zeigen wird, waren sie am deutlichsten in der athenischen Polis ausgeprägt.

IV. Probleme der Begrifflichkeit Nicht nur die Begriffe »Verwaltung« und »Bürokratie« sind problematisch, wenn man sie auf antike Herrschaftsordnungen anwendet. Auch viele andere Rechtsbegriffe der Gegenwart müssen in Frage gestellt werden, wenn sie auf Phänomene angewendet werden, die mehrere Tausend Jahre in der Vergangenheit liegen. Erstaunlicherweise wird dieses Problem der Nutzung heutiger Begriffe in den Altertumswissenschaften nur selten thematisiert. Erschwerend kommt hinzu, dass das wichtige Handbuch »Geschichtliche Grundbegriffe« den Orient gar nicht behandelt, was ihm bereits den Vorwurf eingetragen hat, eurozentrisch zu sein.59 Nur wenige Autorinnen und Autoren diskutieren, dass die Übernahme heutiger juristischer Begriffe für die Beschreibung von altorientalischen 58 Zutreffend 59 Rebenich,

Magdalene/Wunsch/Wells, S.  182–189. in Cancik/Rebenich/Schmid, S.  331.

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1. Kapitel: Einführung

bzw. antiken Phänomenen nicht ohne weiteres möglich ist. 60 Es ist aber offensichtlich reflexionsbedürftig, dass jede Übersetzung eine Manipulation von Wörtern und von Institutionen darstellt, und dass die Nutzung moderner Begriffe mit dem damaligen Begriffsuniversum oft unvereinbar ist. 61 Seit dem linguistic turn ist klar, dass es eine unhintergehbare Wechselwirkung zwischen historischen Fakten und ihrer sprachlichen Gestalt gibt. 62 Dieses Problem ist keine Besonderheit der historischen Forschung. Auch in der gegenwartsbezogenen Rechtsvergleichung ist bekannt, dass gerade juristische Begriffe aus einer bestimmten Rechtsordnung immer normative Konnotationen enthalten, die auf andere Rechtsordnungen nicht passen. 63 Das »Kleben am typisch heimatlichen Rechtsdenken« muss vermieden werden, wenn man einen validen Vergleich vornehmen will. 64 Je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, desto gravierender werden die Schwierigkeiten der Übersetzung. 65 Drei mögliche Strategien kommen in Frage, um das Problem zu lösen. Man kann erstens die Originalbegriffe in einer eingedeutschten Version verwenden. Zweitens kann man moderne Begriffe nutzen, ihre Eignung aber jeweils problematisieren. Eine dritte Vorgehensweise setzt auf die Entwicklung einer neutralen Terminologie. Insbesondere bei der Arbeit mit griechischen und lateinischen Quellen ist es oft üblich, die Originalbegriffe, wie z. B. Archont, Stratege, Magistrat oder Ädil, zu übernehmen. Damit vermeidet man zwar Verzerrungen durch eine Übersetzung, aber es hilft nicht für das Verständnis der jeweiligen Begriffe, jedenfalls wenn sie nicht erklärt werden. Für fremdere Sprachen, deren Kenntnis nicht vorausgesetzt werden kann, kommt diese Vorgehensweise ohnehin nicht in Frage, denn mit ägyptischen oder akkadischen Originalwörtern können die meisten Leserinnen und Leser nichts anfangen. Einige halten die Nutzung einer modernen Begrifflichkeit nicht nur für unvermeidlich, sondern auch für nützlich, weil nur dadurch die historische

60 Knappe

Ausführungen bei Démare-Lafont, S.  49, Fleming, S.  22 f., Lippert, S.  7 f., und bei Charpin, Writing, S.  2. 61 So für Mesopotamien Seri, S.  51. 62 Zusammenfassend Stolleis, in Stolleis, S.  1092–1102. 63 Groß, Rechtsvergleich, S.  34; ähnlich Kischel, Rechtsvergleichung, S.  193 f., der von Vorverständnissen spricht. 64 Kischel, Rechtsvergleichung, S.  214. 65 Stolleis, in Stolleis, S.  1097.

IV. Probleme der Begrifflichkeit

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Perspektive deutlich werde. 66 Daran ist richtig, dass die Untersuchung der Geschichte unvermeidlich von heutigen Fragestellungen ausgeht 67 und sich deshalb nicht völlig von der aktuellen Begriffsverwendung lösen kann. Trotzdem bleibt die Gefahr, dass »die Eigenart des Phänomens durch moderne Kategorien hinwegerklärt« wird. 68 Deshalb wird für diese Untersuchung so weit wie möglich der dritten Strategie gefolgt. Weil die meisten Begriffe, die bei der Beschreibung moderner Staaten verwendet werden, in vielerlei Hinsicht für die Antike nicht passend sind, muss eine möglichst neutrale Terminologie verwendet werden, die mit dem Originalwort und seiner Erklärung verbunden wird. 69 Im Folgenden wird an einigen zentralen Begriffen dargelegt, welche Schwierigkeiten mit ihnen verbunden sind. Die Tragfähigkeit der Strategie muss sich dann im weiteren Verlauf der Untersuchung erweisen.

1. Staat »Staat« ist ganz offensichtlich ein zentraler Begriff nicht nur der Rechts-, sondern auch der Geschichtswissenschaft. Dennoch ist es bis heute nicht gelungen, eine konsensfähige Definition zu finden. Strittig ist schon, ob der Begriff überhaupt auf die Antike anwendbar ist. Nach einer prominenten Auffassung ist der Staat nur in Europa und nach dem Mittelalter entstanden.70 Sie hängt eng damit zusammen, dass sich der Begriff in Europa im 16./17. Jahrhundert n. Chr. durchsetzte.71 Andere weisen diese historische Verengung als komplett falsch72 und eurozentrisch73 zurück. Sie findet auch bei der Mehrheit in der althistorischen Forschung keine Gefolgschaft.74 Dementsprechend liegt es nahe, den Ursprung des Staates im Vorderen Orient zu suchen.75 66 Hansen,

Age of Demosthenes, S. xi; ähnlich Grziwotz, S.  35. in Stolleis, S.  1098. 68 Schuller, S.  4. 69 Groß, Rechtsvergleich, S.  34. 70 Z.B. Schmitt, in Schmitt, S.  375, der den entscheidenden Ansatz in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sieht; Reinhard, S.  15: »Europa hat den Staat erfunden.«; weitere Nachweise bei Hansen, in Hansen, S.  12, und Lundgreen, in Lundgreen, S.  18– 28. 71 Jellinek, S.  132 f. 72 Finer, S.  5. 73 Moreno García, S.  187. 74 Baltrusch, S.  78; s. a. Demandt, S.  21. 75 Marquardt, S.  49. 67 Stolleis,

14

1. Kapitel: Einführung

Wenn man nicht davon ausgehen will, dass »Staat« ein »undefinierbarer Hybridbegriff« ist,76 muss man Merkmale definieren, mit denen entschieden werden kann, ob ein soziales Gebilde als »Staat« zu qualifizieren ist oder nicht. Es ist im Rahmen dieser Einführung nicht möglich, die verschiedenen Definitionsversuche ausführlich zu diskutieren.77 Vielmehr sollen nur einige wenige Ansätze kurz dargestellt werden. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion sehr einflussreich ist die Staatsdefinition des österreichischen Juristen Georg Jellinek. Danach sind drei Elemente zur Qualifizierung eines Staates erforderlich: das Gebiet als von einem Staat beherrschter Raum, das Volk als Genossenschaft der Mitglieder des Staates und die Herrschaftsgewalt als unbedingte Befehlsgewalt.78 Die Anwendung dieser Kriterien auf antike Staatsformen erweist sich jedoch als schwierig. Zwar hatte Jellinek einerseits keine Bedenken, von einem altorientalischen Staat zu sprechen.79 Andererseits stellte er aber fest, dass die Notwendigkeit eines abgegrenzten Gebietes in der Antike nicht anerkannt war, sondern sich erst in der Neuzeit durchsetzte. 80 Damit bleibt ungewiss, welche Bedeutung das Element des Gebietes hat. Zudem ist auch unklar, wie sich die Unbedingtheit der Befehlsgewalt mit rechtsstaatlichen Bindungen vereinbaren lässt, die – wie noch zu zeigen ist – schon in frühen republikanischen Ordnungen bestanden. Der dänische Althistoriker Mogens Hansen stellt in seiner Definition darauf ab, dass es in einem Staat spezialisierte und hierarchisch organisierte Institutionen und Verwaltungsorgane mit Entscheidungsbefugnissen gibt, die den legitimen Gebrauch physischer Gewalt monopolisiert haben. 81 Das an Max Weber anknüpfende Merkmal des Gewaltmonopols passt allerdings für die gesamte Antike nur eingeschränkt, da in allen Rechtsordnungen Selbsthilfe in mehr oder weniger großem Umfang zulässig war. 82 Wie Hansen an anderer Stelle selbst einräumt, setzte sich das moderne Verständnis des Gewaltmonopols erst im 19. Jahrhundert n. Chr. in Europa durch. 83

76 Winterling,

in Lundgreen, S.  252. z. B. bei Möllers, S.  9 –127. 78 Jellinek, S.  394–433; ähnlich z. B. Jessop, S.  49, der noch die Staatsidee als viertes Element ergänzt. 79 Jellinek, S.   288–292. 80 Jellinek, S.   395. 81 Hansen, in Hansen, S.  13. 82 Für Rom Eder, in Eder, Staat, S.  17. 83 Hansen, Polis, S.  6 4. 77 Überblick

IV. Probleme der Begrifflichkeit

15

Nach der Definition des deutschen Althistorikers Walter Eder kommt es schließlich auf drei Merkmale an. Es muss institutionalisierte Formen der Konfliktaustragung, Amtsträger mit definierten Kompetenzen und Regelungen zur Feststellung der politisch berechtigten Personen geben. 84 Damit wird der Schwerpunkt der Staatsdefinition auf die Institutionen sowie ihre personellen und rechtlichen Grundlagen gelegt. Es ist kein Zufall, dass die beiden Definitionen von Historikern nicht auf das Staatsgebiet abstellen. Die territoriale Natur des modernen Nationalstaats ist historisch gesehen eine Ausnahme. 85 Die meisten Staaten der Antike hatten keine klar definierten und bewachten Grenzen. 86 Zwar sind schon aus der Mitte des 3. Jahrtausends Konflikte um die Grenzen zwischen Stadtstaaten überliefert. 87 Es gibt auch Beispiele für Schiedssprüche über den Verlauf einer Grenze. 88 Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass sich die Staaten in erster Linie über ihr Territorium definierten. Kein größerer Staat stand in seinem gesamten Gebiet unter der vollen und exklusiven Kontrolle seiner Amtsträger. 89 Vielmehr ist in der Antike eine unterschiedliche Dichte der Beherrschung festzustellen.90 Die griechische Polis und die römische Republik waren nach ihrem Selbstverständnis ohnehin in erster Linie ein Zusammenschluss der Bürger, während ihr Territorium zweitrangig war.91 Aber auch das Merkmal des Staatsvolkes ist für die Antike problematisch. In Mesopotamien gab es ständige Veränderungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die nur teilweise mit den Staatsbildungen übereinstimmten. Da die meisten griechischen Stadtstaaten voneinander unabhängig waren, müsste man jedem von ihnen ein eigenes Volk zuordnen, obwohl sie sprachlich und kulturell sehr ähnlich waren. Es waren aber erst die mazedonischen Könige, die sich auf die ethnische Einheit beriefen.92 Umgekehrt haben die Römer im Laufe der Jahrhunderte viele andere Völker nicht nur besiegt, sondern auch in ihr Staatswesen integriert. Entscheidendes Kriterium für eine epochenunabhängige Definition des Begriffes »Staat« kann deshalb weder das Gebiet noch das Volk sein, son 84 Eder,

in Eder, Staat, S.  20. APAAA 2013, S.  127. 86 Seri, S.  29; Brown in Bonatz, S.  86. 87 Garfinkle, in Bang/Scheidel, S.  103 f. 88 Altman, S.  145 f. 89 Finer, S.  69. 90 Moreno García, S.  201 f. 91 Hansen, Age of Demosthenes, S.  58 f. 92 Cartledge, S.  93 f. 85 Parker,

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1. Kapitel: Einführung

dern die auf Dauer angelegte, durch von der Gemeinschaft geschaffene eigene rechtliche Regeln konstituierte Herrschaftsorganisation.93 Auch Jellinek hat schon erkannt, dass ein Staat nur vermittelst seiner Organe existieren kann.94 Diese Organe bestehen aus Personen, die öffentliche Ämter wahrnehmen, welche auch schon in patrimonialen Herrschaftsgebilden bestanden.95 Staaten setzen deshalb die Existenz von Ämtern voraus, die hauptberuflich oder jedenfalls kontinuierlich wahrgenommen werden, so dass auch Organisationen mit nur zeitweise herangezogenen, trotzdem aber spezialisierten Amateuren in die Definition einbezogen werden können.96 Eine andere Frage ist, ob die Unabhängigkeit von anderen Staaten als weiteres notwendiges Merkmal angesehen wird.97 Der Begriff der »Unabhängigkeit« passt für die Antike besser als der der »Souveränität«, denn dieses Konzept entwickelte sich erst im späten Mittelalter.98 Ohnehin ist es auch in der Gegenwart fragwürdig, weil es oft dazu genutzt wird, die Geltung der Völkerrechtsordnung in Frage zu stellen.99 Die gegenseitige Anerkennung als unabhängig setzt ihrerseits ein internationales Recht voraus, das in der frühen Antike nur aus Verträgen und der diplomatischer Praxis erschließbar ist.100 Der älteste bekannte Vertrag zwischen Herrschern stammt bereits aus dem 24. Jahrhundert.101 Die Unabhängigkeit im Sinne einer außenpolitischen Handlungsfreiheit fehlte bei den sogenannten Vasallen- oder Klientenstaaten, für die es in allen Epochen und Regionen der antiken Welt Beispiele gibt, die im Folgenden näher analysiert werden. Es handelte sich um Staaten, die aufgrund einer militärischen Niederlage oder freiwilliger Unterwerfung von einem benachbarten mächtigeren Staat abhängig waren, aber nicht eingegliedert wurden, sondern ihre innere Organisationsautonomie behalten durften.102 Der Begriff des »Vasallen« wird z. B. verwendet, um Gemeinwesen zu beschreiben, die mit unterschiedlichen Graden von den Hethitern abhängig waren, wobei diese Phänomene als wohl eher dem Staats- als dem Völker 93 Jellinek,

S.  493–496; Kelsen, S.  121–124. Jellinek, S.  560. 95 Weber, S.  594; ähnlich Yoffee, S.  17. 96 Herzog, S.  10 f. 97 Dafür z. B. Finer, S.  2 f.; dagegen z. B. Jellinek, S.  486–489. 98 Jellinek, S.   435–474. 99 Kelsen, S.  150 f. 100 Zur Forschungsgeschichte knapp Altmann, S. xxii–xxiv. 101 Altman, S.  20–22. 102 Demandt, S.  20. 94

IV. Probleme der Begrifflichkeit

17

recht zuzuordnen angesehen werden.103 Viele Stadtstaaten in Griechenland, aber auch in anderen Epochen, waren ebenfalls nicht unabhängig, sondern von Föderationen oder fremden Herrschern abhängig.104 Der Vasallenstaat war übrigens als Kategorie auch in den deutschen Kolonien während des zweiten Kaiserreichs bekannt, wo in vielen Regionen die heimischen Eliten im Amt blieben.105 Es handelte sich im Verhältnis zwischen den mächtigen und den abhängigen Staaten aber auch nicht um eine Form der Bundesstaatlichkeit im modernen Sinn, weil die Gleichberechtigung der Glieder fehlte. Sie bilden vielmehr eine eigene Kategorie von Staaten, die außenpolitische Abhängigkeit mit innenpolitischer Autonomie kombinieren. Da auch die Begriffe »Vasall« bzw. »Klient« problematisch sind, weil sie spezifische personale Herrschaftsverhältnisse des Mittelalters bzw. der römischen Republik bezeichnen, wird im Folgenden die neutralere Bezeichnung »tributpflichtige Staaten« bevorzugt, denn die Verpflichtung zur Leistung von Abgaben an die herrschende Macht ist ein wesentliches Kennzeichen solcher Abhängigkeitsverhältnisse. Auch wenn man das Merkmal der autonomen Ämterordnung in den Mittelpunkt der Staatsdefinition stellt, bleibt das Problem, dass die Vielfalt der historischen Erscheinungsformen oft eine klare Ja-Nein-Entscheidung im Hinblick auf den Staatscharakter verhindert.106 In vielen Bereichen der antiken Welt gab es ständige Veränderungen der Herrschaftsverhältnisse, die sich nicht immer in ein binäres Schema – Staat oder kein Staat – zwängen lassen. In dieser Untersuchung kann der Begriff »Staat« nicht völlig vermieden werden. Zur Distanzierung von den modernen Assoziationen wird jedoch der Begriff »Herrschaftsordnung« bevorzugt. Der Aspekt der Herrschaft macht deutlich, dass es sich – auch in einer Demokratie – um die Ausübung von Macht innerhalb strukturierter Beziehungen handelt, die auf einem hinreichend geteilten Verständnis der Legitimität dieser Beziehungen und der Machtausübung beruht.107 Der Aspekt der Ordnung wiederum verdeutlicht, dass dieses System eine rechtliche Grundlage hat, die die dauerhaften Ämter und ihre Befugnisse definiert und dadurch Willkür bei der Ausübung der Macht möglichst verhindern soll. 103

Preiser, S.  154–156. Hansen, Polis, S.  129–131, 142 f. 105 Speitkamp, S.  53. 106 Jessop, S.  45. 107 Forst, in Forst/Günther, S.  81. 104

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1. Kapitel: Einführung

Ein Vorteil des neutraleren Begriffs der »Herrschaftsordnung« ist auch, dass er die Fixierung auf die staatliche Organisation und die hoheitlichen Befugnisse, wie sie lange Zeit das öffentliche Recht geprägt hat, relativiert. Gerade in den frühen Staaten in Mesopotamien ist oft keine klare Abgrenzung zwischen dem staatlichen und dem privaten Sektor möglich. In Athen wie in Rom wurden viele öffentliche Aufgaben auf private Unternehmer übertragen, ohne deren Mitwirkung das Gemeinwesen nicht funktionsfähig gewesen wäre. Insofern waren die antiken Staaten auch mehr als eine Ämterordnung. Das Zusammenwirken staatlicher und privater Akteure wird in letzter Zeit oft mit dem aus der angelsächsischen Debatte übernommenen Konzept der »Governance« bezeichnet. Der Begriff findet sich bereits im Titel des ersten auf Englisch veröffentlichten Werks über die englische Staatsordnung »The Governance of England«, das der Oberrichter und Kanzler John Fortescue in den 1470er Jahren verfasste.108 Allerdings ist dieses Konzept bisher nur vereinzelt in historischen Analysen genutzt worden.109 In der deutschen Rechtswissenschaft hat es sich letztlich ebenfalls nicht durchgesetzt. Nicht zuletzt deshalb wird hier der Begriff der »Herrschaftsordnung« bevorzugt.

2. Funktionen und Ämter Auch die Terminologie zur Beschreibung einzelner staatlicher Funktionen und Ämter ist stark von dem modernen Staatsverständnis beeinflusst. Insbesondere sind die Begriffe durch das Konzept der Gewaltenteilung geprägt, auch wenn dieses durchaus verschieden ausgeformt sein kann.110 Obwohl es schon bei Aristoteles erste Ansätze zu einer Unterscheidung von drei Elementen, der beratenden, der rechtsprechenden und der regierenden Funktion gibt,111 war dies nicht als normative Aussage über eine Pflicht zu ihrer Trennung gemeint.112 Vielmehr besteht Einigkeit darüber, dass das Schema einer Dreiteilung der staatlichen Gewalten für die gesam-

108

Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  169. Lundgreen, in Lundgreen, S.  28 f. 110 Dazu Groß, Der Staat 2016, S.  489–498. 111 Aristoteles, Politik, 4. Buch, 14; als Ursprung der Lehre genannt z. B. bei Haller/ Kölz, S.  175. 112 Ober, S.  8; Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  58 Fn.  26 m. w. N. 109

IV. Probleme der Begrifflichkeit

19

te Antike nicht passend ist.113 Weniger Beachtung findet dann allerdings die Frage, ob diese Erkenntnis nicht auch Auswirkungen auf die Begrifflichkeit haben muss, mit der frühe historische Phänomene analysiert werden. Die Problematik beginnt bereits beim Begriff »Gesetz«. Nach der modernen Auffassung handelt es sich dabei um verbindliche Rechtsnormen mit allgemeiner Geltung.114 Das gesetzte Recht wird unterschieden vom Gewohnheitsrecht, das durch gesellschaftliche Praxis entsteht und von den Gerichten festgestellt wird. Wie im Folgenden näher zu zeigen ist, passt dieses Verständnis aber weder für Mesopotamien oder Ägypten noch für Athen oder Rom. Dort kommt es für die Qualifizierung als Gesetz vielmehr darauf an, ob es sich um einen verbindlichen Ausspruch der obersten Instanz, d. h. dem König oder der Volksversammlung, handelt. Dieser kann aber sowohl eine Einzelfallentscheidung als auch eine allgemeine Vorschrift enthalten. Zwar gab es in Athen erste Ansätze zu einer Differenzierung, aber auch dort wurden die Gesetze nicht als Ausdruck eines stets änderbaren Willens eines Gesetzgebers angesehen.115 Ebenso wenig passt die Unterscheidung zwischen Exekutive und Judikative. Es gab in keiner der antiken Herrschaftsordnungen eine kategorielle Trennung von militärischen, administrativen, religiösen und judikativen Ämtern. Für altägyptische Texte wurde ausdrücklich festgestellt, dass Verwaltung und Rechtsprechung oft nicht unterschieden werden können.116 Weder Ägypten noch Assyrien oder Rom kannten ein eigenes Personal, das nur Rechtsprechungsaufgaben wahrgenommen hat. Vielmehr gab es immer eine Kombination mit Verwaltungsfunktionen. Eine Sonderstellung hatten nur die Volksgerichte Athens, deren Mitglieder aber ausgeloste Bürger waren, so dass man auch dort nicht von einem eigenen Richteramt sprechen kann. Nach unserem Verständnis darf ein Richter Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt jedoch nicht zugleich mit Aufgaben der gesetzgebenden oder der vollziehenden Gewalt wahrnehmen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (§  4 DRiG). Dieser Begriff des Richters ist deshalb für die Antike nicht anwendbar. Damit ist ebenso der parallele Begriff des Beamten problematisch, denn auch er setzt eine Trennung von judikativen Aufgaben voraus. Erst recht passt er nicht für die in der Regel nur auf ein Jahr besetzten 113

Herzog, S.  259; Philip-Stéphan, S.  13; Cartledge, S.  57; Grandet, in Moreno García, S.  849; Magdalene/Wunsch/Wells, S.  182. 114 Groß, Der Staat 2016, S.  494 m. w. N.; Hölkeskamp, S.  63, verlangt außerdem, dass sie als legitim angesehen werden, was aber kaum feststellbar ist. 115 Sealey, S.  52. 116 Haring, in Lloyd, S.  2 24.

20

1. Kapitel: Einführung

Ämter in Athen und Rom, denn nach deutschem Verständnis ist das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit der Regelfall (§  4 Abs.  1 BeamtStG).117 Deshalb werden in dieser Untersuchung die Begriffe »Richter« und »Beamter« so weit wie möglich vermieden. Stattdessen werden die Begriffe »Amtsträger« bzw. »Amtsinhaber« verwendet, weil sie haupt- wie ehrenamtliche und administrative wie judikative Funktionen erfassen. Allerdings sind sie weniger eingängig als der äquivalente englische Begriff »official«. Reflexionsbedürftig sind daneben die Begriffe für die territoriale Gliederung der Staaten und die damit verbundenen Ämter. Für die jeweiligen unmittelbaren Untereinheiten werden je nach Land oft verschiedene Termini verwendet, wie Gau, Nomos, Bezirk, Distrikt. Im Folgenden wird einheitlich der aus der Organisation des römischen Reiches stammende und bis heute gebräuchliche Begriff »Provinz« gebraucht, während ihr jeweiliger Leiter als »Statthalter« bezeichnet wird. Zwar ist es weiterhin problematisch, die entsprechende Leitungsfunktion auf lokaler Ebene mit »Bürgermeister« zu übersetzen, weil diese Funktion weder in Ägypten noch in Assyrien durch eine Wahl der Bürger besetzt wurde, wie es in Europa heute fast durchweg üblich ist, doch gibt es hierfür keine gebräuchliche Alternative.

V. Die Struktur der Darstellung Die Darstellung der vier Herrschaftsordnungen erfolgt in den nächsten Kapiteln nach einer weitgehend einheitlichen Gliederung und mit einer vereinheitlichten Terminologie.118 Dies führt dazu, dass die Ausführungen möglicherweise etwas schematisch wirken können. Durch die parallele Gestaltung der Darstellung wird aber bereits in der Präsentation des Materials der Vergleich vorbereitet, dem das abschließende Kapitel gewidmet ist. Dieses kann so von detaillierten Querweisen entlastet werden, weil die entsprechenden Aussagen in den einzelnen Kapiteln leicht auffindbar sind. Für jede Herrschaftsordnung wird zunächst ein knapper historischer Überblick gegeben, um die politischen Entwicklungen zu erklären, deren Kenntnis für das Verständnis der jeweils untersuchten Epochen wichtig ist. Es folgt eine Darstellung der staatlichen Institutionen, die nicht nur die Staatsleitung, sondern auch die höheren Ämter, das Hilfspersonal und die Organisation der territorialen Herrschaft erfasst. Des Weiteren werden die 117 118

Hebeler, S.  78 m. w. N. Zur Strukturierung der Rechtsvergleichung bereits Groß, Rechtsvergleich, S.  30–34.

V. Die Struktur der Darstellung

21

bereits vorgestellten sechs Verwaltungsfunktionen untersucht, einschließlich der für ihre Wahrnehmung zuständigen Ämter. Der jeweils vierte ­Abschnitt ist der Rolle des Rechts in der jeweiligen Herrschaftsordnung gewidmet, wobei neben der Rechtssetzung auch die Organisation der Rechtsprechung und rechtliche Bindungen von Amtsträgern thematisiert werden. Der letzte Abschnitt jedes Kapitels dient der Analyse der charakteristischen Merkmale, insbesondere auch der sozialen und ideologischen Voraussetzungen der jeweiligen Herrschaftsordnung. Die vergleichende Auswertung der so gewonnenen Erkenntnisse erfolgt im sechsten Kapitel. Zur Strukturierung des Vergleichs werden die beiden von Samuel Finer entwickelten Grundmodelle »Palast« und »Forum« genutzt, mit denen viele der Unterschiede zwischen den autokratischen und den mehr oder weniger demokratischen Herrschaftsordnungen erfasst werden können.119 Abgeschlossen wird das Kapitel mit Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte, die deutlich machen, dass einige Elemente der athenischen und römischen Ämterordnungen bis in die Gegenwart fortwirken. Gerade in den letzten Jahren sind in vielen Ländern Beratungsgremien gebildet worden, deren Mitglieder durch Los bestimmt werden. Eine so breit angelegte Studie muss sich überwiegend auf die Auswertung von Sekundärliteratur und deren Zusammenfassung in Handbüchern und Lexika stützen. Originalquellen, aus Gründen der Zugänglichkeit in übersetzter Form, können nur in wenigen Einzelfällen einbezogen werden. Die ausgewertete Literatur wird entsprechend der juristischen Zitiertradition detailliert nachgewiesen, um gerade auch bei umstrittenen Fragen deutlich zu machen, worauf sich die jeweiligen Aussagen stützen. Originalbegriffe aus akkadischen, ägyptischen oder griechischen Schriftquellen werden entsprechend der Fachliteratur in einer vereinfachten Transkription ohne Sonderzeichen wiedergegeben, die sich an der deutschen Schreibweise orientiert. Dies dient nicht dazu, Sprachkenntnisse zu simulieren, sondern um bei divergierenden Übersetzungen eindeutig nachzuvollziehen zu können, auf welche Begriffe sich die Aussagen beziehen. Weil ein wesentlicher Fokus auf der Untersuchung der Ämterordnung liegt, wird großer Wert darauf gelegt, dass alle Amtsbezeichnungen übersetzt bzw. erklärt werden, soweit das nach der Quellenlage möglich ist. Dabei werden nur männliche Formen verwendet, weil Frauen im Altertum generell keine staatlichen Ämter übernehmen konnten.120 Allerdings wa119 120

Finer, S.  37–43. Problematisierung der patriarchalen Traditionen bei Harari, S.  180–197; interessante Ansätze zur Erklärung bei van Schaik/Michel, passim.

22

1. Kapitel: Einführung

ren sie in keiner der Herrschaftsordnungen rechtlos.121 Dass ihr Ausschluss aus der Politik nicht unhinterfragt blieb, belegt das satirische Theaterstück »Die Volksversammlung der Frauen« (ekklesiazousai) von Aristophanes, in dem eine Machtübernahme der Frauen zu – jedenfalls aus heutiger Sicht – sozial sehr vorteilhaften Folgen führt.122

121

Zur Stellung der Frauen in Ägypten Menu, Bd.  2, S.  43–61; Robins, in Redford, Bd.  2, S.  12–16; zu Assyrien Karlsson, S.  39 f.; zum griechischen Recht Barta, Bd.  II/1, S.  332–334; zu Rom Rawson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  324–341. 122 Pabst, S.  61 f.; zur Rollenverteilung in Athen dort S.  93–101.

Ägypten I. Historischer Überblick Ägypten umfasst schon seit ältester Zeit im Kern das Gebiet vom ersten Katarakt des Nils in der Gegend des heutigen Assuan bis zum Nildelta mit den angrenzenden Wüstengebieten.1 Das fruchtbare Land hatte eine Fläche von etwa 35.000 km 2.2 Hier erfolgte die Staatsbildung deutlich später als bei den sumerischen Staaten im südlichen Mesopotamien.3 Anders als dort entstand der Staat nicht auf der Grundlage von Städten, sondern aus einer dörflichen Gesellschaft.4 Ein exakter Anfangspunkt kann nicht bestimmt werden.5 In einer in Hierakonpolis gefundenen Palette, die aus der Zeit um 3100 stammt, wird König Narmer als erster Herrscher genannt, der die beiden Teile Ober- und Unterägypten vereinigt hat, obwohl diese wohl schon vorher zusammengewachsen waren. 6 Hieraus hat sich ein Gründungsmythos des ägyptischen Staates herausgebildet.7 Damit war Ägypten der früheste Territorialstaat. 8

1. Die Abfolge der Reiche Für die Periodisierung der altägyptischen Geschichte wird bis heute eine Einteilung nach Dynastien und Abschnitten verwendet, die im 3. Jahrhundert vom hellenistischen Geschichtsschreiber Manetho eingeführt wurde, vermutlich nach älteren Vorbildern.9 Zwar ist seine Ordnung im Einzelnen 1 Erman/Ranke,

S.  13–33; Van de Mieroop, S.  7–10. Marquardt, S.  50. 3 Finer, S.  132. 4 Van de Mieroop, S.  29. 5 Radner, in Gehrke, S.  280. 6 Ausführlich Menu, Bd.  2 , S.  65–96; s. a. Van de Mieroop, S.  50; Bommas, S.  14; Freeman, S.  40–43. 7 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.  167 f. 8 Moreno García, S.  163. 9 Selb, S.  114. 2

24

2. Kapitel: Ägypten

problematisch, dennoch ist sie für eine grobe Einordnung nach wie vor nützlich.10 Die absolute Chronologie ist aber ähnlich wie in Mesopotamien für die ersten beiden Jahrtausende der staatlichen Existenz noch immer unsicher.11 Deshalb wird im Folgenden auf Jahreszahlen verzichtet, die eine Genauigkeit suggerieren, die nicht hinreichend verlässlich belegt werden kann. Die ersten drei Dynastien werden der Frühdynastischen Zeit zugerechnet, die etwa die erste Hälfte des 3. Jahrtausends umfasst und noch eine Periode der Staatsbildung darstellte. Es folgte das Alte Reich mit der 4.–8. Dynastie, das bis zum Ende des 22. Jahrhunderts bestand. In dieser Zeit entstanden die ersten großen Pyramiden. Danach löste sich die Zentralmacht in einem Prozess der politischen Fragmentierung auf. Die Könige von Memphis regierten zwar weiter, aber verschiedene lokale Fürsten agierten nun unabhängig.12 Diese Erste Zwischenzeit umfasste die 7.–11. Dynastie13 und dauerte etwa ein Jahrhundert. Am Ende des 3. Jahrtausends gelang dem König Mentuhotep II. aus der 11. Dynastie die Wiedervereinigung des Landes, die als Anfang des Mittleren Reichs angesehen wird. Es dauerte etwa vier Jahrhunderte und umfasste auch die 12. und 13. Dynastie. Ihm folgte die Zweite Zwischenzeit mit den 14.–17. Dynastien, in der große Teile des Landes unter die Herrschaft der Hyksos-Könige gerieten. Ihre Herkunft ist bis heute nicht eindeutig geklärt, doch lassen ihre westsemitischen Namen darauf schließen, dass sie aus dem palästinischen Raum stammten.14 Daneben bestand aber teilweise noch ein eigenständiger Staat in Oberägypten.15 Im 16. Jahrhundert gelang den thebanischen Königen die Vertreibung der Hyksos, so dass unter König Ahmose erneut eine Vereinigung des Landes erfolgte, mit der das Neue Reich begann.16 Es umfasste die 18.–20. Dynastie und bestand bis in das 11. Jahrhundert. Anders als frühere Zeiten war es durch eine deutlich aggressivere Außenpolitik gekennzeichnet, die mit Eroberungen in Nubien und Palästina verbunden war.17 Diese Expansion nach Süden und Osten wurde damit gerechtfertigt, dass sie der Nie 10 Radner,

in Gehrke, S.  280 f. in Redford, Bd.  1, S.  267; Van de Mieroop, S.  20 f. 12 Grajetzki, in Moreno García, S.  217. 13 So Bommas, S.  37–46. 14 Van de Mieroop, S.  132; Bommas, S.  72 f. 15 Radner, in Gehrke, S.  339. 16 Van den Boorn, S.  344 f. 17 Van de Mieroop, S.  157: »imperialist state«; s. a. Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  318: »militaristic character«. 11 Spalinger,

I. Historischer Überblick

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derschlagung einer Rebellion gegen den König und damit gegen die Götter diene.18 Die Ägypter hielten sich aufgrund des Rückhalts durch ihre Götter für eine kulturell höher stehende Gruppe.19 Intern erfolgte eine deutliche Zentralisierung der Macht.20 Am Ende des 2. Jahrtausends ging die Einheit des Landes erneut verloren. In der Dritten Zwischenzeit mit der 21.–25. Dynastie, die bis etwa 700 dauerte, wurden Teile Ägyptens durch konkurrierende, aus Libyen und Nubien stammende Königshäuser beherrscht. Der Spätzeit werden die 26.–30. Dynastie zugerechnet. In dieser Periode wurde Ägypten zunächst durch Assyrien erobert und eine neue Dynastie eingesetzt, die in der Hauptstadt Sais im Nildelta residierte. Nach dem Jahr 660 endete die assyrische Beherrschung. Ab dem Jahr 525 geriet das Land unter persische Herrschaft, von der es sich im 4. Jahrhundert aber wieder befreien konnte. Als endgültiges Ende der staatlichen Eigenständigkeit Ägyptens wird die Eroberung durch Alexander den Großen im Jahr 332 angesehen. Sowohl in der griechisch-hellenistischen Periode der Ptolemäer als auch später unter der römischen Herrschaft behielt Ägypten aber eine Sonderstellung.

2. Quellen Ähnlich wie in Sumer21 besteht in Ägypten eine enge zeitliche Verknüpfung zwischen der Staatsgründung und der Entstehung der Hieroglyphenschrift, die erstmals im Dienst der Verwaltung von Wirtschaftsprozessen im Sinne einer Buchhaltung verwendet wurde.22 Sie wurde schon während der 1. Dynastie durch die vereinfachte hieratische Schrift ergänzt, die sie für alltägliche Zwecke verdrängte.23 Obwohl von einer »Schreibwut« der ägyptischen Verwaltung die Rede ist, die v. a. aus der häufigen Abbildung von Schreibern geschlossen wird, 24 sind im Vergleich zu Mesopotamien relativ wenige Dokumente über Verwaltung und Recht überliefert.25 Das liegt daran, dass das hauptsächlich verwendete Material Papyrus vergäng 18 Kemp,

in Garnsey/Whittaker, S.  11; Bryan, in Cline/O’Connor, S.  103. in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  194. 20 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  202. 21 Siehe unten S.  62. 22 Bommas, S.  16; Eyre, S.  13 f. 23 James, S.  142 f. 24 Erman/Ranke, S.   125. 25 Wesel, S.  93; Moreno García, S.  3; knapper Überblick bei Allam, in Manthe, S.  19 f., und Lippert, S.  6 f. 19 O’Connor,

26

2. Kapitel: Ägypten

licher ist als Ton, so dass Dokumente aus Papyrus v. a. in Wüstengebieten gefunden worden sind, wo sie sich besser erhalten.26 Für die frühen Zeiten sind Grabinschriften die wichtigste Quelle. Sie wurden schon zu Lebzeiten angefertigt und dienten jedenfalls auch der Selbstdarstellung, so dass oft unklar ist, wie realistisch ihre Angaben, z. B. über staatliche Amtsträger und ihre Aufgaben, sind.27 Viele Angaben über Amtsträger sind auf Siegeln erhalten.28 Trotz einer großen Zahl erhaltener Inschriften und Dokumente ist es sehr schwierig, einen Überblick über die Struktur und das Funktionieren des ägyptischen Staates zu gewinnen. Die meisten Inschriften geben nur die Titel einzelner Amtsträger wieder. Viele Quellen schildern einzelne Verwaltungsvorgänge oder Gerichtsverfahren, aus denen Rückschlüsse auf die Aufgaben der beteiligten Personen gezogen werden können. Man kann sich aber oft nicht sicher sein, ob die überlieferten Einzelfälle typisch waren oder gerade deshalb schriftlich fixiert wurden, weil sie sich durch Besonderheiten auszeichneten.29 Es gibt nur einen allgemeinen Text, der in abstrakter Form über einige wesentliche Züge des zentralen Staatsapparats informiert. Es handelt sich um die »Dienstvorschrift für den Wesir«, die im Grab des Wesirs Rekhmire gefunden wurde.30 Die Inschrift stammt damit aus dem 15. Jahrhundert, der Anfangszeit des Neuen Reichs. Sie geht aber vermutlich zumindest teilweise auf Texte aus der Endzeit des Mittleren Reichs zurück.31 Auch hier muss man aber von einer Idealisierung ausgehen, denn die Verwaltung war in der Realität sicher nicht so effizient und regelkonform.32 Ihre Angaben sind deshalb mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Ein weiterer Text, der unter dem Titel »Einsetzung des Wesirs« bekannt ist, befand sich ebenfalls in dem Grab des Wesirs Rekhmire sowie in einigen anderen Gräbern. Es handelte sich vermutlich um eine Rede des Königs bei der Amtseinführung.33 Sie enthält weniger die konkreten Regeln für die Amtsführung als moralische Maximen.34 26 Van

de Mieroop, S.  11; Eyre, S.  17–27. James, S.  13 f., 22–33. 28 Grajetzki, Court Officials, S.  10–12. 29 Ausführlich zur Bedeutung von Schriftlichkeit Eyre, passim. 30 Deutsche Übersetzung bei Helck, S.   29–40; kommentierte englische Übersetzung bei van den Boorn, S.  10. 31 Helck, S.  29; Quirke, Titles, S.  18; Grajetzki, in Moreno García, S.  2 29; ausführlich van den Boorn, S.  334–376; Willems, in Moreno García, S.  365–369. 32 Moreno García, S.  109; s. a. van den Boorn, S.  357: »royal propaganda«. 33 Dazu van den Boorn, S.  2 33; James, S.  60–64; Eyre, S.  57. 34 Lurje, S.  29. 27

II. Herrschaftsorganisation

27

Aus dem Neuen Reich sind deutlich mehr Quellen erhalten als aus den früheren Perioden.35 Deshalb liegt der Schwerpunkt der folgenden Darstellung auf dieser Periode, die in etwa parallel zum mittelassyrischen Reich liegt. Es wird aber auch auf Veränderungen im Staatsaufbau seit dem Alten Reich eingegangen.

II. Herrschaftsorganisation Die ägyptische Sprache kennt kein Wort für »Staat«, stattdessen wird das Königtum begrifflich mit dem Staat identifiziert.36 Ebenso wenig findet sich eine allgemeine Bezeichnung für Verwaltung.37 Es gibt allerdings einen Oberbegriff für Amtsträger (sr 38 bzw. im Plural srw39). Es besteht kein Zweifel daran, dass es seit der Gründung des Staates eine zentralisierte Verwaltung gegeben hat.40 Trotz der historischen Unterscheidung zwischen Ober- und Unterägypten handelte es sich um einen einheitlichen Staat.41 Folgerichtig wurden schon in der altägyptischen Literatur die Zwischenzeiten als Perioden der Unordnung angesehen, weil es keine funktionierende Zentralmacht gab. Dagegen seien »Zeiten starker königlicher Zentralmacht … durch gute Verwaltung gekennzeichnet« gewesen.42 In der Literatur findet sich oft die Auffassung, Ägypten sei durch eine stark entwickelte Bürokratie charakterisiert gewesen.43 Diese Verwaltung hat sich jedoch über die Jahrhunderte immer wieder verändert.44 Die Könige mussten die Struktur immer wieder an sich verändernde gesellschaft­ liche und politische Umstände anpassen.45 Es ist deshalb schwierig, ihre Struktur auch nur einigermaßen präzise zu erfassen.46

35 James,

S.  3; Van de Mieroop, S.  156; Moreno García, in Moreno García, S.  15. in Pawelka, S.  60. 37 Gestermann, S.  100. 38 Jin, S.  29–44. 39 Kóthay, in Moreno García, S.  485; Lurje, S.  37, übersetzt »Verweser«. 40 Van de Mieroop, S.  40. 41 Haring, in Lloyd, S.  218. 42 James, S.  51. 43 Z.B. Assmann, in Raaflaub, S.  14; Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  315; Moreno García, S.  32. 44 Quirke, Titles, S.  4; Moreno García, in Moreno García, S.  4. 45 Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  316; Shirley, in Moreno García, S.  575. 46 Bryan, in Cline/O’Connor, S.  69: »Egyptian bureaucracy was labyrinthine«. 36 Zibelius-Chen,

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2. Kapitel: Ägypten

Um die Vergleichbarkeit herzustellen, werden die Hofämter des königlichen Haushalts ausgeklammert.47 Zwar gab es immer eine enge Verbindung zwischen dem Königspalast und den Verwaltungsgebäuden.48 Es spricht auch einiges dafür, dass einzelne Bedienstete am Hof politischen Einfluss hatten.49 Schon im Alten Reich erfolgte aber eine Scheidung zwischen dem Haushalt des Königs und der staatlichen Verwaltung.50 Dies belegt auch ein Dokument aus dem Mittleren Reich, in dem das Personal des Palastes in Amtsträger und in Bedienstete des königlichen Haushalts unterschieden wird.51 Dagegen ist keine klare Trennung zwischen den Tempeln und der staatlichen Verwaltung möglich. Die Verwaltung der religiösen Einrichtungen war in vielerlei Weise mit den zivilen Ämtern verknüpft, u. a. auch im Steuerwesen.52 Deshalb wird zwar nicht näher auf die Priesterschaft eingegangen, die Rolle der Tempel muss aber an verschiedenen Stellen in die Darstellung einbezogen werden.

1. Zentrale Herrschaft a) König Die zentrale Institution des ägyptischen Staates war immer das Königtum. Der Begriff »Pharao«, der eigentlich den Palast bezeichnet, wird als Titel des Herrschers erst im Neuen Reich verwendet. Der König (nswt) wurde als irdische Verkörperung des Himmelsgottes Horus verstanden.53 Ihm wurde eine Zwischenstellung zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre zugesprochen.54 Nach einer anderen Auffassung war zwar das Amt des Königs göttlicher Natur, jedoch wurde der einzelne Amtsinhaber nicht vergöttlicht.55

47 Dazu

Erman/Ranke, S.  66 f.; Quirke, Titles, S.  26–30. S.  2; Quirke, Titles, S.  10. 49 Moreno García, in Moreno García, S.  6 . 50 Baer, S.  300. 51 Quirke, Administration, S.  45. 52 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  202. 53 Erman/Ranke, S.  62; Grandet, in Moreno García, S.  835–841; Wilkinson, S.  123. 54 Bonhême, in Redford, Bd.  2 , S.  243: »intermediary between gods and men«; Moreno García, S.  138 f.: »semi-divine nature«. 55 Leprohon, in Sasson, S.  274 f. 48 Helck,

II. Herrschaftsorganisation

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Der König war Inhaber der absoluten staatlichen Autorität und Quelle aller rechtlichen Entscheidungen.56 Er bildete die Spitze des gesamten Staatsapparats,57 Allerdings haben sich die Könige normalerweise nicht in einzelne judikative oder administrative Vorgänge eingemischt.58 Er war außerdem der Oberbefehlshaber der Armee, wobei sich v. a. die Könige der frühen 18. Dynastie persönlich an Feldzügen beteiligten.59 Thronfolger des Königs war nicht zwingend sein ältester Sohn, sondern vorrangig der Sohn der Hauptkönigin. 60 Um Zweifel zu beseitigen, erfolgte in der Regel die Designation des Nachfolgers durch den jeweiligen Amts­ inhaber. 61 Im Mittleren und Neuen Reich kam es zudem häufig zu einer Koregentschaft mit dem Kronprinz, um dessen Thronfolge abzusichern. 62 War der neue König noch minderjährig, wurde eine Regentschaft eingerichtet. Könige, die nicht vom vorherigen Herrscher abstammten, behaupteten eine göttliche Auserwählung, um ihre Legitimation abzusichern. 63 b) Hohe Amtsträger Eine Rekonstruktion der Verwaltungsstruktur geht davon aus, dass es im Neuen Reich drei Abteilungen gab: eine für den Hof, eine für die Überwachung der eroberten Territorien in Nubien und Asien und eine für die interne Verwaltung. 64 Die dritte Abteilung war wiederum in vier Ämter aufgeteilt, die für die königlichen Güter, die Armee, religiöse Angelegenheiten sowie für die interne Zivilverwaltung zuständig waren. 65 Diese These wird jedoch auch in Frage gestellt, weil die Annahme einer festen Organisation wie in modernen Ministerien ein westliches Vorurteil sein könnte. 66 Vielmehr seien regelmäßig einzelne Personen mit bestimmten Aufgaben be-

56 Finer,

S.  146; Allam, in Manthe, S.  22; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  60. de Mieroop, S.  41. 58 Haring, in Lloyd, S.  219 f.; Kóthay, in Moreno García, S.  482. 59 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  206. 60 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  219; Van de Mieroop, S.  170. 61 Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  63. 62 Leprohon, in Sasson, S.  281; Van de Mieroop, S.  102; Radner, in Gehrke, S.  317. 63 Robins, in Redford, Bd.  2 , S.  288. 64 Vgl. das Schema bei O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  208. 65 Freeman, S.   67; skeptisch Shirley, in Moreno García, S.  572: »elastic nature of the system«. 66 Moreno García, S.  38. 57 Van

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2. Kapitel: Ägypten

traut worden. 67 Deshalb sei erwartet worden, dass die Amtsträger flexibel sind. 68 Den meisten Quellen lassen sich außer den Titeln der jeweiligen Amtsinhaber nur wenige Informationen über die zentralen Ämter entnehmen. 69 Grundsätzlich sind Rangtitel und funktionale Titel zu unterscheiden, wobei letztere aber auch ihre Bedeutung ändern70 und zu Rangtiteln werden können.71 Da viele Personen über eine Unzahl von Titeln verfügten,72 muss man davon ausgehen, dass jedenfalls viele Titel inhaltsleer waren.73 Für das Mittlere Reich wird allerdings angenommen, dass eine Person in der Regel nur ein hohes Amt ausgeübt hat.74 Gewisse Schlussfolgerungen lassen sich auch aus den bekannten Karrieren einiger Amtsinhaber ziehen.75 Außerdem gab es viele Titel sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene. Deshalb diente der Zusatz »Siegler des Königs« dazu, einen Amtsträger der nationalen Ebene zuzuordnen.76 Im Mittleren Reich gab es seit dem Ende des 3. Jahrtausends einen Thronrat.77 Dieses Beratungsgremium des Königs hatte etwa zehn Mitglieder, doch ist die genaue Zusammensetzung unbekannt.78 Themen, die dort behandelt wurden, waren z. B. politische Konflikte, militärische Taktik sowie der Bau oder die Restauration von Monumenten.79 Die Annahme, es habe sich um eine Art Regierung gehandelt, ist jedoch anachronistisch. 80 Nach dem Onomastikon von Amenemope, einer Namensliste von Amtsträgern aus der Zeit der 19./20. Dynastie, gab es im Neuen Reich einen Regierungsrat81 mit etwa 12 Mitgliedern. Folgende Mitglieder des Ra 67 Zibelius-Chen,

in Pawelka, S.  69; Moreno García, S.  113; konkrete Beispiele bei Vernus, in Moreno García, S.  316–318. 68 Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  316; Freeman, S.  57. 69 Selb, S.  122; Finer, S.  156; Grajetzki, Court Officials, S.  5; Jansen-Winkeln, in Gehler/Rollinger I, S.  226. 70 Bryan, in Cline/O’Connor, S.  69; Moreno García, in Moreno García, S.  7 f. 71 Willems, in Moreno García, S.  372 f. 72 Baer, S.  11, schätzte die Gesamtzahl aller Titel im Alten Reich auf fast 2000. 73 So schon Erman/Ranke, S.  109; ebenso Warburton, in Redford, Bd.  2 , S.  577. 74 Grajetzki, in Moreno García, S.  216; anders für das Alte Reich Strudwick, S.  342. 75 Grajetzki, Court Officials, S.  140–144. 76 Quirke, Titles, S.  12; Grajetzki, Court Officials, S.  18. 77 So Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  67: eine Art Kabinett; ähnlich Grajetzki, Beamten, S.  26; s. a. Moreno García, S.  65: »Chamber of Dignitaries«. 78 Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  67. 79 Moreno García, S.  111. 80 Quirke, Administration, S.  52–57. 81 Grandet, in Moreno García, S.  866, übersetzt »government council«.

II. Herrschaftsorganisation

31

tes werden in der Liste genannt: der Wesir, ein hochrangiger Berater des Königs mit dem Titel »einziger Freund«, der älteste Königssohn, der Oberbefehlshaber der Armee, der Berichtsschreiber, der das Kommunikationsamt leitete, der Leiter der Kammer, der erste Bote des Königs, ein Baumeister, der Leiter der Kammerdiener als Vertreter des königlichen Haushalts sowie der Leiter des Amtes des Königs mit seinem Schreiber. 82 Die Aufgaben des Regierungsrates sind nicht bekannt, vermutlich war er v. a. ein Beratungsorgan für den König.83 Allerdings ist auffällig, dass etwa in der Präambel des Dekrets des Haremhab formuliert wird, der König habe sich nur mit sich selbst beraten. 84 Eine hervorgehobene Rolle spielte während der gesamten ägyptischen Geschichte das Amt des »Wesir« (t3tj). 85 Seine Funktion wird manchmal mit der eines modernen Premierministers gleichgesetzt. 86 Durchgesetzt hat sich jedoch die Übersetzung »Wesir«, ein Begriff, der wegen Ähnlichkeiten zur Regierungsstruktur des ottomanischen Reichs gewählt wurde.87 In neuerer Zeit wird aber mit einigem Recht thematisiert, dass es sich dabei um eine anachronistische88 bzw. orientalisierende89 Begrifflichkeit handelt. Sicher belegt ist die Existenz des Amtes seit der Mitte der 2. Dynastie.90 Ursprünglich wurde es von Prinzen bekleidet, ab der 5. Dynastie erfolgte jedoch eine Trennung von der königlichen Familie.91 Im Mittleren Reich führten auch einige lokale Statthalter den Titel »Wesir«. Die Erklärung hierfür ist kontrovers,92 möglicherweise ist eine Unterscheidung zwischen Amt und Titel notwendig.93 Im Neuen Reich gab es zwei Wesire, je einen für Ober- und Unterägypten.94 Allerdings ist über die unterägyptischen

82 Eigene

Übersetzung der englischen Bezeichnungen bei Grandet, in Moreno García, S.  867. 83 Vgl. Grandet, in Moreno García, S.  867. 84 Kruchten, S.  26 85 Erman/Ranke, S.  94 f.; Helck, S.  17; Finer, S.  158; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  71. 86 Redford, in Bard, S.  62; Raedler, in Gundlach/Klug, S.  284; ähnlich van den Boorn, S.  322: »deputy of the king«; Warburton, in Redford, Bd.  2, S.  579: »apex of the bureaucracy«; kritisch James, S.  70 f. 87 James, S.  5 4; Grajetzki, Court Officials, S.  15. 88 Haring, in Lloyd, S.  2 21. 89 Raedler, in Gundlach/Klug, S.  284. 90 Helck/Otto, S.  331; Raedler, in Gundlach/Klug, S.  283. 91 Gestermann, S.  147; James, S.  5 4; Haring, in Lloyd, S.  2 21. 92 Grajetzki, in Moreno García, S.  2 30. 93 So Helck, S.  18. 94 Van de Mieroop, S.  180.

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2. Kapitel: Ägypten

Amtsinhaber nur wenig bekannt.95 In Übergangsperioden kam es vor, dass beide Ämter durch eine Person ausgeübt wurden.96 Der Wesir war der Mittelsmann zwischen dem König und den anderen Amtsträgern.97 Die schon erwähnte »Dienstvorschrift für den Wesir«98 ist die einzige bekannte Beschreibung seiner Funktionen.99 Sie macht deutlich, dass alle Kommunikation innerhalb des Palasts und zwischen dem Palast und den anderen Amtsträgern über ihn abgewickelt werden musste.100 Es gab ein Büro des Wesirs, das vermutlich die Institution »großes Gefängnis« umfasste, die gleichzeitig Aufgaben des zentralen Archivs und der Überwachung der anderen Abteilungen der zentralen Verwaltung übernahm.101 Die Dienstvorschrift nennt sehr viele, aber nicht alle Aufgaben des Wesirs.102 Einige haben es so zugespitzt, dass er eigentlich für alles verantwortlich war.103 Deshalb kann man sich fragen, wie sie von einer Person erfüllt werden konnten. Eine Erklärung ist darin zu finden, dass der Wesir in erster Linie die Aufsicht über andere Amtsinhaber führte.104 Er leitete zwar die Wirtschaftsverwaltung sowie die allgemeine Landesverwaltung und war gleichzeitig der oberste Richter.105 Seine Rolle bestand aber hauptsächlich darin, nachträgliche Kontrollen vorzunehmen, während die einzelnen Teile der Verwaltung relativ unabhängig handelten.106 Insbesondere übernahm er die Untersuchung von Verfehlungen anderer Amtsträger sowohl auf der zentralen als auch auf der lokalen Ebene im Sinne einer obersten Disziplinargewalt.107 Auch in der Außenpolitik waren Wesire engagiert. So hatte etwa der Wesir Paser einen wesentlichen Anteil am Friedensvertrag mit den Hethitern.108 Teilweise bestand sogar eine Personal­ 95

James, S.  55. in Gundlach/Klug, S.  296 f. 97 Raedler, in Gundlach/Klug, S.   284; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  71; Papazian, in Moreno García, S.  46. 98 Siehe oben S.  26. 99 Martin-Pardey, in Bard, S.  130. 100 Van den Boorn, S.  310–315. 101 Dazu van den Boorn, S.  126 u. 325. 102 James, S.  70. 103 Finer, S.  191; Wilkinson, S.  93; s. a. James, S.  6 4: »umfassende Verantwortung«. 104 Leprohon, in Sasson, S.   284; Quirke, Titles, S.  18: »the role of the vizier is not to control so much as to double-check«. 105 Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  71. 106 So van den Boorn, S.  318; ebenso Eyre, S.  7 7. 107 Van den Boorn, S.  315–317; Grandet, in Moreno García, S.  879, der auch von »supreme administrative judge« spricht (S.  861). 108 Raedler, in Gundlach/Klug, S.  347. 96 Raedler,

II. Herrschaftsorganisation

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union mit dem Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte.109 Im Kern war es aber ein ziviles Amt mit der Oberaufsicht über die gesamte innere Verwaltung des Landes. Welche weiteren Ämter der höchsten Verwaltungsebene zuzuordnen sind, ist nicht eindeutig zu klären. Eine Untersuchung nennt für das Alte Reich neben dem Wesir fünf weitere höchste Titel, ohne aber eine klare Abgrenzung vorzunehmen.110 Aus dem Mittleren Reich sind Listen von Amtsträgern überliefert, die im Rang unmittelbar unter dem Wesir standen.111 Danach können anhand von vier Rangtiteln zehn weitere Ämter der obersten Ebene zugeordnet werden.112 Ihre Funktionen sind aber oft unklar.113 Für das Neue Reich werden neben den beiden Wesiren fünf Ämter der zivilen Verwaltung genannt.114 Zur Abgrenzung der höchsten Ränge wird auch herangezogen, dass die Leiter der wichtigsten Abteilungen den Titel »Schreiber des Königs« erhielten.115 Die folgende Aufstellung beschränkt sich auf einige Ämter, die in der Literatur für das Neue Reich genannt werden. Eine hervorgehobene Rolle spielte insbesondere der Vorsteher116 der Schatzkammer (jmj-r htmt bzw. jmj-r pr-hd). Dieses Amt ist ab der 11. . Dynastie nachgewiesen. Es umfasste die Verwaltung der persönlichen Schatzkammer des Königs und des gesamten Palastes.117 Außerdem organisierte dieses Amt die Beschaffung von Rohstoffen für den Palast und für Bauprojekte.118 Im Neuen Reich gab es vermutlich zwei Vorsteher, je einen für Ober- und Unterägypten.119 Ihre Bedeutung zeigt sich darin, dass sie nach der »Dienstvorschrift« an einer täglichen Besprechung mit dem Wesir teilnahmen.120 Daraus wird sogar geschlossen, dass beide den gleichen Rang einnahmen.121

109

Raedler, in Gundlach/Klug, S.  291. Strudwick, S.  176–299. 111 Dazu Quirke, Administration, S.  61–65. 112 Ausführlich Grajetzki, Beamten, S.  43–184. 113 Grajetzki, in Moreno García, S.  2 36. 114 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  208. 115 Redford, in Bard, S.  62. 116 In englischen Texten regelmäßig als »overseer« übersetzt. 117 Helck, S.  7 7–88; Quirke, Titles, S.  48 f.; Grajetzki, in Moreno García, S.  2 39. 118 Grajetzki, Court Officials, S.  45. 119 Leprohon, in Sasson, S.  284. 120 Van den Boorn, S.  61 f.; Quirke, Titles, S.  49. 121 Van den Boorn, S.  72: »more or less peers«; Grajetzki, Beamten, S.  41, bezeichnet es als zweithöchstes Staatsamt. 110

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2. Kapitel: Ägypten

Es gab zwei Vorsteher des Getreidespeichers, die für die Sammlung und Verteilung von Getreide zuständig waren.122 Dieses Amt wurde zur Zeit der Herrschaft von Thutmose III., einem König der frühen 18. Dynastie, zu den drei höchsten Ämtern gezählt.123 Der Oberdomänenverwalter (mr pr wr), der ebenfalls zu den obersten Amtsträgern gezählt wird,124 war der Leiter des gesamten Eigenbesitzes des Königs.125 Der königliche Mundschenk war nicht nur am Hof tätig, sondern auch als Botschafter und Begleiter des Königs bei militärischen Expeditionen.126 Der erste Sprecher der Wache fungierte als Mittler zwischen König und Außenwelt, u. a. durch die Entgegennahme von Abgaben, hatte aber auch richterliche Aufgaben.127 Schließlich wird der königliche Briefschreiber, der für die königliche Korrespondenz zuständig war, als hoher Amtsträger eingeordnet.128 Zu den hochrangigen Ämtern zählte auch die Leitung der Armee.129 Seit dem Mittleren Reich war der höchste militärische Titel der Große Vorsteher der Truppen (jmj-r ms wr).130 Dieses Amt wird oft im Zusammenhang mit militärischen Aktivitäten genannt.131 Wiederholt wird es aber auch im Zusammenhang mit Bauarbeiten erwähnt.132 Im Neuen Reich wurde die Armee im Zusammenhang mit der aggressiveren Außenpolitik ausgebaut und zentralisiert.133 Anführer der Truppen war an sich der König selbst, Oberbefehlshaber de facto aber meist der Kronprinz.134 Uneinheitlich sind die Ansichten über die Frage, wer für die Berufung der Amtsträger zuständig war. Auf einigen Monumenten findet sich die Aussage, wonach alle Amtsträger durch den König berufen wurden.135 Dabei habe er sich mit dem Thronrat beraten.136 Aus der »Dienstvorschrift« wird dagegen geschlossen, dass die Berufung der höheren Amtsträger 122

Bryan, in Cline/O’Connor, S.  81. Bryan, in Cline/O’Connor, S.  70, 77. 124 Quirke, Titles, S.  61. 125 Helck, S.   103 f.; Bryan, in Cline/O’Connor, S.  93; zweifelnd Grajetzki, Beamten, S.  113. 126 Bryan, in Cline/O’Connor, S.  95. 127 Helck, S.  67 f. 128 Helck, S.  277 f.; Quirke, Titles, S.  42–45; Grajetzki, in Moreno García, S.  2 35. 129 Gnirs, in Moreno García, S.  6 63. 130 Quirke, Titles, S.  97 f.; Haring, in Lloyd, S.  2 27; Grajetzki, in Moreno García, S.  256 f. 131 Nachweise bei Grajetzki, Court Officials, S.  102–106. 132 Grajetzki, Beamten, S.  128. 133 Gnirs, in Moreno García, S.  6 40 f. 134 Warburton, in Redford, Bd.  2 , S.  578; Gnirs, in Moreno García, S.  6 42. 135 Warburton, in Redford, Bd.  2 , S.  576; Van de Mieroop, S.  2 27 f.; Vernus, in Moreno García, S.  318. 136 Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  70. 123

II. Herrschaftsorganisation

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durch den Wesir erfolgte.137 Dieser führte auch die Personalakten in seinem Archiv.138 Da es zu den wesentlichen Aufgaben des Wesirs gehörte, die Entscheidungen des Königs bekanntzugeben, handelt es sich möglicherweise nicht um einen Gegensatz, weil die Personalentscheidungen des Wesirs dem König zugerechnet wurden. Aus dem Dekret des Haremhab geht hervor, dass Amtsträger vom König entfernt werden konnten, um sie durch loyale Personen zu ersetzen.139 Voraussetzung für die Übernahme eines hohen Amtes war grundsätzlich die Schreiberausbildung.140 Allerdings gehen die Auffassungen darüber auseinander, welche Faktoren für die Karriere eines Amtsträgers ausschlaggebend waren. Nach einer Einschätzung waren familiäre Beziehungen und die Gunst des Königs wichtiger als persönliche Verdienste.141 Eine andere Stimme erkennt dagegen ein meritokratisches System, in dem Erfolge in verschiedenen Ämtern honoriert wurden.142 Eine gewisse Offenheit bei der Rekrutierung kann man darin sehen, dass zur Zeit von Ramses II. auch Personen mit vorderasiatischer familiärer Herkunft als Wesire berufen wurden.143 Die Amtsträger des Königs erhielten als Vergütung Land, Arbeiter und Häuser.144 Meistens war ihr Einkommen aus staatlichen Quellen größer als ihr privates Vermögen, so dass man sie nicht einem »Landadel« zurechnen kann.145 c) Weitere Amtsträger Im Mittleren Reich finden sich mehr und mehr Erwähnungen auch von unteren Amtsträgern, »ihre Zahl ist Legion«.146 Aus den verschiedenen Rangtiteln wird auf eine generell hierarchische Ordnung geschlossen.147 137

Van den Boorn, S.  211; Jasnow, in Westbrook, S.  270; Grandet, in Moreno García, S.  879, spricht sogar von »all officials«. 138 Grandet, in Moreno García, S.  879. 139 Gnirs, SAK 1989, S.   95; so auch O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  209. 140 Finer, S.  159; Grandet, in Moreno García, S.  864. 141 Moreno García, S.  75. 142 So Radner, in Gehrke, S.  284. 143 Raedler, in Gundlach/Klug, S.  398. 144 Van den Boorn, S.  322; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  73; Moreno García, S.  5 4. 145 Moreno García, S.  85. 146 Erman/Ranke, S.   108. 147 Erman/Ranke, S.  100: »Die Hierarchie des Beamtentums ist auf das feinste ausgebildet.«; heute z. B. Helck/Otto, S.  166; Warburton, in Redford, Bd.  2, S.  578; Van de Mieroop, S.  65.

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2. Kapitel: Ägypten

Strittig ist, ob man aus dem Titel »Vorsteher« (jmj-r) ableiten kann, dass er eine Leitungsfunktion in einer Linienstruktur innehatte.148 Einzelheiten über die Aufgaben der untergeordneten Amtsträger sind jedoch kaum bekannt.149 Eine zentrale Funktion auf allen Ebenen der Verwaltung hatten zweifellos die Schreiber.150 Ihre Zahl wird auf ein bis zwei Prozent der Bevölkerung geschätzt.151 Sie waren bei jedem Teil der Verwaltung, bei jedem Vorsteher der Verwaltungszweige und beim Herrscher selbst tätig.152 Ihre Rolle war allerdings nicht einheitlich. Der Schreiber des Wesirs war etwa nicht nur sein Sekretär, sondern auch sein Vertreter, z. B. bei Kontrollaufgaben.153 Allerdings war nicht jeder Schreiber auch ein Amtsträger.154 Die Schreiberausbildung war ein Mittel für den sozialen Aufstieg.155 Junge Schreiber wurden höheren Amtsträgern zur Ausbildung zugewiesen.156 Im Neuen Reich gab es vermutlich viele Schulen, die der Staatsverwaltung, den Provinzen und den Tempeln zugeordnet waren.157 Über die gelehrten Inhalte und die Abschlussprüfung ist wenig bekannt.158 Erhalten sind v. a. Texte mit Schreibproben bzw. Mustertexte.159

2. Territoriale Herrschaft Die territoriale Struktur Ägyptens war über die Zeiten nicht einheitlich.160 In vielen, aber nicht in allen Perioden bestand eine getrennte Verwaltung in Ober- und Unterägypten.161 Zwischen diesen beiden Landesteilen gab es große politische und administrative Unterschiede.162 Neben dieser zentra-

148

Ablehnend Eyre, S.  80. Warburton, in Redford, Bd.  2, S.  577. 150 Eyre, S.  9 –11; Quirke, Titles, S.  15, plädiert für die Übersetzung »secretary«. 151 Moreno García, in Moreno García, S.  12. 152 Erman/Ranke, S.  126 f. 153 Helck, S.  5 4 f.; Quirke, Titles, S.  88; Grajetzki, in Moreno García, S.  2 32. 154 Grandet, in Moreno García, S.  864. 155 James, S.  147. 156 Erman/Ranke, S.   128. 157 James, S.  147 f. 158 Grandet, in Moreno García, S.  864. 159 James, S.  147–159. 160 Moreno García, in Moreno García, S.  14; dagegen betont Leprohon, in Sasson, S.  286, die Kontinuität. 161 Überblick bei Helck, S.  10–16. 162 Moreno García, S.  67. 149

II. Herrschaftsorganisation

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len Ebene bestand eine regionale Ebene,163 die lange Zeit wichtiger war als die Städte.164 Dagegen war die lokale Verwaltung nur rudimentär ausgebildet. Ab dem Mittleren Reich kamen zudem eroberte Gebiete mit einer Sonderstellung hinzu. a) Tributpflichtige Staaten Die eroberten Gebiete außerhalb Ägyptens wurden nicht in die reguläre Organisation des Reiches integriert, sondern hatten immer einen Sonderstatus. Schon während des Alten Reichs gab es eine sporadische ägyptische Präsenz in Nubien.165 Im Mittleren Reich wurde Nubien durch einen Vizekönig verwaltet, der direkt dem König unterstellt war.166 Nach einer Phase der Unabhängigkeit wurde Nubien im Neuen Reich erneut besetzt und unterstand dem Vizekönig von Kusch, der meistens aus den Reihen des ägyptischen Militärs stammte.167 Vermutlich existierte im oberen Nubien eine separat verwaltete Grenzregion. Wahrscheinlich gab es in beiden Gebieten einerseits ägyptische Siedlungen, die von Kolonisten angelegt wurden,168 und andererseits Bereiche, die ihre einheimischen Herrscher behielten und eine gewisse Autonomie genossen.169 Ihre Führungsschicht übernahm Elemente der ägyptischen Kultur und Religion. Ab der Herrschaft von Thutmosis I. und später unter Ramses II. erfolgte die militärische Besetzung und Annexion von Palästina.170 Das Neue Reich beschränkte sich in diesen levantinischen Gebieten jedoch auf eine indirekte Herrschaft und mischte sich wenig in die lokalen politischen Strukturen ein.171 Die Herrscher der Stadtstaaten mussten einen Treueeid schwören und einen jährlichen Tribut zahlen.172 Sie wurden vor Ort durch Gouverneure, Gesandte und teilweise auch militärische Garnisonen kont-

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Grandet, in Moreno García, S.  863. Moreno García, S.  198 f. 165 Morkot, in Alcock/D’Altroy/Morrison/Sinopoli, S.  2 32. 166 Martin-Pardey, in Bard, S.  132; Warburton, in Redford, Bd.  2 , S.  579. 167 Kemp, in Garnsey/Whittaker, S.  29 f.; Cruz-Uribe, in Silverman, S.  4 6; Leprohon, in Sasson, S.  283; Gnirs, in Moreno García, S.  676–686. 168 Breuer, S.  110 f. 169 Morkot, in Alcock/D’Altroy/Morrison/Sinopoli, S.  2 35 f.; Smith, in Redford, Bd.  2 , S.  156; Van de Mieroop, S.  162–164; Radner, in Gehrke, S.  345. 170 Van de Mieroop, S.  2 23. 171 Van de Mieroop, S.  166; Gnirs, in Moreno García, S.  690; Düring, in Düring, S.  303. 172 Kemp, in Garnsey/Whittaker, S.   45–47; Van de Mieroop, S.  189; Moreno García, S.  52 f. 164

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2. Kapitel: Ägypten

rolliert.173 Anders als in Nubien gab es aber keine Tempelbauten und keine Kolonisierung durch ägyptische Siedler.174 b) Provinzen Die ursprüngliche Grundeinheit der territorialen Verwaltung Ägyptens waren die Provinzen175 (sp3t). Für ihre Bezeichnung werden in der Literatur auch die Begriffe »Verwaltungsbezirke«,176 der griechische Begriff nomoi und im deutschsprachigen Bereich das eigentümlich germanisierende Wort »Gaue«177 verwendet. Sie bestanden wohl schon seit der frühdynastischen Zeit.178 Jedenfalls sind sie unter König Djoser, also etwa im Jahr 2650, nachweisbar.179 Zunächst gab es 42 Provinzen,180 jedoch veränderten sich ihre Anzahl und ihre Grenzen, v. a. im Nildelta.181 Im 19. Jahrhundert wurden sie unter Sesostris III. zumindest vorübergehend aufgelöst und durch die drei Einheiten Ober-, Mittel- und Unterägypten ersetzt.182 Die regionalen Amtsträger wechselten in der Folge dieser Reform zum Hof.183 Seit dem späten Mittleren Reich wurden die Provinzen möglicherweise abgelöst durch »Stadtbezirke«.184 Diese bestanden jeweils aus einer Stadt und ihrer Umgebung. Jedenfalls nördlich von Theben stimmten sie aber weitgehend mit den alten Provinzeinteilungen überein.185 In Oberägypten gab es dagegen im 15. Jahrhundert etwa 80 Städte (dmj). Insgesamt weiß man wenig über die Organisation der regionalen Ebene im Neuen Reich.186 Die Leitung einer Provinz oblag den Statthaltern (hrj-tp).187 In der Literatur findet sich auch die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung 173

Smith, in Redford, Bd.  2, S.  157; Freeman, S.  67. Kemp, in Garnsey/Whittaker, S.  49 f. 175 So auch die Übersetzung bei Grandet, in Moreno García, S.  886; krit. Eyre, S.  358 f., wonach es sich nur um eine geografische Einteilung, aber nicht um eine Verwaltungsstruktur handelte. 176 Wilkinson, S.  82. 177 Begriff schon bei Erman/Ranke, S.  92. 178 So Van de Mieroop, S.  41; Papazian, in Moreno García, S.  42. 179 Helck, S.  194; Bommas, S.  17. 180 Wilkinson, S.  82; Grandet, in Moreno García, S.  886. 181 Erman/Ranke, S.  93. 182 Leprohon, in Sasson, S.  282; Radner, in Gehrke, S.  317. 183 Van de Mieroop, S.  107. 184 So die Kapitelüberschrift bei Helck, S.  194; Hassan, in Redford, Bd.  1, S.  271, übersetzt »Bezirk«. 185 Helck, S.  2 20; auch Pardey, in Redford, Bd.  1, S.  19, betont die Kontinuität. 186 Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  317; Eyre, S.  15. 187 Überblick über alle zu Beginn des Mittleren Reichs verwendeten Titel bei Favry, S.  87–117. 174

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als »Nomarch«188 und im Deutschen die Übersetzung als »Gaufürst«.189 Dieses Amt war vermutlich von der 6. bis zur 12. Dynastie, also bis in die Anfänge des Mittleren Reichs, erblich.190 Die Amtsinhaber kamen überwiegend aus der jeweiligen Provinz.191 In der 16. Provinz Oberägyptens regierte eine Familie fast hundert Jahre.192 Allerdings erfolgte ihre Ernennung durch den König.193 Das Amt ist allerdings nicht in allen Regionen nachgewiesen, z. B. nicht in der Oase Dakhla und in Teilen Ober- und Mittelägyptens.194 Dieser Titel als Bezeichnung eines staatlichen Amtes verschwindet am Ende der 12. Dynastie.195 Für die Leiter der Verwaltung in den späteren Stadtbezirken (h3tj-ˤ) wird meist die Übersetzung als »Bürgermeister« verwendet.196 Daneben findet sich aber auch die Übersetzung als »governor«.197 Es wird allerdings auch vertreten, dass es sich dabei um einen eigenen Titel handelte, der nur für die Städte galt und mit einem niedrigeren Rang als dem des Statthalters verbunden war.198 Dieses Amt war im Neuen Reich anders als unter der 17. Dynastie nicht mehr erblich.199 Aufgaben der Statthalter waren juristische Belange, die Förderung der Landwirtschaft, die Beaufsichtigung der Aushebung für Dienstpflichten und die Durchführung öffentlicher Arbeiten, später zusätzlich die Verwaltung der lokalen Tempel.200 Es gibt auch Belege dafür, dass sich Statthalter an militärischen Aktionen der Könige beteiligten.201 Ihnen stand eine eigene Verwaltung zur Seite, die ein verkleinertes Abbild der Staatsverwaltung darstellte.202 188

Z.B. Leprohon, in Sasson, S.  281; Willems, in Moreno García, S.  341. Begriff z. B. bei Helck, S.  199; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  68. 190 Radner, in Gehrke, S.  285; Einzelanalysen bei Favry, S.  301–316. 191 Willems, in Moreno García, S.  354. 192 Van de Mieroop, S.  103. 193 Leprohon, in Sasson, S.  281; Willems, in Moreno García, S.  355; Beispiele bei Favry, S.  316–323. 194 Willems, in Moreno García, S.  381 f. 195 Willems, in Moreno García, S.  390–392. 196 Helck, S.   220; ebenso Quirke, Titles, S.  111, Warburton, in Redford, Bd.  2, S.  582, Bryan, in Cline/O’Connor, S.  99, Haring, in Lloyd, S.  225, und Van de Mieroop, S.  180, die jeweils für das Neue Reich die Übersetzung »mayor« verwenden. 197 Grandet, in Moreno García, S.  886; Moreno García, S.  2 3. 198 So van den Boorn, S.  328, und mit ausführlicher Begründung Willems, in Moreno García, S.  373–381. 199 Van den Boorn, S.  354. 200 Gestermann, S.  156; s. a. die Zusammenstellung bei Favry, S.  2 36–298. 201 Favry, S.  337. 202 Erman/Ranke, S.  105; Grajetzki, Court Officials, S.  112 f. 189

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2. Kapitel: Ägypten

Auf der Ebene der Bezirke203 gab es jeweils einen Rat 204 (qnbt), der judikative und administrative Aufgaben wahrnahm.205 Er war einerseits für die Rechtsprechung in Eigentumssachen und für Kleinkriminalität zuständig, 206 andererseits aber auch für notarielle Aufgaben 207 wie die Registrierung von Grundstückstransaktionen 208 sowie Heiraten und Scheidungen.209 Die Mitglieder der Räte stammten aus dem Kreis der örtlichen Honoratioren, wie z. B. Priester und Verwaltungsbeamte.210 In dem gut dokumentierten Ort Deir el-Medina hatte er 8 bis 14 Mitglieder, z. B. Vorarbeiter und Schreiber, die vermutlich nicht in einer festen, sondern in einer täglich wechselnden Zusammensetzung zusammentraten.211 Wie sie berufen wurden, ist unklar.212 Daneben gab es schon seit dem Alten Reich einen weiteren lokalen Rat (d3d3t) mit administrativen und judikativen Aufgaben 213. Er hatte im Mittleren Reich vermutlich judikative Aufgaben, 214 während es sich im Neuen Reich um eine Einrichtung der Verwaltung handelte.215 Er bestand aus verschiedenen örtlichen Amtsträgern.216 Die Provinzen bzw. Bezirke besaßen keine Autonomie, sondern waren nur administrative Einheiten, die der zentralen Regierung untergeordnet waren.217 Nicht nur die Statthalter, sondern auch die Räte standen unter der Kontrolle des Wesirs.218 Zu diesem Zweck gab es in allen Städten Herolde, die als Verbindungsleute für das Büro des Wesirs fungierten, von dem sie Nachrichten und Anweisungen erhielten.219 Insbesondere bestand eine Re203

Haring, in Lloyd, S.  226. Helck, S.  240, und Allam, in Manthe, S.  26, übersetzen »Kollegium«; Martin/Snell, in Snell, S.  401, übersetzen »assembly«; dagegen übersetzt Lurje, S.  36, mit »Gericht«, räumt aber auf S.  51 ein, dass das Gremium auch administrative Aufgaben hatte. 205 Redford, in Bard, S.  62; Allam, in Manthe, S.  37; Jin, S.  36; Moreno García, S.  100. 206 Finer, S.  189; Allam, in Manthe, S.  26. 207 Kruchten, in Redford, Bd.  2 , S.  280 f. 208 Grandet, in Moreno García, S.  860. 209 Allam, in Manthe, S.  29; Haring, in Lloyd, S.  2 34. 210 Helck, S.  2 39; Lippert, S.  78. 211 Seidl, S.  32; Allam, in Manthe, S.  27; Jasnow, in Westbrook, S.  303. 212 Lippert, S.  78; Moreno García, S.  2 3 213 Van den Boorn, S.   327: »council«; Philip-Stéphan, S.  20: »conseil de notabeles«; Grandet, in Moreno García, S.  886, übersetzt »government council«. 214 Lippert, S.  4 4. 215 So Lippert, S.  7 7. 216 Grandet, in Moreno García, S.  886 f. 217 Finer, S.  133. 218 Allam, in Manthe, S.  37; Bryan, in Cline/O’Connor, S.  9 9. 219 Van den Boorn, S.  319; Jasnow, in Westbrook, S.  261 f. 204

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chenschaftspflicht durch Berichte, die alle vier Monate gegenüber dem Wesir geliefert werden mussten.220 Außerdem erfolgte eine Kontrolle der Abgabenverwaltung vor Ort durch Repräsentanten des Schatzamtes.221 König Thutmose III. führte selbst eine jährliche Rundreise durch das ganze Land durch, um die regionalen Verwaltungen zu inspizieren, doch wurde diese Praxis nicht von allen seinen Nachfolgern fortgeführt.222 Allerdings spricht einiges dafür, dass sich die zentralen Instanzen in der Regel nicht in örtliche Angelegenheiten eingemischt haben.223 Schon aufgrund der verfügbaren Kommunikationsmittel wäre eine zentrale Lenkung der lokalen Verwaltung gar nicht möglich gewesen.224 Die übergeordneten Stellen beschränkten sich vielmehr auf eine nachträgliche Kontrolle und griffen nur ein, wenn Missstände bekannt wurden. c) Lokale Verwaltung Eine lokale Verwaltungsebene war in Ägypten nur schwach ausgebildet. Ob zwischen den Städten und den Dörfern unterschieden wurde, ist unklar. Es gab im gesamten Reich keine Großstädte, die ein eigenes politisches Gewicht hätten gewinnen können. Die größten Städte hatten maximal 40.000 Einwohner, Provinzhauptstädte nicht mehr als 3.000.225 Im Neuen Reich waren die Städte jeweils Zentrum eines »Landbezirks« (w).226 Dieser unterstand einem Bezirksaufseher (jmj-r-w). Daneben gab es die Ebene der Dörfer. Vereinzelt werden Ortsvorsteher bzw. Dorfschulzen erwähnt,227 doch fehlen nähere Informationen über ihre Stellung.228 Möglicherweise waren sie keine Amtsträger, sondern nur wirtschaftlich dominante Einwohner.229 Örtliche Schreiber gab es erst in der ptolemäischen Zeit.230 Auf der örtlichen Ebene spielten zudem die Tempel eine zunehmend wichtige Rolle. Sie übernahmen ökonomische und administrative Funkti220

Van den Boorn, S.  319; Grandet, in Moreno García, S.  862. Leprohon, in Sasson, S.  281; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  69. 222 Redford, in Bard, S.  63. 223 Leprohon, in Sasson, S.  285. 224 Van den Boorn, S.  319 f. 225 Hassan, in Redford, Bd.  1, S.  271. 226 Helck, S.  2 26; Katary, in Moreno García, S.  732. 227 Helck, S.  2 38 f. 228 Moreno García, S.  130. 229 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  214; Kóthay, in Moreno García, S.  488 f. 230 Eyre, S.  194. 221

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2. Kapitel: Ägypten

onen 231 und ergänzten damit die königliche Verwaltung.232 Sie wurden von Priestern geleitet, 233 die aus den lokalen Eliten stammten.234 Eine Aufsicht erfolgte durch den jeweiligen Statthalter bzw. Bürgermeister.235

III. Verwaltungsfunktionen 1. Bestandsaufgaben a) Öffentliche Finanzen Leider sind nur wenige verstreute Dokumente über die Besteuerung erhalten, für die es damals keine einheitliche Begrifflichkeit gab. Das Regime unterlag zudem über die Zeit einigen Veränderungen.236 Zu Beginn des 2. Jahrtausends erfolgte eine Neuorganisation des Steuersystems durch den Aufseher des Schatzamtes gemeinsam mit den Amtsträgern in den Provinzen.237 Die Einnahmequellen des Staates bestanden im Wesentlichen aus drei Elementen: aus den landwirtschaftlichen Produkten von Domänen, aus den für staatliche Aufgaben eingesetzten Arbeitsdiensten, deren Umfang unklar ist, 238 und aus den Steuern auf mobile Waren, z. B. Edelmetalle.239 Daneben waren Zölle eine wichtige Einnahmeart.240 Hinzu kamen die jährlichen Tribute der beherrschten Gebiete in Westasien und Nubien.241 Die Naturalsteuern in Getreide wurden v. a. dem Land von institutionellen Eigentümern wie der Krone, den Tempeln oder hohen Amtsträgern auferlegt.242 Dagegen war die Besteuerung von Land in Privateigentum relativ gering.243 Alle Abgaben erfolgten in Naturalien. 231

Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  317: »agents of the state«; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  70; Moreno García, S.  78–82. 232 Moreno García, S.  117. 233 Helck, S.  133. 234 Moreno García, S.  32, näher auf 172–182. 235 Martin-Pardey, in Bard, S.  131; Quirke, Titles, S.  121. 236 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  139 f. 237 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  144. 238 Quirke, Titles, S.  13; Katary, in Moreno García/Wendrich, S.  3; Hinweise zur Praxis bei James, S.  86–92. 239 Moreno García, S.  4 4 f. 240 Moreno García, S.  45 f. 241 Katary, in Moreno García/Wendrich, S.  13. 242 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  145, 150 f. 243 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  147.

III. Verwaltungsfunktionen

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Die Abgaben wurden v. a. durch die örtlichen Amtsträger eingezogen.244 Auch die Tempel erhielten Abgaben, die nicht klar vom staatlichen Steuersystem getrennt werden können.245 Im Neuen Reich erfolgten die Inspektion der Ernte und die Einsammlung des Regierungsanteils durch die »Ma’at-Schreiber«.246 Das Getreide wurde in dezentralen Scheunen gelagert und von einem Zentralbüro verwaltet, das vom »Vorsteher der Scheunen von Ober- und Unterägypten« geleitet wurde.247 Außerdem gab es eine Zentralverwaltung der Rinder unter Leitung eines »Großen Rindervorstehers«.248 Das Schatzhaus, das in beiden Landeshälften bestand und von dem Schatzhausvorsteher geleitet wurde, verwaltete alle Steuern außer Getreide.249 Über die staatlichen Ausgaben ist wenig bekannt. Die staatlichen Speicher lieferten Agrarprodukte zur Vergütung von Dienst- und Arbeitsleistungen.250 Die Ausgaben für das Militär waren bis zur 2. Hälfte des 2. Jahrtausends gering.251 Im Neuen Reich musste allerdings eine stehende Armee finanziert werden. Aus den überlieferten Akten wird geschlossen, dass keine Auszahlung ohne eine schriftliche Dokumentation vorgenommen werden durfte.252 Dennoch gab es auch in Ägypten das Problem der Korruption.253 b) Öffentliches Bauwesen Das ägyptische Reich hat in allen seinen Perioden riesige Bauvorhaben durchgeführt, die einen enormen Personaleinsatz erfordert haben. Die Aufträge zum Bau oder zur Restaurierung von Tempeln oder Monumenten ergingen durch einen königlichen Befehl.254 Solche Bauarbeiten gehörten im Mittleren wie im Neuen Reich nicht in die Zuständigkeit eines bestimmten Ressorts.255 So ist etwa überliefert, dass König Senusret I., der zur 12. Dynastie zählt, verschiedene Amtsträger mit dem Bau von Tempeln 244

Helck, S.  235; Finer, S.  188; Kóthay, in Moreno García, S.  496; Moreno García, S.  42 f. Katary, in Moreno García/Wendrich, S.  10. 246 Eyre, S.  196 f.; Grandet, in Moreno García, S.  882. 247 Helck, S.  152–162. 248 Helck, S.  172 f. 249 Helck, S.  182–191; skeptisch Katary, in Moreno García/Wendrich, S.  7. 250 Moreno García, S.  53. 251 Moreno García, S.  55. 252 Erman/Ranke, S.   127. 253 Moreno García, S.  59 f. 254 Vernus, in Moreno García, S.  320–322. 255 Helck, S.  4 4. 245

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2. Kapitel: Ägypten

beauftragte.256 Teilweise zählte der Bau von Pyramiden und Tempeln auch zu den Aufgaben des Wesirs.257 Außerdem gab es das sehr hohe Amt des »Vorsteher der Arbeit« (jmj-r k3t), der hauptamtlich für die Planung, Organisation und Durchführung der staatlichen Bauvorhaben zuständig war.258 Die künstliche Bewässerung, die aufgrund von Klimaänderungen notwendig wurde, begann in Ägypten spätestens im frühen 19. Jahrhundert.259 Ihre Koordination erfolgte auf örtlicher Ebene. So berichtete etwa ein Statt­halter einer oberägyptischen Provinz in der Ersten Zwischenzeit über seine wasserwirtschaftlichen Maßnahmen.260 Dies hat mit zur Stärkung lokaler Amtsinhaber und möglicherweise auch zum Niedergang des Alten Reichs geführt.261 Dagegen gibt es keine Nachweise für größere Wasserbauten, die von der zentralen Verwaltung durchgeführt wurden.262

2. Ordnungsaufgaben a) Bodenverwaltung In Ägypten war vermutlich fast alles Land in der Hand der Krone oder der Tempel.263 Es ist unklar, ob überhaupt Individualeigentum an Land anerkannt war.264 Allerdings ergibt sich aus vielen Urkunden, dass jedenfalls Privateigentum an Häusern bestand, das auch übertragen werden konnte.265 Im Übrigen konnte der König Land als Belohnung für Amtsträger vergeben.266 Dieses Nutzungsrecht war auch vererblich.267 Es gab schon früh ein Vermessungswesen mit einem Grundstückskataster.268 Für beide Landesteile bestanden Vermessungskommissionen unter Leitung eines Katasterschreibers, um die Grundlagen für die Besteuerung 256

Grajetzki, in Moreno García, S.  227; Moreno García, S.  111 f. Raedler, in Gundlach/Klug, S.  286; Grajetzki, in Moreno García, S.  231. 258 Persönlicher Hinweis von Jan Assmann. 259 Willems, in Moreno García, S.  345. 260 James, S.  121 f. 261 Van de Mieroop, S.  86. 262 Moreno García, S.  53. 263 Finer, S.  195. 264 Quirke, Titles, S.  11; Wesel, S.  95; dafür Jasnow, in Westbrook, S.  276 f.; Lippert, S.  49. 265 Wesel, S.  95. 266 Van den Boorn, S.  322. 267 Katary, in Moreno García, S.  719–725. 268 Herzog, S.  82; Allam, in Manthe, S.  25. 257

III. Verwaltungsfunktionen

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zu erfassen.269 Im Mittleren Reich gab es einen Aufseher der Felder (jmj-r 3hwt), der vermutlich direkt dem Wesir unterstellt und für die Vermessung der Felder verantwortlich war, die nach den Überflutungen durch den Nil immer wieder vorgenommen werden musste.270 Ihm waren die Feldschreiber untergeordnet, die vermutlich selbst die Vermessung durchgeführt haben.271 In der Lehre des Amenemope,272 einem Text über die Tugenden von Amtsträgern, die vermutlich von einem hohen Amtsträger während der 19. Dynastie verfasst wurde, werden sie als »Schreiber der Feldfrucht« bezeichnet (I, 14). Diese werden dort ermahnt, nicht den Grenzstein zu verschieben (VII, 12). Grenzsteine dienten aber wohl eher der Dokumentation von Besitzrechten als der exakten Abgrenzung.273 Es gab mehrere Kataster, die sicherstellen sollten, dass die Besitzverhältnisse am gesamten Grund und Boden eindeutig nachvollzogen werden konnten.274 Auf der örtlichen Ebene gab es Feldregister unter der Kontrolle der Provinzen.275 Sie umfassten sowohl die Domänen der Tempel und des Königs als auch private Grundstücke.276 Aber auch der Wesir hatte ein komplettes Register für das ganze Land.277 Zudem kann man aus einer Inschrift aus dem Neuen Reich schließen, dass in einem Prozess über Grundbesitz auch ein Landregister im Schatzamt und eines im Getreidespeicher der Hauptstadt herangezogen wurden.278 Möglicherweise ist die Verantwortung im Laufe der Zeit von der örtlichen auf die zentrale Ebene übergegangen.279 Für die Dokumentation und Erlaubnis von Eigentumsübertragungen waren in der örtlichen Verwaltung Amtsträger zuständig, die als »Berichterstatter« (whmw) bezeichnet wurden.280 Nicht ganz klar ist, ob daneben auch der Wesir jede Landurkunde siegeln musste,281 oder ob dies nur für besondere Kategorien galt.282 In jedem Fall konnte er bei Streitigkeiten an269

Helck, S.  138 f. Grajetzki, Beamten, S.  139; Grajetzki, in Moreno García, S.  234. 271 Finer, S.  191 f. 272 Übersetzung bei Shirun-Grumach, in Burkard, S.  2 22–250. 273 Eyre, S.  141. 274 Allam, in Manthe, S.  25. 275 Allam, in Allam, S.  35; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  69. 276 Allam, in Allam, S.  37. 277 Grandet, in Moreno García, S.  881; skeptisch Eyre, S.  164 f. 278 Van de Mieroop, S.  2 29; Grandet, in Moreno García, S.  881. 279 So Menu, Bd.  2 , S.  134. 280 Grandet, in Moreno García, S.  886: übersetzt »reporter«. 281 Bryan, in Cline/O’Connor, S.  71. 282 Haring, in Lloyd, S.  2 25. 270

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2. Kapitel: Ägypten

gerufen werden.283 In welcher Form die Übertragung königlichen Landes an Amtsträger erfolgte, ist unbekannt.284 Änderungen der Eigentumsverhältnisse wurden in das Feldregister eingetragen.285 b) Standardisierung Über die Sicherung der Einheitlichkeit der Maße und Gewichte ist wenig bekannt. Es lässt sich aber nachweisen, dass die sog. königliche Elle schon im 2. Jahrtausend als Standardmaß verwendet wurde.286 Es muss wohl in den Verwaltungsbüros und in den Tempeln geeichte Längen-, Hohl- und Gewichtsmaße gegeben haben.287 In der Lehre des Amenemope288 findet sich die Ermahnung, nicht die Gewichte zu verfälschen oder Teile des Scheffelmaßes zu fälschen (XVII, 18 f.). Geldmünzen spielten im hier betrachteten Zeitraum keine Rolle, da sie erst im 1. Jahrtausend eingeführt wurden.289 Als Wertmesser dienten genormte Barren oder Ringe aus Silber und Gold sowie für kleine Werte auch Kupfer.290 Zumindest in den größeren Städten gab es in Silber oder Gold ausgedrückte Preisbestimmungen.291 Es zählte zu den Aufgaben der Tempel, die Qualität des Silbers zu überprüfen.292 c) Öffentliche Sicherheit Es gab in der gesamten antiken Welt keine Institution, die der modernen Polizei entspricht.293 Dennoch wird der Begriff in der Literatur oft verwendet, ohne die Aufgaben näher zu spezifizieren. Deshalb kann man allenfalls nach funktionalen Äquivalenten suchen, die insbesondere in der Strafverfolgung liegen.

283

Grandet, in Moreno García, S.  883. Katary, in Moreno García, S.  726. 285 Allam, in Allam, S.  37 f. 286 Hultsch, S.  349–356. 287 James, S.  266. 288 Siehe oben S.  45. 289 James, S.  260; Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  141. 290 Hultsch, S.  376–379. 291 James, S.  280–284. 292 Moreno García, S.  34. 293 Grajetzki, Court Officials, S.  107. 284

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Der Wesir wird als »Polizeichef« bezeichnet.294 Er war unter anderem für die Sicherheit bei Reisen des Königs verantwortlich.295 In der »Dienstvorschrift für den Wesir« wird ein Amt erwähnt, das mit »Vorsteher der Polizei« übersetzt wird und dem Wesir unterstand.296 Der Vorsteher war für die Sicherheit im Palast verantwortlich.297 Ihm waren die einzelnen »Polizisten« untergeordnet.298 Aus dem Neuen Reich ist außerdem eine Sicherheitstruppe (medjay) überliefert, deren Mitglieder aus der nubischen Wüste stammten.299 Sie nahm in den Städten des Niltals sowie in den Wüstengebieten polizeiliche Aufgaben wahr.300 Allerdings finden sich keine näheren Angaben darüber, welche konkreten Tätigkeiten sie ausgeübt hat. Aus einer Szene auf dem Amarna-Grab wird geschlossen, dass diese Polizei dem Militär untergeordnet war.301 Schließlich kann aus verschiedenen Inschriften geschlossen werden, dass die Aufrechterhaltung der Sicherheit auch zu den Aufgaben der Statthalter zählte.302 d) Lebensmittelversorgung Die Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wurde in Ägypten grundsätzlich nicht als staatliche Aufgabe angesehen.303 Durch die Unstetigkeit der Nilhochwasser war die Landwirtschaft jedoch krisenanfällig. Sofern es einen Ernte-Überschuss gab, wurde dieser deshalb in staatlichen Speichern aufbewahrt, um für Dürrezeiten gerüstet zu sein.304 Verschiedene Inschriften belegen, dass sich Statthalter für die Versorgung ihrer Provinz mit Nahrungsmitteln verantwortlich fühlten.305

294

Raedler, in Gundlach/Klug, S.  284; ähnlich Jasnow, in Westbrook, S.  301: »the vizier supervised the police«. 295 Van den Boorn, S.  314. 296 Van den Boorn, S.  250; Grajetzki, Court Officials, S.  107 f. 297 Van den Boorn, S.  324. 298 Van den Boorn, S.  312. 299 Williams, in Bard, S.  584 f.; Moreno García, S.  123 f. 300 Jasnow, in Westbrook, S.  302; Van de Mieroop, S.  116. 301 Gnirs, in Moreno García, S.  6 63. 302 Favry, S.  354 f. 303 Moreno García, S.  53. 304 Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  315. 305 Favry, S.  355–359.

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2. Kapitel: Ägypten

IV. Rechtlicher Rahmen 1. Die Rechtsetzung Eine Rekonstruktion der ägyptischen Rechtsordnung aus den bekannten Quellen bereitet immense Schwierigkeiten.306 Es gab noch nicht einmal ein allgemeines Wort für »Recht«, sondern nur für einzelne Rechtssätze (hp, im Plural hpw).307 Schwierig ist schon die Abgrenzung zwischen rechtlichen und gesellschaftlichen Normen, die Gegenstand der sog. Weisheitsliteratur sind. Es ist vorgeschlagen worden, die Unterscheidung danach vorzunehmen, ob eine Sanktion für Verstöße vorgesehen ist.308 Diese Lösung ist aber problematisch, denn auch die Rechtssätze hatten den Zweck, das übergeordnete Gerechtigkeitsprinzip Ma’at (m3t) zu realisieren.309 Es handelt sich dabei um einen Oberbegriff aller sozialen Verpflichtungen, der nach heutigem Verständnis Religion, Philosophie und Staatslehre verbunden hat.310 Dieser Begriff, dem auch eine mythologische Personifizierung in einer Göttin entspricht,311 findet sich auf einer Vielzahl von Inschriften.312 Er bezeichnet die kosmische wie die soziale Ordnung, aber auch Wahrheit und Gerechtigkeit und umfasst damit das Recht.313 Zwar findet man immer wieder die Aussage, dass der König die gesetzgebende Gewalt ausübte.314 Es gibt jedoch nur sehr wenige Belege dafür, dass Könige allgemeine Rechtssätze verkündeten.315 Allgemeine, unpersönliche Rechtsnormen sind bis heute so gut wie unbekannt.316 Insbesondere ist auch, anders als in Mesopotamien, kein Kodex im Sinne einer Sammlung von Rechtssätzen überliefert.317 Der hellenistische Geschichtsschreiber Diodor nennt verschiedene Beispiele für Gesetze, die einzelnen 306

Selb, S.  117. Lorton, VA 1986, S.  53; differenzierend Kruchten, in Redford, Bd.  2, S.  277 f.; Lippert, S.  9, übersetzt ohne weiteres mit »Gesetz«. 308 Assmann, in Gehrke, S.  70; anders Jin, S.  89–94. 309 Assmann, MA’AT, S.   152: »Einheit von Weisheit, Moral und Recht«; Menu, Bd.  2, S.  7: »le concept de Maât cristallise ce droit qui repose sur l’équité«. 310 Ausführlich Assmann, MA’AT, passim. 311 Dazu van Blerk, S.  3 –6. 312 Zusammenstellung bei Lichtheim, S.  9 –101. 313 Allam, in Manthe, S.  21; van Blerk, S.  1–3; Lippert, S.  2–4. 314 Théodoridès, in Harris, S.   294; Assmann, Herrschaft und Heil, S.  33; Allam, in Manthe, S.  22; Grandet, in Moreno García, S.  858. 315 Lorton, VA 1986, S.  56; Grandet, in Moreno García, S.  858. 316 Seidl, S.  20; Moreno García, S.  114. 317 Théodoridès, in Harris, S.  291; Kruchten, in Redford, Bd.  2 , S.  279; Jasnow, in Westbrook, S.  255; Allam, in Manthe, S.  19. 307

IV. Rechtlicher Rahmen

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Königen zugeschrieben werden.318 Im Bereich des Zivilrechts sind einige wenige Beispiele für Regelungen bezeugt.319 In einem Papyrus aus dem späten Mittleren Reich werden Gesetze über Deserteure aus dem Arbeitsdienst erwähnt, deren Inhalt allerdings nicht überliefert ist.320 Daraus ist die radikale Schlussfolgerung gezogen worden, dass das Recht nur eine geringe Bedeutung bei der Regulierung der menschlichen Beziehungen hatte, weil die Legitimation und Autorität der Herrschaft letztlich von den Göttern abgeleitet wurde.321 In Gerichtsprotokollen wird dementsprechend oft auf die Gebote der Ma’at Bezug genommen.322 Dennoch muss es aber gewisse Regeln gegeben haben, nach denen Prozesse entschieden wurden. Deshalb spricht viel dafür, dass das mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht eine große Rolle spielte.323 Es finden sich auch Hinweise auf Präzedenzfälle, die in späteren Gerichtsverfahren herangezogen wurden.324 Ein wichtige Regelungsform waren die königlichen Anweisungen (tprd). Sowohl die »Dienstordnung des Wesirs« als auch die »Einsetzung des Wesirs« werden mit diesem Begriff bezeichnet. Die weitere Form der verbindlichen Anordnung bildeten die Dekrete bzw. Edikte der Könige (wd-nsw). Diese Rechtssätze leiteten ihre Legitimation aus dem göttlichen Willen ab, der vom König ausgesprochen wurde.325 Sie dienten in der Regel dazu, aus aktuellen Anlässen einzugreifen, um die gesellschaftliche Ordnung zu stabilisieren.326 Sie bezogen sich auf solche Probleme, für die es keine gewohnheitsrechtlichen Regeln gab.327 So hat etwa im Neuen Reich König Haremhab aus der 18. Dynastie in einem Dekret Regelungen erlassen und Sanktionen festgesetzt, um Missstände im Bereich der Steuer- und Militärverwaltung zu beseitigen.328 Da er vor seiner Krönung lange Zeit verschiedene Ämter innehatte, kannte er 318

Darauf verweisen Seidl, S.  19, und Lurje, S.  127. Lurje, S.  128; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  65. 320 James, S.  124 f. 321 Moreno García, S.  79. 322 Allam, in Manthe, S.  27. 323 Menu, Bd.   2, S.  18; Démare-Lafont, S.  61; Grajetzki, Court Officials, S.  21; Jin, S.  113 f.; Philip-Stéphan, S.  14; zu vorsichtig Grandet, in Moreno García, S.  858, wonach es die Gesetze ergänzte. 324 James, S.  65; Allam, in Manthe, S.  27 f. 325 Vernus, in Moreno García, S.  262–271. 326 Jin, S.  96; Moreno García, S.  111. 327 Assmann, Herrschaft und Heil, S.  182 f. 328 Erman/Ranke, S.   159; Jasnow, in Westbrook, S.  290; Gnirs, SAK 1989, S.  84–86; kommentierte französische Übersetzung bei Kruchten, S.  17–201. 319

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2. Kapitel: Ägypten

den Reformbedarf, während er sich gleichzeitig durch seine Anordnungen als Beschützer der einfachen Bevölkerung gerierte.329 So ordnete er etwa die Abschaffung des Amtes des »Aufsehers der Affen« an, vermutlich weil er es als unnötigen Luxus betrachtete.330 Teilweise handelte es sich aber um Angelegenheiten von sekundärer Bedeutung.331 Die meisten bekannten Dekrete der Könige betrafen im heutigen Sinne verwaltungsrechtliche Fragen.332 Sie konnten entweder das ganze Land oder einzelne Personen betreffen.333 Sie behandelten etwa die Anordnung von Bauarbeiten,334 die Rechtsstellung von Tempeln bzw. Stiftungen 335 oder die Privilegien von Amtsträgern 336 . Königliche Dekrete hatten also meist nicht eine rechtliche Bedeutung im Sinne grundlegender allgemeiner Regeln.337 Ihre Aufgabe war nicht die Setzung dauerhaften Rechts. Ob man aus einigen wenigen Zeilen des Dekrets des Haremhab weitreichende Folgerungen ziehen kann, wonach Dekrete als Mittel der Rechtssetzung dienten,338 erscheint fraglich. Dies zeigt sich auch daran, dass Regelungen in Dekreten teilweise durch andere Dekrete annulliert oder mit Ausnahmen versehen wurden. Dies führte manchmal zu einem rechtlichen Vakuum und stärkte damit die faktische Autonomie der Amtsträger.339

2. Die Rechtsprechung Jedenfalls vor dem 1. Jahrtausend gab es in Ägypten keine Berufsrichter, sondern die Entscheidung von Prozessen erfolgte durch ad hoc bestimmte Amtsträger aus allen Verwaltungsbereichen, wie Schreibern, Priestern oder hohen Würdenträgern.340 Möglicherweise hatte jeder Amtsträger im 329

Gnirs, SAK 1989, S.  92. Kruchten, S.  208. 331 Kruchten, S.  209. 332 Allam, in Manthe, S.  2 2: »Verwaltungsakte«. 333 Vernus, in Moreno García, S.  315. 334 Vernus, in Moreno García, S.  318. 335 Assmann, in Gehrke, S.  6 4; Finer, S.  192. 336 Vernus, in Moreno García, S.  318. 337 Vernus, in Moreno García, S.  259. 338 So Kruchten, S.  216–223; Kruchten, in Redford, Bd.  2 , S.  278, nennt ein weiteres Dekret des Seti II. 339 Moreno García, S.  115. 340 Ausführlich Jin, S.  21–56; ebenso Menu, Bd.  2 , S.  19; Haring, in Llyod, S.  2 24; Kruchten, in Redford, Bd.  2, S.  280; Jasnow, in Westbrook, S.  265; Moreno García, S.  114 f., 123. 330

IV. Rechtlicher Rahmen

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Rahmen seines Aufgabenbereichs auch Rechtsprechungsbefugnisse.341 Großer Wert wurde auf die Unparteilichkeit der Richter gelegt.342 Der Text »Einsetzung des Wesirs«, der sich in dem Grab des Wesirs Rekhmire sowie auf einigen anderen Gräbern befand und vermutlich eine Rede des Königs bei der Amtseinführung darstellte,343 formuliert drastisch: »Gott haßt Parteilichkeit.«344 Deshalb durften Richter keine materielle Not leiden, da sie sonst bestechlich gewesen wären.345 In der »Einsetzung des Wesirs« wird betont, dass Entscheidungen gemäß dem Recht getroffen werden müssen: »Dann sollst du darauf achten, daß alles dem Gesetz entsprechend getan wird, daß alles richtig gemacht wird.«346 Auch in anderen Dokumenten wird Wert darauf gelegt, dass Urteile dem Recht entsprechend getroffen werden sollen.347 Andererseits finden sich aber auch Belege, dass Richter v. a. schlichten sollten, so dass beide Parteien zufrieden sein konnten.348 Als besonders wichtig erachtet wurde auch, dass vor dem Recht alle Menschen gleich sind und die Schwachen nicht benachteiligt werden, auch wenn die Praxis dem oft nicht entsprach.349 Gerichtsverfahren konnten nur durch eine Klage von Privatpersonen eingeleitet werden. Eine staatliche Strafverfolgung existierte nur bei Verbrechen gegen den König.350 Es gab zwar keine Anwälte, aber die Parteien konnten sich von rechtskundigen Schreibern unterstützen lassen.351 Urteilsbegründungen fehlen in den Prozessprotokollen meist.352 Die Gerichtsbarkeit erfolgte entweder auf der örtlichen oder auf der zentralen Ebene. Allerdings gab es kein Rechtsmittelverfahren im modernen Sinn, wonach das Urteil eines unteren Gerichts von einem höheren Gericht überprüft werden konnte.353 Alltägliche Fälle wurden entweder von örtlichen Einzelrichtern 354 oder von den regionalen Räten 355 entschieden. Diese waren auch in ihrer gerichtlichen Funktion keine permanente 341

So Menu, Bd.  2, S.  239. Jin, S.  122. 343 Dazu van den Boorn, S.  2 33; James, S.  60–64. 344 Übersetzung bei James, S.  62. 345 Jin, S.  155–160. 346 Übersetzung bei James, S.  62: s. a. Grandet, in Moreno García, S.  861. 347 Kruchten, in Redford, Bd.  2 , S.  278. 348 Seidl, S.  18; Allam, in Manthe, S.  30 f.; Jin, S.  213–227. 349 James, S.  74–85; Assmann, Herrschaft und Heil, S.  205. 350 Lippert, S.  79. 351 Menu, Bd.  2 , S.  250–252. 352 Lippert, S.  81; spekulativ Seidl, S.  35. 353 Théodoridès, in Harris, S.  310; relativierend Jasnow, in Westbrook, S.  310. 354 Allam, in Manthe, S.  37; Jasnow, in Westbrook, S.  303. 355 Beispielsfälle bei Allam, in Manthe, S.  28 f. 342

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2. Kapitel: Ägypten

Einrichtung, sondern traten ad hoc zusammen.356 Der König mischte sich in die Jurisdiktion der lokalen Behörden normalerweise nicht ein.357 Allerdings bestand ein allgemeines Beschwerderecht.358 Der König wird zwar manchmal als oberster Richter bezeichnet,359 aber er findet fast nie Erwähnung in Gerichtsprotokollen.360 Allenfalls in Ausnahmefällen traf er eine gerichtliche Entscheidung, z. B. bei der Bestätigung der Todesstrafe361 oder zur Bestrafung einer Plünderung der königlichen Nekropole, nach einer Untersuchung, die unter der Leitung des Wesirs erfolgte.362 Der Wesir nahm in der Regel an Stelle des Königs die Funktion als oberster Richter wahr.363 Man kann darin sogar den »Kern des Amtes« sehen.364 Dementsprechend war er auch der höchste Sachwalter der Ma’at.365 Wichtige Rechtsstreitigkeiten wurden im Neuen Reich durch oberste Gerichtshöfe (qnb.wt ’3.wt) in den beiden großen Städten entschieden.366 Sie berieten unter dem Vorsitz eines der beiden Wesire, hatten aber keine feste Besetzung. Vielmehr berief der König die Richter für einen konkreten Fall aus einem Kreis von unterschiedlichen Amtsträgern der Tempel oder des Staates.367

3. Die Rechtsbindung Es gibt keine Belege dafür, dass das Handeln der Amtsträger durch allgemeine verbindliche Regeln gesteuert wurde. Einzelne Anweisungen der Könige enthielten zwar Vorschriften, z. B. für die Truppen oder für die Priester. Deshalb sind sie auch als ägyptische Beamtengesetze bezeichnet worden.368 Eine Rechtsbindung bei der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben lässt sich daraus aber allenfalls für Ausnahmefälle ableiten. 356

Lippert, S.  78; Grandet, in Moreno García, S.  860. Jin, S.  52; Grandet, in Moreno García, S.  859. 358 Dazu unten S.  53. 359 Seidl, S.  32; Grandet, in Moreno García, S.  859. 360 Lurje, S.  25; Allam, in Manthe, S.  38; Philip-Stéphan, S.  2 3; Lippert, S.  7 7, nennt einen Fall. 361 Grandet, in Moreno García, S.  859. 362 Théodoridès, in Harris, S.  312; Jasnow, in Westbrook, S.  299. 363 Erman/Ranke, S.  156; Grajetzki, Court Officials, S.  20; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  65; Haring, in Lloyd, S.  232. 364 Raedler, in Gundlach/Klug, S.  285. 365 Assmann, MA’AT, S.  283. 366 Allam, in Manthe, S.  38; Jasnow, in Westbrook, S.  302; Lippert, S.  7 7. 367 Jin, S.  4 4 f.; Beispiele bei Helck, S.  61 f.; Lurje, S.  40–49. 368 Lurje, S.  131. 357

V. Fazit

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4. Der Rechtsschutz Jeder Amtsträger und sogar jeder einfache Mensch aus dem Volk konnte dem König eine Petition präsentieren.369 Dementsprechend hatte der König jederzeit das Recht, ein Urteil eines Amtsträgers aufzuheben.370 Es handelte sich also um ein außerordentliches Rechtsmittel. Aus der Zeit der 13. Dynastie, also im Mittleren Reich, sind zwei Petitionen an den König bekannt, auf die er mit konkreten Anweisungen an den Wesir reagiert hat.371 Für das Neue Reich gibt es nur wenige Hinweise auf die Praxis der Anrufung des Königs.372 Eine praktisch wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen dem Beschwerdeführer und dem König spielte dabei der Wesir.373 Die »Dienstvorschrift für den Wesir« nennt ausdrücklich seine Verpflichtung, sich mit den Beschwerden zu befassen.374 Dies entspricht seiner allgemeinen Aufsichtsfunktion über die gesamte Staatsverwaltung.375 Die »Einsetzung des Wesirs« verlangte darüber hinaus auch, dass die Ablehnung einer Beschwerde begründet werden musste: »Weise einen Bittsteller nicht ab, ohne seine Worte beachtet zu haben. … Weise ihn erst ab, wenn du ihn hast hören lassen, warum du ihn abweisest.« 376 Diese Formulierung ist ein früher Vorläufer der heutigen verwaltungsrechtlichen Begründungspflicht.

V. Fazit In Ägypten entwickelte sich die erste dauerhaft stabile Monarchie der Geschichte.377 Sie überstand mehrere Krisenzeiten und Eroberungen durch benachbarte Staaten.378 Deshalb stellt sich die Frage, wie die königliche Herrschaft über einen so langen Zeitraum stabilisiert werden konnte.

369

Jasnow, in Westbrook, S.  298; Vernus, in Moreno García, S.  276. Warburton, in Redford, Bd.  2, S.  581, bezeichnet König und Wesir als »final instance«; Jin, S.  4 4. 371 Jasnow, in Westbrook, S.  258 f. 372 Jasnow, in Westbrook, S.  295. 373 Van den Boorn, S.  321. 374 Helck, S.  37. 375 Haring, in Lloyd, S.  2 22, spricht etwas anachronistisch von einem »judge for administrative procedures«. 376 Übersetzung bei James, S.  62; s. a. Grandet, in Moreno García, S.  877. 377 Freeman, S.  4 4. 378 Finer, S.  134; Moreno García, S.  1. 370

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2. Kapitel: Ägypten

1. Der Herrschaftstyp Es besteht kein Zweifel daran, dass das ägyptische Herrschaftssystem in dem gesamten Zeitraum von der Reichbildung bis zur Eroberung durch Alexander den Großen durch einen königlichen Absolutismus gekennzeichnet war.379 Alle Staatsgewalt war normativ in der Person des Königs konzentriert,380 der als Mittler zwischen der menschlichen und der göttlichen Sphäre angesehen wurde.381 Über alle Perioden hinweg, auch in den Zwischenzeiten, gewann der ägyptische Staat seine ideologische Basis in der religiös fundierten Institution des Königtums.382 Eine autonome bürgerschaftliche Sphäre ist im alten Ägypten nie entstanden. Die Gesellschaft war immer durch eine starke soziale Hierarchie gekennzeichnet, die in feste Netzwerke eingebunden war. Diese auch religiös legitimierten Strukturen verhinderten die Entstehung von Individualität und die Bildung einer öffentlichen Meinung.383 Es gab keine horizontalen Sozialstrukturen wie Vereine oder Genossenschaften.384 Deshalb konnten sich auch keine Formen der Partizipation herausbilden. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine Versammlung von Adeligen oder gar eine Volksversammlung mit Entscheidungsbefugnissen. Dies hätte der während aller Perioden der altägyptischen Geschichte gültigen Doktrin der umfassenden Macht des Königs widersprochen. Der König ließ sich zwar beraten, er entschied aber immer selbst.385

2. Die Struktur der Verwaltung Der Staatsapparat war streng hierarchisch strukturiert.386 Weil die im König verkörperte göttliche Souveränität nicht delegiert werden konnte,387 unterstanden alle Amtsinhaber seinen Weisungen. In der Herrschaftsorganisation konnte so keine autonome Legitimation entstehen. Die Wesire hatten zwar eine zentrale Position aufgrund ihrer Funktion als Schaltstelle 379

Breuer, S.  86 f.; Finer, S.  169; Menu, Bd.  2, S.  13 f.; Grandet, in Moreno García, S.  834. Wilkinson, in Redford, Bd.  3, S.  316. 381 Robins, in Redford, Bd.  2 , S.  286. 382 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.   190  f.; Leprohon, in Sasson, S.  273. 383 Moreno García, S.  159. 384 Assmann, Herrschaft und Heil, S.  200 f. 385 Leprohon, in Sasson, S.  273 f. 386 Quirke, Administration, S.  60; Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  79. 387 Moreno García, S.  139. 380

V. Fazit

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zwischen dem König und den anderen Teilen des Staatsapparates.388 Aber auch ihre Macht leitete sich allein vom König ab. Die territoriale Herrschaft in Ägypten war zentralistischer organisiert als in Mesopotamien.389 Im Kernbereich des Staates gab es nie für längere Zeit unabhängige Städte oder Teilgebiete, sondern das Reich bildete in allen Perioden eine religiöse und sprachliche Einheit und war damit durch eine größere gesellschaftliche Homogenität gekennzeichnet.390 Erst mit der dauerhaften Eroberung von Nubien und Teilen Vorderasiens während des Neuen Reichs dehnte sich die ägyptische Herrschaft über das Kerngebiet am nördlichen Niltal hinaus aus. Allerdings wurden diese Gebiete nie vollständig integriert. Vielmehr wurden sie entweder von Vizekönigen oder von abhängigen örtlichen Herrschern regiert. Solange die auferlegten Tribute abgeliefert wurden und die Oberherrschaft Ägyptens akzeptiert wurde, wurde insbesondere in den vorderasiatischen Territorien eine lokale Autonomie geduldet. Insofern kann man für die Gebiete außerhalb des Kernlandes, die ihre eigene Organisation behalten durften, aber ihre außenpolitische Handlungsfreiheit verloren, von einer quasi-föderalen Struktur sprechen. Aber auch im Kerngebiet Ägyptens war die zentrale Herrschaft faktisch deutlich beschränkt. Ein Durchregieren bis auf die lokale Ebene war schon wegen der fehlenden schnellen Kommunikationsmittel nicht möglich.391 Es gab zwar für Briefe einen Kurierdienst zwischen den Provinzzentren und den Hauptstädten des Reiches. Dieser ist aber nur durch entsprechende Titel der beteiligten Amtsträger belegt, während Einzelheiten über sein Funktionieren nicht bekannt sind.392 Transport und Kommunikation erfolgten v. a. über den Nil, aber auch die Schifffahrt war schwierig und langwierig.393 Daneben gab es z.T. auch Karawanen, die Routen in der Wüste bedienten.394 Jedenfalls war es nicht möglich, eine dauerhafte und dichte Kommunikation zwischen der Zentrale und den örtlichen Amtsinhabern zu organisieren.

388

Eyre, S.  63. Wesel, S.  95. 390 Moreno García, S.  138. 391 Zibelius-Chen, in Pawelka, S.  71. 392 James, S.  185. 393 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  211; Willems, in Moreno García, S.  343. 394 Moreno García, S.  17 f. 389

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2. Kapitel: Ägypten

Deshalb wird man nicht nur für das Mittlere Reich von einflussreichen »Provinzpotentaten«395 ausgehen können. Die örtlichen Amtsträger hatten immer einen großen Freiraum in der Führung ihrer Geschäfte.396 Zum Teil mussten die zentralen Stellen mit den lokalen Kräften verhandeln, um ihre Ziele durchzusetzen.397 Die Wesire und ihre Beauftragten nahmen in erster Linie eine nachträgliche Kontrolle vor, insbesondere wenn Beschwerden vorlagen. Im Übrigen war der Grad der faktischen Autonomie der Provinzen bzw. Städte sicher nicht einheitlich, sondern von variablen Faktoren wie z. B. der Persönlichkeit der beteiligten Amtsträger, der wirtschaftlichen Lage und vermutlich auch der Entfernung von der Hauptstadt abhängig.

3. Die Rolle des Rechts Die transzendentale Legitimation der Herrschaft basierte wesentlich auf der Verpflichtung des Königs und aller Amtsträger auf das Grundprinzip der Ma’at. Die Pflicht, sich an Ma’at zu orientieren, wird typischerweise als Tugend von Amtsträgern genannt.398 Ihr war aber auch der König selbst unterworfen, der sie in der Menschenwelt zu verwirklichen hatte und an diesem Auftrag gemessen werden konnte.399 Die Könige durften keine willkürliche Herrschaft ausüben. Vielmehr hatten sie die Pflicht, Ordnung, Harmonie und Gerechtigkeit zu gewährleisten, die Teilelemente des komplexen Prinzips Ma’at darstellen.400 Entsprechende Belege finden sich bereits in Pyramideninschriften aus dem Alten Reich.401 Absolute Macht wurde also keineswegs als Ermächtigung zu willkürlicher Ausübung von Herrschaft verstanden.402 Aufgabe der Könige war vielmehr die Bekämpfung von Ungerechtigkeit und die Gewährleistung einer fairen gesellschaftlichen Ordnung. Deshalb verglichen sich einige

395

Moreno García, S.  50. Leprohon, in Sasson, S.  282. 397 Moreno García, S.  33. 398 Lichtheim, S.  28. 399 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.   201; Lorton, VA 1986, S.  57 f.; Assmann, MA’AT, S. 285; Leprohon, in Sasson, S.  274. 400 Assmann, in Gehrke, S.   66; Grandet, in Moreno García, S.  841 f.; Moreno García, S.  139. 401 Müller-Wollermann, S.  48. 402 Bonhême, in Redford, Bd.  2 , S.  240. 396

V. Fazit

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Könige selbst mit einem Schäfer, der sich um seine Herde kümmert.403 Die Autorität der Könige korrespondierte mit der Überzeugung der Untertanen, dass die Herrschaft ihrem Wohl dient.404 Auch die Wesire und die anderen Amtsträger hatten die Aufgabe, eine gerechte Ordnung zu garantieren.405 Die Effektivität der Verwaltung war somit eine wesentliche Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgabe der Könige, Ma’at zu gewährleisten.406 Charakteristisch ist deshalb, dass in vielen Texten die ethischen Anforderungen an gute Amtsträger betont wurden. So nennt etwa die Lehre des Amenemope407 verschiedene Tugenden. Das Ideal des Berufsethos war ein überlegender, aufrichtiger, genauer, unbestechlicher und kluger Amtsträger.408 Hierzu gehörte auch die Beachtung des Rechts.409 Andererseits gibt es aber auch viele Zeugnisse darüber, dass es in der Praxis immer wieder zu Bestechung kam.410 Gerade deshalb bestand offensichtlich Anlass, die Pflichten der Amtsträger zu betonen. In diesem Sinn kann man auch die »Dienstanweisung für den Wesir« als einen Rechtsrahmen für seine Amtsführung ansehen und damit als eine frühe Form von Verwaltungsrecht.411 Allerdings handelte es sich um keine kohärente Regelung seiner Aufgaben. Außerdem gab es ersichtlich keine Möglichkeit der Untertanen, seine Pflichten durchzusetzen. Die Amtsträger folgten also nicht allgemeinen, schriftlich fixierten Vorschriften, sondern ethischen Richtlinien und manchmal königlichen Anordnungen, die auf Missstände reagierten. Das Recht war insofern ein Mittel institutionalisierter Macht. Es diente aber nicht als Instrument zur detaillierten Lenkung der Amtstätigkeit.

4. Die Funktionsweise der Herrschaft Um ihre Herrschaft durchzusetzen und zu erhalten, waren die Könige auf die Loyalität der Amtsträger, insbesondere derjenigen in den führenden Positionen angewiesen. Von zentraler Bedeutung war hier ein »Netzwerk 403

Leprohon, in Sasson, S.  273; Moreno García, S.  144; zum parallelen Rollenverständnis in Assyrien siehe unten S.  103. 404 Assmann, Herrschaft und Heil, S.  36. 405 Bryan, in Cline/O’Connor, S.  113. 406 Shirley, in Moreno García, S.  574 f. 407 Siehe oben S.  45. 408 Helck, S.  5 43; s. a. Favry, S.  341 f. 409 O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  191. 410 Helck, S.  5 44; James, S.  79 f. 411 So Eyre, S.  58.

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2. Kapitel: Ägypten

der Hofgesellschaft mit dem jeweiligen König als Zentrum«.412 Zunächst hatte die königliche Familie eine große Bedeutung, denn sie bildete eine oligarchische und stark personalisierte Macht.413 Für das 17. Jahrhundert werden etwa 30 Personen der führenden Elite zugerechnet, die alle untereinander und mit der königlichen Familie verbunden waren.414 Auch im Neuen Reich dominierten einige Familien die Verwaltung für Jahrzehnte.415 Der jeweilige König musste sich mit seinen Räten, Generälen und Priestern arrangieren, um seine Macht zu behalten.416 Die Stabilität der Monarchie beruhte deshalb mehr auf einer Machtbalance zwischen den obersten Amtsträgern und den Fraktionen im Palast als auf dem spezialisierten Verwaltungspersonal.417 Somit lassen sich für die altägyptische Verwaltung nur ein Teil der Merkmale der Bürokratiedefinition Webers nachweisen. Es gab zweifellos schriftliche Akten, aber ob diese alle administrativen Vorgänge erfassten, kann man heute nicht mehr feststellen.418 Die Inhaber der zentralen wie der regionalen Ämter waren in der Regel hauptamtlich tätig, dagegen wohl nicht die lokalen Amtsträger sowie die Mitglieder der Räte. Grundsätzlich bestand eine hierarchische Struktur mit monokratischen Ämtern, die in einer Befehlskette standen. Die Annahme, es habe feste Zuständigkeiten und Hierarchien der Amtsträger gegeben, wird aber auch bezweifelt.419 Ob es eine eindeutige Kompetenzordnung gab, ist nicht klar zu belegen. Jedenfalls agierten die regionalen bzw. lokalen Amtsträger aufgrund der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten weitgehend autonom. Auch eine Regelgebundenheit der Amtsführung bestand allenfalls sehr eingeschränkt. Es gab zwar Edikte der Könige, aber diese waren zum Teil widersprüchlich und sicher auch lückenhaft. Schließlich ist auch die Fachschulung nur mit Einschränkungen zu bejahen. Zwar hatten wohl mehr oder weniger alle Amtsträger eine Ausbildung als Schreiber. Eine darüber hinausgehende aufgabenspezifische Schulung gab es dagegen ersichtlich nicht.420 412

Raedler, in Gundlach/Klug, S.  283. Moreno García, S.  6 4. 414 Moreno García, S.  5 4. 415 Van de Mieroop, S.  177. 416 Erman/Ranke, S.  55; O’Connor, in Trigger/Kemp/O’Connor/Lloyd, S.  205; CruzUribe, in Silverman, S.  48–51. 417 Moreno García, S.  7 7. 418 Skeptisch Eyre, S.  7 7. 419 Moreno García, in Moreno García, S.  1; skeptisch auch Grajetzki, Court Officials, S.  18. 420 Eyre, S.  55. 413

V. Fazit

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Auch wenn erkannt wird, dass in Ägypten die Merkmale der Spezialisierung und der Regelbindung fehlten,421 wird dennoch immer wieder von »Bürokratie« gesprochen, um das Herrschaftssystem zu charakterisieren. Wenn man aber einen konsistenten Bürokratiebegriff verwendet, der nicht jede Form geordneter und hauptamtlicher Staatsorganisation erfasst, ist es nicht gerechtfertigt, ihn auf die altägyptische Herrschaftsorganisation anzuwenden.422 Besser passt allenfalls die ebenfalls auf Weber zurückgehende Einordnung als Patrimonialbürokratie, die sich aus dem Hofstaat herausbildet.423 Weil dieser allerdings die wesentlichen Merkmale der rationalen Bürokratie fehlen,424 stellt sich die Frage, was die terminologische Einordnung als eine Variante rechtfertigt. Jedenfalls ist die »Bürokratie« in Ägypten nie eine autonome Handlungssphäre geworden.425 Vielmehr handelt es sich um eine zwar hierarchisch-monokratisch strukturierte, im Kern aber nicht auf anonym-regelgeleiteter, sondern personaler Loyalität beruhende Form der Herrschaft. Zwar gab es im Neuen Reich eine Verwaltung mit Amtsträgern für bestimmte Aufgaben. Diese wurden jedoch auf der Grundlage traditioneller persönlicher Beziehungen ausgewählt.426 Auf der dezentralen Ebene war der Alltag der örtlichen Amtsträger durch eine mehr oder weniger hohe faktische Autonomie gekennzeichnet, während die zentrale Herrschaft v. a. in der Form von Kontrollen auf sie einwirkte.

421

Moreno García, S.  113 f. Ebenso eindeutig Eyre, S.  349. 423 Müller-Wollermann, S.  73–76. 424 So aber wohl Shirley, in Moreno García, S.  573 f. 425 Moreno García, S.  200. 426 Eyre, S.  9. 422

Assyrien I. Historischer Überblick Assyrien, das zunächst als Stadtstaat vom 20. bis zum 18. Jahrhundert und als Reich in unterschiedlichen Ausdehnungen vom 14. bis zum 7. Jahrhundert bestand, war eine der langlebigsten Herrschaftsordnungen im altorientalischen Mesopotamien. Dieser Staat, der um die am mittleren Tigris liegende Stadt Assur entstanden ist, war in vielfältiger Weise in einen größeren Kulturraum eingebunden, in dem sich zahlreiche staatliche Gebilde ablösten und überlagerten.1 Deshalb wird zunächst ein kurzer Gesamtüberblick über die wichtigsten Epochen der altorientalischen Geschichte gegeben, die sich von der Entstehung der ersten Stadtstaaten zu Beginn des 3. Jahrtausends bis zur Eroberung durch die Perser im Jahr 539 erstreckt, die eine Phase jahrhundertelanger Fremdherrschaft einleitete. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die genauen Daten der Chronologie erst ab der Mitte des 2. Jahrtausends als einigermaßen gesichert gelten.2 Im Anschluss daran werden die drei Epochen des assyrischen Staates dargestellt. Schließlich wird auf die Quellen eingegangen, die für die Erschließung der damaligen Herrschaftsordnung zur Verfügung stehen.

1. Die Entwicklung in Mesopotamien »Mesopotamien« ist ein von den Griechen geprägter Begriff für das Land zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, das in etwa dem Gebiet des heutigen Irak entspricht.3 Für die Menschheitsgeschichte ist von besonderer Bedeutung, dass dort sehr früh eine Schrift eingesetzt wurde, deren erster 1 Barjamovic,

in Bang/Scheidel, S.  123: Pendelbewegungen zwischen Reichsbildung und politischer Fragmentierung. 2 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  18 f.; s. a. Nissen, S.  16–21; Düring, Imperialisation, S. xv–xvii. 3 Bär, S.  9.

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3. Kapitel: Assyrien

(bekannter) Zweck darin bestand, Einnahmen und Ausgaben einer Wirtschaftsorganisation, möglicherweise eines Tempels, zu dokumentieren.4 Die Entwicklung der Keilschrift erfolgte schon in der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends im sumerischen südlichen Mesopotamien.5 Ihr späteres Verbreitungsgebiet ist aber größer als das Zweistromland, denn sie wurde auch in Syrien und Teilen der levantinischen Mittelmeerküste sowie großen Teilen Kleinasiens verwendet. 6 Die Geschichte der überlieferten, dauerhaft organisierten Herrschaftsordnungen beginnt mit der sog. frühdynastischen sumerischen Periode (29.–24. Jh.), die durch Stadtstaaten wie Uruk und Ur geprägt war.7 Bereits in dieser Epoche siedeln einzelne Autoren die Anfänge einer »bürokratischen« öffentlichen Verwaltung an. 8 Anschließend folgte das Reich von Akkade (24.–22. Jh.).9 Es umfasste neben Teilen des südlichen Mesopotamiens auch das weiter im Norden gelegene Gebiet des späteren Assyrien.10 Die Residenzstadt Akkade wurde allerdings bis heute nicht gefunden.11 Aufgrund seiner Ausdehnung gilt dieses Reich als erster dokumentierter Territorialstaat im Vorderen Orient, der in Provinzen mit lokalen Statthaltern eingeteilt war.12 Eine weitere Innovation wird darin gesehen, dass König Sargon eine Dynastie begründete und damit als erster versuchte, eine Monarchie ohne Mitwirkung einer Versammlung zu perpetuieren.13 Das Reich von Akkade zerfiel in der neusumerischen Periode (22.–21. Jh.),14 die zunächst wieder durch Stadtstaaten wie Lagasch oder Uruk geprägt war, bevor es dann unter der III. Dynastie von Ur zu einer erneuten Reichsbildung kam (21. Jh.). Auch für diese Zeit ist eine umfangreiche staatliche Verwaltungstätigkeit dokumentiert.15 Im Süden entstand das altbabylonische Reich (19.–16. Jh.).16 Bekannt ist v. a. sein Herrscher Hammurabi, der durch eine ihm zugeschriebene 4 Radner,

in Gehrke, S.  273 f. Assyrer, S.  14. 6 Klinger, in Wende, S.  20 f. 7 Nissen, S.  42–78; Bär, S.  56 f. 8 Schott, IJPA 2000, S.  69: »first truly public bureaucracy«; knapp zu den Quellen Wilcke, S.  31–33; krit. Garfinkle, in Garfinkle/Johnson, S.  55–61. 9 Überblick bei Nissen, S.  79–85. 10 Saggs, S.  19. 11 Bär, S.  67. 12 Radner, in Gehrke, S.  300; Klinger, in Wende, S.  29; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  129: »first imperial state in Mesopotamia«. 13 Klinger, in Wende, S.  30. 14 Überblick bei Bär, S.  72–80. 15 Nissen, S.  86–92. 16 Bär, S.  8 4–89. 5 Cancik-Kirschbaum,

I. Historischer Überblick

63

Sammlung von Rechtssätzen, den sog. »Kodex (des) Hammurabi«, in die Rechtsgeschichte eingegangen ist. Im Bereich des heutigen Anatolien lösten sich mehrere hethitische Reiche ab (ca. 1650–1200).17 Zwischen diesen beiden Sphären bestand der hurritische Territorialstaat Mittani (Ende 16. Jh.–Mitte 13. Jh.).18 Er beherrschte Westsyrien und das nördliche Mesopotamien, von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts auch das Gebiet von Assur.19 Im Süden folgte das mittelbabylonische Reich mit einer neuen Dynastie mit kassitischen Wurzeln (16.–12. Jh.).20 Nach dem Ende der im Folgenden dargestellten assyrischen Herrschaft über große Teile Mesopotamiens bestand für ein knappes Jahrhundert das neubabylonische Reich (626–539). Es endete mit der Eroberung durch den persischen König Kyros II., mit der eine lange Zeit der Fremdherrschaft begann.

2. Die Entwicklung in Assyrien Die Gründungszeit der Stadt Assur ist unbekannt, doch bestand sie jedenfalls schon in der Mitte des 3. Jahrtausends.21 Assyrien tritt als unabhängiger Staat erstmals um das Jahr 2000 auf, als es sich von der Herrschaft Urs befreite.22 Diese erste, gut dokumentierte Epoche wird heute als altassyrisch bezeichnet.23 Es handelte sich um einen Stadtstaat, der nur ein relativ kleines Gebiet um die Hauptstadt Assur umfasste.24 Er hatte aber eine wichtige Funktion als Handelszentrale25 und unterhielt eigene Dependancen in Anatolien, aus denen die meisten der heute verfügbaren Dokumente und Urkunden stammen.26 Die Autonomie dieser Handelsniederlassungen wurde durch Verträge mit den örtlichen Herrschern abgesichert.27 Im altassyrischen Stadtstaat gab es eine Versammlung (puhrum) als oberste Instanz, die meist als »Stadt« (alum) bezeichnet wurde.28 Aus den 17

Klinger, S.  31–119. Bär, S.  98–101. 19 Saggs, S.  40 f.; Yamada, in Frahm, S.  114 f. 20 Bär, S.  91–98. 21 Hauser, S.  32; Larsen, Ancient Kanesh, S.  87. 22 Larsen, Ancient Kanesh, S.  92. 23 Zur Problematik der Abgrenzung Veenhof, in Frahm, S.  57. 24 Geografische Beschreibung z. B. bei Saggs, S.  2–6. 25 Larsen, City State, S.  85–102. 26 Ausführlich dazu Larsen, Ancient Kanesh, passim; s. a. Veenhof, in Frahm, S.  61–63. 27 Altman, S.  75–78. 28 Larsen, City State, S.  190. 18

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3. Kapitel: Assyrien

in den anatolischen Handelsniederlassungen gefundenen Urkunden geht hervor, dass sie insbesondere gerichtliche Funktionen wahrgenommen, aber auch Beschlüsse von allgemeinerer Bedeutung in Handelsangelegenheiten getroffen hat.29 Leider gibt es keine näheren Informationen über ihre Zusammensetzung.30 Eine wichtige Rolle spielten sicher die Kaufleute.31 Eventuell bestand sie aus zwei Kammern, von denen eine den Ältestenrat bildete.32 Der jeweilige Herrscher in der Stadt Assur, der in dieser frühen Zeit noch nicht als »König«, sondern als »Verwalter«, »Prinz«, »Herr« oder »Aufseher« tituliert wurde,33 fungierte als Vorsitzender der Versammlung und führte zudem ihre Beschlüsse aus.34 In der altassyrischen Zeit gab es vermutlich ein Amt (limum), das insbesondere für den Einzug der Abgaben zuständig war und damit eine zentrale ökonomische und administrative Institution im Stadtstaat Assur bildete.35 Es wurde jeweils für ein Jahr ausgeübt und der jeweilige Name diente zugleich als Bezeichnung für das Jahr (Eponym).36 Ab der Mitte des zweiten Jahrtausends scheint das Amt nicht mehr ausgeübt worden zu sein, aber sein Titel diente weiter zur Bezeichnung des Amtsträgers, nach dem ein Kalenderjahr benannt wurde.37 Dieses System ist für die Erschließung der Chronologie von großer Bedeutung, denn es spielte sich ein, dass der König in seinem ersten Jahr nach der Amtsübernahme als Eponym fungierte und sich dann die hohen Amtsträger in einem mehr oder weniger festen Rhythmus abwechselten.38 Gegen 1800 wurde Assur von Schamschi-Adad I. erobert, dem amurritischen Herrscher von Ekallatum, einer Stadt, die vermutlich südlich von Assur am Tigris lag.39 Er wurde später in die Genealogie der assyrischen Herrscher übernommen, um die eigenen Herrschaftsansprüche auf Nord-

29 Faist,

in Justei/Vita/Zamora, S.  24; Larsen, Ancient Kanesh, S.  117–121; Veenhof, in Frahm, S.  72; Fales, in Frahm, S.  408. 30 Larsen, City State, S.  162. 31 Larsen, Ancient Kanesh, S.  112. 32 Veenhof, in Westbrook, S.  436; Larsen, Ancient Kanesh, S.  113. 33 Dazu näher Larsen, City State, S.  111–159; Larsen, Ancient Kanesh, S.  105–111. 34 Larsen, in Hansen, S.  83 f.; Veenhof, in Frahm, S.  70. 35 Larsen, in Hansen, S.  8 4 f.; Veenhof, in Westbrook, S.  438; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  24; Fales, in Frahm, S.  400. 36 Dazu ausführlich Larsen, City State, S.  192–217; Dercksen, S.  52–62. 37 Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.   26; Larsen, Ancient Kanesh, S.  122–126; Fales, in Frahm, S.  402. 38 Grayson, SAAB 1993, S.  2 3. 39 Larsen, Ancient Kanesh, S.  98.

I. Historischer Überblick

65

mesopotamien zu festigen.40 Nach seinem Tod zerfiel der Staat jedoch bald.41 Als eigenständiger Staat trat Assyrien unter der Bezeichnung »Assur-Land« wieder seit dem 14. Jahrhundert auf. Er vergrößerte seinen Herrschaftsbereich in der Folgezeit in östlicher, nördlicher und westlicher Richtung.42 Dadurch entstand ein Territorialstaat mit vielen Provinzen. Seine zentrale Verwaltung ist allerdings im 10. Jahrhundert weitgehend zusammengebrochen43 und er verlor Teile seines Gebietes im Norden und Westen an aramäische Kleinstaaten.44 Der Regierungsantritt von Assur-Dan II. im Jahr 934 wird gemeinhin als Übergang zum neuassyrischen Reich gesehen. Zwischen beiden Epochen bestand aber eine weitgehende administrative Kontinuität.45 In mehreren militärischen Eroberungsschritten entstand bis zum 7. Jahrhundert das größte Reich im Alten Orient.46 Es reichte schließlich vom westlichen Persien bis nach Unterägypten.47 Allerdings fand es keine dauerhafte innere Stabilität.48 Insbesondere konnte Babylonien nicht erfolgreich integriert werden.49 Nach der Eroberung von Assur im Jahr 614 und Ninive im Jahr 612 durch eine Allianz der Babylonier und Meder ging das Reich mit dem Tod des letzten Königs im Jahr 609 vollständig unter.50

3. Quellen Für die hier betrachtete Zeitspanne gab es keine Geschichtsschreibung zeitgenössischer Autoren im modernen Sinn, aber durchaus einige Texte mit historischen Perspektiven wie z. B. die Herrscherannalen der assyrischen Könige. Einige Ereignisse aus der Spätphase des assyrischen Reichs 40 Radner,

in Gehrke, S.  349. Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  37 f. 42 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  40–56. 43 Saggs, S.  70. 44 Hauser, S.  38; Radner, in Gehrke, S.  377. 45 Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.   29; Cancik-Kirschbaum, in Devecchi, S.  21 f.; Düring, Imperialisation, S.  135–137. 46 Bedford, in Morris/Scheidel, S.   30; zur ideologischen Rechtfertigung ausführlich Karlsson, S.  59–330. 47 Beschreibung bei Karlsson, S.  32–36. 48 Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  148. 49 Bedford, in Morris/Scheidel, S.  47; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  8 4; zu den Herrschaftstechniken näher Holloway, S.  343–388. 50 Hauser, S.  47–49. 41

66

3. Kapitel: Assyrien

werden im Alten Testament erwähnt. Letztendlich ergibt sich die Historie Assyriens aus der Verbindung von vielen Informationen aus einzelnen Dokumenten. Neben Stein-Inschriften in Palästen und Tempeln51 sind v. a. unzählige Tontafeln überliefert, die mit Keilschrift beschrieben wurden.52 Viele von ihnen sind dem Inhalt nach der staatlichen Verwaltung zuzuordnen.53 Besonders häufig geht es dabei um Wirtschaftsangelegenheiten. Daneben wurden zahlreiche Urkunden rechtlichen Charakters und Korrespondenz sowie eine Reihe von sogenannten »Staatsverträgen« und Fragmente von Rechtstexten gefunden. Allerdings ist die Quellenlage für verschiedene Zeiten und Regionen sehr unterschiedlich.54 Da die meisten Dokumente einzelne ökonomische, rechtliche oder administrative Vorgänge betreffen, müssen allgemeinere Aussagen über die assyrische Herrschaftsordnung und ihren sozialen Kontext aus den speziellen Quellen abgeleitet werden.55 Oft ist die Interpretation nicht eindeutig, so dass sich in der Literatur unterschiedliche Darstellungen finden. Ein kaum lösbares Problem ist das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Vermutlich wurden die meisten Anweisungen und Entscheidungen nur mündlich übermittelt.56 Das spräche dafür, dass nur außergewöhnliche Vorgänge schriftlich festgehalten wurden, so dass Verallgemeinerungen fragwürdig sind. Insgesamt handelt es sich im Folgenden um eine stark abstrahierende Darstellung, die nicht einen bestimmten historischen Zustand erfasst, sondern ein schematisches Gesamtbild des assyrischen Staatswesens zeichnen soll. Der Schwerpunkt liegt auf der mittel- und neuassyrischen Epoche. Zur Vervollständigung der Perspektive und zur Füllung von Lücken werden aber auch einige Seitenblicke in zeitlich und räumlich benachbarte Herrschaftsordnungen gerichtet.

51 Machinist,

in Raaflaub, S.  80; zum Zusammenhang von schriftlichen und archäologischen Quellen Postgate, Iraq 2010, S.  19 f. 52 Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  121. 53 Überblick für die mittelassyrische Zeit z. B. bei Cancik-Kirschbaum, SAAB 2018, S.  1–36; für die neuassyrische Zeit bei Gaspa, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  275–308. 54 Nissen, S.  1–5; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  8 . 55 Larsen, Ancient Kanesh, S.  8 f. 56 Postgate, in Postgate, S.  338; Gaspa, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  275.

II. Herrschaftsorganisation

67

II. Herrschaftsorganisation Eine allgemeine Darstellung der Herrschaftsorganisation im assyrischen Staat stößt auf vielfältige Schwierigkeiten. Neben der Lückenhaftigkeit der überlieferten Dokumente betrifft dies bereits die Abgrenzung des Gegenstandes. Die aus moderner Sicht zentrale Unterscheidung zwischen einer staatlichen und einer privaten Sphäre erweist sich oft als schwierig, weil die gleichen Verwaltungstechniken sowohl von Palästen und als auch von großen Privathaushalten verwendet wurden.57 Auch bei Rechtsgeschäften von Inhabern staatlicher Ämter ist häufig keine klare Trennung zwischen öffentlich und privat erkennbar.58 Das bedeutet aber nicht, dass es keine Vorstellung von amtlicher Verantwortlichkeit gab.59 Deshalb erscheint es durchaus sinnvoll, von einem öffentlichen Sektor zu sprechen, auch wenn dieser heterogen war. 60 Dass aus heutiger Sicht geradezu ein »Dschungel der Verwaltungen«61 zu beobachten ist, liegt auch an der starken Rolle des Staates im Wirtschaftsleben, denn dieser kontrollierte große Teile der landwirtschaftlichen Produktion, 62 u. a. große Landgüter und Herden. 63 Eine zentrale Funktion kam dabei dem Palast (ekallum) zu, ein Begriff, der sowohl als Name für einen besonderen, monumental-repräsentativen Gebäudekomplex als auch für die Wirtschafts- und Verwaltungszentrale des Landes (bzw. der Provinz) verwendet wurde. 64 Man kann den Palast in vielen Urkunden geradezu als Synonym für die assyrische Staatsmacht bzw. den Herrscher ansehen. 65 Wegen dieser Überlappung von ökonomischen und administrativen Aufgaben wird sogar davon gesprochen, der assyrische Staat habe ähnlich wie ein Wirtschaftsunternehmen funktioniert. 66 Aus diesem Grund gehören eigentlich auch die hierarchisch organisierten Arbeitskräfte des Palastes zum staatlichen Sektor. 67 Sie werden hier aber ebenso ausgeklammert

57 Postgate,

Iraq 2010, S.  23; von Dassow, in Wilhelm, S.  175; Brown, JCS 2013, S.  98. in Sasson, S.  963; Jakob, in Frahm, S.  155. 59 Postgate, Bureaucracy, S.  330–332. 60 Hertel, S.  50. 61 Fales, L’impero assiro, S.  68. 62 Bedford, in Morris/Scheidel, S.  38. 63 Postgate, Bureaucracy, S.  325. 64 Saggs, S.  148; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  104; Postgate, Bureaucracy, S.  9; Portuese, S.  11–22. 65 Jakob, in Frahm, S.  149. 66 Postgate, Bureaucracy, S.  337. 67 Dazu Jakob, S.  28–31. 58 Grayson,

68

3. Kapitel: Assyrien

wie die Diener des Königs68 und die Palastsklaven, die nur vereinzelt belegt sind. 69 Auch weitere moderne Unterscheidungen passen nicht oder nur sehr eingeschränkt auf die assyrischen Verhältnisse. So gab es keine Trennung zwischen ziviler und militärischer Verwaltung.70 Vielmehr haben viele Amtsträger sowohl administrative Aufgaben als auch Führungsfunktionen in der Armee während ihrer Feldzüge wahrgenommen.71 Außerdem ist es fraglich, ob eine Unterscheidung zwischen dem Personal des Staates und dem Personal des königlichen Haushalts möglich ist.72 Jedenfalls stammen die Bezeichnungen einiger der höchsten Ämter aus dem Kontext des Hofstaates,73 so dass eine Ausgrenzung nicht sinnvoll erscheint. Charakteristisch ist vielmehr eine Überlappung von Ämtern des Hofes, des Palastes, der territorialen Verwaltung und des Militärs.

1. Zentrale Herrschaft a) König Der Titel »König« (scharru) wurde in Assyrien erstmals durch Schamschi-Adad I. verwendet, der sich sogar als »großer König« titulierte.74 Die Bezeichnung als »König« findet sich dann erst wieder in der mittelassyrischen Zeit ab der Regentschaft von Aschur-Uballit I. (1363–1328).75 In dieser Periode handelte es sich wahrscheinlich um eine Erbmonarchie, weil alle Herrscher aus einer Familie stammten. Die Thronfolge wurde allerdings flexibel gehandhabt.76 Vermutlich gab es eine Grundregel, wonach immer der älteste Sohn Thronfolger sein sollte.77 Es kam aber immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Thronfolge.78 Seit Sargon II. war es 68 Dazu

Fales, L’impero assiro, S.  61–63. Dazu Jakob, S.  41 f. 70 Grayson, in Sasson, S.  959; Postgate, in Postgate, S.  333 f. 71 Dazu unten S.  71, 83. 72 So Postgate, in Postgate, S.  332 f. 73 Klauber, S.  2 3; nach Radner, in Gehrke, S.  390, soll dies die besondere Verbundenheit mit dem König belegen. 74 Jakob, S.  5; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  38, 103. 75 Jakob, S.  5; Faist, in Lanfranchi/Rollinger, S.  16; Nissen, S.  113. 76 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  55. 77 So Fales, L’impero assiro, S.  51; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  81; dagegen Kuhrt, S.  521. 78 Cancik-Kirschbaum, WdO 1995, S.  17–20. 69

II. Herrschaftsorganisation

69

üblich, dass der König seinen Nachfolger nominierte und ihn den obersten Amtsträgern präsentierte, die einen Eid auf ihn schwören mussten.79 Nach der Abschaffung der Versammlung, die allerdings nicht näher belegt ist, herrschte der König als absoluter Monarch. 80 Er war insbesondere der Anführer der Armee 81 und formales Oberhaupt der Priesterschaft des Gottes Assur. 82 Aber auch in allen administrativen Angelegenheiten war er die letzte Instanz. 83 Es ist aus verschiedenen Epochen belegt, dass sich die Könige mit Detailfragen, z. B. von Baumaßnahmen, beschäftigten. 84 Auch wenn sie ihre Entscheidungen regelmäßig nach Beratung durch ihre obersten Amtsträger und Gelehrten trafen, 85 wird in den neuassyrischen Dokumenten die Letztverantwortung des Königs betont. 86 Der König ernannte auch die Amtsträger aller Ebenen, wobei untergeordnete Ämter auf Vorschlag besetzt wurden. 87 Schließlich war der König die oberste richterliche Instanz. Er übernahm diese Funktion aber wohl nur in besonderen Fällen. In den sog. mittelassyrischen Gesetzen88 ist seine Tätigkeit als Richter für zwei Fälle belegt. Aus einer Tontafel wird geschlossen, dass er auch schweren Diebstahl abgeurteilt hat. 89 Bei Ehebruch durch die Ehefrau konnte der Ehemann den Fall nach seiner Wahl vor den König oder die Richter bringen.90 Möglicherweise konnte der König auch sonst in bestimmten Fällen alternativ zu den regulären Richtern angerufen werden.91 Dagegen war seine Einschaltung im Sinne eines regulären Rechtsmittels gegenüber Entscheidungen der Gerichte nicht vorgesehen.92 Es gibt auch sonst kaum Hinweise auf ein Eingreifen der Könige in einzelne Prozesse.93

79

Finer, S.  217. S.  147; Finer, S.  215; Kuhrt, S.  505; Radner, in Westbrook, S.  886. 81 Grayson, in Sasson, S.  963; Siddall, S.  155–160. 82 Finer, S.  217. 83 Klauber, S.  12; Postgate, in Postgate, S.  331. 84 Finer, S.  2 26; Beispiele der neuassyrischen Zeit bei Postgate, in Postgate, S.  338–341; skeptisch Jakob, S.  21. 85 Radner, in Radner/Robson, S.  358 f.; Beispiele bei Fink, in Horst, S.  19–33. 86 Radner, in Radner/Robson, S.  374 f. 87 Radner, in Westbrook, S.  888; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  30. 88 Dazu unten S.  94. 89 MAL C 8, bei Roth, S.  184; Cardascia, S.  81, nimmt an, dass arbiträre Strafen nur durch den König verhängt werden konnten. 90 MAL A 15, bei Roth, S.  158; dazu Lafont, in Westbrook, S.  524. 91 Jakob, S.  20 f.; Fales, in Frahm, S.  411. 92 Lafont, in Westbrook, S.  527. 93 Postgate, in Garelli, S.  419. 80 Saggs,

70

3. Kapitel: Assyrien

b) Oberste Amtsträger In der mittel- und neuassyrischen Zeit gab es eine Reihe von obersten Amtsträgern, die dem König unmittelbar untergeordnet waren und als seine Ratgeber fungierten.94 Allerdings lassen sich ihre Zahl und ihre Aufgaben aus den überlieferten Informationen nur teilweise rekonstruieren. Für die neuassyrische Zeit wird davon ausgegangen, dass etwa 100–120 »große Männer« (rabuti) als Inhaber hoher Ämter die oberste Führungsebene des Staates bildeten, wobei hierzu neben den zentralen Amtsträgern auch die Statthalter und Beauftragten des Königs gezählt werden.95 In der mittelassyrischen Zeit wurde ein größerer Teil der Führungspositionen von Mitgliedern der königlichen Sippe besetzt, auf deren Loyalität der König in besonderem Maß zählte.96 Daneben gab es aber auch Amtsträger, die aus den führenden Familien stammten.97 In der neuassyrischen Zeit ab etwa 900 entstand dann offenbar eine Klasse professioneller Verwalter, die nicht mehr aus den alten Eliten kamen98 und auch fast nie königlicher Abstammung waren.99 Im 7. Jahrhundert wurden sie dann wieder durch Mitglieder der Königsfamilie und Höflinge verdrängt, worin ein Grund für den Zerfall des Reiches gesehen wird.100 Ausbildung und Laufbahn dieses administrativen Führungspersonals sind unklar.101 Eine feste Karriere im Sinne des römischen cursus honorum ist jedenfalls nicht erkennbar.102 Es gibt aber einige Personen, die zeitlich folgend verschiedene hohe Ämter innehatten.103 Die für einzelne Personen bekannte Amtszeit reichte in der neuassyrischen Zeit von 9 bis 49 Jahren.104 In einigen Fällen ist nachweisbar, dass Nachkommen eines Amtsträgers sein Amt übernommen haben.105 Eine generelle Erblichkeit bestand aber wohl nicht. Welche Ämter zu den »großen Männern« zählen, lässt sich nicht eindeutig feststellen und variiert vermutlich auch im Laufe der Zeit. Vielmehr ist man auf Indizien angewiesen, insbesondere die Aufnahme in die Epony 94 Cancik-Kirschbaum,

Assyrer, S.  107. in Radner/Robson, S.  359; Richardson, in Lavan/Payne/Weisweiler, S.  43. 96 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  102. 97 Jakob, S.  2 3. 98 Radner, in Radner/Robson, S.  359; Karlsson, S.  38. 99 Mattila, S.  129; ein Beispiel bei Grayson, SAAB 1993, S.  30. 100 Radner, in Gehrke, S.  391. 101 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  107. 102 Fales, L’impero assiro, S.  61. 103 Beispiele bei Grayson, SAAB 1993, S.  36 f.; Mattila, S.  134 f. 104 Mattila, S.  135 f. 105 Beispiele bei Postgate, Bureaucracy, S.  332 f. 95 Radner,

II. Herrschaftsorganisation

71

menlisten. Als Angaben über die einzubeziehenden Ämter finden sich vier106 , drei und drei107, sechs108 , sieben109 oder acht110 Titel. Die großen Divergenzen sowohl in der Zahl als auch in der Benennung der obersten Ämter machen deutlich, dass eine verlässliche Festlegung aufgrund der Quellenlage nicht möglich ist. Zum Teil gab es auch mehrere Bezeichnungen für ein Amt. Zudem ist oft die adäquate Übersetzung problematisch. Im Folgenden werden alle Amtsbezeichnungen behandelt, die in Dokumenten zu den obersten Ämtern gezählt werden. Jedenfalls im 1. Jahrtausend kam der höchste Rang dem obersten General (turtanu) zu.111 Er war der Oberbefehlshaber der gesamten Armee112 und fungierte bei den Feldzügen als Vertreter des Königs.113 Allerdings führten auch einige der anderen »großen Männer« ihre eigenen militärischen Verbände.114 Das Amt des obersten Generals wurde vermutlich meist durch Mitglieder der königlichen Familie besetzt.115 Ein bedeutsames Hofamt mit administrativen und militärischen Aufgaben hatte der Obermundschenk (rab schaqe) inne.116 Einen Beleg über seine höfische Funktion des Servierens von Getränken ist aber nur in einem 106

Kinnier Wilson, S.  36: turtanu, rab schaqi, nagir ekalli, barakku. Grayson, in Sasson, S.  963, mit einer Abstufung zwischen field marshal (turtannu), vice-chancelor (ummannu) und majordomo (rab scha muhi ekalli), sowie den »next rank palace officers« chief cupbearer (rab schaqe), steward (abarakku) und palace herald (nagir ekalli). 108 Bedford, in: Morris/Scheidel, S.  36: »six senior officials (the following English titles are attempts to make some sense of their position): the major domo, the vice-chancellor, the field marshal, the palace herald, the chief butler, and the (chief) steward. The first two were royal advisers (the former alone having direct access to the king), the third headed the army, the fourth was the chief administrative officer of the realm, the fifth acted as the king’s plenipotentiary, and the sixth undertook special royal commissions. We do not know much about their actual duties.« 109 Jakob, S.  55–110: sukkallu (Wesir), nagiru (Herold), rab ekalle (Palastvogt), zariqu (Aufseher), scha reschi (Eunuch), schaqiu (Mundschenk), maschennu (Verwalter); etwas abweichend für die neuassyrische Zeit Radner, in Westbrook, S.  888: maschennu (Treasurer), nagir ekalli (Palace Herald), rab schaqe (Chief Cupbearer), turtanu (Commander-in-Chief), rab scha reschi (Chief Eunuch), sukkallu (Vizier) und sartennu (Chief Bailiff); ebenso Fales, L’impero assiro, S.  54; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  107. 110 Parpola, in Dietrich/Loretz, S.   380, nennt neben den von Radner (vorige Fn.) genannten sieben Amtsträgern den umannu (royal scholar). 111 Finer, S.  217 f.; Jakob, S.  192; Liste der Amtsinhaber bei Mattila, S.  107–113. 112 Klauber, S.  60; Mattila, S.  165. 113 Fales, L’impero assiro, S.  301. 114 Überblick bei Mattila, S.  149–157. 115 Jakob, S.  192. 116 Klauber, S.  73; Jakob, S.  94. 107

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3. Kapitel: Assyrien

hethitischen Text für das entsprechende Amt erhalten.117 Die wenigen Erwähnungen in mittelassyrischen Texten lassen keine zuverlässigen Schlüsse über seine Aufgaben zu. In der neuassyrischen Zeit gibt es keine Belege für eine Rolle am Hof.118 Eine wichtige Rolle kam auch dem Palastherold (nagir ekalle) zu.119 Herold (nagir) war ein Amt, das auf mehreren Ebenen der Verwaltung belegt ist und sowohl zivile als auch militärische Funktionen umfasste.120 In einem neuassyrischen Dokument wird der Palastherold als Verkünder von Neuigkeiten bei einer rituellen königlichen Bankett-Zeremonie erwähnt.121 Daneben gab es einen Palastvogt (rab ekalle).122 Das ebenfalls erwähnte Amt scha pan ekalle123 ist vermutlich eine Variante von rab ekalle.124 Ihm war das gesamte Personal des Palastes unterstellt.125 Hierzu zählten auch die Aufseher bzw. Kolonnenführer (zariqu).126 Seine Kompetenzen sind weitgehend unklar, doch nahm er wohl Aufgaben im Rahmen der Palastverwaltung wahr.127 Das Amt des Palastvogts wird in den Palastedikten, die Regelungen für das höfische Leben enthielten und in der Zeit des Königs Tiglatpilesar I. zusammengestellt wurden, mehrfach genannt.128 Zur Zeit Tukulti-Ninurtas I. bildete der Palastvogt zusammen mit dem Ober-Kolonnenführer sowie dem Palastherold (nagir ekalle) und dem Arzt des Innenbereiches (asu’u sa betiinu) ein Viererkollegium, das die Höflinge, die in den Dienst des Königs treten sollten, prüfte.129 Ein weiteres höchstes Amt bekleidete der Palastverwalter (maschennu).130 In der neuassyrischen Zeit findet sich manchmal auch die Bezeichnung als großer Palastverwalter (maschennu rabiu)131 oder als Schatzmeis117

Jakob, S.  94. Mattila, S.  163; Fales, L’impero assiro, S.  57. 119 Grayson, SAAB 1993, S.  21; Klauber, S.  6 4, übersetzt »Vogt«. 120 Jakob, S.  6 6–72. 121 Parpola, in Dietrich/Loretz, S.  391 Fn.  37; Mattila, S.  163. 122 Zu anderen Bezeichnungen in mittelassyrischen Dokumenten Jakob, S.   75; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  105, übersetzt »Palastvorsteher«. 123 Kinnier Wilson, S.   63 f.; Klauber, S.  25, übersetzt »Palastvorsteher«; Jakob, S.  224 Fn.  6 , übersetzt »Palastvogt«. 124 Klauber, S.  32. 125 Jakob, S.  75. 126 Jakob, S.  7 7. 127 Jakob, S.  78–82; Postgate, Bureaucracy, S.  181. 128 Jakob, S.  74–77. 129 Jakob, S.  76. 130 Übersetzung bei Jakob, S.   100; Grayson, SAAB 1993, S.  21, und Postgate, Bureaucracy, S.  147, übersetzen »steward«; Mattila, S.  161: »treasurer«; ebenso Fales, L’impero assiro, S.  54. 131 Vgl. die Liste bei Mattila, S.  13. 118

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ter (abarakku).132 Er war verantwortlich für die Annahme und Verteilung von Steuern, Geschenken und anderen Materiallieferungen für den Palast.133 Ein Briefwechsel belegt z. B., dass er für die Beschaffung von Pferden für die Armee zuständig war.134 Ein schwierig einzuordnendes Amt ist dasjenige, das in der Fachwissenschaft mit »Eunuch« übersetzt wird, während die wörtliche Übersetzung »der am Kopf des Königs (steht)« lautet (scha reschi).135 Später findet sich auch die Bezeichnung »Oberster Eunuch« (rab scha reschi).136 Es handelte sich dabei um ein Amt mit einem hohen Rang. Gleichzeitig findet sich die Bezeichnung scha reschi aber auch für Bedienstete in untergeordneten Positionen.137 Seit dem 9. Jahrhundert wurde eine große Zahl von Staatsbediensteten dieser Kategorie zugeordnet.138 Nachdem lange Zeit die Auffassung dominierte, dass es sich dabei um Kastrierte handelte,139 wird dies in neuerer Zeit bestritten. Es könnte auch ein religiös konnotierter Titel gewesen sein,140 oder es handelte sich nur um eine Bezeichnung für eine besondere Gruppe von Höflingen.141 Jedenfalls wird aus den Palastedikten142 geschlossen, dass der »Oberste Eunuch« eine wichtige Rolle im Palast spielte und auch Zugang zu dem Bereich hatte, in dem sich die Frauen aufhielten.143 In der neuassyrischen Zeit kam ihm eine wichtige Aufgabe als Kommandant der Leibgarde des Königs zu.144 Umstritten ist auch die Einordnung des Amtes des sukallu. Oft findet sich die Übersetzung als »Wesir«.145 Diese Parallele mit dem entsprechenden Amt in den späteren islamischen Staaten ist jedoch problematisch, weil er anders als dort oder auch in Ägypten146 keine übergeordnete Stellung 132

Radner, RlA 11, S.  49; Kinnier Wilson, S.  105; s. a. Klauber, S.  80–87. Kinnier Wilson, S.  105; Jakob, S.  100–104; Postgate, Bureaucracy, S.  151–174. 134 Fales, L’impero assiro, S.  140. 135 Jakob, S.  82. 136 Vgl. die Nachweise bei Mattila, S.  61–65. 137 Jakob, S.  91 f. 138 Radner, in Gehrke, S.  388. 139 So z. B. Grayson, in Dietrich/Loretz, S.  91–97; Fales, L’impero assiro, S.  63–65; Radner, in Gehrke, S.  389; s. a. Jakob, S.  84–86. 140 So Siddall, in Azize/Weeks, S.  2 34–237. 141 So für das neubabylonische Reich Magdalene/Wunsch/Wells, S.   10: »general term for royal courtiers«. 142 Dazu unten S.  95. 143 Jakob, S.  87–90. 144 Fales, L’impero assiro, S.  57; Faist, in Lanfranchi/Rollinger, S.  21. 145 So bereits Klauber, S.  24, nicht aber im speziellen Teil auf S.  5 4–60; Koschaker, S.  72, in der Übersetzung der Tontafel MAL B 5; ebenso z. B. Jakob, S.  57; Faist, in Justei/ Vita/Zamora, S.  27. 146 Siehe oben S.  31. 133

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3. Kapitel: Assyrien

gegenüber den anderen Amtsträgern hatte.147 Vielmehr ist diese Übersetzung ein unpassender Orientalismus. Unbefriedigend sind auch andere Übersetzungen als »Marschall«,148 »Kanzler«149 oder »Minister«150 . Das Wort bedeutet im Sumerischen »Bote«.151 Über seine Aufgaben ist ebenfalls wenig bekannt. Er wurde mehrfach für diplomatische Angelegenheiten eingesetzt.152 In der neuassyrischen Epoche wird das Amt oft in Rechtssachen erwähnt, seine genaue Funktion bleibt aber unklar.153 Später hatte es eine besondere Rolle in Bezug auf Babylonien.154 Eine Sonderrolle spielte der »Großwesir« (sukallu rabu), der als eine Art Vizekönig im unter Tukulti-Ninurta I. eroberten Reich Hanilgabat eingesetzt wurde.155 Seine Aufgabe war es, die dortige Herrschaft Assyriens zu konsolidieren.156 Insbesondere übte er »eine Art Polizeigewalt« aus.157 Er war den Provinzgouverneuren übergeordnet158 und konnte auch an ihrer Stelle handeln.159 Die Bedeutung des Amtes kann man auch daran erkennen, dass es einem Mitglied der Königsfamilie übertragen wurde.160 Allerdings sind nur zwei Amtsinhaber namentlich bekannt.161 Nur in der neuassyrischen Zeit ist das Amt des königlichen Gelehrten (umannu) nachgewiesen.162 Er war als Erzieher des Kronprinzen tätig.163 Aus der Regentschaft von Asarhaddon im 7. Jahrhundert sind Korrespondenzen erhalten, die den großen Einfluss der Gelehrten am Hof belegen.164 Ebenfalls nur in der neuassyrischen Periode ist das Amt des Generalvogts (sartennu) belegt, auf den im Zusammenhang mit der Rechtspre147

Kinnier Wilson, S.  36; Finer, S.  231. Müller, S.  14 f. 149 So z. B. Machinist, Assur 1982, S.  21. 150 Driver/Miles, S.  431; Fales, L’impero assiro, S.  56; Brown, JCS 2013, S.  103. 151 Klauber, S.  5 4 f; De Graef, RlA 13, S.  267. 152 Jakob, in Frahm, S.  147. 153 Kinnier Wilson, S.  36; Mattila, S.  86 f. 154 Mattila, S.  165. 155 Machinist, Assur 1982, S.   17; Jakob, S.  59; Brown, JCS 2013, S.  110–112; Fales, in Frahm, S.  402. 156 Pongratz-Leisten, RA 2011, S.  116. 157 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  47 f. 158 Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  27. 159 Jakob, S.  2 3. 160 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  47 f. 161 Kühne, in Dentzer/Orthmann, S.  475. 162 Parpola, in Dietrich/Loretz, S.  380: »royal scholar«; Finn, S.  6 , nennt fünf »scholars« mit unterschiedlichen Disziplinen. 163 Radner, in Radner/Robson, S.  364. 164 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  88 f. 148

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chung eingegangen wird.165 Weitere nur einmalig belegte »große Männer« sind der Abgabenverwaltung zuzuordnen. Im Krönungsritual aus der frühen mittelassyrischen Zeit wird ein Inspektor der Finanzen (rab liqtane) als hoher Amtsträger erwähnt, doch seine genaue Funktion ist unklar.166 In einer Urkunde aus der Regierungszeit von Tiglatpileser I. wird ein oberster Steuereintreiber (rab makisu) als Eponym genannt.167 In der neuassyrischen Zeit während Regentschaft von Assurbanipal wird auch ein Kaiinspektor (rab kare) unter den »großen Männern« genannt,168 der möglicherweise für die Zollinspektoren verantwortlich war.169 Über die Aufgabenverteilung zwischen den »großen Männern« im Einzelnen ist wenig bekannt. Aus den Bezeichnungen der Ämter ist eine abgegrenzte sachliche Tätigkeitssphäre meist nicht erkennbar.170 Aus ihrer Korrespondenz mit dem König wird aber gefolgert, dass es eine strikte Trennung der Zuständigkeiten gegeben habe.171 Allerdings sind auch Fälle bekannt, in denen eine Person gleichzeitig mehrere Ämter wahrgenommen hat.172 Vor allem in der neuassyrischen Zeit haben einige oberste Amtsträger regelmäßig gleichzeitig als Provinzgouverneure amtiert.173 Dass die wichtigsten Berater des Königs ein Kabinett im modernen Sinn bildeten,174 das regelmäßig zu Sitzungen zusammenkam, ist eher unwahrscheinlich, da sich diese Hypothese nur auf eine Urkunde und spekulative Parallelen zu späteren Regimen stützt.175 c) Weitere Amtsträger Über die weiteren Amtsträger auf der zentralen Ebene ist nur wenig bekannt.176 Viele Ämter werden nur vereinzelt erwähnt, ihre Kompetenzen sind oft unklar. Schon deshalb kann bei ihrer Darstellung keine Vollstän165

Siehe unten S.  97. Jakob, S.  172 f. 167 Jakob, S.  172. 168 Mattila, S.  9. 169 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  2 25, die das Amt mit »Vorsteher des Marktes/Handels« übersetzt. 170 So schon Weber, S.  132. 171 Parpola, in Dietrich/Loretz, S.   392 Fn.  39; anders Faist, in Lanfranchi/Rollinger, S.  18. 172 Beispiele bei Jakob, S.  75, 193. 173 Grayson, SAAB 1993, S.  26; Mattila, S.  137 f. 174 Dafür Parpola, in Dietrich/Loretz, S.  383–397; ebenso Mattila, S.  166 f. 175 Ablehnend Radner, in Radner/Robson, S.  371; Jakob, in Frahm, S.  147. 176 Die umfangreiche Darstellung von Jakob, S.  55–310, trägt alle Belege aus der mittel­ assyrischen Zeit zusammen. 166

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3. Kapitel: Assyrien

digkeit angestrebt werden. Die für die wichtigsten Verwaltungsaufgaben zuständigen Amtsträger werden bei deren Darstellung behandelt.177 Im Folgenden wird nur auf zwei bereichsübergreifende Ämterarten eingegangen. Eine große Rolle in allen Bereichen des Staates spielten die Schreiber (tupscharru), die auf fast jedem juristischen und finanziellen Dokument erwähnt sind.178 Sie werden als »Rückgrat der Bürokratie« bezeichnet,179 denn vermutlich hatte jeder Amtsträger einen eigenen Schreiber.180 Ihre Leistungen sind gut dokumentiert, weil in Assur und verschiedenen Provinzstädten viele Archive gefunden wurden.181 Leider ist wenig über ihre Ausbildung bekannt.182 Sie umfasste aber jedenfalls auch die Vermittlung juristischen Wissens und rechtlicher Regelungen sowie das Erlernen von Vertragsformularen und -klauseln.183 Weil keine Hinweise auf Schreiberschulen überliefert sind, wird vermutet, dass ihre Ausbildung in Schreiberfamilien erfolgte.184 Innerhalb von größeren Verwaltungseinheiten waren sie in Gruppen organisiert, die jeweils von einem Obmann (rab tupscharre) geleitet wurden. Ein Palastschreiber (tupschar ekalli) war verantwortlich für die Buchhaltung und fungierte als Privatsekretär des Königs.185 Daneben findet sich ein königlicher Schreiber (tupschar scharri), der in der mittelassyrischen Zeit zwar nur einmal erwähnt wird,186 aber in der neuassyrischen Periode ein wichtiges Amt ausübte.187 Er war vermutlich der Chef der Kanzlei, d. h. des zentralen Archivs.188 Eine weitere allgemeine Kategorie ist die der Bevollmächtigten (qepu). Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Bezeichnung für Stellvertreter.189 Der Begriff wird insbesondere verwendet für die Repräsentanten des Königs in den Provinzen sowie in den teilautonomen Gebieten. 177

Siehe unten S.  85 ff. Jakob, S.  254; Postgate, Bureaucracy, S.  47. 179 Jakob, S.  256; ähnlich Ponchia, SAAB 2007, S.  129. 180 Klauber, S.  38; Radner, in Westbrook, S.  887; Auflistung bei Kinnier Wilson, S.  95– 98. 181 Detailliert dazu Postgate, Bureaucracy, S.  86–326. 182 Jakob, S.  256; Cancik-Kirschbaum, in Devecchi, S.  20; Postgate, Bureaucracy, S.  49. 183 Neumann, in Janowski/Schwemer, S.  122. 184 Tushingham, ZAR 2019, S.  4 6 f. 185 Radner, in Radner/Robson, S.  364. 186 Jakob, S.  2 36. 187 Postgate, RlA 10, S.  2 23; Finn, S.  6 . 188 Kinnier Wilson, S.  62; Finer, S.  2 32. 189 Jakob, S.  269. 178

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2. Territoriale Herrschaft Die territoriale Struktur des assyrischen Reiches war über die Jahrhunderte nie ganz einheitlich. Zum einen hat sich seine räumliche Ausdehnung immer wieder verändert. Dies ist aber keine Besonderheit, wenn man etwa die Entwicklung europäischer Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten betrachtet. Zum anderen war auch die innere Heterogenität des Staatsgebildes unterschiedlich groß. Während man es in der mittelassyrischen Epoche als ein »Netzwerk-Reich« beschreiben kann, entwickelte es sich ab dem 9. Jahrhundert stärker in Richtung eines »Territorial-Reichs«.190 a) Die Struktur des Reiches Das neuassyrische Reich gilt vielen als das erste Weltreich in der Geschichte der Menschheit.191 Auch wenn die größte Ausdehnung erst im 7. Jahrhundert erreicht wurde,192 lagen die Anfänge eines Imperiums schon in mittelassyrischer Zeit.193 Zwar ist umstritten, ob der Begriff des Reiches zur Beschreibung von großen Staaten dieser Epoche sinnvoll ist.194 Assyrien war aber jedenfalls der erste Staat, der viele verschiedene Kulturen des alten Orients für längere Zeit in einer einzigen, wenn auch fragmentierten, politischen Einheit zusammenfasste.195 Schon die genaue territoriale Ausdehnung des mittelassyrischen Reichs ist schwierig zu bestimmen, da seine militärischen Aktionen weiter reichten als die dauerhafte politische Kontrolle, die sich v. a. auf die Städte bezog.196 Zwischen ihnen wurde eine staatliche Infrastruktur geschaffen, die ein Netzwerk von Transport- und Kommunikationskorridoren bildete.197 Außerdem gab es eine flexible Politik in Bezug auf die besiegten Gebiete,

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Liverani, SAAB 1988, S.  91. Radner, in Westbrook, S.  885; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  138; Düring, Imperialisation, S.  133; Fales, in Frahm, S.  404. 192 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  65–95. 193 So Parker, APAAA 2013, S.  127; Düring, Imperialisation, S.  3; skeptisch Brown, JCS 2013, S.  118. 194 Dazu z. B. Cline/Graham, S.  3 –7; Liverani, S.  1–9; zur Diskussion, ob frühere Staaten in Mesopotamien Imperien waren, vgl. Düring, Imperialisation, S.  12–20. 195 Parker, APAAA 2013, S.  129. 196 Brown, in Bonatz, S.  93. 197 Liverani, SAAB 1988, 86; Parker, APAAA 2013, S.  137; Düring, in Düring, S.  305 f., spricht von »hardware«. 191

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3. Kapitel: Assyrien

die keineswegs alle vollständig in den Staat integriert wurden.198 Deshalb bestand auch nicht immer ein territorial zusammenhängendes Reichsgebiet, sondern in einigen Fällen beschränkte sich die Herrschaft auf Außenposten.199 So blieb etwa das Land Mari lange Zeit autonom, obwohl es von assyrischen Provinzen umringt war.200 Auch das nomadische Volk der Sutäer, das vermutlich in der Steppe zwischen Euphrat und Tigris lebte, wurde nicht Teil des Staates.201 Kennzeichnend für das assyrische System der Mischung von direkter und indirekter Herrschaft 202 ist die Einrichtung von Vasallen-203 bzw. Klientelstaaten.204 Sie bildeten an den Grenzen des Reiches einen Ring von tributpflichtigen, aber teilautonomen Staaten.205 Das Verhältnis zu Assyrien wurde jeweils in einem Subordinationsvertrag geregelt. Allerdings wurde bisher kein entsprechendes Dokument aus der mittelassyrischen Zeit gefunden, 206 während einige wenige, aber unvollständige Exemplare aus der neuassyrischen Zeit überliefert sind.207 Nach der Unterwerfung behielten die einheimischen Herrscher zwar ihr Amt, sie mussten aber einen Treueeid auf den Gott Assur schwören.208 Dies spricht dafür, dass sie auch ihre außenpolitische Handlungsfreiheit verloren. In mehreren Fällen setzten die assyrischen Könige neue Fürsten ein.209 Die Herrscher standen unter der Aufsicht eines Beauftragten (qepu) des assyrischen Königs, 210 der auch ihre Abgaben entgegennahm.211 Die Abhängigkeit dokumentierte sich besonders markant in der Stationierung einer assyrischen Kavallerie-Kohorte auf ihrem Gebiet.212 198

Düring, in Düring, S.  310; s. a. Liverani, SAAB 1988, S.  86: »patchwork of situations«. 199 Liverani, SAAB 1988, S.  85. 200 Shibata, in Wilhelm, S.  491–500; Brown, JCS 2013, S.  116 f.; Düring, Imperialisation, S.  100. 201 Brown, JCS 2013, S.  104 f.; Düring, Imperialisation, S.  100. 202 Bedford, in Morris/Scheidel, S.  48. 203 So z. B. Saggs, S.  86; Fales, L’impero assiro, S.  214. 204 Für diesen Begriff Altman, S.  178. 205 Fales, L’impero assiro, S.  215; Cancik-Kirschbaum, in Ziegler/Cancik-Kirschbaum, S.  301. 206 Altman, S.  104. 207 Grayson, in Sasson, S.  965; Altman, S.  179 f.; Radner, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  309–325. 208 Jakob, S.  20; Holloway, S.  342; Liverani, S.  188. 209 Klengel, in Waetzold/Hauptmann, S.  73–75. 210 Klengel, in Waetzold/Hauptmann, S.  75; Altman, S.  180; Parker, in Düring, S.  288, übersetzt »royal delegate«. 211 Jakob, S.  272. 212 Altman, S.  180; Parker, in Düring, S.  288, für Kumme.

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Kam es in einem solchen autonomen Gebiet zu einer Revolte bzw. wurde die Tributzahlung verweigert, wurde es nach einer militärischen Bestrafung oft eingegliedert und in Provinzen umgewandelt.213 So verlor etwa der Staat Hanigalbat nach mehreren Feldzügen seine Selbständigkeit.214 Im 8. Jahrhundert wurden große Teile Syriens in das assyrische Verwaltungssystem eingegliedert. Die Unterwerfung wurde in der Regel von Ausplünderung und Massendeportationen begleitet.215 Ein Beispiel, das im Alten Testament (2. Buch Könige, 17, 6, 24–33) dokumentiert ist, war der gewaltsame Bevölkerungsaustausch nach der Eroberung Samarias durch die Truppen von Salmanasser. Insgesamt wurden vermutlich mehrere Millionen Menschen vertrieben und in zentralen Gebieten des Reiches neu angesiedelt.216 Die lokalen Eliten wurden meist durch Assyrer ersetzt, wie man den Namen der Amtsträger entnehmen kann.217 Gerechtfertigt wurde dieses oft brutale Vorgehen als Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, die durch die Revolte gebrochen worden sei.218 Es gab aber auch entgegengesetzte Entwicklungen. So erlangte die Provinz Idu gegen Ende der mittel­ assyrischen Epoche für etwa 200 Jahre ihre Unabhängigkeit mit eigenen Königen, jedoch erfolgte später die Wiedereingliederung in das neuassyrische Reich.219 Eine ähnliche Form der partiellen Autonomie galt für einige nomadische Gruppen. Sie wurden durch Weideverträge mit der Aufzucht und Betreuung von Viehherden und anderen Aufgaben wie Boten-, Späher- oder sogar Söldnerdiensten beauftragt und dadurch in das assyrische Staatswesen einbezogen.220 Schließlich ist noch zu erwähnen, dass Babylonien nach seiner Eroberung in der neuassyrischen Zeit immer einen Sonderstatus behielt. Dies zeigte sich zum einen darin, dass sich die Könige von Assur auch als Köni-

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Liverani, SAAB 1988, S.  87; Bedford, in Morris/Scheidel, S.  45; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  58 f.; Bär, S.  129; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  145. 214 Altman, S.  101; Düring, in Düring, S.  308. 215 Grayson, in Sasson, S.  961 f.; Altman, S.  180–184; Cline/Graham, S.  50, sprechen von einem »innovative … administrative tool«. 216 Hauser, S.  49–54. 217 Cline/Graham, S.  48; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  139; zur Frage der ethnischen Identität Karlsson, S.  202–211; Fales, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  45–89. 218 Machinist, in Raaflaub, S.  85–90; Maul, in Assmann/Janowski/Welker, S.  76. 219 Pappi, SAAB 2018, S.  108–119. 220 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.   49; zum Phänomen der Nomaden auch Fleming, S.  34–39.

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ge von Babylon krönten.221 Damit erkannten sie die Eigenständigkeit dieses Reichsteiles an. Zum anderen behielt das babylonische Gebiet auch rechtlich eine Sonderstellung, 222 etwa im Bereich der Lokalverwaltung. So gelang den Assyrern nie eine stabile Herrschaft über diesen südöstlichen Reichsteil mit seiner großen eigenen Tradition.223 b) Provinzen Die Unterteilung eines staatlichen Territoriums in kleinere Einheiten, um die Herrschaft in der Fläche zu organisieren, ist keine Erfindung der Assyrer. Bereits im Staat der Ur III-Dynastie gab es etwa 20 Provinzen mit Statthaltern.224 Auch im Mittani-Reich bestanden Provinzen, die möglicherweise als unmittelbares Vorbild für die Verwaltungsstruktur des mittelassyrischen Reiches dienten.225 Wann dort die ersten Provinzen eingerichtet wurden, ist unklar.226 Ihre erste Erwähnung findet sich in einem Dekret des Königs Aschur-Uballit I. aus dem 14. Jahrhundert.227 Aus dieser Zeit sind sieben Provinzen namentlich bekannt.228 Gegen 1200 gab es wenigstens 26 Provinzen.229 Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung des Reiches im 7. Jahrhundert bestanden sogar rund 70 Provinzen.230 Die assyrische Bezeichnung der territorialen Einheiten pahutu bedeutet wörtlich »Stellvertretung«.231 In der ersten Zeit wird auch der Begriff halzu verwendet, der wohl äquivalent zu pahutu ist, 232 aber im 13. Jahrhundert verschwindet.233 Als Übersetzung für diese Einheiten wird meist der Begriff »Provinz« gebraucht.234 Manchmal wird auch der Begriff »Distrikt« verwendet, 235 was für die neuassyrische Epoche mit einer Verkleinerung der Provinzen begründet wird.236 Eine Änderung ihrer Stellung im Aufbau 221

Bedford, in Morris/Scheidel, S.  57 f. Radner, in Westbrook, S.  885. 223 Grayson, in Sasson, S.  965. 224 Steinkeller, in Gibson/Biggs, S.  2 2–26; Altman, S.  4 4 f. 225 Forrer, S.  11; Cancik-Kirschbaum, in Milano/de Martino/Fales/Lanfranchi, S.  7. 226 Cancik-Kirschbaum, in Ziegler/Cancik-Kirschbaum, S.  294. 227 Abgedruckt bei Roth, S.  197; ausführlich Llop, JAOS 2011, S.  591–603. 228 Cancik-Kirschbaum, in Milano/de Martino/Fales/Lanfranchi, S.  6 . 229 Cancik-Kirschbaum, in Milano/de Martino/Fales/Lanfranchi, S.  7. 230 Überblick bei Radner, RlA 11, S.  45–66. 231 Radner, RlA 11, S.  43. 232 Dazu Cancik-Kirschbaum, in Ziegler/Cancik-Kirschbaum, S.  296 f. 233 Jakob, S.  18 f. 234 Llop, JAOS 2011, S.  593. 235 Forrer, S.  5; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  4 6. 236 So Jakob, S.  14. 222

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des Reiches war damit aber nicht verbunden, so dass im Folgenden einheitlich von Provinzen die Rede ist. Eine Provinz bestand aus einer Hauptstadt und den umliegenden Städten, Dörfern und Landgütern.237 In den Verwaltungssitzen wurden jeweils eigene Paläste gegründet, die insbesondere in der Abgabenverwaltung eine zentrale Rolle spielten. Auch während der Expansion in der neuassyrischen Zeit war die Palastgründung eine bewusste Strategie zur Eingliederung neuer Provinzen.238 Der Leiter einer Provinz wird meist als bel pahete bezeichnet. Vereinzelt findet sich auch der Begriff schaknu.239 Für die territoriale Einheit halzu lautete der entsprechende Terminus halzuhlu bzw. hassihlu.240 In der assyriologischen Literatur wird überwiegend die Übersetzung als »Gouverneur« verwendet.241 In dieser Untersuchung wird für die entsprechende Position aber der Begriff »Statthalter« bevorzugt. Der Statthalter war zwar der eigenständige Leiter der Territorialverwaltung auf der regionalen Ebene.242 Er unterstand aber den Weisungen des Königs bzw. der obersten Amtsträger und er musste sich persönlich gegenüber dem König rechtfertigen, was aus seinen Audienzgeschenken abgeleitet wird.243 Die Unterordnung im Verhältnis zu den obersten Amtsträgern der zentralen Ebene wird u. a. daraus geschlossen, dass die Statthalter in ihren an sie gerichteten Briefen die Formel »mein Herr« verwendeten.244 Allerdings gab es auch Fälle, in denen eine Person das Amt des Statthalters gleichzeitig mit einem Palastamt ausübte.245 Auch eine Statthalterschaft einer Person in mehreren Provinzen gleichzeitig ist belegt.246 In der neuassyrischen Zeit waren bestimmte Grenzprovinzen immer dem gleichen obersten Amtsträger zugeordnet.247

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Machinist, Assur 1982, S.  19. Kühne, in Dentzer/Orthmann, S.  483; Liverani, S.  181–184. 239 Nach Kinnier Wilson, S.  13, handelt es sich in der neuassyrischen Zeit um einen »military governor«; dagegen Machinist, Assur 1982, S.  22: äquivalent zu bel pahete; dazu auch Jakob, S.  131–140, der mit »Präfekt« übersetzt. 240 Machinist, Assur 1982, S.  2 2–24 ; Jakob, S.  140–147. 241 Llop, JAOS 2011, S.  593; Postgate, Bureaucracy, S.  30; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  46. 242 Jakob, S.  117. 243 Jakob, S.  117. 244 Mattila, S.  165 f.; Radner, in Westbrook, S.  889 Fn.  31. 245 Grayson, SAAB 1993, S.  24; Mattila, S.  137–139. 246 Grayson, SAAB 1993, S.  28; Liverani, S.  184; Siddall, S.  120. 247 Mattila, S.  138. 238

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3. Kapitel: Assyrien

Die Statthalter wurden durch den König ausgewählt und gegebenenfalls auch abgelöst.248 Ab dem 12. Jahrhundert sind allerdings Fälle einer Weitergabe des Amtes in einer Familie dokumentiert, so dass eine Art von Lokaldynastien entstand.249 Sie erhielten steuerbefreite landwirtschaftliche Güter als Gegenleistung.250 Die durchschnittliche Amtszeit in neuassyrischer Zeit betrug zwischen 16 und 36 Jahren.251 Nach der Eroberung neuer Provinzen wurden manchmal einheimische Herrscher als Statthalter eingesetzt.252 In der Regel wurden die Statthalter aber nicht aus der einheimischen Bevölkerung ausgewählt, vielmehr wurde das Amt an Assyrer übertragen.253 Für die Einordnung als »Assyrer« finden sich zwar verschiedene Bezeichnungen.254 Es handelte sich aber um einen abgrenzbaren Status.255 Eine Ausnahme bildete die Integration von Babylonien, bei der die meisten lokalen Statthalter übernommen wurden.256 Die interne Organisation der regionalen Zentren ähnelte den Strukturen der zentralstaatlichen Ebene.257 Der Statthalter hatte einen Stellvertreter (schaniu).258 Der Provinzpalast (ekallu) hatte sein eigenes Personal, 259 das von einem Palastverwalter (maschennu oder abarakku260 oder rab ekalli 261) geleitet wurde. Er wird als Stellvertreter des Gouverneurs in ökonomischer Hinsicht qualifiziert 262 und war für die Ressourcenverwaltung zuständig.263 Der Statthalter war verantwortlich für die Rechtsprechung, die Einhaltung der öffentlichen Ordnung und die Steuereintreibung in der Provinz.264 Hierzu gehörten auch die Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion bzw. Viehhaltung und die Organisation der Arbeitsdienste bzw. der Ge248

Finer, S.  226. Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.   55; so auch für die neuassyrische Zeit Kurth, S.  491 f. 250 Düring, Imperialisation, S.  101. 251 Grayson, SAAB 1993, S.  25. 252 Beispiel bei Radner, in Gehrke, S.  384. 253 Machinist, Assur 1982, S.  19; vorsichtiger Postgate, Bureaucracy, S.  339: presumably. 254 Machinist, in Raaflaub, S.  81 f. 255 Postgate, Bureaucracy, S.  12–14. 256 Barjamovic, in Dercksen, S.  55. 257 Cancik-Kirschbaum, SAAB 2018, S.  3. 258 Radner, RlA 11, S.  43; Ponchia, SAAB 2007, S.  130. 259 Pappi, SAAB 2018, S.  104. 260 Grayson, SAAB 1993, S.  21, übersetzt »steward«. 261 Machinist, Assur 1982, S.  24. 262 Jakob, S.  100. 263 Postgate, Bureaucracy, S.  339. 264 Machinist, Assur 1982, S.  20; Finer, S.  2 25 f. 249

II. Herrschaftsorganisation

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stellung von Soldaten.265 Er war ebenfalls zuständig für die Versorgung des Personals von Großprojekten, von Deportierten, von Kurieren sowie von Mitgliedern des Hofes bei Besuchen in der Provinz.266 Außerdem hatte der Statthalter regelmäßig das militärische Kommando über eigene Truppen.267 Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurden allerdings oft lokale Amtsträger eingesetzt. Die Statthalter unterlagen einer Kontrolle durch königliche Beauftragte (qepu scha scharri), die den Provinzen beigeordnet waren.268 In der neu­ assyrischen Zeit sind sie auch in Ägypten, der Levante und anderen Gebieten nachweisbar.269 Sie überwachten insbesondere die Wirtschaftsangelegenheiten, 270 z. B. die Erfassung des Ernteertrags.271 Eine ständige Präsenz solcher Beauftragter ist nur in der Provinz Dur-Katlimmu nachweisbar.272 Ansonsten erfolgten ihre Besuche ein- oder zweimal im Jahr.273 Ob es eine Weisungsbefugnis der Beauftragten gegenüber den Statthaltern gab, ist nach den Quellen zweifelhaft.274 Passender erscheint eine Qualifikation ihrer Aufgabe als Überwachung.275 c) Städte und Dörfer Die Struktur der Lokalverwaltung kann in den Grundzügen aus den überlieferten Urkunden rekonstruiert werden. Dabei sind zwei Funktionsebenen zu unterscheiden.276 Zum einen gab es ein Amt mit Aufsichtsfunktionen, zum anderen die Leiter der einzelnen Orte. Für die administrative Koordination zwischen der Provinz und den Ortschaften gab es das Amt des rab alani, dessen Übersetzung Schwierigkeiten bereitet. Oft findet man den Begriff »Dorfinspektor«277 oder auch

265

Jakob, S.  117 f. Ausführlich dazu Jakob, S.  120–126. 267 Forrer, S.  49; Grayson, in Sasson, S.  963; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  143. 268 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  47. 269 Dubovsky, in Wilhelm, S.  450–455. 270 Cancik-Kirschbaum, in Milano/de Martino/Fales/Lanfranchi, S.  6 ; Jakob, in Frahm, S.  150. 271 Cancik-Kirschbaum, SAAB 2018, S.  2 2. 272 Jakob, S.  270. 273 Brown, JCS 2013, S.  110. 274 Jakob, S.  277; Cancik-Kirschbaum, SAAB 2018, S.  5. 275 Dubovsky, in Wilhelm, S.  4 60. 276 Vgl. das Organigramm bei Postgate, in Postgate, S.  352. 277 Kinnier Wilson, S.  15–17; Jakob, S.  151; Lafont, in Westbrook, S.  522: »inspector«; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  28: »intermediario«. 266

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3. Kapitel: Assyrien

»Gemeindevorsteher«278 . Wenn er dem Provinzstatthalter untergeordnet, 279 den Gemeinden aber übergeordnet war,280 ähnelte seine Position eher dem deutschen Landrat. Er übte eine Aufsicht über Handwerk und Landwirtschaft sowie die Rekrutierung von Soldaten aus.281 Die oberste Autorität in den Städten und Ortschaften (alu) hatte der haziannu.282 Diese Amtsbezeichnung wird meistens mit »Bürgermeister« übersetzt.283 Die Amtsinhaber wurden zwar häufig aus der lokalen Bevölkerung ausgewählt, 284 aber nicht von den Gemeinden selbst bestimmt, sondern vom König eingesetzt.285 Insofern ist eine terminologische Referenz auf die Bürger irreführend. Eher passt die Einordnung als Kontaktperson zwischen der königlichen Verwaltung und der Bürgerschaft.286 Kennzeichnend ist außerdem eine Unterordnung insbesondere gegenüber dem Provinzstatthalter.287 In Assur, aber auch in anderen großen Städten gab es zumindest in neuassyrischer Zeit mehrere Bürgermeister, die gleichzeitig amtierten.288 Insbesondere in der neuassyrischen Zeit gab es neben dem haziannu auch einen Stadtaufseher (scha muhhi ali).289 Dieses Amt ist nur in den großen Zentren des Reiches nachgewiesen.290 Das Verhältnis zum Bürgermeister ist unklar.291 Der Stadtaufseher hatte vermutlich eine enge Beziehung zum Statthalter, 292 möglicherweise fungierte er als ein Verbindungsmann zum Bürgermeister.293 Er war auch als Richter tätig.294 278

Cancik-Kirschbaum, in Milano/de Martino/Fales/Lanfranchi, S.  6. Machinist, Assur 1982, S.  24; Ponchia, SAAB 2007, S.  133. 280 Jakob, S.  154 f. 281 Jakob, S.  166. 282 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  156. 283 Problematisierung der Übersetzung bei Van De Mieroop, in Watanabe, S.  152, Jakob, S.  151, und Van Buylaere, in Kogan/Koslova/Loesov/Tishchenko, S.  229; s. a. Machinist, Assur 1982, S.  24: »local supervising officer«. 284 Radner, in Westbrook, S.  889; Jakob, in Frahm, S.  151. 285 Klengel-Brandt/Radner, in Parpola, S.  153; Van Buylaere, in Kogan/Koslova/Loesov/Tishchenko, S.  232. 286 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  160. 287 Jakob, S.  15, spricht von Richtlinien. 288 Van Buylaere, in Kogan/Koslova/Loesov/Tishchenko, S.  2 31, 239. 289 Radner, in Westbrook, S.   889; Fales, L’impero assiro, S.  184: »prefetto urbano«; Übersicht über die bekannten Amtsträger bei Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  146– 151. 290 Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  154. 291 Vgl. Kinnier Wilson, S.  8 einerseits, Postgate, in Postgate, S.  352, andererseits. 292 Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  152, 156. 293 Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  158: »go-between«. 294 Klengel-Brandt/Radner, in Parpola, S.  153. 279

III. Verwaltungsfunktionen

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Die Hauptaufgabe eines Bürgermeisters war die Organisation der örtlichen Landwirtschaft 295 und der Arbeits- bzw. Frondienste.296 Außerdem hat er Beurkundungs- und Rechtsprechungsfunktionen wahrgenommen, möglicherweise gemeinsam mit einem Ältestenrat (rabi’utu) aus den Oberhäuptern der führenden Familien, 297 der zumindest in der Umgebung von Assur nachgewiesen ist.298 Diese im Wesentlichen einheitliche Struktur der Lokalverwaltung wurde nicht auf die eroberten babylonischen Gebiete übertragen. Vielmehr behielten die süd-mesopotamischen Städte ihre Institutionen der Selbstverwaltung, die in den Urkunden als »Bürger«, »Versammlung« oder »Älteste« bezeichnet werden.299 So wird etwa in einem Brief eines Statthalters von Nippur auch eine Volksversammlung erwähnt.300 Wie ihre Mitgliedschaft geregelt war, ist allerdings nicht überliefert.

III. Verwaltungsfunktionen Leider sind kaum Dokumente über die alltägliche Verwaltungstätigkeit gefunden worden.301 Man muss davon ausgehen, dass in der assyrischen Verwaltung in der Regel das Mündlichkeitsprinzip herrschte. Deshalb betreffen viele der überlieferten Dokumente Vorgänge zwischen Abwesenden,302 also etwa im Verhältnis zwischen den Provinzen und dem zentralen Palast in der Hauptstadt. Auch gibt es keine allgemeinen Aufgabenbeschreibungen für einzelne Amtsträger, wie sie aus dem hethitischen Reich überliefert sind.303 Vielmehr müssen die Vorgänge aus vielen einzelnen Urkunden rekonstruiert werden, die aber oft Unklarheiten enthalten. Insbesondere lässt sich die heutige Unterscheidung zwischen öffentlichen Aufgaben, die von staatlichen Amtsträgern erfüllt wurden, und privaten Angelegenheiten, nicht ohne weiteres auf die damaligen Vorgänge anwenden. 295

Jakob, S.  155. Postgate, Taxation, S.  233; Van De Mieroop, in Watanabe, S.  158; Van Buylaere, in Kogan/Koslova/Loesov/Tishchenko, S.  235 f. 297 Finer, S.  2 28; zu den besser belegten Stadtältesten in Mari und Altbabylonien ausführlich Seri, S.  97–137; Beispiele aus Ekalte, Emar und Ugarit bei Solans, S.  268–274. 298 Jakob, S.  151; Van Buylaere, in Kogan/Koslova/Loesov/Tishchenko, S.  2 32–234. 299 Dazu näher Barjamovic, in Dercksen, S.  55–73; Momrak, in Rollinger/van Dongen, S.  423–429. 300 Villard, in Joannès, S.  195 f. 301 Postgate, in Postgate, S.  337. 302 San Nicolò, S.  14. 303 Übersetzung und Auswertung bei Miller, passim. 296

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3. Kapitel: Assyrien

1. Bestandsaufgaben a) Öffentliche Finanzen Aufgrund des großen Umfanges der zentralen und provinziellen Palastökonomie war das Abgabenwesen des assyrischen Staates sehr komplex. Es gab noch keine Geldwirtschaft, sondern eine Kombination von Naturalabgaben und einer zivilen sowie militärischen Dienstpflicht. Die Dienstpflicht war vermutlich an den Landbesitz geknüpft,304 wird hier aber ausgeklammert. Die staatlichen Einnahmen kamen aus verschiedenen Quellen.305 Hierzu zählten zunächst die Beuteerträge aus militärischen Feldzügen, die Geschenke ausländischer Herrscher und die Tributzahlungen von abhängigen Staaten.306 Außerdem waren grundsätzlich alle Einwohner steuerpflichtig.307 Allerdings konnte der König einzelnen Personen oder ganzen Städten Steuerfreiheit gewähren.308 Die Steuer bezog sich auf die landwirtschaftlichen Erträge des Grundbesitzes.309 Im 1. Jahrtausend wurde eine Strohsteuer eingeführt.310 Schließlich wurden Zölle auf den grenzüberschreitenden Handel bzw. für die Benutzung von Häfen erhoben.311 Die Erhebung der Steuern lag in der Verantwortung der Provinzstatthalter.312 Die Eintreibung der Steuern erfolgte entweder durch eigene Steuereinnehmer (makisu),313 die in der neuassyrischen Zeit auch Offiziere der Armee waren,314 oder durch lokale Amtsträger.315 Es ist strittig, ob die Steuereinnehmer der zentralen Regierung unterstanden 316 oder den Provinzstatthaltern.317 Ein Teil der Steuereinnahmen wurde aus den Provinzen direkt an Verbraucher wie z. B. die Armee oder Tempel geliefert.318 Alle Provinzen 304

Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  130. Überblick bei Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  214 f. 306 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  217–219. 307 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  102. 308 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  2 23–225. 309 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  2 21–225. 310 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  130. 311 Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  130. 312 Postgate, Taxation, S.  134; Fales, in Frahm, S.  406. 313 Kinnier Wilson, S.  17 f.; Jakob, S.  170. 314 Grayson, in Sasson, S.  963. 315 Jakob, S.  130. 316 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  2 25. 317 Jakob, S.  172. 318 Radner, in Kubisch/Müller-Wollermann/Klinkott, S.  2 21. 305

III. Verwaltungsfunktionen

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mussten außerdem eine jährliche Abgabe an den Tempel von Assur leisten, was als Mittel der Einheitsbildung im assyrischen Reich eingesetzt wurde.319 Nur ein Überschuss an Steuereinnahmen wurde von den Provinzen an den zentralen Palast abgeliefert.320 Sie wurden dort vom Palastverwalter erfasst, ebenso wie die Kriegsbeute und Tributzahlungen.321 In der neuassyrischen Zeit gab es hierfür mehrere Abteilungen für unterschiedliche Abgaben wie Pferde, Vieh, Wolle, Getreide, Stroh etc.322 b) Öffentliche Bauten Eine zentrale Staatsaufgabe ist die Errichtung und Erhaltung öffentlicher Bauten in einem weiten Sinn. Für die assyrische Staatsideologie war die Rolle des Königs als Bauherr von fundamentaler Bedeutung.323 Insbesondere die neuassyrischen Könige präsentierten sich in den Bauinschriften vorzugsweise als diejenige Person, die das gesamte Werk plant und durchführt. Besonders gut dokumentiert ist der von König Sargon II. im Jahr 717 begonnene Bau einer neuen Hauptstadt in Dur-Scharrukin.324 Er engagierte sich offensichtlich stark im Palastbau,325 so dass seine Rolle mit der eines Projektmanagers verglichen wurde.326 Der zentrale Koordinator und zugleich oberste Aufseher der Bauarbeiten war jedoch der königliche Schatzmeister.327 Die erhaltene Korrespondenz aus den assyrischen Staatsarchiven lässt erkennen, wie die Verantwortung für die Materialbeschaffung, Rekrutierung von Bauleuten und Realisierung der einzelnen Teile des gigantischen Bauvorhabens auf die verschiedenen obersten Amtsträger und mindestens 26 Provinzstatthalter verteilt wurde.328 Bei staatlichen Baumaßnahmen in den Provinzen fungierten die jeweiligen Statthalter als Bauleiter.329 Sie organisierten die beteiligten Bautrupps, planten die Bauabschnitte und beaufsichtigten den Fortschritt der Arbei319

Pongratz-Leisten, RA 2011, S.  110. Finer, S.  228. 321 Jakob, S.  106 f. 322 Postgate, Taxation, S.  2 30. 323 Lackenbacher, S.  4 4; Tudeau, S.  128. 324 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  73. 325 Parpola, in Caubet, S.  52; Sievertsen, in Renn/Osthues/Schlimme, S.  149. 326 Bagg, in Frahm, S.  511. 327 Lackenbacher, S.  78; Parpola, in Caubet, S.  51; Tudeau, S.  131. 328 Parpola, in Caubet, S.  51; Mattila, S.  26–28; Sievertsen, in Renn/Osthues/Schlimme, S.  155. 329 Jakob, S.  128; Tudeau, S.  130. 320

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3. Kapitel: Assyrien

ten. Einzelne Urkunden belegen, dass sogar das individuelle Arbeitspen­ sum vom Statthalter festgelegt wurde.330 Das assyrische Reich war durch ein gut ausgebautes Netz von Verbindungsstraßen gekennzeichnet.331 Es gilt als das älteste Straßensystem im Alten Orient.332 Allerdings gab es jedenfalls im 2. Jahrtausend kaum einen Straßenbau im engeren Sinn. Für die Verkehrsverbindungen war vielmehr die Einrichtung von Straßenstationen von zentraler Bedeutung, die etwa alle 30 km bestanden.333 In der neuassyrischen Zeit wurde wohl auch eine Königsstraße gebaut, doch sind die Einzelheiten wenig dokumentiert.334 Die Unterhaltung der Fernstraßen zählte zu den Aufgaben der Statthalter.335 Aufgrund der besseren Niederschlagsverhältnisse im Kernland von Assur spielte die Bewässerung, anders als in Babylonien oder Ägypten, zunächst kaum eine Rolle. Wasserbauten sind vor allem aus der neuassyrischen Zeit dokumentiert. Der König Sanherib verlegte um das Jahr 700 die Residenz nach Ninive und gab in diesem Zusammenhang den Bau mehrerer Kanäle und Aquädukte zu Bewässerungszwecken in Auftrag.336 In einigen Dokumenten wird ein Kanalinspektor (gugallu) erwähnt, jedoch ist Näheres über seine Aufgaben unbekannt.337

2. Ordnungsaufgaben a) Bodenverwaltung In Mesopotamien gab es Grundeigentum des Königs bzw. Palastes, der Tempel und von Privatpersonen in unterschiedlichen Formen. Privates Eigentum an Feldern und Häusern ist schon in der altsumerischen Zeit nachgewiesen.338 Jedenfalls im Kernland Assyriens gab es ebenfalls privates Grundeigentum.339 Folglich bedurfte es eines Verfahrens, um den Eigen-

330

Jakob, S.  129. Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  119. 332 Düring, Imperialisation, S.  109. 333 Liverani, S.  195–202; Düring, Imperialisation, S.  109. 334 Kühne, in Dentzer/Orthmann, S.  489. 335 Kuhrt, S.  535. 336 Liverani, S.  177 f.; Bagg, in Frahm, S.  514–517. 337 Bagg, S.  281; Sievertsen, in Renn/Osthues/Schlimme, S.  241. 338 Wilcke, S.  67. 339 Postgate, Bureaucracy, S.  31 f. 331

III. Verwaltungsfunktionen

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tumsgegenstand eindeutig zu identifizieren.340 In den neuassyrischen Urkunden über die Übertragung von Grund und Boden finden sich deshalb genaue Beschreibungen des Grundstücks.341 Erforderlich sind hierfür eine Vermessung der Grundstücke und eine eindeutige Nachvollziehbarkeit von Übertragungsvorgängen. Informationen über die Landvermessung liegen nur aus Babylonien vor. In einer altbabylonischen Urkunde findet sich ein Hinweis auf einen Schreiber des Katasters (zazakkum).342 In mittelbabylonischer Zeit werden Landvermesser mit einer besonderen Ausbildung im Zusammenhang mit privaten Transaktionen von Immobilien erwähnt.343 Am Verfahren der Vermessung waren örtliche Amtsträger als Zeugen beteiligt.344 Aus neuassyrischer Zeit sind einige Listen mit katasterähnlichen Einträgen überliefert.345 Für Assyrien liegen dagegen Informationen über das Verfahren zur Übertragung von Eigentum an privatem Grund und Boden vor. Die Übertragung bedurfte grundsätzlich der Kenntnisnahme und der Beteiligung von Vertretern der Zentralregierung und kommunaler Verwaltungsorgane.346 Außerdem war die Anwesenheit eines Schreibers vorgeschrieben.347 Auf der Tontafel B der sog. mittelassyrischen Gesetze ist das Verfahren näher beschrieben.348 Zunächst erfolgte durch einen Herold in der Stadt eine dreimalige Proklamation der Absicht, ein bestimmtes Feld oder Haus zu verkaufen, um mögliche Einwände zu erfahren. Nach der dritten Ausrufung traten sukallu, Stadtschreiber, Herold und ein Beauftragter des Königs sowie der örtliche Bürgermeister und drei Älteste der Stadt zusammen, um den Kauf auf Tafeln zu dokumentieren. In der neuassyrischen Zeit wurden Urkunden über einen Hausverkauf entweder vom Stadtaufseher oder vom Bürgermeister, Stadtaufseher und dem Obersten des Zehnerkollegiums der Schreiber oder von diesen drei sowie zwei weiteren Bürgermeistern gesiegelt.349 Daneben konnten auch Amtsträger des Palastes Urkunden über Immobiliengeschäfte siegeln.350 340

Dazu allgemein Sauren, in Allam, S.  45–64. Fales, SAAB 1990, S.  84. 342 Charpin, in Joannès, S.  8 0 f. 343 Paulus, S.  96–102. 344 Paulus, S.  101 f. 345 Fales, SAAB 1990, S.  87 f. 346 Dazu näher Driver/Miles, S.  311–320; Jakob, S.  70–72. 347 Jakob, S.  260. 348 Deutsche Übersetzung bei Jakob. S.  70 f. 349 Klengel-Brandt/Radner, in Parpola, S.  138; Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  153. 350 Klengel-Brandt/Radner, in Parpola, S.  143. 341

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3. Kapitel: Assyrien

Die Wasserverteilung wurde nicht generell durch staatliche Stellen organisiert. Wenn sich mehrere Eigentümer über die anteilige Bewässerung ihrer Felder nach deren Größe nicht einigen konnten, war nach den Vorschriften der sog. mittelassyrischen Gesetze die Anrufung einer richterlichen Kommission möglich, deren Funktion aber nicht näher beschrieben wird.351 Eine andere Form der Regulierung wird in zwei neuassyrischen Urkunden erkennbar, die Erlaubnisse zur Nutzung von Brunnenwasser enthalten.352 b) Standardisierung Die überlieferten Dokumente zeigen eine starke reichsweite Standardisierung der Zahlungsmittel sowie der Maße und Gewichte, z.T. auch in rechtlichen Regeln. Assyrien hat dabei wohl die babylonischen Längenmaße übernommen.353 Maße und Gewichte wurden vom König garantiert.354 Die für sie geltenden Normen wurden möglicherweise in einem Eichhaus (bit hiburne) des Palastes festgesetzt.355 Nach einem anderen Dokument aus der altassyrischen Epoche wurden Standardgewichte in einem Rathaus aufbewahrt.356 Zwar gab es in Mesopotamien noch kein Münzwesen. Eine geldähnliche Funktion erfüllte aber die Nutzung von standardisierten Metallmengen, wobei in den verschiedenen Epochen zunächst Blei, dann Kupfer und schließlich Silber verwendet wurde.357 Welche Rolle hierbei der König spielte, ist unklar. Es gibt aber Dokumente darüber, dass die Reinheit des Silbers, das als Zahlungsmittel diente, durch staatliche Beauftragte geprüft wurde.358 c) Öffentliche Sicherheit Eine ständige Sicherheitstruppe im Sinne der modernen Polizei gab es in Mesopotamien nicht. In einzelnen Urkunden lassen sich die Funktionsbezeichnungen »Stabträger«, »Türhüter«, »Stadttorwächter«, »Oberster des 351

MAL B 17/18, MAL O 5, bei Roth, S.  180 f., 191 f.; dazu näher Bagg, S.  6 4–67. Bagg, S.  124. 353 Hultsch, S.  390. 354 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  118. 355 Jakob, S.  25. 356 Dercksen, S.  94. 357 Überblick bei Müller, in Waetzold/Hauptmann, S.   115–121; Hultsch, S.  399, bezeichnet dies als »erste Einführung einer Geldwährung«. 358 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  118; Radner, in Gehrke, S.  397. 352

IV. Rechtlicher Rahmen

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Tores«, »Wächter« und »Waldwächter« nachweisen.359 Sie enthalten aber fast keine weiteren Informationen über ihre Aufgaben und ihre Stellung. Deshalb erscheint die gemeinsame Klassifizierung unter dem Begriff »Ordnungs- und Sicherheitskräfte«360 als problematisch. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung zu den Aufgaben der allgemeinen Amtsträger auf der provinziellen wie auf der lokalen Ebene zählte. Einen Hinweis in diese Richtung bietet ein Brief des Königs von Arraphe, einem Nachbarstaat Assyriens, der etwa im Jahr 1500 dem Bürgermeister von Taschuhe mitteilte, dass er dafür verantwortlich sei, dass es keinen Raub oder Mord gebe.361 Aus der neuassyrischen Zeit ist ein Fall bekannt, in dem sogar der König selbst bewaffnete Männer entsandte, um einen Diebstahl aufzuklären.362 d) Lebensmittelversorgung Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wurde in der assyrischen Zeit nicht als staatliche Aufgabe angesehen. Die in den Palästen gelagerten Vorräte wurden nur an das Palastpersonal und andere Bedienstete sowie an Kriegsgefangene ausgegeben.363 Nachweisbar sind aber immer wieder Darlehen des Palasts in Form von Getreide, die auch an Privatpersonen vergeben wurden und mit Zinsen zurückgezahlt werden mussten.364

IV. Rechtlicher Rahmen In der Retrospektive stellt sich aus juristischer Sicht die Frage, welche Rolle rechtliche Bindungen für die Tätigkeit der Amtsträger spielten. Selbstverständlich sind heutige rechtsstaatliche Vorstellungen, etwa über einen Gesetzesvorbehalt, für die frühe Antike unpassend. Trotzdem gab es in den großen Reichen gewisse Regeln für das Handeln der Amtsträger. Um sie adäquat erfassen zu können, muss man sich zunächst mit dem Charakter des frühen Rechts beschäftigen. Das Recht steht am Beginn der Staatlichkeit in Mesopotamien. Schon in frühen keilschriftlichen Dokumenten finden sich Hinweise auf gerichtli359

Aufstellung bei Jakob, S.  223–233. Jakob, S.  223. 361 Van De Mieroop, S.  130. 362 Fales, L’impero assiro, S.  181 f. 363 Jakob, S.  120 f. 364 Lafont, in Westbrook, S.  523 f. 360

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3. Kapitel: Assyrien

che Instanzen, Prozessrecht und Sanktionen.365 Auch wenn es kein einheitliches altorientalisches Recht gab,366 sind einige staats- und epochenübergreifende Gemeinsamkeiten festzustellen, so dass es sinnvoll ist, das assyrische Recht in einem größeren Kontext zu behandeln.

1. Die Rechtsetzung Es gab in den Sprachen des alten Orients keinen allgemeinen Begriff für »Recht«,367 sondern nur für einen einzelnen Rechtsspruch (dinu).368 Die Gerichtsentscheidungen beruhten in ganz Mesopotamien auf dem Gewohnheitsrecht.369 Rechtsnormen wurden deshalb vermutlich überwiegend mündlich überliefert.370 Anders als nach dem jüdischen Verständnis erfolgte allerdings keine Sakralisierung des Rechts im Sinne eines göttlichen Ursprungs.371 In einer auf Gewohnheitsrecht basierenden Gesellschaftsordnung fallen Rechtsetzung und Rechtsanwendung zusammen, weil sich der Inhalt der Normen nur im jeweiligen Anwendungsfall ausprägt. Es gab keine eigenständige Gesetzgebung, weil das Recht nicht als ein Instrument der aktiven Gestaltung sozialer oder ökonomischer Beziehungen angesehen wurde. Deshalb war die Aufgabe der Richter nicht die Anwendung vorgefundener Vorschriften, sondern das Erarbeiten einer in die Tradition eingebundenen gerechten Lösung des konkreten Falles. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die schon seit dem 3. Jahrtausend überlieferten geschriebenen Rechtssammlungen einzuordnen sind.372 Die ausführlichste und bekannteste Sammlung ist der sog. Kodex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert, der auf einer fast vollständigen steinernen Stele und auf Tontafeln erhalten ist. Die Bezeichnung als »Kodex« stammt vom ersten französischen Übersetzer Scheil.373 Sie ist schon deshalb fragwürdig, weil in den Normen nicht alle Rechtsgebiete abge-

365

Neumann, in Manthe, S.  61. Selb, S.  130. 367 Streck, RlA 11, S.  280; Wesel, S.  75. 368 Wesel, S.  75. 369 Dazu Renger, in Gehrke, S.  45–47. 370 Lafont, in Lévy, S.  49; Streck, RlA 11, S.  283. 371 Cancik-Kirschbaum, in Palmer/Haffke/von Tippelskirch/Nasse, S.  6 6. 372 Überblick z. B. bei Kienast, in Gehrke, S.  18–20. 373 Roth, in Lévy, S.  10. 366

IV. Rechtlicher Rahmen

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deckt werden.374 Vor allem ist aber kontrovers, ob es sich überhaupt um einen Akt der Gesetzgebung im modernen Sinn handelte. Die Einordnung ist nicht zuletzt deshalb schwierig, weil selten klar definiert wird, was unter einem Gesetz zu verstehen ist. Eine Definition lässt ausreichen, dass es sich um eine allgemeine und unpersönliche, in die Zukunft gerichtete Vorschrift von einer gesetzgebenden Autorität, in der Regel dem König, handelt.375 Dies entspricht der Auffassung, dass Gesetzgebung im alten Orient eine wichtige Aufgabe der Könige darstellte.376 Gegen eine Einordnung als Gesetzgebungsakt spricht, dass die Normen des sog. Kodex später in einzelnen Rechtsurkunden kaum erwähnt werden.377 Nach einer Formulierung im Epilog sollte zwar die Stele allen, denen Unrecht geschehen war, vorgelesen werden, damit sie die entsprechende Rechtssache und das daraus folgende Urteil hören können. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie wie Präzedenzfälle angewendet werden sollten.378 Ohnehin wurden Urteile in altorientalischer Zeit nicht rechtlich begründet.379 Weil die Richter gar nicht die Vorstellung hatten, dass sie vorgegebene Gesetze anwenden und kein Instanzenweg bestand, gab es keine Notwendigkeit dafür. Deshalb können diese Texte nicht als Rechtsquelle im modernen Sinn verstanden werden.380 Vielmehr werden sie heute mehrheitlich als systematisierte und anonymisierte Sammlung exemplarischer Rechtsfälle eingeordnet.381 Es handelte sich dabei um eine Kombination aus Tradition und aus aktuellen Urteilen des Königs.382 Möglicherweise diente der »Kodex« außerdem dazu, den Anspruch Hammurabis zu dokumentieren, dass im gesamten Reich nur ein Recht gelten sollte.383 374

Westbrook, in Lévy, S.  36; Neumann, in Manthe, S.  88. Démare-Lafont, S.  47; ähnlich bereits Koschaker, S.  16. 376 Bär, S.  166; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  119. 377 Einige wenige Beispiele bei Stol, in Charpin/Adzard/Stol, S.  656 f.; Charpin, in Sineux, S.  102–105, spricht vorsichtiger von »Indizien«; die Praxisrelevanz ganz leugnend Roth, S.  5; Cancik-Kirschbaum, in Palmer/Haffke/von Tippelskirch/Nasse, S.  57 f. 378 Roth, in Lévy, S.  21; dagegen meint Lafont, in Lévy, S.  53–56, dass die Regeln subsidiär zum Gewohnheitsrecht anwendbar waren; dagegen wiederum Otto, in Lévy, S.  84. 379 Lafont, in Joannès, S.  31. 380 So aber die Bezeichnung bei San Nicolò, S.  75. 381 San Nicolò, S.  75; Cancik-Kirschbaum, in Palmer/Haffke/von Tippelskirch/Nasse, S.  56–65; Charpin, in Joannès, S.  88; Renger, in Liverani/Mora, S.  189; Freeman, S.  30. 382 Charpin, S.  72–76. 383 San Nicolò, S.  106; Radner, in Gehrke, S.  329. 375

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3. Kapitel: Assyrien

Deshalb stehen solche Sammlungen nicht in einem Gegensatz zum Gewohnheitsrecht. Vielmehr dienten die verschriftlichten Normen dazu, es zu ergänzen und punktuell zu verändern.384 Ausdrücklich benannt wurden einzelne Änderungen des geltenden Rechts durch einen König in den sog. hethitischen Gesetzen,385 die etwa aus dem Jahr 1600 stammen, deren Urheber allerdings nicht bekannt ist. Als Beispiel sei §  9 A genannt: »Wenn jemand den Kopf eines Menschen beschädigt, gab man früher jeweils Scheqel Silber. Der Beschädigte nimmt 3 Scheqel, in den Palast nahm man jeweils 3 Scheqel. Und jetzt hat der König (den Anteil) des Palastes abgeschafft, und allein der Geschädigte nimmt 3 Scheqel an sich.«386 Diese Reform betraf allerdings nur die Rechtsfolge, nicht das Verhaltensgebot und hielt sich deshalb im Rahmen der Veränderungen, die sonst auch durch königliche Edikte vorgenommen wurden.387 Aus dem assyrischen Reich ist kein größerer »Kodex« bekannt. Schon im altassyrischen Stadtstaat gab es jedoch Beschlüsse allgemeiner Art, die von der Versammlung verabschiedet und auf Stelen verkündet wurden.388 Diese Texte wurden bisher jedoch nicht gefunden. Weil auf sie in einzelnen Urkunden Bezug genommen wurde,389 werden sie in der älteren Literatur als allgemeine Gesetze interpretiert.390 Allerdings handelte es sich jeweils nur um eine pauschale Referenz, nicht um eine Bezugnahme auf konkrete Vorschriften, so dass diese Schlussfolgerung fragwürdig ist.391 Unter dem Begriff »mittelassyrische Gesetze«392 oder »mittelassyrisches Rechtsbuch«393 werden schriftlich überlieferte Normen zu einigen wenigen Rechtsthemen zusammengefasst, die auf verschiedenen Tontafeln gefunden wurden, aber keinen einheitlichen Text bilden und keinen Autor nennen.394 Ihre Rechtsnatur ist Gegenstand einer ähnlichen Kontroverse wie zum »Kodex Hammurabi«. Einige halten sie für eine Dokumentation gel384

Démare-Lafont, S.  61. Gegen die Einordnung als Gesetz San Nicolò, S.  97; s. a. Haase, in Manthe, S.  133, der den Begriff »Gesetzessammlung« befürwortet. 386 Deutsche Übersetzung von Schuler, in Kaiser, S.  9 9. 387 Westbrook, in Levinson, S.  27. 388 Veenhof, in Westbrook, S.  437; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  24. 389 Veenhof, CKLR 1995, S.  1721–1731; dazu auch Hertel, S.  7 7–88. 390 Lafont, in Lévy, S.  62: »droit positif codifié«; Cardascia, RlA 3, S.  279: »Leur caractère législatif n’est pas douteux«; s. a. Veenhof, CKLR 1995, S.  1736: »wide impact and general validity«. 391 Westbrook, in Lévy, S.  40 f. 392 Lafont, in Westbrook, S.  521; Saporetti, in Liverani/Mora, S.  459; Fales, in Frahm, S.  410. 393 Koschaker, S.  83; San Nicolò, S.  4 6. 394 Cardascia, RlA 3, S.  280 f. 385

IV. Rechtlicher Rahmen

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tender Gesetze.395 Sie ähnelten einem englischen Gesetz, das das bestehende Recht voraussetze, aber dazu diene es zu ändern.396 Für andere handelt es sich dagegen nur um eine private Sammlung,397 die möglicherweise zur juristischen Bildung von Schreibern genutzt wurde.398 In ihnen wird sogar ein »Programm einer Rechtsreform« zur Stärkung öffentlicher Strafverfolgung gesehen.399 Eine vermittelnde Auffassung ordnet sie als eine Sammlung von abstrahierten Urteilen aus der Vergangenheit ein.400 Von diesen Rechtssammlungen zu unterscheiden sind Edikte (riksu) 401 der Könige. Dabei handelte es sich um allgemeine Anordnungen mit normativer Kraft. Sie reagierten auf konkrete historische Situationen und enthielten keine dauerhafte Regelung.402 Deshalb waren sie wahrscheinlich nur für die Regierungszeit eines Königs gültig.403 Als Beispiele sind die Festlegung von Steuertarifen404 oder die Steuerbefreiung für bestimmte Orte405 zu nennen. Im Fall der mittelassyrischen Palastedikte, die auch als »Haremserlasse« bezeichnet werden, handelte es sich vermutlich um eine systematische Zusammenstellung von mehreren Edikten aus einem längeren Zeitraum.406 Sie sind von besonderem Interesse, weil sie auch verwaltungsrechtliche Pflichten von Amtsträgern des Hofes enthielten.407 In einer Gesamtbilanz erscheint eine vermittelnde Position am überzeugendsten. Wenn es richtig ist, dass die vorrangige Aufgabe der Könige die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Recht und Ordnung war,408 dann spricht wenig dafür, ihnen (oder auch der Versammlung von Assur) eine aktive gestalterische Rolle im Sinne eines modernen Gesetzgebers zuzuschreiben. Ein Gesetzgebungsverfahren im heutigen Sinn gab es in Mesopotamien nicht.409

395

Dazu ausführlich Cardascia, S.  28–36. Driver/Miles, S.  14. 397 So z. B. Wesel, S.  91. 398 So Otto, in Lévy, S.  88; Otto, in Otto, S.  65; auch Charpin, in Sineux, S.  105 f. 399 Otto, in Otto, S.  299. 400 D’Alfonso, in Liverani, S.  342. 401 Zum Begriff Cancik-Kirschbaum, in Maul, S.  92–94. 402 Cancik-Kirschbaum, in Palmer, S.  55; Westbrook, in Lévy, S.  39. 403 Fales, L’impero assiro, S.  190; D’Alfonso, in Liverani, S.  357. 404 Veenhof, CKLR 1995, S.  1723. 405 Fales, L’impero assiro, S.  191–196. 406 Cancik-Kirschbaum, in Maul, S.  101 f. 407 Magdalene/Wunsch/Wells, S.  192. 408 Maul, in Assmann/Janowski/Welker, S.  67; Cancik-Kirschbaum, in Palmer/Haffke/ von Tippelskirch/Nasse, S.  62; Neumann, in Manthe, S.  62. 409 Roth, in Lévy, S.  30. 396

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3. Kapitel: Assyrien

Die grundlegenden Normen in den Bereichen, die heute dem Zivil- und Strafrecht zugerechnet werden, waren gewohnheitsrechtlicher Natur. Die Könige haben durch ihre Edikte punktuell eingegriffen, etwa durch Schuldenerlasse oder Änderungen von Sanktionen, aber wohl keine Verhaltensregeln geändert. Insbesondere haben die Edikte Fragenkreise geregelt, die heute dem Verwaltungsrecht zugeordnet werden, also Pflichten von Amtsträgern, etwa im Abgabenwesen, begründet. Auch die Erklärung einer Stadt zur Provinzhauptstadt erfolgte durch ein königliches Edikt.410

2. Die Rechtsprechung Die Organisation einer verbindlichen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung über Streitigkeiten ist ein zentrales Kennzeichen der altorientalischen Staaten. Die Rechtsdurchsetzung erfolgte in einem geregelten Verfahren durch bestimmte Amtsträger. Das schloss es zwar nicht aus, dass die Rechtsdurchsetzung durch Private, z. B. das Familienoberhaupt, akzeptiert wurde, doch bestand wohl eine Aufsicht durch Richter.411 In einigen Fällen waren Amtsträger auch als eine Art Schiedsrichter tätig.412 Der Begriff »Richter« (dajjanu) wird nur selten in Urkunden oder in Gesetzesvorschriften erwähnt.413 Es spricht wenig dafür, dass es sich im assyrischen Reich um ein eigenes Amt handelte, dass es also Personen gab, die ausschließlich mit Aufgaben der Rechtsprechung befasst waren.414 Vielmehr wurde damit eine Funktion bezeichnet,415 die nach den Prozessurkunden von Amtsträgern der zentralen oder der lokalen Ebene neben ihren anderen Aufgaben ausgeübt wurde.416 Es gab im gesamten alten Orient keine ausgebildeten Juristen im Sinne eines Berufsstandes.417 Auch gibt es keine Belege für eine Dogmatik bzw. eine theoretische Reflexion des Rechts.418 410

Cancik-Kirschbaum, in Maul, S.  100. Saporetti, in Liverani/Mora, S.  462 f. 412 So Cancik-Kirschbaum, in Yiftach-Firanko, S.  69 f., weil in Ladungsurkunden nicht von »Richter« gesprochen wird. 413 Jakob, S.  183. 414 So wohl Lafont, in Westbrook, S.  524; s. a. Jakob, in Frahm, S.  146, der von »professional judges« spricht; ebenso Sassmannshausen, S.  34 f., für das mittelbabylonische Reich. 415 Neumann, RlA 11, S.  346. 416 Radner, in Westbrook, S.  890; Mattila, S.  88 f.; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  120; Fales, in Frahm, S.  411 f. 417 Westbrook, in Lévy, S.  38. 418 San Nicolò, S.  113; Westbrook, in Lévy, S.  38; Pfeifer, RG 2011, S.  264. 411

IV. Rechtlicher Rahmen

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Über die Regeln für die Zuständigkeit der Richter ist wenig bekannt.419 Es wurde bereits dargelegt, dass die Könige nur in außerordentlichen Fällen richterliche Aufgaben wahrnahmen.420 Einige entnehmen den überlieferten Dokumenten, dass die Rechtsprechung immer durch Kollegialgerichte erfolgte.421 Im Übrigen muss nach den Epochen unterschieden werden. In der altassyrischen Kolonie in Kanesch gab es Einzelrichter, ein kleines Richterkollegium und eine Plenarversammlung, die auch als Gericht tätig werden konnte.422 Für das Verfahren dieser Versammlung gab es schriftliche Statuten, die teilweise überliefert sind.423 Unter bestimmten Voraussetzungen war eine Übertragung des Prozesses an die Stadtversammlung in Assur möglich.424 Diese war ebenfalls als Rechtsprechungsorgan tätig. In der neuassyrischen Epoche bestand das Amt des sartennu, der zu den »großen Männern« gerechnet wurde.425 Dieser Titel wird oft als »oberster Richter« übersetzt.426 Da es aber auch in dieser Zeit keine getrennte Richterschaft gab,427 wird auch die Übersetzung als »Generalvogt« vorgeschlagen.428 Er wurde teilweise gemeinsam mit dem sukallu als Richter tätig.429 Die Abgrenzung ihrer Kompetenzen ist aber unklar.430 Nach den überlieferten Prozessurkunden war oft der Bürgermeister (haziannu) als Richter tätig.431 In einzelnen Fällen ist auch belegt, dass der Stadtaufseher rechtsprechende Aufgaben wahrnahm.432 Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass auf der lokalen Ebene eine Unterscheidung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung schwierig ist.433 Ein eigenes, von anderen Funktionen getrenntes Richteramt bestand möglicherweise in neubabylonischer Zeit. Dies wird jedenfalls aus Urkun419

Fales, L’impero assiro, S.  184. Siehe oben S.  69. 421 Lafont, in Joannès, S.   20; Isakhan, in Isakhan/Stockwell, S.  44; vorsichtiger Neumann, RlA 11, S.  349: in der Regel. 422 Hertel, S.  330–337. 423 Larsen, in Hansen, S.  8 4; ausführlich Hertel, S.  115–122; deutsche Übersetzung des Fragments bei Hecker, in Janowski/Wilhelm, S.  45. 424 Hertel, S.  317 f. 425 Radner, in Westbrook, S.  888; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  30. 426 Mattila, S.  7 7–80; Fales, L’impero assiro, S.  56; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  30. 427 Mattila, S.  87; Radner, in Westbrook, S.  886. 428 Radner, in Westbrook, S.  888 Fn.  29: »chief Bailiff«. 429 Mattila, S.  86 f. 430 Villard, in Joannès, S.  174. 431 Postgate, in Garelli, S.  418; Neumann, RlA 11, S.  350. 432 Van Buylaere, SAAB 2009/10, S.  152, 156. 433 Villard, in Joannès, S.  174. 420

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3. Kapitel: Assyrien

den geschlossen, die über viele Jahre Kollegien mit drei bis acht »Richtern des Königs« belegen, die aus einem relativ kleinen wohlhabenden Personenkreis stammten.434 Ein weiterer Beleg sind Hinweise auf ein eigenes Gerichtshaus in Babylon.435 Auch diese Interpretation ist jedoch keineswegs zwingend, weil das eine ungewöhnlich frühe Professionalisierung der Jurisprudenz bedeuten würde.

3. Die Rechtsbindung Es gibt kaum Belege dafür, dass das administrative Handeln der Amtsträger durch abstrakte Regeln angeleitet wurde. Überliefert sind etwa die Vorschriften über die Zeugenfunktion bei der Übertragung von Grundeigentum, die aber nur eine Aufgabe definierten. Es muss auch Vorgaben etwa für die Erhebung von Steuern und Zöllen oder für die Rekrutierung von Arbeitskräften gegeben haben, an die die örtlichen Amtsträger gebunden waren. Auch die Staatsorganisation, also die Einrichtung der Ämter auf der zentralen sowie auf der dezentralen Ebene muss durch Edikte des Königs geregelt worden sein. Solche Regelungen sind möglicherweise deshalb nicht schriftlich erhalten, weil Selbstverständliches, das sofort in die Praxis umgesetzt wurde, keiner Dokumentation bedurfte.

4. Der Rechtsschutz Das assyrische Reich gewährte seinen Bürgern Zugang zu Gericht und ermöglichte ihnen damit eine Durchsetzung ihrer Rechtspositionen. Allerdings passt es kaum zum damaligen Rechtsverständnis, dies als subjektives Recht auf Rechtsschutz zu formulieren.436 Eine solche grundrechtliche Terminologie ist für die Verhältnisse des alten Orients nicht angemessen, weil sie eine konzeptionelle Gegenüberstellung von Individuum und Staat voraussetzt. Nachweisbar ist allerdings ein Beschwerdeverfahren, in dem sich jeder an den König wenden konnte, der mit einer gerichtlichen, administrativen

434

Wunsch, in Marzahn/Neumann, S.  567–574; ausführlich Holtz, S.  254–265. Westbrook, in Westbrook, S.  30; dazu näher Sandowicz, Palamedes 2009, S.  15–25. 436 So von Dassow, in Radner/Robson, S.  212: »The rights of citizenship included rights to legal protection by the state.« 435

V. Fazit

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oder politischen Entscheidung nicht einverstanden war.437 So sind viele Briefe an den König überliefert, die Beschwerden über eine unfaire Behandlung durch Amtsträger enthielten.438 Es war auch möglich, eine Beschwerde in einer Audienz mündlich vorzubringen, sofern man denn vorgelassen wurde. Der König konnte jede Entscheidung aufheben.439 Einem Brief ist der Hinweis zu entnehmen, dass er sich vorher mit seinen obersten Amtsträgern beraten hat.440 Eine solche Beschwerde war aber kein Rechtsbehelf im modernen Sinn, also nicht Teil des Rechtssystems.441

V. Fazit Das assyrische Reich war nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im 14. Jahrhundert über sieben Jahrhunderte erstaunlich stabil.442 Es bestand damit länger als jedes andere Staatswesen in Mesopotamien. Eine Besonderheit war insbesondere die lange dynastische Kontinuität.443 Für diesen Erfolg gab es natürlich vielfältige Gründe, die hier nicht erörtert werden können. Die folgenden abschließenden Überlegungen konzentrieren sich vielmehr auf die Frage, welchen Zusammenhang es zwischen der Legitimation der Herrschaft und ihrer konkreten Organisation, insbesondere auch in dem durch Eroberungen immer größer werdenden Territorium, gab.

1. Der Herrschaftstyp Aus keiner mesopotamischen Kultur ist eine abstrakte Beschreibung der Funktion des Königtums bekannt. Auch aus Assyrien sind keine Texte überliefert, die eine politische Reflexion enthalten.444 Nach modernen Begriffen war das mittel- und neuassyrische Reich eindeutig eine absolute Monarchie. Der König war die oberste Instanz in allen administrativen und judikativen Angelegenheiten. Er konnte allen Amtsträgern Befehle er437

Villard, in Joannès, S.  193 f. Postgate, in Garelli, S.  419 f.; dazu Fales, L’impero assiro, S.  179–183. 439 Radner, in Westbrook, S.  886. 440 Radner, in Radner/Robson, S.  372. 441 So Postgate, in Garelli, S.  424; s. a. Herzog, S.  273: »Aufsichtsbeschwerde«. 442 Düring, in Düring, S.  299; Jursa/Moreno García, in Monson/Scheidel, S.  129. 443 Kuhrt, S.  349; Faist, in Justei/Vita/Zamora, S.  2 2; Bedford, in Morris/Scheidel, S.  35. 444 Karlsson, S.  10. 438

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3. Kapitel: Assyrien

teilen, die sie ausführen mussten. Als Reaktion auf eine Beschwerde konnte er alle Entscheidungen aufheben. Für die ideologische Legitimation der Herrschaft der Könige Assyriens war der Auftrag der Götter von zentraler Bedeutung.445 Auch die Eroberungen wurden mit einem Mandat der Götter gerechtfertigt, die chaotische Peripherie in die kosmische Ordnung des Reiches zu integrieren.446 Anders als in Ägypten erfolgte jedoch keine Vergöttlichung des Königs, auch nicht nach seinem Tod.447 Der König wurde vielmehr verstanden als von dem Gott Assur eingesetzter irdischer Statthalter448 und als oberster Priester.449 Seine Autorität leitete sich so aus seinem religiösen Status als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen ab.450 Ebenso waren aber natürlich die Einbindung der gesellschaftlichen Eliten und die effektive Beherrschung der Provinzen von zentraler Bedeutung für die Dauerhaftigkeit der Staatsordnung. Eine institutionalisierte Beteiligung zumindest der führenden Familien gab es nur in der altassyrischen Stadtversammlung. Mit der Etablierung des Königtums verloren sie den formalisierten Einfluss. Nunmehr mussten andere Formen gefunden werden, um ihre Loyalität zu sichern. Die Führungsebene des Staates, der die obersten Amtsträger entstammten, bestand neben den Mitgliedern der Königsfamilie aus Vertretern der etablierten Oberschicht.451 Ihrer Rolle als Untergebene des Königs wurde in der mittelassyrischen Zeit durch das Krönungsritual Ausdruck verliehen, dessen Ablauf aus einem partiell erhaltenen Text des 13. Jh. bekannt ist.452 Es ist allerdings unklar, ob es nur anlässlich einer Krönung oder jährlich stattfand.453 In der neuassyrischen Zeit nahmen verschiedene Könige den »Leuten des Landes Assur« einen Treueeid auf den Kronprinzen ab, um ihre Nachfolge abzusichern.454 Wurde ein König den Erwartungen der Elite nicht gerecht, musste er durchaus auch mit Kritik rechnen, wie mehrere Beispiele aus der neuassyrischen Epoche belegen.455

445

Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  121. Machinist, in Raaflaub, S.  86–90; Hauser, S.  56; Liverani, S.  240. 447 Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  147; Liverani, S.  11. 448 Jakob, S.  19; Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  102; Novák, in Rebenich, S.  78. 449 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  110; Siddall, S.  151–155; Karlsson, S.  123. 450 Maul, in Assmann/Janowski/Welker, S.  7 7. 451 Kuhrt, S.  362; »powerful aristocracy«. 452 Ausführlich Müller, S.  4 –58. 453 Jakob, S.  2 2 Fn.  164. 454 Cancik-Kirschbaum, Assyrer, S.  82. 455 Dazu ausführlich Finn, passim. 446

V. Fazit

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2. Die Struktur der Verwaltung Die obersten Amtsträger waren zum einen Berater des Königs und zum anderen für bestimmte Aufgaben verantwortlich. Aus den überlieferten Dokumenten lässt sich nicht ableiten, dass dabei ein klares Ressortprinzip galt. Die Informationen reichen nicht aus, um eine Zuständigkeitsordnung zu rekonstruieren. Man nimmt allgemein an, dass die anderen Amtsträger, deren Aufgaben ebenfalls nur teilweise hinreichend eindeutig rekonstruiert werden können, den obersten Amtsträgern in einem hierarchischen Aufbau untergeordnet waren.456 Allerdings sind auch hierzu nur rudimentäre Informationen bekannt.457 Die Hierarchie wurde jedenfalls nicht im Sinne eines modernen Dienstwegs verstanden, denn der König konnte sich direkt an untergeordnete Amtsträger wenden.458 Kennzeichnend ist zudem, dass es bei den meisten hohen Amtsträgern und den Statthaltern zu einer Kombination von zivilen und militärischen Aufgaben kam. Darin wird eine »militaristische« Komponente des politischen Systems gesehen.459 Auf der anderen Seite wurde so aber die Integration der Armee in die Herrschaftsordnung gewährleistet, so dass diese offensichtlich nie in innenpolitische Vorgänge eingegriffen hat. Das Reich war aber auch in seiner inneren Struktur heterogen, weswegen eine Einordnung als zentralistischer Staat, in dem die Befehle des Königs von einem hierarchischen, gut funktionierenden Apparat ausgeführt wurden,460 zu kurz greift. Kein mesopotamischer Territorialstaat war in der Lage, alle seine Gebiete in gleicher Weise zu kontrollieren.461 Durch Verträge rechtlich abgesichert war die Autonomie der sog. Klientelstaaten. Dennoch wurden sie als feste Bestandteile des Reiches aufgefasst.462 Aufgrund ihrer Tributpflichtigkeit machte es im ökonomischen Ergebnis für Assyrien keinen großen Unterschied, ob ein Gebiet als Provinz eingegliedert wurde oder einen semiautonomen Status behielt, so dass die Stellung des Königs eines abhängigen Staates der eines Provinzstatthal456

Jakob, S.  3; Brown, JCS 2013, S.  107; Barjamovic, in Bang/Scheidel, S.  143; Fales, in Frahm, S.  402; auch vorausgesetzt im hypothetischen Organigramm der neuassyrischen Verwaltung von Postgate, in Postgate, S.  352. 457 Vgl. einige Beispiele für Weisungsstrukturen aus neuassyrischer Zeit bei Ponchia, SAAB 2007, S.  127–139. 458 Grayson, in Sasson, S.  963; Bedford, in Morris/Scheidel, S.  36. 459 Grayson, in Sasson, S.  959. 460 So Kühne, in Dentzer/Orthmann, S.   489, für die Hochzeit des neuassyrischen Reichs. 461 Siddall, S.  103; Van De Mieroop, in Horst, S.  6 . 462 Radner, in Gehrke, S.  387.

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3. Kapitel: Assyrien

ters ähnelte.463 Ob man allerdings davon ausgehen kann, dass der variierende Grad von hegemonischer Kontrolle eine bewusste Entscheidung der assyrischen Administration je nach ökonomischer Nutzen-Kosten-Abschätzung darstellte,464 ist fraglich, denn dies setzt ein hohes Maß an rationaler Prognosefähigkeit voraus. Aber auch in den eingegliederten Provinzen herrschte eine relativ hohe faktische Autonomie. Dies galt insbesondere für die weiter von der Hauptstadt entfernten Bereiche,465 weil ein hoher Zentralisierungsgrad wegen der großen Entfernungen praktisch gar nicht machbar war.466 Da eine Kommunikation mit der zentralen Verwaltung nur über Boten möglich war, mussten die alltäglichen Probleme beim Fehlen von Weisungen vor Ort gelöst werden.467 Deshalb musste auch das neuassyrische Reich eine gewisse Autonomie der südbabylonischen Städte anerkennen, die sich u. a. im Fortbestehen ihrer kommunalen Versammlungen manifestierte. Leider sind keine näheren Informationen über ihre Zusammensetzung oder ihre Befugnisse bekannt, doch spricht viel dafür, dass sie v. a. judikative Aufgaben erfüllten, denn im Bereich der Rechtsprechung dominierte generell die lokale Konfliktbewältigung.468 Das wichtigste Instrument, um die Kontrolle des Königs über die mehr oder weniger autonomen dezentralen Teile der Verwaltung aufrechtzuerhalten, waren vermutlich die Beauftragten, die zum Teil dauerhaft in den abhängigen Staaten und in einigen Provinzen anwesend waren, zum Teil zumindest ein- bis zweimal im Jahr anreisten, um nach dem Rechten zu sehen. Dadurch wurde eine flächendeckende Aufsichtsstruktur geschaffen, die insbesondere die Ordnungsmäßigkeit der Abgabenverwaltung gewährleistete.

3. Die Rolle des Rechts Die Autorität des Königs musste sich auch gegenüber den Menschen, die unter seiner Herrschaft lebten, bewähren. Deshalb war es eine Aufgabe des Königs, die Einhaltung von Recht und Ordnung zu sichern und Schutz vor 463

Bedford, in Morris/Scheidel, S.  49; ähnlich Liverani, S.  179 f. So Parker, APAAA 2013, S.  136 f. 465 Brown, JCS 2013, S.  110. 466 Brown, JCS 2013, S.  107–109. 467 Ponchia, SAAB 2007, S.  128. 468 Van De Mieroop, in Horst, S.  4. 464

V. Fazit

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Unterdrückung zu gewähren.469 In diesem Sinn galt Fairness als königliche Tugend.470 Die Rolle des Königs wird insbesondere in der neoassyrischen Epoche häufig als Hirte seines Volkes bezeichnet, der diejenigen versorgt, die seine Herrschaft anerkennen.471 Aus der neuassyrischen Zeit sind viele königliche Inschriften überliefert, die in Palästen, Tempeln oder auf öffentlichen Plätzen aufgestellt wurden, um die Erfolge der Monarchen zu präsentieren.472 Die Durchsetzung des Rechts war in erster Linie Aufgabe der rechtsprechenden Instanzen, also insbesondere der örtlichen Amtsträger. In welchen Fällen die obersten Amtsträger der zentralen Verwaltung selbst als Richter tätig waren, ist kaum bekannt. Der König hat wohl nur in seltenen Fällen in die Rechtsprechung eingegriffen.

4. Die Funktionsweise der Herrschaft Im Gesamturteil gehen die Stellungnahmen zum Charakter der assyrischen Herrschaftsorganisation auseinander. Zu vereinfachend ist sicher die These vom orientalischen Despotismus, denn das politische Leben im Alten Orient war nicht generell autoritär ausgestaltet.473 Zu einseitig ist aber auch die Auffassung, dass das assyrische Reich insgesamt sehr dezentralisiert war.474 Es gab jedoch sehr wohl Formen der internen Autonomie der Staatsverwaltung.475 Je größer das Reich wurde, desto weniger waren die Könige in der Lage, alles zu kontrollieren. Im Übrigen wird es natürlich auch auf die Persönlichkeit des jeweiligen Königs einerseits, der führenden Amtsträger andererseits angekommen sein. Es ist wohl richtig, dass ein Großreich nicht ohne »common sense« geführt werden konnte.476 Jedenfalls steht fest, dass die assyrische Verwaltung nicht als »Bürokratie« qualifiziert werden kann.477 Ihr fehlten wesentliche Merkmale im Sinne von Max Weber, weil sie weder durchgehend hierarchisch und nach ei469

Hauser, S.  55: Finn, S.  25. Kuhrt, S.  540. 471 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  144; Cline/Graham, S.  17; ausführliche Beschreibung und Analyse bei Portuese, GFA 2020, S.  5 –17. 472 Überblick bei Frahm, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  139–159. 473 Fleming, S. xi. 474 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  161. 475 Fales, L’impero assiro, S.  69; ähnlich Cancik-Kirschbaum, in Devecchi, S.  21; Postgate, Bureaucracy, S.  426; Gaspa, in Lanfranchi/Mattila/Rollinger, S.  306. 476 Postgate, in Garelli, S.  425. 477 Postgate, in Postgate, S.  358. 470

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3. Kapitel: Assyrien

ner eindeutigen Kompetenzordnung organisiert war, noch ihr Personal fachlich qualifiziert und besoldet war. Schließlich handelten die Amtsträger auch nur sehr eingeschränkt regelgebunden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Verwaltungsmaßnahmen durch abstrakte Vorschriften angeleitet wurden. Positiv bestätigt werden kann nur das Merkmal der schriftlichen Aktenführung. Die Annahme, die Schreiber hätten damit die faktische Herrschaft ausgeübt, wie es der Wortbestandteil »-kratie« suggeriert, ist abwegig. Die Verwendung dieser Begrifflichkeit der modernen Herrschaftssoziologie verstellt den Blick auf die Besonderheiten der assyrischen Herrschaftsordnung. Diese war nur gemäßigt autoritär und durchaus komplex. Erst durch das Zusammenwirken zwischen göttlicher Legitimation, königlicher Führung, Beratung durch die führenden Amtsträger und die verlässliche Ausübung der Herrschaft vor Ort entstand ein stabiles Herrschaftssystem, das nicht nur wegen seiner militärischen Leistungsfähigkeit viele Jahrhunderte überdauerte. Das Recht war ein Faktor, der zur Stabilisierung der Herrschaft beigetragen hat, weil es geordnete Verfahren zur Konfliktlösung bereitstellte. Es war aber kein Instrument der aktiven politischen Gestaltung, wie es für die moderne Demokratie charakteristisch ist.

Athen I. Historischer Überblick 1. Die Entwicklung in Griechenland Über die Frühzeit der griechischen Geschichte ist sehr wenig bekannt.1 Die historische Verlässlichkeit der Dichtungen Homers ist kaum überprüfbar. Danach gab es sowohl Könige, die aber eher als Anführer ohne besondere Vorrechte angesehen werden müssen, 2 als auch Volksversammlungen.3 In der Zeit zwischen 900 und 700 erfolgte der Übergang zur Phase des Stadtstaates (polis).4 Die ältesten Quellen hierzu stammen aus der Zeit um 650.5 In der Mitte des 1. Jahrtausends gab es in Griechenland sehr viele einzelne Stadtstaaten. Aufgrund der vielfältigen Arten von Bündnissen ist nicht ganz klar, ob man die außenpolitische Unabhängigkeit zu ihren Charakteristika zählen kann. 6 Ihre Anzahl ist ebenfalls unsicher. Die Angaben reichen von 7507 über mehr als 1.000 8 bis zu insgesamt etwa 1.500 9, wenn man auch die Kolonien und die hellenistischen Gründungen einbezieht. Eine Polis bestand jeweils aus einer mehr oder weniger städtischen Siedlung als Zentrum und ihrer ländlichen Umgebung.10 Die meisten hatten zwischen 5.000 und 10.000 männliche Bürger.11 Typisch war eine genossenschaftliche Organisation, die den Staat als Zusammenschluss der Bür 1 Überblick

z. B. bei Ehrenberg, S.  8 –31. Kultur, S.  108; Raaflaub, in Horst, S.  78. 3 Busolt, S.   317–341; Ruschenbusch, in Ruschenbusch, S.  313–315; nach Cartledge, S.  33, hatten sie allerdings keine Entscheidungsbefugnisse. 4 Welwei, Polis, S.  35–89; zur Wortbedeutung Hansen, Polis, S.  56–61. 5 Hansen, Polis, S.  41. 6 Überblick bei Low, S.  188–199. 7 Cline/Graham, S.  110; Ruschenbusch, in Osborne/Hornblower, S.  189. 8 Gehrke, in Gehrke, S.  4 62. 9 Hansen, Polis, S.  31. 10 Busolt, S.  160–169; Hansen, Polis, S.  67–72. 11 Busolt, S.  168. 2 Meier,

106

4. Kapitel: Athen

ger verstand.12 Das ist allerdings nicht notwendig mit einer Demokratie gleichzusetzen, denn in einigen Fällen erfolgte eine Einschränkung der Mitwirkungsberechtigten auf Vermögende.13 Immer wieder gab es auch Phasen der Tyrannis. Typisch war aber eine gemeinsame Grundstruktur der zentralen Institutionen, die aus einem Rat, einer Versammlung der politisch vollberechtigten Bürger mit dem Recht, allgemein gültige, auch die Amtsträger und den Rat bindende Beschlüsse zu fassen, sowie permanenten, oft kollegialen Ämtern mit festen Zuständigkeiten und befristeter Bestellung bestanden.14 Trotz der großen Zahl selbständiger politischer Einheiten verstanden sich die Griechen aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache und Kultur als ein Volk.15

2. Die Entwicklung in Athen Auch die Frühgeschichte Athens liegt im Dunkeln. Nach der Überlieferung erfolgte die Absetzung des letzten Königs gegen 700,16 doch lässt sich dieses Ereignis nicht belegen. Danach gab es eine Phase der Herrschaft des Adels, der in Griechenland allerdings keine klar abgegrenzte soziale Einheit bildete.17 Zentrale Instanzen waren der Adelsrat des Areopags, das Exekutivgremium der Archonten und ein Gericht mit 51 »Zulassern«18 (ephetai).19 Im Jahr 621/20 wurden die ersten schriftlich fixierten Gesetze erlassen, die dem Drakon zugeschrieben wurden, dessen historische Existenz allerdings unklar ist.20 Sie enthielten v. a. Regelungen, die im heutigen Sinn zum Strafrecht zählen.21 Die Entwicklung zur Demokratie erfolgte in Athen früher als in allen anderen bekannten Staatswesen.22 Ein erster wichtiger Schritt waren die Reformen des Solon im Jahr 594/93, dessen Gesetze auch später höchste 12 Eder,

in Eder, Die athenische Demokratie, S.  17; Ehrenberg, S.  32, spricht von einer »Gemeinschaft des Ortes«. 13 Sealey, S.  93 f.; Welwei, Polis, S.  12 f. 14 Harris, in Harris, S.  18–22; Hansen, Polis, S.  113; Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.  111. 15 Ehrenberg, S.  123; Hansen, Polis, S.  36 f. 16 Ober, S.  57. 17 Welwei, Polis, S.  4 6–49. 18 Übersetzung bei Welwei, Polis, S.  71; nach Todd, S.  375, ist die Etymologie unklar. 19 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 3. 20 Sealey, S.  115 f. 21 Hölkeskamp, DNP 3, Sp.  810; ausführlich Barta, Bd.  I I/1, S.  7 7–129. 22 Pabst, S.  12 f.

I. Historischer Überblick

107

Autorität genossen.23 Sie verbesserten die soziale Lage der ärmeren Schichten, u. a. durch eine Entschuldung.24 Solon führte nach vier Vermögensklassen abgestufte politische Rechte ein.25 Erstmals durften auch Besitzlose (thetes) an der Volksversammlung teilnehmen.26 Die Wahl der Amtsträger erfolgte getrennt durch zehn Stämme (phylai).27 Schließlich wurde ein neuer Volksgerichtshof (heliaia) geschaffen, der wohl nicht mit der Volksversammlung identisch war.28 Von 561 bis 510 herrschten Peisistratos und seine Söhne als Tyrannen.29 Nach ihrer Vertreibung setzte Kleisthenes im Jahr 508 grundlegende Reformen durch, sehr wahrscheinlich mit Billigung durch die Volksversammlung.30 Mit ihnen wurde die Macht des Adels gebrochen.31 Deshalb gelten sie zurecht als Anfang der demokratischen Ordnung32 und sind in ihrer Bedeutung mit der französischen Revolution verglichen worden.33 Sie beruhten auf dem Prinzip der Gleichheit (isonomia) aller Bürger34 und schafften die meisten Unterschiede nach Vermögensklassen ab. Neben der Volksversammlung wurden die Volksgerichte und ein neuer Rat der Fünfhundert installiert.35 Eine wichtige Reform, die mit dem Namen Ephialtes verbunden ist, war die Entmachtung des Areopags im Jahr 462.36 In Folge des Peloponnesischen Krieges, der 431 begann, kam es zu zwei kurzen oligarchischen Zwischenphasen,37 zum einen nach der Niederlage in Sizilien im Jahr 411/10 38 und zum anderen nach der endgültigen Niederlage gegen Sparta von 404/03.39 Nach der Wiederherstellung der Demokratie wurden im 4. Jahr 23 Thomas,

in Osborne/Hornblower, S.  121–124. Ober, S.  60–63; Welwei, Polis, S.  143–146. 25 Hansen, Age of Demosthenes, S.  43–46. 26 Barta, Bd.  I I/1, S.  338. 27 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  8 , 1. 28 Überzeugend Sealey, S.  69; anders Ostwald, Sovereignty of Law, S.  9 –13. 29 Welwei, Polis, S.  153–156. 30 Ostwald, Nomos, S.  158 f. 31 Ostwald, Nomos, S.  152; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  45. 32 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  20; Cartledge, S.  57–62; vorsichtiger Meier, in Meier/Veyne, S.  69: Vorstufe der Demokratie. 33 Hansen, Age of Demosthenes, S.  34; auch Finer, S.  316, spricht von einer »Greek revolution«. 34 Ausführlich zu den literarischen Belegen Ostwald, Nomos, S.  96–136. 35 Ostwald, Sovereignty of Law, S.  27. 36 Welwei, Polis, S.  178–182; Ruschenbusch, in Ruschenbusch, S.  81–87. 37 Welwei, Athen, S.  247–253; Carugati, S.  38–62. 38 Zum umstrittenen Ablauf zusammenfassend Haßkamp, S.  30–36; Shear, S.  19–69. 39 Auch dazu Haßkamp, S.  43–49; Shear, S.  170–187. 24 Dazu

108

4. Kapitel: Athen

hundert weitere Reformen durchgeführt, die zu einer Stabilisierung des Systems führten.40 Mit der militärischen Niederlage gegen König Philipp II. von Makedonien im Jahr 338 verloren die meisten griechischen Stadtstaaten ihre Unabhängigkeit. Die Abschaffung der Demokratie erfolgte in Athen nach der Besetzung der Stadt durch makedonische Truppen im Jahr 322. Zwar blieben die Institutionen hier wie in den meisten Städten weiter bestehen,41 aber die Volksversammlung verlor an Bedeutung, während der Rat als Organ der wohlhabenden Führungsschicht gestärkt wurde.42 Endgültig verschwanden die Institutionen der griechischen Polis erst gegen Ende der römischen Kaiserzeit.43 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die demokratische Epoche des 5. und 4. Jahrhunderts.

3. Quellen Für die Zeit vor 500 gibt es im Wesentlichen nur poetische Quellen wie z. B. Homer oder Hesiod.44 Umfangreichere schriftliche Dokumente sind erst ab etwa der Mitte des 5. Jahrhunderts erhalten.45 Rechtstexte sind v. a. aus Athen überliefert, insbesondere über die mehr als 22.000 erhaltenen attischen Inschriften.46 Die Gesetze Solons sind aber wie viele andere Quellen nur in Fragmenten erhalten. Daneben wurden umfangreichere Inschriften mit überwiegend eigentums- und familienrechtlichen Normen in Gortyn auf Kreta gefunden.47 Im materiellen Recht bestanden allerdings große Unterschiede innerhalb Griechenlands.48 Viele Informationen über die Staatsordnung sind in den Werken von Herodot, Thukydides, Xenophon, Polybios und Plutarch enthalten. Die ausführlichste Quelle für die Institutionen ist jedoch der Text »Der Staat der Athener« (athenaion politeia), der Aristoteles zugeschrieben wird, des-

40 Welwei,

Athen, S.  258; Haßkamp, S.  14. Habicht, S.  14. 42 Kolb, S.  122; ausführlich zur hellenistischen Periode Habicht, S.  47–196. 43 Hansen, Polis, S.  39. 44 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  21. 45 Überblick bei Hansen, Age of Demosthenes, S.  4 –26. 46 Hedrick, in Osborne/Hornblower, S.  160. 47 Dazu knapp Selb, S.  93–96; Hagedorn, in Jaillard/Nihan, S.  117–140; Überblick über die erhaltenen Rechtstexte aus weiteren Stadtstaaten bei Hölkeskamp, Schiedsrichter, S.  67–261. 48 Gagarin, in Gagarin/Cohen, S.  29–40. 41

II. Herrschaftsorganisation

109

sen Autorenschaft aber nicht ganz zweifelsfrei ist.49 Dieser Text wurde in den letzten Jahren vor dem Ende der Selbständigkeit Athens im Jahr 322 verfasst. Soweit er ältere Perioden behandelt, ist oft nicht eindeutig zu verifizieren, ob sein Inhalt zutreffend ist.50 Eine wichtige Quelle aus der politischen und juristischen Praxis sind die etwa 150 erhaltenen Reden, die vor der Volksversammlung, dem Rat oder den Volksgerichten gehalten wurden.51 Schließlich sind auch viele Theaterstücke aufschlussreich, denn oft thematisieren sie politische oder juristische Problematiken, wenn man etwa an den Konflikt zwischen Befehl und ungeschriebenem Gesetz in der Antigone von Sophokles denkt. Ihre Aufführungen waren in Athen politische Ereignisse.52

II. Herrschaftsorganisation Das Staatsgebiet Athens umfasste etwa 2.500 53 bzw. 2.250 54 km 2 und war damit etwas kleiner als das Saarland oder Luxemburg. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Grenzen zwischen den griechischen Stadtstaaten klar definiert waren.55 Verlässliche Zahlen über die dort lebenden Menschen sind nicht überliefert, so dass die Größe der Einwohner- und der Bürgerschaft nur geschätzt werden kann. Man geht davon aus, dass die Gesamtbevölkerung Athens Mitte des 5. Jahrhunderts etwa eine Viertelmillion,56 wenigstens aber 200.000 57 Personen betrug. Die Bevölkerung teilte sich in drei Gruppen auf: Bürger, ansässige Fremde (metoikoi) und Sklaven. Zur zweiten Gruppe zählten v. a. Händler, die von einer durchaus großzügigen Einwanderungspolitik profitierten.58 Sie hatten zwar kein (athenisches) Bürgerrecht, mussten aber Wehrdienst leisten; ihre Rechtsstellung war insgesamt durch mehr Pflichten als Rechte gekennzeichnet.59 Ihre Gesamtzahl wird auf 25.000 bis 35.000 geschätzt. 60 49 Cartledge,

S.  48; Gagarin, in Pihlajamäki/Dubber/Godfrey, S.  146. Piepenbrink, S.  22. 51 Hansen, Age of Demosthenes, S.  12 f.; Carugati, S.  7 7 f. 52 Ober, S.  152–155. 53 Hansen, Age of Demosthenes, S.  55. 54 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  98; Pabst, S.  74. 55 Harris, Rule of Law, S.  21 f. 56 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  101. 57 Hansen, Polis, S.  11. 58 Kapparis, S.  88 f. 59 Sinclair, S.  28–30; Hansen, Age of Demosthenes, S.  116–120. 60 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  100. 50

110

4. Kapitel: Athen

Besonders schwierig ist die Bestimmung der Zahl der Sklaven. 61 Hier finden sich Angaben von 80.000 bis 120.000 62 oder sogar 150.000. 63 Sie wurden weitgehend wie Sachen behandelt. 64 Den Status als Bürger erlangten diejenigen Männer, deren Väter bereits das Bürgerrecht besaßen. Seit einem Gesetz aus dem Jahr 451/50 mussten sogar beide Eltern athenische Bürger sein. 65 Einbürgerungen kamen nur sehr selten vor. 66 Die Bürger umfassten etwa 10–15 %, 67 nach einer anderen Angabe etwa 20 %68 der Bevölkerung. Die Schätzungen der absoluten Zahl gehen erheblich auseinander. Sie wird meist aufgrund der Zahl der Soldaten berechnet. Danach gab es gegen 430 etwa 50.000 bis 60.000 erwachsene männliche Bürger. 69 Nach der Niederlage im peloponnesischen Krieg betrug ihre Zahl nur noch 22.000 bis 25.000.70 Für das 4. Jahrhundert wird sie auf 30.00071 oder nur auf 21.00072 geschätzt. Das Recht zur Teilnahme an der Volksversammlung bestand ab dem Alter von 20 Jahren, für die Übernahme eines Amtes musste aber das Alter von 30 erreicht worden sein.73 Kleisthenes teilte alle Bürger in zehn gleich große »Stämme« (phylai) ein, die neu aus jeweils mehreren Gemeinden in drei unterschiedlichen Teilgebieten von Attika gebildet wurden.74 Er wollte die Bürger untereinander vermischen, »damit mehr von ihnen an der Ausübung der politischen Macht teilnehmen können«.75 Es handelte sich dabei nicht um territoriale Verwaltungseinheiten, sondern um Personenverbände.76 Sie bildeten die Grundlage für die Verteilung fast aller Ämter.

61 Zu

ihrer Rechtsstellung Welwei, Polis, S.  220–225; Hansen, Age of Demosthenes, S.  120–123. 62 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  100. 63 Hansen, Age of Demosthenes, S.  93. 64 Dazu näher Todd, S.  184–194; Kapparis, S.  96–101. 65 Dazu Osborne, S.  245–251; Patterson, in Gagarin/Cohen, S.  278–283. 66 Sinclair, S.  26; Hansen, Age of Demosthenes, S.  94. 67 Ober, S.  128; Gehrke, in Gehrke, S.  474. 68 Pabst, S.  25. 69 Hansen, Polis, S.  108; Sinclair, S.  9, schätzt auf »low 40.000s«. 70 Sinclair, S.  116. 71 Hansen, Age of Demosthenes, S.  5 4. 72 Ruschenbusch, in Osborne/Hornblower, S.  191. 73 Zu den Altersgrenzen ausführlich Timmer, S.  24–49. 74 Einzelheiten bei Bleicken, Die athenische Demokratie, S.   182–184; Auflistung bei Traill, S.  1–24. 75 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  21, 2. 76 Welwei, Athen, S.  11.

II. Herrschaftsorganisation

111

1. Zentrale Herrschaft Die Institutionen des Stadtstaates Athen lassen sich in drei Gruppen einteilen.77 Das in Versammlungen organisierte Volk, das die männlichen Bürger umfasste, übernahm die wichtigsten Aufgaben. Der Rat in seinen beiden Erscheinungsformen hatte v. a. vorbereitende Funktionen, aber auch einige Entscheidungs- und Kontrollaufgaben. Schließlich gab es mehrere Dutzend einzelne Ämter, die in der Regel als Zehner-Ausschüsse ausgebildet waren, die jeweils spezielle Aufgaben erfüllten. a) Versammlung Nicht nur die eigentliche Volksversammlung, sondern auch die aus gelosten Mitgliedern bestehenden Volksgerichte und im 4. Jahrhundert auch die ebenfalls ausgelosten Gesetzeskommissionen sind als drei unterschiedliche Organisationsformen des Volkes aufzufassen.78 Sie hatten jeweils eigene, gleichgeordnete Entscheidungsbefugnisse,79 wurden aber nach dem Selbstverständnis der Athener nicht als getrennte Institutionen angesehen. aa) Volksversammlung An der Volksversammlung (ekklesia) konnten alle erwachsenen männlichen Bürger teilnehmen. Sie tagte Anfang des 5. Jahrhunderts zehnmal im Jahr, im 4. Jahrhundert sogar regelmäßig 40 Mal pro Jahr. 80 Daneben waren bei Bedarf außerordentliche Versammlungen möglich. 81 Die Sitzungen fanden zunächst auf dem zentralen Versammlungsplatz (agora) statt. 82 Im frühen 5. Jahrhundert wurde eigens hierfür das Gelände der Pnyx angelegt, das nach mehreren Umbauten Platz für bis zu 24.000 Personen bot.83 Man nimmt an, dass in der Regel etwa 6.000 Bürger an den Sitzungen teilnahmen, also etwa ein Fünftel aller Stimmberechtigten. 84 Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Teilnahme für weiter von der Stadt entfernt Wohnende 85 und für Bauern, die auf den Feldern arbeiten mussten, schwie 77 Zu unterschiedlichen Einteilungen vgl. Hansen, Initiative und Entscheidung, S.  7–17. 78 Finley,

Demokratie, S.  83 f.; Hansen, Age of Demosthenes, S.  154. Ober, S.  54. 80 Hansen, Age of Demosthenes, S.  135 f.; Welwei, Athen, S.  259. 81 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  193. 82 Hölscher, S.  38. 83 Verschiedene Schätzungen bei Rohde, S.  285 f. 84 Hansen, Age of Demosthenes, S.   130–132; Nippel, Freiheit, S.  45; nach Sinclair, S.  114–119, waren die Teilnehmerzahlen meist geringer. 85 Beispiele bei Sinclair, S.  12. 79

112

4. Kapitel: Athen

rig war. Die Sitzungen dauerten allerdings vermutlich meist nur bis Mittag. 86 Zu Beginn des 4. Jahrhunderts wurde ein Tagegeld eingeführt, das die Teilnahme auch der Ärmeren ermöglichen sollte und den Beteiligungsgrad verbesserte. 87 Die Vorbereitung der Sitzungen gehörte zu den Aufgaben des geschäftsführenden Ausschusses (prytaneia) des Rats der Fünfhundert, der aus den fünfzig Ratsmitgliedern einer Phyle bestand und jeweils für ein Zehntel des Jahres amtierte. 88 Er stellte die Tagesordnung der Sitzungen auf, die vermutlich vier Tage vorher öffentlich bekanntgemacht wurde und nicht mehr änderbar war. 89 Im 5. Jahrhundert erfolgte die Leitung der Sitzungen durch den jeweiligen Vorsitzenden dieses Ausschusses. Im 4. Jahrhundert wurde dagegen eine Trennung der Aufgaben vorgenommen, um den Einfluss des Rates auf die Versammlung zu verringern und möglicherweise auch um Korruption zu verhindern.90 Die Leitung der Sitzung erfolgte nunmehr im Wechsel durch Vorsitzende (prohedroi), die aus den neun Phylen ausgelost wurden, die nicht den Ratsvorsitz führten.91 Ab der Mitte des 5. Jahrhunderts stand das Rederecht allen Bürgern zu.92 Auch konnte jeder Bürger Anträge stellen, die aber in jedem Fall vor der Abstimmung in einer der folgenden Versammlungen vom Rat der Fünfhundert vorberaten werden mussten.93 Der Rat konnte ausformulierte Beschlussvorlagen oder offene Fragen unterbreiten und auch von sich aus Anträge stellen. Die Versammlung hatte das Recht, seine Entscheidungsvorschläge zu ändern.94 In der Mehrzahl der Fälle folgte sie aber der Empfehlung des Rates.95 Abstimmungen in Sachfragen erfolgten normalerweise offen per Handzeichen, wobei die einfache Mehrheit ausreichend war.96 Im Normalfall gab es kein Mindestquorum. Für einige wichtige Entscheidungen mussten aber mindestens 6.000 Bürger teilnehmen. Abstimmun-

86 Schuller,

in Schuller, S.  82. S.  134–136; Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  105 f.; Haßkamp, S.  20–22. 88 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 31. 89 Pabst, S.  69. 90 Sinclair, S.  2 29; Hansen, Age of Demosthenes, S.  140 f. 91 Haßkamp, S.  107 f. 92 Ober, S.  78 f. 93 Hansen, Age of Demosthenes, S.  138. 94 Näher Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  196–200. 95 Osborne, S.  28; zur Praxis ausführlich Sinclair, S.  88–101. 96 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  201; Pabst, S.  71. 87 Ober,

II. Herrschaftsorganisation

113

gen über die Verbannung von Personen, die als für die Demokratie gefährlich angesehen wurden (ostrakismos),97 einen Straferlass (adeia), bestimmte gerichtliche Urteile98 und seit 380 auch über die Einbürgerung99 erfolgten hingegen mit Stimmsteinen. Zwar kann für das 5. Jahrhundert von einer grundsätzlichen Allzuständigkeit der Versammlung ausgegangen werden.100 Aus praktischen Gründen mussten ihre Kompetenzen aber beschränkt bleiben.101 Dennoch ­behandelte sie auch viele Routineangelegenheiten kommunaler Verwaltung.102 Wichtige Einzelentscheidungen betrafen insbesondere außenpoli­ tische Angelegenheiten, d. h. die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie über Bündnisse,103 aber auch religiöse Fragen.104 Am häufigsten waren allerdings Ehrungen von Bürgern und Auswärtigen.105 Von vermutlich etwa 30.000 Beschlüssen im 4. Jahrhundert sind nur etwa 800 ganz oder teilweise im Wortlaut überliefert.106 Eine weitere Funktion war die Bestellung von Amtsträgern. Auch nach der Umstellung auf die Auslosung wurden einige Ämter durch Wahl besetzt.107 Vor allem aber überwachte die Volksversammlung den gesamten Verwaltungsapparat. Alle Amtsträger mussten zehnmal im Jahr vor ihr Rechenschaft ablegen. Als Gericht fungierte die Volksversammlung seit den Reformen des Kleisthenes nur bei schweren Vergehen gegen die Stadt (eisangelia).108 Seit der Mitte des 4. Jahrhunderts nahm sie diese judikative Aufgabe nur noch in Ausnahmefällen wahr.109

97 Hansen,

Age of Demosthenes, S.  35 f.; Welwei, Athen, S.  20; Nippel, Freiheit, S.  23– 27. 98 Meyer, S.  9 0; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  202; Finer, S.  347. 99 Sinclair, S.  25. 100 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  209. 101 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  215. 102 Welwei, Athen, S.  119. 103 Hansen, Age of Demosthenes, S.  156 f.; Finer, S.  346. 104 Hansen, Age of Demosthenes, S.  157. 105 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  213. 106 Hansen, Age of Demosthenes, S.  156. 107 Siehe unten S.  121. 108 Hansen, Age of Demosthenes, S.  158 f. 109 Hansen, Age of Demosthenes, S.  152; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  212; näher dazu Harrison, S.  49–64.

114

4. Kapitel: Athen

bb) Volksgerichte Die Volksgerichte (dikasteria)110 sind als eine Art Abteilungen der Volksversammlung verstanden worden.111 Die Befugnis, Urteile in Gerichtsverfahren zu sprechen, stand eigentlich dem Volk zu, weil das eine Form der öffentlichen Herrschaftsausübung war. Nur aus praktischen Erwägungen wurde sie auf die Volksgerichte übertragen.112 Jedes Jahr wurden durch Los insgesamt 6.000 Volksrichter bestellt.113 Dieses Amt konnte jeder über 30jährige Bürger bekleiden, der keine Schulden gegenüber dem Staat besaß und seine Rechte nicht verloren hatte.114 Es handelte sich also nicht um Berufsrichter, aber auch nicht um Geschworene im modernen Sinn, weil sie umfassend und allein entschieden.115 Vielmehr muss man sie als Laienrichter einordnen.116 Nicht nur aufgrund ihrer Richtertätigkeit, sondern auch als Bürger, die am öffentlichen Leben teilnahmen, hatten sie durchaus Gesetzeskenntnis.117 Schon seit der Mitte des 5. Jahrhunderts erhielten die Volksrichter eine Bezahlung pro Gerichtstag,118 die für Arme vermutlich attraktiv war.119 Die Volksrichter verteilten sich auf etwa zehn verschiedene Gerichtshöfe.120 Diese bestanden bei öffentlichen Klagen aus 501, bei Privatstreitigkeiten dagegen aus 201 oder 401 Mitgliedern.121 Falls erforderlich tagten auch zwei oder drei Gerichte zusammen,122 mit bis zu 2.001 Mitgliedern, in einem Fall waren sogar alle Volksrichter beteiligt.123 Die konkreten Mitglieder des Spruchkörpers wurden ab dem 4. Jahrhundert jeden Morgen aus allen Volksrichtern ausgelost, um Manipulation und Bestechung zu vermeiden.124 Den Vorsitz führten je nach Gegenstand des Verfahrens ver110

Manchmal wurde auch für sie der alte Begriff heliaia verwendet, vgl. Sealey, S.  60. Wesel, S.  128. 112 Pabst, S.  7 7. 113 Wesel, S.  125; dazu näher Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  248–252; Rhodes, in Eder, S.  308 f. 114 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  63, 3. 115 Ehrenberg, S.  88; Nippel, Freiheit, S.  6 4; Sealey, S.  5 4, betont die Unterschiede zur modernen anglo-amerikanischen jury. 116 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  241; Haßkamp, S.  24. 117 Haßkamp, S.  25. 118 Hansen, Age of Demosthenes, S.  188 f. 119 Sinclair, S.  129. 120 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  247. 121 Wesel, S.  124 f. 122 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  68, 1. 123 Hansen, Age of Demosthenes, S.  187. 124 Hansen, Age of Demosthenes, S.  197 f.; Welwei, Athen, S.  307; Freeman, S.  255. 111

II. Herrschaftsorganisation

115

schiedene Amtsträger, insbesondere die Archonten. So war etwa der »König«125 der Vorsitzende bei Anklagen wegen Gottlosigkeit.126 cc) Gesetz-Erlasser Zu Beginn des 4. Jahrhunderts wurde ein kleineres Gremium geschaffen, die »Gesetz-Erlasser«127 (nomothetai). Es diente vermutlich der Entlastung der Volksversammlung und übernahm die Entscheidung über die Änderung der bestehenden Gesetze.128 Es hatte keine feste Mitgliederzahl, sondern bestand aus 501 oder 1.001 oder sogar 1.501 oder mehr Mitgliedern.129 Ihre Auswahl ist unklar, vermutlich wurden sie aus den 6.000 Mitgliedern der Volksgerichte ausgelost.130 In einem Fall ist überliefert, dass das Gremium aus den Mitgliedern des Rats der Fünfhundert und 1.001 Volksrichtern bestand.131 Aufgrund des Losverfahrens ist davon auszugehen, dass seine soziale Zusammensetzung nicht wesentlich von der Volksversammlung abwich.132 Die Beratungen der Gesetz-Erlasser wurden durch »Vorsteher« (prohedroi) geleitet, wobei unklar ist, ob sie mit denen der Volksversammlung identisch waren.133 Es handelte sich um ein hybrides Verfahren zwischen Legislative und Judikative.134 Auf der einen Seite war es kontradiktorisch ausgestaltet, weil der Änderungsvorschlag in Form einer Anklage und einer Verteidigung des alten Gesetzes diskutiert wurde.135 Die Abstimmungsregeln entsprachen dagegen nicht denen eines Gerichts, sondern denen der Volksversammlung.136 b) Rat In der Athener Polis gab es zwei kleinere Gremien mit Leitungsaufgaben. Noch aus der Zeit der Adelsherrschaft stammte der Rat des Areopags. Er 125

Siehe unten S.  123. Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  243. 127 So die Übersetzung bei Johne, DNP 8, Sp.  987. 128 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 20–224. 129 Sealey, S.  42; Hansen, Age of Demosthenes, S.  168. 130 Hansen, Age of Demosthenes, S.  167; Piérart, in Lévy, S.  2 39 f.; Wesel, S.  123; Haßkamp, S.  57. 131 Sinclair, S.  83; Freeman, S.  267. 132 Ober, S.  97. 133 Sealey, S.  42. 134 Wesel, S.  123; Rhodes, in Tiersch, S.  111. 135 Hansen, Age of Demosthenes, S.  169. 136 Piérart, in Lévy, S.  2 33–239. 126

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wurde in der Demokratie weitgehend entmachtet und übte vor allem noch judikative Aufgaben aus. Dagegen kam dem durch Kleisthenes geschaffenen Rat der Fünfhundert eine zentrale Stellung im Staatsaufbau zu. aa) Rat des Areopags Der Rat (boule), der nach seinem Gerichtsplatz auf dem Fels des Areopags (areios pagos) benannt wurde,137 gilt als die älteste Behörde in Athen.138 Seine Geschichte geht zurück in die Frühzeit der Polis.139 Er bestand aus ca. 150 - 200 Mitgliedern, die anders als bei allen anderen Ämtern auf Lebenszeit amtierten. Es handelte sich dabei ausschließlich um die ehemaligen Archonten, die nach Ende ihrer Amtszeit in den Rat wechselten.140 Bis zur Reform des Ephialtes im Jahr 462 hatte der Areopag vermutlich das Recht zur Überprüfung von Entscheidungen der Versammlung, denn Aristoteles bezeichnete ihn als »Wächter über die Gesetze«.141 Danach war er für mehr als ein Jahrhundert nur noch zuständig für die Aburteilung von Tötungsdelikten,142 wobei er unter Vorsitz des »Königs« tagte.143 Eine kleine Aufwertung erfolgte ab den 40er Jahren des 4. Jahrhunderts, denn nun wurde ihm die Voruntersuchung (apophasis) bei Verrat, Bestechung und Putschversuchen übertragen.144 Er konnte entweder auf eigene Initiative oder – wie meist – auf Antrag der Volksversammlung tätig werden.145 bb) Rat der Fünfhundert Der Rat (boule) der Fünfhundert bestand aus je fünfzig Mitgliedern aus einer Phyle, die zuerst vermutlich gewählt, ab etwa 460 aber ausgelost wurden.146 Dabei erfolgte eine Verteilung der Sitze über die zehn Phylen auf alle Gemeinden147 je nach deren Größe. Jede Gemeinde stellte mindestens

137

Zur Etymologie Wallace, S.  213 f. Kahrstedt, in Berneker, S.  197. 139 Zur Zeit vor Solon vgl. Wallace, S.  3 –47. 140 Details bei Wallace, S.  94–97. 141 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  4, 4; Ober, S.  7 7. 142 Näher dazu Sealey, S.  70–77. 143 Hansen, Age of Demosthenes, S.  294. 144 Dazu Wallace, S.  113–119; Haßkamp, S.  149–155, die ihn deshalb als »Kontrollorgan« bezeichnet; Rohde, S.  294 f., erkennt darin eine informelle Macht. 145 Hansen, Age of Demosthenes, S.  292 f. 146 Welwei, Polis, S.  161. 147 Siehe unten S.  127 f. 138

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ein Ratsmitglied. Nur wenige Gemeinden hatten sieben oder mehr Sitze. Das Maximum stellten die 22 Sitze der Gemeinde Acharnai dar.148 Die Ratsmitglieder amtierten nur für ein Jahr.149 Jeder Bürger konnte diese Funktion nur zweimal ausüben und nicht in direkter Folge. Es handelte sich um eine arbeitsreiche Tätigkeit, da die Sitzungen fast jeden Tag stattfanden.150 Im 5. Jahrhundert waren wahrscheinlich die Angehörigen der ärmsten Vermögensklasse der Theten ausgeschlossen.151 Dies änderte sich aber im 4. Jahrhundert.152 Um die Beteiligung attraktiver zu machen, wurde Mitte des 5. Jahrhunderts ein Tagegeld eingeführt.153 Dennoch gab es öfters zu wenige Kandidaten, so dass nicht immer alle Sitze besetzt werden konnten.154 Einige nehmen an, dass durch die Freiwilligkeit der Kandidatur wohlhabendere Bürger bevorzugt wurden.155 Wegen der großen Zahl der jährlich zu besetzenden Ämter und der Beschränkung auf zwei Wahlperioden kann das aber keine große Rolle gespielt haben.156 Alle Kandidaten mussten sich einer Qualifikationsprüfung (dokimasia) durch den vorherigen Rat unterziehen.157 Dabei wurde festgestellt, ob schon drei Generationen Bürgerrecht der Familie bestanden, ob das Mindestalter von 30 Jahren erreicht war und ob die Bürgerpflichten gewissenhaft erfüllt worden waren. Eine besondere Befähigung wurde nicht geprüft.158 In der Praxis kam es aber manchmal zu einem Ausschluss politisch Verdächtiger.159 Gegen die Ablehnung war eine Anrufung des Volksgerichts möglich.160 Die Vorbereitung der Sitzungen erfolgte durch einen geschäftsführenden Ausschuss (prytaneia), der aus den fünfzig Mitgliedern einer Phyle bestand und jeweils für ein Zehntel des Jahres amtierte.161 Er stellte die Tagesord148

Hansen, Age of Demosthenes, S.  104; Details der Sitzverteilung bei Traill, S.  67–70, und Whitehead, S.  369–373. 149 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  30, 2. 150 Wesel, S.  123; Hansen, Age of Demosthenes, S.  251, schätzt die Sitzungstage pro Jahr auf 275. 151 Sinclair, S.  106. 152 Ober, S.  8 0. 153 Ober, S.  8 0. 154 Ausführlich Sinclair, S.  108–112; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 27; Finer, S.  347; anders aber Hansen, Age of Demosthenes, S.  253 f: »full compensation«. 155 Sinclair, S.  106 f.; Finer, S.  359; Haßkamp, S.  100. 156 Ruschenbusch, in Ruschenbusch, S.  263–265; Ober, S.  139 f. 157 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 28. 158 Haßkamp, S.  91. 159 Sinclair, S.  78; Haßkamp, S.  92. 160 Hansen, Age of Demosthenes, S.  219. 161 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 31.

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nung der Sitzungen auf.162 Die Leitung der Sitzung erfolgte im 5. Jahrhundert durch einen aus diesem Ausschuss gelosten Vorsitzenden. Im 4. Jahrhundert wurden diese beiden Funktionen getrennt. Aus den neun Phylen, die nicht den geschäftsführenden Ausschuss bildeten, wurde je ein Vorsitzender gelost. Aus ihnen wurde für nur einen Sitzungstag der Vorsteher (epistates) bestimmt. Dieses Amt konnte ein Bürger nur einmal im Leben übernehmen, um eine Machtkonzentration zu verhindern.163 Die Sitzungen waren grundsätzlich öffentlich, ein Ausschluss der Öffentlichkeit war aber möglich.164 Einen Antrag konnten nur die Ratsmitglieder einbringen.165 Der Rat hatte einen Sekretär, der zunächst aus den Ratsmitgliedern gewählt wurde und mit jeder Prytanie wechselte.166 Ab der Mitte des 4. Jahrhunderts handelte es sich dagegen um ein eigenes Amt, das per Los besetzt wurde, um den Einfluss des Sekretärs zu schwächen.167 Die Hauptaufgabe des Rates war die Vorbereitung der Beschlüsse der Volksversammlung, wozu auch die Vorlage von Gesetzesentwürfen gehörte.168 Die Versammlung war allerdings an die Vorschläge des Rates nicht gebunden. Der Rat spielte außerdem eine wichtige Rolle in der Außenpolitik, u. a. empfing er Gesandtschaften.169 Dagegen konnte er nur wenige eigene Beschlüsse in unwichtigen Angelegenheiten treffen.170 Eine weitere zentrale Aufgabe war die Koordination und Kontrolle der übrigen Amtsträger. Viele Aufgaben waren hierbei auf die 15 bis 20 Zehner-Ausschüsse des Rates übertragen,171 die aus je einem Mitglied pro Phyle bestanden. Sie waren z. B. für Flotte, Hafen, Rechnungsprüfung und Rechnungslegung zuständig.172 Im Rahmen seiner Kontrollfunktion konnte der Rat Ordnungsstrafen bis zu 500 Drachmen gegen Amtsträger verhängen, gegen die eine Berufung zum Volksgericht zulässig war.173 Außerdem urteilte er über Hochverrat von Amtsträgern.174

162

Sinclair, S.  103; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  232. Welwei, Athen, S.  260 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  231 f.; Finer, S.  347. 164 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 29. 165 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 33. 166 Welwei, Polis, S.  192. 167 Welwei, Athen, S.  247. 168 Hansen, Age of Demosthenes, S.  256 f. 169 Hansen, Age of Demosthenes, S.  264 f. 170 Hansen, Age of Demosthenes, S.  256. 171 Meyer, S.  91; Finer, S.  348. 172 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 34. 173 Hansen, Age of Demosthenes, S.  258. 174 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 38. 163

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c) Ämter Es gibt einen griechischen Begriff für Amt (arche)175 , der im Plural (archai) alle Amtsträger erfasst.176 Dagegen gibt es kein Wort für den einzelnen Amtsträger. Deren Bezeichnung als »Beamter« ist ohnehin problematisch, da in der Demokratie alle Ämter außer der Mitgliedschaft im Rat des Areopags zeitlich befristet waren und ehrenamtlich wahrgenommen wurden.177 Aristoteles charakterisierte die Besonderheit eines Amtes so: »Das Recht, Verordnungen zu treffen, ist das besondere Merkmal der Amtsgewalt.«178 Auch wird das Recht zur Verhängung von Bußen als typisch für ein Amt angesehen.179 Allerdings durften nur Ordnungsstrafen bis 50 Drachmen verhängt werden.180 Mit dieser Betonung der Befugnis zu einseitigen Maßnahmen kann man die Ämter als Verwaltung der Polis bezeichnen,181 auch wenn es manchmal zu Überschneidungen mit judikativen Aufgaben kam. Aus der Periode der demokratischen Polis sind mehr als 70 verschiedene Ämter bekannt, die manchmal monokratisch, meist aber kollegial besetzt waren.182 Deshalb verwundert es nicht, dass nach Aristoteles pro Jahr nicht weniger als 700 Athener mit Ämtern innerhalb des Landes betraut waren.183 Hinzu kamen noch die auswärtigen Ämter wie z. B. Gesandter. In der demokratischen Periode gab es jedenfalls in der Praxis keine Beschränkung auf bestimmte Vermögensklassen mehr.184 Für die meisten Ämter ist typisch, dass sie ehrenamtlich und kollegial ausgeübt wurden, auf ein Jahr befristet waren, durch Los besetzt wurden und einer strengen Kontrolle unterlagen. Diese Ausgestaltung der Ämter war nur möglich, weil sie auf einer starken Spezialisierung beruhte.185 Alle 175

Hansen, Age of Demosthenes, S.  225, übersetzt mit »magistracy«; Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  148, übersetzt mit »rule« bzw. »authority«. 176 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 25; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  269. 177 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  272, der den Begriff trotzdem verwendet. 178 Aristoteles, Politik, 4. Buch, 15; weitere Quellen bei Hansen, Age of Demosthenes, S.  229. 179 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  270 f. 180 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  244; Hansen, Age of Demosthenes, S.  190; Kapparis, S.  26 f. 181 Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  153; s. a. Kapparis, S.  21: »well-defined executive«. 182 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 39 f.; (unvollständige) Aufzählung bei Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  152 f. 183 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  24, 3. 184 Hansen, Age of Demosthenes, S.  107 f., mit Hinweis auf Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  7, 4. 185 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  279.

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Ämter waren gleichberechtigt und nicht in eine Hierarchie eingebaut, sondern sie unterlagen nur der Kontrolle durch den Rat.186 Die meisten Amtsinhaber erhielten zunächst keine feste Bezahlung, sondern nur ein Entgelt für ihren Aufwand.187 Ab der Mitte des 5. Jahrhunderts erfolgte wohl eine Besoldung aller Amtsinhaber entsprechend dem Mindestlohn für einen Tag, um auch die Teilnahme ärmerer Schichten zu ermöglichen.188 Diese Regelung ist aber vermutlich nach dem Jahr 411 wieder abgeschafft worden, jedenfalls ist sie nicht mehr belegt.189 Zu beachten ist aber auch, dass einige Ämter finanzielle Vorteile mit sich brachten.190 Amtslokale sind nur teilweise überliefert, z. B. für die Strategen,191 aber nicht für über 50 andere Ämter.192 Fast alle Ämter wurden durch Kollegien ausgeübt, um eine gegenseitige Kontrolle zu ermöglichen und den Einfluss Einzelner zu verringern.193 Sie bestanden in der Regel aus zehn Mitgliedern, so dass jede Phyle vertreten war.194 Bei Uneinigkeit erfolgte eine Beschlussfassung mit Mehrheit.195 Häufig wurden die Aufgaben auf die einzelnen Mitglieder des Kollegiums verteilt, was z.T. schon in den Rechtsvorschriften vorgesehen war, mit denen das Amt geschaffen wurde.196 In jedem Fall bestand aber eine individuelle Verantwortlichkeit für die Beachtung der Gesetze.197 Es ist bekannt, dass nicht alle Kollegien immer voll besetzt waren.198 Deshalb bestehen Zweifel an der Aussage, dass es kein Problem war, Kandidaten für alle Ämter zu finden.199 Fast alle Ämter waren auf ein Jahr befristet.200 Außer bei einigen militärischen Funktionen war keine Iteration zugelassen.201 Niemand sollte dasselbe Amt mehr als einmal bekleiden.202 Es war auch nicht zulässig, mehre186

Ehrenberg, S.  84; Haßkamp, S.  86. Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  278. 188 Rhodes, in Tiersch, S.  109 f.; Gehrke, in Gehrke, S.  472 f. 189 Hansen, Age of Demosthenes, S.  240 f. 190 Beispiele bei Hansen, Age of Demosthenes, S.  241 f. 191 Belege bei Haensch, Hermes 2003, S.  179–181. 192 Haensch, Hermes 2003, S.  191. 193 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 39. 194 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  276 f. 195 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 37. 196 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 38. 197 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 37 f. 198 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 32 f. 199 So Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  276. 200 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  273 f. 201 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  274. 202 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  31, 3. 187

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re Ämter gleichzeitig auszuüben. Dagegen war die Übernahme eines anderen Amtes im übernächsten Jahr möglich. Viele Bürger nahmen im Leben mehrere Ämter wahr.203 Anders wäre der hohe Personalbedarf der Polis nicht zu decken gewesen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts wurden die meisten Amtsträger, insgesamt etwa 600, durch das Los bestimmt.204 Durch eine Wahl besetzt wurden nur noch Ämter, für die besondere Qualifikationen vorausgesetzt wurden.205 So gab es im 4. Jahrhundert etwa 100 gewählte Amtsinhaber.206 Neben einigen religiösen Funktionen betraf dies v. a. die militärische Führung, seit der Mitte des 4. Jahrhunderts auch die Schatzmeister der Kriegskasse und die Verwalter des Theaterfonds.207 Durch Wahl bestimmt wurden daneben die Aufseher über die Brunnen 208 und einige kleinere Ämter, für die besonderes Fachwissen erwartet wurde.209 Eine zentrale Rolle für das Amtsverständnis in Athen spielten die Verfahren zur Kontrolle der Amtsinhaber.210 Schon vor der Amtsübernahme wurden alle erlosten bzw. gewählten Personen dem obligatorischen Verfahren der Qualifikationsprüfung (dokimasia) unterworfen.211 Während hierfür bei den Archonten der Rat der Fünfhundert zuständig war, wurden alle anderen durch ein Volksgericht überprüft.212 Zudem mussten sich alle Amtsinhaber zehn Mal im Jahr in der Volksversammlung einer Abstimmung über ihre Amtsführung (epicheirontonia ton archon) stellen. Wurde sie nicht mit Mehrheit gebilligt, erfolgte eine rechtliche Prüfung durch ein Volksgericht.213 Zudem konnten alle Bürger, aber auch der Rat oder einzelne Ratsmitglieder jederzeit öffentliche Anklage wegen Gesetzesverstoß (eisangelia) 214 erheben. Dieses Verfahren richtete sich insbesondere gegen Amtsinhaber, konnte aber auch gegen öffentliche Redner oder andere Privatpersonen eingeleitet werden.215 Relativ häufig wurden Generäle wegen Verrat oder 203

Hansen, Age of Demosthenes, S.  232. Hansen, Age of Demosthenes, S.  230. 205 Sinclair, S.  8 0; Finer, S.  345; Pabst, S.  72 f. 206 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 33. 207 Haßkamp, S.  89. 208 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  43, 1; Wesel, S.  122. 209 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  275. 210 Roberts, Accountability, S.  5. 211 Siehe oben S.  117. 212 Ostwald, Sovereignty of Law, S.  43. 213 Sinclair, S.  79; Haßkamp, S.  93. 214 Hansen, Eisangelia, S.  9, übersetzt mit »impeachment«. 215 Zahlen bei Hansen, Eisangelia, S.  58. 204

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Korruption angeklagt.216 Sofern nur Geldbußen bis 500 Drachmen verhängt wurden, erfolgte die Entscheidung durch den Rat. Einen solchen Fall regelte etwa das Münzgesetz von 375/74: »If anyone of the magistrates does not act in accordance with the written instructions, let anyone of the Athenians who wishes, and to whom [it is permitted], bring [him] before the Boule. And if he is convicted, let him cease serving [as a magistrate] and let the Boule fine him up to [five hundred drachmai].«217 Nur die Volksversammlung konnte dagegen schwere Strafen wie Verbannung, Einzug des Vermögens, hohe Geldstrafen oder sogar die Hinrichtung beschließen.218 Ab dem Jahr 355 war das Urteil in jedem Fall den Volksgerichten vorbehalten.219 Vor dem Ende der Amtszeit jedes Amtsinhabers erfolgte eine zweigeteilte Rechenschaftsprüfung, 220 die mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden war.221 Zum einen prüften zehn geloste Rechnungsprüfer (logistai) die Abrechnung der dem Amt zur Verfügung stehenden Finanzen.222 Verantwortliche Amtsträger durften die Stadt bis zur Prüfung der Kasse nicht verlassen.223 Bei Unterschlagung oder Bestechung konnten Bußen mit dem zehnfachen Betrag der betreffenden Summe festgesetzt werden.224 Zum anderen nahmen zehn geloste Untersucher225 (euthynoi) Klagen über die allgemeine Amtsführung aller Amtsträger entgegen.226 Wenn sie einen Verstoß gegen Amtspflichten feststellten, erfolgte eine Prüfung durch die Thesmotheten, ob ein Gerichtsverfahren eröffnet werden soll.227 Allerdings sind nur zehn Fälle einer Strafverfolgung nach diesem Verfahren überliefert.228

216

Hansen, Eisangelia, S.  6 4 f. Übersetzung bei Stroud, Hesperia 1974, S.  159. 218 Haßkamp, S.   95 f.; Aufstellung aller bekannten Prozesse bei Hansen, Eisangelia, S.  66–120. 219 Haßkamp, S.  97. 220 Haßkamp, S.  94. 221 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 23. 222 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  48, 3; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  280; Harris, in Tiersch, S.  82. 223 Pabst, S.  58. 224 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  5 4, 2. 225 Übersetzung bei Welwei, Athen, S.  92; Sinclair, S.  79, übersetzt »examiners«; Hansen, Age of Demosthenes, S.  223, übersetzt »correctors«. 226 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  279 f. 227 Harrison, S.  30. 228 Haßkamp, S.  94 f.; Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 24, nennt die Zahl 15. 217

II. Herrschaftsorganisation

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aa) Archonten In der vordemokratischen Epoche lag die Führungsrolle der Polis bei den neun »Herrschenden« (archontes). In der Demokratie wurden sie weitgehend entmachtet und behielten v. a. Aufgaben bei der Organisation von Gerichtsverfahren.229 Ein Archont trug auch nach der Abschaffung der Monarchie den Titel »König« (basileus). Er übernahm die sakralen Funktionen, die kultisch mit dem Königsnamen verbunden waren.230 Ein Archont mit dem Titel »Führer im Krieg«231 (polemarchos) hatte zunächst den Oberbefehl des Heeres inne.232 Nach der Schlacht von Marathon im Jahr 490 verlor er diese Aufgabe an die Strategen. Danach war er für einige Feste zuständig und leitete die Prozesse im Zusammenhang mit Fremden.233 Für den dritten Archonten ist ab dem Jahr 421 die Bezeichnung als Eponym (eponymos) überliefert, weil sein Name in eine Liste eingetragen wurde, die als Grundlage der Jahreszählung diente.234 Er führte die Aufsicht über Waisen, Erbtöchter und schwangere Witwen.235 Außerdem gehörten sechs »Rechtssetzer«236 (thesmothetai) zu den Archonten. Anders als diese Bezeichnung vermuten lässt, erfüllten sie ausschließlich Aufgaben im Gerichtswesen, insbesondere die Vorprüfung von Klagen und die Leitung der meisten Prozesse.237 Die Archonten wurden schon ab dem Jahr 594/93 durch die Volksversammlung gewählt. Zunächst mussten sie der obersten von vier Einkommensklassen angehören, ab dem Jahr 487/86 erfolgte eine Erweiterung auf die zweite Einkommensklasse. Die neun Ämter wurden ergänzt um den Schreiber der Thesmotheten, damit je ein Mitglied pro Phyle bestimmt werden konnte. Nunmehr wurden sie aus 100 von den Gemeinden gewählten Kandidaten ausgelost.238 Ab dem Jahr 458/57 wurde das Amt auch für Bürger aus der dritten Einkommensklasse geöffnet und auch die Vorauswahl der Kandidaten erfolgte durch das Los.239 229

Welwei, Athen, S.  4 4 f. Harrison, S.  8 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  174. 231 Übersetzung bei Rhodes, DNP 10, Sp.  3. 232 Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.  112. 233 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  58. 234 Chaniotis, DNP 4, Sp.   4; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  285; zum Ursprung dieser Tradition in der altassyrischen Epoche siehe oben S.  6 4. 235 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  56, 6 f. 236 Übersetzung bei Rhodes, DNP 12/1, Sp.  4 42. 237 Harrison, S.  12 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  286. 238 Welwei, Athen, S.  42 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  48. 239 Pabst, S.  2 2 f. 230

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bb) Strategen Im 5. Jahrhundert wurden die zehn »Heerführer«240 (strategoi) als die wichtigsten Amtsinhaber angesehen.241 Sie führten das Oberkommando über Heer und Flotte. Da außenpolitische Fragen regelmäßig in der Volksversammlung behandelt wurden, traten sie dort oft als Redner auf. Es wird aber bezweifelt, dass sie einen besonders starken Einfluss auf die Volksversammlung hatten.242 Im 5. Jahrhundert waren alle Mitglieder des Gremiums gleichberechtigt.243 Jedoch konnten für einen bestimmten Feldzug einzelne Strategen mit der Leitung beauftragt werden.244 Seit Mitte des 4. Jahrhunderts wurde es üblich, dass einzelne Strategen für ihre gesamte Amtszeit mit fest abgegrenzten Aufgaben betraut wurden.245 Anders als bei fast allen anderen Ämtern war bei den Strategen eine jährliche Wiederwahl möglich. In einem Fall ist überliefert, dass eine Person 45 Jahre als Stratege amtierte.246 d) Hilfskräfte Einige Ämter beschäftigten einen Sekretär (grammateus) und Untersekretäre (hypogrammateis). Obwohl diese selbst nicht als Amtsinhaber galten und nur eine subalterne Stellung hatten, mussten sie ihren Aufgabenbereich jährlich wechseln.247 Einigen Ämtern waren außerdem öffentliche Sklaven zu ihrer Unterstützung zugewiesen.248 Ihre Rechtsstellung war vermutlich besser als die von privaten Sklaven, weil sie nur den Amtsinhabern während deren Tätigkeiten zuarbeiteten.249

240

Übersetzung bei Ameling, DNP 11, Sp.  1037. Harrison, S.  31; Welwei, Athen, S.  22. 242 Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  102; Haßkamp, S.  88. 243 Sinclair, S.  81; Nippel, Freiheit, S.  52. 244 Ameling, DNP 11, Sp.  1038. 245 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  289 f. 246 Haßkamp, S.  88. 247 Busolt, S.  481; Welwei, Polis, S.  197; Hansen, Age of Demosthenes, S.  244 f. 248 Hansen, Age of Demosthenes, S.  123. 249 Kapparis, S.  9 9 f. 241

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2. Territoriale Organisation Der Athener Stadtstaat wird in der Literatur als Einheitsstaat mit einheitlichen Institutionen aufgefasst.250 Während der Zeit des Seebundes gerieten jedoch auch andere Teile Griechenlands unter die Hegemonie Athens.251 Außerdem gab es unterhalb der Ebene der zentralen Institutionen Gemeinden mit einer gewissen Selbständigkeit. a) Der attische Seebund Das als delische Liga bzw. attischer Seebund bekannte Bündnis von Athen mit einer Reihe anderer griechischer Stadtstaaten wurde im Jahr 478 gegründet. Es war konzipiert als dauerhafter Zusammenschluss von unabhängigen Staaten zur Verteidigung gegen Persien. Im gemeinsamen Rat des Bundes hatte jedes Mitglied eine Stimme.252 Dieser Rat hat aber vermutlich bald an Bedeutung verloren.253 Alle Mitglieder, die keine eigene Kriegsflotte einbrachten, unterlagen einer Tributpflicht, wobei die Höhe regelmäßig überprüft und angepasst wurde.254 Zunächst erfolgte die Festsetzung einvernehmlich, aber jedenfalls während des Peloponnesischen Krieges wurde sie einseitig durch den Athener Rat vorgenommen.255 Die Bundeskasse befand sich zunächst in Delos, erst ab 454 in Athen.256 Eine gewisse Führungsrolle Athens zeigte sich insbesondere darin, dass Athen den Oberbefehl der Truppen innehatte und die Kassenwarte auswählte.257 Diese Konstruktion wurde von den Verbündeten jedoch zunächst nicht als Einschränkung ihrer Autonomie verstanden.258 In den folgenden 30 Jahren entwickelte sich das Bündnis in Richtung eines Reiches, das von Athen beherrscht wurde.259 Der Wandel zeigte sich erstmals, als Athen etwa im Jahr 470 den Austritt von Naxos nicht akzeptierte und die Insel militärisch besetzte.260 Auch die Erhebung von Ery250

Sealey, S.  109; Finer, S.  343. Welwei, Athen, S.  130. 252 Meiggs, S.  4 4. 253 Ehrenberg, S.  140. 254 Dazu näher Meiggs, S.  2 34–254. 255 Schuller, S.  56 f., 144–146. 256 Meiggs, S.  109. 257 Meiggs, S.  2 34; Welwei, Athen, S.  8 0; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  79. 258 Welwei, Athen, S.  79. 259 Finley, in Garnsey/Whittaker, S.   103; Meiggs, S.  1; Ober, S.  83 f.; Low, S.  233–248; Cline/Graham, S.  134–142; Freeman, S.  260–265; gegen die Einordnung als Imperium Schuller, S.  197; Welwei, Athen, S.  127 f. 260 Welwei, Athen, S.  85 f. 251

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thrai, die etwa auf das Jahr 452 zu datieren ist, wurde durch Athener Truppen beendet, die nicht durch das Bündnis legitimiert waren.261 Selbst nach dem Frieden mit Persien im Jahr 450, durch den der ursprüngliche Zweck des Bundes entfiel, erlaubte Athen seine Auflösung nicht.262 Der Beschluss, der den Peloponnesischen Krieg auslöste, wurde nur von der Athener Volksversammlung getroffen, während Sparta ihn zusammen mit seinen Bündnispartnern fällen musste.263 Zwar übte Athen keine direkte Herrschaft aus. Über den Grad der Einmischung in die Verfassung der anderen Bündnismitglieder gibt es unterschiedliche Ansichten. Während es nach einer Auffassung in vielen Stadtstaaten eine Tendenz von der Oligarchie zur Demokratie gab, die in der Regel nicht auf eine direkte Einflussnahme Athens zurückzuführen war,264 weisen andere darauf hin, dass es fortwährend zu von außen gelenkten Umstürzen in Richtung der Demokratie kam.265 Die Bündnismitglieder standen in jedem Fall in unterschiedlicher Form unter einer Aufsicht, um die Ablieferung des Tributs und außenpolitisches Wohlverhalten zu gewährleisten. Die Athener Volksversammlung setzte hierzu »Aufseher«266 (episkopoi) ein. Sie überwachten die Institutionen eines Bündnispartners und hatten vermutlich auch judikative Befugnisse, trafen aber wohl nur sporadisch zu Kontrollbesuchen ein.267 Daneben gab es andere dauerhaft residierende Amtsträger, die militärische, judikative und finanzpolitische Aufgaben übernahmen.268 In einigen Mitgliedstaaten wurden sogar kleine Garnisonen mit Athener Truppen eingerichtet.269 Eine weitere Form der Einschränkung der Unabhängigkeit der Bündnismitglieder bestand darin, dass sie partiell der Athener Rechtsordnung unterworfen wurden. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts wurde eine Zuständigkeit der Athener Gerichte für politische Straftaten 270 und in einigen anderen durch Dekret geregelten Fällen begründet.271 Außerdem wurde allen Verbündeten die Verpflichtung zur Übernahme der Athener Münzen

261

Meiggs, S.  114. Meiggs, S.  152. 263 Schuller, S.  108 f. 264 Meiggs, S.  208; Welwei, Athen, S.  131–136. 265 Schuller, S.  82–98. 266 Übersetzung bei Rhodes, DNP 3, Sp.  1157. 267 Meiggs, S.  212 f.: »visiting commissioners«; Schuller, S.  40–42. 268 Schuller, S.  42–48. 269 Meiggs, S.  206 f. 270 Welwei, Athen, S.  126. 271 Schuller, S.  107 f.; Meiggs, S.  2 20–233. 262

II. Herrschaftsorganisation

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auferlegt.272 Schließlich kam es in einigen Fällen zur Beschlagnahme von Land, das an Athener Bürger aus ärmeren Schichten vergeben wurde.273 Mit der Niederlage gegen Sparta im Jahr 405 brach der Seebund zusammen. Zwar wurde im Jahr 378 ein zweiter Attischer Seebund gegründet. Er war aber durch eine deutlich geringere Dominanz Athens gekennzeichnet.274 Die Beiträge der Mitglieder waren erheblich geringer als während des ersten Bundes, 275 aber sie wurden ebenfalls nur von Athener Bürgern verwaltet. Die Beschlüsse des Rates des Bundes (synhedrion) bedurften der Zustimmung der athenischen Volksversammlung.276 Athener durften kein Land im Gebiet der Bündnispartner besitzen.277 Während des zweiten Bundes wurde die Athener Münze den Bündnispartnern nicht aufgezwungen.278 Es kam nur selten zu Interventionen bei den Mitgliedern.279 Garnisonen oder Aufseher gab es nur in wenigen Fällen.280 Auch in dieser Phase versuchte Athen allerdings, den Austritt von Bündnismitgliedern zu verhindern, doch unterlag es im Jahr 357 im Sezessionskrieg mit Chios, Rhodos und anderen.281 Dieser Bund wurde im Jahr 338 unter dem Druck Makedoniens aufgelöst.282 b) Die Gemeinden Seit den Reformen des Kleisthenes war die »Gemeinde«283 (demos) die kleinste politische Einheit des Stadtstaates.284 In der demokratischen Epoche gab es 139 Gemeinden.285 Sie sind aus ländlichen Siedlungen bzw. aus

272

Meiggs, S.  167; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  140, der von »Entmündigung« spricht. 273 Finley, in Garnsey/Whittaker, S.  115. 274 Ehrenberg, S.  141; Welwei, Athen, S.  280 f. 275 Griffith, in Garnsey/Whittaker, S.  135. 276 Welwei, Athen, S.  282. 277 Griffith, in Garnsey/Whittaker, S.  134. 278 Stroud, Hesperia 1974, S.  185. 279 Welwei, Athen, S.  296. 280 Griffith, in Garnsey/Whittaker, S.  135. 281 Griffith, in Garnsey/Whittaker, S.  141 f. 282 Welwei, Athen, S.  330. 283 So die Übersetzung bei Welwei, Athen, S.  9, und Rhodes, DNP 3, Sp.  4 64; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  183, übersetzt »Siedlungen«; Osborne, S.  41: »village or ward«; Hansen, Polis, S.  114: »communes«; zum Verhältnis zur Bedeutung »Volk« Whitehead, S.  264–268. 284 Ostwald, Nomos, S.  151–153. 285 Whitehead, S.  20; Welwei, Athen, S.  11; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  183; Auflistung bei Traill, S.  35–55, mit Karten im Anhang.

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4. Kapitel: Athen

Stadtvierteln hervorgegangen.286 Auch wenn der Ursprung territorial war, wurde die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde nach der erstmaligen Registrierung aller Bürger, die vermutlich im Jahr 510 erfolgte, erblich.287 Deshalb muss man sie in den späteren Zeiten als Zusammenschluss von Bürgern und nicht primär topografisch konzipieren.288 Jede Gemeinde hatte ihre eigene Versammlung (agora), an der alle ihre Bürger teilnehmen konnten. Die Zahl der Sitzungen pro Jahr ist unklar, vermutlich wurden sie nach Bedarf einberufen.289 Eine besonders wichtige Aufgabe der Versammlung war die Abstimmung über die Aufnahme der 18-Jährigen, weil sie damit gleichzeitig über das Bürgerrecht im Stadtstaat entschied.290 Gegen eine Ablehnung konnte ein Gericht angerufen werden, um die Voraussetzungen des Bürgerrechts zu klären.291 Außerdem bestimmte die Versammlung über die Finanzen der Gemeinde, die in eigenen Gemeindekassen verwaltet wurden.292 Weitere Aufgaben waren die Organisation von religiösen Kulten und Festen 293 sowie die Besetzung und Kontrolle der Ämter der Gemeinde.294 Jede Gemeinde hatte einen Vorsteher (demarchos), der zunächst jährlich neu gewählt wurde, während das Amt im 4. Jahrhundert durch das Los besetzt wurde.295 Er erfüllte sowohl eigene Aufgaben der Gemeinde wie auch übertragene Aufgaben der Stadt.296 Insbesondere nahm er nach der Abstimmung in der Gemeindeversammlung die wichtige Eintragung in die Bürgerliste vor, die auch Grundlage für die Aushebung der Truppen war.297 Zumindest in den größeren Gemeinden gab es daneben verschiedene andere Amtsträger, z. B. Kassenverwalter.298

286

Zur frühen Geschichte Whitehead, S.  5 –16. Whitehead, S.  67. 288 Traill, S.  72; Hansen, Age of Demosthenes, S.  47. 289 Whitehead, S.  9 0–92. 290 Whitehead, S.  97–109. 291 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  42, 1; zwei Fälle bei Patterson, in Gagarin/ Cohen, S.  285–289. 292 Ausführlich Whitehead, S.  149–175. 293 Whitehead, S.  176–222. 294 Whitehead, S.  114–120. 295 Whitehead, S.  139; Welwei, Athen, S.  13. 296 Ausführlich Whitehead, S.  122–138. 297 Hansen, Age of Demosthenes, S.  104; Welwei, Athen, S.  13. 298 Überblick bei Whitehead, S.  139–148. 287

III. Verwaltungsfunktionen

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III. Verwaltungsfunktionen 1. Bestandsaufgaben a) Öffentliche Finanzen Die Athener Polis erhob keine reguläre Steuer von ihren Bürgern. Nur die ansässigen Fremden und die Freigelassenen mussten eine Abgabe zahlen.299 In Kriegszeiten sowie regelmäßig ab dem Jahr 347/46 wurde jedoch eine Vermögenssteuer von den wohlhabenden Bürgern und den Fremden erhoben.300 Wegen ihres Ausnahmecharakters war vermutlich jährlich ein neuer Beschluss der Volksversammlung erforderlich.301 Ähnlich wie eine Steuer wirkte die Verpflichtung der vermögenden Bürger, in bestimmten Abständen die Finanzierung von großen Festen und von Schiffen der Flotte als Dienst für das Volk (leiturgia) zu übernehmen.302 Eine weitere Einnahmequelle waren die Zölle auf Ein- und Ausfuhren, die im Hafen von Piräus erhoben wurden, die Marktsteuer auf Waren und die Steuer auf Kauf und Verpachtung von Staatsbesitz.303 Zu nennen sind weiter die Strafgelder, die von Gerichten oder Amtsträgern verhängt und von »Verrichtern« (praktores) eingetrieben wurden.304 Beträchtliche Summen entfielen auch auf die Gerichtsgebühren.305 Erhebliche Einnahmen generierte der Stadtstaat aus der Verpachtung der Silberminen, der Erlaubnis zur Nutzung sakralen Landes und aus der Steuerpacht.306 Die Auswahl der Pächter erfolgte durch ein Versteigerungsverfahren, das zehn »Verkäufer«307 (poletai) durchführten. Diese versteigerten außerdem konfisziertes Eigentum.308 Alle eigenen Einnahmen Athens wurden allerdings durch die Tribute der Seebundstaaten übertroffen.309 In der Zeit um 430 gingen etwa 400 Talente Tribute ein, die also fast die Hälfte der Gesamteinnahmen von etwa 299

Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  296. Hansen, Age of Demosthenes, S.  112. 301 Leppin, in Eder, S.   568 f.; Hansen, Age of Demosthenes, S.  158; Nippel, Freiheit, S.  61. 302 Rhodes, DNP 7, Sp.  358; Nippel, Freiheit, S.  61–63. 303 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  297; Rohde, S.  51–55. 304 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  295. 305 Schätzung bei Rohde, S.  4 6. 306 Davies, in Osborne/Hornblower, S.  209–211; Rohde, S.  55–59. 307 Übersetzung bei Rhodes, DNP 10, Sp.  11. 308 Rohde, S.  4 6–48. 309 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  297. 300

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4. Kapitel: Athen

1.000 Talenten ausmachten.310 Im 4. Jahrhundert generierte der Stadtstaat erhebliche Einnahmen durch militärische Aktionen, die mit Erpressungen, Plünderungen und Beuteverkäufen verbunden waren.311 Für die Entgegennahme aller öffentlichen Gelder wurde ein eigenes Amt geschaffen, die zehn »Einnehmer« (apodektai).312 War ein Schuldner des Staates säumig, musste er die doppelte Summe zahlen und sogar seine Verhaftung war möglich.313 Die einzelnen Ausgaben der Polis wurden im 5. Jahrhundert teilweise allgemein durch Gesetze, teilweise durch konkrete Volksbeschlüsse festgelegt,314 während sie im 4. Jahrhundert durch den Rat bestimmt wurden.315 Den größten Posten bildete das Militär, das Geld insbesondere für den Sold und für die Ausrüstung der Armee benötigte.316 An zweiter Stelle kamen die Tagegelder für die Ratsherren und die Volksrichter sowie später auch für die Teilnehmer der Volksversammlung.317 Den drittgrößten Kostenblock bildeten die Instandhaltung und der Neubau von Tempeln und anderen öffentlichen Bauten.318 Die Polis kannte lange Zeit keine einheitliche Finanzverwaltung. Zunächst gab es nur Tempelkassen.319 Im 5. Jahrhundert wurde eine einheitliche Staatskasse eingeführt,320 die unter Leitung des Amtes mit der eigenartigen Bezeichnung »Schenkelsammler«321 (kolakretai) stand. Nach der Gründung des Seebundes wurde die Bundeskasse zur Hauptkasse.322 Sie wurde durch die »Schatzmeister der Hellenen« (hellenotamiai) verwaltet.323 Im 4. Jahrhundert wurde das System wieder geändert. Nun wurden viele kleine Kassen bei den zuständigen Ämtern eingerichtet.324 Die Zuteilung der Budgets erfolgte durch den Rat der Fünfhundert, der auch die Ober310

Sinclair, S.  11; Meiggs, S.  255–272. Rohde, S.  139–144. 312 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  300. 313 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  48, 1. 314 Kahrstedt, in Berneker, S.  2 27; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  301. 315 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  302. 316 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  299. 317 Kloft, in Horst, S.  203 f. 318 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  299. 319 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  292 f. 320 Rhodes, in Tiersch, S.  115. 321 Ethymologie bei Rhodes, DNP 6, Sp.  638. 322 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  297. 323 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  300. 324 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  302. 311

III. Verwaltungsfunktionen

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aufsicht führte.325 In der Mitte des Jahrhunderts wurde eine neue Kasse für Schaugelder (theorika) eingerichtet, um ärmeren Bürgern den Besuch der Feiern des Dionysos zu ermöglichen.326 Sie wurde schon bald aber auch zur Stützung des Getreidepreises, für Bauprojekte und für die Flotte genutzt.327 Für ihre Verwaltung wurde ein auf vier Jahre gewählter Schatzmeister bestellt, der auch in die Maßnahmen anderer Ämter, die öffentliche Finanzen verwalteten, eingebunden wurde.328 Er gewann dadurch großen Einfluss,329 unterstand aber auch den demokratischen Kontrollmechanismen.330 Nach der militärischen Niederlage im Jahr 338 wurde er durch zehn erloste »Schatzmeister« (tamiai) ersetzt, gleichzeitig wurde jedoch eine neue Zentralkasse mit einem auf vier Jahre gewählten Verwalter eingerichtet.331 Trotz weitgehend fehlender zentraler Steuerung funktionierte das Athener Finanzwesen ziemlich gut. Insbesondere gab es wenig Veruntreuung.332 Die vorübergehende Zentralisierung in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts wird zwar als erfolgreicher eingeschätzt, aber sie war ein Fremdkörper in der demokratischen Ämterstruktur.333 b) Öffentliches Bauwesen Öffentliche Bauvorhaben wurden von der Volksversammlung beschlossen. Ihre Durchführung wurde in die Hände einer Baukommission (epistatai) gelegt, deren zwei bis fünf Mitglieder von der Volksversammlung gewählt wurden. Diese Kommission überwachte die Bauarbeiten bis zur Fertigstellung, so dass sie zum Teil mehrere Jahre amtierte, zum Teil aber auch jährlich wechselte.334 Die Durchführung erfolgte in der Regel durch private Unternehmen, mit denen die Baukommission im Namen der Polis einen Vertrag schloss.335 Einige Abrechnungen mit mehr oder weniger detaillierten Angaben über die Einnahmen und Ausgaben sind in Inschriften erhalten.336 325

Nippel, Freiheit, S.  49. Rohde, S.  6 4–66. 327 Welwei, Athen, S.  302 f. 328 Leppin, in Eder, S.  559; Haßkamp, S.  89; Rohde, S.  270–272. 329 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  303. 330 Leppin, in Eder, S.  563. 331 Haßkamp, S.  9 0; Rohde, S.  273. 332 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  308. 333 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  309 f. 334 Busolt, S.   627; Carusi, in Jördens/Yiftach, S.  74; Beispiele bei Wittenburg, S.  5–9, 28–30. 335 Schoenmaker, S.  5 4–65. 336 Beispiele bei Carusi, in Jördens/Yiftach, S.  75–83; Wittenburg, S.  5 –73. 326

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4. Kapitel: Athen

Die Errichtung der Stadtmauern erfolgte unter der Aufsicht der »Mauerbauer« (teichopoioi).337 Für den Straßenbau war die Kommission der »Wegebauer« (hodopoioi) zuständig.338 Die Durchführung erfolgte hier durch öffentliche Sklaven.339 Für die Wartung der Straßen, die Drainage und die Wasserversorgung waren dagegen die zehn »Stadtaufseher« (astynomoi) zuständig.340

2. Ordnungsaufgaben a) Bodenverwaltung In Athen war das Eigentum an Grundstücken und Häusern den eigenen Bürgern vorbehalten, doch konnte Fremden das Recht verliehen werden, solches Eigentum zu erwerben.341 Frauen waren nicht vom Grundeigentum ausgeschlossen.342 Die Grundstücke wurden in Griechenland durch Grenzsteine (horoi) markiert, die außerdem genutzt wurden, um Belastungen des Landes zu dokumentieren.343 Sie wurden von eigenen Kommissionen (horistai) gesetzt.344 Viele griechische Kolonien waren planmäßig angelegt, so dass es dort ebenfalls eine Landvermessung gegeben haben muss.345 Die Verteilung dieser neu angelegten Grundstücke in Stadt und Land erfolgte vermutlich durch Verlosung.346 Sie gehörte bei der Gründung der in Thrakien gelegenen Kolonie Brea nach einem Athener Dekret zu den Aufgaben der zehn »Landaufseher« (geonomoi).347 In der demokratischen Epoche gab es vermutlich kein Verzeichnis des Landeigentums.348 Einem Fragment des Theophrast ist jedoch zu entnehmen, dass es jedenfalls ab Beginn des 3. Jahrhunderts ein Amt gab, das Grundbücher führte, und dass die Absicht zum Verkauf eines Grund337

Carusi, in Jördens/Yiftach, S.  82. Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  288. 339 Hansen, Age of Demosthenes, S.  123. 340 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  50, 1; Kolb, S.  120. 341 Kränzlein, S.  38. 342 Kränzlein, S.  45. 343 Finley, Land and Credit, S.  4. 344 Thür, DNP 5, Sp.  730. 345 Jameson, in Murray/Price, S.  172–177. 346 Jameson, in Murray/Price, S.  175. 347 Martin, in Martin, S.  4 47; Matijašić, Athenaeum 2020, S.  61–63. 348 Finley, Land and Credit, S.  14. 338

III. Verwaltungsfunktionen

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stücks einige Tage vor der Übertragung von einem Herold ausgerufen werden musste.349 b) Standardisierung In den Gesetzen des Solon wurden auch die athenischen Maße und Gewichte neu festgelegt.350 Die Überprüfung der Maße und Gewichte gehörte zunächst zu den Aufgaben der »Marktaufseher« (agoranomoi),351 während im 4. Jahrhundert hierfür eigene »Maßaufseher« (metronomoi) eingesetzt wurden.352 Athen übernahm das Münzwesen aus Lydien, wodurch u. a. die Buchhaltung erleichtert wurde..353 In den Gesetzen des Solon wurden die Münz­ einheiten reformiert.354 Peisistratos oder sein Sohn Hippias führte die einheitliche Münze mit Athena-Kopf und Eule ein.355 Sie wurde dann auch zur Währung im ganzen Gebiet des Seebundes.356 Das in einer Inschrift überlieferte Münzgesetz von 375/74357 setzte fest, dass nur Münzen aus purem Silber und mit der offiziellen Prägung gültig sind und im Geschäftsverkehr akzeptiert werden müssen. Zu ihrer Kontrolle gab es in Athen und in Piräus je einen öffentlichen »Prüfer« (dokimastes).358 Es handelte sich dabei um öffentliche Sklaven.359 c) Öffentliche Sicherheit In der Athener Polis gab es keine Ämter, die der heutigen Polizei entsprechen. Verschiedene Amtsträger erfüllten jedoch Aufgaben, die man heute zum Bereich der öffentlichen Sicherheit zählen würde.360 Insbesondere konnten sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Bußen verhängen.

349

Bernhöft, ZVglRWiss 1908, S.   149 f.; Busolt, S.   489 f.; Demeyere, AHDO 1952, S.  262–265; skeptisch Todd, S.  237–240. 350 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  10. 351 Kolb, S.  120; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  288. 352 Dazu näher Oliver, in Capdetrey/Hasenohr, S.  81–100. 353 Finer, S.  323. 354 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  10; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  29; Zweifel bei Welwei, Polis, S.  145. 355 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  37. 356 Siehe oben S.  126 f. 357 Text und Übersetzung bei Stroud, Hesperia 1974, S.  157–160. 358 Stroud, Hesperia 1974, S.  166. 359 Stroud, Hesperia 1974, S.  183. 360 Harris, Rule of Law, S.  40.

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4. Kapitel: Athen

Eine Kommission, deren Aufgaben mit dem Begriff der Polizei beschrieben worden ist,361 bildeten die »Elfmänner« (hendeka). Der Name leitet sich daraus ab, dass sie neben den zehn gelosten Mitgliedern auch einen ständigen Schreiber umfasste. Die Kommission hatte das Recht zur Bestrafung von auf frischer Tat ertappten Straftätern. Ab dem 4. Jahrhundert führte sie auch den Vorsitz des für todeswürdige Verbrechen zuständigen Gerichts. Außerdem gehörten der Vollzug der Todesstrafe und die Leitung des Untersuchungsgefängnisses zu ihren Aufgaben.362 Die »Stadtaufseher« (astynomoi) waren nicht nur für die Ordnung in den Straßen,363 sondern auch für die Einhaltung der baupolizeilichen Vorschriften 364 zuständig. Die »Marktaufseher« (agoranomoi) kontrollierten die Märkte, insbesondere die Beachtung der gesetzlich festgesetzten Preise.365 Außerdem führten sie die Aufsicht über »Weiber und Knaben«.366 Es gab außerdem zunächst 300, später sogar 1.200, skythische Staatssklaven (toxotai), die für die Ordnung bei der Volksversammlung und den Volksgerichten zuständig waren 367 und deshalb teilweise als Polizeitruppe bezeichnet werden.368 Auch den Demarchen waren polizeiliche Aufgaben zugewiesen.369 Sie hatten etwa die Aufgabe, sich um die Bestattung Verstorbener zu kümmern.370 d) Lebensmittelversorgung Die Eigenproduktion der Landwirtschaft reichte nicht aus, um die Versorgung der Bevölkerung Athens mit Getreide zu sichern, so dass Importe in großem Umfang notwendig waren.371 Ihre Regulierung war im 4. Jahrhundert regelmäßig Thema auf den Volksversammlungen.372 Zunächst gab es aber keine staatliche Ausgabe von Lebensmitteln, sondern nur Regelungen 361

Harrison, S.  17; relativierend Todd, S.  79 Fn.  3. Harrison, S.  17 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  287. 363 Harrison, S.  25. 364 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  288. 365 Busolt, S.  491, bezeichnet sie als »Polizeibehörde«; Harrison, S.  25. 366 Aristoteles, Politik, 4. Buch, 15. 367 Sinclair, S.  196; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  201 368 Finer, S.  324; Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  155; Harris, Rule of Law, S.  38 f.; Kapparis, S.  27 f.; dagegen Hansen, Age of Demosthenes, S.  124. 369 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  186; Harris, Rule of Law, S.  36 f.; Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.  141. 370 Carey, CQ 1998, S.  105. 371 Rohde, S.  6 6–74. 372 Überblick über die Maßnahmen bei Rohde, S.  74–96. 362

IV. Rechtlicher Rahmen

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darüber, dass zwei Drittel des Piräus ankommenden Getreides in Athen verkauft werden mussten und in Athen ansässige Schiffeigentümer kein Getreide ausführen durften; zudem gab es eine Obergrenze für den Einkauf durch Privatpersonen.373 Die Durchsetzung dieser Vorschriften erfolgte durch zehn »Getreideaufseher« (sitophylakes) und zehn »Hafenaufseher« (epimeletai).374 Ein staatlicher Ankauf von Getreide, das an die Bürger verteilt wurde, wurde erst in der Spätzeit der Polis eingeführt, erstmals im Jahr 338. Es wurde zum Teil zum Marktpreis, manchmal aber auch zu einem subventionierten Preis oder sogar kostenlos abgegeben.375 Dies blieb aber ein seltener Ausnahmefall.

IV. Rechtlicher Rahmen Es ist strittig, ob es in der Antike eine einheitliche griechische Rechtskultur gab.376 Jedenfalls hatte jeder Stadtstaat seine eigene Rechtsordnung, zwischen denen es partielle Gemeinsamkeiten, aber auch erhebliche Unterschiede gab.377 Die Bedeutung des griechischen Rechts für Europa fand lange Zeit wenig Beachtung.378 Das liegt auch daran, dass aus der Zeit der Athener Polis v. a. rechtsphilosophische Texte überliefert sind. Dagegen gab es noch keine rechtswissenschaftliche Verarbeitung der Normen.379 Weder wurden Handbücher des Rechts verfasst, noch gab es Rechtsschulen.380 Weil aber viele Gesetze zumindest partiell überliefert sind, kann man wichtige Teile der Athener Rechtsordnung analysieren.

1. Die Rechtsetzung Der ältere Begriff für Gesetz ist thesmos, der von Homer im Sinne einer Festsetzung einer höheren Macht verwendet wurde.381 Ab der Mitte des 373

Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  136. Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  136. 375 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  138; Rohde, S.  293. 376 Dagegen Selb, S.  89 f.; anders Wesel, S.  117, der die Gemeinsamkeiten betont. 377 Hagedorn, in Jaillard/Nihan, S.  133; zur Diskussion, ob es ein gemeines griechisches Recht gab, ausführlich Barta, Bd.  I, S.  159–215; s. a. de Romilly, S.  40–43. 378 Barta, Bd.  I , S.  13–16, 57–65 u.ö. 379 Selb, S.  9 0; anders Barta, Bd.  I , S.  68–75. 380 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  268. 381 Ostwald, Nomos, S.  12–19; Sealey, S.  51 f. 374

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4. Kapitel: Athen

7. Jahrhunderts wurde er allgemein üblich, als sich in Griechenland die Verschriftlichung des Rechts als gesatzte Normen durchsetzte.382 Seit den Reformen des Kleisthenes wurde zunehmend der neue Begriff nomos verwendet. Er bezeichnete zunächst gewohnheitsrechtliche Praktiken.383 Schon bald wandelte er aber seine Bedeutung und wurde nur noch für vom Volk angenommene, schriftlich fixierte Gesetze verwendet.384 Nunmehr wurde in der demokratischen Staatsordnung die Geltung von Gewohnheitsrecht abgelehnt.385 Nur geschriebenes Recht galt für die Amtsträger und durfte bei Gericht geltend gemacht werden.386 In Griechenland gab es keine Kodifikationen, wenn man darunter auf Vollständigkeit zielende, nach Rechtsgebieten systematisch gegliederte Sammlungen von Rechtssätzen versteht.387 Auch die solonischen Gesetze lassen sich nicht mit einer solchen modernen Konzeption erfassen.388 Vielmehr waren sie danach geordnet, welche Amtsträger sie auszuführen hatten.389 Diese Gesetze richteten also insbesondere die verschiedenen Ämter ein und enthielten Bestimmungen über die Amtstätigkeit.390 Detaillierte Regeln über die einzelnen Institutionen sollen aber erst nach 403 aufgenommen worden sein.391 Deshalb meinen einige Literaturstimmen, dass das materielle Recht eine geringere Rolle spielte.392 Aus der Struktur der Gesetze wurde sogar geschlossen, dass sie keine Verhaltensregeln für Privatpersonen festlegten,393 sondern nur ihre Adressaten, z. B. Gerichte, banden.394 Eine ausführliche Analyse der überlieferten Gesetze hat diese Auffassung jedoch widerlegt.395 Viele Normen regelten das Verhalten der Menschen bzw. der

382

Hölkeskamp, Schiedsrichter, S.  273–280; Barta, Bd.  II/2, S.  72 f. Ostwald, Nomos, S.  37; ausführlich zu den Quellen de Romilly, S.  25–71. 384 Ausführlich Ostwald, Nomos, S.  137–160; de Romilly, S.  13–23; zur Entstehung der Wortbedeutung Quaß, S.  14–23. 385 Wolff, in Berneker, S.  103. 386 Wolff, S.  70; Ostwald, Nomos, S.  57; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  259 f. 387 Hölkeskamp, Schiedsrichter, S.  16 f.; Thür, in Manthe, S.  196; anders Sealey, S.  146 f. 388 Hölkeskamp, Schiedsrichter, S.  263 f.; Barta, Bd.  I I/1, S.  342. 389 Sealey, S.  41; Hansen, Age of Demosthenes, S.  31. 390 Busolt, S.  303; Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  148. 391 Hansen, Age of Demosthenes, S.  31. 392 Hansen, Eisangelia, S.  10; s. a. Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  41: »little substance and much procedure«. 393 Cohen, in Eder, S.  2 32. 394 Wolff, in Berneker, S.  119 f. 395 Harris, Rule of Law, S.   144–174; relativierend bereits Carey, CQ 1998, S.  93–109; Hölkeskamp, Schiedsrichter, S.  266. 383

IV. Rechtlicher Rahmen

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Amtsträger. Außerdem diente natürlich auch eine Vorschrift, die an ein bestimmtes Verhalten eine Sanktion durch staatliche Amtsträger knüpfte, indirekt der Verhaltenslenkung. Nach der ersten oligarchischen Phase wurde im Jahr 410 von der Volksversammlung eine Kommission zur Aufzeichnung der Gesetze (anagrapheis ton nomon) eingesetzt. Ihre Aufgabe bestand darin, alle noch geltenden schriftlichen Rechtsnormen zu sammeln,396 insbesondere, aber nicht nur die Gesetze von Drakon und Solon.397 Die Arbeit der Kommission dauerte zehn Jahre bis 400/399,398 kam möglicherweise aber nicht zum vollständigen Abschluss.399 Die von ihr zusammengetragenen Gesetze wurden auf Marmorstelen veröffentlicht, die auf dem zentralen Platz aufgestellt wurden.400 Die Aufbewahrung der Gesetze erfolgte später in einem zentralen Archivgebäude, zu dem jeder Bürger Zutritt hatte, um sie einzusehen.401 Nach dem Jahr 403/02 wurde die Unterscheidung zwischen allgemeinen Gesetzen (nomoi) und Dekreten (psephismata) eingeführt.402 Die Volksversammlung konnte selbst nur noch Dekrete beschließen, während für den Erlass von Gesetzen ein besonderes Verfahren geschaffen wurde. Die Volksversammlung beriet zwar jährlich über die Bestätigung, Ergänzung oder Änderung der Gesetze (nomothesia). Dadurch sollten sie im Bewusstsein der Bürger verankert und stabilisiert, andererseits aber auch als verfügbar gekennzeichnet werden.403 Wenn ein Bürger einen Änderungsvorschlag machte, wurde das Verfahren den Nomotheten übergeben, die über Änderungen oder Ergänzungen entschieden.404 Außerdem hatten die Thesmotheten auf Widersprüche zwischen Gesetzen zu achten und konnten ihrerseits Gesetzgebung initiieren, um Mängel zu beseitigen.405 Dieses neue Verfahren diente dem Schutz vor übereilten Beschlüssen und führte zu mehr Stabilität, Konsistenz und Kontinuität.406

396

Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  218 f. Kahrstedt, in Berneker, S.  236; Shear, S.  75–85. 398 Hansen, Age of Demosthenes, S.  163. 399 Sickinger, in Harris/Rubinstein, S.  100. 400 Shear, S.  85–96; zum Stil der Inschriften Osborne, S.  6 4–82. 401 Kahrstedt, in Berneker, S.  253–262; Sickinger, in Harris/Rubinstein, S.  102 f.; Haßkamp, S.  40; Harris, Rule of Law, S.  8. 402 Dazu ausführlich Quaß, S.  2 3–44. 403 Ostwald, Sovereignty of Law, S.  88 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 22 f. 404 Welwei, Athen, S.  262. 405 De Romilly, S.  204; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 21. 406 Welwei, Polis, S.  310; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 23. 397

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4. Kapitel: Athen

Allerdings gab es keine klare inhaltliche Abgrenzung zwischen Gesetz und Dekret.407 Zwar finden sich bei Aristoteles Ansätze, zwischen allgemeinen, dauerhaften Normen in Gesetzen und konkreten, temporären Maßnahmen in Dekreten zu unterscheiden.408 So wurden etwa internationale Verträge durch Dekrete der Volksversammlung gebilligt.409 Dekrete waren in der Regel mit ihrer Ausführung erledigt.410 Andererseits war auch die Gesetzgebung meist konkret und situationsgebunden.411 Demosthenes nannte außerdem das Kriterium, dass Gesetze keine Einzelfälle in Bezug auf ein Individuum regeln sollten.412 Dass die Gesetzgebung nicht zu einem zentralen politischen Instrument wurde, kann man auch daran ablesen, dass aus dem 4. Jahrhundert nur neun neue Gesetze, aber mehrere Hundert Dekrete überliefert sind.413

2. Die Rechtsprechung In der Athener Polis gab es eine große Zahl von Institutionen mit judikativen Befugnissen.414 Alle Gerichte waren gleichberechtigt, es gab in keinem Fall einen Rechtsbehelf zu einem höheren Gericht.415 Ausgangspunkt für die Bestimmung der Zuständigkeit war die Unterscheidung zwischen privaten Klagen des Geschädigten, der das Urteil auch selbst vollstreckte, und öffentlichen Klagen von jedermann, wobei die Urteile von Amtsträgern vollstreckt wurden.416 Diese Unterscheidung entspricht nicht der heutigen Abgrenzung von Zivil- und Strafrecht.417 Je nach Gegenstand gab es mehrere Verfahrensarten, mit denen z. B. bestimmte Delikte vor Gericht gebracht werden konnten.418 Ebenfalls abhängig vom Gegenstand des Prozesses wurde er von verschiedenen Amtsträgern, wie z. B. den Archonten, vorbereitet. Diese hatten jedoch keinen inhaltlichen Einfluss auf das Ver-

407

Kahrstedt, in Berneker, S.  238–246; Ehrenberg, S.  69; Kapparis, S.  3. Sealey, S.  33–35. 409 Low, S.  85 f. 410 Hansen, Age of Demosthenes, S.  162, 171–173. 411 Wolff, S.  38 Fn.  100; Sinclair, S.  8 4; Kirchhof, S.  8 4 f. 412 Nachweise bei de Romilly, S.  210. 413 Sickinger, in Harris/Rubinstein, S.  9 9; Haßkamp, S.  58. 414 Umfassender Überblick bei Harrison, S.  1–68. 415 Sealey, S.  65 f.; Todd, S.  89. 416 Osborne, S.  171–193. 417 Welwei, Polis, S.  189. 418 Ausführlich Carey, in Harris/Rubinstein, S.  111–132. 408

IV. Rechtlicher Rahmen

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fahren wie etwa der Prätor in Rom.419 Es ist in diesem Rahmen nicht erforderlich, Einzelheiten zu behandeln, sondern es soll nur ein kurzer Überblick über die wesentlichen Institutionen und ihre Zuständigkeiten gegeben werden. Die Volksversammlung hatte bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts einige judikative Aufgaben, insbesondere war sie für Anklagen gegen Amtsträger (eisangelia) zuständig.420 Die Volksgerichte hatten nie ein Monopol auf die Durchführung von Prozessen, jedoch wurden ihre Zuständigkeiten insbesondere für öffentliche Klagen in der demokratischen Epoche immer weiter ausgedehnt.421 Sie spielten deshalb eine zentrale Rolle bei der Kontrolle von Amtsträgern,422 auch schon bevor sie über die eisangelia entschieden. Der Rat des Areopags blieb in der demokratischen Epoche zuständig für Mord, vorsätzliche Körperverletzung und Brandstiftung.423 Auch das alte Gericht der Epheten bestand offensichtlich weiter, um über bestimmte Arten von Tötungsdelikten zu richten.424 Dagegen wurden die judikativen Zuständigkeiten des Rats der Fünfhundert bis zum Jahr 400 weitgehend abgeschafft.425 Aristoteles berichtet allerdings von einem Fall, in dem der Rat einen nach dem Ende des Putsches von 403 Verbannten, der ohne Erlaubnis zurückgekehrt war, ohne (weiteres) Gerichtsverfahren hinrichten ließ.426 Im heutigen Sinne privatrechtliche Streitigkeiten sollten allerdings möglichst nicht vor den Volksgerichten ausgetragen werden, weil sie keine politische Bedeutung hatten. Für vermögensrechtliche Bagatellstreitigkeiten wurden zunächst 40, später 30 »Gemeinderichter« (dikastai kata demous) eingesetzt, die im Jahr 403 durch zehn Gerichte mit je vier Mitgliedern abgelöst wurden.427 Viele privatrechtliche Angelegenheiten wurden an Schiedsrichter verwiesen, die keine Amtsträger waren und von den Partei-

419

Wolff, in Berneker, S.  100. Hansen, Eisangelia, S.  51; Sealey, S.  89. 421 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  244 f. 422 Hansen, Age of Demosthenes, S.  179, 204. 423 Wallace, S.  97–112; Haßkamp, S.  115. 424 Dazu näher Sealey, S.  70–77. 425 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  45, 1. 426 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  40, 2; Hansen, Age of Demosthenes, S.  257 f., führt dies unter der Überschrift »jurisdiction« an. 427 Whitehead, S.  261–264; Welwei, Athen, S.  111; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  287. 420

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4. Kapitel: Athen

en bezahlt wurden.428 Ihre Schiedssprüche konnten aber unter bestimmten Voraussetzungen den Gerichten vorgelegt werden.429

3. Die Gesetzesbindung Die Griechen gelten als Erfinder der Legalität.430 Der Athener Polis wird ein »funktionierendes System des Gesetzespositivismus«431 bescheinigt. Als Beleg für diese Aussage kann man etwa darauf hinweisen, dass die Volksrichter einen Eid ablegen mussten, in dem sie den Gesetzen und Dekreten Treue schwuren, während sie bei Fehlen einer Norm die gerechteste Lösung suchen sollten.432 Ein Kläger musste in seiner Klage angeben, welche gesetzlichen Vorschriften der Beklagte verletzt hatte.433 Deshalb wurde auch in den überlieferten Reden vor Gericht häufig auf einschlägige Gesetze hingewiesen, um die eigene Position zu untermauern, während Argumente gegen ein Gesetz nicht vorkamen.434 Inschriften bezeichneten eine verdienstvolle Amtsführung mit der Formel »gerecht gemäß den Gesetzen« (dikaios kata tous nomous).435 Sogar die Volksversammlung unterlag jedenfalls im 4. Jahrhundert in gewisser Weise einer Gesetzesbindung, weil Volksbeschlüsse den Gesetzen nicht widersprechen durften.436 Ein Beleg dafür ist auch das Münzgesetz von 375/74, das in seiner Schlussformel den Sekretär des Rates beauftragte, Stelen mit Dekreten, die ihm widersprachen, zu entfernen.437 Damit kommt die Normenhierarchie zwischen dem Gesetz und den früheren Beschlüssen der Volksversammlung zum Ausdruck. Vor allem aber wurde ein eigenes Verfahren der Normenkontrolle (graphe paranomon) eingeführt. Ausgestaltet war es als Anklage beim Volksgericht gegen denjenigen Bürger, der einen gesetzwidrigen Antrag bei der Volksversammlung eingebracht hatte, auch wenn er angenommen worden 428

Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  31 f.; Lanni, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  165; Rohde, S.  45, sieht darin eine Sparmaßnahme. 429 Busolt, S.  485; Harrison, S.  6 4–68; Hansen, Age of Demosthenes, S.  179. 430 Wesel, S.  150. 431 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  264; ähnlich Barta, Bd.  I , S.  154; zur Kontroverse in der neueren Literatur Kapparis, S.  22–24. 432 Ausführlich Harris, Rule of Law, S.  101–137. 433 Harris, in Carey/Giannadaki/Griffith-Williams, S.  4 6–49. 434 Ehrenberg. S.  97; Kästle, ZRG 2012, S.  182 f. 435 Quaß, S.  2 2 f. 436 Thür, in Manthe, S.  201. 437 Übersetzung bei Stroud, Hesperia 1974, S.  160.

IV. Rechtlicher Rahmen

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war. Der Zweck bestand darin, einem demagogischen Missbrauch entgegenzuwirken.438 Oft ging es allerdings nur um die Rüge von Formfehlern, z. B. das Fehlen des positiven Vorbescheids des Rates der Fünfhundert.439 Bei einer Verurteilung wurden kleine, manchmal aber auch horrende Geldstrafen auferlegt; nicht ganz klar ist dagegen, ob sogar die Todesstrafe gegen einen Antragsteller verhängt werden konnte.440 Dieses Verfahren war das einzige Korrektiv gegenüber der Volksversammlung,441 weil es zum nochmaligen Überdenken einer Entscheidung führte.442 Es wurde allerdings häufig in politischen Streitigkeiten genutzt443 und diente jedenfalls nicht nur der Durchsetzung der Gesetze, sondern folgte immer auch politischen Erwägungen.444 Diese Erkenntnis verweist auf die erheblichen Einschränkungen, denen das Dogma der Gesetzesbindung unterlag. Die griechischen Gesetze der Antike waren oft allgemein gehalten und enthielten bei der Anwendung auf den Einzelfall Auslegungsspielräume, damit argumentiert werden konnte.445 Schon Aristoteles berichtete über die Annahme, Solon habe die Gesetze absichtlich uneindeutig formulierte, um den Gerichten Spielraum zu lassen, verwarf sie aber und nahm vielmehr an, dass es ihm nur nicht gelungen sei, die beste Formulierung zu finden.446 Viele Gesetze enthielten nur allgemeine Kategorien von Fehlverhalten, aber keine Definitionen.447 Deshalb gab es nicht immer eine klare Unterscheidung zwischen einem Gesetzesbruch und einem lediglich unerwünschten Verhalten, das dem Volk nicht gefiel.448 Ein berühmtes Beispiel ist die Verurteilung des Sokrates wegen Missachtung der anerkannten Götter und Verführung der Jugend, da beide Tatbestände viel Raum für Interpretation ließen.449 Diese begrenzte Bedeutung der Gesetze spiegelte sich auch in den Besonderheiten der Gerichtsverfahren wider. Nicht nur die Kläger, sondern 438

Wolff, S.  23. Wolff, S.  45. 440 Haßkamp, S.  132. 441 Haßkamp, S.  131. 442 Finley, Demokratie, S.  31. 443 Sinclair, S.  153; Haßkamp, S.  132. 444 Roberts, Accountability, S.   163–167; Hansen, Age of Demosthenes, S.  206 f.; ausführlich anhand eines Beispielsfalls Haßkamp, S.  135–147. 445 Hedrick, in Osborne/Hornblower, S.  172; Dihle, in Bock, S.  27; Pabst, S.  8 0; differenzierend Osborne, in Carey/Giannadaki/Griffith-Williams, S.  32–40. 446 Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  9, 2. 447 Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  43: »broad and flexible«; Cohen, in Eder, S.  242; Carey, CQ 1998, S.  99; Nippel, Freiheit, S.  69. 448 Rhodes, in Eder, S.  318; Lanni, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  166 f. 449 Vgl. die Darstellung bei Cartledge, S.  76–90, der das Urteil verteidigt. 439

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4. Kapitel: Athen

auch die Leiter der Gerichtsverhandlungen und alle Richter waren juristische Laien.450 Es gab auch keine Rechtsanwälte. Vielmehr konnten die Parteien mehr oder weniger professionelle Redner engagieren, um ihre Position zu begründen. Diese wiesen zwar durchaus auf Gesetze und Volksbeschlüsse hin und besaßen einige Rechtskenntnisse.451 Es gibt auch einige Beispiele für Auseinandersetzungen um die Auslegung von Gesetzen.452 Letztlich war aber vor den Volksgerichten Rhetorik wichtiger als juristische Argumentation.453 Man hat deshalb die Prozesse mit einem Wettbewerb um die Gunst der Volksrichter verglichen.454 Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Bedeutung der Gesetzesbindung relativiert, ergibt sich aus der Form der Gerichtsentscheidungen. Die Volksgerichte entschieden ohne Beratung in geheimer Abstimmung, nur mit ja oder nein und mit einfacher Mehrheit.455 Deshalb ist es auch geradezu zwingend, dass ihre Urteile keine Begründung enthielten, so dass sich nicht nachvollziehen ließ, welche Bedeutung die Gesetze bei der Findung der Entscheidung hatten.456 Zwar wurde durchaus in einigen überlieferten Reden vor Gericht auf frühere Prozesse Bezug genommen. Ob sie aber im modernen Sinn als Präzedenzfälle dienten, ist unklar.457 Ohnehin wurden vermutlich nur wenige Prozesse schriftlich dokumentiert.458 Die Organisation der Volksgerichte mit täglich wechselnden Besetzungen und das Verfahren, das keine Beratung und keine Begründung vorsah und damit mehr dem politischen Prozess in der Volksversammlung ähnelte als einem modernen Prozess, verhinderte eine Professionalisierung der Justiz.459 Trotzdem gibt es nur wenige Belege für grobe Verfahrensverstöße der Justiz.460 Es spricht viel dafür, dass die Athener generell ihrem Rechts-

450

Hansen, Age of Demosthenes, S.  180; Gagarin, in Pihlajamäki/Dubber/Godfrey, S.  148; Lanni, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  163. 451 Sickinger, in Harris/Rubinstein, S.  104; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  255; Thür, in Manthe, S.  213; Barta, Bd.  II/1, S.  156 f.; Kästle, ZRG 2012, S.  167 f. 452 Harris, Rule of Law, S.  182–243. 453 Wesel, S.  150; ausführlich Kästle, ZRG 2012, S.  161–205; Ladeur, S.  8 , betrachtet sie als eine Vorform der juristischen Doktrin. 454 Garner, S.  59–71; krit. Harris, in Carey/Giannadaki/Griffith-Williams, S.  53 f. 455 Ober, S.  142. 456 Todd, S.  31. 457 Dafür Harris, Rule of Law, S.  246–273; dagegen Todd, S.  60 f.; Lanni, in Harris/Rubinstein, S.  159–164. 458 Lanni, in Harris/Rubinstein, S.  164 f. 459 Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  29 f. 460 Sealey, S.  9 0.

IV. Rechtlicher Rahmen

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system vertrauten.461 Die Polis konnte gerade deshalb auf juristische Spezialisten verzichten, weil sie kein komplexes Recht hatte.462

4. Der Rechtsschutz Schon seit Solon gab es ein Verfahren, in dem sich Bürger vor dem Areopag über Amtsträger beschweren konnten.463 Umgekehrt konnten sich mit einer Buße belegte Amtsträger an das Volksgericht wenden. Außerdem wurde bereits erwähnt, dass diejenigen, denen die Gemeindeversammlung das Bürgerrecht verweigerte, das Volksgericht anrufen konnten.464 Alle anderen Verfahren zur Kontrolle von Amtsträgern konnten von jedem Bürger angestoßen werden, ohne dass dieser selbst betroffen sein musste. So konnte sich jeder jederzeit bei der Zehnerkommission der Untersucher über die Amtsführung von Amtsträgern beschweren. Ebenso war eine Beschwerde direkt bei der Volksversammlung zulässig, die dann eine Prüfung durch die Untersucher veranlassen konnte. Hielten diese die Vorwürfe für stichhaltig, verwiesen sie das Verfahren zur Entscheidung an ein Volksgericht.465 Daneben war schließlich eine Anklage gegen Amtsträger durch jedermann vor dem Rat der Fünfhundert möglich, der selbst eine Buße bis 500 Drachmen verhängen konnte, während die Entscheidung über höhere Strafen oder über Rechtsmittel gegen eine Buße dem Volksgericht vorbehalten war.466 Diese Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns von einzelnen Amtsträgern konnten also durch eine Art Popularklage angestoßen werden. Ob man dies aber als Beleg dafür ansehen kann, dass die Bürger als Rechtssubjekte anerkannt wurden,467 erscheint zweifelhaft. Es ging dabei gerade nicht um die Verteidigung eigener Rechte, sondern die Kläger waren Instrumente zur Durchsetzung der Rechtsbindung der Amtsträger der Polis. Es gab damals keine Vorstellung, dass Grundrechte des Einzelnen die Macht des Volkes begrenzen könnten.468 461

Harris, in Carey/Giannadaki/Griffith-Williams, S.  53; Gagarin, in Pihlajamäki/ Dubber/Godfrey, S.  156. 462 Ober, S.  303. 463 Ostwald, Sovereignty of Law, S.  12–14. 464 Siehe oben S.  128. 465 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  328. 466 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 21 f. 467 So Barta, Bd.  I , S.  145. 468 Finley, Demokratie, S.  82; Cartledge, S.  7; Bruns, S.  369.

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4. Kapitel: Athen

V. Fazit 1. Die Staatsleitung Die Athener Polis war nicht nur die erste Demokratie der Weltgeschichte.469 Sie war dort auch stabiler und dauerhafter als in vielen anderen griechischen Stadtstaaten dieser Epoche.470 Nach der Mitte des 5. Jahrhunderts war sie die wohl radikalste Form einer direkt-demokratischen Herrschaftsstruktur.471 Aus keiner anderen Region der Welt und keiner anderen Epoche ist ein Staatswesen bekannt, in dem die Minimierung persönlicher Macht so konsequent durchgeführt wurde. Die Einführung der Demokratie in Athen ist eng mit dem Namen Kleisthenes verbunden. Von diesem Reformer ist allerdings keine politische Theorie der Volksherrschaft, kein Reformprogramm überliefert.472 Für ihn war vielmehr die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz (isonomia) das zentrale Konzept.473 Der Begriff »Demokratie« (demokratia) ist dagegen frühestens zwischen 477 und 462 entstanden.474 In literarischen Quellen ist er erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nachgewiesen.475 Konzeptionell ausgearbeitet wurde die Demokratie als Herrschaftsform v. a. von ihren Kritikern wie Plato oder Aristoteles.476 Die Institutionen und Verfahren der Polis wurden in den knapp zwei Jahrhunderten zwischen den Reformen des Kleisthenes und dem Verlust der Unabhängigkeit immer wieder verändert. Es ist vorgeschlagen worden, eine Phase der radikalen Demokratie, die von 462 bis 404 dauerte,477 von einer Phase der moderaten Demokratie im vierten Jahrhundert zu unterscheiden.478 Allerdings stellten die neuen Verfahren der Gesetzgebung und der Normenkontrolle die grundlegende Entscheidung für die Herrschaft des Volkes und die Mehrheitsentscheidung nicht in Frage.479 Angesichts 469

Tiersch, in Tiersch, S.  19; Carugati, S.  7; Kapparis, S.  1; siehe auch unten S.  212 f. Finley, Demokratie, S.  27; Sinclair, S.  218. 471 Ober, S.  8; Finer, S.  344. 472 Finley, Demokratie, S.  32; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  62. 473 Welwei, Athen, S.  8 f. 474 Pabst, S.  10. 475 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  67; Cartledge, S.  62–64. 476 Hedrick, in Osborne/Hornblower, S.  166. 477 Hansen, Age of Demosthenes, S.  297; auch Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  19, setzt den Beginn der »full democracy« bei Ephialtes an; s. a. Nippel, Freiheit, S.  30: »Durchbruch zur Demokratie«. 478 Hansen, Age of Demosthenes, S.  304; skeptisch zur Abgrenzung Ober, S.  96. 479 Ober, S.  301; so auch Hansen, Age of Demosthenes, S.  304 f. 470

V. Fazit

145

der eher geringen Bedeutung neuer Gesetze spricht wenig dafür, diese Modifikationen als systemprägend anzusehen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Aristoteles die Rechtsprechung für wichtiger hielt als Gesetzgebung und Verwaltung:480 »Denn wenn das Volk (im Gericht) Herr über den Stimmstein ist, wird es auch Herr über den Staat.«481 Nicht die Veränderung der Gesetze, sondern ihre Anwendung war die politisch zentrale Aufgabe, die das Volk in Gestalt der Volksgerichte wahrnahm. Auch die vielfältigen und strengen Kontrollmechanismen gegenüber den Amtsträgern sollten die Herrschaft des Volkes absichern. Charakteristisch für das Selbstverständnis der Athener Polis ist ihr Charakter als Gemeinschaft der Bürger.482 Weder ein Einzelner noch eine kleine Gruppe von Staatsmännern, sondern die Volksversammlung war der Inhaber der Staatsgewalt. Weil sowohl die Volksgerichte als auch die Kommission der Gesetz-Erlasser durch die Auslosung ihrer Mitglieder nicht als separate Institutionen, sondern als verkleinerte Erscheinungsformen des Volkes anzusehen sind,483 sind auch sie Ausdruck der bürgerschaftlichen Selbstherrschaft. Ebenfalls schon bei Aristoteles findet sich ein zentrales Argument für die Vorzugswürdigkeit der Demokratie. Durch die bunte Mischung der Bürgerschaft, in der sich ein breites Spektrum an Erfahrungen und Kenntnissen dokumentiert, verbessert sich die Qualität der Diskussion und der Entscheidung.484 Deshalb wurde auch schon damals die Freiheit der Rede als zentrales Element der Demokratie angesehen.485

2. Die Organisation der Verwaltung Eine weitere wesentliche Neuerung war die radikale Fragmentierung der Ämter, die wir heute der Exekutive zurechnen.486 Die Organisation der Polis zielte auf eine »Minimierung delegierter Macht«.487 Es gab keine Regierung488 und fast keine professionelle Verwaltung. Trotzdem funktio480

So Ostwald, Sovereignty of Law, S.  5 –15; ähnlich Ehrenberg, S.  89. Aristoteles, Der Staat der Athener, Kap.  9, 1. 482 Hansen, Polis, S.  145; s. a. Ehrenberg, S.  53: »Identität der Bürger mit dem Staate«. 483 Siehe oben S.  111. 484 Aristoteles, Politik, 3. Buch, 11. u. 13.; s. a. Pabst, S.  48. 485 Ober, S.  296; Pabst, S.  53; Groß, JöR 2018, S.  187 f. 486 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  5 4. 487 Pabst, S.  20. 488 Welwei, Athen, S.  110; Osborne, S.  28. 481

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4. Kapitel: Athen

nierte das Staatswesen mit seiner weitgehend egalitären Vergabe der Posten fast 200 Jahre lang, ohne dass viel Kritik überliefert wurde.489 Zwar wird dem Rat der Fünfhundert eine herausragende Stellung bescheinigt.490 Er wird auch als Zentrum des Staates491 oder als Kopf des gesamten Systems der öffentlichen Verwaltung492 bezeichnet. Er war aber vor allem ein Verbindungsglied zwischen der Volksversammlung und den Ämtern der Verwaltung.493 Auf der einen Seite wäre die Volksversammlung ohne die Vorberatung im Rat nicht funktionsfähig gewesen.494 Meist akzeptierte sie seine Empfehlungen, sie war aber weit entfernt von einem Akklamationsorgan.495 Auf der anderen Seite spielte er eine wichtige Rolle bei der Koordination der vielen Ämter mit administrativen Aufgaben. Er übernahm aber keine eigenständige Führungsrolle und war deshalb kein Machtzentrum.496 Dies verhinderte schon die jährliche Rotation seiner Mitglieder. Besonders bemerkenswert ist das fast völlige Fehlen einer dauerhaften Besetzung der administrativen Ämter. Vielmehr galt der Grundsatz, dass durch die enge Begrenzung der Aufgaben eines Amtes jeder Bürger die erforderlichen Fähigkeiten hatte.497 Fast alle Ämter konnten mit Amateuren besetzt werden,498 weil man davon ausging, dass alle Bürger eine ausreichende Expertise hatten499 und deshalb kein Spezialistentum in Verwaltungstechnik notwendig war.500 Lediglich durch die Schreiber gab es eine gewisse Kontinuität, doch wurde auch für sie eine Rotation vorgeschrieben. Insgesamt galt eine Priorität der Funktionen vor den Personen.501 Die Ämterordnung wurde gezielt so ausgestaltet, dass der persönliche Einfluss Einzelner so weit wie möglich verhindert wurde.502 Das Los als Besetzungsmodus für fast alle Ämter ist charakteristisch für die Beteiligung aller Bürger am Staat.503 Sein Zweck lag auch in der Vermeidung eines schäd489

Hansen, Age of Demosthenes, S.  239; Finer, S.  359; Pownall, in Beck, S.  291. Haßkamp, S.  87. 491 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  2 25. 492 Hansen, Age of Demosthenes, S.  72. 493 Haßkamp, S.  15. 494 Sinclair, S.  74; Welwei, Athen, S.  109. 495 Sinclair, S.  215. 496 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  240. 497 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  283; Haßkamp, S.  85. 498 Hansen, Age of Demosthenes, S.  308. 499 Hansen, Age of Demosthenes, S.  2 36; Beck, in Beck, S.  5. 500 Welwei, Athen, S.  259. 501 Eder, in Eder, Die athenische Demokratie, S.  2 3. 502 Ehrenberg, S.  8 4 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  282. 503 Sinclair, S.  17; Gehrke, in Gehrke, S.  473. 490

V. Fazit

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lichen Wettbewerbs um Ämter.504 Ein weiterer Mechanismus zur Verhinderung der Akkumulation von Macht war die rigorose Kontrolle aller Amtsinhaber als hervorstechendes Merkmal der athenischen Demokratie.505 Auch englischsprachige Autoren, die großzügig mit dem Begriff Bürokratie umgehen, räumen ein, dass es eine solche in der Athener Polis nicht gab.506 Allenfalls in der Neuorganisation der Staatsfinanzen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts werden Ansätze zu einer »Bürokratisierung« gesehen.507 Es handelte sich aber nur um eine partielle Abweichung in einem einzelnen, wenn auch wichtigen Aufgabenbereich, die nicht wesentliche Züge der gesamten institutionellen Struktur veränderte. Die Athener Polis selbst war ein kleines Staatswesen, in dem alle wesentlichen Entscheidungen in den zentralen Institutionen getroffen wurden. Es gab jedoch mit den Gemeinden, die einen territorialen Ursprung hatten, dann aber zu Personalkörperschaften wurden, eine untere Ebene im Staatsaufbau. Sie hatten mit der Versammlung und dem Vorsteher sowie bei größeren Gemeinden weiteren Amtsträgern eigene Institutionen, deren Aufgaben man mit der heutigen Terminologie dem Bereich der Verwaltung zuordnen kann, so dass der Vergleich mit den modernen lokalen Selbstverwaltungseinheiten naheliegt.508 Man kann auch von einer »Demokratie an der Graswurzel« sprechen.509 Dagegen hatten sie keine Befugnis, eigene Rechtsvorschriften zu erlassen. Mit den modernen juristischen Kategorien schwerer zu fassen sind die Bündnisse der Athener Polis. Insbesondere der erste attische Seebund entwickelte sich zu einer Zwischenform zwischen Allianz und Herrschaft. Auf der einen Seite hatten sich die anderen griechischen Stadtstaaten ihm zunächst freiwillig angeschlossen und auch später erhielt sich eine beträchtliche Unterstützung für die Athener Politik, gerade durch die demokratisch regierten Mitglieder.510 Auf der anderen Seite duldete Athen keine außenpolitische Selbständigkeit der Bündnisglieder und stellte sie unter 504

Sealey, S.  128. Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  37–40; Sinclair, S.  18; Wallace, in Raaflaub/Ober/Wallace, S.  63; Haßkamp, S.  10; Harris, in Tiersch, S.  82; Kapparis, S.  24. 506 Finley, Demokratie, S.  29; Finer, S.  345; ebenso Ehrenberg, S.  8 0. 507 Ober, S.  102; Tiersch, in Tiersch, S.  21; auch Rohde, S.  283, sieht »gravierende Veränderungen im Amtsverständnis.« 508 Meier, in Meier/Veyne, S.  74; Whitehead, S. xviii: »self-determining units of local government«; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  185, vergleicht sie mit den Kreisen und kreisfreien Städten. 509 Meier, Kultur, S.  312. 510 Finley, in Garnsey/Whittaker, S.  124 f.; Meiggs, S.  406–408. 505

148

4. Kapitel: Athen

eine Art Aufsicht. Die Dekrete Athens sprachen gegenüber ihnen wie ein Herrscher zu einem Untertan.511 Auch bei Xenophon wird das Verhältnis mit dem Begriff »Herrschaft« (arche) bezeichnet.512 Bemerkenswert ist, dass aus Athen selbst keine Kritik der imperialen Politik bekannt ist.513 Thukydides berichtet sogar über eine »unverhüllte Ideologie des Rechts des Stärkeren«.514 Jedenfalls behielten die meisten Bündnismitglieder ihre institutionelle Autonomie und ihre eigene Rechtsordnung. Zwar hat sich ihnen der Athener Gesetzgeber übergeordnet und damit eine Art Kompetenz-Kompetenz ausgeübt.515 Sie wurden aber nicht zu Provinzen wie in dem assyrischen Territorialreich. Deshalb kann man den Bund nicht als staatsrechtliches Gebilde beschreiben.516 Vielmehr war er durch eine besonders intensive Form der Abhängigkeit von einem hegemonialen Partner gekennzeichnet, doch blieben seine Mitglieder als eigenständige Rechtssubjekte erhalten.517

3. Die Rolle des Recht Anders als in Ägypten und in Mesopotamien trennten die Griechen schon früh die politische von der religiösen Sphäre und lösten damit das Recht von der göttlichen Autorität.518 Zwar war der Nomos ursprünglich eng mit religiösen Traditionen verbunden.519 Aber schon Solon wird eine Säkularisierung der Rechtsidee zugeschrieben.520 Im 5. Jahrhundert waren die meisten Rechtsbereiche eindeutig zivil geprägt.521 Das Recht nahm eine ganz zentrale Stellung im Selbstverständnis der Polis ein. Hinweise darauf, dass die staatliche Herrschaft durch die Geset511

Meiggs, S.  404 f. Griffith, in Garnsey/Whittaker, S.  127; diesen Begriff verwendet in Abgrenzung zu juristischen Kategorien auch Schuller, S.  2–5 u.ö. 513 Finley, in Garnsey/Whittaker, S.   106; zur Diskussion über Interventionen im 4. Jahrhundert vgl. Low, S.  199–210. 514 Schuller, S.  120; s. a. Nippel, Freiheit, S.  87. 515 Schuller, S.  136. 516 Ebenso Ehrenberg, S.  139. 517 So auch Schuller, S.  125 f. 518 Cline/Graham, S.   104. 519 Wolff, in Berneker, S.  118; de Romilly, S.  27–34; anders Hagedorn, in Jaillard/Nihan, S.  121–124. 520 Finley, in Finley, S.  2 3; Barta, Bd.  I I/1, S.  293. 521 Garner, S.  31–48; zu verbleibenden religiösen Elementen Ehrenberg, S.  95. 512

V. Fazit

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ze legitimiert werden muss, finden sich schon bei Solon.522 Demosthenes hat die Bedeutung der Gesetzesbindung vielfach betont.523 Aristoteles vertrat sogar die Auffassung, dass eine Demokratie, in der das Volk alles entscheiden könne, keine echte Demokratie sei, weil die Gesetze über alles herrschen müssten.524 Schon damals wurde also erkannt, dass die Rechtsbindung keinen Gegensatz zur Demokratie darstellt,525 sondern jede Demokratie ein Rechtsstaat sein muss.526 Die allgemeinverbindlichen Regeln der Gesetze sind die Grundlage für das Funktionieren der Institutionen.527 Ohne Gesetze konnte auch die Gleichbehandlung aller Bürger nicht gewährleistet werden.528 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Griechen unser modernes Verständnis des Gesetzes als Instrument der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens teilten. Vielmehr wurden die Gesetze meist mit einem historischen Gesetzgeber verbunden, insbesondere mit Solon, und dann als grundsätzlich unveränderlich angesehen.529 Weil sie als bewährt galten, sollten sie möglichst nicht geändert werden.530 Es ging nach dem damaligen Verständnis vielmehr nur um untergeordnete Änderungen oder Ergänzungen.531 Diese waren dennoch durchaus nicht illegitim, wenn das korrekte Verfahren eingehalten und die Kohärenz mit den bestehenden Gesetzen beachtet wurde.532 Zudem muss betont werden, dass sich der institutionelle Rahmen wesentlich von dem modernen Modell der Gewaltenteilung unterschied, das auf der Überordnung der Gesetzgebung gegenüber der Rechtsanwendung beruht. Zwar ist es richtig, dass das Verfahren vor den Nomotheten die Gesetzgebung als besondere Funktion des Staates hervorhob.533 Weil aber diese als eine Art Ausschuss der Volksversammlung angesehen werden 522

Harris, in Harris, S.  12–14; Barta, Bd.  II/1, S.  4 44. Vgl. die Zitate bei Cohen, in Eder, S.  238 f., bzw. bei Piepenbrink, S.  150 f. 524 Aristoteles, Politik, 4. Buch, 4. 525 Ober, S.  300; Harris, in Tiersch, S.  85. 526 De Romilly, S.   152; Thomas, in Osborne/Hornblower, S.  120; Eder, in Eder, Die athenische Demokratie, S.  28; Welwei, Athen, S.  263; Harris, Rule of Law, S.  4; Pabst, S.  78 f. 527 Vgl. das Zitat von Demosthenes aus der ersten Rede gegen Aristogiton (Abschnitt 20) bei de Romilly, S.  155. 528 Ehrenberg, S.  62 f.; Harris, in Tiersch, S.  81 f. 529 De Romilly, S.  215: »Quand la loi est en cause, tous les Athéniens deviennent conservateurs«; Hagedorn, in Jaillard/Nihan, S.  125 f. 530 Harris, in Harris/Rubinstein, S.  32; Piepenbrink, S.  162. 531 De Romilly, S.  2 22. 532 Canevaro, in Carey/Giannadaki/Griffith-Williams, S.  284–290; Carugati, S.  72. 533 Quaß, S.  69. 523

150

4. Kapitel: Athen

müssen,534 kann man daraus keine materielle Begrenzung der Entscheidungsfreiheit des Volkes ableiten.535 Alle Gesetze konnte mit einer Mehrheitsentscheidung abgeändert werden. Die Rolle der Gesetze kommt eher unserem Verständnis des Verfassungsstaates nahe. Weil die Gesetze, mit denen auch die Institutionen der Polis geschaffen worden waren, möglichst nicht verändert werden sollten, erfüllten sie eine ähnliche stabilisierende Funktion wie eine heutige Verfassung. Zwischen den Gesetzen und den Beschlüssen der Volksversammlung sowie den Entscheidungen der einzelnen Amtsträger bestand ein Hierarchieverhältnis, das den Vorrang der Gesetze absicherte und auch gerichtlich durchgesetzt werden konnte.536 Insgesamt muss man aber zu der Schlussfolgerung kommen, dass die legislative Funktion nicht wie heute die wichtigste Aufgabe des obersten Staatsorgans, d. h. damals der Volksversammlung, war. Folglich ist es auch nicht so ungewöhnlich, dass diese zweitrangige Aufgabe den Nomotheten überlassen wurde, die allerdings auch nur im Auftrag der Volksversammlung entscheiden konnten.537 Von größerer Bedeutung war vielmehr die Rechtsprechung in öffentlichen Angelegenheiten, in denen die Volksgerichte in einem zwar auch politisch geprägten Verfahren entschieden, dessen Ziel aber die Durchsetzung der Gesetze war.538 Durch die kontinuierliche Befassung mit Rechtsstreitigkeiten haben die Mitglieder der Volksgerichte ausreichende Rechtskenntnisse erworben.539 Ebenso wenig darf es überbewertet werden, dass sich bei Aristoteles erste Ansätze zu einer Unterscheidung zwischen administrativem und judikativem Personal finden.540 Zum einen lassen sich die mit der Leitung der meisten Prozesse beauftragten Archonten und der Rat des Areopags nicht in dieses Schema einordnen, so dass es keine strenge personelle Unterscheidung gab.541 Vor allem ergibt sich aber aus der Zusammensetzung der Volksgerichte aus durch Los bestimmten Bürgern, dass man nicht von einer Unabhängigkeit der judikativen von den politischen Organen sprechen 534

Siehe oben S.  115. Welwei, Polis, S.  245; Haßkamp, S.  173; Nippel, Freiheit, S.  79; Schuller, in Schuller, S.  83; anders Kahrstedt, in Berneker, S.  225; Ostwald, Sovereignty of Law, S.  524. 536 Nippel, Freiheit, S.  8 0 537 Hansen, Initiative und Entscheidung, S.  15; Carugati, S.  65. 538 Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  42. 539 Harris, Rule of Law, S.  11. 540 Finer, S.  355, mit Verweis auf Aristoteles, Politik, 4. Buch, 14–16; ähnlich Ehrenberg, S.  87 f. 541 Harrison, S.  17. 535

V. Fazit

151

kann.542 Natürlich führte die Aufteilung der staatlichen Befugnisse auf eine Vielzahl von Institutionen und Ämtern zu einer Machthemmung, die sogar besonders effektiv war.543 Sie kann aber nicht sinnvoll mit unserem modernen Dreiteilungsschema erfasst werden. Man kann dagegen mit Fug und Recht davon sprechen, dass die Athener Polis erstmals wesentliche Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts festlegte.544 Es gab eine eindeutige Trennung zwischen öffentlichen Ämtern und Privatpersonen.545 Die Befugnisse der einzelnen Amtsträger wurden in den Gesetzen und Dekreten festgelegt und damit klar begrenzt.546 Insbesondere war auch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen genau geregelt.547 Ohne gesetzliche Grundlage durfte kein Amtsträger handeln, so dass es bereits damals einen Gesetzesvorbehalt gab. Alle Amtsträger waren mehreren Rechenschaftsverfahren unterworfen. Wenn sie gegen ihre gesetzlichen Pflichten verstießen, konnten sie von jedem Bürger angeklagt werden und mussten sich vor Gericht verantworten. Gegen Bußen, die vom Rat oder von einzelnen Amtsträgern verhängt wurden, sowie gegen die Ablehnung des Bürgerrechts, eine offensichtlich besonders gravierende Entscheidung,548 oder die Verweigerung der Zulassung zu einem Amt konnte jeder Bürger ein Gericht anrufen, so dass auch eine Art Rechtsschutz gewährleistet war. Damit wurde erstmals deutlich, dass die Amtsträger keine Untergebenen eines Herrschers oder Funktionäre einer präexistenten Staatsmacht waren, sondern ausschließlich im Auftrag und unter der Aufsicht des Volkes handelten.

4. Die Funktionsweise der Herrschaft Als Antwort auf die Frage, wie die radikale Demokratie der Athener Polis über fast zwei Jahrhunderte funktionieren konnte, werden verschiedene Ansätze diskutiert. Die Gründe werden in der Organisation der Armee, der ökonomischen Ausbeutung der Sklaven und der Verbündeten sowie in der Einstellung der Bürger gesucht. Ohne dass hier ein eigenständiges his542

Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  4 4; anders Sealey, S.  147. Kapparis, S.  20. 544 Anders aufgrund einer engen Fixierung auf gerichtlichen Rechtsschutz Todd, S.  300 f. 545 Harris, Rule of Law, S.  24–28. 546 Harris, in Harris, S.  16. 547 Harris, Rule of Law, S.  40–44. 548 Patterson, in Gagarin/Cohen, S.  285 f. 543

152

4. Kapitel: Athen

torisches Urteil gefällt werden kann, sollen diese Überlegungen kurz dargestellt werden. Noch in der vordemokratischen Epoche wurde eine neue Organisation der Armee eingeführt. Ein großer Teil der Bürger kämpfte als schwerbewaffnete Fußsoldaten (hoplites) in einer Phalanx, um die Gemeinschaft zu verteidigen. Es liegt nahe, dass die Soldaten, die auch selbst für ihre Ausrüstung aufkommen mussten, mehr Mitsprache einforderten und auf eine Reform der Zugehörigkeitsstrukturen zielten.549 Gleichzeitig verbesserte das von Kleisthenes eingeführte Verfahren der Registrierung der Bürger auch die Rekrutierung für den Militärdienst.550 Vermutlich seit der Mitte des fünften Jahrhunderts bestand eine zweijährige militärische Ausbildung aller jungen Athener (ephebeia).551 Allerdings gibt es auch viele Belege für Ungehorsam, so dass andere die schlechte militärische Disziplin der Bürgerarmee als ein Problem der Demokratie ansehen.552 Relevant waren natürlich auch die ökonomischen Randbedingungen. Häufig findet man den Hinweis, dass die intensive Teilnahme der freien Bürger am Staatswesen nur durch die Ausbeutung der Sklaven ermöglicht wurde.553 Sie kamen v. a. in den Silberbergwerken, in der Landwirtschaft und im Handwerk zum Einsatz.554 Es ist aber umstritten, ob nur wenige Reiche Sklaven hatten 555 oder doch die Mehrheit der Bürger.556 Außerdem wird zurecht darauf hingewiesen, dass auch die Arbeit der nicht mitwirkungsberechtigten Frauen, z. B. in der Landwirtschaft, berücksichtigt werden muss.557 Im Rahmen des ersten Seebundes kam es im 5. Jahrhundert auch zu einer wirtschaftlichen Ausbeutung der Verbündeten, die zu einer Steigerung des Wohlstands Athens führte.558 Deren Umfang ist allerdings unklar.559 Dass dieser Faktor jedenfalls nicht ausschlaggebend war, sieht man daran, dass die Demokratie auch während des Jahrhunderts nach

549

Ehrenberg, S.  59 f.; Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.  138; ähnlich Cline/Graham, S.  110–112; Meier, in Meier/Veyne, S.  96. 550 Patterson, in Gagarin/Cohen, S.  277. 551 Gehrke, DNP 3, Sp.  1072 f. 552 Dazu Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  149 f. 553 Sinclair, S.   199 f.; Hansen, Age of Demosthenes, S.  318; Finer, S.  323 f.; Osborne, S.  100; skeptisch Ober, S.  25 f. 554 Sinclair, S.  197 f.; Osborne, S.  92–97. 555 Finer, S.  363; Pabst, S.  94. 556 Sinclair, S.  199; Osborne, S.  89, wonach nur wenige Bürger gar keine Sklaven hatten. 557 Hansen, Age of Demosthenes, S.  318. 558 Schuller, S.  71–80; Finley, Demokratie, S.  49–52. 559 Meiggs, S.  265.

V. Fazit

153

dem Ende des ersten Bündnisses weiter bestand.560 Im zweiten Seebund war Athen nicht mehr so dominant, dass es ähnliche ökonomische Vorteile erzielen konnte. Ein mindestens ebenso wichtiger Faktor war aber die »Bürger-Identität«561 der Athener, die sich mit der Polis identifizierten und deshalb Ämter übernahmen.562 Man schätzt, dass jedes Jahr etwa 8 % der über 30jährigen Bürger aktiv Ämter ausübten oder als Mitglieder des Rates der Fünfhundert tätig waren.563 Wenn man die Mitglieder der Volksgerichte einbezieht, kommt man sogar auf etwa ein Viertel der Bürgerschaft.564 Die Stabilität des Gemeinwesens wurde somit nicht durch eine Regierung oder eine professionelle Verwaltung bzw. Justiz gewährleistet, sondern durch das kontinuierliche Interesse und die Mitwirkungsbereitschaft der Bürger.565 Vermutlich konnten schon um 500 alle männlichen Bürger von Athen lesen und schreiben.566 Dadurch konnten sie sich auch außerhalb der Versammlungen über die öffentlichen Angelegenheiten informieren und eine allgemeine Vertrautheit mit den Staatsangelegenheiten erlangen.567 Auch wenn nur ein bis zwei Fünftel der Bürger an den einzelnen Versammlungen teilnahmen, bestand ein Kommunikationszusammenhang, der das ganze Volk umfasste.568 Natürlich gab es auch Anreize zur Teilnahme wie die Tagegelder569 und Ehrungen für verdiente Bürger, aber ohne eine generell große persönliche Motivation hätten sich nicht Hunderte und in der Volksversammlung Tausende von Bürgern ständig engagiert.570 Besonders erstaunlich ist gerade auch im Vergleich mit anderen antiken Gesellschaften das Fehlen einer politischen Elite.571 Es gab nicht wie in der Anfangszeit der römischen Republik eine Herrschaft von Adelsgeschlechtern mit Klientelen.572 Es gab auch sonst seit den Reformen des Kleisthenes 560

Sinclair, S.  200; Ober, S.  24. Meier, in Meier/Veyne, S.  6 4. 562 Wallace, in Wallace/Gagarin, S.  154. 563 Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  273. 564 Rohde, S.  38. 565 Sinclair, S.  2 22. 566 Ober, S.  157 f.; Bleicken, Die athenische Demokratie, S.  432; Finer, S.  322; skeptisch Hedrick, in Osborne/Hornblower, S.  163, wonach nur eine kleine Minderheit gut lesen konnte. 567 Finley, Demokratie, S.  24. 568 Ober, S.  337. 569 Zu ihrer Bedeutung Rohde, S.  38–45. 570 Hansen, Age of Demosthenes, S.  314. 571 Ober, S.  334. 572 Welwei, Athen, S.  17 f. 561

154

4. Kapitel: Athen

keine rechtlichen Privilegien von Eliten.573 Vielmehr wird die Demokratie nach Demosthenes durch die »Solidarität der Schwachen« charakterisiert.574 Zwar gab es insbesondere im 4. Jahrhundert einflussreiche Redner,575 die jedenfalls in ihrer großen Mehrheit wohlhabend waren.576 Diese konnten ihre Ziele aber nur erreichen, wenn sie die Mehrheit des Volkes überzeugten.577 Allerdings wissen wir auch, dass sich nicht nur bekannte Politiker, sondern mehrere hundert Bürger an den Diskussionen der Volksversammlung beteiligten.578 Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Mehrheit dauerhaft einer bestimmten Gruppe folgte. Deshalb ist auch die Kritik, dass die Demokratie zu einer Herrschaft der Armen über die Reichen führte, nicht berechtigt.579 Sie findet sich zwar sowohl bei Plato wie auch bei Aristoteles, doch handelt es sich dabei um ein »Zerrbild«.580 Weder die Gesetze noch andere Beschlüsse der Volksversammlung zielten auf eine Ausbeutung der Begüterten.581 Zwar führte die Ausgestaltung der öffentlichen Finanzen, wie etwa die Sonderlasten der Reichen und die Tagegelder, die eine demokratische Teilhabe aller ermöglichen sollten, zu einer gewissen Umverteilung.582 Dennoch verblieben zweifellos erhebliche ökonomische Unterschiede in der Bürgerschaft. Sie beeinträchtigten aber die politische Homogenität der Athener letztlich nicht, so dass auch keine Parteien entstanden.583 Man kann tatsächlich von einem System der alternierenden Regierungsbeteiligung aller Bürger sprechen.584 Alle Institutionen waren darauf ausgerichtet, die Akkumulation von Macht zu verhindern und das Grundprinzip der Gleichberechtigung der Bürger abzusichern.

573

Ober, S.  14. De Romilly, S.  140. 575 Hansen, Age of Demosthenes, S.  144; ausführlich Ober, S.  104–155, der sie als »politicians« bezeichnet. 576 Ober, S.  192; Rohde, S.  261–264. 577 Welwei, Polis, S.  198–203; Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  186. 578 Welwei, Athen, S.  116; Osborne, S.  5. 579 Meier, in Meier/Veyne, S. 110 f.; zur Unklarheit der Abgrenzung zwischen arm und reich Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  103–105. 580 Welwei, Athen, S.  310; ähnlich Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  62. 581 Ober, S.  198; Pabst, S.  28 f.; ähnlich Welwei, Athen, S.  112 f. 582 Kloft, in Horst, S.  207–209. 583 Osborne, S.  35; ähnlich Haßkamp, S.  168; Carugati, S.  112. 584 Pabst, S.  19. 574

Rom I. Historischer Überblick 1. Die Entwicklung der Republik Nach den archäologischen Funden erfolgte die erste Besiedlung im Stadtgebiet von Rom etwa um den Beginn des ersten Jahrtausends.1 Das mythische Gründungsdatum im Jahr 753 stimmt ungefähr damit überein, dass eine einheitliche Stadt ab dem Ende des 7. Jahrhunderts nachweisbar ist.2 Über das frühe Königtum gibt es wenig sichere Kenntnisse. Nach Livius wurden die Könige von einer Volksversammlung gewählt, so dass keine Erbfolge entstand.3 Nach der Überlieferung wurde der letzte König im Jahr 509 gestürzt.4 Mit diesem Jahr beginnt die Jahreszählung nach dem von den Griechen übernommenen System der Eponymen, wobei in Rom die Jahre nach den Konsuln benannt wurden.5 Realitätsnäher ist es wohl, dass Anfang des 5. Jahrhunderts ein Putsch von Angehörigen der Oberschicht stattfand. 6 Damit begann die Periode der Republik, die üblicherweise in drei Abschnitte eingeteilt wird.7 Die frühe Republik (509–287) ist gekennzeichnet durch die Spannungen zwischen dem Adel und dem Volk, die als »Ständekampf« bekannt sind. Allerdings spricht einiges dafür, dass sie durch die spätere Geschichtsschreibung »maßlos übertrieben« wurden. 8 Ausgangspunkt ist die sehr alte 1

Waldstein/Rainer, S.  18. in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  136. 3 König, S.  2 3; Freeman, S.  370; Walter, S.  7. 4 Gehrke, in Gehrke, S.   485: Jahreszahl ist Rekonstruktion, um Parallelen zu Griechenland zu betonen. 5 Waldstein/Rainer, S.   31. 6 Flach, S.  13; Waldstein/Rainer, S.  29; Gehrke, in Gehrke, S.  486. 7 Abweichend Flower, S.  18–34, die sechs verschiedene Republiken mit kurzen Zwischenperioden unterscheidet. 8 Flach, S.  24; ähnlich Raaflaub, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  140; Waldstein/Rainer, S.  39. 2 Raaflaub,

156

5. Kapitel: Rom

Unterscheidung der Bürger in Patrizier und Plebejer. Unter Patriziern versteht man die Mitglieder der Familien, deren Oberhäupter schon dem Senat der Königszeit angehörten.9 Es handelte sich ursprünglich um Gutsbesitzer. Vor 350 umfasste diese Gruppe etwa 800 bis 900 Personen,10 doch nahm ihre Zahl in den späteren Jahrhunderten stark ab, so dass am Ende der Republik nur noch vierzehn patrizische Familien nachweisbar sind.11 Die sehr viel größere Gruppe der Plebejer bestand ursprünglich wohl v. a. aus Kleinbauern.12 Die Machtstellung der Patrizier beruhte auch auf dem Klientelwesen, einem Gefolgschafts- und Beistandsverhältnis, durch das die arme Landbevölkerung in ihren Geschlechtsverband einbezogen wurde.13 Es erfasste allerdings keineswegs die gesamte Bevölkerung.14 Ein erster Höhepunkt der Auseinandersetzung war im Jahr 494 der Auszug der Plebs aus der Stadt. Sie protestierten damit und mit der Verweigerung des Militärdienstes gegen die schlechte Behandlung von Schuldnern.15 In der Folge entstanden eigene Institutionen der Plebs, die bis zum Ende der Republik neben den gesamtstaatlichen Institutionen bestanden. Dieser Vorgang wird im Anschluss an eine Bezeichnung als Verrat (ad seditionem nata) durch Cicero16 auch in der neueren Literatur als Revolution bezeichnet.17 Eine solche Qualifikation ist aber fragwürdig, da sie eine höherrangige Verfassung voraussetzt, gegen deren Regeln verstoßen wird. Dieses Verständnis einer Verfassung ist aber erst im 18. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Durch diese Interpretation wird deshalb vielmehr einfach der historische Vorrang der kleinen Gruppe der Patrizier tradiert. Man könnte stattdessen vielmehr von einer Vereinbarung zur Verbreiterung der personellen Basis der Institutionen sprechen. Einen weiteren institutionellen Bruch gab es im Jahr 451, als die Regierungsgewalt auf ein Zehn-Männer-Gremium übertragen wurde, dessen Hauptaufgabe die Aufzeichnung des geltenden Rechts war, die im Zwölf-Tafel-Gesetz erfolgte. In der anschließenden Zeit wurde die Führung von drei bis sechs Konsulartribunen übernommen.18 Im Jahr 367 kam 9

Kunkel/Wittmann, S.  567. Kunkel/Wittmann, S.  495 Fn.  81. 11 Taylor, S.  62. 12 Kunkel/Wittmann, S.  567. 13 Waldstein/Rainer, S.   25. 14 Von Lübtow, S.  112. 15 Raaflaub, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  139. 16 Cicero, De legibus, Buch III, 19. 17 Mommsen, Bd.   III, S.  145; ebenso Bleicken, Volkstribunat, S.  1; Wieacker, S.  403; Kunkel/Wittmann, S.  555. 18 Stewart, S.  52–71. 10

I. Historischer Überblick

157

es zu einer neuen Übereinkunft zwischen Patriziern und Plebejern, mit der die Konsulatsverfassung geschaffen wurde, wobei ein Konsul aus den Reihen der Plebejer gewählt werden konnte.19 Dieser Kompromiss führte zu einer »Aristokratisierung« der führenden plebejischen Familien, so dass eine neue Führungsschicht (nobiles) entstand, der die gewählten Amtsinhaber aus Patriziern und Plebejern angehörten.20 Einen gewissen Endpunkt erreichte diese Entwicklung im Jahr 287 mit der Lex Hortensia, die Beschlüsse der Versammlung der Plebs (plebiscita) mit den Gesetzen der anderen Volksversammlungen gleichstellte.21 Die folgende Phase der mittleren Republik (287–133) war durch große innenpolitische Stabilität gekennzeichnet.22 In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts führten die punischen Kriege zu einer großen Expansion des römischen Herrschaftsbereichs. Am Ende dieser Periode hatten sich jedoch gravierende soziale Spannungen entwickelt, denen die Reformen der beiden Volkstribune der Gracchen begegnen wollten. Die Ermordung des Volkstribunen Tiberius Sempronius Gracchus markiert den Beginn der späten Republik (133–27). Sie war durch zunehmende, oft auch gewaltsame Auseinandersetzungen gekennzeichnet.23 Ab dem Ende des 2. Jahrhunderts standen sich zwei Gruppen innerhalb der Führungsschicht gegenüber, die Optimaten, die den Einfluss des Senats sichern wollten, und die Popularen, die die Volksversammlung gegen den Senat mobilisierten. Die beiden Gruppen verfolgten zwar bestimmte Interessen, aber keine politischen Programme und können deshalb nicht als Parteien im modernen Sinn angesehen werden.24 Eine weitere Zäsur stellten die Maßnahmen des Sulla in den Jahren 81– 79 dar, der mit militärischer Gewalt die Macht in Rom übernahm und durch ein Volksgesetz als Diktator mit umfassender Gesetzgebungsbefugnis ausgestattet wurde.25 Sein Ziel war die Schwächung des Volkstribunats und die Stärkung der Konsuln und des Senats.26 Diese Maßnahmen wurden nach seinem Tod aber weitgehend wieder rückgängig gemacht.27 19

Waldstein/Rainer, S.  32 f. Prozess Hölkeskamp, Nobilität, S.  62–203; Flower, S.  50–53, 155–157. 21 Zur unklaren Vorgeschichte Grziwotz, S.  171–182. 22 Sandberg, S.  36. 23 Ausführlich Nippel, Aufruhr, S.  71–152. 24 Bleicken, Verfassung, S.  191–193; Flower, S.  150; Walter, S.  78; relativierend Yakobson, S.  148–183. 25 Ausführlich Meier, Res publica amissa, S.  246–262. 26 Überblick bei Flower, S.  117–134. 27 Sandberg, S.  36–40. 20 Zum

158

5. Kapitel: Rom

Ab etwa dem Jahr 60 funktionierte die Republik nicht mehr.28 Immer wieder kam es zu Abweichungen von der überkommenen institutionellen Ordnung wie der Einsetzung von Diktatoren, der Bildung des ersten Triumvirats und der Verschiebung von Wahlen. Die Auseinandersetzungen mündeten schließlich in den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius.29 Der Zeitpunkt, der das Ende der Republik markiert, ist umstritten. In der Literatur werden verschiedene Daten zwischen dem Jahr 49 mit dem Einmarsch Caesars in Italien und dem Jahr 27 genannt.30 Letzteres wird meist als Beginn des Prinzipats angesehen, weil ein Beschluss des Senats die schrittweise Machtübernahme des Augustus durch die Übertragung des Imperiums für zehn Jahre besiegelte.31 Damit begann eine neue Phase, die man als Alleinherrschaft, die sich als Republik tarnte,32 oder als Dyarchie von Prinzeps und Senat33 charakterisieren kann. Insbesondere wurden die Volksversammlungen abgeschafft, so dass ab dieser Zeit Senatsbeschlüsse als Gesetze galten.34 Die letzten Überreste der Republik verschwanden am Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. unter Diokletian mit der Umwandlung in eine absolute Monarchie und der Herausbildung eines zentralistischen Verwaltungsstaats.35

2. Quellen Aus der Frühzeit sind keine schriftlichen Quellen überliefert, weil viele Dokumente durch den Brand nach der Niederlage Roms gegen die Gallier im Jahr 387 vernichtet wurden.36 Die römische Geschichtsschreibung setzt erst in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts ein.37 Sie ist freilich lückenhaft und für die Frühzeit oft frei erfunden.38 Die wichtigsten antiken Darstellungen 28 Flower,

S.  32; nach Meier, Res publica amissa, S.  208–216, begann die akute Krise bereits im Jahr 91. 29 Waldstein/Rainer, S.   157–164. 30 Knapper Überblick bei Flower, S.  13 f. 31 Waldstein/Rainer, S.   169. 32 Jakab/Manthe, in Manthe, S.  260. 33 Mommsen, Bd.  I I, S.  748; zustimmend Rainer, S.  213. 34 Robinson, Sources, S.  33; Rainer, S.  2 35. 35 Mousourakis, S.  142–145; Waldstein/Rainer, S.  245: »vollständige Bürokratisierung von Verwaltung und Regierung«. 36 Flach, S.  4. 37 Waldstein/Rainer, S.  19 f. 38 Dazu näher Flach, S.  1–13.

II. Herrschaftsorganisation

159

der Institutionen stammen von dem griechischen Historiker Polybios, dessen nur partiell erhaltene Geschichte die Zeit von 264 bis 146 umfasst, und von Cicero,39 insbesondere in dessen Werk De legibus, das in der Spätzeit der Republik verfasst wurde, vermutlich im Jahr 51. Kein überliefertes Werk ist aber so umfassend wie die Darstellung Athens durch Aristoteles. Weiteres Material ist in Reden, Briefen, Inschriften oder Münzen erhalten. Von den vermutlich mehr als tausend Gesetzen, die während der republikanischen Zeit erlassen wurden, sind allerdings nur zwölf weitgehend vollständig und weniger als dreißig in Fragmenten überliefert.40 Auch das Zwölftafelgesetz ist nur in Bruchstücken erhalten.41 Deshalb müssen viele rechtliche Regelungen und institutionelle Praktiken aus anderen Quellen rekonstruiert werden. Die folgende Darstellung behandelt im Schwerpunkt die mittlere und späte Republik, die durch eine relativ große institutionelle Kontinuität gekennzeichnet ist, auch nach der eigenen Vorstellung der Römer.42 Trotz der vielen, zum Teil aber auch nur vorübergehenden Veränderungen ist deshalb eine systematische Darstellung möglich.43 Ihr Schwerpunkt liegt auf den normativen Grundlagen, wobei nicht verkannt wird, dass damit die realen Machtverhältnisse nur teilweise erfasst werden können. Die entsprechende Kritik am Rechtspositivismus von Theodor Mommsen44 ist insofern nicht unberechtigt, ändert aber nichts daran, dass er nach wie vor die beste Information über die Institutionen bietet.45 Die Differenzen zwischen Norm und Praxis werden im Fazit thematisiert.

II. Herrschaftsorganisation Das Territorium des römischen Stadtstaates umfasste bis zum Jahr 500 nur 800 km 2.46 Beim ersten Zensus im Jahr 508 wurden etwa 130.000 männliche erwachsene Bürger (civis Romanus) erfasst.47 Vom römischen Volk (populus Romanus) als Gesamtheit aller freien Bewohner der Stadt 39 Zu

seiner Person aufschlussreich Cancik, Cicero, passim. Sandberg, S.  16. 41 Waldstein/Rainer, S.   48. 42 North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  257. 43 Ebenso Bleicken, Verfassung, S.  11 f. 44 Z.B. bei Bleicken, Verfassung, S.  298–303. 45 Bleicken, Verfassung, S.  318; s. a. Taylor, S.  12: »masterpiece«. 46 Bleicken, Verfassung, S.  17; Raaflaub, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  137. 47 Zweifel bei Wesch-Klein, S.  11. 40

160

5. Kapitel: Rom

Rom48 ist der Fremde (peregrinus) zu unterscheiden, der keine Bürgerrechte besitzt. Der Erwerb des Bürgerrechts erfolgte durch Abstammung aus einer Ehe von Vollbürgern oder aus einer Ehe eines Vollbürgers mit Personen, denen das Recht, eine vollgültige Ehe zu schließen, verliehen war, oder von einer römischen Mutter.49 Anders als in Athen wurden auch freigelassene Sklaven zu Bürgern.50 Außerdem konnte das Bürgerrecht an ganze Gemeinden oder an Einzelpersonen verliehen werden, allerdings nur durch einen Volksbeschluss.51 In den später eingegliederten Städten Italiens gab es allerdings zeitweise einen Zwischenstatus der Bürgerschaft ohne Stimmrecht.52 Nach dem Krieg 91/8853 ermöglichten mehrere Gesetze die Verleihung des vollen Bürgerrechts an alle Bundesgenossen, so dass Italien zu einer rechtlichen Einheit wurde.54 Diese Entwicklung führte dazu, dass sich die Zahl der Bürger von ca. 400.000 im Jahr 124 über 910.000 im Jahr 70 auf sogar etwa 4.000.000 im Jahr 28 vergrößerte.55 Die Gesamtbevölkerung der Stadt Rom wird für das Ende der Republik auf etwa 500.000 Personen geschätzt.56

1. Zentrale Herrschaft Die Darstellung kann sich auf die zivilen Institutionen beschränken, denn die Trennung der weltlichen von der sakralen Gewalt erfolgte schon vor dem Ende des Königtums.57 Die Priesterämter blieben weitgehend von den staatlichen Funktionen getrennt.58 Es gab aber auch Fälle einer Personal­ union von zivilen und religiösen Ämtern. Die institutionelle Grundstruktur der Republik entwickelte sich bis zum Ende des 4. Jahrhunderts. Es handelte sich um zwei nebeneinander 48 Bleicken,

Verfassung, S.  17. Waldstein/Rainer, S.  25. 50 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  172 f.; zu Einschränkungen ihrer Rechtsstellung vgl. König, S.  128. 51 Thommen, S.  72. 52 Nicolet, S.  45. 53 Williamson, S. VIII, bezeichnet ihn als »war for inclusion«; zur Vorgeschichte Nicolet, S.  57–61; Galsterer, S.  152–187. 54 Bleicken, Verfassung, S.  241 f. 55 Auflistung bei Nicolet, S.  69. 56 Walter, S.  57. 57 Waldstein/Rainer, S.   29 58 North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  267–269. 49

II. Herrschaftsorganisation

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bestehende Gruppen von Institutionen, solche des Gesamtvolkes und solche der Plebs, die aber eine weitgehend überlappende Mitgliedschaft hatten.59 Aufgrund der immer geringer werdenden Bedeutung der Trennung werden sie im Folgenden gemeinsam dargestellt. Die Gliederung nimmt die drei zentralen Elemente Volksversammlung, Senat und Magistrate zur Grundlage. a) Volksversammlung Anders als in Athen gab es bis zu fünf Varianten der römischen Volksversammlung. Sie umfasste in den drei Formen der Zenturiatkomitien, Kuriatkomitien und Tribuskomitien die gesamte Bürgerschaft mit Patriziern und Plebejern. Diese Versammlungen wurden mit den religiös wichtigen Auspizien eingeleitet. Daneben gab es zwei nur aus den Plebejern bestehende Versammlungen ohne Auspizien, die nach der Überlieferung entweder in Kurien oder in Tribus gegliedert waren, wobei aber nur die plebejische Tribusversammlung von Bedeutung war. 60 Die Kompetenzabgrenzung zwischen den Varianten der Zusammensetzung war nur teilweise klar geregelt. 61 Grundsätzlich können drei Kompetenzarten unterschieden werden. Die Volksversammlungen hatten das alleinige Recht, Gesetze zu erlassen. Außerdem nahmen sie die Wahlen zu den verschiedenen Magistratsämtern vor. Schließlich dienten sie als Gericht für Verbrechen gegen die Gemeinschaft. 62 Als aber zwischen 149 und 79 permanente Gerichte geschaffen wurden, kam es immer seltener zu Prozessen vor einer Volksversammlung. 63 Pro Jahr gab es mindestens sieben Versammlungen, in denen die Wahlen für die verschiedenen Ämter durchgeführt wurden. Dagegen war die Zahl der Versammlungen, die für die Abstimmung über Gesetze einberufen wurden, stark schwankend, doch kamen sie oft an 40 bis 60 Tagen insgesamt pro Jahr zusammen. 64 Das Wahl- und Stimmrecht in Volksversammlungen konnte von den Bürgern im Alter von 17 bis 60 Jahren ausgeübt werden. 65 Die entscheidende Besonderheit der römischen Republik lag darin, dass die Beschlussfas 59 North,

in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  259. Sandberg, S.  106–110. 61 Mommsen, Bd.  I II, S.  325; von Lübtow, S.  306 f. 62 Manthe, S.  5 4. 63 Taylor, S.  74; Bleicken, Verfassung, S.  126 f.; Lintott, Constitution, S.  201. 64 Nicolet, S.  320–322. 65 Timmer, S.  73–80; Williamson, S.  101. 60

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sung nicht im Plenum erfolgte, sondern in den einzelnen Abteilungen der Versammlung, die dann jeweils als eine Stimme zählten, aus denen die Mehrheit berechnet wurde. Die Bürger konnten nur mit ja oder nein über den Antrag des leitenden Magistrats abstimmen. 66 Zuerst erfolgte die Abstimmung offen nach einer mündlichen Abfrage. In der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts wurden hölzerne Stimmtafeln eingeführt, um den Einfluss der Nobilität zu verringern. 67 In keiner Variante gab es ein Mindestquorum. 68 Leider wurde die Zahl der Abstimmenden nie überliefert. 69 aa) Kuriatkomitien Die älteste Form der Volksversammlung war nach Kurien, eigentlich Wehrmannschaften, gegliedert.70 Sie bestand konstant aus 30 gleichberechtigten Kurien.71 Ab dem dritten Jahrhundert hatte sie nur noch eine geringe Bedeutung.72 Das zeigt sich schon daran, dass das Volk gar nicht mehr teilnahm, sondern die Kurien durch Liktoren vertreten wurden.73 Sie verabschiedete jährlich unter dem Vorsitz von Konsuln, Prätoren oder Diktatoren das Kuriatgesetz, in dem den Konsuln und Prätoren die Befehlsgewalt (imperium) übertragen wurde.74 Außerdem war sie unter dem Vorsitz des obersten Priesters (pontifex maximus) für Änderungen der Geschlechterordnung zuständig, z. B. den Transfer von Patriziern in die Plebs oder testamentarische Adoptionen.75 bb) Zenturiatkomitien Sehr viel wichtiger war die nach Zenturien gegliederte Volksversammlung. Sie hatte einen offensichtlich militärischen Ursprung als Heeresversammlung.76 Die insgesamt 193 Zenturien beruhten zunächst auf einer Einteilung nach Waffengattung. Es gab 18 Zenturien für Ritter, 175 Zenturien für Fußsoldaten, die gemäß dem Zensus in fünf Vermögensklassen unter 66 Mommsen,

Bd.  III, S.  304; Bleicken, Lex publica, S.  245. Bd.  III, S.  404 f.; Nicolet, S.  361; Bleicken, Verfassung, S.  124; Millar, S.  25 f.; ausführlich Yakobson, S.  126–146. 68 Mommsen, Bd.  I II, S.  408. 69 Nicolet, S.  391–393. 70 Waldstein/Rainer, S.   21. 71 Taylor, S.  3 f. 72 Bleicken, Lex publica, S.  101. 73 Taylor, S.  4; Sandberg, S.  1. 74 Mommsen, Bd.  I , S.  614 f.; zum historischen Hintergrund Grziwotz, S.  71–81. 75 Taylor, S.  4. 76 Taylor, S.  85–87; Nicolet, S.  297; Waldstein/Rainer, S.  2 2. 67 Mommsen,

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gliedert waren, sowie 5 Zenturien für Unbewaffnete einschließlich einer Zenturie für Besitzlose, die vermutlich ein Drittel der Bürgerschaft umfasste.77 Diese Gliederung führte dazu, dass eine Mehrheit schon dann zustande kam, wenn die beiden vermögendsten Klassen der Ritter und der Schwerbewaffneten, d. h. der selbständigen Bauern, einheitlich abstimmten.78 Um das Jahr 300 erfolgte eine Reform ihrer Zusammensetzung, wonach es für die Zuteilung zu den Zenturien auf das Vermögen und das Alter ankam.79 Dies führte aber nur zu einer geringfügigen Verschiebung der Machtverhältnisse. In jedem Fall war eine Mehrheit der Zenturien für einen Beschluss oder die Wahl eines Kandidaten erforderlich. Für die Abstimmungsreihenfolge galten komplizierte Regeln, die wiederum die Wohlhabenden bevorzugten. 80 Das Recht zur Einberufung der Zenturiatkomitien stand nur den Konsuln und Prätoren, ausnahmsweise dem Diktator oder Interrex zu. Ihre wichtigste Aufgabe war die Wahl der Konsuln, Prätoren und Zensoren. Sie hatte auch die Befugnis zur Gesetzgebung, doch bezog sich diese wohl nur auf Krieg und Frieden, 81 denn es sind keine Beschlüsse über nicht-militärische Angelegenheiten bekannt. 82 Schließlich wurden vor ihr auch Kapitalprozesse bei Verbrechen gegen die Gemeinschaft nach einer Anklage durch Volkstribune durchgeführt. 83 Nach dem Jahr 218 war sie allerdings nur noch selten als Gericht tätig. Sie blieb aber insbesondere für Hochverratsprozesse zuständig. 84 cc) Tribuskomitien Mit dem Begriff tribus, dessen etymologische Herkunft unklar ist, 85 wurde eine Einteilung der Bürgerschaft nach den Stadtteilen Roms und Landbezirken bezeichnet. Von 471 bis 387 gab es 21, 86 später 35 Verwaltungsbezirke des römischen Gebietes, 87 wobei auch den neuen Bezirken Patrizier zu 77 Nicolet,

S.  300; näher Yakobson, S.  54–59. in Gehrke, S.  490. 79 Nicolet, S.  301 f. 80 Einzelheiten bei Taylor, S.  88–100. 81 Manthe, S.  38; Rainer, S.  117. 82 Sandberg, S.  105. 83 Manthe, S.  5 4; Waldstein/Rainer, S. 57 f. 84 Taylor, S.  100–103; Nicolet, S.  304. 85 Waldstein/Rainer, S.   2 2. 86 Taylor, S.  60. 87 Waldstein/Rainer, S.   2 2. 78 Gehrke,

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geteilt wurden. 88 Die Einteilung bevorzugte die Landbevölkerung gegenüber der Stadt mit ihrer schneller wachsenden Einwohnerzahl. 89 Nach dem Jahr 241 erfolgte nur noch eine territoriale Erweiterung der bestehenden Bezirke, die dadurch z.T. schwer überschaubar wurden.90 Neue Bürger, d. h. Freigelassene und neu aufgenommene andere Italiener wurden den tribus durch die Zensoren zugewiesen. Wie umstritten die Zuordnung war, sieht man auch daran, dass die im Jahr 90 neu aufgenommenen Bürger aus ganz Italien auf nur vier tribus verteilt wurden.91 Die Tribuskomitien konnten nur durch einen Konsul oder Prätor einberufen werden. Ihre Aufgabe war die Wahl der Quästoren,92 der kurulischen Ädile,93 der untergeordneten Ämter (magistratus minores) 94 und des pontifex maximus.95 Die Abstimmung erfolgte nach tribus und wurde nach Erreichen der Mehrheit abgebrochen.96 Gewählt waren alle Kandidaten, die nach einer ausgelosten Reihenfolge eine Mehrheit von tribus auf sich vereinigten. Notfalls erfolgte eine Nachwahl bei der nächsten Versammlung.97 Diese Form der Volksversammlung war nur in wenigen Ausnahmefällen als Gesetzgeber tätig.98 dd) Plebejische Versammlung Die Volksversammlung der Plebejer hieß nicht comitium, sondern concilium plebis. Sie war ebenfalls nach tribus eingeteilt, wobei deren patrizische Mitglieder nicht teilnahmen.99 Aufgrund deren geringer Zahl hatte diese Abweichung kaum Einfluss auf das Ergebnis.100 Diese Versammlung konnte nur durch die Volkstribune einberufen werden.101 Ihre Hauptaufgabe war die Wahl der Volkstribune und der plebejischen Ädile.102 Außerdem wählte sie die Inhaber einiger besonderer Ämter. Ihre 88

Taylor, S.  65. Waldstein/Rainer, S.  94. 90 Taylor, S.  6 4–66. 91 Galsterer, in Jehle/Pfeilschifter, S.  304. 92 Mommsen, Bd.  I II, S.  323; Kunkel/Wittmann, S.  514. 93 Mommsen, Bd.  I II, S.  323. 94 Rainer, S.  110. 95 Rainer, S.  103. 96 Williamson, S.   101. 97 Taylor, S.  81. 98 Sandberg, S.  108. 99 Mommsen, Bd.  I II, S.  152 f. 100 Waldstein/Rainer, S.  95; Walter, S.  60. 101 Bleicken, Verfassung, S.  123. 102 Kunkel/Wittmann, S.  559; Rainer, S.  126. 89

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Beschlüsse (plebiscita) wurden spätestens durch die Lex Hortensia den Gesetzen gleichgestellt.103 Danach wurde die ganz überwiegende Zahl der Gesetze durch die Versammlung der Plebs angenommen, die zwar keiner Zustimmung des Senats bedurften, aber in der mittleren Republik meist auf seine Initiative zurückgingen.104 Außerdem führte die plebejische Versammlung bis zum Ende des 2. Jahrhunderts die Mehrzahl der Volksgerichtsverfahren durch, wobei sie allerdings nur finanzielle Strafen aussprechen konnte.105 b) Senat Einen Rat der Alten (senatus) gab es vermutlich schon seit der Königszeit.106 Er bestand zunächst ausschließlich aus Patriziern, erst seit der Übereinkunft aus dem Jahr 367 wurden auch Plebejer aufgenommen.107 Nach der Überlieferung, die aber jedenfalls für die frühe Republik fragwürdig ist, hatte der Senat von Beginn an 300 Mitglieder. Im Jahr 81 erfolgte durch Sulla eine Aufstockung auf bis zu 600 Mitglieder.108 Unter Caesar wurde er sogar auf 900 Mitglieder vergrößert, wodurch er faktisch arbeitsunfähig wurde.109 Seit dem Jahr 312 gehörte die Aufstellung der Senatsliste zu den Aufgaben der Zensoren.110 Sie wählten neue Senatoren v. a. aus den volksgewählten Magistraten aus, konnten aber auch andere Personen aufnehmen, die sie für würdig hielten.111 Später wurden alle Inhaber der höchsten Ämter, d. h. Konsuln, Prätoren, Diktatoren, Reiterführer und kurulische Ädile automatisch in Senat aufgenommen. Es ist strittig, ob diese Praxis schon seit 300112 oder seit 200113 oder erst seit Sulla114 bestand. Erst ab dem Ende des 1. Jahrhunderts wurden auch die Volkstribune immer Mitglied.115 Wer einmal aufgenommen war, erreichte de facto eine lebenslängliche Mitglied103

Zur unklaren Quellenlage Bleicken, Volkstribunat, S.  11–15; Sandberg, S.  132 f. Bleicken, Volkstribunat, S.  68; Waldstein/Rainer, S.  89. 105 Bleicken, Volkstribunat, S.  151; Nicolet, S.  304 f. 106 Von Lübtow, S.  142–146; Waldstein/Rainer, S.  34; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  86. 107 Rainer, S.  131; Gehrke, in Gehrke, S.  490. 108 Flower, S.  121; Walter, S.  51 f. 109 Waldstein/Rainer, S.  9 0; Walter, S.  52. 110 Kunkel/Wittmann, S.   437–445. 111 Kunkel/Wittmann, S.  4 40; Bleicken, Verfassung, S.  86. 112 Lintott, Constitution, S.  68. 113 Waldstein/Rainer, S.   8 4. 114 Mommsen, Bd.  I II, S.  863; Bleicken, Verfassung, S.  86. 115 Waldstein/Rainer, S.   86. 104

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schaft. Allerdings konnten Senatoren von den Zensoren ausgeschlossen werden, wenn sie sich unwürdig verhalten hatten.116 Diese Entscheidung musste begründet werden.117 Der Senat hatte keinen eigenen Vorstand. Er konnte nur durch einen der höchsten Magistrate einberufen werden, der dann auch die Sitzung leitete. Wegen der großen Autorität des Senats war das in der Praxis aber kein Problem.118 Grundsätzlich waren alle Mitglieder gleichberechtigt, es gab aber eine interne Hierarchie, die sich darin zeigte, dass die Reihenfolge des Rederechts nach dem Rang der früheren Ämter vergeben wurde, so dass die ehemaligen Konsuln und Zensoren den größten Einfluss hatten.119 Nur Senatoren konnten Anträge stellen.120 Die Abstimmung erfolgte mit einfacher Mehrheit, wobei ein Quorum von 100, 150 oder 200 Stimmen nur bei bestimmten Materien vorgesehen war.121 Es ist kein Gesetz überliefert, das die Aufgaben des Senats abstrakt beschreibt, so dass seine Stellung überwiegend auf Gewohnheitsrecht (mos) beruhte.122 Mommsen hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass er nur eine beratende Funktion für die Magistrate hatte.123 Auf der anderen Seite hat er aber auch eingeräumt, dass der Senat theoretisch und praktisch die Körperschaft war, die Rom regiert hat.124 Zwar ist sicher, dass der Senat in der Republik keine Gesetze erlassen konnte.125 Die Wirksamkeit von Gesetzesbeschlüssen der Zenturiatkomitien war aber wohl zumindest in der frühen Republik von der Zustimmung des Senats (auctoritas patrum) abhängig.126 Seit der mittleren Republik bestand die Zustimmungspflicht des Senats zu Volksbeschlüssen jedoch nicht mehr.127 Dennoch hatte er einen großen Einfluss auf Volksbeschlüsse, da die Magistrate bei ihrer Vorbereitung der Anträge in der Regel den Empfehlungen des Senats folgten.128 Für 116

Kunkel/Wittmann, S.  4 44 f.; Lintott, Constitution, S.  72. Kunkel/Wittmann, S.  406; Rainer, S.  88. 118 Finer, S.  414; Waldstein/Rainer, S.  9 0. 119 Schulz, S.   72; Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  39; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  266. 120 Waldstein/Rainer, S.   9 0. 121 Meier, Res publica amissa, S.  164; Bleicken, Verfassung, S.  9 0. 122 Lintott, Constitution, S.  6 6; Sandberg, S.  28; Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  25. 123 Mommsen, Bd.   III, S.  1044; ebenso Finer, S.  397; Robinson, Sources, S.  9; Lintott, Constitution, S.  3; Mousourakis, S.  10. 124 Mommsen, Bd.  I II, S.  1022; ähnlich Finer, S.  408; Bleicken, Verfassung, S.  91; Gehrke, in Gehrke, S.  493. 125 Watson, S.  21–30; Millar, S.  7. 126 Wieacker, S.  35. 127 Von Lübtow, S.  246; Wieacker, S.  399 f.; Giovannini, in Eder, Staat, S.  430 f. 128 Bleicken, Verfassung, S.  207; Waldstein/Rainer, S.  91. 117

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die mittlere Republik ist von einer faktisch hohen Bindungswirkung der Vorschläge des Senats auszugehen.129 Dagegen kam es nach dem Jahr 133 oft zu Konflikten zwischen der Senatsmehrheit und dem concilium plebis.130 Eine zentrale Rolle spielte der Senat in der Außenpolitik. So war er für die Auswahl von Gesandten und das Führen diplomatischer Verhandlungen zuständig.131 Er bestimmte die Kriegsführung und konnte hierfür auch den kommandierenden Magistraten Weisungen erteilen.132 Die Verteilung der Provinzen auf die Konsuln bzw. Statthalter erfolgte durch Beschluss des Senats.133 Außerdem bestimmte er über Landverteilungen und über die Staatsausgaben.134 Er konnte aber auch sonst wichtige Angelegenheiten entscheiden. So trat er beim Verbot der bacchischen Kulte im Jahr 186135 wie eine Quasimagistratur auf.136 Diese Aufgaben gingen zweifellos über eine beratende Funktion hinaus. Offensichtlich jenseits der regulären Rechtslage entstand ab dem Jahr 121 eine Praxis, Konsuln durch einen Notstandsbeschluss des Senats in besonderen Krisen diktatorische Vollmachten einzuräumen.137 Dies diente insbesondere dazu, um den Widerstand von Volkstribunen zu überwinden.138 Bis zum Jahr 40 sind vierzehn Anwendungsfälle dieser Selbstermächtigung des Senats bekannt.139 c) Ämter Der römische Oberbegriff für Amtsträger (magistratus) wird manchmal mit »Beamter« übersetzt.140 Das ist problematisch, weil sie nicht nur administrative Aufgaben wahrnahmen, sondern als Leiter der Volksversammlung auch Teil der Legislative waren und außerdem Rechtsprechungsaufgaben übernahmen. Deshalb ist die Verwendung des Begriffs »Magistrat« vorzugswürdig. 129

Wieacker, S.  411; Kunkel/Wittmann, S.  309; Lintott, Constitution, S.  196; Matyszak, in Isakhan/Stockwell, S.  111. 130 Finer, S.  432. 131 Robinson, Sources, S.  8 f.; Waldstein/Rainer, S.  9 0. 132 Wieacker, S.  408. 133 Lintott, Constitution, S.  101. 134 Rainer, S.  136 f. 135 Mit Text bei Cancik-Lindemaier, in Cancik-Lindemaier, S.  33–49. 136 Ferenczy, in Becker/Harder, S.  271. 137 Waldstein/Rainer, S.   91; zur unklaren Rechtslage von Lübtow, S.  339; Grziwotz, S.  233–246; Nippel, Aufruhr, S.  83–85. 138 Thommen, S.  210. 139 Walter, S.  93. 140 Z.B. Bleicken, Verfassung, S.  97; krit. bereits von Lübtow, S.  241.

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Man kann die Ämter nach verschiedenen Kriterien einteilen. Zum einen gab es ordentliche Magistrate und außerordentliche, die nur in Sondersituationen amtierten. In militärischen Krisenzeiten konnten für maximal sechs Monate ein Diktator und als sein Stellvertreter ein Reiterführer eingesetzt werden. Kamen beide Konsuln während ihrer Amtszeit zu Tode, setzte der Senat einen »Zwischenkönig« (interrex) ein, dessen einzige Aufgabe die Einberufung einer Volksversammlung war, um die Nachfolger zu wählen. Zum anderen gab es die bis zum Ende der Republik relevante Einteilung in patrizisch-plebejische und plebejische Magistrate. Zur ersten Gruppe, nach ihrem Amtsstuhl auch als kurulische Magistrate bezeichnet, zählten von Beginn an Konsul und Prätor. Sie waren als einzige mit der höchsten Befehlsgewalt (imperium) ausgestattet, welche insbesondere das militärische Kommando und die Befugnis der Jurisdiktion umfasste.141 Die anderen patrizisch-plebejischen Magistrate, insbesondere Zensoren, (kurulische) Ädile und Quästoren hatten nur eine Anordnungsbefugnis (potestas).142 Im späteren Verlauf kamen verschiedene weitere volksgewählte Ämter mit insgesamt 26 Stellen (vigintisexviri) hinzu, die auch als Untermagistrate bezeichnet werden.143 Die plebejischen Magistrate, die zunächst nur für die Plebs zuständig waren, aber später zu gesamtstaatlichen Ämtern wurden, umfassten die Volkstribune und die (plebejischen) Ädile. Im Laufe der Jahrhunderte bildete sich eine feste Ämterlaufbahn (cursus honorum) heraus, die nachträglich durch Gesetze für verbindlich erklärt wurde.144 Allerdings sind einige Fälle bezeugt, in denen die Regelungen ignoriert wurden.145 Die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den Magistraten erfolgte nicht nach inhaltlichen Ressorts, sondern war historisch gewachsen und blieb in ihren Grundzügen lange unverändert. Eine Kumulation von Ämtern war unzulässig.146 Von zentraler Bedeutung ist, dass die Kompetenzen der einzelnen Magistrate nebeneinanderstanden und keine Weisungsrechte zwischen den Ämtern existierten. Ein Konsul oder Prätor konnte allerdings jede Angelegenheit an sich ziehen.147 Weiterhin bestand die Möglichkeit, dass ein Magistrat einen beabsichtigten zulässigen magistratischen Akt 141

Mommsen, Bd.  I, S.  22; Giovannini, in Eder, Staat, S.  433. Kunkel/Wittmann, S.  21 f. 143 Waldstein/Rainer, S.  87; Robinson, Sources, S.  6 f.; Lintott, Constitution, S.  95. 144 Bleicken, Verfassung, S.  62 f.; Walter, S.  28–30. 145 Beispiele bei Walter, S.  81. 146 Kunkel/Wittmann, S.  7; Bleicken, Verfassung, S.  104. 147 Walter, S.  30. 142

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aufgrund seines höheren Rangs (maior potestas) verbot. Schließlich konnte ein gleich- oder höherrangiger Magistrat einen Akt durch Interzession aufheben, was v. a. dem Schutz des kollegialen Einvernehmens diente.148 Es bestand also nur eine kassatorische Hierarchie. Es gibt einige gemeinsame Merkmale der ordentlichen Magistrate, die für die Republik charakteristisch sind und deshalb vorab dargestellt werden. Hierzu zählen die Volkswahl, die Ehrenamtlichkeit, die beschränkte Amtszeit, die kollegiale Struktur und die Zwangsgewalt. Alle ordentlichen Magistrate wurden von einer Volksversammlung gewählt. Echte Wahlen mit einer Auswahl zwischen verschiedenen Kandidaten gab es zumindest seit dem 3. Jahrhundert. Das Verfahren zur Erklärung der Kandidatur ist nicht ganz klar,149 insbesondere ist strittig, ob sitzungsleitende Magistrate Kandidaten ablehnen durften.150 Die Liste der Kandidaten wurde öffentlich bekannt gemacht.151 Die Wählbarkeit war für alle Ämter auf Angehörige der ersten Zensusklasse beschränkt, außer bei den Volkstribunen.152 Alle Ämter waren unentgeltlich, weil ihre Wahrnehmung als Ehre (honor) galt.153 Es gab nur eine Aufwandsentschädigung,154 so dass der Zugang ohnehin nur der sozialen Elite offen stand, zu der aber auch die wohlhabenden Plebejer zählten.155 Soweit überliefert, standen nie zu wenig Bewerber zur Verfügung.156 Es gab eine Mindestaltersgrenze, die aber nicht genau bekannt ist. Vermutlich lag sie je nach Amt zwischen 37 und 43 Jahren.157 Sulla legte das Mindestalter für die Quästur als erstem Amt im cursus honorum auf 30 Jahre fest.158 Die Amtszeit betrug bei fast allen Magistraten ein Jahr. Mit der Vergrößerung des Staatsgebiets konnte es allerdings vorkommen, dass militärische Kommandeure und später auch Statthalter nicht bis zum Ende ihrer Amtszeit nach Rom zurückkehrten, so dass ihre Amtszeit durch Senatsbeschluss in Form von Promagistraturen verlängert werden konnte.159 Nur bei den Zensoren wich die Amtsdauer ab, da sie in der Regel nur alle fünf 148

Mommsen, Bd.  I, S.  258; Bleicken, Volkstribunat, S.  75. Dazu Nicolet, S.  323–333. 150 Taylor, S.  104; dagegen Giovannini, in Eder, Staat, S.  424. 151 Nicolet, S.  346. 152 Nicolet, S.  426 f. 153 Mommsen, Bd.  I , S.  4 68; Walter, S.  27. 154 Waldstein/Rainer, S.   8 0. 155 Bleicken, Verfassung, S.  9 9; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  9 0. 156 Mommsen, Bd.  I , S.  473. 157 Dazu näher Timmer, S.  8 0–95. 158 Schulz, S.  31. 159 Bleicken, Verfassung, S.  116–120. 149

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Jahre eingesetzt wurden und dann mindestens 18 Monate amtierten, um einen Zensus abzuschließen. Es gab keine allgemeine Pflicht zur Rechenschaftslegung am Ende der Amtszeit.160 Ebenso wenig gab es ein gesetzliches Verfahren zur Amtsenthebung, deren Unzulässigkeit wohl als Gewohnheitsrecht angesehen wurde.161 Dennoch sind ab dem Jahr 136 einige Einzelfälle bekannt.162 Eine unmittelbare Wiederwahl in dasselbe oder ein anderes Amt war unzulässig. Oft gab es eine längere Wartefrist, z. B. zehn Jahre bei den Konsuln.163 Ab der Mitte des 2. Jahrhunderts war ihre Wiederwahl verboten.164 Alle Ämter zeichneten sich durch eine kollegiale Struktur aus. Es gab immer mindestens zwei gleichrangige Amtsinhaber, aber auch eine Dreioder Zehnzahl war möglich.165 Die mehrfache Besetzung eines Amts war ursprünglich wohl zur Kontrolle plebejischer Amtsinhaber eingeführt worden, später diente sie allgemein zur Verhinderung von Machtmissbrauch.166 Anders als in der athenischen Polis handelte es sich aber nicht um Ausschüsse, die gemeinsam entschieden. Vielmehr bestand zwischen den Amtsinhabern eine Arbeitsteilung nach Zeit oder Ort, die durch Vereinbarung oder Los167 festgelegt wurde. Das schon erwähnte Interzessionsrecht erlaubte jedem Amtsinhaber ein Veto gegen Amtshandlungen seiner Kollegen und ermöglichte so die gegenseitige Kontrolle. Die Amtsgewalt aller Magistrate umfasste das Recht, Edikte zu erlassen, mit denen sie bestimmte allgemeine Regeln für ihre Amtszeit festlegen konnten.168 Sie spielten v. a. bei den Prätoren eine große Rolle. Zur Durchsetzung ihrer Anordnungen gegenüber ungehorsamen Bürgern besaßen alle Magistrate eine Zwangsgewalt (coercitio). Sie umfasste als Mittel Geldbußen, Pfändung des Vermögens, Fesselung, Auspeitschung und sogar die Hinrichtung.169 In der Praxis erfolgte die Durchsetzung von Pflichten in erster Linie durch finanzielle Sanktionen, indem ein Bußgeld (multa) mit begrenzter Höhe auferlegt wurde.170 Dagegen war die Anwendung von

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Bleicken, Verfassung, S.  200. So von Lübtow, S.  335; Galsterer, S.  17. 162 Thommen, S.   91–96. 163 North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  263. 164 Meier, Res publica amissa, S.  191. 165 Mommsen, Bd.  I , S.  31 f. 166 Bleicken, Verfassung, S.  100–102. 167 Zur Praxis in der frühen Republik ausführlich Stewart, passim. 168 Robinson, Sources, S.  39; Mousourakis, S.  52. 169 Waldstein/Rainer, S.   57. 170 Lintott, Constitution, S.  9 9. 161

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Gewalt gegen freie Bürger anormal.171 Auch eine Freiheitsentziehung kam nur selten vor.172 aa) Konsuln Die Bedeutung des Titels Konsul ist wohl »Ratgeber«, abgeleitet vom Verb consulere. Das Amt bestand zwar nach der Überlieferung seit Beginn der Republik, es findet aber keine Erwähnung im Zwölf-Tafel-Gesetz. Deshalb spricht einiges dafür, dass es im Lauf des 5. Jahrhunderts,173 möglicherweise sogar erst im Jahr 367174 geschaffen wurde. Seither nahm es den höchsten Rang unter den römischen Ämtern ein. Charakteristisch ist, dass es immer doppelt besetzt war. Die Amtsgewalt der Konsuln war grundsätzlich unbeschränkt, sofern nicht anderen Ämtern besondere Kompetenzen zugeteilt waren.175 Ihre hauptsächliche Funktion war aber das militärische Kommando. Hierzu gehörte auch die Diskussion über aktuelle Themen der Außenpolitik mit dem Senat. Eine weitere Aufgabe war die Einberufung der Volksversammlung in Gestalt der Zenturiat- oder Tribuskomitien und der Vorschlag von Gesetzen.176 bb) Prätoren Das Amt des Prätors ist älter als das der Konsuln und bezeichnete nach der Absetzung des Königs zunächst den Heerführer (prae-i-tor).177 Erst ab 367 traten die Prätoren im Verhältnis zu den Konsuln in einen niedereren Rang.178 Wie diese waren sie mit imperium ausgestattet, das sich bei ihnen v. a. auf die Rechtsprechungsaufgaben in Zivilsachen bezog.179 Ihre Kompetenz umfasste auch die Bekanntmachung der Entscheidungsnormen, so dass ihr Edikt zu Amtsantritt fast eine legislatorische Bedeutung hatte.180 Ab der Mitte des 3. Jahrhunderts wurde auch dieses Amt kollegial besetzt, wobei aber die beiden Amtsträger unterschiedliche Aufgabenbereiche hatten, da einer für Streitigkeiten zwischen römischen Bürgern und der 171

Lintott, Constitution, S.  98. Nicolet, S.  436; Beispiele bei Nippel, Aufruhr, S.  15 f. 173 Waldstein/Rainer, S.   31. 174 Flach, S.  17. 175 Mommsen, Bd.  I I, S.  93. 176 Lintott, Constitution, S.  105; Waldstein/Rainer, S.  81. 177 Mommsen, Bd.  I I, S.  74; Flach, S.  14; Waldstein/Rainer, S.  30. 178 Mommsen, Bd.  I , S.  25; Kunkel/Wittmann, S.  42. 179 Mommsen, Bd.  I I, S.  219. 180 Mommsen, Bd.  I I, S.  2 21. 172

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andere für Streitigkeiten mit Fremden zuständig war.181 Schon wenige Jahre später wurden zwei weitere Prätoren gewählt, die als Statthalter für Sizilien und Sardinien amtierten und ab etwa 200 um zwei Prätoren für Spanien ergänzt wurden.182 Zwischen den Provinzprätoren bestand allerdings aus praktischen Gründen keine Kollegialität, sondern jeder hatte eine territorial begrenzte Macht.183 Im Jahr 81 wurde ihre Zahl durch Sulla auf acht Prätoren erhöht. Sie übten gerichtliche Funktionen aus und übernahmen erst anschließend als Proprätoren eine Statthalterschaft.184 cc) Zensoren Die Bezeichnung des Amtes der Zensoren kommt von ihrer Aufgabe des Schätzens (censere). Es wurde als Doppelamt im Jahr 366 durch die lex Aemilia geschaffen.185 Es hatte ein besonders hohes Prestige, so dass es fast nur durch ehemalige Konsuln ausgeübt wurde und in der Regel am Ende einer Karriere stand.186 Die Hauptaufgabe der Zensoren war die Durchführung der Volkszählung mit der Erstellung der Bürgerlisten. Diese Verzeichnisse erfassten die Bürger in verschiedenen Klassen und waren Grundlage der Steuer-, Wehrund Stimmfähigkeit,187 so dass ihrer Tätigkeit eine sehr große politische Bedeutung zukam. Die grundlegenden Normen hierfür bestimmte zwar das Gesetz, das aber den Zensoren einen weiten Spielraum beließ. Deshalb erließen sei bei Amtsantritt durch ein Edikt (formula census) eine an die Schätzungspflichtigen gerichtete Instruktion, in der z. B. die zu machenden Angaben und die Strafen für Nichterscheinen festgelegt wurden.188 Die Zählung erfolgte in der Regel alle fünf Jahre. Die Amtszeit der Zensoren war zunächst nicht festgelegt,189 später betrug sie 18 Monate. Außerdem waren die Zensoren für die Verwaltung des Staatsvermögens zuständig und führten ein Verzeichnis sämtlicher Immobilien im Staatsbesitz.190 Seit dem Jahr 312 nahmen sie auch die Aufgabe eines Sittenwächters wahr. 181

Mommsen, Bd.  II, S.  196. Mommsen. Bd.  II, S.  198. 183 Bleicken, Verfassung, S.  106 f. 184 Bleicken, Verfassung, S.  107; Wesch-Klein, S.  36. 185 Flach, S.  21. 186 Lintott, Constitution, S.  120; Waldstein/Rainer, S.  85; Pina Polo, in du Plessis/Ando/ Tuori, S.  9 0. 187 Mommsen, Bd.  I I, S.  401; zum Ablauf Nicolet, S.  85–121. 188 Mommsen, Bd.  I I, S.  372; Rainer, S.  86. 189 Mommsen, Bd.  I I, S.  342. 190 Mommsen, Bd.  I I, S.  434. 182

II. Herrschaftsorganisation

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Sie konnten das ehrenwidrige Verhalten eines Bürgers öffentlich feststellen (nota censoria) und ihn in einen niedrigeren Status versetzen, was auch zum Ausschluss aus dem Senatorenstand führen konnte.191 Ein Einspruch gegen eine solche Entscheidung war nicht vorgesehen, doch wurden gelegentlich Fälle in der Volksversammlung verhandelt.192 dd) Ädile Die Bezeichnung des Amts der Ädile erklärt sich daher, dass sie ursprünglich die Aufsicht über die Tempel (aedes) führten. Es ist unklar, ob das Amt der plebejischen Ädile schon seit der Sezession der Plebs im 5. Jahrhundert bestand,193 oder erst nach den kurulischen Ädilen geschaffen wurde.194 Das Amt der kurulischen Ädile entstand in der Mitte des 4. Jahrhunderts. Bis zur Zeit von Caesar gab es immer je zwei Ädile.195 Die meisten Aufgaben nahmen sie gemeinsam wahr.196 Ihre Hauptaufgabe war die Aufsicht über den Markt und die öffentlichen Straßen und Plätze.197 Deshalb wurden sie als »locale Verwaltungsbehörde« bezeichnet.198 Außerdem waren sie für die Organisation von großen Festen bzw. Spielen zuständig.199 Auch die Ädile publizierten Edikte über ihre Aufgaben 200 und konnten in ihrem Zuständigkeitsbereich selbständig Strafen verhängen.201 Schließlich gibt es einige Beispiele dafür, dass sie Prozesse vor den Volksversammlungen einleiten konnten.202 ee) Quästoren Die Ableitung der Bezeichnung des Amtes vom Verb fragen bzw. untersuchen (quaerere) lässt keine Verbindung zu den Aufgaben eines Quästors erkennen.203 Dieses unterste Amt in der Rangordnung bestand wahrscheinlich schon ab dem Beginn der Republik und bezeichnete zunächst 191

Bleicken, Verfassung, S.  65; Waldstein/Rainer, S.  84. Gizewski, DNP 8, Sp.  1009. 193 So Kunkel/Wittmann, S.  474 f. 194 So Flach, S.  21 f. 195 Mommsen, Bd.  I I, S.  480. 196 Nippel, Aufruhr, S.  27; Walter, S.  4 4 f. 197 Bleicken, Verfassung, S.  107; Waldstein/Rainer, S.  85 f. 198 Mommsen, Bd.  I I, S.  497. 199 Bleicken, Verfassung, S.  107 f. 200 Lintott, Constitution, S.  130. 201 Mommsen, Bd.  I I, S.  492–497; Nippel, Aufruhr, S.  29. 202 Nippel, Aufruhr, S.  32. 203 Kierdorf, DNP 10, Sp.  689. 192

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5. Kapitel: Rom

die Adjutanten der Konsuln.204 Nach der Überlieferung erfolgte die erste Volkswahl im Jahr 447.205 Ab dem Ende des 5. Jahrhunderts gab es vier statt bisher zwei Quästoren und auch Plebejer wurden wählbar.206 Ihre Zahl wurde schrittweise auf zehn, durch Sulla auf 20 und durch Caesar sogar auf 40 erhöht.207 Ihre Hauptaufgabe war die Verwaltung der Staatskasse (aerarium), insbesondere übernahmen sie die Verantwortung für die Führung des Kassenbuchs.208 Ebenso wurde den Provinzstatthaltern je ein Quästor zur Seite gestellt, der für die Finanzen zuständig war, aber auch als allgemeiner Vertreter des Statthalters fungierte.209 Außerdem waren sie als Archivare der Republik tätig.210 ff) Volkstribune Das Amt hat seine Ursprünge in der Funktion als Mannschaftsführer des Fußvolks im Heer.211 Ihre ursprüngliche Zahl ist unklar, sie lag zwischen zwei und fünf. Vermutlich seit der Mitte des 5. Jahrhunderts gab es zehn Volkstribune.212 Das Amt der Volkstribune nimmt eine Sonderstellung ein, weil sie keine regulären Verwaltungsaufgaben erfüllten und außerhalb der regulären Ämterlaufbahn standen. Aufgrund ihrer historischen Funktion als Vertreter der Plebs hatten sie auch kein imperium und keine Befugnisse außerhalb der Stadt Rom.213 Sie konnten jedoch Zwangsmaßnahmen durchführen.214 Sie hatten außerdem das Recht der Anklage vor den Volksversammlungen oder später den Gerichten (quaestiones), das sie fast ausschließlich für Prozesse gegen ehemalige Magistrate genutzt haben.215 Ihre Aufgabe war zum einen die Einberufung und Leitung der Versammlung der Plebs. Insbesondere nach der Anerkennung deren gesetzgeberischer Gewalt gingen viele wichtige Reformen von den Volkstribunen 204

Mommsen, Bd.  II, S.  525; Flach, S.  20. Flach, S.  56. 206 Mommsen, Bd.  I I, S.  528. 207 Kierdorf, DNP 10, Sp.  690. 208 Mommsen, Bd.  I I, S.  5 45. 209 Walter, S.  47. 210 Mommsen, Bd.  I I, S.  5 47. 211 Flach, S.  16. 212 Lintott, Constitution, S.  121; Waldstein/Rainer, S.  38; skeptisch Kunkel/Wittmann, S.  559; Flach, S.  22: frühestens im Verlauf des 4. Jahrhunderts. 213 Mommsen, Bd.  I I, S.  282. 214 Beispiele bei Nippel, Aufruhr, S.  17 f. 215 Bleicken, Volkstribunat, S.  106–149; Thommen, S.  147–168. 205

II. Herrschaftsorganisation

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aus. Zum anderen hatten sie zum Schutz der Plebs das Recht der Interzession, das gegenüber allen Magistraten und auch gegenüber Senatsbeschlüssen und Anträgen bei der Volksversammlung bestand.216 Es war nach der Überlieferung durch ein Gesetz aus dem Jahr 449 anerkannt worden.217 Diese Macht war deshalb hauptsächlich negativ und erinnert eher an moderne Ombudspersonen, allerdings mit dem Unterschied, dass ihr Einspruch verbindlich war. d) Hilfskräfte Die einzelnen Magistrate wurden durch aus der Staatskasse besoldete Hilfskräfte (apparitores) unterstützt, bei denen es sich meist um Freigelassene handelte.218 Ihre Anzahl war gesetzlich festgelegt. Sämtliche Gehilfen der Magistrate wurden von diesen berufen.219 Die Anstellung erfolgte jeweils für die Amtszeit eines Magistrats. Da sie aber regelmäßig wiederbestellt wurden, waren die hauptstädtischen Apparitoren außer den accensi faktisch lebenslänglich beschäftigt.220 Gegenüber ihren Gehilfen hatten die Magistrate ein auf sich selbst ruhendes Befehlsrecht.221 Die Konsuln und Prätoren wurden durch Leibwächter (lictores) begleitet, die Rutenbündel mit Richtbeil (fasces) als Abzeichen des imperium trugen.222 Ihre Zahl betrug 24.223 Sie waren für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen (coercitio) einschließlich der Hinrichtung zuständig.224 Die Schreiber (scribae) waren von großer Bedeutung für die Magistrate. Sie mussten immer römische Bürger sein.225 Mindestens ab dem 2. Jahrhundert waren sie in einer eigenen Körperschaft (ordo) organisiert, die sicherstellte, dass die einzelnen Schreiber die erforderlichen Grundkenntnisse hatten.226 Nach Sulla wurde die Zuteilung der Schreiber zu den Magistraten durch Auslosung vorgenommen.227 Ausrufer (praecones) hatten die Aufgaben, den Senat und die Volksversammlungen einzuberufen sowie die Stimmen der einzelnen Abteilungen 216

Dazu Bleicken, Volkstribunat, S.  5 –9; Thommen, S.  207–216. Bleicken, Volkstribunat, S.  6; Waldstein/Rainer, S.  38 f. 218 Mommsen, Bd.  I , S.  298, 334, 355; Kunkel/Wittmann, S.  5. 219 Mommsen, Bd.  I , S.  2 21. 220 Mommsen, Bd.  I , S.  334 f.; Bleicken, Verfassung, S.  9 9. 221 Mommsen, Bd.  I , S.  269. 222 Mommsen, Bd.  I , S.  373–382. 223 Nicolet, S.  435. 224 Mommsen, Bd.  I , S.  2 27; Nippel, Aufruhr, S.  20–24. 225 Nicolet, S.  438. 226 Nicolet, S.  4 43. 227 Nicolet, S.   4 44. 217

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und das Endergebnis zu melden.228 Boten (viatores) führten Verhaftungen durch und exekutierten Urteile.229 Amtsdiener (accensi) waren immer einem bestimmten Magistraten zugeordnet, hatten aber keine feste amtliche Tätigkeit, sondern waren vergleichbar mit persönlichen Referenten.230 Über weitere Ämter ist wenig bekannt.231 Für bestimmte Arbeiten wurden auch öffentliche Sklaven eingesetzt.232

2. Territoriale Herrschaft Die territoriale Expansion Roms begann früh und reichte schon in der Zeit ab dem 4. Jahrhundert über die unmittelbare Umgebung der Stadt in Mittelitalien hinaus.233 Um das Jahr 200 beherrschten die Römer bereits ein Gebiet von etwa 130.000 km 2.234 Diese Herrschaft führte aber bis zum Ende der Republik nicht zu einer einheitlichen Struktur, sondern es gab immer ein Nebeneinander von vollständig eingegliederten, beherrschten, aber autonomen, und verbündeten Gebieten. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung unter Kaiser Trajan betrug die Landfläche des Reiches ca. 6.250.000 km 2.235 a) Die Struktur des Reiches Viele Städte und Gebiete in Italien behielten nach ihrer Eroberung durch römische Truppen ihre innere Autonomie.236 Bei einigen Städten war die Autonomie durch einen Vertrag garantiert (civitates foederatae).237 Ihr Verhältnis zu Rom war also eigentlich völkerrechtlich, was eine faktische Dominanz aber nicht ausschloss.238 Jedoch verloren sie die außenpolitische

228

Mommsen, Bd.  I, S.  363 f. Mommsen, Bd.  I, S.  361. 230 Mommsen, Bd.  I , S.  358. 231 Mommsen, Bd.  I , S.  366–371. 232 Rainer, S.  59 f. 233 Überblicke bei Lintott, Imperium Romanum, S.  5 –15, und Cline/Graham, S.  189– 220. 234 Wesch-Klein, S.  11. 235 Wesch-Klein, S.  12. 236 Galsterer, S.  103; Bleicken, Verfassung, S.  2 36–239. 237 Galsterer, S.  6 4–70. 238 Von Lübtow, S.  6 41–643. 229

II. Herrschaftsorganisation

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Handlungsfreiheit und durften keine Bündnisse mit anderen Staaten eingehen.239 Ihre Hauptpflicht war die militärische Unterstützung Roms.240 Auch in den außeritalischen Gebieten beließen die Römer oft zunächst die vorgefundenen Herrschaftsstrukturen und setzten sie für sich ein. Außerhalb der in die Provinzen integrierten Gebiete gab es seit dem 2. Jahrhundert große Gebiete indirekter Herrschaft mit abhängigen einheimischen Herrschern, z. B. in Nordafrika, Griechenland, der Osttürkei etc. Dabei konnte es sich um Monarchien, Stadtstaaten oder um Stämme handeln, die durch einen Vertrag an Rom gebunden wurden.241 Dieser kam entweder nach einer militärischen Niederlage oder auf Initiative des anderen Staatswesens zustande, wenn dieses den Schutz Roms suchte.242 Allerdings erfolgte dort manchmal, z. B. nach dem Aussterben einer lokalen Dynastie, die Umwandlung in eine Provinz.243 Der alte Rivale Karthago wurde nach einem Aufstand im Jahr 146 endgültig militärisch besiegt, die Stadt zerstört und die Umgebung in eine Provinz umgewandelt.244 b) Provinzen Nachdem Rom im 3. Jahrhundert im Ersten Punischen Krieg zum ersten Mal Gebiete außerhalb des italischen Festlandes erobert hatte, wurde eine neue territoriale Gliederung eingeführt. Der Begriff Provinz (provincia) bezeichnete ursprünglich nur allgemein einen Kompetenzbereich und bekam erst später eine geografische Bedeutung.245 Sizilien wurde im Jahr 241 als erste Provinz eingerichtet, der im Jahr 238 Sardinien und im zweiten Jahrhundert zwei Provinzen in Spanien sowie Makedonien und Africa folgten. Bis zur Zeit von Caesar wurden neun weitere Provinzen geschaffen.246 Ob Provinzen nur durch Volksbeschluss gegründet werden konnten, ist nicht ganz klar.247 Die Statthalterschaft wurde zunächst entweder Prätoren oder Konsuln übertragen. Die Verteilung der Provinzen auf diese beiden Gruppen erfolgte durch den Senat, bevor dann die konkrete Zuordnung zu den Amts­

239

Nicolet, S.  46; Galsterer, S.  87, der aber auch Ausnahmen nennt, S.  130 f. Dazu näher Galsterer, S.  105–110. 241 Lintott, Imperium Romanum, S.  8 . 242 Lintott, Imperium Romanum, S.  17 f.; Wesch-Klein, S.  20–26. 243 Bleicken, Verfassung, S.  246–249; Wesch-Klein, S.  27 f. 244 Lintott, Imperium Romanum, S.  9. 245 Von Lübtow, S.  652 f. 246 Bleicken, Verfassung, S.  243 f.; Gesamtüberblick bei Wesch-Klein, S.  101–148. 247 Dazu näher Ferrary, in Barrandon/Kirbihler, S.  33–44. 240

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5. Kapitel: Rom

inhabern ausgelost wurde.248 Ab dem Jahr 122 wurde die Statthalterschaft einem propraetor übertragen.249 Die Amtszeit betrug jeweils ein Jahr ab dem Eintreffen in der zugewiesenen Provinz.250 Die Statthalter konnten selbst die rechtlichen Grundlagen, z. B. für den Steuereinzug oder für die Stellung der Provinzstädte, durch Provinzgesetze (leges provinciae) und/oder durch Edikte festlegen.251 Sie hatten vielfältige Aufgaben, die man unter dem Oberbegriff der Bewahrung von Ruhe und Ordnung zusammenfassen kann.252 Ihre wichtigste Aufgabe war die Rechtsprechung bei Straftaten politischer Natur oder bei Klagen römischer Bürger.253 Aber auch die Einheimischen und die Städte konnten sich an den Statthalter wenden.254 Diese hielten bei ihrer Rundreise durch ihre Provinz an den Hauptorten Gerichtstage.255 Außerdem nutzten sie vielfältige Arten von Informanten, um über aktuelle Vorgänge auf dem Laufenden zu sein.256 Ihre militärische Funktion wurde durch Sulla auf das Gebiet ihrer eigenen Provinz beschränkt.257 Zur Unterstützung des Statthalters dienten verschiedene Apparitoren, u. a. Schreiber.258 Außerdem wurde je ein Quästor pro Provinz eingesetzt, der für die Verwaltung der Finanzen zuständig war.259 Jeder Statthalter hatte einen Rat (consilium) mit zivilen und militärischen Mitgliedern, dessen faktischer Einfluss auf seine Entscheidungen unterschiedlich stark war.260 Zudem wurden die Statthalter regelmäßig durch Senatoren als Legate begleitet, die ebenfalls als Berater fungierten, 261 während es strittig ist, ob sie auch als Aufpasser des Senats angesehen werden müssen.262 Die Statthalter erhielten manchmal Instruktionen vom Senat.263 Außerdem sandten sie regelmäßige Berichte an den Senat, wegen der Langwierigkeit der Kommunikation über Boten war diesem aber kaum eine effektive 248

Zum Verfahren näher Schulz, S.  53–61. Marquardt, Bd.  I, S.  243. 250 Mommsen, Bd.  I I, S.  255. 251 Lintott, Imperium Romanum, S.  28–32; Schulz, S.  93–98. 252 Überblick bei Wesch-Klein, S.  49–58. 253 Schulz, S.  200. 254 Wesch-Klein, S.  51. 255 Rainer, S.  6 4; Wesch-Klein, S.  52 f. 256 Schulz, S.  128–143. 257 Flower, S.  128 f.; Wesch-Klein, S.  60. 258 Lintott, Imperium Romanum, S.  51 f.; Schulz, S.  105, 143–154. 259 Marquardt, Bd.  I , S.  52; Schulz, S.  174–179. 260 Schulz, S.  179–184. 261 Lintott, Imperium Romanum, S.  50 f.; Schulz, S.  165–169. 262 So Bleicken, Verfassung, S.  205; anders Schulz, S.  297. 263 Lintott, Imperium Romanum, S.  4 4 f. 249

II. Herrschaftsorganisation

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Kontrolle möglich.264 Nach dem Ende ihrer Amtszeit mussten die Statthalter Rechenschaft ablegen.265 Die auf ein Jahr beschränkte Amtszeit wurde in vielen Fällen als Anreiz zur Ausplünderung der Provinz angesehen.266 Seit dem Jahr 149 wurde zwar ein eigenes Gericht zur Bekämpfung des Amtsmissbrauchs (quaestio de repetundis) eingerichtet.267 Entsprechende Klagen aus den Provinzen führten aber nur selten zum Erfolg.268 Weil die zunächst als Richter fungierenden Senatoren zu viel Nachsicht walten ließen, ersetzte ein Gaius Gracchus zugeschriebenes Gesetz sie durch Ritter, was jedoch zu dauernden Auseinandersetzungen führte und die Übergriffe nicht wirksam beendete.269 c) Lokale Organisation Es gab während der gesamten Zeit der Republik keine einheitliche Organisation der örtlichen Ebene in Italien und in den später eroberten Provinzen.270 Deshalb kann hier nur ein grober Überblick gegeben werden. Die Grundeinheiten auf dem römischen Gebiet außerhalb der Stadt Rom wurden als Landstadt (municipium) bezeichnet, während für die anderen Gebiete der Begriff der Gemeinde (civitas) verwendet wurde. Bei letzteren handelte es sich zum Teil um vorgefundene Städte, wie z. B. in den griechischen Gebieten, zum Teil um eroberte Stammesgebiete oder um Neugründungen der Römer.271 In dem von Rom annektierten Teil Italiens wurden viele neue Kolonien als kleine, geschlossene Ansiedlungen römischer Bürger gegründet, die eine gewisse Verwaltungsautonomie hatten und in Munizipien umgewandelt werden konnten. 272 Viele eroberte Städte erhielten den Status einer Gemeinde ohne Stimmrecht (municipium sine suffragio), so dass ihre Bewohner zwar römische Bürger waren, aber keine politischen Rechte besaßen.273 Vor allem in den Provinzen gab es weitere freie Städte mit einer einseitig gewährten Autonomie (civitates liberae) sowie untertänige tributpflichtige 264

Wieacker, S.  387; Schulz, S.  297. Wesch-Klein, S.  61. 266 Marquardt, Bd.  I , S.  539. 267 Marquardt, Bd.  I , S.  5 40; Richardson, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  115. 268 Von Lübtow, S.  658. 269 Meier, Res publica amissa, S.  71–84; Lintott, Imperium Romanum, S.  9 9–107; WeschKlein, S.  62. 270 Von Lübtow, S.  635: »buntes Mosaik«. 271 Marquardt, Bd.   I, S.  3; Galsterer, in Jehle/Pfeilschifter, S.  301–303; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  132; Wesch-Klein, S.  83 f., 88–90. 272 Galsterer, S.  36; s. a. Hinrichs, S.  12–14, 58–75; Dilke, S.  178–187. 273 Galsterer, DNP 8, Sp.  476 f. 265

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5. Kapitel: Rom

Städte (civitates stipendiariae), die aber ebenfalls ihre eigenen Institutionen behielten.274 Die hierfür geltenden Rechtsgrundlagen sind meist nicht überliefert. Erst im 1. Jahrhundert wurden sie etwas systematisiert.275 Allein in Italien muss es nach der Ausdehnung des Bürgerrechts auf alle Gemeinden ab dem Jahr 89 Hunderte von Stadtgesetzen gegeben haben, über die wenig bekannt ist.276 Aus den überlieferten Quellen lässt sich aber schließen, dass die Gemeinden meist eine ähnliche institutionelle Grundstruktur wie Rom mit einer Volksversammlung, einem Rat und gewählten Magistraten hatten. Die Volksversammlung der Gemeinde war für die Wahl der Magistrate und für die lokale Gesetzgebung zuständig.277 Die Abstimmung erfolgte nach Kurien.278 In den griechischen Gebieten führte der römische Einfluss dazu, dass den Besitzlosen das Stimmrecht entzogen wurde.279 Der Rat (curia) bestand in der Regel aus 100 Mitgliedern, die auf Lebenszeit amtierten, wobei alle oder ausgewählte Magistrate nach dem Ablauf ihrer Amtszeit in den Rat eintraten.280 Er wird als eigentliches Regierungsorgan einer Stadt bezeichnet 281 und hatte beratende und beschließende Funktionen.282 Die einzelnen Aufgaben wurden durch gewählte lokale Magistrate mit einem Jahr Amtszeit wahrgenommen.283 Für die Leitungsfunktion finden sich unterschiedliche Bezeichnungen wie z. B. Prätor oder Zweimänner (duoviri).284 Daneben gab es oft Ädile mit sicherheits- und sozialpolitischen Aufgaben, 285 manchmal Quästoren für die öffentlichen Finanzen 286 sowie Zensoren für die Volkszählung, die Vergabe von Bauaufträgen oder die Verpachtung von Gemeindeland.287 Eine klare Kompetenzverteilung zwischen den Gemeinden und dem römischen Staat gab es nicht, sie war Aushandlungssache.288 Meist mischten 274

Lintott, Imperium Romanum, S.  40 f.; Bleicken, Verfassung, S.  245. Marquardt, Bd.  I, S.  66; Galsterer, S.  15–24; Wieacker, S.  480. 276 Galsterer, in Jehle/Pfeilschifter, S.  303. 277 Marquardt, Bd.  I , S.  141. 278 Marquardt, Bd.  I , S.  146 f.; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  126. 279 Marquardt, Bd.  I , S.  209. 280 Marquardt, Bd.  I , S.  183 f.; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  128. 281 Ausbüttel, S.  43; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  129. 282 Marquardt, Bd.  I , S.  193. 283 Marquardt, Bd.  I , S.  154. 284 Dazu Galsterer, S.  120–128. 285 Marquardt, Bd.  I , S.  166 f.; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  130. 286 Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  126 f. 287 Galsterer, S.  115 f. 288 Galsterer, S.  11 f.; Lintott, Imperium Romanum, S.  57. 275

III. Verwaltungsfunktionen

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sich die Vertreter Roms aber kaum in die örtliche Verwaltung ein.289 Vielmehr ermöglichten sie einen lebendigen demokratischen Prozess in den Gemeinden der Provinzen.290 Allerdings gab es auch erhebliche Probleme mit Korruption.291 Während die Kolonien und nach dem Jahr 90 alle Gemeinden in Italien das römische Recht en bloc übernahmen, 292 galt es grundsätzlich nicht in den selbständigen Gemeinden.293 Diese konnten vielmehr ihr eigenes städtisches Recht bzw. das überlieferte griechische, jüdische, ägyptische etc. Recht in den Prozessen der eigenen Bürger anwenden.294 Das römische Recht beanspruchte keine universale Geltung, sondern zeichnete sich durch eine »variable Geometrie« aus.295 Schließlich gab es als unterste lokale Ebene noch das Dorf (vicus bzw. pagus), über dessen Rechtsstellung wenig bekannt ist. Die Dörfer konnten aber wohl über eigene Angelegenheiten in Versammlungen beschließen und jährlich einen Ortsvorstand wählen.296

III. Verwaltungsfunktionen Auch in der römischen Republik gab es keine strikte personelle Trennung zwischen militärischen, administrativen, judikativen und religiösen Funktionen im heutigen Sinn. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige zentrale Verwaltungsaufgaben und auf das Gebiet der Stadt Rom.

1. Bestandsaufgaben a) Öffentliche Finanzen Die römische Republik finanzierte sich durch drei regelmäßige Einnahmequellen: die Erträge des öffentlichen Grundbesitzes (ager publicus), die Ab289

Von Lübtow, S.  655; Roselaar, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  128. Matyszak, in Isakhan/Stockwell, S.  117. 291 Schulz, S.  2 37–239. 292 Nicolet, S.  4 6–48; Galsterer, S.  41–64; Wieacker, S.  514 f. 293 Galsterer, S.  131–134. 294 Galsterer, S.  117–120; Selb, S.  72; Lintott, Imperium Romanum, S.  55 f. 295 Ladeur, S.  2 3. 296 Marquardt, Bd.  I , S.  13; Galsterer, S.  27. 290

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5. Kapitel: Rom

gaben der eroberten Länder sowie die Zölle und andere indirekte Steuern.297 Die Verpachtung des öffentlichen Grund und Bodens wie auch der Schürfrechte in Bergwerken an Privatpersonen erfolgte durch die Zensoren.298 Für die Veräußerung öffentlichen Grundeigentums benötigten sie aber die Zustimmung durch einen Beschluss des Volkes oder des Senats.299 Die regulären und einmaligen Abgaben der eroberten Gebiete bildeten die Haupteinnahmequelle der Republik.300 Sie wurden allerdings nie vereinheitlicht, sondern konnten zwischen den Provinzen divergieren. Auch die Organisation war unterschiedlich. Während Steuern in den westlichen Provinzen durch die lokalen Behörden eingetrieben wurden, wurde diese Aufgabe in den östlichen Provinzen durch die Zensoren für eine Periode zwischen zwei Volkszählungen an in Gesellschaften organisierte Unternehmer (publicani) verpachtet.301 Die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Pächtern und Steuerpflichtigen erfolgte durch drei Richter (recuperatores), die vom Statthalter bestimmt wurden.302 Von ihren eigenen Bürgern zog die Republik nur für außerordentliche Ausgaben Steuern ein.303 Zur Aufbringung von Kriegskosten wurde eine außerordentliche Vermögenssteuer (tributum) erhoben. Sie wurde zum ersten Mal bei der Belagerung der etruskischen Stadt Veji um 400 eingeführt.304 Ab dem Jahr 167 konnte sie aufgrund der großen Kriegsbeute für die römischen Bürger ausgesetzt werden.305 Die Bestimmung der Steuern erfolgte grundsätzlich durch Gesetz,306 im Fall des tributum aber durch den Senat.307 Die Staatskasse wurde von den Quästoren verwaltet. Sie wurden zunächst von 27, nach Sulla von 36 quästorischen Schreibern unterstützt,308 die für die Führung der Rechnungsbücher zuständig waren.309 Eine Rech-

297

Marquardt, Bd.  II, S.  149; Nicolet, S.  228–239. Rainer, S.  89. 299 Mommsen, Bd.  I I, S.  438. 300 Dazu näher Lintott, Imperium Romanum, S.  70–85; Wesch-Klein, S.  75–78. 301 Nicolet, S.  2 31; Lintott, Imperium Romanum, S.  86–91; Bleicken, Verfassung, S.  111. 302 Schulz, S.  2 26–229. 303 Mommsen, Bd.  I I, S.  424. 304 Ausführlich Nicolet, S.  206–228. 305 Nicolet, S.  200 f.; Bleicken, Verfassung, S.  136. 306 Lintott, Constitution, S.  119. 307 Nicolet, S.  2 22; Bleicken, Verfassung, S.  94. 308 Mommsen, Bd.  I , S.  351. 309 Mommsen, Bd.  I , S.  347 f.; Lintott, Constitution, S.  137. 298

III. Verwaltungsfunktionen

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nungslegung wurde allerdings allein von den Quästoren gefordert.310 Einen festen Etat gab es in den Zeiten der Republik nicht.311 Die Bewilligung und Verteilung der Gelder erfolgte weitgehend durch den Senat.312 Die Quästoren konnten nur wiederkehrende Zahlungen, z. B. Apparitorengehälter, selbst anweisen, ansonsten musste ein Zahlungsauftrag des zuständigen Magistrats vorliegen.313 b) Öffentliches Bauwesen Die römische Republik kannte ein geregeltes Verfahren, in dem öffentliche Bauaufträge für Tempel, Wasserleitungen, Brücken etc. abgewickelt wurden. Die Bewilligung des Bauprogramms und der Gelder erfolgte durch den Senat.314 Für die Auftragsvergabe waren die Zensoren zuständig, die durch eine Versteigerung den privaten Unternehmer ermittelten, der die Baumaßnahme am billigsten durchführte.315 Auch der Bau der öffentlichen Straßen 316 war eine staatliche Aufgabe. Ihre Gesamtlänge wird auf 76.000 km geschätzt, wobei sie meist, aber nicht vollständig gepflastert waren.317 Die Kosten des Straßenbaus wurden in der Zeit der Republik aus öffentlichen Mitteln getragen.318 Die Vermessung der Fernstraßen erfolgte durch technische Einheiten des Heeres, während die Bauarbeiten durch private Unternehmer durchgeführt wurden, die von den Zensoren beauftragt wurden.319 In der Spätzeit der Republik gab es zudem das unregelmäßige Amt eines Straßenaufsehers (curator viarum), der möglicherweise für die Überwachung der Baumaßnahmen zuständig war.320 Auch die Instandhaltung der Straßen, Aquädukte und öffentlichen Gebäude zählte zu den Aufgaben der Zensoren.321 Nach einem Gesetz aus der Zeit Caesars war die Straßenerhaltung dagegen eine Pflicht der Anlieger, die von den Ädilen überwacht wurde.322 310

Mommsen, Bd.  I, S.  700. Marquardt, Bd.  II, S.  78. 312 Bleicken, Verfassung, S.  135. 313 Kunkel/Wittmann, S.  515 f. 314 Robinson, Ancient Rome, S.  48. 315 Waldstein/Rainer, S.  102; Schoenmaker, S.  68 f. 316 Zur Definition ausführlich Frühinsfeld, S.  171–231. 317 Frühinsfeld, S.  189. 318 Frühinsfeld, S.  192 f. 319 Ausbüttel, S.  101. 320 Frühinsfeld, S.  200–205, 215. 321 Mommsen, Bd.  I I, S.  437; Robinson, Ancient Rome, S.  96. 322 Mommsen, Bd.  I I, S.  505; Robinson, Ancient Rome, S.  59; Frühinsfeld, S.  193. 311

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5. Kapitel: Rom

2. Ordnungsaufgaben a) Bodenverwaltung Die Ursprünge der Landvermessung in Rom sind unklar.323 Möglicherweise wurden die ersten Vermessungen durch Priester (augures) durchgeführt.324 Grundstücksgrenzen wurden durch Grenzsteine markiert, deren Veränderung bereits im Zwölf-Tafel-Gesetz verboten wurde.325 Fragmente eines Katasters sind aus der Stadt Orange bekannt, sie stammen aus der frühen Zeit des Prinzipats.326 Überliefert ist, dass die Abgrenzung des öffentlichen Bodens an den Stadtgrenzen, am Flussufer sowie gegenüber Privatland und Straßen zu den Aufgaben der Zensoren zählte.327 Am Ufer des Tibers wurden in der Mitte des 1. Jahrhunderts Grenzsteine zur Markierung aufgestellt.328 Außerdem entschieden die Zensoren Grenzstreitigkeiten zwischen Privaten und der Gemeinde und beseitigten private Überbauten auf öffentlichem Grund.329 Öffentliches Land in den eroberten Gebieten wurde immer wieder entweder an einzelne Privatpersonen vergeben oder im Rahmen der Gründung von Kolonien aufgeteilt. Die entsprechenden Beschlüsse wurden manchmal, aber wohl nicht nur durch Plebiszite getroffen.330 Hierfür wurden ad hoc Siedlungskommissionen mit zehn Mitgliedern (decemviri agris dandis adsignandisque) geschaffen.331 Sie hatten zunächst keine feste Amtszeit, während sie später für ein Jahr gewählt wurden.332 In ihrer Aufgabe wurden sie durch Landvermesser (finitores) unterstützt, die als fachkundige Privatleute herangezogen wurden.333 Die Übertragung von privatem Grundeigentum (mancipatio) erforderte nach römischem Recht keine Beteiligung öffentlicher Amtsträger. Für die

323

Zur Überlieferung Dilke, S.  31–34. Frühinsfeld, S.  24–32. 325 Dilke, S.  98–108. 326 Dilke, S.  159–177. 327 Mommsen, Bd.  I I, S.  435. 328 Robinson, Ancient Rome, S.  9 0. 329 Mommsen, Bd.  I I, S.  4 61; Rainer. S.  91. 330 Hinrichs, S.  6 –12. 331 Kunkel/Wittmann, S.   6 41. 332 Mommsen, Bd.  I I, S.  632, Kunkel/Wittmann, S.  6 41. 333 Hinrichs, S.  76–92; Kunkel/Wittmann, S.  130; spätere Bezeichnungen bei Frühinsfeld, S.  35. 324

III. Verwaltungsfunktionen

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Wirksamkeit war es ausreichend, dass fünf Bürger als Zeugen und ein Waaghalter anwesend waren.334 b) Standardisierung Maße und Gewichte waren in der römischen Republik einheitlich, doch ist über ihre Bestimmung und Kontrolle wenig überliefert. Angeblich wurden sie schon von König Servius festgelegt.335 Vermutlich wurden Normalmaße im Juno-Tempel auf dem Kapitol aufbewahrt.336 Die Einhaltung der Standards wurde von den Ädilen überwacht, die falsche Maßgefäße einziehen konnten.337 Geprägte Kupfermünzen wurden in Rom erstmals in der Mitte des 5. Jahrhunderts genutzt.338 Sie bildeten das gesetzliche Zahlungsmittel, bis im Jahr 269 durch Gesetz die Silbermünze eingeführt wurde.339 Die Münzprägung war zunächst eine Aufgabe der Quästoren, die im Auftrag des Senats handelten.340 Später wurde hierfür ein eigenes Dreierkollegium der Münzmeister (tresviri aere argento auro flando feriundo) geschaffen, vermutlich am Ende des 3. Jahrhunderts.341 Außerhalb Roms hatten die Magistrate mit imperium das Recht, Münzen in ihrer Provinz zu prägen.342 c) Öffentliche Sicherheit In der römischen Republik gab es keine Polizei im institutionellen Sinn, aber funktionale Äquivalente.343 Die Sicherung der Einhaltung des Rechts durch die Bürger gehörte zu den Aufgaben verschiedener Magistrate. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Rechtsbefolgung in erster Linie durch den Respekt der Bürger vor Magistraten und den Konsens über die gesellschaftlichen Regeln gewährleistet wurde.344 Die Sorge für die öffentliche Sicherheit erfolgte zunächst vorzugsweise durch die Konsuln, die z. B. gegen das Waffentragen in der Stadt einschrit-

334

Waldstein/Rainer, S.  66. Hultsch, S.  155. 336 Hultsch, S.  88. 337 Mommsen, Bd.  I I, S.  499 f.; Nippel, Aufruhr, S.  29. 338 Hultsch, S.  257 f.; Zehnacker, S.  199 f. 339 Hultsch, S.  263, 267. 340 Kunkel/Wittmann, S.   516. 341 Ausführlich Zehnacker, S.  59–89; s. a. Klose, DNP 12/1, Sp.  786 f.; Rainer, S.  101. 342 Hultsch, S.  302 f.; Lintott, Imperium Romanum, S.  48 f. 343 Nippel, Aufruhr, S.  9. 344 Nicolet, S.  435; Nippel, Aufruhr, S.  19. 335

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5. Kapitel: Rom

ten oder Fremde ausweisen konnten.345 Mit der Kleinkriminalität hatten sie dagegen wenig zu tun.346 Da das Heer innerhalb der Stadtgrenze nicht zusammentreten durfte, stand es für reguläre Maßnahmen zur Sicherung der Ordnung nicht zur Verfügung.347 Aufgaben in diesem Bereich fielen vor allem den Ädilen zu. Sie waren etwa für die Überwachung des städtischen Verkehrs, die Wegnahme verbotener Waren, die Überwachung des Sklaven- und Viehmarktes mit dazugehörender Ziviljurisdiktion und für die schon genannte Überwachung der Instandhaltung der Straßen sowie ihrer Reinhaltung durch die Anlieger zuständig.348 Ob man dies als »umfassende Polizei- und Ordnungsgewalt« der Ädile im Stadtgebiet bezeichnen kann,349 ist allerdings zweifelhaft, denn eine polizeiliche Generalklausel gab es nicht. Zu Beginn des dritten Jahrhunderts wurde zusätzlich ein Dreimännerkollegium (tresviri capitales) geschaffen, dessen Mitglieder jährlich von der Volksversammlung gewählt wurden. Sie übernahmen einzelne Aufgaben im Bereich der öffentlichen Sicherheit, u. a. die namensgebende Aufsicht über Hinrichtungen.350 Sie übten die Strafgewalt für Sklaven und Unterschichten aus und trugen die Verantwortung für die Gefängnisse.351 Außerdem gehörte die Brandbekämpfung zu ihren Aufgaben, wobei sie von öffentlichen Sklaven unterstützt wurden.352 d) Lebensmittelversorgung Die Lebensmittelversorgung der stetig wachsenden Stadtbevölkerung war über die gesamte Zeit der Republik krisengefährdet.353 Die Sicherung der Ernährung wurde vermutlich seit dem 3. Jahrhundert zu einer staatlichen Aufgabe.354 Zunächst wurde nur im Fall einer unzureichenden Ernte die Beschaffung und Verteilung von Getreide durch die kurulischen Ädile organisiert.355 345

Mommsen, Bd.  II, S.  138 f. Robinson, Ancient Rome, S.  174. 347 Nippel, Aufruhr, S.  11. 348 Aufzählung bei Mommsen, Bd.  I I, S.  499–517. 349 So Waldstein/Rainer, S.  86; ähnlich König, S.  134. 350 Walter, S.  4 6. 351 Nippel, Aufruhr, S.  35; Robinson, Ancient Rome, S.  175–179; Rainer, S.  100. 352 Kunkel/Wittmann, S.  481; Robinson, Ancient Rome, S.  105; Lintott, Constitution, S.  142. 353 Tiersch, in Lundgreen, S.  191. 354 Robinson, Ancient Rome, S.  144–159; zur unklaren Quellenlage der frühen Republik Rickman, S.  28–36. 355 Mommsen, Bd.  I I, S.  502; Nicolet, S.  257–259; Rickman, S.  34–36. 346

IV. Rechtlicher Rahmen

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Ab dem Jahr 133 wurde die Verteilung von verbilligtem Getreide, das mit öffentlichen Mitteln beschafft wurde, als sozialpolitische Maßnahme durch ein Gesetz geregelt, das der Volkstribun Gaius Gracchus durchsetzte.356 Vermutlich wurden für seine Durchführung außerordentliche Magistrate (curatores) eingesetzt.357 Die staatliche Getreideausgabe war jedoch dauernd umstritten, so dass die gesetzlichen Regelungen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder verändert wurden.358 Noch weiter ging im Jahr 58 ein auf Initiative des Volkstribuns Publius Clodius Pulcher erlassenes neues Gesetz, das sogar die freie Vergabe von Getreide an Arme vorsah, über dessen Durchführung aber wenig bekannt ist.359 In der Folge kamen viele Arme aus den ländlichen Gebieten in die Stadt und lösten eine neue Versorgungskrise aus, die zu einer Neuorganisation durch Pompeius führte.360 Erst im Prinzipat wurde die Organisation der Getreideversorgung professionalisiert.361

IV. Rechtlicher Rahmen 1. Die Rechtsetzung Für das römische Recht und die staatlichen Institutionen sind drei Arten von Normen relevant: ius, mos, lex. Recht (ius) ist der Oberbegriff und umfasst auch das ungeschriebene Gewohnheitsrecht, die seit alters her praktizierte Rechtsausübung.362 Im öffentlichen Bereich spielte der Brauch (mos maiorum) eine wichtige Rolle. Damit wurden Normen insbesondere der Nobilität bezeichnet, welche die Arbeit der Institutionen regelten, aber kein Recht im engeren Sinn darstellten.363 Ab dem 2. Jahrhundert wurden solche Regeln zunehmend in Gesetze aufgenommen.364 Ob sie allerdings zur Zeit von Cicero keine praktische Bedeutung mehr hatten,365 ist zweifelhaft. 356

Nicolet, S.  259; Rickman, S.  48 f. Mommsen, Bd.  II, S.  671 f. 358 Rickman, S.  161–172; Thommen, S.  55–61; Robinson, Ancient Rome, S.  151; Tiersch, in Lundgreen, S.  190–203. 359 Nicolet, S.  263–267; Rickman, S.  52 f.; Nippel, Aufruhr, S.  110 f. 360 Rickman, S.  173–175. 361 Tiersch, in Lundgreen, S.  204–206. 362 Bleicken, Lex publica, S.  353; Stein, CKLR 1995, S.  1540. 363 Wieacker, S.  353: »vorrechtliche Leitvorstellungen der Moral des öffentlichen Handelns«. 364 Bleicken, Verfassung, S.  62. 365 So Robinson, Sources, S.  28. 357

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5. Kapitel: Rom

Von vorrangiger Bedeutung war jedoch das geschriebene Gesetz (lex).366 Wurde es von einer der Volksversammlungen erlassen (lex rogata), war es einem Senatsbeschluss oder einem magistratischen Dekret übergeordnet.367 Magistrate konnten allerdings auch Gesetze für ihren Aufgabenbereich erlassen (lex data), die aber nicht die Rechtsverhältnisse der Bürger berühren durften.368 Außerdem wurde unterschieden zwischen dem öffentlichen, allgemeinverbindlichen Gesetz (lex publica bzw. ius publicum) und dem privaten Recht (ius privatum), das Ausdruck der Rechtsgestaltung durch Individuen war und nur die Beteiligten binden konnte.369 Vorrang aber hatte das ius publicum.370 Eine nicht zu überschätzende Rolle in der Entwicklung des römischen Rechts kam dem Zwölf-Tafel-Gesetz zu. Nach der Überlieferung schickte der Senat um das Jahr 450 auf Betreiben der Volkstribune eine Kommission nach Griechenland, womit vermutlich die griechischen Siedlungen in Süd­ italien gemeint waren.371 Sie sollte sich über die dortigen Gesetze informieren.372 Im Anschluss daran beauftragte der Senat, wiederum auf Initiative der Volkstribune, einen Ausschuss mit zehn Mitgliedern (decemviri) damit, die römischen Gesetze niederzuschreiben. Die von ihnen verfassten Vorschriften wurden auf zwölf hölzernen Tafeln festgehalten. Nach der Überlieferung wurden sie durch einen Zenturiatsbeschluss angenommen.373 Es spricht aber mehr dafür, dass die Vollmacht des Ausschusses auch ihre Inkraftsetzung umfasste.374 Die Aufzeichnung des Rechts sollte die Bürger vor Willkür schützen.375 Sie zielte auf ein allen zugängliches, verständliches, allgemein geltendes Recht.376 Im Wesentlichen handelte es sich um eine Verschriftlichung des Gewohnheitsrechts.377 Einige Regelungen waren aber auch Ausdruck eines sozialen Reformwerks zum Schutz von Schuldnern.378 Da nur noch Frag-

366

Wieacker, S.  388; zum Begriff ausführlich Grziwotz, S.  50–61. Meier, Res publica amissa, S.  116 f.; Bleicken, Lex publica, S.  243. 368 Wieacker, S.  406 f. 369 Grziwotz, S.  153; Wieacker, S.  492 f.; Waldstein/Rainer, S.  42. 370 Von Lübtow, S.  620. 371 Mousourakis, S.  24; Barta, Bd.  I I/1, S.  584 f. 372 Manthe, S.  40; Zweifel bei Flach, S.  108, 110 mwN. 373 Jakab/Manthe, in Manthe, S.  245. 374 So von Lübtow, S.  300; Bleicken, Lex publica, S.  91; Waldstein/Rainer, S.  47. 375 Rainer, S.  68. 376 Kirchhof, S.  69–81. 377 Flach, S.  42; Waldstein/Rainer, S.  48. 378 Grziwotz, S.  128 f.; Waldstein/Rainer, S.  49 f. 367

IV. Rechtlicher Rahmen

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mente erhalten sind, ist nicht ganz klar, ob die Einordnung als »umfassende Kodifikation«379 zutreffend ist. Das Zwölf-Tafel-Gesetz regelte ausdrücklich, dass spätere Volksbeschlüsse frühere ändern können.380 Die Römer behielten aber ihre Gesetze so weit wie möglich bei,381 sie sollten möglichst unabänderlich sein.382 So galt auch das Zwölf-Tafel-Gesetz bis zum Ende des Reiches. Neue Gesetzesvorhaben zielten in erster Linie auf die Wiederherstellung der guten Ordnung, die allenfalls aufgrund aktueller Probleme korrigiert werden musste.383 Es handelte sich also häufig um »Anlaßgesetze«.384 Eine Passage des Zwölf-Tafel-Gesetzes wird als Verbot von Gesetzen in Bezug auf Einzelpersonen interpretiert.385 Allerdings waren die Gesetze der Volksversammlungen zunächst v. a. Einzelfallentscheidungen.386 Es gab in Zeiten der Republik keine klare Unterscheidung zwischen allgemeinen Normen und Einzelentscheidungen wie z. B. Weihung eines Tempels, Kriegserklärung, Landverteilung oder Ernennung eines außeramtlichen Magistrats.387 Die Gesetzesbeschlüsse behandelten sowohl außenpolitische Überlebensfragen des Staates als auch ganz triviale Gegenstände.388 Die Aufstellung von Normen für die Tätigkeit der Magistrate war nur ein möglicher Gegenstand der Gesetzgebung.389 Man kann aber festhalten, dass ab dem Ende des 4. Jahrhunderts alle wesentlichen Normen durch Volksbeschluss angenommen wurden.390 In den meisten Fällen handelte es sich um Plebiszite, die auf Initiative der Volkstribune beschlossen wurden.391 Jedenfalls in der mittleren Republik agierten diese aber meist in Übereinstimmung mit dem Senat.392 Von den kurulischen Magistraten wurden hauptsächlich Gesetze in außenpoliti-

379

Waldstein/Rainer, S.  47. Mommsen, Bd.  III, S.  361; Lintott, Constitution, S.  63. 381 Flach, S.  28 f. 382 Von Lübtow, S.  505; Grziwotz, S.  185. 383 Wieacker, S.  412; Robinson, Sources, S.  31; Bleicken, Verfassung, S.  128. 384 Grziwotz, S.  177; Wieacker, S.  425. 385 Cicero, De legibus, Buch III, 44; Robinson, Sources, S.  32. 386 Bleicken, Lex publica, S.   106–136, spricht von »situationsgebundenen« Gesetzen; ähnlich Kirchhof, S.  89. 387 Griwotz, S.  155 f.; Bleicken, Verfassung, S.  127 f.; Sandberg, S.  4; Walter, S.  6 4. 388 Williamson, S.   33. 389 Bleicken, Lex publica, S.  390. 390 Bleicken, Verfassung, S.  92 f. 391 Auflistungen bei Sandberg, S.  4 6–58; Williamson, S.  5 4 f.; ebenso Ferenczy, in Becker/Harder, S.  268; Rainer, S.  124; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  92. 392 Vgl. die Zusammenfassung bei Thommen, S.  127–147. 380

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5. Kapitel: Rom

schen Angelegenheiten eingebracht.393 In der späten Republik wurde eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, die aber letztlich keine stabilisierende Wirkung hatten.394 Insgesamt sind aus der Zeit der Republik etwa 750 Gesetze der Volksversammlungen bzw. Gesetzesvorschläge bekannt,395 von denen 541 Gesetze in der Zeit zwischen 350 und 44 erlassen wurden.396 Nur etwa 30 Gesetze betreffen den Bereich des Privatrechts,397 weil seine Fortentwicklung v. a. durch die Edikte der Prätoren erfolgte.398 Die große Mehrzahl hatte einen im heutigen Sinn staatsrechtlichen Inhalt. Gesetze wurden von Senatoren, Volkstribunen und anderen Mitgliedern der Elite formuliert und dann zunächst meist dem Senat vorgelegt, der auch Änderungen vornehmen konnte.399 In der späten Republik verzichteten die Volkstribune allerdings oft auf die Vorlage, doch konnte sich der Senat auch von sich aus mit Gesetzesentwürfen befassen.400 Der Gesetzesvorschlag musste 24 Tage vor der Volksversammlung im Wortlaut öffentlich bekannt gemacht werden, so dass ihn alle Bürger lesen konnten.401 Wenn nach der anschließenden öffentlichen Diskussion Änderungen vorgenommen werden sollten, musste der Entwurf zurückgezogen und das Verfahren erneut durchlaufen werden. Beschlossene Gesetze wurden in der späten Republik auf Bronzetafeln geschrieben, öffentlich aufgestellt und im Aerarium archiviert.402

2. Die Rechtsprechung Es ist schwierig, einen Überblick über die Organisation der Rechtsprechung in der römischen Republik zu gewinnen. Wie auch sonst in der Antike war die Unterscheidung von Zivil- und Kriminaljustiz im heutigen Sinn unbekannt, da es keine Staatsanwaltschaft gab.403 Bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts wurden auch keine ständigen Gerichte geschaffen. Viel393

Sandberg, S.  97. Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  191. 395 Williamson, S.   4. 396 Williamson, S. XVIII, mit Auflistung auf S.  451–473. 397 Auflistung bei Watson, S.  8 f.; s. a. Wieacker, S.  414–421. 398 Watson, S.  31–62; Wieacker, S.  4 62–470; Sandberg, S.  4 f. 399 Williamson, S.   8 0–94. 400 Thommen, S.  196 f. 401 Sandberg, S.  3. 402 Sandberg, S.  14; Waldstein/Rainer, S.  97. 403 Lintott, Constitution, S.  148. 394

IV. Rechtlicher Rahmen

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mehr lag die Rechtsprechung in den Händen der Magistrate und Senatoren. Bis zum Ende des vierten Jahrhunderts haben wohl auch die Priester eine Rolle bei der Auslegung des Rechts gespielt.404 Während der Senat keine eigenen Rechtsprechungsbefugnisse hatte, wurden wichtige Strafprozesse von öffentlichem Interesse vor einer Volksversammlung durchgeführt. Hierfür ging fast immer die Initiative vom Senat aus.405 In den meisten Fällen wurden Gerichtsverfahren jedoch von den verschiedenen Magistraten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich eingeleitet und von im Einzelfall bestimmten Richtern entschieden. Es musste sich bei dem Richter um einen Mann mit gutem Ruf (vir bonus) handeln, wobei bis zum 2. Jahrhundert nur Senatoren in Frage kamen.406 Seit der Epoche der Gracchen wurden Richterlisten mit mehreren Mitgliederkategorien geführt.407 Die Magistrate, insbesondere der Prätor, hatten im Rahmen der Prozesseinleitung die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes vorzunehmen, während der oder die Richter nur über Tatsachen bzw. die Schuldfrage entschieden. Deshalb konsultierte jeder Magistrat vor wichtigen Entscheidungen seinen Rat (consilium), der aus anderen Nobiles und kompetenten Personen bestand.408 Dadurch sollte die Ausübung magistratischer Gewalt nach Recht und Gesetz gewährleistet werden.409 In zwei besonderen Bereichen wurden eigene Gerichte eingesetzt. Für Prozesse über die Freiheit von Sklaven wurde nach dem Jahr 242 ein Zehn-Männer-Gericht (decemviri stlitibus iudicandis) geschaffen.410 Durch ein Gesetz von 201 wurden Präfekte für die Rechtsprechung in zehn Bezirken von Kampanien eingesetzt (praefecti Capuam Cumas). Sie wurden zunächst durch den römischen Prätor bestimmt, später durch die Tribuskomitien gewählt.411 Vermutlich gab es auch in anderen Teilen Italiens vom Prätor ernannte Präfekte mit einer Rechtsprechungsbefugnis, die sich nur auf römische Bürger bezog.412 Erst ab dem 2. Jahrhundert wurden in Rom für Strafprozesse anstelle des Volksgerichts bzw. der ad-hoc-Gerichte zunächst außerordentliche 404

Von Lübtow, S.  539 f.; Stein, CKLR 1995, S.  1541 f.; Waldstein/Rainer, S.  4 4 f. Meier, Res publica amissa, S.  123. 406 Mommsen, Bd.  I II, S.  529; Nicolet, S.  4 49; Bleicken, Verfassung, S.  142 f. 407 Mommsen, Bd.  I II, S.  529–534. 408 Dazu näher Wieacker, S.  554–556. 409 Kunkel/Wittmann, S.   136. 410 Kunkel/Wittmann, S.  536–539; Flach, S.  2 20. 411 Williamson, S.   271. 412 Galsterer, S.  31–33; Wieacker, S.  479 f. 405

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5. Kapitel: Rom

Geschworenengerichte (quaestiones) eingesetzt, die durch den Senat einberufen wurden. Ab dem Jahr 149 wurden sie durch ein Gesetz zu ständigen Institutionen (quaestiones perpetuae).413 Der Vorsitz wurde in der Regel vom Prätor wahrgenommen. Die Richter wurden bis zum Jahr 123 nur aus den Senatoren ausgewählt, während die Mitgliedschaft danach auf die Ritter ausgeweitet wurde und ab dem Jahr 70 zu je einem Drittel aus Senatoren, Rittern und Ärartribunen, über die wenig bekannt ist, bestand.414 Ein Rechtsmittel zur Volksversammlung bestand nicht. Abgesehen von den Verfahren vor der Volksversammlung war somit die Rechtsprechung in der mittleren Republik ausschließlich in der Hand der Magistrate und Senatoren, während der Kreis der Richter erst in der späten Republik auf weitere Teile der gesellschaftlichen Elite erweitert wurde. Seit dem 2. Jahrhundert ist die Tätigkeit von Juristen überliefert, die v. a. im Zivilrecht beratende Funktion hatten.415 Es gab jedoch während der republikanischen Zeit keine Rechtsschulen, sondern der Rechtsunterricht erfolgte in Lehrzeiten bei älteren Juristen.416 Angesichts des Fehlens einer professionellen Justiz verwundert es nicht, dass es keine Pflicht gab, Urteile zu begründen.417

3. Die Rechtsbindung Inwieweit die Gesetze die Tätigkeit der Magistrate inhaltlich determinierten, lässt sich anhand der spärlich überlieferten Dokumente kaum rekon­ struieren. Literarisch gut bezeugt ist aber das Selbstverständnis der Republik, dass das Recht die Amtsträger bremsen und die Freiheit (libertas) der Bürger sichern soll.418 Die Rechtsgleichheit der Bürger, die sich nicht als Untertanen betrachteten,419 war schon seit dem 5. Jahrhundert anerkannt.420 Bei Cicero findet sich die Formulierung, wonach ein Magistrat ein spre-

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Mousourakis, S.  77–82. Thommen, S.  115; Bleicken, Verfassung, S.  147 f.; Mousourakis, S.  79. 415 Watson, S.  101–110; zu ihrer sich erweiternden sozialen Herkunft Wieacker, S.  528– 531, 614 f. 416 Wieacker, S.  563–566. 417 Kischel, Begründung, S.  16 f.; zur juristischen Arbeitsweise näher Wieacker, S.  572– 595. 418 Bleicken, Verfassung, S.  216; zur Bedeutung der Freiheit z. B. Mouritsen, S.  10–12; Walter, S.  57 f. 419 Von Lübtow, S.  316. 420 Nicolet, S.  71 f. 414

IV. Rechtlicher Rahmen

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chendes Gesetz und ein Gesetz ein stummer Magistrat ist.421 Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass das Gleichgewicht der Republik auf einem Wechselverhältnis zwischen dem Befehlsrecht der Magistrate und dem Gehorsam der Bürger beruhte, weil sie die Rollen tauschen können.422 Livius meinte, ganz ähnlich wie in Athen, dass Gesetze regieren sollten, nicht Magistrate, Senat oder Volksversammlung.423 Alle Magistrate mussten gegenüber dem Leiter der Volksversammlung schwören, gegen kein Gesetz zu verstoßen.424 Fünf Tage nach ihrem Amtsantritt erfolgte in Anwesenheit des Quästors eine Vereidigung auf die Gesetze und am letzten Amtstag musste erneut vor versammeltem Volk ein Eid über die Achtung der Gesetze und die gewissenhafte Pflichterfüllung abgelegt werden.425

4. Der Rechtsschutz Die Rechtsordnung der römischen Republik kannte nur zwei Verfahren, die zumindest auch dazu dienten, die Rechte der Bürger zu schützen. Zum einen konnten die Bürger gegen bestimmte Strafen eine Entscheidung der Volksversammlung herbeiführen. Zum anderen konnten Entscheidungen der Magistrate durch eine Interzession anderer Magistrate aufgehoben werden. Insbesondere war es eine zentrale Aufgabe der Volkstribune, Beschwerden der (plebejischen) Bürger zu prüfen. Jeder Vollbürger hatte angeblich schon durch ein Gesetz aus dem Jahr 509,426 tatsächlich aber wohl erst nach einem Gesetz aus dem Jahr 300,427 das Provokationsrecht (ius provocationis).428 Er konnte damit eine Entscheidung der Zenturiatkomitien oder über die Volkstribune eine Entscheidung der plebejischen Versammlung herbeiführen, um ihn vor der Tötung oder einer körperlichen Bestrafung durch Magistrate ohne ein Gerichtsverfahren zu bewahren.429 Dieses Recht spielte aber praktisch keine 421

Cicero, De legibus, Buch III, 2. Cicero, De legibus, Buch III, 5. 423 Zitat bei Bleicken, Lex publica, S.  425. 424 Mommsen, Bd.  I , S.  620. 425 Grziwotz, S.  47. 426 Rainer, S.  5 4. 427 Flach, S.  61 mwN. 428 Mommsen, Bd.  I , S.  163. 429 Ausführlich von Lübtow, S.  252–298; s. a. Nippel, Aufruhr, S.  13; Waldstein/Rainer, S.  58. 422

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5. Kapitel: Rom

Rolle, weil die Magistrate von dieser Befugnis keinen Gebrauch machten, sondern das Verfahren gleich vor die Volksversammlung brachten.430 Bei jeder magistratischen Entscheidung waren die beschwerten Bürger berechtigt, die gleich- oder übergeordneten Magistrate (par maiorve potestas) anzurufen.431 Diese Möglichkeit bestand grundsätzlich im Bereich der gesamten Jurisdiktion des Magistrats, außer bei Entscheidungen mit einem Konsilium, wofür sich häufige Beispiele im Zivilprozess finden.432 Das Recht der Interzession konnte allerdings durch Spezialgesetz ausgeschlossen werden, etwa für die Wahlen der patrizischen Magistrate und Volkstribune.433 Für den Schutz der Freiheit war insbesondere die Interzession der Volkstribune wichtig.434 Sie konnten allerdings nur in der Stadt Rom tätig werden. Deshalb fehlte ihre Kontrollfunktion gegenüber der Tätigkeit der Magistrate in den Provinzen. Ihr Einspruch konnte sich gegen jeden Magistrat richten, außer gegen einen Diktator435 oder gegen einen Spruch im Zivilprozess.436 In erster Linie ging es um administrative Entscheidungen, wie z. B. die Heranziehung zum Militärdienst oder Steuerfragen.437 Die Volkstribune wurden in der Regel, aber nicht notwendig auf Antrag des betroffenen Bürgers tätig.438 Hierzu entwickelten sie ein kontradiktorisches Verfahren.439 Insbesondere prüften sie Entscheidungen mit freiem Ermessen.440 Es gab aber keinen Automatismus, dass sie zugunsten der Bürger entschieden.441 Ihre kassatorische Tätigkeit diente vielmehr als Korrektiv.442 Aus der späten Republik sind allerdings nur wenige Fälle überliefert.443

430

Mousourakis, S.  37. Cicero, De legibus, Buch III, 11. 432 Mommsen, Bd.  I , S.  274. 433 Mommsen, Bd.  I , S.  286. 434 Nicolet, S.  429 f. 435 Mommsen, Bd.  I , S.  270. 436 Mommsen, Bd.  I , S.  272; ein Gegenbeispiel bei Bleicken, Volkstribunat, S.  8 0 f. 437 Bleicken, Volkstribunat, S.  78–83. 438 Bleicken, Volkstribunat, S.  82; Thommen, S.  2 33. 439 Mommsen, Bd.  I , S.  279. 440 Mommsen, Bd.  I I, S.  291. 441 Nippel, Aufruhr, S.  18. 442 Mommsen, Bd.  I I, S.  309. 443 Dazu Thommen, S.  2 33–241. 431

V. Fazit

195

V. Fazit 1. Der Herrschaftstyp Die römische Republik hatte keine Verfassung im formellen Sinn,444 weil alle Volksbeschlüsse durch neue geändert werden konnten. Zwar gab es charakteristische Grundstrukturen für die gesamte Dauer der Republik.445 Diese wurden aber immer wieder flexibel gehandhabt.446 Außerdem haben die Römer ihre eigene Verfassungsordnung kaum abstrakt reflektiert.447 Einigkeit bestand nur, dass die Monarchie (regnum) eine absolut verbotene Herrschaftsform war.448 Die Überlieferung, dass ein Gesetz aus dem Jahr 509 das Vorhaben der Wiedereinführung der Königsherrschaft zum todeswürdigen Verbrechen erklärte, dürfte jedoch eine Legende sein.449 In den erhaltenen Texten wird das römische Gemeinwesen meist mit dem Begriff populus bezeichnet.450 Deshalb wird behauptet, dass nach dem Verständnis der antiken Autoren die Souveränität des populus Romanus die Grundlage der republikanischen Verfassung war.451 Auf der anderen Seite wurde im Verkehr mit anderen Staaten regelmäßig die Selbstbezeichnung als senatus populusque Romanus gewählt, was als Beleg für die Bedeutung der Nobilität herangezogen wird.452 Die einzige zeitgenössische Typisierung stammt von dem griechischen Historiker Polybios, der gegen Ende der mittleren Republik zu erklären versuchte, wie der römische Staat seine Stabilität erreichte. Nach seiner Auffassung war das Erfolgsrezept eine Kombination von einem monarchischen Element in der Form der Konsuln, die über alle staatlichen Angelegenheiten, v. a. die Kriegsführung, entscheiden konnten, einem aristokratischen Element in Form des Senats, der v. a. über Einkünfte und Ausgaben verfügte, und einem demokratischen Element in der Form der Volksversammlung, als deren Kompetenzen er als erstes die Entscheidung über Eh444

Bleicken, Lex publica, S.  344 Fn.  24 aE; Lintott, Constitution, S.  200; Rainer, S.  13. In diesem Sinn will Ferenczy, in Becker/Harder, S.  275–280, einige »Grundgesetze« definieren, die als »Rückgrat der Verfassung und Pfeiler der bürgerlichen Freiheit« dienten; krit. Grziwotz, S.  58. 446 Walter, S.  79–82. 447 Wieacker, S.  373 f. 448 Bleicken, Lex publica, S.  341 f.; Lintott, Constitution, S.  31. 449 Flach, S.  63. 450 Von Lübtow, S.  4 69. 451 Giovannini, in Eder, Staat, S.  406 f.; Sandberg, S.  1. 452 Bleicken, Verfassung, S.  211; die Kombination findet sich auch in umgekehrter Reihenfolge, vgl. Jehne, in Lundgreen, S.  120. 445

196

5. Kapitel: Rom

rungen und Strafen, dann die Vergabe der Ämter, erst dann die Annahme von Gesetzen und als wichtigstes die Beratung über Krieg und Frieden nannte.453 Diese Konzeption der Mischverfassung war bis in die Neuzeit einflussreich. Die Einordnung der römischen Republik in die Lehre von den Staatsformen ist jedoch bis heute umstritten. Ein Teil der Literatur betont, dass es sich nicht um eine Demokratie handelte, weil das Volk nie selbst regiert habe.454 Vielmehr habe es sich um eine Aristokratie gehandelt,455 weil »trotz demokratischer Formen letztlich doch immer der Adel herrschte«.456 Daneben findet man auch die Einordnung als »konstitutionelles Senatsregime«457 oder als »plutokratische Oligarchie«.458 Andere betonen dagegen, dass es sich wegen des ausschließlichen Rechts der Volksversammlungen, Gesetze zu beschließen und die Magistrate zu wählen, um eine Demokratie459 bzw. eine Form der Volkssouveränität460 gehandelt habe. Die Differenzen sind, wie kaum vermeidbar, darin begründet, dass die Diskussion durch moderne Annahmen und Idealisierungen beeinflusst wird.461 Die ohnehin lückenhaften Überlieferungen werden je nach der eigenen Tendenz sehr unterschiedlich interpretiert. Der Kern des Problems besteht jedoch in einer zweifellos vorhandenen erheblichen Abweichung zwischen der normativen Ordnung der Institutionen auf der einen Seite und der praktischen Verteilung der Macht auf der anderen Seite. Nicht nur Mommsen462 , sondern auch Polybios wird deshalb eine formalistische Herangehensweise vorgeworfen, welche die Praxis vernachlässige.463 Für die Frage, wie demokratisch die Republik war, kommt es in erster Linie auf eine Bewertung der Rolle der Volksversammlungen an. Die Einwände gegen ihre Einordnung als demokratisch betreffen im Wesentlichen

453

Polybios, Buch VI, 11–18; Zusammenfassung bei Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  142–153. 454 Nicolet, S.  521; Williamson, S.  118. 455 Bleicken, Lex publica, S.  517; Lintott, Constitution, S.  2 2; Mouritsen, S.  147; Meier, Kultur, S.  17; Waldstein/Rainer, S.  91; Capogrossi Colognesi, in Pihlajamäki/Dubber/Godfrey, S.  207. 456 Wesel, S.  124. 457 Meier, Res publica amissa, S.  125. 458 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  175. 459 Millar, S.  210. 460 Waldstein/Rainer, S.   96. 461 Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  383 f. 462 Siehe oben Fn.  4 4. 463 Mouritsen, S.  6 .

V. Fazit

197

drei Punkte: den Abstimmungsmodus, das rigide Verfahren und die geringe tatsächliche Beteiligung. Keine der römischen Volksversammlungen stimmte wie die athenische ekklesia als Plenum ab, in dem alle Stimmen gleich zählten. In den Zenturiatkomitien, die v. a. für die Wahl der wichtigsten Magistrate sowie für Entscheidungen über Krieg und Frieden zuständig waren, kam es zu einer erheblichen Ungleichheit durch die Unterteilung nach Vermögensklassen, deren Abgrenzung nicht genau bekannt ist.464 Problematisch ist auch der Abstimmungsmodus nach der Reihenfolge der Klassen, der allerdings nur dann relevant wurde, wenn die oberen Klassen einheitlich stimmten.465 Auch wenn die Bezeichnung als »Abstimmungsorgan der Oberklasse«466 zu stark vereinfacht, gab es zweifellos eine Bevorzugung der Wohlhabenden.467 In der Endzeit der Republik gab es Vorschläge zur Abschaffung der Klassen, die aber nicht verwirklicht wurden.468 Gesetze, die keine außenpolitischen Angelegenheiten betrafen, wurden dagegen fast ausschließlich in der Tribusversammlung verabschiedet. Diese war nicht nach Vermögen eingeteilt und hatte keine feste Reihenfolge der Abstimmung, so dass sie als egalitärer eingeschätzt wird.469 Ihre Zusammensetzung bevorteilte zwar quantitativ die Landbevölkerung, diese war jedoch weniger abkömmlich, so dass sich dieser Effekt relativierte.470 Insgesamt war es weniger wahrscheinlich, dass sie im Sinn der Elite abstimmte.471 Der zweite Einwand macht geltend, dass die Volksversammlungen nicht souverän waren, sondern nur der Akklamation dienten.472 Bei der Gesetzgebung durften sie nur über die Anträge der Magistrate abstimmen. Es fand weder eine Diskussion statt noch waren Änderungsanträge möglich.473 Es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen ein Gesetzesantrag in der Abstimmung durchgefallen ist.474 Deshalb habe das Volk seinen Willen nicht äußern können.475 464

Dazu Yakobson, S.  43–48. Wieacker, S.  396 f.; ausführlich Yakobson, S.  48–54. 466 So Wesel, S.  165; ablehnend Yakobson, S.  59. 467 Millar, S.  204. 468 Taylor, S.  9 9. 469 Finer, S.  398; Wesel, S.  167; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  95. 470 Wieacker, S.  390. 471 North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  263. 472 Meier, Res publica amissa, S.  120 f.; Mouritsen, S.  67. 473 Rainer, S.  125; Ferrary, in Barrandon/Kirbihler, S.  35, spricht von einer Ratifikation. 474 Mouritsen, S.  6 4, nennt fünf bekannte Fälle; anders Bleicken, Lex publica, S.  271. 475 Bleicken, Lex publica, S.  245; ähnlich Wieacker, S.  412. 465

198

5. Kapitel: Rom

Allerdings ist zu beachten, dass Gesetzentwürfe nicht nur regelmäßig im Senat, sondern auch öffentlich in einer eigenen vorgeschalteten offenen Versammlung (contio) diskutiert wurden.476 Diese wurde ebenfalls von einem Magistrat einberufen und geleitet, der Redebeiträge pro und contra zuließ.477 Die Redner waren v. a. Senatoren, während sich einfache Leute nicht an Diskussionen beteiligten, aber Beifall oder Ablehnung äußerten.478 Es gibt viele Belege dafür, dass das rhetorische Geschick von großer Bedeutung war.479 Diese Beratungen, die sich auch auf mehrere Tage erstrecken konnten, hatten durchaus Einfluss auf die Gesetzgebung. Die Vorstrukturierung der Abstimmung in den Volksversammlungen ist keine Besonderheit, da etwa auch in Athen alle Vorschläge zuerst im Rat der Fünfhundert beraten werden mussten.480 Ohnehin ist die Lehre vom »Volkswillen« problematisch, weil sie auf einer fiktiven Personalisierung der Menge beruht.481 Volksabstimmungen sind auch in der Gegenwart immer durch eine Reduzierung auf Ja/Nein-Fragen gekennzeichnet. Ihre inhaltliche Präformierung erfolgt notwendig in den vorausgehenden Verfahren, in denen der zur Beschlussfassung gebrachte Text festgelegt wird. Dass die Wahl in den Volksversammlungen nur eine Bestätigung der Vorschläge des leitenden Magistrats war, ist möglicherweise für die frühe Republik richtig.482 Seit dem 2. Jahrhundert gab es dagegen eine intensive Konkurrenz bei Wahlen und regelmäßig eine Auswahl zwischen mehr Kandidaten als Ämtern, die zu besetzen waren.483 Weil es üblich wurde, die Bewerbungen früh bekannt zu geben, gab es einen »permanenten Wahlkampf«.484 Die Wähler trafen ihre Entscheidung jedenfalls in der späten Republik nicht in erster Linie nach persönlichen Abhängigkeiten im Klientelverhältnis, dessen Bedeutung durch die ältere Forschung übertrieben wurde,485 sondern einerseits nach persönlichen Bindungen wie Verwandtschaft oder Zugehörigkeit zur gleichen Stadt oder Region, und andererseits nach der Einschätzung der Verdienste des Kandidaten, sei es seiner famili476

Taylor, S.  2 f.; Nicolet, S.  386–391; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  93. Taylor, S.  15–19; Sandberg, S.  3; Pina Polo, in du Plessis/Ando/Tuori, S.  93. 478 Mouritsen, S.  4 6; Williamson, S.  109; Moreau, in Sineux, S.  212 f.; Walter, S.  61; skeptisch Millar, S.  46. 479 Millar, S.  218–220; Williamson, S.  62–80; s. a. Wieacker, S.  6 62–675. 480 Siehe oben S.  118. 481 Dagegen Groß, Kollegialprinzip, S.  168–173. 482 Yakobson, S.  5 4. 483 Jehne, in Jehne, S.  5 4; Bleicken, Verfassung, S.  212–214; Mouritsen, S.  126; Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  82 f. 484 Jehne, in Jehne, S.  51. 485 Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  394; Mouritsen, S.  74 f. 477

V. Fazit

199

ären Abstammung, sei es seiner persönlichen Leistung.486 Immer wieder sind Maßnahmen gegen Wählerbestechung bezeugt, doch war die Abgrenzung zu legalem Verhalten ständig umstritten, so dass auch der Erfolg der Regelungen kaum zu ermitteln ist.487 Über die gesamte Zeit der Republik wurde das direktdemokratische System beibehalten, das die persönliche Anwesenheit der Bürger in der Volksversammlung voraussetzte. Man kann auch davon ausgehen, dass ein großer Teil der Bevölkerung eine hinreichende Schrift- und Lesekompetenz als Voraussetzung für die politische Kommunikation besaß.488 Je größer aber die Bürgerschaft wurde, desto geringer wurde der Anteil derjenigen, die faktisch teilnehmen konnten. Zudem wuchs mit der Ausdehnung des Staatsgebiets, das schließlich ganz Italien umfasste, die Entfernung zur Stadt Rom, was die Anreise stark erschwerte. Konkrete Teilnehmerzahlen sind nicht überliefert, so dass man nur aus der Größe der Versammlungsbereiche und der Dauer von Wahlen bzw. Abstimmungen Rückschlüsse ziehen kann. Es spricht aber viel dafür, dass sich nur eine kleine Minderheit tatsächlich beteiligt hat.489 Wenn so die faktische Partizipationsquote aus heutiger Sicht »lächerlich gering« war, ist doch zu beachten, dass dies in der zeitgenössischen Debatte nie als Problem angesehen wurde.490 Bei den vorbereitenden Versammlungen geht man von einer maximalen Beteiligung von vielleicht 20.000,491 oder aber nur von 4.000 bis 5.000 Personen aus,492 wobei auch zu beachten ist, dass den Rednern keine technischen Hilfsmittel zur Verfügung standen, um ihre Stimme zu verstärken. Für die Mitte des 1. Jahrhunderts wird geschätzt, dass bei Wahlen wahrscheinlich nur 4 % aller Bürger tatsächlich anwesend waren.493 Es gibt aber durchaus Berichte, dass es vor kontroversen Abstimmungen, wie z. B. über die Agrargesetze des Tiberius Gracchus494 oder die Aufhebung von Ciceros Exilierung,495 eine große Mobilisierung gab. Auch vor wichtigen Wahlen

486

Meier, Res publica amissa, S.  7–10. Nicolet, S.  418; Yakobson, S.  22–43; Jehne, in Jehne, S.  58–75; Karataş, S.  25–245. 488 Nicolet, S.  517 f. 489 Von Lübtow, S.  307 f.; Lintott, Constitution, S.  203. 490 Jehne, in Lundgreen, S.  125. 491 Millar, S.  2 24. 492 Mouritsen, S.  25. 493 Nicolet, S.  395–398; Williamson, S.  106; nach Mouritsen, S.  32, waren es höchstens 3 Prozent. 494 Williamson, S.  5 f. 495 Millar, S.  149–155. 487

200

5. Kapitel: Rom

kam es zur Werbung von Wählern in ganz Italien, z. B. durch Cicero oder Caesar.496 Zu problematisieren ist auch die Einordnung des Senats als Aristokratie. Ab der mittleren Republik war die Mitgliedschaft nicht mehr erblich, sondern hing von der Voraussetzung der Volkswahl in eine Magistratur ab.497 Die Zahl der Patrizierfamilien war ständig rückläufig und ihre Angehörigen hatten keine Garantie, ein Amt zu erhalten.498 Zwar gab es aufgrund der großen Reputation der führenden Familien faktisch Elemente des Erbadels.499 So kamen von den 355 Konsuln, die von 218 bis 49 im Amt waren, vier Fünftel aus dreißig Familien, die aber in der Mehrheit Plebejer waren.500 Über die gesamte mittlere und spätere Republik hatten nie weniger als 70 % der Konsuln Vorfahren, die dieses Amt bereits bekleidet hatten.501 Letztlich war es aber die indirekte Volkswahl des Senats, die ihm Legitimität gab.502 Außerdem war dadurch gewährleistet, dass ihm nur Personen angehörten, die schon Erfahrungen in mindestens einem Amt gesammelt hatten.503 Somit erweist sich die Dichotomie zwischen Demokratie und Aristokratie als nicht geeignet, um die Besonderheiten der römischen Republik zu erfassen. Ihr Funktionieren setzte das Zusammenwirken der verschiedenen Institutionen voraus, ohne dass ein Teil dominierte.504 Die Macht des Volkes, die sich darin ausdrückte, dass der Volksbeschluss die oberste Rechtsquelle war und alle Magistrate durch die Volksversammlung gewählt wurden, war ein wichtiges Element des republikanischen politischen Systems.505 Das Volk hat allerdings nicht die politische Initiative ergriffen,506 sondern die Führungsrolle der Elite akzeptiert.507 Deshalb kann man die Rolle der Volksversammlung besser als Schiedsrichter charakterisieren, der dann einschritt, wenn sich die Elite nicht einig war.508 Die nobiles kannten die Bedeutung des Volkes für ihre Karriere.509 496

Taylor, S.  67; Millar, S.  29 f.; Yakobson, S.  61. Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  74. 498 Millar, S.  4. 499 Waldstein/Rainer, S.  103; Gehrke, in Gehrke, S.  491. 500 Taylor, S.  105. 501 Walter, S.  13. 502 Yakobson, S.  2 32; s. a. König, S.  29: »Hort politischer Erfahrung«. 503 Bleicken, Verfassung, S.  91. 504 Von Lübtow, S.  2 38; Yakobson, S.  2 31. 505 Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  385. 506 Finer, S.  390 f. 507 Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  398; Jehne, in Lundgreen, S.  134. 508 Millar, S.  95; Yakobson, S.  48; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  275. 509 Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  386. 497

V. Fazit

201

Man kann deshalb sagen, dass die Volkswahlen das System stabilisierten, da dadurch eine externe Instanz über die Rivalitäten innerhalb der Elite entschied.510 Die meisten Bürger haben zwar nicht selbst eingegriffen, aber die Politik musste ihnen erklärt werden, um ihre Unterstützung zu bekommen.511 Ihre Beteiligung war quantitativ wie qualitativ geringer als in der athenischen Polis, aber gegen die Bürgerschaft konnte letztlich niemand regieren.

2. Die Struktur der Verwaltung Es bedarf keiner ausführlichen Begründung, dass die römische Republik nicht durch eine Gewaltenteilung im modernen Sinn gekennzeichnet war.512 Während die Gesetzgebung in einem Zusammenwirken von Magistraten und Volksversammlung sowie meist auch des Senats erfolgte, lag die Erfüllung der administrativen Aufgaben in den Händen der verschiedenen Magistrate. Die Rechtsprechung wurde von den Prätoren dominiert, aber als entscheidungsbefugte Instanz fungierten entweder die Volksversammlung, ad hoc ausgewählte Richter oder später die ständigen Gerichte, deren Mitglieder zunächst ausschließlich aus dem Senat, später auch aus der weiteren Elite stammten. Ob man die Magistrate als Zentrum der Republik 513 bzw. als eigentlichen Inhaber der Staatsgewalt514 ansieht oder ihre obrigkeitliche Gewalt als Mandat der Komitien betrachtet,515 hängt von der Interpretation der institutionellen Ordnung ab. Die Magistrate waren kein Kollektiv und können deshalb nicht mit einer Regierung gleichgesetzt werden.516 Die Verteilung der staatlichen Aufgaben auf eine Vielzahl von Magistraten, die untereinander nicht in einem Hierarchieverhältnis standen, diente vielmehr ebenso zur Verhinderung von Machtkonzentration wie Annuität und Kollegialität.517 Dadurch bestand ein kompliziertes System von Intra- und Interorgankontrollen, die gewährleisten sollten, dass keine Einzelpersonen die

510

Jehne, in Lundgreen, S.  134; Walter, S.  66. Bleicken, Lex publica, S.  272; Nicolet, S.  517; Walter, S.  27. 512 Von Lübtow, S.  313 f.; Bleicken, Lex publica, S.  55; Ausbüttel, S.  3. 513 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  185. 514 Waldstein/Rainer, S.   76. 515 Mommsen, Bd.  I , S.  2 26 f. 516 Millar, S.  212; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  266. 517 Von Lübtow, S.  2 34; Bleicken, Verfassung, S.  200 f.; Finer, S.  406. 511

202

5. Kapitel: Rom

Macht im Staat an sich reißen konnten.518 Die einzige reguläre Ausnahme war die Diktatur, die aber nur selten in militärischen Notzeiten eingerichtet wurde und zeitlich streng begrenzt war. Dagegen gab es anders als in Athen kaum Mechanismen der Rechenschaft, da die städtischen Ämter im kleinen Kreis der Elite blieben und keine öffentliche Kontrolle erwünscht war. Nur für die Statthalter war eine Berichtspflicht vorgesehen, da bei ihnen die kollegialen Kontrollmechanismen nicht griffen. Aber auch der Senat kann nicht als Regierung qualifiziert werden.519 Er dominierte zwar die Außenpolitik, hatte im innenpolitischen Bereich aber v. a. eine Beratungsfunktion gegenüber den Magistraten, derer er bedurfte, um seinen Beschlüssen Geltung zu verschaffen.520 Nur im Rahmen der Finanzverwaltung traf er selbst wichtige Entscheidungen, die dann von den Quästoren ausgeführt wurden. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass es schon immer, insbesondere aber in der späten Republik eine enge personelle Verknüpfung zwischen dem Senat und den Magistraten gab, da sie ihm alle ab dem Ende ihres ersten Amtes angehörten. Dies führt zu der Frage, wie das riesige römische Reich mit einem so außerordentlich kleinen Verwaltungsapparat funktionieren konnte.521 In der späten Republik gab es vierundvierzig höhere Magistrate und fünfzig untere Magistrate, neben den vigintisexviri 522 noch vierundzwanzig Militärtribune, die aber keine administrativen Aufgaben wahrnahmen.523 Außerdem wurden manchmal ad hoc Kommissionen eingesetzt, wie z. B. für die Landverteilung in den Kolonien. Daneben kam natürlich auch den Apparitoren eine wichtige Rolle als kontinuierliches Element des Verwaltungsapparats zu. Sie hatten aber nach den Quellen kein politisches Gewicht.524 Außerdem war ihre Zahl begrenzt. Durch ihre Unterordnung unter die Magistrate und die Beschränkung auf Hilfsaufgaben bildeten sie keine Beamtenschaft im modernen Sinn.525 Weil die gewählten Magistrate von den Apparitoren sowie ihrem Konsilium unterstützt wurden, wurde ein Fachwissen gerade nicht vorausgesetzt.526 Dagegen spricht schon, dass viele Personen mehrere Ämter hinter518

Bleicken, Lex publica, S.  411. Millar, S.  209; anders mit Hinweis auf die Außenpolitik Walter, S.  5: »Quasi-Regierung«. 520 Walter, S.  5 4. 521 Nicolet, S.  435. 522 Siehe oben S.  168. 523 Mouritsen, S.  126; Walter, S.  45 f. 524 Bleicken, Verfassung, S.  9 9. 525 Rainer, S.  59 f. 526 Waldstein/Rainer, S.  8 0; unzutreffend von Lübtow, S.  18. 519

V. Fazit

203

einander wahrgenommen haben. Die Kompetenz der Mitglieder der Elite für zivile und militärische Aufgaben wurde vielmehr einfach angenommen.527 Durch die enge Begrenzung der in Frage kommenden Personen gab es offensichtlich hinreichende Mechanismen, um die Wahl Unfähiger in höhere Ämter zu verhindern.528 Da die Besetzung der meisten Ämter jährlich wechselte und keine fachliche Qualifikation erforderlich war, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die römische Republik »in … kaum faßlichen Maße unbürokratisch« war,529 wenn man nicht sogar eine »unglaublich niedrige Entwicklungsstufe« des römischen Verwaltungswesens selbst in Zeiten höchster politischer Blüte konstatiert.530 Ein Grund dafür, dass ein Reich, das am Ende der Republik den gesamten Mittelmeerraum beherrschte, mit dem Verwaltungsapparat eines Stadtstaates funktionieren konnte, liegt zunächst in der institutionellen Kontinuität. Die Zahl der Ämter musste klein bleiben, damit die Nobilität die Kontrolle behalten konnte.531 Deshalb kam etwa die Aufstellung einer ständigen Polizeitruppe nicht in Frage, da eine solche Stärkung der Exekutive nicht mit dem Staatsverständnis vereinbar war.532 Dies hatte den Vorteil, dass die Kosten der Verwaltung in den Zeiten der Republik sehr beschränkt waren.533 Möglich wurde dies auch dadurch, dass Aufgaben wie die Durchführung öffentlicher Baumaßnahmen oder der Steuereinzug auf private Unternehmer oder im Fall der Straßeninstandhaltung auf die Bürger übertragen wurden. Ein zweiter Grund ist in der weitgehenden Dezentralisierung der Herrschaft außerhalb Roms zu finden. In Italien gab es ab dem 3. Jahrhundert ein »staatsrechtlich kaum definierbares Bündel inkorporierter, angegliederter und verbündeter Gemeinden«.534 Auch in den außeritalischen Gebieten übernahmen oder schufen die Römer Strukturen einer lokalen bzw. regionalen Selbstregierung. Diese Gemeinden verwalteten sich nicht nur selbst, sondern sie behielten meist auch ihre eigene Rechtsordnung und bildeten eher »unvollständige Staaten«, als dass sie als Teil des populus Roma-

527

North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  265. Meier, Res publica amissa, S.  192. 529 Kunkel/Wittmann, S.  105; ähnlich Finer, S.  406. 530 Hirschfeld, S.  428. 531 Bleicken, Verfassung, S.  135. 532 Meier, Res publica amissa, S.  157. 533 Marquardt, Bd.  I I, S.  98. 534 Galsterer, S.  1. 528

204

5. Kapitel: Rom

nus angesehen werden konnten.535 Sie erfüllten eine unverzichtbare Mittlerfunktion, so dass eine zentral gesteuerte oder kontrollierte Verwaltung für die eroberten Gebiete überflüssig war.536 Weil die einheimischen Führungsschichten der Provinzen kooptiert und nicht ersetzt wurden, behielten sie immer eine wichtige Stellung.537 Auch dort kam man mit erstaunlich wenigen Magistraten aus der lokalen Oberschicht aus, die allerdings ebenfalls durch Hilfspersonal unterstützt wurden.538 Das zentrale Verbindungsglied zwischen den lokalen Instanzen in den Provinzen und der römischen Zentrale waren die Statthalter. Sie hatten zwar »praktisch die Stellung absoluter Monarchen«,539 mussten aber mit einem kleinen Stab auskommen, denn sie hatten maximal sechs offizielle und etwa zehn inoffizielle Mitarbeiter.540 Ihre Aufgabe beschränkte sich deshalb weitgehend auf eine Art Oberaufsicht und die Schlichtung von Konflikten, insbesondere wenn römische Bürger beteiligt waren. Dagegen standen sie nicht in einer effektiven Kommunikation mit Rom.541 Allerdings gab es daneben weitere Informationskanäle. So dienten amtlose Senatoren öfters als Bindeglied zu Städten oder Provinzen, z. B. solchen, die sie früher selbst verwaltet hatten.542 Obwohl schon im ersten Jahrhundert zusätzliche Ämter mit speziellen Aufgaben entstanden, erfolgte eine wesentliche Vergrößerung des Apparates erst in der Kaiserzeit.543 Ob man allerdings davon sprechen kann, dass nach dem Übergang zum Prinzipat eine zentrale Bürokratie geschaffen wurde,544 bedürfte einer genaueren Überprüfung, die hier nicht zu leisten ist. Jedenfalls blieb die Autonomie der Städte in Italien und in den Provinzen zunächst erhalten, ohne dass es zu einer Vereinheitlichung kam.545 Eine größere, dauerhafte und juristisch ausgebildete Verwaltung entstand erst in der späten Kaiserzeit.546

535

Galsterer, S.  23 f.; s. a. Wieacker, S.  368: »stadtstaatliches Trägerskelett«; Capogrossi Colognesi, in Pihlajamäki/Dubber/Godfrey, S.  226: »Empire of Cities«. 536 Galsterer, S.  3; Waldstein/Rainer, S.  165. 537 Stahl, S.  45; Schulz, S.  118; Cline/Graham, S.  193; Walter, S.  2 3. 538 Galsterer, S.  126 f. 539 Meier, Res publica amissa, S.  35; ähnlich Lintott, Imperium Romanum, S.  97. 540 Schulz, S.  291; Wesch-Klein, S.  17. 541 Schulz, S.  124. 542 Meier, Res publica amissa, S.  35 f. 543 Guter Überblick bei Robinson, Ancient Rome, passim. 544 Stahl, S.  70; Nicolet, S.  437. 545 Näher Lintott, Imperium Romanum, S.  129–153. 546 Bleicken, Lex publica, S.  513; Ausbüttel, S.  195; Wesel, S.  154.

V. Fazit

205

3. Die Rolle des Rechts Unser Verständnis des römischen Rechts ist dadurch geprägt, dass sich schon nach dem Ende der Republik der Schwerpunkt des Interesses der Juristen auf das Zivilrecht richtete und auch nur dieses in den europäischen Rechtsordnungen rezipiert wurde. Dagegen wurde das öffentliche Recht weder in der Republik noch im Kaiserreich insgesamt dargestellt oder wissenschaftlich durchdrungen.547 Erschwerend kommt hinzu, dass die institutionelle Ordnung stark durch die Tradition geprägt war, die zwar vielfach durch Gesetze ergänzt und verändert, aber nie vollständig geregelt wurde.548 So scheint es sicher zu sein, dass die Stellung des Senats überwiegend auf mos549 bzw. auctoritas550 beruhte. Diese Betonung der Tradition führte zu einem Konservativismus bei der Gestaltung der institutionellen Ordnung.551 Dennoch kam es immer wieder zu Reformen. Nach der Meinung der römischen Historiographen erfolgten alle wesentlichen Veränderungen der Staatsorganisation durch Gesetze der Volksversammlungen, was allerdings angesichts ihrer fragmentarischen Überlieferung nicht nachweisbar ist.552 Die römische Republik war durch eine erheblich größere Produktion von Gesetzen geprägt als die athenische Polis. Vor allem in der späten Republik wurden durchschnittlich pro Jahr fünf Gesetze in Volksversammlungen verabschiedet.553 Soweit sie innenpolitische Fragen betrafen, entschied praktisch immer die Tribusversammlung auf Antrag der Volkstribune.554 Deshalb spricht einiges für die Einschätzung, dass die Gesetzgebung ein zentrales Element für die Entwicklung der römischen Gesellschaft war.555 Der größte Teil des öffentlichen Rechts betraf die Ämter der Republik.556 In der Zeit von 350–25 regelten etwa 54 % aller Gesetze institutionelle Fragen.557 Jedenfalls lässt sich nachweisen, dass eine Ausnahmemagistratur 547

Wieacker, S.  493 f. Von Lübtow, S.  310; Grziwotz, S.  179; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  256; Walter, S.  25. 549 Lintott, Constitution, S.  6 6; Sandberg, S.  28; Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  25. 550 Wieacker, S.  376. 551 Stewart, S.  2. 552 Bleicken, Lex publica, S.  348 f. 553 Williamson, S.  7 f. 554 Sandberg, S.  111. 555 Williamson, S. XII; s. a. Bleicken, Verfassung, S.  150. 556 Bleicken, Verfassung, S.  202. 557 Vgl. die Aufstellung bei Williamson, S.  36. 548

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5. Kapitel: Rom

nur durch einen Volksbeschluss ins Leben gerufen werden konnte.558 Auch die Grundordnungen einer Kolonie oder einer Gemeinde konnten nur durch Gesetz geschaffen werden.559 Demgegenüber wurde die praktisch wichtige Unterscheidung zwischen Magistraturen und Promagistraturen mit der gleichen Amtsgewalt rechtlich nicht fixiert.560 Man wird also auch für die späte Republik wohl nicht von einem institutionellen Gesetzesvorbehalt ausgehen können.561 Die inhaltliche Vorprägung des Handelns der Amtsträger durch Gesetze war dagegen gering entwickelt. Zudem gab es kaum rechtlich gesicherte Verfahren zum Schutz der Bürger vor Willkür. Selbst gegen die Entscheidung der Zensoren über den sozialen Status eines Bürgers, die zum Verlust der Mitgliedschaft im Senat führen konnte, gab es kein Rechtsmittel. Die Magistrate unterlagen anders als in Athen keiner generellen Rechenschaftspflicht. Eine strafrechtliche Verfolgung von Amtsmissbrauch gab es ersichtlich nur in seltenen Fällen. Das Provokationsrecht gegenüber körperlichen Sanktionen spielte keine Rolle. Der Erfolg einer Beschwerde bei den Volkstribunen war von deren Wohlwollen abhängig. Deshalb ist der Aussage, wonach die römische Republik ein Rechtsstaat war,562 nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Zwar gab es Gesetze, in denen die Aufgaben der Ämter definiert wurden. Die Kontrolle durch die gleich- oder übergeordneten Magistrate oder die Volksversammlung wurde aber nur selten ausgeübt und war wohl kein effektiver Mechanismus, um die Beachtung der Gesetze zu gewährleisten. Ansätze eines Verwaltungsrechts wird man deshalb in deutlich geringerem Umfang erkennen als in der athenischen Polis.563

4. Die Funktionsweise der Herrschaft Die politische Ordnung der Republik war durch »eine bemerkenswerte Konsistenz und Konstanz« gekennzeichnet.564 Zu ihrer Erklärung lassen 558

Mommsen, Bd.  II, S.  711; Beispiele aus dem 3. Jahrhundert bei Bleicken, Volkstribunat, S.  47. 559 Lintott, Constitution, S.  12; Wesch-Klein, S.  91. 560 Walter, S.  34. 561 So aber wohl Bleicken, Lex publica, S.  122. 562 Von Lübtow, S.  2 33. 563 Noch enger für die Zeit nach der Republik Robinson, Ancient Rome, S.  42: »There was hardly any administrative law in the strict sense during the Principate«. 564 Walter, S.  96.

V. Fazit

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sich einige Faktoren nennen, die in diesem Rahmen nur knapp behandelt werden können. Gleichzeitig sind auch die Gründe zu aufzuzeigen, die zu ihrem Ende führten. Für die erfolgreiche territoriale Expansion war offensichtlich die Schlagkraft der römischen Armee von entscheidender Bedeutung. Ihre milizförmige Organisation spielte daneben eine wichtige Rolle für die Ausformung der Institutionen der Republik, denn die Notwendigkeit der Einziehung vieler Leichtbewaffneter und später auch Hopliten begünstigte die politische Gleichstellung der Plebs.565 Im Zweiten Punischen Krieg standen zeitweise 30 %, später dauerhaft zwischen 10 und 20 % der Bürger unter Waffen.566 Erst als in der späten Republik Berufsarmeen entstanden, konnten diese von ehrgeizigen Politikern als Machtinstrument in den Bürgerkriegen genutzt wurden, weil die Soldaten wirtschaftlich vom Erfolg ihrer Befehlshaber abhängig waren.567 In wirtschaftlicher Hinsicht ist wie in Athen von einer erheblichen Bedeutung der Sklaverei auszugehen.568 Sklaven wurden nicht nur in der Landwirtschaft, in Bergwerken oder auf Handelsschiffen eingesetzt, sondern sie übernahmen auch vielfältige Aufgaben, die intellektuelle bzw. technische Fertigkeiten voraussetzten.569 In der Spätzeit der Republik haben sie vermutlich ein Drittel der gesamten Bevölkerung Italiens ausgemacht.570 Von großer ökonomischer Bedeutung waren aber auch die Tributzahlungen der eroberten Gebiete, etwa für die Getreideversorgung der Hauptstadt. Dass es dem Senat nicht gelang, eine dauerhafte Lösung dieser Problematik zu erfinden, so dass sich von Tiberius Gracchus bis Caesar immer wieder einzelne Politiker der Frage annahmen, wird hingegen als ein Faktor für die Destabilisierung der Institutionen angesehen.571 Eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der institutionellen Ordnung war die hierarchische Strukturierung der Gesellschaft nach Ehre, Rang und Würde.572 Anders als in der athenischen Polis traten die sozialen Unterschiede in der römischen Republik nicht in den Hintergrund, sondern sie präformierten die politischen Auseinandersetzungen, bis die Kohärenz der Führungsschicht in den Krisen der Spätzeit verloren 565

Raaflaub, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  137; Waldstein/Rainer, S.  24 f. Nicolet, S.  153; Walter, S.  20. 567 Meier, Res publica amissa, S.  3 f.; Nicolet, S.  184–199; Yakobson, S.  2 31. 568 Wieacker, S.  363–366 mwN. 569 Capogrossi Colognesi, in Pihlajamäki/Dubber/Godfrey, S.  213. 570 Mousourakis, S.  42. 571 Tiersch, in Lundgreen, S.  207. 572 Walter, S.  11. 566

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5. Kapitel: Rom

ging. Inwiefern allerdings die Klientelbeziehungen zwischen Patriziern und einfachen Bürgern das politische Geschehen prägten, ist umstritten. Sie führten wohl in den frühen Zeiten zu einer starken Abhängigkeit und ermöglichten eine Blockabstimmung in der Volksversammlung.573 Ihre Bedeutung nahm aber über die Jahrhunderte ab574 und fand möglicherweise durch die Einführung der geheimen Abstimmung in den Volksversammlungen ihr Ende.575 Wichtiger war vermutlich die besondere Homogenität und Geschlossenheit der Führungsschicht der Nobilität.576 Auch wenn es sich nicht um einen Erbadel handelte, spielten die führenden Familien eine enorme Rolle bei der Besetzung der führenden Ämter. Dennoch war die Nobilität nie eine vollständig abgeschlossene Gruppe, denn auch »neue Leute« konnten dorthin vordringen.577 Allerdings kamen sie meist nur bis zum Amt des Prätors.578 Da Rom viel offener für die Aufnahme Fremder in das Bürgerrecht war als andere Städte in der Antike,579 wurde im ersten Jahrhundert auch den Oberschichten der italischen Städte der Weg in den Senat geöffnet.580 Die Führungsschicht achtete lange Zeit erfolgreich auf das Gleichgewicht mit der Plebs. Schon Polybios analysierte, dass der Senat wegen des Vetorechts der Volkstribune das Volk fürchtete und auf es Rücksicht nehmen musste.581 Solange die beiden Machtzentren mit Plebs und Volkstribunen auf der einen Seite sowie den kurulischen Magistraten und dem Senat auf der anderen Seite kooperierten, war die Republik stabil.582 In der späten Republik geriet diese »langwierig-stabile Konfliktkonstellation«583 immer wieder aus dem Gleichgewicht, worin sich eine Vertrauenskrise zwischen Senat und Volk ausdrückte.584 Zwar wurde die Entmachtung des Volkstribunats durch Sulla nach seiner Abdankung wieder rückgängig gemacht, was von Cicero, der zu den Optimaten gehörte, als unvermeidlich darge-

573

Bleicken, Verfassung, S.  186; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  269. Meier, Res publica amissa, S.  24–34. 575 North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  274; differenziert Yakobson, S.  65–111. 576 Meier, Res publica amissa, S.  49; Hölkeskamp, Nobilität, S.  241. 577 Hölkeskamp, Nobilität, S.  205; Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  390. 578 Walter, S.  14. 579 Nicolet, S.  40. 580 Galsterer, S.  2 ; Wesch-Klein, S.  18. 581 Polybios, Buch VI, 16. 582 Sandberg, S.  143 f.; North, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  269. 583 Walter, S.  41. 584 Meier, Res publica amissa, S.  128. 574

V. Fazit

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stellt wurde, um das Volk nicht Demagogen zu überlassen.585 Dieser Schritt rettete die republikanische Ordnung aber nicht. Die starke Zunahme der politischen Gewalt in der späten Republik war Ausdruck und Folge der schwindenden Funktionsfähigkeit der Institutionen.586 Der Vorrang persönlicher Interessen Einzelner und der Verlust des Konsenses über die Grundnormen der Republik führten zu ihrem Untergang.587 Begünstigt wurde dies durch die Vergrößerung des Staates, denn sie unterminierte die Verfassungsordnung, die auf einen Stadtstaat zugeschnitten war.588 Zwar kann die Ausweitung des Bürgerrechts am Anfang des 1. Jahrhunderts, wodurch der Stadtstaat zu einem römischen Staat in Italien wurde,589 als ein Instrument des imperialen Erfolges angesehen werden.590 Die Instabilität der Peripherie außerhalb Italiens ermöglichte aber den Aufstieg einzelner Personen und unterminierte das Gleichgewicht der Institutionen.591 Von dort gingen die militärischen Aktionen aus, die zur Diktatur des Sulla, des Triumvirats und Caesars führten. Sie beseitigten den Schutz der Freiheit, die als charakteristisch für Republik angesehen wurde.592 Die im Senat vertretene Führungselite war nicht mehr in der Lage, einen Ausgleich herbeizuführen, so dass der Übergang zu einem mehr oder weniger monarchischen System als Ausweg angesehen wurde, um die gewaltsamen Auseinandersetzungen zu beenden.

585

Cicero, De legibus, Buch III, 26. Nippel, Aufruhr, S.  54–58. 587 Grziwotz, S.  312–316. 588 Meier, Res publica amissa, S.  151–161. 589 Williamson, S.  2 29; s. a. Flower, S.  112: »proto-nation-state«. 590 Walter, S.  55. 591 Walter, S.  5. 592 Nicolet, S.  434. 586

Bilanz I. Formen der Herrschaftsorganisation Gegenstand dieser Untersuchung sind die Fragen, wie antike Staaten organisiert waren und wie sie die Legitimation der Ordnung sicherten, aber auch wie sie ihre alltäglichen öffentlichen Aufgaben erfüllten. Um die vergleichende Analyse der Erkenntnisse, die für die vier Herrschaftsordnungen gewonnen werden konnten, zu strukturieren, erweisen sich die Grundmodelle, die vom englischen Politologen Samuel Finer für seine sehr breit angelegte historisch-vergleichende Regierungslehre entwickelt wurden, als anschlussfähig. Finer unterscheidet die vier Haupttypen Palast, Forum, Adel und Kirche, die auch in Kombinationen vorkommen können.1 Als Palast bezeichnet er ein autokratisches Herrschaftssystem, in dem der Monarch seine Legitimation in der Regel aus einer göttlichen Quelle bezieht.2 Der Typ des Forums ist dagegen gekennzeichnet durch eine offene, vielköpfige Herrschaft, in der die Legitimation vom Volk ausgeht.3 Daneben nennt er als dritten Typ die Adelsherrschaft, die aber historisch eine geringe Rolle spiele, da sie in reiner Form nur sehr selten vorkomme.4 Schließlich gilt ihm die Herrschaft durch eine Kirche als vierter Typ, die in reiner Form aber nur in Tibet verwirklicht gewesen sei.5 Diese Kategorisierung vermeidet einige Schwächen der überlieferten Einteilung der Herrschaftstypen in Monarchie, Aristokratie und Demokratie, die zuerst bei Herodot zu finden ist6 und später vor allem durch Aristoteles verbreitet wurde.7 Der Begriff der Monarchie ist jedenfalls heute nicht mehr mit der Herrschaft eines Einzelnen, d. h. eines Königs, 1

Finer, S.  37. Finer, S.  38–43. 3 Finer, S.  43–47. 4 Finer, S.  47; Beispiele bei Herzog, S.  116–140. 5 Finer, S.  50. 6 Cartledge, S.  73. 7 Aristoteles, Politik, 3. Buch, 7. 2

212

6. Kapitel: Bilanz

gleichzusetzen. Vielmehr gibt es in Europa einige Beispiele dafür, dass ein monarchisches Staatsoberhaupt mit einer parlamentarischen Demokratie vereinbar ist, wie es z. B. Art.  1 Abs.  3 der Verfassung Spaniens aus dem Jahr 1978 ausdrücklich vorsieht. Entscheidend ist also nicht die Staatsform, sondern die Konzentration der Entscheidungsmacht bei einer Person, die man mit Begriffen wie Diktatur oder Autokratie besser erfassen kann. Hierfür steht bei Finer das Modell des Palastes. Noch weniger eindeutig ist der Begriff der Demokratie. Obwohl er im Kern immer durch den Anspruch der Herrschaft des Volkes gekennzeichnet ist, 8 gab es historisch sehr unterschiedliche Erscheinungsformen. Bis heute bedeutet er nicht, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner eines Staates politische Mitwirkungsrechte haben, sondern nur die stimmberechtigten Staatsbürger. Dies führt in allen Staaten zu einem mehr oder weniger großen Ausschluss von Teilen der Bevölkerung.9 Heute sind dies in Deutschland noch drei Gruppen: die ausländischen Bewohnerinnen und Bewohner, die zur Zeit etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, die Minderjährigen, wobei die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht in einigen Bundesländern auf 16 Jahre herabgesetzt wurde, und die unter Betreuung stehenden Personen, die nicht zu einer eigenständigen Wahlentscheidung in der Lage sind. In den antiken Republiken war der Anteil der Mitwirkungsberechtigten durch den Ausschluss der Frauen und der Sklaven weitaus geringer. Ist das aber ein wesentlicher Unterschied beim Grad der Inklusion?10 Dazu müsste man definieren, ab welchem Anteil der Mitwirkungsberechtigten an der Gesamtbevölkerung von einer Demokratie gesprochen werden kann. So waren etwa in Großbritannien im Jahr 1831 nur etwa 2 % wahlberechtigt. Bis zum Jahr 1884 erfolgte ein Anstieg auf 22 %.11 Oder setzt eine Demokratie voraus, dass auch die Frauen wählen bzw. abstimmen dürfen, weil nur dadurch die Schwelle der Hälfte der Bevölkerung überschritten werden kann? Dann müsste man der athenischen Polis bescheinigen, dass sie den Begriff Demokratie zu Unrecht verwendet hat. Letztlich gibt es für die Bewertung der historischen Entwicklung keine klare quantitative Lösung.12 Aufgrund der schrittweisen Ausdehnung des Beteiligungsrechts lässt sich keine eindeutige Grenze zwischen Oligarchie 8 Wagner,

in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  63. Jellinek, S.  717–719. 10 So Wagner, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  60. 11 Finer, S.  4 4. 12 Finer, S.  4 4 f. 9

I. Formen der Herrschaftsorganisation

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und Demokratie ziehen.13 Das Modell des Forums umgeht diese Schwierigkeit und stellt entscheidend auf die Öffentlichkeit der Herrschaftsausübung ab, deren Legitimation vom Volk ausgeht. Es ist mit sehr unterschiedlichen Auswahlkriterien für den Bürgerstatus vereinbar. Der dritte Grundtypus der klassischen Einteilung ist die Aristokratie im Sinne der Herrschaft der Besten. Hier ist schon der Begriff tendenziös, da er eine Überlegenheit einer kleinen Gruppe behauptet,14 obwohl weder ein Erbadel noch andere Auswahlkriterien gewährleisten können, dass tatsächlich die Besten herrschen. Deshalb ist der Begriff der Oligarchie, d. h. der Herrschaft der Wenigen, präziser.15 Er hat zwar auch einen negativen Anklang, doch dies resultiert aus der heute jedenfalls in Europa herrschenden Bevorzugung der Demokratie als der einzig legitimen Form der Herrschaft der Vielen. Die vier hier untersuchten Herrschaftsordnungen lassen sich den Typen Palast (Ägypten, Assyrien) und Forum (Athen, Rom) zuordnen, auch wenn es zum Teil Abweichungen von den Idealtypen gibt. Insbesondere sind in allen Herrschaftsformen oligarchische Elemente nachweisbar. In einer Monarchie ist der König auf die Unterstützung durch die höchsten Amtsträger angewiesen. In der Demokratie muss die Meinungsbildung (mehr oder weniger) durch Eliten vorgeprägt werden.16 Auf solche Besonderheiten ist an den jeweiligen Stellen einzugehen.

1. Die Staatsleitung Die Leitungsfunktion eines Staatswesens ist im Typus des Palastes auf die Person des Herrschers konzentriert, während es im Typ des Forums immer mehrere Institutionen gibt, in denen sich insgesamt die Volksherrschaft manifestiert. a) Palast Die königliche Alleinherrschaft ist das charakteristische Merkmal des Herrschaftstypus des Palastes. Die Monarchie war der Regelfall der Herrschaft im Altertum.17 Zwar gab es im Vorderen Orient auch verschiedene 13 Leppin,

in Beck, S.  147. in Beck, S.  515. 15 Leppin, in Beck, S.  154. 16 Yakobson, S.  2 33. 17 Rebenich/Wienand, in Rebenich, S.  2. 14 Walter,

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6. Kapitel: Bilanz

Beispiele einer Einschränkung der Alleinherrschaft durch Versammlungen bzw. Ältestenräte, die als Mischformen separat behandelt werden.18 Erst die griechische Polis bildete aber ein eindeutig akephales Gegenmodell. Die Konzentration der Herrschaft in der Person des Königs zeichnet sich dadurch aus, dass er in Ägypten wie in Assyrien sowohl allgemeine Anordnungen in der Form von Edikten als auch Befehle in konkreten Einzelfällen erteilen konnte. Wie oft und wie detailliert sich die Könige in bestimmte Vorgänge, wie z. B. öffentliche Baumaßnahmen, eingemischt haben, war offensichtlich sehr unterschiedlich. Nur sehr wenige Belege gibt es dafür, dass sich die Monarchen mit Rechtsprechungsangelegenheiten beschäftigt haben, obwohl sie in einigen Quellen als oberste Richter bezeichnet werden. Auch wenn die Monarchie im Altertum die übliche Herrschaftsorganisation darstellte, war sie nicht selbstverständlich, sondern bedurfte einer externen Legitimation, weil sie sonst ihre Autorität nicht aufrechterhalten konnte.19 Diese Rechtfertigung der Herrschaft konnte nur aus der religiösen Sphäre stammen. Im gesamten Alten Orient wurden die Herrscher als Verbindungsglied zwischen den Menschen und dem Kosmos der Götter angesehen.20 Ihre Legitimation leitete sich von dem jeweiligen Hauptgott ab, d. h. in Ägypten von Ra und in Assyrien von Assur. Spiegelbildlich wurden sie auch als nur den Göttern verantwortlich angesehen.21 Weder das Volk noch der Adel oder andere Eliten waren in der Theorie von Relevanz. Allerdings gilt auch für diese frühe Periode die Einsicht, dass keine politische Herrschaftsordnung und keine Rechtsordnung auf Dauer zu bestehen vermag, wenn sie nicht in den Augen derer, von denen sie Zustimmung und Befolgung erwartet, als gerechtfertigt erscheint.22 Bei Polybios findet sich die Aussage, dass eine Alleinherrschaft nur dann Königtum heißen kann, wenn sie von den Untertanen anerkannt wird und das Regiment mit Einsicht und nicht mit Gewalt und Terror führt.23 Das Verhältnis zwischen dieser faktischen Legitimation durch Anerkennung und der theoretischen Legitimation durch die Götter wirft allerdings schwierige Fragen auf, die hier nicht vertieft werden können. Weil es keine organisierte Form der Mitwirkung des Volkes gab, musste der Bürgerstatus nicht erfasst werden. Weder aus Ägypten noch aus Assy 18

Siehe unten S.  217 ff. Finer, S.  28. 20 Finer, S.  29. 21 Harris, in Harris, S.  8 . 22 Forst/Günther, in Forst/Günther, S.  12. 23 Polybios, Buch VI, 4. 19

I. Formen der Herrschaftsorganisation

215

rien sind formalisierte Verfahren zur Registrierung der Bürgerschaft bekannt. In den neuassyrischen Königsinschriften wurden die Assyrer als Diener des Königs oder als Untertanen des Gottes Assur bezeichnet.24 Daneben gab es allerdings die Zugehörigkeit zu Städten, die in einigen Rechtsurkunden eine Rolle spielt. Auch für die Übertragung eines Amtes gab es offensichtlich keine festen Voraussetzungen. In Ägypten konnte sogar das höchste Amt des Wesirs an Personen vergeben werden, die nicht aus dem Kerngebiet des Landes stammten. In Assyrien wurden zwar die Führungspositionen in neuen Provinzen oft mit Personen besetzt, die aufgrund ihres Namens als Assyrer identifizierbar sind. Im neuassyrischen Reich wurde die Führungselite jedoch multiethnisch.25 b) Forum Ob das Forum-Modell seinen historischen Ursprung in einer generellen Struktur der indogermanischen Stammesgesellschaften mit König, Ältestenrat und Kriegerversammlung hatte, 26 lässt sich kaum verifizieren. Offensichtlich ist dagegen, dass es eng mit dem Phänomen des Stadtstaates27 verbunden ist. Nur in solchen kleinen Einheiten war es möglich, dass sich die Bürger versammeln, interagieren und gemeinsam Entscheidungen treffen.28 Die meisten griechischen Stadtstaaten hatten nicht mehr als 100.000 Einwohner. Größer war in Griechenland nur Athen,29 und auch die römische Republik wuchs schon bald über diese Dimension hinaus. Beide behielten aber ihre detaillierten Regeln über den Erwerb des Bürgerrechts und das Verfahren zu seiner Registrierung bei und grenzten damit den Kreis der Mitwirkungsberechtigten exakt ab. Charakteristisch ist für den Herrschaftstyp des Forums nicht nur die Existenz einer Volksversammlung, sondern auch die Öffentlichkeit der Herrschaftsausübung. In den griechischen Städten wurde der Marktplatz (agora) schon seit dem 8. Jahrhundert zum wichtigsten Ort, an dem sich das Leben der Gemeinschaft kristallisierte.30 In Rom wurden um das Jahr 600 Gräber und Häuser entfernt, um einen großen Hauptplatz (forum) 24 Machinist,

in Raaflaub, S.  81. in Bang/Scheidel, S.  139. 26 So Finer, S.  390. 27 Zur Geschichte dieses Begriffs kurz Hansen, Polis, S.  147 f., Fn.  3. 28 Finer, S.  9 0; Hansen, Polis, S.  2. 29 Hansen, Polis, S.  139; s. a. Ruschenbusch, in Osborne/Hornblower, S.  191. 30 Hölscher, S.   29; Meier, Kultur, S.   198–202; Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.  65 f.; Beck, in Beck, S.  3, spricht von einer »open-air culture«. 25 Barjamovic,

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6. Kapitel: Bilanz

herzustellen.31 Daneben gab es mit der Pnyx bzw. dem Marsfeld weitere Versammlungsorte. Insbesondere bei der athenischen Polis ist die Öffentlichkeit der Staats­ tätigkeit an vielen Punkten erkennbar. Grundsätzlich mussten alle Vorgänge öffentlich bekannt gemacht werden. Das galt etwa für Vorschläge von Beschlüssen der Volksversammlung, für Berichte über öffentliche Finanzen und für die beschlossenen Gesetze.32 Auch Abrechnungen und Inventare von Tempeln wurden öffentlich ausgestellt, damit die Bürger sie einsehen konnten.33 Am Ende des 5. Jahrhunderts wurden die Amtssitze des basileus und des Rats der Fünfhundert baulich so gestaltet, dass ihre Tätigkeit öffentlich sichtbar war.34 Etwa zur selben Zeit wurden die Gerichtsgebäude an der Agora errichtet, um die demokratische Bedeutung der Justiz zu dokumentieren.35 Auch die römische Republik wird von Finer zum Forum-Typ gezählt, allerdings mit Elementen der Aristokratie.36 Ursprünglich war Rom ähnlich wie Athen eine kleine Stadt mit einer Volksversammlung aller Bürger. Mit der territorialen Expansion wurde diese vorrangig zur Versammlung der städtischen Plebs.37 Durch die Untergliederungen der verschiedenen Versammlungsarten kam es auch zu mehr oder weniger deutlichen Abweichungen vom Grundprinzip der Gleichheit der Bürger. Dadurch sollten nach Cicero unüberlegte Entscheidungen wie in griechischen Städten verhindern werden.38 Außerdem kam es zu einem starken Rückgang der Beteiligung im Verhältnis zur steigenden Zahl der Bürger. Schließlich wurden die Versammlungen unregelmäßiger und seltener einberufen als in Athen.39 Dennoch kann man auch für die römische res publica davon ausgehen, dass die Herrschaft grundsätzlich öffentlich ausgeübt wurde, nicht geheim und hinter verschlossenen Türen.40 Nach der Überlieferung wurde das Zwölf-Tafel-Gesetz auf dem Forum aufgestellt, damit es für alle Bürger sichtbar war.41 Alle Gesetzesvorschläge mussten öffentlich bekannt ge 31

Hölscher, S.  33 f. Age of Demosthenes, S.  311 f. 33 Harris, in Osborne/Hornblower, S.  213–225. 34 Shear, S.  120: »the structures themselves made the role of the demos visible.« 35 Shear, S.  264–274. 36 Finer, S.  386. 37 Ruschenbusch, in Osborne/Hornblower, S.  191. 38 Vgl. das Zitat bei Nicolet, S.  293. 39 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  178. 40 Millar, S.  115; Hölkeskamp, Rekonstruktionen, S.  70–72; Flower, S.  11. 41 Sandberg, S.  14. 32 Hansen,

I. Formen der Herrschaftsorganisation

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macht werden, damit sie gelesen und diskutiert werden konnten. Die Verhandlungen des Senats erfolgten bei geöffneten Türen, so dass auch Außenstehende zuhören konnten.42 Die Prozesse vor den Magistraten wurden auf dem Forum durchgeführt und fanden regelmäßig ein großes Publikum.43 Anders als für Athen muss man allerdings konstatieren, dass die Pflicht zur Einbeziehung der Öffentlichkeit nicht bedeutete, dass ihr ein ähnlicher Einfluss zukam.44 Inhaltlich wurden die wesentlichen Entscheidungen zwischen den Magistraten und dem Senat ausgehandelt und dem Volk zur Ratifikation vorgelegt. In den beschließenden Versammlungen selbst kam es nicht zu Diskussionen.45 Nur bei Uneinigkeit in der Führungsschicht, wie sie in der späten Republik oft vorkam, übernahm die Volksversammlung eine Art Schiedsrichterfunktion. In solchen Situationen entfaltete die Rhetorik, in der Cicero eine besondere Meisterschaft zeigte, eine große Bedeutung als Mittel zur Überzeugung der Bürgerschaft.46 c) Mischformen im Alten Orient Die auf den ersten Blick eindeutige Zuordnung der vier untersuchten Herrschaftsordnungen zu den beiden Typen Palast und Forum, die lediglich bei der römischen Republik aufgrund ihrer oligarchischen Elemente gewissen Einschränkungen unterliegt, legt eine Fortschrittserzählung nahe, die ihre Wurzeln bereits in der Antike hat. Schon bei Herodot findet sich der Gegensatz zwischen Europa und Asien, die mit starken oder schwachen Völkern besiedelt und deshalb für die Volksherrschaft geeignet oder nicht geeignet seien.47 Auch bei Aristoteles ist der Alte Orient das Urbild der Despotie.48 Gegen diese einfache Einteilung wird jedoch eingewandt, dass die Unterscheidung zwischen westlicher freiheitlicher Demokratie und orientalischer Despotie eine griechisch-römische Ideologie sei.49 Die Behauptung, die Geschichte der bürgerschaftlichen Stadt habe erst mit der griechischen Polis begonnen, sei eine eurozentrische Sichtweise, die erst Mitte des 42

Demandt, S.  399. S.  41; Yakobson, in Rosenstein/Morstein-Marx, S.  391. 44 Jehne, in Jehne, S.  7. 45 Von Lübtow, S.  250: »Die römische Bürgerschaft stand und schwieg…«. 46 Finer, S.  4 6. 47 Meier, Kultur, S.  49–51. 48 Dazu Kogge/Wilhelmi, Saeculum 2019, S.  312–319. 49 So bereits Jellinek, S.   289; Schemeil, S.  39–42; heute z. B. von Dassow, in Radner/ Robson, S.  205. 43 Millar,

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6. Kapitel: Bilanz

20. Jahrhunderts in Frage gestellt worden sei.50 Zwar waren alle bekannten Staaten in Mesopotamien Monarchien, die königliche Macht sei aber nicht absolut und umfassend gewesen.51 Vielmehr habe es viele Mischformen kollektiver Partizipation gegeben.52 Zweifellos gab es in Mesopotamien und in Phönizien vielfältige Formen von Stadtstaaten.53 Die Existenz von Versammlungen ist in verschiedenen mesopotamischen Städten seit dem 3. Jahrtausend nachweisbar. Allerdings sind kaum Informationen über ihre Zusammensetzung und über ihre Befugnisse überliefert.54 In vielen mesopotamischen Stadtstaaten wurden führende Amtsträger durch eine Volksversammlung gewählt.55 Außerdem gibt es Belege dafür, dass sie für die Entscheidung in Einzelfragen bzw. für die Rechtsprechung zuständig war.56 Ob es aber überhaupt eine geregelte Mitgliedschaft in diesen Versammlungen gab, ist unklar.57 Zwar gibt es Hinweise auf einen Bürgerstatus in babylonischen Städten,58 aber ob er hinreichend formalisiert war, ist unbekannt. Das weitgehende Fehlen von schriftlichen Informationen über die Versammlungen in mesopotamischen Städten wird damit erklärt, dass v. a. die Könige ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung hatten, die deshalb in Monumenten sichtbar gemacht worden sei, nicht aber die Bürger.59 Außerdem seien die Diskussionen mündlich geführt worden und deshalb nicht überliefert. 60 Die einzigen erhaltenen Dokumente, u. a. aus der altassyrischen Epoche, belegen v. a. ihre gerichtliche Funktion. 61 Auch in verschiedenen syrischen Stadtstaaten gab es schon in der späten Bronzezeit Versammlungen. 62 Über sie gibt es aber ebenfalls zu wenige verlässliche Informationen. 63 Ähnliches gilt für verschiedene Städte in 50 Liverani,

in Liverani/Mora, S.  16 f. De Mieroop, in Watanabe, S.  140. 52 Van De Mieroop, in Horst, S.  5 f. 53 Cline/Graham, S.   110. 54 Übersichten bei Schemeil, S.   187–208; Fleming, S.   204–218; Seri, S.   159–180; Raaflaub, in Horst, S.  83–88; Momrak, in Rollinger/van Dongen, S.  417–429. 55 Zu möglichen mythischen Verarbeitungen Klinger, in Wenger, S.  28 f. 56 Von Dassow, in Radner/Robson, S.  217 f.; Garfinkle, in Bang/Scheidel, S.  110; Van De Mieroop, Ancient Mesopotamian City, S.  118–141. 57 Dazu Van De Mieroop, in Watanabe, S.  145–148; Seri, S.  167–171. 58 Zum Stand der Diskussion Momrak, in Rollinger/van Dongen, S.  423–426. 59 So die Erklärung durch von Dassow, in Wilhelm, S.  174; ebenso Larsen, City State, S.  103. 60 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  161; Seri, S.  177 f. 61 Van De Mieroop, Ancient Mesopotamian City, S.  121–128. 62 Dazu ausführlich Solans, passim. 63 Raaflaub, in Horst, S.  87 Fn.  53. 51 Van

I. Formen der Herrschaftsorganisation

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Phönizien, die vermutlich größere Bürgerversammlungen kannten. 64 Aus einem Hinweis in den Amarna-Briefen wird geschlossen, dass in einer levantinischen Stadt bereits das Volk als Souverän anerkannt worden sei. 65 Da die älteste griechische Polis vermutlich auf Zypern entstand, wird es auch für möglich gehalten, dass sie nach phönizischen Modellen organisiert war. 66 Allerdings gibt es trotz der zweifellos bestehenden vielfältigen kulturellen Einflüsse des Orients67 keine klaren Nachweise für eine Vorbildwirkung auf die politische Entwicklung in Griechenland. Deshalb ist es nach wie vor umstritten, ob im Alten Orient Vorformen der Demokratie zu erkennen sind. 68 Es gibt jedoch keine hinreichend eindeutigen Hinweise, dass die politische Organisation dort auf einer gleichberechtigten Bürgerschaft beruhte, so dass der Begriff »Demokratie« nicht passt. 69 Vielmehr spricht viel dafür, dass das Selbstverständnis der griechischen Polis eine radikale Neuerung darstellte.70 Es gab im vorderasiatischen Raum zwar verschiedene Formen kollektiver Entscheidungsfindung, aber die Idee der Volksherrschaft ist erst in Griechenland entwickelt worden.

2. Die Ämterorganisation Ein weiterer Vorteil der Kategorisierung von Finer ist, dass sie nicht wie die traditionellen Herrschaftstypen nur die Leitungsinstitutionen in den Blick nimmt, sondern insbesondere in den hier relevanten Modellen von Palast und Forum ebenfalls die Art der Herrschaftsausübung in der alltäglichen Praxis erfasst. Auch bei der Organisation und der Funktionsweise der ausführenden Ämter, also dem Bereich, den wir heute als Verwaltung bezeichnen, zeigen sich charakteristische Unterschiede zwischen einem monokratisch-hierarchischen und einem polykratischen System sowie zwischen einer Entscheidungsfindung hinter den verschlossenen Türen eines Palastes oder an öffentlich zugänglichen Plätzen.71 64 Stockwell,

in Isakhan/Stockwell, S.  77. in Raaflaub, S.  250. 66 Hansen, Polis, S.  45. 67 Dazu etwa Meier, Kultur, S.  8 4–92. 68 Dafür von Dassow, in Radner/Robson, S.  206; vorsichtiger auch Van De Mieroop, in Horst, S.  8; ablehnend z. B. Raaflaub, in Horst, S.  97. 69 Fleming, S. xiv, ähnlich S.  16; Raaflaub, in Rollinger/Ulf, S.  279 f. 70 Finer, S.  283; Cartledge, S.  55; Raaflaub, in Horst, S.  89–93. 71 Haensch, Hermes 2003, S.  182. 65 Bernal,

220

6. Kapitel: Bilanz

a) Palast Der Palast als Sitz des Hofes war in den frühen Monarchien das Herz des Staates.72 Deshalb sind die alten Staaten auch als eine Form des erweiterten königlichen Haushalts charakterisiert worden.73 Es gab immer eine enge Verbindung zwischen der im heutigen Sinne staatlichen Verwaltung und dem königlichen Hof, was sich nicht zuletzt an vielen Titeln der obersten Amtsträger nachweisen lässt, die auf höfische Funktionen zurückgehen. Charakteristisch für die Ämterordnung des Palast-Typs ist, dass der König die Amtsträger auf der zentralen Ebene sowie die Statthalter in den Provinzen ernannte, die ihre Funktionen auf Dauer ausübten, aber vom König abgesetzt werden konnten. Alle Amtsträger unterstanden den Befehlen des Königs und bildeten insgesamt eine hierarchische Struktur. De facto bestand aber natürlich auch eine starke Abhängigkeit des Königs von der Führungselite.74 Sie kanalisierte die Informationen, die ihm zur Verfügung standen, und organisierte die Ausführung seiner Anordnungen. Deshalb beruhte der Erfolg monarchischer Herrschaft ganz wesentlich auf der Loyalität der Amtsträger. Finer leitet daraus ab, dass jede stabile Monarchie eine Bürokratisierung durch eine spezialisierte Verwaltung voraussetze.75 Jedenfalls wenn man die Definition der Bürokratie durch Max Weber zugrunde legt,76 fehlen jedoch in der Frühzeit wesentliche Merkmale. Es gibt sowohl für Ägypten als auch für Assyrien viele Belege, dass die Zuständigkeiten der einzelnen Amtsträger beweglich waren und Befehle auch direkt an untergeordnete Amtsträger erteilt werden konnten. Das moderne Modell einer Verwaltungsorganisation mit klar abgegrenzten Kompetenzen und Befehlsketten passt hierfür nicht. Weiterhin fehlte es an einer klaren Regelbindung, denn allgemeine Vorschriften für die Amtsausübung sind nur rudimentär erkennbar.77 Wie stark die Aktenförmigkeit der Verwaltung verbreitet war, lässt sich kaum verifizieren, weil mündliches Handeln der Amtsträger naturgemäß in der Regel nicht belegbar ist. Auf jeden Fall gab es aber sowohl in Ägypten als auch in Assyrien in einigen Epochen eine große Fülle von Verwaltungsdokumenten. Deshalb ist es sicher richtig, dass der Einsatz professio 72 Für

Ägypten Quirke, Administration, S.  42. S.  50; ähnlich Rebenich/Wienand, in Rebenich, S.  6. 74 Karlsson, S.  38 f. 75 Finer, S.  42. 76 Dazu oben S.  7 ff. 77 Dazu näher unten S.  2 34 f. 73 Démare-Lafont,

I. Formen der Herrschaftsorganisation

221

neller Schreiber zur Unterstützung der Amtsinhaber ein weiteres zentrales Element der Palast-Herrschaft war, weil die Kenntnis der Schreibkunst auf eine kleine Gruppe von Schriftgelehrten begrenzt war.78 Auch die Schreiber übten ihre Aufgabe im Palast aus, wo die Verwaltungsdokumente archiviert wurden, so dass diese nur von den dort Beschäftigten, nicht aber von der Öffentlichkeit eingesehen werden konnten. Die Frage, inwiefern die Schreiber aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung auch inhaltlich auf das Handeln der Amtsträger Einfluss genommen haben oder ob sie nur deren Anordnungen aufgeschrieben haben, lässt sich nicht beantworten. Sicher war die Praxis sehr unterschiedlich. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass sie die eigentlich Herrschenden waren, wie es der Wortsinn des Begriffs »Bürokratie« suggeriert. b) Forum Nach Finer ist die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Volk charakteristisch für den Herrschaftstyp des Forums.79 Diese allgemeine Aussage muss aber für die Antike modifiziert werden. Verantwortlichkeit wird in der Regel als Element eines repräsentativen Systems angesehen. Da die meisten Ämter der athenischen Polis jedoch durch Auslosung besetzt wurden, bestand dort gerade kein Repräsentativsystem. 80 Vielmehr hätten die Griechen durch allgemeine Wahlen bestimmte Volksvertreter als eine Form der Oligarchie betrachtet. 81 Nichtsdestotrotz legten sie großen Wert darauf, dass alle Amtsinhaber während und am Ende ihrer Amtszeit Rechenschaft vor der Volksversammlung ablegten. Etwas anders war dagegen die Lage in Rom. Alle mit eigenständigen Entscheidungsbefugnissen betrauten Amtsträger wurden hier von einer der Volksversammlungen gewählt, jedenfalls in der späten Republik auch unter kompetitiven Bedingungen. Dagegen gab es dort keine systematischen Verfahren der Überwachung der Magistrate durch Volk oder Senat. 82 Vielmehr bestanden nur punktuelle Kontrollen, in der Regel in der Form von Strafprozessen. Gemeinsam ist beiden Herrschaftsordnungen, dass die Ämterstruktur völlig anders als im Palast-Typ organisiert war. Ihre Ausdifferenzierung in

78

Vesting, S.  37. Finer, S.  43. 80 Ehrenberg, S.  79. 81 Ober, S.  294; Gehrke, in Gehrke, S.  475. 82 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  187. 79

222

6. Kapitel: Bilanz

den antiken Stadtgesellschaften ist welthistorisch einmalig. 83 Es bestand keine Hierarchie zwischen den Ämtern, sondern jedes war eigenständig für eine bestimmte Aufgabe zuständig. Jedes Amt war zeitlich begrenzt, wobei sowohl in Athen als auch in Rom der jährliche Wechsel der Regelfall war. Nur die athenischen Heerführer konnten wiedergewählt werden. Alle Ämter wurden ehrenamtlich wahrgenommen. Während es meistens nur eine Aufwandsentschädigung gab, ist für eine gewisse Zeitspanne der athenischen Polis eine Besoldung nachgewiesen, die eine Teilnahme auch der ärmeren Bürger ermöglichen sollte. In Rom war die Wahrnehmung der Ämter dagegen ohnehin nur den Angehörigen der wohlhabenden Schichten möglich. Eine weitere Besonderheit ist die kollegiale Ausgestaltung fast aller Ämter. Während in Athen darunter regelmäßig eine gemeinsame Wahrnehmung der Aufgaben in Form eines Ausschusses, aber mit der Möglichkeit einer internen Aufteilung, verstanden wurde, war die Abwechslung bzw. Aufteilung in Rom der Regelfall, so dass sich die Kollegialität in der Regel nur in der Form eines Vetorechts gegenüber Entscheidungen der Kollegen zeigte. Beide Erscheinungsformen sind Ausdruck eines gemeinsamen Prinzips der gegenseitigen Kontrolle. 84 Der Hintergrund dieser Form der Ämterorganisation ist zum einen, dass die persönliche Macht der Amtsinhaber so weit wie möglich reduziert werden sollte, um willkürliche Herrschaft zu verhindern.85 Besonders radikal wurde dieses Ziel in Athen verfolgt, was allerdings auch in Griechenland einen Sonderfall darstellte. 86 Das Losverfahren, das auch auf den Rat der Fünfhundert angewendet wurde, und die Wiederbesetzungssperre verhinderten schon im Ansatz die Ausbildung einer professionellen Verwaltung, die als Gefahr für die Volksherrschaft angesehen worden wäre. 87 In Rom ging es dagegen eher darum zu verhindern, dass einzelne Mitglieder der Führungsschicht zu mächtig werden. Da sich diese nur langsam vergrößerte, blieb die Zahl der Ämter in Rom trotz der territorialen Expansion weitgehend stabil. 88 Ein semi-professionelles Element ist lediglich im Senat zu sehen, dessen Mitglieder alle bereits Erfahrungen in mindes-

83 Winterling,

in Lundgreen, S.  254. Kollegialprinzip, S.  300. 85 Richard, S.  9. 86 Ehrenberg, S.  61. 87 Maio, Am J Jurisprud 1983, S.  27. 88 Eder, in Molho/Raaflaub/Emlen, S.  183. 84 Groß,

I. Formen der Herrschaftsorganisation

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tens einem Amt gesammelt hatten und im Unterschied zum athenischen Rat der Fünfhundert auf Lebenszeit amtierten. 89 Ein anderer, nicht zu unterschätzender Faktor ist darin zu sehen, dass die fehlende reguläre Besteuerung der Bürger in Athen und Rom ebenfalls einen kleinen Verwaltungsapparat bedingte.90 Die Einnahmen aus anderen Abgaben, wie z. B. Zöllen, aus Pachteinnahmen und aus Tributen der eroberten bzw. abhängigen Gebiete dienten zur Finanzierung der Staatsaufgaben, aber nicht des Staatsapparates. Die Tagegelder für die Teilnahme an der Volksversammlung, den Volksgerichten und am Rat der Fünfhundert Athens stellten keine Ausnahme dar, weil sie nicht der Professionalisierung dienten, sondern soziale Exklusionsmechanismen reduzierten sollten. Lediglich in Kriegszeiten mussten die zusätzlichen Ausgaben durch eine Sondersteuer für die reichen Bürger ermöglicht werden.

3. Die territoriale Gliederung Für die Herrschaft in der Fläche zeigen die beiden Modelle ebenfalls deutliche Unterschiede. Im Palast-Typ gibt es grundsätzlich keine Eigenständigkeit der lokalen Ebene, sondern eine Unterordnung unter das Königtum und die zentrale Verwaltung. In der Praxis bestand aber eine mehr oder weniger große faktische Autonomie, insbesondere auch in Rechtsprechungsangelegenheiten. Im Forum-Typ wurde den lokalen Einheiten entweder eine Selbstverwaltung (Athen) oder sogar eine Selbstregierung (Rom) eingeräumt. Bemerkenswert ist aber, dass es in beiden Fällen eine Form der indirekten Herrschaft über tributpflichtige Staaten gab. a) Palast In jedem Staat, der über die Größe einer Stadt hinauswächst, bedarf es einer Ämterstruktur, die eine Beherrschung des Territoriums ermöglicht. Mit dem Grundprinzip der königlichen Alleinherrschaft sind lokale Autonomien nicht vereinbar. Allerdings schwindet mit der Entfernung von der Herrschaftszentrale die faktische Möglichkeit einer effektiven Leitung. In Ägypten wie in Assyrien wurde die Funktion der Territorialherrschaft in erster Linie durch die Provinzen erfüllt, die das gesamte Staatsgebiet im engeren Sinn erfassten. Die von den Königen eingesetzten Statthal 89 90

Millar, S.  212 f. Wittfogel, S.  71.

224

6. Kapitel: Bilanz

ter fungierten als eine Art Mittelinstanz im hierarchischen Aufbau der Staatsverwaltung. Allerdings genossen sie in beiden Herrschaftsordnungen eine große faktische Autonomie.91 Diese war insbesondere durch die langwierigen Kommunikationswege bedingt, die eine engmaschige Leitung durch die Zentrale unmöglich machten. Die Durchsetzung der gesamtstaatlichen Belange erfolgte deshalb in erster Linie in Form einer Aufsicht durch Beauftragte, die in regelmäßigen Abständen oder teilweise auch ständig überwachten, dass die Vorgaben der Zentrale eingehalten werden. Große Unterschiede zeigten sich dagegen auf der unteren Ebene. Die Dörfer bzw. Städte in Ägypten hatten nach den überlieferten Dokumenten nur eine rudimentäre Verwaltung. Ihre Eigenständigkeit zeigte sich v. a. im Bereich der Rechtsprechung. Dagegen haben die Monarchien in Mesopotamien die bestehenden städtischen Infrastrukturen mehr oder weniger in ihr Herrschaftssystem einbezogen.92 Die Führungsfunktionen in den Städten wurden zwar von den Königen besetzt. Zumindest teilweise wurden die Bürgermeister aber aus den Einheimischen ausgewählt. Daneben gab es in vielen Städten Versammlungen, die v. a. mit judikativen Befugnissen ausgestattet waren.93 b) Forum Während die athenische Polis nie die Grenze zur Reichsbildung überschritten hat, dehnte die römische Republik schon früh ihr Territorium immer weiter aus. Während sie für das italienische Festland keine größeren Substrukturen entwickelte, wurden die anderen Gebiete seit der Mitte des 3. Jahrhunderts in Provinzen organisiert. Wie in den meisten Teilen Italiens setzte Rom aber auch dort auf eine starke lokale Autonomie. Die römischen Statthalter fungierten im Wesentlichen nur als eine Art Aufsichtsinstanz sowie als Streitschlichter, was sich insbesondere in ihrer Rechtsprechungsfunktion niederschlug. Dementsprechend hatten sie auch nur einen sehr kleinen zivilen Verwaltungsapparat. Durch die auf ein Jahr beschränkte Amtszeit wurde eine dauerhafte Verbindung zwischen dem Statthalter und seiner Provinz verhindert, aber gleichzeitig ein Anreiz zur Ausplünderung geschaffen, der mit den nachträglichen Kontrollinstrumenten nicht effektiv bekämpft werden konnte. 91 Marquardt,

S.  9 0, spricht sogar von einer Ermächtigung zur Selbstherrschaft. in Rebenich, S.  5. 93 Van De Mieroop, in Watanabe, S.  150; Seri, S.  174–176. 92 Rebenich/Wienand,

I. Formen der Herrschaftsorganisation

225

Die Integration Hunderter autonomer lokaler Einheiten in das römische Reich war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das immer größer werdende Territorium weiterhin mit den Institutionen eines Stadtstaates beherrscht werden konnte. Die zum Teil vorgefundenen, zum Teil auch erst von Römern geschaffenen Städte oder gleichgestellten Gebiete hatten nicht nur ihre eigenen Institutionen, die in ihrer Grundstruktur mit Versammlung, Rat und Magistraten dem römischen Modell ähnelten, sondern sie durften auch ihre eigene Rechtsordnung behalten bzw. entwickeln. Somit handelte es sich nicht um eine Selbstverwaltung, sondern um eine Form der Selbstregierung, denn auch Gesetzgebung und Rechtsprechung blieben in ihrer eigenen Hand. Lediglich die Oberaufsicht des Statthalters und die fehlende außenpolitische Handlungsfreiheit rechtfertigen es, sie als Teil des römischen Reichs anzusehen. Diese Rechtsetzungsautonomie fehlte dagegen den römischen Kolonien sowie den Dörfern als kleinsten territorialen Untereinheiten. Sie hatten zwar auch eigene Institutionen, die sich aber nur mit Verwaltungsaufgaben befassten. Das gleiche gilt für die Demen in Athen, die eine wichtige Rolle als Basiseinheiten der Polis spielten, aber nur der Verwaltung zugeordnet werden können, weil ihre Organe weder Recht setzen noch Recht sprechen konnten. c) Tributpflichtige Staaten Bemerkenswert ist, dass es in allen vier Herrschaftsordnungen zumindest zeitweise Formen der partiellen Beherrschung von Gebieten an den Rändern des eigenen Territoriums gab, die sich mit den Kategorien des modernen öffentlichen Rechts nicht erfassen lassen. Zum Teil wird hierfür der Begriff des »Vasallen« oder »Klienten« verwendet. Besser geeignet erscheint die Bezeichnung als tributpflichtiger Staat, da damit ein charakteristisches Merkmal dieser Form der Abhängigkeit erfasst wird.94 Als weitere Kriterien für diesen Staatstyp werden die Beschränkung der internationalen Handlungsfreiheit, die Einmischung in interne Angelegenheiten, der verpflichtende Militärdienst, die Beschlagnahme von Land und die wirtschaftliche Ausbeutung genannt.95 Sie müssen aber durchaus nicht kumulativ vorkommen. Letztlich handelt es sich um eine variable Erscheinungsform der verhandelten imperialen Machtverteilung, die im Gegensatz zum heutigen westlichen Staatsverständnis steht.96 Das entscheidende 94 Siehe

oben S.  17. in Garnsey/Whittaker, S.  107 f. 96 Moreno García, S.  7 f. 95 Finley,

226

6. Kapitel: Bilanz

Abgrenzungskriterium zur Eingliederung ist hier nicht die Souveränität, sondern die Beibehaltung der eigenen institutionellen Ordnung. In Ägypten bestanden entsprechende Formen der Tributpflichtigkeit vor allem während des Neuen Reiches in Teilen Nubiens sowie in Palästina, wo jeweils die einheimischen Herrscher im Amt blieben, aber in eine dauerhafte Abhängigkeit von den ägyptischen Königen gerieten. Auch während des mittel- und neuassyrischen Reiches gab es in den Randzonen des Herrschaftsgebietes immer wieder Staaten, die zwar militärisch unterworfen wurden, aber ihre einheimischen Herrscher behalten durften, solange diese die Oberhoheit Assurs anerkannten und die verlangten Abgaben geleistet wurden. Im antiken Griechenland finden sich ebenfalls verschiedene Beispiele. Zwar kann im Grundsatz jede einzelne Polis als selbstständiges Staatswesen angesehen werden.97 Gerade im delisch-attischen Seebund während des fünften Jahrhunderts zeigte sich aber eine deutliche Tendenz Athens, die Verfassungsautonomie und die Völkerrechtsunmittelbarkeit der Mitglieder zu beseitigen.98 Dennoch kam es in keinem Fall zur Aufhebung der eigenen Institutionen einer Polis und zu ihrer Eingliederung als Teil des athenischen Staates. Eine besonders große Rolle spielte diese Form der indirekten Herrschaft für die römische Republik. So gab es in Italien über eine lange Zeit Städte, deren innere Autonomie durch einen Vertrag mit Rom abgesichert war. Ihre Eingliederung erfolgte erst mit der allgemeinen Ausweitung des römischen Bürgerrechts auf das gesamte italienische Territorium zu Beginn des ersten Jahrhunderts. Daneben gab es an den Rändern des Reiches immer wieder Formen der indirekten Herrschaft, indem die Autonomie verbündeter Herrscher anerkannt wurde. Zum Teil handelte es sich dabei nur um eine Übergangsphase vor der Umwandlung in eine Provinz. Insgesamt erweist sich die indirekte Herrschaft über autonom bleibende, aber tributpflichtige Staaten als kompatibel sowohl mit dem Palast- als auch mit dem Forumstyp. Ihre Attraktivität bestand in beiden Konstellationen darin, dass kein eigener Herrschaftsapparat notwendig war, um ein Territorium unter Kontrolle zu halten, abgesehen von manchmal stationierten kleinen militärischen Kontingenten oder Gesandten mit Kontrollfunktionen. Für das Herrschaftsmodell der athenischen Polis war diese Form der partiellen Beherrschung sogar die einzige Option, weil eine Inte-

97 98

Preiser, S.  116. Preiser, S.  31.

II. Verwaltungsfunktionen

227

gration neuer Gebiete in die Institutionen der direkten Demokratie praktisch nicht möglich gewesen wäre.

II. Verwaltungsfunktionen Die Untersuchung der vier Herrschaftsordnungen hat bestätigt, dass es zeitunabhängige notwendige Verwaltungsfunktionen gibt, die in allen Staatswesen erfüllt werden müssen. Dies gilt nicht nur für die Bestandsaufgaben, sondern auch für einen Kern von Ordnungsaufgaben, bei denen aber eine größere Varianz erkennbar ist. Unterschiede bestehen zudem darin, ob eine Aufgabe durch zentrale oder lokale Amtsträger oder durch beauftragte Private wahrgenommen wird.

1. Bestandsaufgaben In allen Staaten bedarf es zur Finanzierung der Staatsaufgaben und des zentralen Ämterapparats, der in den Monarchien den Hof umfasst, einer Abgabenverwaltung, die dafür sorgt, dass die notwendigen Einnahmen verlässlich zur Verfügung stehen. Ein wesentlicher Ausgabenposten war in allen Fällen die Ausrüstung des Militärs, doch wird diese Staatsaufgabe im Rahmen dieser Untersuchung ausgeklammert. In allen Herrschaftsordnungen findet sich ein Mix verschiedener Arten von Einnahmequellen. Sie umfassten in sehr unterschiedlichen Verhältnissen die Einnahmen aus der Nutzung staatlichen Landes bzw. aus Bergwerken, die Tribute abhängiger Gebiete bzw. Kriegsbeute sowie besondere Abgaben wie z. B. Zölle. Eine allgemeine und dauerhafte Steuerpflicht bestand jedoch nur in Ägypten und Assyrien, wobei die Abgaben in der Zeit vor der Nutzung von Münzgeld in der Form von Naturalien zu leisten waren. Dagegen erhoben sowohl Athen als auch Rom keine regulären Steuern von ihren Bürgern. Nur in Kriegszeiten wurden die Vermögenden zu einer Abgabe herangezogen, um die notwendige militärische Rüstung zu finanzieren. In den Friedenszeiten bzw. in Rom nach der Sicherung ausreichender Einnahmen aus den eroberten Gebieten mussten die Bürger keinen finanziellen Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Die Verantwortung für die Berechnung und den Einzug der Abgaben lag in der Regel bei den lokalen Amtsträgern, die gegenüber den zentralen Schatzämtern rechenschaftspflichtig waren. Diese verwalteten alle Ein-

228

6. Kapitel: Bilanz

nahmen, die nicht bereits auf dezentraler Ebene verbraucht wurden. In Ägypten und Assyrien wurde dabei nach den verschiedenen Arten von Abgaben unterschieden. In Athen und Rom bestand dagegen bereits eine Geldwirtschaft. Während sich in Athen Phasen einer dezentralen und einer zentralisierten Kassenverwaltung abwechselten, gab es in Rom eine zentrale Staatskasse, die von den Quästoren verwaltet wurde. Eine Besonderheit Roms war die Verpachtung der Aufgabe der Steuereintreibung an private Unternehmer in einigen Reichsteilen, während sie in anderen von den lokalen Verwaltungen übernommen wurde. In den Monarchien des Palast-Typs gibt es wenige Dokumente über die Verwaltung der Ausgaben. Man wird davon ausgehen können, dass die Anordnungsbefugnis für Ausgaben beim König bzw. den obersten Amtsträgern lag. Dies gilt insbesondere für das öffentliche Bauwesen, denn wichtige Maßnahmen wie der Bau von Palästen oder Tempeln gingen auf Befehle des Königs zurück. In den republikanischen Herrschaftsordnungen des Forum-Typs lag die Verantwortung dagegen beim Rat, der Ausgaben aus der Staatskasse autorisierte, insbesondere auch für Baumaßnahmen. Allerdings konnten auch einzelne Ausgaben durch Beschlüsse der Volksversammlung festgesetzt werden. Eine Gesamtverantwortung im Sinne der modernen parlamentarischen Budgethoheit besaß diese allerdings nicht.

2. Ordnungsaufgaben Die Verwaltungen heutiger Staaten erfüllen Hunderte, wenn nicht sogar Tausende verschiedener Aufgaben. Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaften und der Entstehung neuer Risiken durch die Technisierung fast aller Lebensbereiche entstanden immer wieder neue Regulierungs-, Überwachungs- und Ausgleichsbedürfnisse, die im allgemeinen Interesse von staatlichen Behörden oder in ihrem Auftrag von Privaten erfüllt werden müssen, um die Funktionsfähigkeit des sozialen Zusammenlebens zu gewährleisten. Die heutige Vielfalt ist das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, denn einige der heute bestehenden Aufgaben lassen sich bis in die Entstehungszeit der frühesten Staatswesen zurückverfolgen. Die vergleichende Untersuchung hat gezeigt, dass die Verwaltung von Grund und Boden sowie die Standardisierung von Maßen und Gewichten zu den universalen Staatsaufgaben gehören. Dagegen zeigt sich bei der Gewährleis-

II. Verwaltungsfunktionen

229

tung der öffentlichen Sicherheit und der Lebensmittelversorgung eine größere Varianz. Sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien wurde ein Teil des landwirtschaftlich nutzbaren bzw. bebaubaren Bodens aufgeteilt und Privatpersonen zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Ob man deren Rechtsstellung mit dem modernen Eigentum gleichsetzen kann, ist umstritten. Jedenfalls hatten und haben Rechte an Grund und Boden in allen Gesellschaften eine Sonderstellung, weil Teile der Erdoberfläche nur durch einen normativen Akt zu einem rechtsfähigen Grundstück werden99 und sowohl der Staat als auch die individuellen Inhaber ein Interesse an einer rechtssicheren Dokumentation der Berechtigung haben.100 Deshalb ist die Vermessung von Grund und Boden, um die Parzellen eindeutig abgrenzen zu können, eine notwendige staatliche Aufgabe, die in allen Herrschaftsordnungen wahrgenommen wurde. Ihre Dokumentation in Katastern lässt sich v. a. für Ägypten und partiell für die neuassyrische Epoche nachweisen, während aus Athen und Rom nur die Existenz von Grenzsteinen bekannt ist. Eine weitere Aufgabe, die in den meisten Rechtsordnungen von staatlichen Stellen erfüllt wird, ist die Mitwirkung an der Übertragung von Rechten an Grund und Boden. Sie erfolgt in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern unter Beteiligung staatlicher Stellen, weil der Rechtssicherheit bei Immobilien ein hoher Wert zugewiesen wird.101 Diese Sicherung der Publizität bei der Übertragung von Grundstücken erfolgte in Ägypten, Mesopotamien sowie in Athen durch die obligatorische Beteiligung öffentlicher Amtsträger an der Transaktion. Lediglich nach dem römischen Recht genügte die Beteiligung privater Zeugen. Universell ist ebenso die Aufgabe der Standardisierung von Maßeinheiten. Nicht nur ist die einheitliche Festlegung von Maßen und Gewichten notwendig, um Handel mit landwirtschaftlichen Produkten und anderen Waren zu ermöglichen. Ihre Verwendung muss auch einer Kontrolle unterliegen. Während man aus Ägypten und Assyrien nur wenige Informationen über die Existenz von Eichmaßen hat, ist aus Athen und Rom überliefert, dass die Prüfung von Maßen und Gewichten zu den Aufgaben der Amtsträger gehörte, die für die Marktüberwachung zuständig waren. Ähnliches gilt für das Geldwesen. Schon die Vorläufer in der Form standardisierter Edelmetalle, wie sie in Ägypten und Assyrien verwendet wur 99 Näher

dazu von Bar, Bd.  I, S.  249–256. Finley, Land and Credit, S.  13. 101 Überblick bei von Bar, Bd.  I I, S.  390–439. 100

230

6. Kapitel: Bilanz

den, um Transaktionen zu erleichtern, wurden durch Verfahren der Prüfung des Reinheitsgrades und damit des Wertes des Zahlungsmittels durch öffentliche Stellen abgesichert. Erst recht ist die Ausgabe von Geld, damals in der Form von Münzen, eine zentrale Aufgabe der Staaten, die von Amtsträgern organisiert werden muss.102 Die Prägung von Münzen war sowohl in Athen wie in Rom staatlichen Stellen vorbehalten. In Athen gab es außerdem ein eigenes Amt für die Prüfung ihrer Echtheit. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit gilt heute als eine Kernaufgabe des Staates, die insbesondere von der Polizei erfüllt wird, welche nach der in Deutschland üblichen Unterteilung sowohl für die Gefahrenabwehr als auch für die Strafverfolgung zuständig ist. Deshalb erstaunt es auf den ersten Blick, dass es in der gesamten antiken Welt keine Institution gab, die der modernen Polizei entspricht.103 In keiner der Herrschaftsordnungen bestanden Polizeitruppen als dauerhafte und flächendeckende Einrichtung zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Dennoch gab es Amtsträger, die dafür sorgten, dass es nicht zu Rechtsverstößen kam oder begangene Rechtsverletzungen sanktioniert wurden. Eine präventive Funktion hatten die Wachen in den Palästen und anderen wichtigen Stellen wie z. B. Stadttoren. In Athen und Rom gab es Hilfspersonal, das für die Ordnung in den Volksversammlungen und vor Gericht zuständig war. Außerdem wurden spezielle Ämter geschaffen, die für die Kontrolle der Einhaltung der rechtlichen Regeln in einzelnen Teilbereichen, z. B. auf den Märkten und in Bausachen, gesorgt haben und dabei auch Bußen verhängen konnten. Am umfangreichsten waren die entsprechenden Aufgaben der römischen Ädile. Für die Sanktionierung von Rechtsverstößen war in allen untersuchten Rechtsordnungen primär der Geschädigte bzw. seine Familie zuständig, wobei Selbstjustiz in erheblichem Umfang zulässig war. Nur bei Delikten gegen die Allgemeinheit konnte ein Fall von staatlichen Amtsträgern vor Gericht gebracht werden. In keinem Fall gab es aber eine Einrichtung, die der modernen Staatsanwaltschaft entspricht. Vielmehr handelten die entsprechenden Amtsträger in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich auch als Strafverfolger. Daneben gab es in Athen und Rom spezielle Kommissionen, die für die Sanktionierung einzelner Arten von Delikten ohne größere Bedeutung zuständig waren. Kein einheitliches Bild zeigt sich bei der Gewährleistung der Lebensmittelversorgung. Grundsätzlich wurde die Verteilung von Lebensmitteln 102 103

Zehnacker, S.  1. Grajetzki, Court Officials, S.  107.

III. Rechtlicher Rahmen

231

nicht als staatliche Aufgabe angesehen. In Ägypten wurde allerdings Getreide in staatlichen Speichern bereitgehalten, um für Notzeiten gerüstet zu sein. Aus Assyrien ist bekannt, dass die Paläste Getreide in der Form von Darlehen zur Verfügung stellten. Eine staatliche Regulierung der Getreidepreise findet sich dann in Athen und Rom, wo der Gesetzgeber immer wieder eingriff, um eine sozial verträgliche Grundversorgung zu gewährleisten. Nur in den letzten Jahren der selbstständigen athenischen Polis sowie der späten römischen Republik erfolgte der nächste Entwicklungsschritt zu einer Art Leistungsverwaltung, indem eine Abgabe von verbilligtem und teilweise sogar kostenlosem Getreide an Bedürftige organisiert wurde. Diese sozialpolitische Maßnahme blieb aber in beiden Fällen eine umstrittene Ausnahme.

III. Rechtlicher Rahmen Die Rolle des Rechts für die Gestaltung der jeweiligen Herrschaftsordnungen unterscheidet sich deutlich zwischen den Typen des Palastes und des Forums. Während in den frühen Monarchien das Gewohnheitsrecht dominierte, beruhten die athenische Polis wie die römische Republik auf geschriebenen Gesetzen, die auch die Staatsorganisation und das Verwaltungshandeln regelten. Eine gerichtliche Kontrolle von Amtsträgern gab es jedoch nur partiell in Athen.

1. Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht In Mesopotamien wie in Ägypten galt v. a. Gewohnheitsrecht,104 das seine Legitimation aus der Tradition bezog.105 Im Alten Orient bestand keine Vorstellung von einer grundlegenden Veränderbarkeit des Rechts, vielmehr war es statisch106 und durch eine große Kontinuität gekennzeichnet.107 Ähnlich wie noch im europäischen Mittelalter wurde es als ruhend und beharrend angesehen.

104

Démare-Lafont, S.  61: »caractère fondamentalement coutumier«. Otto, in Lévy, S.  106; Marquardt, S.  62. 106 Westbrook, in Levinson, S.  27; Raaflaub, in Horst, S.  9 0; dagegen u. a. Otto, in Levinson, S.  182. 107 Westbrook, in Westbrook, S.  2 2 f. 105

232

6. Kapitel: Bilanz

Deshalb ist irreführend, wenn die Könige in vielen Darstellungen als Gesetzgeber bezeichnet werden. Es gab in den frühen Staaten keine Vorstellung vom Gesetz als Instrument der Normierung sozialer Verhaltensweisen.108 Der Pharao war kein Gesetzgeber, sondern ein König der Gerechtigkeit.109 Auch die assyrischen Könige verstanden sich als Garanten der gerechten Ordnung, nicht aber als aktive Gestalter des Rechts. Die überlieferten Kompilationen von Rechtssprüchen wie z. B. im »Kodex Hammurabi« hatten nur die Funktion, Wissen über die Rechtspraxis zur Verfügung zu stellen.110 Dekrete der Könige mit allgemeinen Regeln dienten nicht zur Änderung von Gewohnheitsrecht, sondern zur Regelung von davon nicht erfassten Fragen111 oder zur punktuellen Korrektur von Fehlentwicklungen, wie etwa im Fall von Schuldenerlassen oder Gebührensenkungen.112 Deshalb wurde nicht etwa die Gesetzgebung durch Gewohnheitsrecht ergänzt,113 sondern genau umgekehrt wurde das Gewohnheitsrecht ad hoc durch Entscheidungen der Könige ergänzt oder modifiziert. In den alten Gesellschaften fehlte die Vorstellung, dass der Lauf der gesellschaftlichen Ereignisse durch die Änderung von Rechtsvorschriften beeinflusst werden könnte.114 Die göttliche Legitimation der Könige umfasste die Bewahrung und Durchsetzung der Gerechtigkeit, nicht aber die Weiterentwicklung der Rechtsordnung. Erst recht gab es in den Staatsformen des Vorderen Orients keinen Raum für eine Mitwirkung des Volkes bei der Rechtsbildung.115 Somit konnte es dort auch keine Verschriftlichung des Rechts mit bindender Wirkung geben. Die Vorstellung, dass der Geltungsanspruch von Rechtnormen mit ihrer schriftlichen Dokumentation verbunden ist, findet sich zuerst im jüdischen Recht, das als Ausdruck von Gottes Willen niedergeschrieben wurde.116 Der für das moderne Verständnis entscheidende Schritt, das Gesetz als Entscheidung des Volkes zu verstehen, erfolgte dann in der athenischen Polis.117 108

Magdalene/Wunsch/Wells, S.  181 mit Fn.  20. Vesting, S.  93. 110 Vesting, S.  102; siehe auch oben S.  92 ff. 111 Assmann, Herrschaft und Heil, S.  182 f. 112 Herzog, S.  288 f. 113 So aber für Ägypten Grandet, in Moreno García, S.  858. 114 Raaflaub, in Horst, S.  7 7. 115 San Nicolò, S.  60 f. 116 Otto, in Lévy, S.  123 f. 117 Assmann, Herrschaft und Heil, S.  180 f.; Otto, in Lévy, S.  124. 109

III. Rechtlicher Rahmen

233

Es gibt zwar eine lange Auseinandersetzung über die Frage, ob das altorientalische Recht Einfluss auf Griechen und Römer hatte.118 Insbesondere wird Homer eine Verbindungsfunktion zugewiesen.119 Ebenso findet sich die Annahme, Solons Konzept der guten Ordnung (eunomia) könnte vom ägyptischen Verständnis der Ma’at beeinflusst sein, was sich aber nicht eindeutig belegen lässt.120 Wichtiger als partielle inhaltliche Übereinstimmungen ist aber, dass sich die Rolle des Rechts im Selbstverständnis der griechischen Polis entscheidend veränderte. Nunmehr wurde es zu einem Instrument der sozialen und politischen Reform.121 Erst in der demokratischen Polis erlangte das Gesetz mit der Legitimation durch das Volk seine eigenständige Bedeutung als Ausdruck einer bürgerlichen Selbstbestimmung.122 Das Recht war nicht göttlichen oder königlichen Ursprungs, sondern das säkulare Recht des Volkes.123 Nunmehr wurde die Verschriftlichung und Veröffentlichung zur Voraussetzung für den besonderen Status eines Gesetzes.124 Schrift wurde zur »Vor-Schrift«.125 Zwar umfasste die öffentliche Rechtskommunikation in Athen nur die freien Männer, das war aber eine erhebliche Erweiterung gegenüber dem Kreis der mit Rechtsfragen befassten Amtsträger im Alten Orient.126 Allerdings muss auch hier auf wichtige Unterschiede zur Gegenwart hingewiesen werden. Weder in Athen noch in Rom war das Gesetz das wichtigste, kontinuierlich eingesetzte Steuerungsmittel, wie es für den modernen demokratischen Verfassungsstaat charakteristisch ist.127 Vielmehr galten die Gesetze Solons in Athen bzw. die Zwölf-Tafel-Gesetze in Rom als dauerhafte Grundlage der Rechtsordnung, so dass sie möglichst nicht mehr verändert werden sollten. Alle späteren Gesetze wurden als situationsabhängige Ergänzungen bzw. als Reaktionen auf neue Probleme verstanden, nicht aber als Ausdruck einer stetigen Weiterentwicklung der gesamten Rechtsordnung. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass ein erheblicher Teil der Gesetzgebung durch die Volksversammlungen den Institutionen der Polis 118

Knapper Überblick bei Démare-Lafont, S.  51–55. Barta, Bd.  I, S.  325 f. mwN. 120 Zur Diskussion ausführlich Barta, Bd.  I I/2, S.  217–277. 121 Westbrook, in Levinson, S.  28, der sogar von einer »intellectual revolution« spricht. 122 Assmann, in Gehrke, S.  61; Westbrook, in Lévy, S.  42. 123 So für Rom Robinson, Sources, S.  2 f. 124 Hölkeskamp/Stein-Hölkeskamp, in Gehrke/Schneider, S.   118; ebenso Harris, in Tiersch, S.  83. 125 Vesting, S.  40. 126 Vesting, S.  110. 127 Haller/Kölz, S.  250. 119

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6. Kapitel: Bilanz

bzw. der Republik galt, weil sich hier immer wieder Veränderungsbedarf zeigte. Insbesondere wurden immer wieder neue Ämter durch Gesetze geschaffen oder Verfahrensregeln reformiert, die z. B. für die Beschlussfassung in den Versammlungen von essentieller Bedeutung waren.

2. Die Rechtsbindung von Amtsträgern Für die frühen Monarchien des Palast-Typs erweist sich die Suche nach rechtlichen Bindungen der staatlichen Amtsträger als weitgehend ergebnislos. Es gab zwar Prinzipien der guten Amtsführung, die in Ägypten aus dem Grundsatz der Ma’at abgeleitet wurden. Einzelne überlieferte Dekrete formulierten allgemeine Anweisungen für Amtsträger in bestimmten Aufgabenbereichen. Ähnliche generelle Regelungen konnten auch Beschlüsse von städtischen Versammlungen enthalten. Sehr viel wichtiger waren aber zweifellos einzelfallbezogene Anweisungen. Erst in den Herrschaftsordnungen des Forum-Typs entstand die Idee einer umfassenden Bindung der Amtsträger an geschriebene Rechtsnormen, die von der Volksversammlung erlassen werden. Die schon bei Aristoteles formulierte Doktrin von der Herrschaft der Gesetze wirkte über Polybios und Cicero bis in die Neuzeit.128 Auch in der römischen Republik spielten die Gesetze eine wichtige Rolle für die Amtsträger. Ein wesentlicher Unterschied lag aber darin, dass die athenische Polis auch vielfältige politische und teilweise gerichtliche Kontrollmechanismen installierte, für die sich in Rom keine Entsprechung findet. Wenn man die Rechtsbindung weiter differenzieren will, kann man vor dem Hintergrund des modernen Verwaltungsrechts vier wesentliche Teilbereiche unterscheiden: Organisation, Verfahren, materielle Vorgaben und Vollstreckung. Der Rechtsschutz wird getrennt betrachtet.129 Die Einrichtung der verschiedenen Ämter, die in ihrer Summe die Verwaltungsorganisation im modernen Sinn bilden, erfolgte in Athen und Rom in großem Umfang durch Gesetze, d. h. durch Beschlüsse der Volksversammlungen. Für einige sehr alte Institutionen wie z. B. den Areopag oder den Senat lassen sich zwar entsprechende Entscheidungen nicht nachweisen, doch gab es hier oft spätere Beschlüsse, in denen z. B. der Besetzungsmechanismus oder die Befugnisse geändert wurden. Jedenfalls wurden neue Ämter, soweit ersichtlich, durchgehend durch Volksbeschluss 128 129

Bruns, S.  378–381. Siehe unten S.  237 f.

III. Rechtlicher Rahmen

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geschaffen. Insofern kann man auch für die Antike konstatieren, dass es keine Organisationsgewalt außerhalb des Rechts gab.130 Dagegen fehlte offensichtlich ein Verfahrensrecht. Es ist nicht erkennbar, dass griechische oder römische Amtsträger Anhörungs- oder Begründungspflichten unterlagen. Zwar ist überliefert, dass schon Solon und Drakon den Richtern einen Eid auferlegten, beiden Teilen gleiches Gehör zu schenken.131 Diese Pflicht, die auch das römische Recht kannte, bezog sich aber nur auf Gerichtsverfahren. Da nur wenige Gesetze im Wortlaut überliefert sind, kann man auch kaum generelle Aussagen über die Genauigkeit der materiell-rechtlichen Vorgaben machen. Es spricht viel dafür, dass Gesetze in der Regel nur die Aufgaben der Amtsträger festlegten, aber keine detaillierten Vorschriften im Sinne heutiger Befugnisnormen enthielten. Über die Mittel der Vollstreckung gab es hingegen bereits differenzierte Regelungen. Insbesondere in Athen und Rom wurden in viele Gesetze genaue Vorschriften über Bußgelder aufgenommen.

3. Die Funktion der Rechtsprechung Die Herausbildung einer Rechtsprechung durch neutrale Amtsträger als Methode der Konfliktlösung ohne Gewalt ist seit den frühesten Staaten ein zentrales Merkmal des geordneten Zusammenlebens. Nicht nur in Ägypten hatten die Gerichte eine große Bedeutung bei der Abwehr von Selbstjustiz.132 In allen vier untersuchten Herrschaftsordnungen war diese wichtige Funktion jedoch nicht personell getrennt von anderen Ämtern, denn nirgendwo gab es hauptamtliche Richter. Als eigener Beruf wurden Rechtsprechungsbefugnisse möglicherweise in der neubabylonischen Zeit, wohl aber nicht vor der spätrömischen Zeit ausgeübt. Die Zuständigkeit lag zum Teil bei kollegialen Spruchkörpern, zum Teil bei einzelnen Amtsträgern. In den mesopotamischen Stadtstaaten, wie z. B. dem alten Assur, zählte die Rechtsprechung zu den Aufgaben der lokalen Versammlungen, deren Zusammensetzung allerdings nicht bekannt ist. In Ägypten wurden viele Fälle von den regionalen Räten entschieden, die mit lokalen Honoratioren besetzt waren. Für wichtige Fälle gab es im Neuen Reich zwei zentrale Kollegialgerichte. In Athen spielten die Volks130

Groß, Kollegialprinzip, S.  16. Harter-Uibopuu, ZAR 2020, S.  126. 132 Jin, S.  57 f. 131

236

6. Kapitel: Bilanz

gerichte mit ihren vielen gelosten Mitgliedern eine wesentliche Rolle, während es für Bagatellstreitigkeiten Gemeindegerichte mit kleinen Kollegien gab. In Rom wurden nur wenige wichtige Strafverfahren vor der Volksversammlung durchgeführt. Ab dem 2. Jahrhundert übernahmen diese Aufgabe Gerichte, die aus Senatoren und später auch aus Rittern bestanden. Die Rechtsprechung durch Einzelpersonen kam in Ägypten vor, wenn ein örtlicher Amtsträger oder der Wesir entschied. In Assyrien zählte die Durchführung von Gerichtsverfahren zu den Aufgaben der Bürgermeister, doch gab es zumindest in der neuassyrischen Epoche auch einen obersten Richter. In Rom wurden die meisten Zivilverfahren von den Prätoren zusammen mit ad hoc ausgewählten Einzelrichtern entschieden. Auch die einzelnen Statthalter hatten in ihrer Provinz Rechtsprechungsbefugnisse. Angesichts dieses sehr gemischten Bildes ist die Behauptung, die Gerichte seien in den meisten Perioden vorrangig demokratisch gewesen,133 sicher zu weitgehend. Es fällt aber auf, dass in dem grundsätzlich monokratisch-hierarchisch organisierten ägyptischen Reich viele Rechtsstreitigkeiten durch kollegial besetzte Gerichte entschieden wurden. Auch in Assyrien gab es Kollegialgerichte, über deren Rolle aber wenig bekannt ist. Demokratisch waren nur das Losverfahren, mit dem die athenischen Volksgerichte besetzt wurden, und die eher seltenen Urteile der Volksversammlungen in Athen und Rom. Während die Gerichte in Ägypten und Assyrien im Wesentlichen Gewohnheitsrecht anwendeten, wurde die Rechtsprechung in Athen und Rom durch vom Volk legitimierte, geschriebene Rechtssätze bestimmt. Allerdings gilt auch hier, ähnlich wie beim administrativen Handeln der Amtsträger, dass die Gesetze häufig vage formuliert waren und erhebliche Auslegungsspielräume enthielten. Letztlich ist es kaum möglich, die Ergebnisse der Rechtsprechung in allen vier Rechtsordnungen näher zu analysieren, weil es in keinem Fall üblich war, eine Begründung zu geben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die Auffassung herrschte, dass das gemeine Recht keine Mitteilung der Entscheidungsgründe verlange.134 Eine Begründungspflicht für Urteile wurde erst unter dem Einfluss der Aufklärung eingeführt, da Herrschaft ab diesem Zeitpunkt als rechenschaftspflichtig angesehen wurde.135 Die erste einschlägige Anordnung erfolgte im Jahr 1715 in

133

Martin/Snell, in Snell, S.  398. Günzl, S.  23. 135 Kischel, Begründung, S.  25–29. 134

III. Rechtlicher Rahmen

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Sachsen und später auch in anderen deutschen Staaten.136 In Frankreich wurde die Pflicht zur Beifügung von Urteilsgründen erst durch Art.  15 des Titels V des Gesetzes über die Gerichtsorganisation vom 16./24. August 1790 eingeführt.137 Die erste verfassungsrechtliche Verankerung der Begründungspflicht für Gerichtsurteile enthielt Titel VIII §  2 der bayerischen Verfassungsurkunde von 1818, gefolgt von §  46 der Königlich Sächsischen Verfassungsurkunde von 1831.

4. Der Rechtsschutz In den Monarchien des Palast-Typs gab es keine effektiven Verfahren des Rechtsschutzes. Es fehlte schon an der Vorstellung, die Untertanen könnten Rechte gegenüber den Herrschern haben. Sowohl in Ägypten wie auch in Assyrien hatte zwar jeder das Recht, sich mit einer Beschwerde an den König zu wenden. In Ägypten wurden solche Beschwerden allerdings regelmäßig vom Wesir beschieden, möglicherweise nach Rücksprache mit dem König. Jedoch fehlt es an hinreichenden Informationen, in welchen Fällen tatsächlich Entscheidungen von Amtsträgern geändert oder aufgehoben wurden. Immerhin findet sich in einer ägyptischen Vorschrift ein früher Vorläufer der Begründungspflicht für die Abweisung einer Beschwerde. Rechtsschutz, wie er heute in Deutschland verstanden wird, also als Prüfung einer Beschwerde, die eigene Rechte geltend macht, durch eine neutrale Instanz, gab es in Athen zumindest in drei Fällen: der Verweigerung des Bürgerrechts, der Ablehnung eines Kandidaten für den Rat der Fünfhundert und der Anfechtung einer Buße. Daneben hatte jedermann das Recht, sich über jeden Amtsträger zu beschweren, ohne dass eine eigene Betroffenheit vorliegen musste, was zu einer Prüfung durch die Untersucher führte. In der römischen Republik bestand dagegen nur die Möglichkeit, sich über Entscheidungen eines Magistrats bei den anderen gleichgeordneten Magistraten zu beschweren, um eine kollegiale Entscheidung zu erwirken. Bei Streitigkeiten innerhalb der Stadt Rom war es zudem generell möglich, die Volkstribune anzurufen, die Entscheidungen aller anderen Magistrate annullieren konnten.

136 137

Überblick bei Günzl, S.  25–44. Lafaix, in Masing u. a., S.  63.

238

6. Kapitel: Bilanz

Mangels hinreichenden Materials aus der Rechtsprechung, das rechtswissenschaftlich analysiert werden könnte, ist es deshalb auch dort, wo das Handeln von Amtsträgern zum Gegenstand von Gerichtsverfahren wurde, kaum möglich festzustellen, welche rechtlichen Maßstäbe die Gerichte anlegten. Selbst bei den Verfahren vor den athenischen Volksgerichten, die öfter amtliche Maßnahmen überprüften, spielte ersichtlich nicht nur das behauptete Fehlverhalten, sondern auch die Beurteilung der Person des Angeklagten eine zentrale Rolle. Deshalb wird man für Athen und erst recht für die anderen Herrschaftsordnungen nicht davon ausgehen können, dass die Gerichte einen Rechtsschutz in Verwaltungsangelegenheiten boten, der heutigen Vorstellungen entsprach.

IV. Wirkungsgeschichte Die Wirkungsgeschichte der antiken Herrschaftsformen in der europäisch-amerikanischen Diskussion über die Konzeption staatlicher Ordnungen ist ein eigenes Thema, zu dem hier nur ein sehr knapper Überblick gegeben werden kann. Dabei muss berücksichtigt werden, dass jede Rezeption selektiv und am zeitgenössischen Argumentationsbedarf ausgerichtet ist.138 Außerdem muss zwischen der staatstheoretischen Diskussion und ihrer normativen Umsetzung in Verfassungen unterschieden werden. Auffällig ist, dass die älteren Monarchien des Palast-Typs in den späteren Epochen nur eine geringe Rolle spielten. Allerdings wurde das assyrische Reich in der Lehre von der Übertragung der Herrschaft zwischen den Reichen (translatio imperii) schon seit der spätrömischen Geschichtsschreibung bis zum späten Mittelalter als Ausgangspunkt angesehen.139 Es bildete damit den Beginn einer langen Kette aufeinander folgender, transzendental legitimierter Monarchien. In einer 1532140 erschienen Weltchronik von Johann Carion wurde das erste Großreich schon bei den Babyloniern angesiedelt, von denen die Herrschaft nach Gottes Willen auf Assyrien und über viele weitere Stufen auf die deutschen Kaiser übergegangen sei.141 Ägypten wurde dagegen nie in dieser Reihe genannt. Mit dem Aufkommen der modernen Staatstheorie verlor diese Lehre ihre Bedeutung. 138

Nippel, Freiheit, S.  14. Ausführlich dazu Goez, S.  17–257. 140 In diesem Abschnitt beziehen sich alle Jahreszahlen auf die Zeit nach unserer Zeitrechnung. 141 Zusammenfassung bei Goez, S.  257–280. 139

IV. Wirkungsgeschichte

239

Obwohl es aber auch eindeutige Parallelen zwischen den Königreichen des Alten Orients und den absoluten Monarchien der europäischen Neuzeit gibt, findet man soweit ersichtlich keine positive Referenz auf die ersten außereuropäischen Herrschaftsordnungen des Palast-Typs. Zwar wurde in beiden Fällen die Konzentration der Herrschaftsgewalt in einer Person religiös legitimiert. So schrieb etwa Georg Jellinek noch während des zweiten deutschen Kaiserreichs: »Gott allein ist der Ursprung der monarchischen Gewalt«.142 In den Rechtfertigungen autokratischer Regime wurden jedoch weder die ägyptischen Pharaonen noch die assyrischen Könige als Vorbilder genannt. Dies mag auch mit ihrem nicht gerade positiven Bild im Alten Testament zusammenhängen. Erst nach der Abschaffung der Monarchie in Deutschland hat der ehemalige Kaiser Wilhelm II., der bereits während seiner Herrschaft die archäologische Forschung in Mesopotamien stark unterstützt hatte, eine Studie mit einer positiven Bewertung veröffentlicht. Er beschreibt darin die Herrscher von Assur als »eine Reihe kraftvoller und kluger Könige«, die »mit hervorragendem Organisationstalent begabt« waren.143 Diese Ein­schätzung ist aber wohl eher Folge seiner persönlichen Vorliebe für die vorderasiatische Archäologie als Ausdruck einer ideologischen Verbundenheit. Eine erheblich größere Bedeutung hatte die Rezeption der athenischen Ämterorganisation und ihrer römischen Variation. Zunächst hatte die antike Idee der Mischverfassung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine große Bedeutung in den europäischen Diskussionen über die Staatsordnungen.144 Sie geht letztlich auf Aristoteles zurück, wo sie als Mischung zwischen Demokratie und Oligarchie erscheint.145 Von Polybios wurde sie dann auf die römische Republik angewendet, wo er eine Kombination von monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen erkannte.146 Sie wurde in allen europäischen Staaten mit Ständeversammlungen rezipiert.147 Besonders einflussreich war sie im England der frühen Neuzeit.148 Die Neuerung der Theoretiker der absoluten Monarchie, unter denen insbesondere Bodin und Hobbes zu nennen sind, bestand darin, dass sie 142

Jellinek, S.  473. Wilhelm II, S.  34. 144 Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  18. 145 Dazu Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  52–62. 146 Siehe oben S.  195 f. 147 Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  162 f. 148 Ausführlich Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  169–311. 143

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6. Kapitel: Bilanz

diese Theorie der Mischverfassung ablehnten.149 Vielmehr hat Bodin 1576 im ersten seiner sechs Bücher über die Republik erstmals die Theorie entwickelt, dass die Gesetzgebung Ausdruck der höchsten Gewalt (»Souveränität«) im Staat sei und keinen Bindungen unterliege.150 Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die römischen Volksversammlungen, auch wenn er erkannte, dass es in der Republik eine Mischung von aristokratischen und demokratischen Elementen gab.151 Dagegen lehnte er die athenische Form der Demokratie ausdrücklich ab.152 Nunmehr sollte die Souveränität allerdings beim rechtlich ungebundenen Monarchen liegen. Damit wurde das autokratische Element radikalisiert, denn die Könige wurden damit jeder Form von Rechenschaft gegenüber dem Volk entzogen. In der Folge entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert der konzeptionelle Gegensatz zwischen der absoluten Monarchie auf der einen und der Republik mit mehr oder weniger bürgerlicher Partizipation auf der anderen Seite.153 Im Zuge der europäischen Aufklärung gewann der Herrschaftstyp des Forums wieder zunehmende Beachtung, wobei die römische Republik meist wichtiger war als die attische Demokratie.154 Athens demokratisches Konzept von Bürgerschaft und Partizipation wurde in Europa bis vor zweihundert Jahren meist zurückgewiesen, weil v. a. die Kritik von Plato und anderen rezipiert wurde.155 Noch heute ist strittig, ob Athen die »Urahnin unserer eigenen Verfassung«156 ist oder ob das griechische Beispiel vielmehr keine Rolle für die modernen Staaten spielte, da die repräsentative Demokratie nur das Wort übernommen habe.157 Richtig ist, dass die Konzeption der repräsentativen Demokratie mit gewählten Parlamenten, die sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA und großen Teilen Europas durchsetzte, wesentliche Unterschiede gegenüber der direkten Demokratie mit Volksversammlungen aufweist.158 Auf der anderen Seite besteht aber eine große Ähnlichkeit in den Grundideen der Gesetzlichkeit, des Pluralismus und der Gleichheit,

149

Nippel, Mischverfassungstheorie, S.  165; Richard, S.  128. Maissen, S.  49–54. 151 Lee, S.  2 21–223. 152 Roberts, Trial, S.  8 . 153 Zusammenfassend Maissen, S.  148–163. 154 Hansen, Greece and Rome 1992, S.  18 f.; Demandt, S.  406; Cartledge, S.  135. 155 Nippel, Freiheit, S.  88–90, 112–124; Wagner, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  49–52; ausführlich Roberts, Trial, S.  139–226. 156 Pabst, S.  7. 157 Ruschenbusch, in Osborne/Hornblower, S.  197. 158 Hansen, Greece and Rome 1992, S.  2 3. 150

IV. Wirkungsgeschichte

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die Dolf Sternberger unter dem Begriff der »Bürgerlichkeit« der Staatsordnung zusammengefasst hat.159 Im Folgenden können nur einige wenige Hinweise zur Rezeption der beiden Herrschaftstypen in verschiedenen Staaten gegeben werden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Ämterorganisation, weil sich hier Beispiele aus der Frühphase der modernen verfassungsstaatlichen Demokratie finden, die Einflüsse antiker Vorbilder der Machtbegrenzung erkennen lassen.

1. USA Die sog. Gründungsväter (founders) der Vereinigten Staaten von Amerika wurden durch ihre klassische Ausbildung in den Schulen des 18. Jahrhunderts geprägt.160 So forderte etwa John Adams (1735–1826), der erste Vizepräsident und zweite Präsident der USA: »…read the histories of ancient ages; contemplate the great examples of Greece and Rome…«.161 Er berief sich in seinen politischen Reden und Schriften auf Plato, Aristoteles, Polybius und Cicero.162 Dabei sprach er sich aber in Abgrenzung zum Vorbild Athens für eine gemäßigte Demokratie aus.163 Auch andere Gründungsväter zeichneten ein einseitig kritisches Bild der Mehrheitsherrschaft in Athen.164 Eine nicht nur terminologische Vorbildfunktion der römischen Republik zeigte sich darin, dass zehn der dreizehn Staaten, die bei der Gründung der USA bestanden, Senate schufen. Diese zweite Parlamentskammer war jeweils kleiner und hatte eine längere Wahlperiode als die erste Kammer, außerdem war ein bestimmtes Vermögen Voraussetzung für das passive Wahlrecht.165 Ähnliches gilt nach Art. I sec. 3 US-Verfassung auch für den Senat auf Bundesebene. James Madison (1751–1836) verwies zur Verteidigung dieser Regelungen in der Bundesverfassung ausdrücklich auf Vorbilder in Sparta, Rom und Karthago, versicherte aber, dass der US-Se-

159

Sternberger, S.  23 f. Richard, S.  12–38. 161 Zitiert nach Wood, S.  6 ; weitere Referenzen bei Roberts, Trial, S.  177–180. 162 Richard, S.  133. 163 Richard, S.  134–138; Nippel, Freiheit, S.  131 f. 164 Roberts, Trial, S.  180–184; Nippel, Freiheit, S.  147; Cartledge, S.  6 . 165 Richard, S.  131. 160

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6. Kapitel: Bilanz

nat sich nicht in eine unabhängige und aristokratische Körperschaft verwandeln könne.166 Eine weitere Parallele bestand darin, dass in den meisten Staatsverfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung geschaffen wurden, eine nur einjährige Wahlperiode für exekutive Ämter festgelegt wurde, um Machtballung zu verhindern.167 Eine markante Regelung findet sich etwa in Art. VIII des ersten Teils der Verfassung von Massachusetts aus dem Jahr 1780: »In order to prevent those who are vested with authority from becoming oppressors, the people have a right at such periods and in such manner as they shall establish by their frame of government, to cause their public officers to return to private life; and to fill up vacant places by certain and regular elections and appointments.« Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts vertrat die konservative Whig Partei der USA die Parole: »Where ANNUAL ELECTION ends, TYRANNY begins«.168 Außerdem wurde in einige Verfassungen eine Regelung aufgenommen, wonach der Gouverneur als Leiter der Exekutive nicht allein die anderen Amtsinhaber auswählen durfte, sondern Beamte und Richter entweder nur vom Parlament oder vom Parlament gemeinsam mit dem Gouverneur ausgewählt wurden.169 Auch auf Bundesebene bedarf der Präsident bis heute nach Art. II sec. 2 US-Verfassung für die Besetzung vieler leitender Ämter der Zustimmung des Senats. Darin zeigt sich die politische Bedeutung, die der Führungsebene der Exekutive beigemessen wird, deren Auswahl deshalb nicht allein dem Präsidenten überlassen wird. Erst im Jahr 1883 wurde das Dienstrecht des Bundes vereinheitlicht und für die meisten Bediensteten die Einstellung auf Lebenszeit verankert.170 Dennoch werden nach jeder Präsidentenwahl Hunderte von Posten mit Leitungsfunktionen neu besetzt.

2. Frankreich Nach der Französischen Revolution gab es in der öffentlichen Diskussion über die Verfassung von 1791 vielfache positive und negative Referenzen auf die antiken Republiken.171 Eine Ausgabe der Reden des Demosthenes 166

Madison, in Wills, S.  318–325. Überblick bei Wood, S.  132–143. 168 Zitat bei Wood, S.  166. 169 Wood, S.  148 f. 170 Schmidt-Aßmann, S.  72 f. 171 Roberts, Trial, S.  193–200. 167

IV. Wirkungsgeschichte

243

wurde von einem Monarchisten genutzt, um vor dem Schrecken der radikalen Demokratie zu warnen.172 Es herrschte allerdings Übereinstimmung, dass eine direkte Demokratie in Frankreich wegen der Größe des Landes nicht möglich war.173 In der republikanischen Verfassung von 1793 finden sich jedoch einige direktdemokratische Elemente. Nach Art.  23 sollten Urversammlungen (assemblées primaires) geschaffen werden, die auf einer Bevölkerungszahl von 39.000 bis 41.000 Seelen beruhten und jeweils einen Abgeordneten der Nationalversammlung wählten, deren Amtszeit nach Art.  31 ein Jahr betrug. Jedes von der Nationalversammlung beschlossene Gesetz sollte nach Art.  59 den Urversammlungen vorgelegt werden und konnte nur in Kraft treten, wenn nicht eine bestimmte Zahl von Versammlungen Einspruch erhob.174 Der Vollzugsrat sollte nach Art.  62 f. aus 24 Mitgliedern bestehen, die vom Parlament aus einer Liste ausgewählt werden sollten, die je einen Kandidaten enthält, der von den Wahlversammlungen jedes Departements aufgestellt wurde. Damit wäre die Besetzung der Exekutive partiell dezentralisiert worden. Die Gemeindebeamten sollten nach Art.  79 durch die Gemeindeversammlungen gewählt werden, die Verwaltungsbeamten der mittleren Ebenen nach Art.  80 durch die Wahlversammlungen des Departements bzw. des Bezirkes. Auch die Friedensrichter, die öffentlichen Schiedsrichter, die Strafrichter und sogar die Richter des Kassationshofes sollten nach Art.  88–100 jährlich von den örtlichen Versammlungen gewählt werden. Allerdings wurden die Regelungen dieser Verfassung in der Terrorphase der Revolution nie in die Praxis umgesetzt. Die Direktoriumsverfassung von 1795 regelte in Art.  17–32 in ähnlicher Weise die Befugnisse der Urversammlungen, die allerdings nun nicht mehr über die Gesetzgebung, sondern nur über Verfassungsänderungen beraten sollten. Außerdem benannte Art.  44 eine der beiden legislativen Kammern in Übernahme des Athener Vorbildes als »Rat der Fünfhundert«.175 Die Leitung der Exekutive wurde dem fünfköpfigen Direktorium übertragen, dessen Mitglieder nach Art.  132–138 vom Parlament auf fünf Jahre, aber im jährlichen Wechsel gewählt wurden, wobei eine unmittelbare Wiederwahl ausgeschlossen war. Auch das Grundprinzip der Wahl der Richter wurde beibehalten. 172

Schindel, S.  85–87. So bereits Paine, S.  233; s. a. Nippel, Freiheit, S.  156; Wagner, in Arnason/Raaflaub/ Wagner, S.  56 f. 174 Nippel, Freiheit, S.  157. 175 Nippel, Freiheit, S.  183. 173

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6. Kapitel: Bilanz

In diesen beiden frühen republikanischen Verfassungen sind die Anleihen aus der Antike, die sich in den direktdemokratischen Urversammlungen, der Begrenzung der Amtszeiten und der Wahl der lokalen Beamten und der Richter niedergeschlagen haben, offensichtlich. Unter Napoleon wurden im Jahr 1800 alle diese Ansätze abgeschafft und durch eine radikale Zentralisierung der Verwaltung ersetzt, die nach dem Vorbild der Armee bis auf die lokale Ebene hierarchisch organisiert wurde.176 Hier kommt die Tradition des Palast-Typs wieder zum Vorschein. Eine kurzlebige Ausnahme war die Pariser Kommune von 1871. Obwohl sie ausdrücklich das Ziel verfolgte, eine »permanente Teilnahme der Bürger an den Angelegenheiten der Kommune« zu ermöglichen,177 gab es in ihren Debatten jedoch kaum Bezugnahmen auf die athenische Demokratie.178

3. Schweiz Die Landsgemeinde, die als gesetzgebende Volksversammlung noch heute in den beiden kleinen Schweizer Kantonen Appenzell-Innerrhoden und Glarus besteht, ist in Europa die einzige reale Parallele zum athenischen Modell der direkten Demokratie. Ihre große Ähnlichkeit wurde schon im 19. Jahrhundert festgestellt.179 Ihre Entstehungszeit im 13. Jahrhundert spricht allerdings dafür, dass sie eher auf germanische Traditionen als auf einen Einfluss antiker Vorbilder zurückgehen.180 In der alten Eidgenossenschaft bestanden Landsgemeinden in acht Bergkantonen,181 doch wurden sie überwiegend im 19. oder 20. Jahrhundert abgeschafft. Im Gegensatz zu Athen oder Rom tagt die Landsgemeinde nur einmal im Jahr, wodurch sich eine starke Stellung der Magistrate ergibt.182 Außerdem besteht neben ihr ein gewähltes Parlament, in dem die Gesetzesvorlagen vorberaten werden, über die die Versammlung in einer Ja/Nein-Entscheidung Beschluss fasst.183 Darüber hinaus ist sie für die Wahl in vollziehende und richterliche Behörden zuständig.184 176

Knappe Darstellung bei Groß, Kollegialprinzip, S.  113 f. Zitat nach Ross, S.  144. 178 Nippel, Freiheit, S.  292. 179 Bluntschli, S.  37. 180 Hansen, Greece and Rome 1992, S.  21 f.; ebenso bereits Curti, AöR 1912, S.  5. 181 Curti, AöR 1912, S.  28. 182 Nippel, Freiheit, S.  294. 183 Bluntschli, S.  38 f. 184 Bluntschli, S.  4 4 f. 177

IV. Wirkungsgeschichte

245

In den größeren Kantonen lag die Macht dagegen bei Räten, die in der alten Eidgenossenschaft mehr oder weniger oligarchisch besetzt waren. In den Jahren um 1830 kam es zu einer breiten Demokratisierungsbewegung. Es ist auffällig, dass sich hier viele Hinweise auf antike Herrschaftsordnungen finden. So ist bekannt, dass sich schon der frühe Reformer Johann Jakob Bodmer (1698–1783) mit Sparta, Athen und Rom auseinandersetzte.185 Besonders einflussreich war der deutsche Emigrant Ludwig Snell (1785–1854). Er legte großen Wert auf die Publizität sämtlicher Zweige der Staatsverwaltung186 und zog in einer Schrift über die Pressefreiheit die Parallele zum Forum in Athen und Rom als Platz des Redners.187 Bei dem Liberalen Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) findet sich eine Darstellung der römischen Comitien.188 Die Bewegung führte u. a. dazu, dass der Kanton Zürich im Jahr 1831 eine neue Verfassung annahm, in der als oberste Verwaltungsbehörde ein Regierungsrat mit 19 Mitgliedern bestimmt wurde, der vom Großen Rat, dem Kantonsparlament, gewählt wurde (Art.  53). Es gab zwei Bürgermeister, die auf zwei Jahre vom Großen Rat gewählt wurden und abwechselnd für je ein Jahr den Vorsitz im Regierungsrat führten (Art.  55). Dieser bestellte für alle wichtigen Verwaltungsbereiche Kollegien, nämlich einen Rat für auswärtige Angelegenheiten, einen für innere Angelegenheiten, einen Polizeirat, einen Finanzrat, einen Kriegsrat, einen Rat für die Gesetzgebung, einen Gesundheitsrat (Art.  57). Dagegen wurden die Mitglieder des Kirchenrats (Art.  69) und des Erziehungsrats (Art.  70) vom Großen Rat gewählt. Hier wurde also innerhalb eines repräsentativen Systems eine breite kollegiale und ehrenamtliche Leitung der Exekutive eingerichtet. Diese in modifizierter Form bis heute bestehenden Besonderheiten der Schweiz hat Fritz Fleiner in der Unterscheidung zwischen Volksstaat und Beamtenstaat zusammengefasst, die bemerkenswerte Parallelen zur Verwaltung im Forum-Typ bzw. im Palast-Typ aufweist. Während ein Beamtenstaat z. B. in Deutschland bestehe, seien die Kantone die eigentliche Heimat des Volksstaats. Für ihn sei die Verwaltung durch zeitlich befristete und überwiegend ehrenamtliche Amtsinhaber charakteristisch.189 Dadurch ergäben sich zwar Defizite bei der Sachkenntnis, aber auf der ande-

185

Weinmann, S.  85. Weinmann, S.  187. 187 Snell, S.  8 . 188 Bluntschli, S.  14–19. 189 Fleiner, S.  145–148. 186

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6. Kapitel: Bilanz

ren Seite könnten immer frische Kräfte für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden.190 Eines der Kernelemente des volksstaatlichen Verwaltungsverständnisses war das System der Amtsdauer, d. h. die befristete Besetzung aller Beamtenstellen, um das Entstehen einer bürokratischen Kaste zu verhindern. In den letzten Jahrzehnten ist es allerdings weitgehend zugunsten eines flexiblen, aber unbefristeten vertraglichen Beschäftigungsverhältnisses abgeschafft worden.191

4. Deutschland In Deutschland war die Rezeption des Athener Modells meist sehr zurückhaltend. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts gab es unter den deutschen Intellektuellen zwar eine zunehmende Griechenland-Begeisterung. Diese wurde aber von skeptischen Urteilen über die athenische Demokratie begleitet.192 In den ersten ausführlicheren Darstellungen der griechischen Geschichte, die am Ende des 18. Jahrhunderts erschienen, interessierte man sich mehr für den Strategen Phokion als für demokratische Politiker.193 Unter den Umständen der damaligen monarchischen Verfassungen gab es auch keine Einsatzmöglichkeiten für öffentlich wirksame Rhetorik.194 Im Vorwort einer Übersetzung der Reden des Demosthenes aus dem Jahr 1805 wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er »nicht als ein Prediger des Demokratismus« anzusehen sei.195 Das wohl wichtigste Element der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen war die Städteordnung von 1808, mit der die deutsche Geschichte der Selbstverwaltung beginnt. Sie lässt sich jedoch nicht auf antike Vorbilder zurückführen. Vielmehr wurden die Reformer durch eine eigenartige Mischung von ständestaatlichen Traditionen und französischen sowie englischen Einflüssen geprägt.196 Zwar wurde die von den Bürgern gewählte Stadtverordnetenversammlung zum obersten Organ, doch waren weniger als 10 % der Bevölkerung wahlberechtigt.197 Die Mitglieder des Leitungs190

Fleiner, S.  150. Vgl. die Darstellung bei Michel, S.  3 –33. 192 Näf, S.  16–26. 193 Schindel, S.  61–72. 194 Schindel, S.  48 f. 195 Zitiert nach Schindel, S.  26. 196 Darstellung z. B. bei Heffter, S.  7 7–92; dazu auch Cancik, Der Staat 2004, S.  323–326. 197 Cancik, S.  42. 191

V. Fazit

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gremiums Magistrat mussten von der Staatsaufsicht bestätigt werden und hatten eine sechs- bzw. zwölfjährige Amtszeit,198 so dass das demokratische Element deutlichen Beschränkungen unterlag. Auch in der deutschen politischen Diskussion des 19. Jahrhunderts überwogen die kritischen Bezugnahmen auf die Antike.199 Ob die demokratischen Vordenker in der napoleonischen Epoche und in den danach etablierten absoluten oder konstitutionellen Monarchien durch die Institutionen der athenischen Polis oder der römischen Republik inspiriert wurden, ist, soweit ersichtlich, noch nicht näher untersucht worden. Einige Anklänge lassen sich aber zweifellos in den Forderungen nach einer Volkstümlichkeit der Verwaltung finden, die auch die Wahl aller Beamten sowie eine weitgehende Öffentlichkeit administrativen Handelns umfassten.200 In den Verwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts setzte sich jedoch weitgehend das französische Vorbild einer hierarchisch-monokratischen Organisation nach dem Palast-Typ durch.201 Insbesondere gilt bis heute die Verbeamtung auf Lebenszeit als verfassungsrechtlich garantierter Regeltyp des öffentlichen Dienstes.202

V. Fazit Die Unterscheidung zwischen den Herrschaftsordnungen des Palast-Typs und des Forum-Typs hat sich als fruchtbar erwiesen, um wesentliche Merkmale der Staatswesen in Ägypten und Assyrien auf der einen Seite und Athen sowie Rom auf der anderen Seite zu erklären. Nicht nur bei der Organisation der Staatsleitung, sondern auch bei der administrativen Ämterordnung, der territorialen Verwaltung und den rechtlichen Grundlagen des Gemeinwesens haben sich markante Unterschiede zwischen den beiden Grundtypen nachweisen lassen. Der Palast war nicht nur der Sitz eines absoluten Herrschers, der seine Legitimation aus der göttlichen Sphäre abgeleitet hat, sondern auch das Zentrum einer hauptamtlichen Verwaltung, die in einer grundsätzlich linear-arbeitsteiligen Ordnung dem König zu gehorchen hatte. Auf der regionalen und lokalen Ebene gab es eine gewisse faktische Autonomie der 198

Heffter, S.  94–96. Nippel, Freiheit, S.  192–199, 222–245; s. a. Roberts, Trial, S.  214–220, 293 f. 200 Cancik, Der Staat 2004, S.  306–315; Cancik, S.  29–35. 201 Groß, Kollegialprinzip, S.  114–120. 202 Hebeler, S.  170–176. 199

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6. Kapitel: Bilanz

Amtstätigkeit, die aber die Unterordnung unter den König nicht in Frage stellte. Dieser lenkte die Amtsträger durch Einzelanweisungen und allgemeine Dekrete, die aber nur zu einer punktuellen Rechtsbindung führten, während die Rechtsprechung durch das Gewohnheitsrecht geprägt war. Aufgrund der Eingriffsmöglichkeiten der Könige fehlten allerdings mit der festen Zuständigkeitsordnung und der Regelbindung zwei wesentliche Merkmale der Weberschen Bürokratiedefinition, und auch eine fachliche Schulung gab es allenfalls in Ansätzen. Das Forum war in Athen und Rom nicht nur der Ort, an dem die Volksversammlungen tagten, um Gesetze zu beschließen und Wahlen durchzuführen, sondern dort war auch der Sitz einiger wichtiger administrativer und judikativer Institutionen. Fast alle staatlichen Ämter mit Entscheidungsbefugnissen wurden ehrenamtlich, kollegial und nur für ein Jahr besetzt, um die Akkumulation persönlicher Macht möglichst zu verhindern. Lediglich die Mitgliedschaft im athenischen Areopag und im römischen Senat bestand grundsätzlich auf Lebenszeit. Während der Areopag in der demokratischen Epoche meist nur wenige Rechtsprechungsbefugnisse hatte, kam dem Senat ein großer politischer Einfluss zu. So zeigt sich in der römischen Republik ein oligarchisches Element, das in der athenischen Polis keine Parallele findet. Im konzeptionellen Ansatz gleich war dagegen die Doktrin der Herrschaft die Gesetze, in denen auch die Struktur der Ämter sowie ihre Aufgaben definiert wurden. Systematische Rechenschaftspflichten kannte allerdings nur die athenische Polis. Können aus den Ergebnissen dieser Untersuchung Schlussfolgerungen für die Gegenwart gezogen werden? Die Ansätze zur Integration direktdemokratischer Elemente in der Gesetzgebung und bei der Besetzung der administrativen Ämter, die in der Phase der demokratischen Revolutionen in Europa und den USA ausprobiert oder zumindest diskutiert wurden, sind heute nur noch in der Schweiz in nennenswertem Umfang zu finden. In den anderen europäischen Ländern wie auch weitgehend in den USA haben sich dagegen die repräsentative Form der Demokratie und die Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung durchgesetzt. Die modernen Demokratien sind deshalb als eine im Detail unterschiedliche Mischung zwischen dem Forum-Typ und dem Palast-Typ zu beschreiben. Merkmale des Forums, die auch heute bestehen, sind die Gleichberechtigung der Bürgerinnen und Bürger, die offene demokratische Willensbildung, die freien Wahlen zu den Parlamenten sowie die Einsetzung und Kontrolle der Regierung durch diese Parlamente, soweit es sich nicht um ein präsidentielles Regime handelt. Daneben bestehen aber im Bereich

V. Fazit

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der Verwaltung mit ihrer hauptamtlichen Besetzung, der monokratisch-hierarchischen Struktur und der Tradition arkaner Entscheidungsfindung bis heute Elemente des Palast-Typs, die ihre Wurzeln im Zeitalter des Absolutismus haben. Zwar ist das zugrunde liegende Maschinenmodell des Staatsapparates vielfach in Kritik geraten und durch die Einführung verschiedener Formen der Selbstverwaltung und die Ausgliederung unabhängiger Behörden relativiert worden.203 Auch ist der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verwaltungsdokumente inzwischen gegen zähen Widerstand auf Bundesebene sowie in den meisten Ländern durchgesetzt worden.204 Dennoch wird die demokratische Legitimation der Verwaltung grundsätzlich weiterhin nur indirekt über die Bindung an die Gesetze, die Leitungsbefugnis der Regierung sowie die Kontrolle durch das Parlament und durch die Gerichte hergeleitet, während eine direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger nur im Bereich der Selbstverwaltung als legitim angesehen wird.205 Formen der direkten Demokratie bilden in Deutschland immer noch die Ausnahme. Zwar gibt es seit etwa fünfzig Jahren in der westlichen Welt wieder mehr Kritik an den Begrenzungen der Partizipation in den repräsentativen Demokratien.206 Dies koinzidiert nicht zufällig mit einer positiveren Beurteilung der athenischen Demokratie.207 Dennoch ist die unmittelbare Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an staatlichen Entscheidungen nur in kleinen Schritten ausgebaut worden. Eine Versammlungsdemokratie gibt es in Deutschland nur noch in wenigen Kleinstgemeinden Schleswig-Holsteins. Die Möglichkeit von kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden ist zwar mittlerweile in allen Bundesländern eingeführt worden, doch unterliegen sie mehr oder weniger weitreichenden Restriktionen, so dass sie selten zum Einsatz kommen.208 Auf Landesebene besteht zwar inzwischen ebenfalls generell die Möglichkeit von Volksentscheiden, zum Teil auch außerhalb des Bereichs der Gesetzgebung, doch sind auch hier die Bedingungen so restriktiv, dass sie nur in wenigen Fällen politische Relevanz errungen haben. Die Erwartungen, die vereinfachten digitalen Kommunikationsmöglichkeiten könnten einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Bürgernähe von Par203

Knappe Darstellung bei Groß, Kollegialprinzip, S.  138–149. Überblick bei Groß, in Broemel/Pilniok, S.  28–30. 205 Zusammenfassung der juristischen Diskussion bei Groß, JURA 2016, S.  1026–1036. 206 Wagner, in Arnason/Raaflaub/Wagner, S.  59. 207 Walter, in Beck, S.  513. 208 Zu den Regelungen Lange, S.  607–654; internationaler Überblick bei Schiller, in Morel/Qvortrup, S.  60–75. 204

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6. Kapitel: Bilanz

lamenten und Verwaltungen leisten, sind bisher ebenfalls nur sehr eingeschränkt erfüllt worden.209 Eine gewisse Renaissance hat dagegen in den letzten Jahren ein anderes Element der athenischen Demokratie gefunden, das Auswahlverfahren des Loses.210 Die Idee, beratende Gremien mit ausgelosten Mitgliedern einzusetzen, wurde in den USA als Element einer Reform der Demokratie entwickelt.211 Durch das Losen sollen die offensichtlichen sozialen Selektionsprozesse der parteiengesteuerten repräsentativen Demokratie vermieden werden, indem ein Verfahren gewählt wird, das gewährleistet, dass die reale Vielfalt der Gesellschaft in einem Gremium abgebildet wird.212 Dies entspricht der Grundidee in der athenischen Ämterordnung, den Wettbewerb um persönliche Macht auszuschalten.213 In den letzten Jahren wurden in verschiedenen Staaten Bürgerräte geschaffen, die für ein bestimmtes politisches Thema mit fachlicher Unterstützung, aber ohne parteipolitischen Einfluss Lösungsvorschläge erarbeiten sollen. Ihr großer Vorteil besteht darin, dass ihre Mitglieder sich auf das Sachthema konzentrieren und sich nicht durch den persönlichen Ehrgeiz, ein bestimmtes Amt zu erreichen, leiten lassen. So hat etwa in Frankreich ein vom Staatspräsidenten einberufener Klima-Bürgerrat (Convention Citoyenne pour le Climat) mit 150 Mitgliedern insgesamt 149 Vorschläge erarbeitet, die von Verfassungsänderungen über Gesetzesvorschläge bis zu konkreten Einzelmaßnahmen reichen. Auch in Deutschland gibt es Beispiele auf allen staatlichen Ebenen.214 In Baden-Württemberg wurde sogar ein Gesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung erlassen, um die Auslosung der Mitglieder auf der Basis der Melderegister zu regeln.215 Allerdings können diese Gremien nur Empfehlungen aussprechen, die dann von den gewählten Parlamenten oder den zuständigen Stellen der Verwaltung umgesetzt werden müssen, ohne dass diese auch nur zu einer Befassung verpflichtet sind.216 Damit kann man Bürgerräte nicht zur direkten Demokratie im eigentlichen Sinn zählen, sondern sie bleiben im Bereich der öffentlichen Meinungsbildung, ohne selbst Herrschaft auszuüben.217 209

Überblick z. B. bei Kersten, S.  159–253; skeptisch auch Cartledge, S.  133. Breiter historischer Überblick bei Buchstein, S.  17–226. 211 Dazu Buchstein, S.  373–390; Setälä, in Morel/Qvortrup, S.  4 64–475. 212 Nanz/Leggewie, S.  71–74; Lafont, S.  191. 213 Siehe oben S.  146 f. 214 Knapper Überblick bei Pfeffer/Sahl, ZRP 2021, S.  153–156; zum Pioniermodell der kommunalen Planungszelle Dienel, S.  74–136. 215 Arndt, DVBl. 2021, S.  705–711. 216 Krit. Nanz/Leggewie, S.  82. 217 Lafont, S.  2 39. 210

V. Fazit

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Angesichts der heutigen Fülle von Staatsaufgaben wäre es offensichtlich unsinnig, die Notwendigkeit einer professionellen staatlichen Verwaltung in Frage zu stellen. Auch in den USA und der Schweiz hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich das dafür erforderliche qualifizierte Personal nur gewinnen lässt, wenn grundsätzlich eine Lebenszeitstellung angeboten wird. Allerdings machen die verschiedenen Bestrebungen zu einer verstärkten Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger deutlich, dass das Grundproblem, wie eine Verselbständigung der Politik und ihrer Ausführung durch die Amtsträger auf allen staatlichen Ebenen verhindert werden kann, nach wie vor nicht befriedigend gelöst worden ist. Wer aber nur auf die Bürokratie schimpft, die seit langem als populärer Sündenbock für ganz unterschiedliche Weltanschauungen dient, leistet keinen konstruktiven Beitrag. Pauschale Kritik, die nicht auf einzelne reformbedürftige Regelungen oder Abläufe zielt, sondern Ressentiments gegen die Verwaltung generell schürt, verkennt, dass antike wie moderne Staaten nicht auf die kollektive Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme verzichten können, für die Regeln und Ämter, die sie ausführen, notwendig sind. Das Versprechen »unbürokratischen« Handelns gerät dagegen leicht in die Gefahr, Willkür und Korruption zu befördern.218 Ohne gemeinsam erarbeitete Regeln und ihre administrative Implementation kommt kein demokratischer Staat aus. Statt diffamierender Kritik ist es vielmehr notwendig, immer wieder neu über die demokratischen Institutionen und Verfahren nachzudenken und dabei den Bereich der Verwaltung nicht auszuklammern. Zwei zentrale Anliegen der antiken Herrschaftsordnungen des Forum-Typs, eine enge Verbindung zwischen den Bürgern und den Amtsträgern und eine möglichst weitgehende Öffentlichkeit des Verwaltungshandelns, stehen auch heute auf der Tagesordnung. Es gibt nicht das eine, universal taugliche Modell staatlicher Verwaltung. Vielmehr muss ständig geprüft werden, für welche Aufgaben welche Mischung aus Professionalität und Effektivität auf der einen sowie Bürgernähe und Transparenz auf der anderen Seite zweckmäßig ist. Der diachrone wie auch der synchrone Vergleich belegen, dass es hierfür eine große Vielfalt möglicher Ausgestaltungen gibt.

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Cancik, Der Staat 2017, S.  22.

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Sach- und Personenregister Amenemope  30, 45, 46, 57 Aristokratie  195 f., 200, 211, 213, 216, 239, 240 Aristoteles  6, 18, 108, 119, 138, 144, 145, 149, 150, 154, 211, 217, 234, 239 Ausgaben s. Staat Bauten, öffentliche  10, 43 f., 87 f., 131 f., 183, 228 Beamte  19 f., 119, 167, 202, 245 f. Beschwerde  53, 98 f., 143, 193, 206, 237 Bestandsaufgaben  10, 42, 86, 129, 181, 227 f. Bürger  85, 105, 106, 109 f., 111, 128, 145 f., 151–154, 160, 216 Bürgermeister  20, 39, 84 f., 97, 245 Bürokratie  7–11, 27, 58 f., 103 f., 147, 204, 220 f., 248, 251 Buße  11, 119, 122, 133, 143, 151, 170, 230, 235, 237 Caesar  158, 209 Cicero  6, 156, 159, 192 f., 199, 208 f., 216, 217, 234, Dekret  49 f., 137 f., 140, 188, 232, 234, 248 Demokratie  106–108, 144 f., 149, 154, 196, 200, 211–213, 239 f., 248–250 Demosthenes  138, 149, 154 Edikt  49, 95 f., 98, 170, 171, 172, 173, 178, 190 Einnahmen s. Staat Ephialtes  107, 116, 144

Eponym  64, 123, 155 Finanzen, öffentliche  10, 42 f., 86 f., 129–131, 181–183 Forum  21, 211, 213, 215–217, 221–223, 224 f., 248 Frauen  21 f., 132, 152, 212 Gemeinde  84, 116 f., 127 f., 147, 179–181, 203, 206, 243 Gericht  19, 49, 51 f., 92, 96–98, 107, 114 f., 116, 123, 134, 138–140, 141–145, 150, 161, 179, 190–192, 235–238 Gesetz  19, 48 f., 92–96, 106, 115, 135–138, 140–143, 149–151, 187–190, 192 f., 197 f., 205 f., 216, 231–235 Getreideversorgung s. Lebensmittelversorgung Gewichte  10, 46, 90, 133, 185, 228 f. Gewohnheitsrecht  19, 49, 92, 96, 136, 187 f., 231 f., 236 Gracchus – Gaius  179, 187 – Tiberius  157, 207 Grundstück – Übertragung  40, 45 f., 89, 184 f., 229 – Vermessung  11, 44 f., 89, 132, 184, 229 Hammurabi  62 f., 92 f. Haremhab  31, 35, 49, 50 Hierarchie  8 f., 35, 54 f., 58, 101, 103, 120, 166, 169, 220, 224, 244, 247

282

Sach- und Personenregister

Kleisthenes  107, 110, 116, 127, 144, 153 f. König  28 f., 48–52, 54, 57 f., 68 f., 97, 98 f., 99 f., 102 f., 105, 214, 232

Regierung  30 f., 145, 153, 180, 201 f. Rekhmire  26, 51 Richter  19 f., 50–52, 69, 96–98, 114, 139, 142, 191 f., 201, 235 f., 243

Laufbahn  30, 70, 168, 174 Lebensmittelversorgung  34, 42 f., 91, 134 f., 186 f., 231 Los  111–123, 128, 131, 134, 146 f., 170, 175, 222, 236, 250

Schreiber   8, 35 f., 41, 45, 76, 89, 146, 175, 221 Seebund, attisch-delischer  125–127, 129 f., 147, 152, 226 Senat  156–158, 165–167, 177–179, 183, 188, 191 f., 195 f., 200, 202, 205, 208, 217, 222 f., 241 Sicherheit, öffentliche  10, 46 f., 90 f., 133, 185 f., 230 Sklaven  68, 109 f., 124, 132, 134, 152, 160, 176, 186, 207 Solon  106 f., 133, 136, 141, 143, 148 f., 233, 235 Staat – Ausgaben  10, 43, 130, 167, 183, 227 f. – Begriff  13–17, 27 – Einnahmen  10, 42, 86 f., 129 f., 181 f., 223, 227 – Gebiet  14 f., 77 f., 109, 176 f., 226 – Kasse  125, 128, 130 f., 174, 182 f., 228 – tributpflichtiger  17, 37 f., 78, 101, 125, 179 f., 223, 225–227 – Volk  14, 15, 106, 159 f. Staatsbürger s. Bürger Stadt  38 f., 41, 83–85, 176 f., 179 f., 204, 224 Stadtstaat  1, 7 f., 15, 62, 63, 105, 155, 177, 203, 209, 215, 218 f. Standardisierung  10, 46, 90, 133, 185, 228 f. Statthalter  20, 38–42, 47, 62, 80–83, 86–88, 172, 177–179, 204, 220, 224 f. Steuer  42 f., 86 f., 129, 182, 223, 227 f. Straßen  88, 132, 183, 186, 203 Sulla  157, 165, 169, 172, 174, 178, 208, 209

Magistrat  162, 167–171, 192 f., 206, 237 Maße  10 f., 46, 90, 133, 185, 229 Militär  19, 37, 43, 68, 71, 83, 101, 120, 130, 152, 162, 168, 171, 209 Monarchie  1, 53, 62, 99, 158, 195, 211 f., 213 f., 220, 238 f., 240 Münzwesen  46, 90, 133, 185, 230 Oberbefehlshaber  29, 32 f., 34, 71, 123, 171 Öffentlichkeit  54, 118, 137, 190, 198, 213, 215–217, 249 Oligarchie  126, 196, 212 f., 239, 248 Ordnungsaufgaben  10, 44, 88, 132, 184, 228 Palast  28, 32 f., 67, 72 f., 82, 211, 213 f., 220 f., 223 f., 238 f. Plato  144, 154 Polizei  46 f., 90, 133 f., 185 f., 203, 230 Polybios  108, 159, 195 f., 208, 214, 234, 239 Priester  28, 40, 42, 50, 58, 69, 160, 162, 184, 191 Prinzipat  158, 187, 204 Provinz  20, 38–41, 56, 80–83, 102, 177–179, 204, 223 f. Rat  30, 40, 115–118, 146, 165, 178, 180, 245 Rechtsprechung  11, 19, 40, 50–52, 96 f., 138–140, 145, 190–192, 235–238  Rechtsschutz  53, 98 f., 143, 151, 193 f., 237 f.

Thutmose  34, 41

Sach- und Personenregister

Vermessung s. Grundstück Verwaltung  – Aufgaben  2, 10 f., 42–47, 85–91, 129–135, 181–187, 227–231 – Begriff  2, 6 f., 27 f., 67 f., 119, 219 – Recht der  2, 6, 11, 50, 53, 57, 95 f., 151, 206, 234  

283

Volkstribun  164, 174 f., 189, 190, 193 f., 206, 208 Volksversammlung  85, 107, 111–113, 140 f., 145, 161–165, 180, 196–199, 215 f., 234, 244 Wesir  31–33, 35, 40, 45, 47, 52, 53, 54, 73 f.