Deutsche und englische Gewerkschaften: Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich 9783666357336, 9783647357331, 3525357338, 9783525357330


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German Pages [392] Year 1986

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Deutsche und englische Gewerkschaften: Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich
 9783666357336, 9783647357331, 3525357338, 9783525357330

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 72

V&R © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler

Band 72 Christiane Eisenberg Deutsche und englische Gewerkschaften

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Deutsche und englische Gewerkschaften Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich

von

Christiane Eisenberg Mit 14 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eisenberg, Christiane:

Deutsche und englische Gewerkschaften: Entstehung u. Entwicklung bis 1878 im Vergleich / von Christiane Eisenberg. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1986. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 72) ISBN 3-525-35733-8 NE:GT

Gefördert von der Stiftung Volkswagenwerk © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Inhalt Vorwort

9

Einleitung

11

1. Fragestellung, Forschungsstand, Vorgehensweise 2. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Vergleichs

11 20

Teil A: Die Handwerkstradition: Antrieb oder Hemmnis der Gewerkschaftsentwicklung?

29

I. Die Kommerzialisierung des Gewerbes: Das Beispiel des Schneiderhandwerks

30

1. Massenbedarf, Mode und Rationalisierung der Zuschneidetechnik 2. Das Eindringen kapitalistischer Prinzipien in die Schneiderei: Die Kleidermagazine

30 36

II. Das Verhältnis von Meistern und Gesellen

44

1. Deutsch-englische Gemeinsamkeiten: Die objektive Klassenlage 2. Deutsch-englische Unterschiede: Die subjektiv erfahrene Klassenlage . . . a) Selbst-und Fremdeinschätzung im Spiegel der Sprache b) Die Handwerkstradition als Erklärung der Unterschiede 3. Klassenlage und Standesehre im Konflikt: Der spezifisch deutsche Meister-Geselle-Gegensatz a) Konflikte zwischen den Arbeitsmarktparteien b) Konflikte innerhalb der Arbeitsmarktparteien 4. Das Organisationsverhalten von Meistern und Gesellen

44 47 47 50

III. Sozialisationseffekte der Berufsausbildung

67

1. Der »heimliche Lehrplan« der englischen Handwerkslehre 2. Die Ausbildung des deutschen Handwerksgesellen a) Die Lehre b) Die Wanderschaft 3. Handwerkliche Berufssozialisation und berufsständisches Bewußtsein . .

67 72 72 77 83

54 55 59 64

5

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Teil B: Gesellenvereinigungen des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Vorläuferorganisationen moderner Gewerkschaften?

85

I. Die »house of call-societies« der englischen Handwerksgesellen

86

1. Maßnahmen zur Arbeitsmarktregulierung 2. Verhalten in Arbeitskonflikten 3. Innerorganisatorische Konflikte

87 91 96

II. Die zünftige Organisationstradition der deutschen Gesellen

98

1. Der Niedergang der frühneuzeitlichen Gesellenschaften a) Innerorganisatorische Konflikte b) Arbeitsmarktregulierung und Arbeitskonflikte c) Das Kräfteverhältnis zwischen den Arbeitsmarktparteien 2. Ausläufer und Nachfolgeorganisationen der Gesellenschaften im Vormärz und in den 1850er Jahren a) Die geheimen Brüderschaften der fremden Gesellen b) Vereinsmäßig organisierte Wanderunterstützung Exkurs: Die Katholischen Gesellenvereine c) Obrigkeitlich kontrollierte Krankenkassen

109 109 113 115 119

III. Die »englische« Organisationstradition der ersten deutschen Gewerkschaften im Vormärz und in der Revolution von 1848/49

130

Teil C: Zum Verhältnis von gewerkschaftlicher und politischer Arbeiterbewegung in den 1830er bis 1860er Jahren

138

I. England: Sozialismus, Radikalismus und der »respectable artisan«

139

1. Traditionelle »craft unions« und moderne »general unions« a) Der Niedergang des »houseofcall«-Systems b) »Craft« gegen »class«: Der Zusammenbruch der Grand National Consolidated Trades'Union c) »Arbeiteraristokraten« und »Fußvolk«: Probleme chartistischer Gewerkschaften 2. Die Labilität der englischen Arbeiterbewegung als berufsübergreifende Bewegung

142 142

153

II. Deutschland: Handwerksgesellen als Träger der demokratisch-sozialistischen Bewegungen seit dem Vormärz

156

1. Die Stabilität der deutschen Arbeiterbewegung als berufsübergreifende Bewegung 2. Die verbreitete Skepsis gegenüber dem »Gewerks«-Prinzips a) Der Gewerkschaftsgedanke in der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung von 1848/49 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

98 99 101 105

145 148

156 163 163

b) Die Rezeption der englischen Gewerkschaftsentwicklung in den 1860er Jahren

165

III. Deutschland: Die Durchsetzung des Gewerkschaftsprinzips in der Arbeiterbewegung

169

1. Die Einflußnahme der Ersten Internationale auf die Gründung des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins im Jahr 1867

170

2. Die Gewerkschaftsinitiativen der politischen Parteien a) Die Initiative des Verbands deutscher Arbeitervereine b) Die Initiative des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins c) Die Initiative der Deutschen Fortschrittspartei 3. Die Bedeutung der parteipolitischen »Geburtshilfe « für die Entstehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung

176 177 179 184 186

Teil D: Struktur und Funktion der Gewerkschaften in den 1860er/70er Jahren

192

I. Gewerkschaften als Unterstützungsorganisationen

193

1. Kassenwesen, Mitgliederstruktur und Selbstverständnis der »new model unions« in England 2. Kassenwesen, Mitgliederstruktur und Selbstverständnis nationaler Berufsverbände in Deutschland a) Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine b) Die sozialdemokratischen Gewerkschaften

198 199 204

II. Gewerkschaften als Arbeitsmarktorganisationen

213

1. Grundlagen gewerkschaftlicher Macht: Mitgliederzahlen, Organisationsgrad und Finanzen 2. Streikpolitik und Streikorganisation 3. Schlichtungswesen

214 218 223

III. Gewerkschaften im gesellschaftspolitischen Kräftefeld

234

1. Staat, Bürgertum und Gewerkschaften in Deutschland 2. Staat, Bürgertum und Gewerkschaften in England 3. Der politische und gesellschaftliche Nutzen von Gewerkschaften: Ein Versuch zur Erklärung der deutsch-englischen Unterschiede

234 240

Zusammenfassung

255

Anhang Abkürzungsverzeichnis Anmerkungen Quellen- und Literaturverzeichnis

264 271 273 344

194

249

7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Personenregister Sachregister

282 384

Tabellenverzeichnis 1. Anzahl der »Herrengarderobe-Artikelhandlungen« in Berliner Adreßbüchern 1838-1867 2. Ortsgrößenverteilung der Zustimmungsadressen zur Petition des Frankfurter Schneiderkongresses 1848 3. Gesellenaufstände in Deutschland 1700-1805: Zeitliche Verteilung . . . . 4. Gesellenaufstände in Deutschland 1700-1805: Die Rolle des Auszugs aus der Stadt 5. Gesellenaufstände in Deutschland 1700-1805: Die Dauer 6. Verbreitung der Katholischen Gesellenvereine in Deutschland 1850-1880 7. Zwangskrankenkassen in Berlin 1854 und 1863 8. Versicherungsleistungen von 13 englischen Gewerkschaften im Jahr 1869 9. Durchschnittliche Jahresausgaben der Amalgamated Society of Engineers 1851-1865 10. Durchschnittliche Jahresausgaben der Amalgamated Society of Tailors 1869-1877 11. Streikführung, Streikfinanzierung und Organisation von Solidaritätskampagnen durch deutsche Gewerkschaften 1871-1875 . . . . 12. Anknüpfungspunkte bei der Gründung des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins im Jahr 1867 13. Schneiderstreiks 1865/66 und Beteiligung am Allgemeinen Deutschen Schneiderverein 1867/68 14. Nationale Gewerkschaftsverbände in England und Deutschland. Verbreitung, Mitgliederzahlen und Organisationsgrad in ausgewählten Branchen

8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

40 42 103 105 105 116 128 196 196 197 221 264 266 267

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1985/86 von der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Die Diskussion über die Geschichte der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, die an dieser Fakultät in den letzten Jahren geführt wurde, hat das Buch über weite Strecken geprägt. Mit meinem Doktorvater Professor Dr. Jürgen Kocka, der das Thema angeregt und vielfältige praktische Unterstützung gewährt hat, sowie den Teilnehmern des Kolloquiums zur neueren Sozialgeschichte standen mir interessierte und streitbare Diskussionspartner zur Verfügung. Auch von meinem sozialwissenschaftlichen Begleitstudium konnte ich profitieren. Es hat mir - vor allem in Seminaren von Professor Dr. Claus Offe - das Instrumentarium zur Analyse sozialer Bewegungen und Organisationen vermittelt. Darüber hinaus hat es mir den Mut zum Ziehen »großer Linien« gegeben, ohne den eine international vergleichende Untersuchung kaum durchzuführen ist. Bei der Überarbeitung des Manuskripts sind Verbesserungsvorschläge und Anregungen der Professoren Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler berücksichtigt worden. Karl Ditt hat mit seiner steten Lesebereitschaft und seiner unnachgiebigen Kritik schon in der Schreibphase zur Präzisierung der Ergebnisse beigetragen. Für Hinweise und kritische Einwände in der Diskussion danke ich auch Professor Dr. Sidney Pollard sowie Rudolf Boch, Ute Frevert, Friedrich Lenger und Michael Prinz. Von der Sorge um den Lebensunterhalt hat mich die Stiftung Volkswagenwerk durch eine dreijährige Projektförderung befreit; außerdem beteiligte sie sich großzügig an den Druckkosten. Der Heidelberger Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte leistete einen Zuschuß zu einem Arbeitsaufenthalt in London. Dafür möchte ich mich bedanken. Besonderen Dank sage ich meinen Eltern. Sie haben mich von manchen zeitraubenden Anforderungen des Alltags entlastet und mir stets Ermunterung gegeben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Bielefeld, im April 1986

Christiane Eisenberg

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Einleitung 1. Fragestellung, Forschungsstand, Vorgehensweise Englische und deutsche Gewerkschaften wiesen im 19. Jahrhundert zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Sie betätigten sich als Interessenvertretungsorgane im Betrieb und am Arbeitsmarkt und kämpften für höhere Löhne wie für kürzere Arbeitszeiten. Durch die Einrichtung von Unterstützungskassen versuchten sie, die besonderen Existenzrisiken des Lohnarbeiters abzumildern. Darüber hinaus verstanden sie sich als gesellschaftliche Gegenmacht: Sie forderten sozialpolitische Verbesserungen und bemühten sich um die »kulturelle Hebung« ihrer Mitglieder. Unterschiede zwischen deutschen und englischen Gewerkschaften bestanden nicht darin, was sie zu ihrer Aufgabe erklärten, sondern darin, wie sie diese Aufgaben zu lösen versuchten. Von zentraler Bedeutung für das Verhältnis der deutschen Gewerkschaften zur allgemeinen Arbeiterbewegung und für ihre verzögerte Integration in Staat und Gesellschaft wurde die Herausbildung von Richtungsgewerkschaften. Bereits die ersten Gewerkschaften, die in den 1860er/70er Jahren ins Leben gerufen wurden, standen mehrheitlich entweder der liberalen Fortschrittspartei oder der Sozialdemokratie nahe. Die frühe Tendenz zur organisatorischen Konzentration hing damit eng zusammen. In Deutschland entstanden im Zuge der gewerkschaftlichen Gründungswelle der späten 1860er/ frühen 1870er Jahre nur etwa 75 nationale Berufs- und Branchenverbände. Lokale Fachvereine entwickelten sich in größerer Zahl erst zur Zeit des Sozialistengesetzes, zum Teil als Folge der Zerschlagung der nationalen Verbände. Das erste (unvollständige) englische »Trades' Union Directory« von 1861 führte dagegen nahezu 2000 Organisationseinheiten auf, in manchen Fällen Ortsfilialen von nationalen Verbänden, mehrheitlich jedoch lokale Vereinigungen. Langfristig schliffen sich diese deutsch-englischen Unterschiede ab. Aber selbst heute noch stehen den 17 DGB-Verbänden, die, zusammen mit der Deutschen Angestelltengewerkschaft und dem Deutschen Beamtenbund, die deutsche Gewerkschaftsbewegung insgesamt repräsentieren, mehr als 180 englische Verbände gegenüber.1 In dieser Organisationsvielfalt der trade unions spiegelt sich der zentrale Stellenwert, der Berufsgrenzen in der englischen Arbeiterbewegung zukam und zukommt. Nicht selten definierte man sie sehr viel enger als in Deutschland. Das erwähnte »Directory« von 1861 führte nicht nur Organisationen 11

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für Schmiede auf, sondern auch für »anchor«, »black«, »cart wheelwright«, »copper«, »file«, »frame«, »ship«, »silver« und »white metal smiths«. Bei den Schuhmachern wurde differenziert zwischen »ladies'«, «men's« und »strong boot- and shoemakers«; es war nicht so selbstverständlich wie in Deutschland, sich einfach als »Schuhmacher« oder gar als »Lederarbeiter« zu organisieren. In der Durchsetzung der speziellen Forderungen ihrer Mitgliedschaft erwiesen sich die trade unions offenbar kompromißloser als die deutschen Organisationen. Arbeitsplatzbezogene Aktionen, »restrictive practices« zur Abwehr dequalifizierender Rationalisierungsmaßnahmen und »zünftige Exklusivität« galten und gelten eher als typisch englisch denn als typisch deutsch. Es scheint auch kein Zufall zu sein, sondern ein Stück weit die unterschiedliche Realität des 19. Jahrhunderts zu spiegeln, daß die Debatte über die »Arbeiteraristokratie«, in der die konfliktreichen Beziehungen zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern thematisiert werden, bisher im Grunde eine Angelegenheit angelsächsischer Historiker geblieben ist.2 In abgeschliffener und zum Teil veränderter Form spielen manche der genannten deutsch-englischen Unterschiede auch in der Gegenwart eine Rolle. Vergleichende Studien aus Politikwissenschaft und Soziologie sehen beispielsweise in der traditionell hohen Bereitschaft der deutschen Gewerkschaftsbewegung, partikulare Berufs- und Verbandsinteressen zugunsten »allgemeiner Arbeiterinteressen« - bzw. heute: des »Gemeinwohls« - zurückzustellen, eine zentrale Voraussetzung für eine Abstimmung staatlicher Einkommenspolitik mit den Arbeitsmarktparteien, wie sie etwa in der Konzertierten Aktion (1967) zum Ausdruck kam. In England sind entsprechende formelle oder informelle Verhandlungen dagegen bisher stets gescheitert, u. a. an der Vielzahl der Organisationen, die sich nicht »unter einen Hut« bringen ließen.3 Sicherlich wäre es wegen der ökonomischen Entwicklung und wegen der Integration in internationale Zusammenhänge verfehlt, die heutigen Arbeitsbeziehungen schlicht als »Produkte des Ursprungs von Gewerkschaften« zu interpretieren; gleichwohl ist die Kontinuität gewisser Denk- und Organisationsstrukturen erstaunlich.4 Das Beharrungsvermögen von Traditionen ist ein Grund dafür, daß sich die vorliegende Arbeit in komparativer Absicht mit dem »Ursprung von Gewerkschaften« befaßt. Wie entsteht, was man gemeinhin den Nationalcharakter der Gewerkschaftsbewegung eines Landes nennt? Warum differenzierten sich in Deutschland bereits in der Entstehungsphase sozialdemokratische und liberale Richtungsgewerkschaften heraus, die - zusammen mit den später gegründeten christlichen Verbänden - die kommenden Jahrzehnte prägen sollten? Warum organisierten sich demgegenüber Arbeiter in England von Anfang an entlang von Berufs- und Branchengrenzen? Ein weiterer Grund für die Beschäftigung mit dem Thema liegt darin, daß der »Ursprung von Gewerkschaften« noch weitgehend im Dunkeln liegt. Entstanden sie spontan, etwa im Zuge eines Streiks, oder wurde die Grün12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

dung von langer Hand geplant? Schlossen sie an vorindustrielle Vorläuferorganisationen an oder entwickelten sie sich erst im Zuge der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft? Lassen sich verschiedene Entwicklungstypen feststellen? Diese Fragen sind noch nicht abschließend geklärt. Ein Blick auf den Forschungsstand der englischen und der deutschen Gewerkschaftshistoriographie vermittelt aber erste Orientierungshilfen. In England galt die Interpretation des 1894 erschienenen Standardwerks, der »History of Trade Unionism« des Ehepaars Webb, lange Zeit als verbindlich: Gewerkschaften seien in größerer Zahl erst nach der Aufhebung der Koalitionsverbote 1824/25 entstanden; die Organisationsversuche des 18.Jahrhunderts hätten allenfalls zu »ephemeren« Vereinigungen geführt.5 Als sich die Forschung seit den sechziger Jahren verstärkt der »plebejischen Kultur« und den Unterschichtenprotesten des 17. und 18. Jahrhunderts zuwandte, haben E. Hobsbawm und Ε. Ρ. Thompson erste Zweifel an die­ sem Urteil geäußert.6 Inzwischen gilt es als überholt. Neuere Arbeiten von C. R. Dobson, R. A. Leeson,J. Rule und M. Schulte Beerbühl haben vielfältige Belege dafür angeführt, daß Gewerkschaften bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle im gewerblichen Arbeitsalltag spielten.7 Weil sie ihre Existenz wegen der Koalitionsverbote tarnen mußten, seien viele dieser sog. craft unions, deren Aktionsradius allenfalls mit Hilfe von Wandergesellen lokale Grenzen überschreiten konnte, nur in Arbeitskämpfen ans Licht der Öffentlichkeit getreten. Die knapp 400 Streiks der Jahre 1717 bis 1800, die Dobson als Spitze eines Eisbergs für die verschiedensten, überwiegend handwerklichen Berufe nachweisen konnte, zeugen nicht nur von ihrer Existenz, sondern auch von ihrer Konfliktfreudigkeit.8 Daß die Organisationsprobleme der berufsübergreifenden und überlokalen sog. general unions der 1820er/30er Jahre, etwa der berühmten Grand National Consolidated Trades' Union (1834), ohne Bezugnahme auf diese Tradition nicht zu verstehen sind, haben u.a. E. P. Thompson und I.J. Prothero eindrucksvoll vorgeführt. Im Prozeß des »Making of the English Working Class« spielten die »crafts« eine zentrale Rolle.9 Die nach 1850 gegründeten new model unions, die ersten nationalen Berufsorganisationen, die sich als stabil erweisen sollten, faßten die verstreuten Lokalorganisationen schließlich zu schlagkräftigen modernen Interessenverbänden zusammen. 10 Wenn auch das Verhältnis der ersten Gewerkschaften zu den mittelalterlichen Zünften noch nicht völlig geklärt werden konnte, so ist für England als vorläufiges Ergebnis doch immerhin festzuhalten, daß der »Ursprung« der modernen Bewegung in die vorindustrielle Zeit fällt, spätestens in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Auch die deutsche Forschung ist in den letzten Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Seitdem die materialreichen Arbeiten von U. Engelhardt, W. Albrecht, W. Renzsch, D. H. Müller, R. Boch, L. Machtan und einige Sammelbände vorliegen,11 kann man nicht mehr behaupten, Gewerkschaften und Streiks seien die Stiefkinder der Historiographie der frühen Arbei13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

terbewegung. Dieser Vorwurf, der noch Mitte der siebziger Jahre erhoben wurde, 12 trifft heute allein deshalb nicht mehr zu, weil das Thema inzwischen auch von der handwerksgeschichtlichen Forschung als Untersuchungsgegenstand reklamiert worden ist.13 So weiß man heute recht genau über die soziale Basis der ersten Berufsverbände Bescheid, die in der Revolution von 1848/49 und, in größerer Zahl, in den späten 1860er Jahren gegründet wurden. Nicht das Fabrikproletariat im klassischen Sinn organisierten sie, sondern »Handwerker-Arbeiter« (R. Boch):14 Buchdrucker und Buchbinder, Schneider, Schuster und Tischler, Schlosser und Schmiede, Maurer und Zimmerleute, Weber, Färber, Zigarrenarbeiter, Bäcker etc. Diese Handwerker-Arbeiter gelten als Arbeiter, weil sie in Lohnarbeit beschäftigt waren. Sie gelten als Handwerker, weil sie eine handwerkliche Berufssozialisation erfuhren und im traditionellen Kleinbetrieb oder in der frühen Fabrik hochqualifizierte Handarbeit verrichteten. Die große Rolle, die Handwerker-Arbeiter in der frühen deutschen Gewerkschaftsbewegung spielten, verweist auf Parallelen zur englischen (im übrigen auch zur gesamteuropäischen)15 Entwicklung. Die derzeit diskutierten Interpretationsangebote heben weitere Gemeinsamkeiten hervor. So hat sich Ulrich Engelhardt in seiner Untersuchung über die Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung gegen die These der älteren sozialdemokratischen Hausgeschichtsschreibung gewandt, wonach die ersten Berufsverbände als Schöpfungen der Partei zu betrachten seien. Ihm zufolge war die Bewegung weder auf sozialdemokratische noch auf fortschrittsliberale »Geburtshilfe« angewiesen; dem englischen Vorbild folgend, sei sie aus vielen lokalen Ansätzen selbständig hervorgewachsen.16 Engelhardts These steht in Übereinstimmung mit neueren Spezialstudien, die die Verankerung der frühen Gewerkschaftsbewegung in der Handwerkstradition betonen und dabei ähnliche Verbindungslinien hervorheben, wie sie die englische Forschung diskutiert. So wird angenommen und vielfach auch an konkreten Beispielen demonstriert, daß die handwerkliche Berufsqualifikation Arbeitsmarktmacht begründet habe. Die Gewerkschaftspioniere hätten über Fertigkeiten verfugt, die beim damaligen Stand der Technik unersetzbar gewesen seien, und den Produktionsprozeß weitgehend kontrollieren können. Aus dieser relativen Machtposition heraus hätten sie versucht, Löhne und Arbeitsbedingungen kollektiv zu verbessern. Ein zweites Argument betrifft die Mentalität der Handwerker-Arbeiter. Tradierte Werte und Normen hätten ihr Anspruchsniveau bestimmt, ein Raster für die Beurteilung neuer sozialer Umstände abgegeben und die Artikulation von Protest erleichtert. Schließlich wird darauf verwiesen, daß in Deutschland die Zunfiverfassung besonders lange, mancherorts bis in die 1860er Jahre hinein, aufrechterhalten worden sei. In geheimen Gesellenbruderschaften und zünftigen Unterstützungskassen hätten die Gründer der ersten beruflichen Interessenverbände Gelegenheit gefunden, Solidarität auszubilden. Verschiedentlich ist diskutiert worden, ob 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

derartige Zusammenschlüsse selbst bereits gewerkschaftliche Funktionen ausgeübt haben.17 Handwerkstradition statt parteipolitischer »Geburtshilfe« - diese neue Sicht der Gewerkschaftsentstehung in Deutschland erscheint einleuchtend, zumal sie vom »Zeitgeist« bestätigt wird. Das modernisierungskritische intellektuelle Klima der letzten Jahre hat die Sensibilität dafür erhöht, daß der Untergang traditioneller Lebenswelten nicht nur mit einem Zuwachs an Rationalität, sondern stets auch mit der Zerstörung sinnstiftender Gemeinschaftsbeziehungen verbunden ist. In diesem Kontext liegt es nahe, die frühe Arbeiterbewegung aus einer anderen Perspektive zu interpretieren, als es den verdienten Verbandsfunktionären möglich war, die zu Beginn dieses Jahrhunderts die Erfolgsgeschichte ihrer Organisation schrieben. Bei ihrem Fortschrittsoptimismus wußten sie offenbar nicht zu würdigen, daß die Gründerväter sich vielfach mehr an der Vergangenheit als an der Zukunft orientiert hatten. Die skizzierte Interpretation steht jedoch auf schwachen Füßen. Zum einen ist die Vorgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung bisher noch nicht systematisch mit ihrer Frühgeschichte verknüpft worden, so daß die Ausführungen über die Einflüsse der Handwerkstradition meist global und spekulativ bleiben. Zwar haben manche der älteren Verbandsgeschichten den historisierenden Neigungen ihrer Zeit Rechnung getragen und ihre Arbeiten mit einem Rückblick auf die »graue Zunftzeit« eingeleitet,18 aber solche Einleitungskapitel stehen isoliert. Die »eigentliche Gewerkschaftsgeschichte« beginnt mit dem Geburtstag des jeweiligen Verbands, etwa mit der Gründungsversammlung oder einem Arbeitskonflikt. Die Familientradition, Großeltern, Eltern und ältere Geschwister werden auch in neueren Arbeiten in der Regel nicht einbezogen, wenn es zu erklären gilt, warum das Kind gedeiht oder mißrät.19 Diese Kritik trifft nicht zuletzt auf das Standardwerk von Engelhardt zu, das lediglich den Untersuchungszeitraum 1862/63 bis 1869/70 umfaßt.20 Zum anderen steht die skizzierte Interpretation deshalb auf schwachen Füßen, weil sie an Plausibilität verliert, sobald man sie mit der englischen Entwicklung konfrontiert. Denn sie vermag nicht zu erklären, daß Entstehungsmuster, die offenbar sehr ähnlich waren, Denk- und Organisationsstrukturen hervorbrachten, die sich, wie eingangs gezeigt, in wichtigen Punkten bis heute unterscheiden. Warum gelang es der angeblich »von unten« hervorgewachsenen Gewerkschaftsbewegung in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht, sich der parteipolitischen Einflußnahme »von oben« zu entziehen? Üblicherweise wird in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die »verfrühte« Entstehung einer eigenständigen Arbeiterpartei in Deutschland vorgebracht. Während beispielsweise die englische Labour Party erst 1906 aus der Taufe gehoben wurde, geradezu als Ableger der Gewerkschaftsbewegung, konstituierten sich Lassalles Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

(ADAV) und die mit den Namen Bebel und Liebknecht verbundene Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) bereits 1863 bzw. 1869. Die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie und die liberale Fortschrittspartei hätten die junge Gewerkschaftsbewegung, so das Argument, politisiert, vereinnahmt und ihr damit einen »Geburtsfehler« zugefügt.21 Dieser Hinweis verweist auf den besonderen Problemdruck, der durch das zeitliche Zusammenfallen von drei »Modernisierungskrisen« entstand: von Verfassungsfrage, nationaler Frage und sozialer Frage. Damit sind wichtige gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen der Gewerkschaftsentstehung in Deutschland angesprochen; der skizzierte Widerspruch wird durch diesen Hinweis jedoch nicht aufgelöst. Erstens war die Sozialdemokratie in den späten 1860er Jahren, der Entstehungsphase der meisten Berufsverbände, selbst noch sehr labil. Zweitens erzielten die ihr nahestehenden Gewerkschaften vor dem Sozialistengesetz nur einen Organisationsgrad von deutlich unter fünf Prozent; die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine lagen sogar noch darunter. 95 Prozent der Schuhmacher, Tischler, Schneider, Sattler, Maurer und der meisten anderen Handwerker-Arbeiter organisierten sich aber nicht etwa in unabhängigen lokalen Fachvereinen oder in neutralen Berufsverbänden, wie sie beispielsweise die Buchdrucker und die Glacehandschuhmacher unterhielten, sondern überhaupt nicht. Mit Bezug auf diese allgemeine Organisationsunlust oder -Unfähigkeit und die bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückreichende Gewerkschaftstradition der englischen Arbeiter könnte man dem Hinweis auf die »verfrühte« Parteibildung drittens mit einer Gegenfrage begegnen: Entstand die deutsche Gewerkschaftsbewegung nicht einfach viel »zu spät«, um sich der parteipolitischen Einflußnahme entziehen zu können? Die »Verspätung« von rund 150 Jahren gegenüber England bleibt ja selbst dann erklärungsbedürftig, wenn man der Geburtsfehlerthese eine gewisse Berechtigung nicht absprechen will, denn sie ist zu groß, als daß man sie auf die relative Rückständigkeit der deutschen Industrialisierung zurückfuhren könnte. Die Widerspüche und offenen Fragen können nur dann ausgeräumt werden, wenn man die derzeitige Interpretation der Gewerkschaftsentstehung in Deutschland- Handwerkstradition statt parteipolitischer »Geburtshilfe«einer kritischen Prüfung unterzieht. Die vorliegende Arbeit geht diese Aufgabe an, indem sie Vor- und Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung systematisch zu verbinden versucht und dabei die englische Entwicklung zum Vergleich heranzieht. Sie versteht sich zugleich als Beitrag zur Diskussion um den »deutschen Sonderweg«, in der es u. a. um das Demokratisierungspotential des Kaiserreichs geht.22 Welche Weichenstellungen auf dem spezifisch deutschen Weg in die Moderne trugen dazu bei, daß sich Gewerkschaften, elementare Träger der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, in Deutschland vergleichsweise spät entwickelten, lautet die Leitfrage. Verfügten die 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Gründerväter in den 186oer/7oer Jahren wirklich noch über »Optionen«, wie es Hans Mommsen vor einigen Jahren in einem Überblicksaufsatz formuliert hat?23 Bestanden in Deutschland überhaupt die Voraussetzungen für eine parteipolitisch neutrale Bewegung nach englischem Vorbild? Wäre eine solche neutrale Bewegung problemloser in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren gewesen, wie häufig unterstellt wird, oder war der Zug nach England schon in vorindustrieller Zeit abgefahren? Die komparative Methode dient in dieser Untersuchung einem doppelten Zweck. Zunächst sind die Vorteile allgemeiner Art. Entwicklungen und Ereignisse können in ihrer Individualität wie in ihrer Allgemeinheit schärfer gefaßt werden. Der Vergleich erlaubt dem nicht experimentell arbeitenden Historiker, mittels eines gedanklich konstruierten, gewissermaßen »indirekten Experiments« (E. Durkheim), Kausalbeziehungen zu überprüfen und versuchsweise die Perspektive zu wechseln, um Verfremdungseffekte zu erzeugen, alternative Argumentationen durchzuspielen und daraus neue Hypothesen zu bilden.24 Die komparative Methode dient hier jedoch nicht nur zur Rationalisierung der historischen Interpretation. Denn eine der oben entwickelten Fragen, die nach den Ursachen der offenbar verspäteten Gewerkschaftsentstehung in Deutschland, kann überhaupt nur in vergleichender Perspektive beantwortet werden. Die Schilderung der englischen Entwicklung hat dabei die Funktion, eine Vorstellung davon zu erzeugen, unter welchen Bedingungen die »objektive Möglichkeit« (M. Weber)25 einer früheren Gewerkschaftentstehung bestand. Die Untersuchung gliedert sich in vier Teile. Die Teile Α und Β behandeln den Themenkomplex Handwerkstradition für das 18. bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Da die Lebendigkeit der Handwerkstradition im 19. Jahrhundert für beide Länder hinlänglich belegt ist, sich also die deutsch-englischen Unterschiede von daher nicht erklären lassen, soll festgestellt werden, ob in Deutschland eine qualitativ andere handwerkliche Tradition wirksam war als in England. Welche ihrer Komponenten wirkten eher organisationsverhindernd, welche organisationsstimulierend? Teil Α beschäftigt sich mit der Mentalität des »alten Handwerks«, mit tradierten Loyalitäten und Konfliktmustern, die Meister und Gesellen am Arbeitsplatz und nach Feierabend ausbildeten. Es soll festgestellt werden, ob diese eher informellen, nur schwer greifbaren sozialen und kulturellen Beziehungen, kurz: der handwerkliche Alltag, vor dem Hintergrund der sich modernisierenden gewerblichen Wirtschaft eher ein Antrieb oder ein Hemmnis der Gewerkschaftsentstehung gewesen ist. Teil Β untersucht die organisatorischen Vorleistungen der Handwerkstra­ dition für die Gewerkschaftsbewegung unter derselben Fragestellung. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der Problemkreis Zunft, denn es gilt die Paradoxie aufzulösen, daß gerade die Gewerkschaften in Deutschland, 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

wo die Zunftverfassung mancherorts bis in die 1860er Jahre hinein Gültigkeit besaß, kaum zünftige Exklusivität demonstrierten, während der Zunftcharakter der Gewerkschaften in England, wo die guilds und companies schon am Ende des Mittelalters eines natürlichen Todes gestorben waren, »ruhig beibehalten und... täglich unerträglicher« (F. Engels) wurde. 26 Teil C ist dem Verhältnis von gewerkschaftlicher und allgemeinpolitischer Arbeiterbewegung in beiden Ländern gewidmet. Er behandelt die 1830er bis 1860er Jahre, als es Gewerkschaften zwar in England, aber noch nicht in Deutschland gab. Ein Organisationsvergleich ist daher für diesen Zeitraum noch nicht möglich. Reizvoll erscheint es jedoch, der Frage nachzuspüren, was es für die politische Arbeiterbewegung bedeutete, daß Gewerkschaften seit über hundert Jahren zum Alltag der gewerblichen Produzenten gehörten oder daß sie allenfalls dem Namen nach bekannt waren. Diese deutsch-englischen Unterschiede müssen überdies bei der Interpretation der gewerkschaftlichen Gründungswelle berücksichtigt werden, die die deutschen Staaten seit den späten 1860er Jahren erlebten, denn die Gründerväter - mochten es die Berufsgenossen selber oder Parteivertreter gewesen sein - hatten in der Regel bisher kaum Gelegenheit gehabt, sich mit praktischer Gewerkschaftsarbeit vertraut zu machen. Die den jungen Organisationen entgegengebrachten Erwartungen dürften durch diese Konstellation beeinflußt worden, manches Mißverständnis und manche Meinungsverschiedenheit in der Arbeiterbewegung auf die allgemeine Unerfahrenheit zurückzuführen sein. Während die ersten drei Untersuchungsteile Vorgeschichte und Entstehungszeit der deutschen Gewerkschaften behandeln, wendet sich Teil D der Frühgeschichte zu, den 1860er/70er Jahren bis zum Erlaß des Sozialistengesetzes. Im Vergleich mit den zeitgenössischen englischen Berufsverbänden, den sog. new model unions, werden Mitgliederstruktur und Selbstverständnis, das gewerkschaftliche Unterstützungswesen, Arbeitsmarktpolitik und das Verhältnis zu Staat und Bürgertum behandelt. Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt: Welche Vorteile und welche Nachteile brachten der spezifisch deutsche und der spezifisch englische Entwicklungspfad für die Gewerkschaftsbewegung mit sich? Spiegelte die Ausdifferenzierung von Richtungsverbänden in Deutschland allein ideologische oder auch »reale« Unterschiede, etwa sozial- oder organisationsstruktureller Art? Der synchrone Vergleich der jungen deutschen und der traditionsreichen englischen Gewerkschaftsbewegung mag problematisch erscheinen. Er ist jedoch gerechtfertigt, weil die Arbeiter beider Länder mit vergleichbaren ökonomischen Problemen konfrontiert waren (s. u. S. 20 ff.), weil sich die deutschen Arbeiter gerade die new model unions zum Vorbild gewählt hatten und weil-u. a. über die Erste Internationale - zahlreiche Kontakte zwischen deutschen und englischen Arbeitern geknüpft wurden. Ohne den allgemeinen Bezug aufzugeben, behandelt die Untersuchung dort, wo Zusammenhänge konkret und detailliert zu schildern sind, schwer18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

punktmäßig die Entwicklung im Schneidergewerbe. Das betrifft insbesondere den ersten Teil der Arbeit, der das Verhältnis von Handwerkstradition und Gewerkschaftsentstehung thematisiert. Die Auswahl gerade der Schneider erklärt sich aus folgenden Überlegungen: Erstens ist die Geschichte der englischen Schneidergewerkschaften des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts außergewöhnlich gut dokumentiert. Während die Organisationsbestrebungen aller anderen Berufe nur unvollständig rekonstruiert werden können, liegt für die Schneider ein umfangreicher Quellenband vor, den Francis Galton, ein Sekretär der Webbs, bereits Ende des 19. Jahrhunderts ediert hat.27 Zweitens ist die Schneiderei ein altes Handwerk, das, wie die Berufsgenossen stolz hervorzuheben pflegten, bis in »Adam und Evas Zeiten« zurückzuverfolgen ist. Sowohl in Deutschland als auch in England konnten sich Meister und Gesellen daher an einer langen Handwerkstradition orientieren, als sie mit kapitalistischen Wirtschaftsprinzipien und den damit verbundenen Veränderungen des Arbeitsalltags konfrontiert wurden. Drittens spielten die Schneider in der Gewerkschaftsbewegung wie in der allgemeinen Arbeiterbewegung beider Länder eine hervorragende Rolle - nicht zuletzt aufgrund ihrer großen Zahl: Neben den Webern und den Schuhmachern gehörten sie zu den am stärksten besetzten Einzelberufen.28 Ihr Organisationsverhalten war für beide Länder repräsentativ. Die englischen Schneider verfügten bereits im 18.Jahrhundert über starke craft societies. Seit den 1830er Jahren beteiligten sie sich an berufsübergreifenden und überlokalen Bewegungen, u. a. an der Grand National Consolidated Trades Union und chartistisch inspirierten Organisationen. In den 1860er/70er Jahren gehörte die Amalgamated Society of Tailors zu den sog. new model unions, jenen nationalen Berufsverbänden, die sich die deutschen Gewerkschaften zum Vorbild nahmen. Auch das Organisationsverhalten der deutschen Schneider kann als repräsentativ gelten. Sie zählten zu den wichtigsten Stützen der Arbeiterbildungsvereine, die seit den 1830er Jahren entstanden, traten in den Revolutionsjahren 1848/49 in der Arbeiterverbrüderung und im Bund der Kommunisten hervor und organisierten sich in den 1860er/70er Jahren sowohl in den sozialdemokratischen Parteien als auch in lassalleanischen, Bebel-Liebknechtschen (»Eisenacher«) und liberalen Hirsch-Dunckerschen Richtungsgewerkschaften. Die exemplarische Vorgehensweise hat nicht nur arbeitsökonomische Gründe; sie stellt auch eine Reaktion auf Darstellungsprobleme dar, die sich aus der unterschiedlichen Quantität und Qualität der Quellen für das 18. und frühe 19. Jahrhundert ergeben. Ein Großteil der Informationen für den England betreffenden Teil der Untersuchung stammt von den Gewerkschaften selber, aus ihrer Presse, aus Biographien ihrer Führer und Mitglieder und von ihren ersten Historikern aus den eigenen Reihen. Daneben wurden einige der in den »Parliamentary Papers« veröffentlichten 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Enqueten und die Interviews herangezogen, die der sozialkritische journalist Henry Mayhew um 1850 durchführte. Die Informationen über den Arbeitsalltag deutscher Handwerker im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind dagegen weniger lebensnah. Eine bürgerliche Öffentlichkeit, die sich der Thematik zuwandte, bildete sich erst allmählich heraus, und parlamentarische Enqueten wurden mangels funktionsfähiger Parlamente nicht durchgeführt. Nur selten artikulierten sich die Arbeiter selbst; meist muß sich der Historiker mit dem wenigen begnügen, was bürgerliche Sozialreformer, Zunftvorstände und Polizeibehörden über sie zu berichten wußten. Angesichts dieser unterschiedlichen Quellenlage für den Zeitraum bis zur Jahrhundertmitte hat die exemplarische Vorgehensweise auch die Funktion, durch ein Höchstmaß an konkreten Informationen die Überprüfbarkeit der Argumente im Schreibprozeß wie bei der Lektüre zu ermöglichen. Insgesamt folgt die Arbeit jedoch dem Prinzip: so exemplarisch wie nötig, so allgemein wie möglich. Bei der Untersuchung von Struktur und Funktion der englischen und deutschen Gewerkschaftsbewegung der 1860er/70er Jahre tritt das Beispiel der Schneider in den Hintergrund, da jetzt die Quellen für Deutschland annähernd englisches Niveau erreichen. Untersuchungsgebiete sind auf der einen Seite die britischen Inseln ohne Schottland und Irland, also im wesentlichen England und Wales, auf der anderen Seite jene Staaten, die seit 1871 das Deutsche Reich und damit das geographische Verbreitungsgebiet der frühen deutschen Gewerkschaftsbewegung bildeten. Der Einfachheit halber wird von England und - auch für die Zeit vor 1871 - von Deutschland gesprochen.

2. Wirtschafiliche und gesellschafiliche Rahmenbedingungen des Vergleichs Es wäre naheliegend, die Rahmenbedingungen eines deutsch-englischen Gewerkschaftsvergleichs nach dem von Alexander Gerschenkron entwikkelten Industrialisierungskonzept zu schildern.29 Man könnte versuchen, die Konsequenzen der »relativen Rückständigkeit« der deutschen Industrie für die Entwicklung von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung herauszuarbeiten. Ob das höhere Industrialisierungstempo und die Möglichkeit, fortgeschrittene englische Technologie zu importieren, den deutschen Arbeitern besondere Anpassungsleistungen abverlangt haben, ob ein Zusammenhang mit der Empfänglichkeit für radikale politische Theorien zu vermuten ist, solche Fragen sind schon häufig diskutiert worden. Daß dieser Weg in der vorliegenden Untersuchung nicht beschritten wird, hat vor allem zwei Gründe.30 Erstens verweist schon eine oberflächliche Beschäftigung mit der frühen deutschen und englischen Arbeiterbewegung darauf, daß die Gewerk20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Schaftsentstehung offenbar wenig mit dem Industrialisierungsbeginn zu tun hat. Er wird für England ungefähr auf 1780 und für die deutschen Staaten auf die 1830er bis 1850er Jahre datiert (mit starken regionalen Abweichungen). Die ersten englischen Gewerkschaften entwickelten sich aber bereits in vorindustrieller Zeit, knapp ein Jahrhundert vor Einsetzen der Industrialisierung, während die ersten deutschen Berufsverbände (nach einem gescheiterten Anlauf der Buchdrucker und Zigarrenarbeiter in der Revolution von 1848/49) in größerer Zahl erst einige Jahrzehnte danach gegründet wurden. 31 Zweitens - und das ist der gewichtigere Grund - ist Gerschenkrons Konzept der »relativen Rückständigkeit« für die Arbeiterbewegungsgeschichte zu global. Es baut auf einem breiten, in der Wirtschaftsgeschichte gebräuchlichen Industrialisierungsbegriff auf, der einen umfassenden Wachstums- und Strukturwandlungsprozeß beschreibt. Diese breite Definition bezieht viele Faktoren ein, die mit der Arbeiterrolle nur sehr vermittelt zu tun haben: die Wachstumsraten des Volkseinkommens oder der Produktivität, die abnehmende Bedeutung der Landwirtschaft für die Gesamtökonomie, den durchschnittlich steigenden Kapitalbedarf, die Schwerpunktverlagerung von der Konsum- auf die Investitionsgüterherstellung und andere Veränderungsprozesse allgemeiner Art. Aussagen über den Industrialisierungsgrad auf der Basis einer so breiten Definition fuhren zu einer »optischen« Vergrößerung des Abstands zwischen Pionier und Nachfolger. Sie verdecken viele Gemeinsamkeiten im Arbeitsalltag, die man besser mit einem engen, Fabrikentstehung und Maschinisierung besonders betonenden Industrialisierungsbegriff beschreibt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts leisteten die gewerblichen Produzenten beider Länder in der Regel Hand-, kaum Maschinenarbeit. Dampfmaschinen wurden vorwiegend im Kohlenbergbau, in einigen Bereichen der noch wenig entwickelten Schwerindustrie und in der Baumwollverarbeitung eingesetzt. In den meisten anderen Branchen spielten Wasserräder und andere traditionelle Energiequellen eine viel größere Rolle, sofern nicht Körperkraft allein ausreichte. Wie verschiedene Wirtschaftshistoriker in den letzten Jahren hervorgehoben haben, fand eine industrielle Revolution in England, gemessen am Einsatz von Dampfmaschinen, parallel zur deutschen Entwicklung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt.32 Erst jetzt setzte auch das Pionierland der Industrialisierung zum »großen Spurt« an.33 Der Fabrikarbeiteranteil an der Erwerbsbevölkerung war im Untersuchungszeitraum nicht nur in Deutschland, sondern auch in England gering. In den deutschen Staaten betrug er 1850 nach Schätzungen von Henning durchschnittlich vier Prozent und stieg bis 1873 auf zehn Prozent an. Kocka nennt selbst für das fortgeschrittene Preußen nur ca. sechs Prozent mit Bezug auf das Jahr 1861; allein die Werte für Sachsen dürften höher gelegen haben. Aber auch in England arbeiteten um die Jahrhundertmitte nur zehn, 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

höchstens zwölf Prozent der Erwerbsbevölkerung in Fabriken.34 Auf den gewerblichen Sektor bezogen, würden die deutsch-englischen Unterschiede deutlicher hervortreten. Allerdings entfielen die meisten englischen Fabrikarbeiter auf die Textilindustrie. Hier waren nach dem Zensus von 1841 zu 40 Prozent Frauen und Kinder beschäftigt,35 die von den Gewerkschaften kaum organisiert werden konnten. Weder der typische englische noch der typische deutsche gewerbliche Arbeiter war also in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Fabrikarbeiter. Die größten Einzelberufe, die sich sowohl aus dem englischen Zensus von 1851 als auch ζ. Β. aus der preußischen Gewerbezählung von 1855 herausfiltern lassen, stellten neben Bergleuten und Textilberufen die traditionellen, meist mit dem Kleinbetrieb verbundenen Handwerke der Schuster und Schneider, Tischler und Zimmerer, Maurer, Schlosser, Schmiede, Bäcker, Fleischer usw. 36 Im einzelnen differiert die Rangfolge, aber diese Aufzählung zeigt, daß die Arbeiterbewegung in beiden Ländern nicht etwa ihrer Zeit hinterherhinkte, wenn sie ihre soziale Basis in erster Linie aus traditionellen Handwerksberufen rekrutierte. Die bisherigen Ausführungen deuten auf graduelle, nicht auf grundsätzliche Unterschiede im Industrialisierungsprozeß Englands und Deutschlands hin- sofern Industrialisierung im engeren Sinn definiert wird. In den 1850er bis 1870er Jahren spielten maschinenunterstützte Produktionsmethoden in zentralisierten Werkstätten eine zunehmend größere Rolle. Aber - und das ist für die Interpretation der frühen Arbeiterbewegung von einiger Bedeutung - die Entwicklung verlief in beiden Ländern unstetig und führte keineswegs zur flächendeckenden Durchsetzung des Fabriksystems und zur Verdrängung von Handarbeit. Die Zentralisation der Produktion erwies sich im allgemeinen nur dann als zwingend, wenn die Verarbeitung hochwertiger Materialien überwacht werden sollte oder wenn größere Maschinen zum Einsatz kamen. Vielfach versprach die extensive Ausnutzung des großen Angebots gelernter und ungelernter Arbeitskräfte, das besondere in England zur Verfügung stand, mehr Gewinn als der Maschineneinsatz, weil fixe Kosten in konjunkturellen Flauten durch Entlassungen gering gehalten werden konnten. Für die in beiden Ländern dominierenden Kleinunternehmer erübrigten sich solche Rentabilitätsberechnungen oft ohnehin, weil die Anschaffungskosten nicht tragbar waren oder weil nicht genügend Platz in der Werkstatt zur Verfügung stand. Bremsend wirkte in England auch, daß in der ersten Jahrhunderthälfte gesetzliche Regelungen für Aktiengesellschaften fehlten.37 Parallel zum Fortschreiten der modernen Industrie, die durch Fabrikschlote und Maschinen symbolisiert wurde, breitete sich aufgrund solcher Probleme die traditionelle dezentralisierte Produktion weiter aus, die als Heimgewerbe oder selbständiges Handwerk in weiten Bereichen des städtischen und ländlichen Gewerbes noch bis ins 20. Jahrhundert hinein dominierte. Dazu zählten u. a. Teile der Textilindustrie, die Bekleidungsindustrie (Konfektionskleidung und -schuhe, Unterwäsche, Strohhüte, Handschu22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

he), die Möbelschreinerei für den Massenbedarf und die Kleineisenindustrie (Bestecke, Werkzeug, Nägel, Waffen).38 Die Rationalisierung des Produktionsprozesses erfolgte hier weniger durch Maschinen als durch eine Verfeinerung der Arbeitsteilung. Fixe Kosten für Gebäude, Energie und Aufsichtspersonal entstanden dem Unternehmer, der entweder zusätzlich oder ausschließlich als kapitalistischer Händler (Verleger) auftrat, kaum. Er wälzte sie, ebenso wie die Anschaffungs- und Wartungskosten für Maschinen, auf die unmittelbaren Produzenten ab. Diese Ausweitung dezentraler Produktionsformen parallel zur Fabrikindustrialisierung ist keineswegs nur als Fortexistenz traditioneller Betriebsformen zu interpretieren, denn Handwerk und Heimarbeit sind gleichermaßen Komplemente der zentralisierten Produktion, zu deren Entlastung und Stabilisierung sie beitragen. Sie absorbieren z. Β. Marktunsicherheiten, in­ dem sie die Auslagerung von Produktionsvorgängen und Kosten ermöglichen und zur Risikostreuung beitragen.39 Insofern wäre es angebracht, die beschriebene Entwicklung in den hier verwandten (engen) Industrialisierungsbegriff zu integrieren. Das soll aber nicht nur mit Rücksicht auf den eingeführten Sprachgebrauch unterbleiben, sondern auch, weil so dem unterschiedlichen Stellenwert dieser dezentralen Produktionsform vor der Durchsetzung des Fabriksystems nicht Rechnung getragen würde. Nennt man ihre Ausweitung nicht Industrialisierung, sondern Kommerzialisierung des Gewerbes, tritt eine wesentliche Ursache für die relative Rückständigkeit der deutschen gegenüber der englischen Wirtschaft im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlicher hervor, die der breite, von Gerschenkron verwandte Industrialisierungsbegriff beschreibt: Modernes kapitalistisches Wirtschaften (Trennung von Lohnarbeit und Kapital, Austausch über Märkte, Produktion zum Zweck des Profits, Entscheidungsfindung auf der Basis von Kapitalrechnung)40 war auch in Deutschland lange vor dem Durchbruch der Industrialisierung bekannt; es hatte sich jedoch nicht wie auf der Insel schon über mehrere Jahrhunderte frei entwikkeln und flächendeckend ausbreiten können. Die ländliche Protoindustrie fand vergleichsweise ungünstige Bedingungen vor, 41 und im städtischen Handwerk erfolgte ein spürbarer Aufschwung der Produktion etwa gleichzeitig mit dem Beginn der Fabrikindustrialisierung. Das Wachstum des Sozialprodukts durch die Herstellung von Massenkonsumgütern, die Handwerk und Heimgewerbe in England spätestens seit dem 18. Jahrhundert produzierten, fiel so in Deutschland zu einem großen Teil mit den durch die Fabrikindustrialisierung erzeugten Wachstumsraten zusammen. Das erklärt das unterschiedliche Hervortreten der relativen Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft bei Verwendung des engen, auf Fabrikentstehung und Maschinisierung abhebenden, und des breiten, einen allgemeinen Wachstums- und Strukturwandlungsprozeß beschreibenden Industrialisierungsbegriffs mit. 42 Die Verspätung der kapitalistischen Durchdringung des Gewerbes in 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Deutschland markiert einen ersten deutsch-englischen Unterschied, der bei der Interpretation der Gewerkschaftsentstehung zu berücksichtigen ist. Sein Stellenwert für diese Untersuchung ergibt sich aus der Tätigkeit von Gewerkschaften als Arbeitsmarktorganisationen: In ihrer wichtigsten Funktion, als »Preiskartelle mit Angebotskontingentierung« (G. Briefs),43 ermöglichen Gewerkschaften den Anbietern von Arbeitskraft die bessere Ausnutzung von Arbeitsmarktchancen. Da die Arbeitskraft untrennbar von der Person des Verkäufers ist, weist sie einen hohen Grad an Inflexibilität auf. Sie ist an bestimmte Tätigkeiten und, mit ihrem Besitzer, meist auch an einen bestimmten Ort gebunden. Da überdies der Verkauf von Arbeitskraft die wichtigste Einkommensquelle des Verkäufers darstellt, kann das Angebot auch mengenmäßig nur in engen Grenzen der Marktlage angepaßt werden. In ungünstigen Konjunkturen verhalten sich die einzelnen Verkäufer deshalb prozyklisch, statt zu warten, bis sich ein neues Marktgleichgewicht eingependelt hat. Sie bieten mehr Leistungen zu denselben oder schlechteren Bedingungen an, wodurch sich das Überangebot noch vergrößert. Gewerkschaften eröffnen hier einen kollektiven Ausweg. Sie setzen die Anbieter in den Stand, sich untereinander auf Maximalgrenzen für das Leistungsangebot und Minimalforderungen für die Preisforderung zu verständigen. In Streiks kaufen sie das Arbeitskraftangebot vorübergehend auf. Durch diese künstliche Verknappung des Angebots (bzw. durch die glaubhafte Drohung mit dieser Maßnahme) ermöglichen sie den Verkäufern, akzeptable Bedingungen auszuhandeln.44 Die Existenz von Gewerkschaften ist zwar nicht an kapitalistisches Wirtschaften gebunden, denn Arbeitsmärkte gab es auch in vorkapitalistischen Gesellschaften. Gleichwohl ist die Durchsetzung des Kapitalismus und, damit zusammenhängend, von Lohnarbeit von zentraler Bedeutung für den gewerkschaftlichen Rekrutierungserfolg, denn sie reduziert und zerstört die Alternativen zur Rolle des Arbeitskraftanbieters. Für manche Handwerker, die eigene Arbeitsinstrumente und ein ausreichendes Maß an Qualifikation besitzen, besteht etwa die Alternative der Verselbständigung. Andere, die über einen verdienten, ersparten oder ererbten »Consumtionsfonds« (Marx) verfugen oder dem Schutz von Zunftgesetzen und Herkommen unterstehen, können günstigere Konjunkturen abwarten.45 Solche Arbeitskraftanbieter, die zumindest vorübergehend in eine andere Rolle schlüpfen können, erzielen durch die Mitgliedschaft in Gewerkschaften allenfalls begrenzte Vorteile. Zur wirklichen Notwendigkeit wird die Organisation erst für den idealtypischen Lohnarbeiter, der einerseits über seine »Arbeitskraft als Ware« frei verfügt, andererseits aber »andre Waren nicht zu verkaufen hat« (Marx). 46 Es ist deshalb zu vermuten, daß die Verspätung der Gewerkschaftsentstehung in Deutschland mit dem verspäteten Eindringen von kapitalistischen Prinzipien in die Wirtschaft, d. h. mit der verspäteten Kommerzialisierung des Gewerbes und der damit einhergehenden Zerstörung von Alternativen zur Lohnarbeiterexistenz, zusammenhängt. 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Diese Überlegungen beziehen sich auf die Anbieter von Arbeitskraft. Ein zweiter Argumentationsstrang betrifft auch die Nachfrager und damit die Beziehungen zwischen den beiden Parteien: Der Aktionsspielraum von Gewerkschaften als Marktorganisationen ist um so größer, je ungehinderter sich das »freie Spiel der Kräfte« auf Arbeitsmärkten und - was indirekt eine Rolle spielt - auf Gütermärkten entfalten kann. Denn verhandlungsfähig sind nur Fragen, die nicht schon durch Gesetz oder Herkommen vorentschieden sind. In Deutschland dürfte der gewerkschaftliche Aktionsradius dadurch in besonderem Maße eingeschränkt worden sein, daß der Staatsbildungsprozeß noch nicht abgeschlossen war, als die Kommerzialisierung der gewerblichen Wirtschaft einsetzte. Sehr viel stärker als in England wurde die staatliche Gewerbepolitik in Deutschland deshalb von außerökonomischen Überlegungen geleitet: Sie sollte stets auch einen Beitrag zur Konsolidierung der landesfürstlichen Macht in den zahlreichen Einzelstaaten leisten. Welcher Art die Einschränkungen des Marktprinzips waren, die bei der Untersuchung der Gewerkschaftsentstehung in England und Deutschland zu berücksichtigen sind, skizziert der folgende Überblick. In England war der Prozeß der Staatsbildung früh abgeschlossen. Ein nationales Rechts- und Finanzsystem hatte sich bereits im 11. und 12.Jahrhundert entwickelt, und die relativ kleine, durch die Insellage von vornherein begrenzte Staatsfläche begünstigte die Marktintegration.47 Ein nationaler Markt bildete sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert heraus, als das Kommunikationsnetz durch den Kanal-, Straßen- und schließlich den Eisenbahnbau, durch die Post und die Verbreitung von Zeitungen engmaschiger wurde. Nach der Bauernbefreiung erreichte der Anteil der Gesamtbevölkerung, der in Großstädten mit über 100000 Einwohnern lebte, mit über zehn Prozent bereits im Jahr 1800 fast den Stand des Deutschen Reichs von 1890, und bis 1851 stieg dieser Anteil auf 22 Prozent an. 48 Zusammen mit dem Bevölkerungswachstum trug die Urbanisierung wesentlich dazu bei, daß sich England bereits im 18. Jahrhundert zur Konsumgesellschaft entwickelte: Bei den Städtern trat die hauswirtschaftliche Eigenproduktion zurück, sie versorgten sich über den Markt, und die gewerbliche Wirtschaft nahm einen Aufschwung.49 Direkte Staatseingriffe zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums konnten unter diesen Umständen unterbleiben.50 Hatte sich schon die merkantilistische Politik des 14./15. und besonders des 17. Jahrhunderts auf flankierende Maßnahmen beschränkt, erübrigte sich eine bewußte Industrialisierungsstrategie des Staates nun wegen der Übernahme der Pionierrolle ohnehin. Selbst die in den 1830er Jahren einsetzende Sozialpolitik versuchte in erster Linie, Anreize zur Selbsthilfe zu vermitteln, und griff allenfalls regulierend ein. Ein Konzept positiver Staatseingriffe stand nicht dahinter. Auch durch die Kontrollbefugnisse ständischer Institutionen wurde das »freie Spiel der Kräfte« auf englischen Märkten nicht behindert. Schon seit 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

dem späten Mittelalter erfolgte der Niedergang der Zünfte: Als kapitalkräftige Handwerker und Händler seit dem 14./15. Jahrhundert versuchten, die Organisationen zu spalten und ärmere Handwerker vom Markt zu verdrängen, machte sich für letztere kein politischer Bundesgenosse stark, wie es die deutschen Landesfürsten in einer vergleichbaren Situation taten. Der König war wegen der Insellage auf ihre militärischen Dienste nicht angewiesen, und die Städte hatten sich in England nicht zu politischen Machtfaktoren entwickelt. So trennten sich die Zünfte in die Livery Companies der reichen Handwerker und Händler, sie sich zunehmend auch überberuflich organisierten, und in die Yeomanry, die Gruppe der ärmeren Handwerksmeister und -gesellen eines Berufs, die von den Livery Companies ökonomisch und politisch abhängig wurden. 51 Die Yeomanry faßte zwar wie die deutschen Handwerkerzünfte gewerbliche Produzenten in einem Verband zusammen, aber sie darf auf keinen Fall mit ihnen identifiziert werden. Denn bei den Meistern und Gesellen, die sie organisierte, handelte es sich zum großen Teil um Lohnarbeiter oder bestenfalls um halbselbständige verlegte Produzenten. Schließungsversuche durch Beschränkungen der Lehrlingszahlen, Produktionsbegrenzungen und ähnliche Methoden zur Garantie der »Nahrung«, die sich in Deutschland seit dem 16./17. Jahrhundert verstärkten, kennzeichneten zwar auch die Yeomanry und ihre Nachfolgeorganisationen, aber sie wurden in den folgenden Jahrhunderten immer ineffektiver. Kaum etwas, in Hochkonjunkturen auch keine Strafandrohung, konnte die Mitglieder der Livery Companies als Verleger daran hindern, die Gesellen oder andere Arbeitskräfte unter Umgehung der Yeomanry direkt zu beschäftigen.52 Die einzige vom Staat eingeräumte Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der handwerklichen Exklusivität stellte das Statute of Artificers and Apprentices der Königin Elisabeth aus dem Jahre 1563 dar, das die siebenjährige Lehrzeit für Meister und Gesellen vorschrieb und bis 1814 formelle Gültigkeit behielt. Es beruhte jedoch nicht auf Zunftprivilegien, sondern war ein allgemeines Landesgesetz, das häufig übertreten wurde. 53 Wenn deutsche Beobachter in der Mitte des 19. Jahrhunderts konstatierten, »die Verhältnisse hätten sich nun einmal in England auf natürliche Weise so und nicht anders gestaltet«,54 reflektiert diese Einschätzung die Kontinuität der englischen Entwicklung. Sie reflektiert aber auch die sehr viel größere Interventionsbereitschaft der einzelstaatlichen Regierungen und die Präsenz der Zünfte. Von der Duplizität weltlicher und geistlicher Herrschaft gefördert, existierten in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts 314 selbständige Territorien und über 1400 Reichsritterschaften, und nach dem Wiener Kongreß blieben immer noch 39 Territorien übrig. Diese hatten häufig engere wirtschaftliche Beziehungen zu außerdeutschen Regionen als untereinander entwickelt. Die Hemmnisse für die Entstehung eines nationalen Marktes, die allein aus den unterschiedlichen Währungssystemen und den zahlreichen Zollschranken erwuchsen, wurden erst seit Gründung des Deutschen Zoll26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Vereins (1834) und seiner Ausdehnung (Norddeutscher Bund 1866; Deutsches Reich 1871) überwunden. Der Eisenbahnbau wirkte seit den späten 1830er Jahren ebenfalls integrierend, jedoch traten lokale Märkte für die gewerbliche Produktion erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Erst jetzt, als der Bevölkerungsdruck zu Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte führte, nahm auch die Urbanisierung einen Aufschwung; erst jetzt - nicht wie in England schon ein Jahrhundert zuvor - entwickelte sich allmählich eine Konsumgesellschaft.55 Die Eingriffe der Einzelstaaten ins Wirtschaftsleben waren sehr viel direkter als in England. Schon die Kameralisten hatten sich nicht auf wirtschaftspolitische Einzelmaßnahmen beschränkt; die Übergänge zu einer aktiven Industrialisierungspolitik, die den Rückstand gegenüber fortgeschrittenen Ländern aufholen sollte, waren fließend. Insbesondere Preußen unter Friedrich IL entwickelte sich so zu einem ausgeprägten »Polizeystaat«, der sich in jeder Hinsicht für das »Gemeinwohl« verantwortlich fühlte. Zur »Polizeyverwaltung« gehörten im zeitgenössischen Sprachgebrauch neben Sicherheits-, Ordnungs- und Sittenpolizei auch Gewerbe- und Handelspolizei sowie Verkehrs- und Wirtschaftsverwaltung. Im Interesse der Verbesserung seiner Handelsbilanz und der Erhöhung der im Inland zirkulierenden und für machtpolitische Zwecke abschöpfbaren Geldmenge sorgte der »Polizeystaat« ζ. Β. für eine Verbesserung der Infrastrukur, förderte die Ansiedlung ländlicher Verlags- und Manufakturindustrien und schützte die inländische Wirtschaft durch Einfuhrzölle von der ausländischen Konkurrenz.56 Trotz aller Modernisierungsanstrengungen blieb das Verhältnis der Einzelstaaten zu den städtischen Handwerkszünften ambivalent. Einerseits hatten die Landesherren schon seit dem 17. Jahrhundert damit begonnen, die ökonomischen Kontrollbefugnisse der Zünfte zu untergraben, indem sie unzünftige Produzenten konzessionierten und eigene Manufakturen und Militärwerkstätten errichteten. Durch Einschränkungen der korporativen Gerichtsbarkeit und Finanzhoheit beschnitten sie zugleich ihre kulturelle und politische Autonomie. Andrerseits wurden die Zünfte nicht einfach durch ein Dekret abgeschafft, sondern mit Privilegien ausgestattet und künstlich am Leben erhalten; selbst nach der endgültigen Einführung der Gewerbefreiheit (mancherorts erst 1869/71) durften sie als freie Innungen bestehen bleiben. Diese ambivalente Haltung hing unter anderem mit der erfolgreichen Interessenpolitik der Handwerksmeister und ihrer Fürsprecher aus den städtischen und ländlichen Eliten zusammen.57 Von zentraler Bedeutung war jedoch auch das Eigeninteresse der einzelnen deutschen Staaten selber. Sie verfügten zwar im allgemeinen auf höchster Ebene über eine relativ hochentwickelte Bürokratie, die dezidierte Wirtschaftsprogramme auszuarbeiten vermochte und die Staatsautorität nach innen verkörperte. Bei der Durchsetzung dieser Programme wie bei der Sicherstellung der öffentlichen Ordnung und des kontinuierlichen Flusses von Ressourcen waren die Regierun27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

gen jedoch auf die Kooperation mit halbstaatlichen und privaten Institutionen angewiesen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Zünfte bzw. Innungen, im allgemeinen formell den städtischen Magistraten unterstellt, mit »Polizey«-Funktionen ausgestattet. Sie konnten, wie man noch 1860 in Hamburg anläßlich der Diskussion um die Einführung der Gewerbefreiheit anerkennend feststellte, »wegen ihrer polizeiähnlichen Maßnahmen der staatlichen Verwaltung viel Mühe abnehmen«.58 Sie organisierten die Arbeitsvermittlung sowie das gewerbliche Unterstützungswesen und wirkten als Sittenwächter. Außerdem waren sie verpflichtet (und selbst daran interessiert), dem Magistrat wehrpflichtige Gesellen zu melden, die sich als potentielle Pfuscher illegal in der Stadt aufhielten. Sie versorgten die städtische und staatliche Verwaltung mit Rohdaten für die amtliche Gewerbestatistik und konnten auch bei der steuerlichen Veranlagung von Handwerksmeistern als Informanten oder Inkassostellen herangezogen werden. Da die »Zänckereyen und Prozesse« der Handwerker außerdem eine ergiebige »Quelle der Sportein« war, sahen »gar zu viele kleine und mindermächtige Staaten« gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Handwerksangelegenheiten »als ihr höchstes, wenigstens ihr einträglichstes Regal« an. 59 Zugleich kanalisierten die Zünfte den Protest der Handwerker gegen die Modernisierungspolitik und ermöglichten den Obrigkeiten gezielte und abgewogene Aktionen: Sie hatten »Meister und Gesellen gleichsam kompagnieweise vor sich«.60 Die skizzierten deutsch-englischen Unterschiede: die größere Präsenz der deutschen Staaten im Wirtschaftsleben und die künstliche Aufrechterhaltung überkommener ständischer Institutionen, mußten marktkonformes Verhalten erschweren und die Reibungsflächen zwischen den Arbeitsmarktparteien vergrößern. Beide Parteien, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, konnten sich nicht wie ihre englischen Kollegen und Konkurrenten weitgehend im staatsfreien Raum bewegen. Viel stärker als diese agierten sie in Abhängigkeit von Gesetzen und Verordnungen, obrigkeitlichen Eingriffen der Polizei, der Behörden und des Militärs, von ständischen Sonderrechten, Konventionen und Umgangsformen. »Individual interest« und »individual wisdom« kämen kaum zum Zuge, stellte ein englischer Deutschlandbesucher um 1820 fest: »This is, in truth, the great difference between our country and the Continent. « 61

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TEIL A

Die Handwerkstradition: Antrieb oder Hemmnis der Gewerkschaftsentwicklung?

1971 hat Ε. Ρ. Thompson einen vielbeachteten Aufsatz über »The Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century« veröffentlicht.1 Nicht nur in England hat dieser Aufsatz zahlreiche Untersuchungen über Mentalität, Kultur und Alltag der Unterschichten angeregt, auch in der Bundesrepublik ist er rezipiert worden; u. a. hat er der Handwerker- und Arbeitergeschichte neue Impulse verliehen. Der »blaue Montag«, Katzenmusiken, die Handwerksehre und die Gesellenaufstände des 18. Jahrhunderts haben nicht zuletzt mit Bezug auf Ε. Ρ. Thompsons Arbeiten verstärkte Aufmerksamkeit gefunden.2 Selten ist jedoch im Zuge der Thompson-Rezeption in Rechnung gestellt worden, daß seine Arbeiten sich auf die englische Gesellschaft beziehen. Im Gegenteil: verschiedentlich werden sie sogar zum Ausgangspunkt genommen, um die »soziale Logik« handwerklicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster aufzudecken.3 Ob die »moral economy« des alten Handwerks nicht vielmehr unterschiedliche nationale Ausprägungen aufwies, ist die Leitfrage dieses ersten Teils des deutsch-englischen Vergleichs. Sie soll vornehmlich für das Schneiderhandwerk beantwortet werden. Nach einem Überblick über die Kommerzialisierung der Bekleidungsherstellung im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Beziehungen zwischen Meistern und Gesellen und die handwerkliche Berufssozialisation untersucht, um festzustellen, ob die »moral economy« des alten Handwerks in England und Deutschland gleichermaßen dazu beitrug, Solidarität und Kollegialität unter den Berufsgenossen auszubilden.

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I. Die Kommerzialisierung des Gewerbes: Das Beispiel des Schneiderhandwerks

1. Massenbedarf, Mode und Rationalisierung der Zuschneidetechniken Kleidung zählt zu den Konsumgütern, die erst mit der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert in größerem Maße benötigt wurden. Der geschilderte Entwicklungsvorsprung Englands gegenüber Deutschland schlug sich deshalb auch in der Kleidernachfrage nieder. Von gar nicht zu überschätzender Bedeutung war hierfür die frühe Kommerzialisierung von Landwirtschaft und Gewerbe, die einen Großteil der englischen Bevölkerung zu Lohnarbeitern machte und die Eigenproduktion in der Wirtschaft des »ganzen Hauses« zu einer Randerscheinung werden ließ. Aus Zeitmangel deckten die städtischen und ländlichen Arbeiterfamilien ihren Kleiderbedarf im wesentlichen über den Markt.4 Sogar Wäsche wurde in England kaum noch im Haushalt angefertigt. Um 1850, als die gerade entstandene deutsche Wäschenäherei noch fast ausschließlich für Reisende und den gehobenen Einzelbedarf produzierte, wies diese Branche in England schon eine jahrhundertelange Tradition auf.5 Der relative Wohlstand der englischen Gesellschaft war eine weitere Voraussetzung dafür, daß eine große Nachfrage nach Kleidung schon im frühen 18. Jahrhundert einsetzte und sich in der zweiten Jahrhunderthälfte verstärkte. Zum einen erfolgte in den neuentstehenden Industriegebieten ein kontinuierlicher Reallohnzuwachs. Zum anderen waren die im eigenen Land hergestellten Stoffe aufgrund der Mechanisierung bald zu erschwinglichen Preisen erhältlich. Sie ergänzten das Angebot an bunten Kattun- und Musselinstoffen, die von der East India Company bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts importiert wurden.6 Die steigende Nachfrage nach Kleidung führte in England zunächst nicht zur Industrialisierung der Bekleidungsherstellung, d. h. zur zentralisierten Massenproduktion von Fertigkleidern für anonyme Kunden, gegebenenfalls mit Maschinen. Die Schneiderei nahm einen Aufschwung, jedoch blieb sie, dem vorn skizzierten gesamtwirtschaftlichen Trend folgend, Handwerk: Die Produzenten, selbständige Handwerksmeister und Gesellen, die in einer kleinen Werkstatt oder in Heimarbeit nähten, stellten nach wie vor Maßkleidung in Handarbeit her. Ein Zusammenhang zwischen der Durchsetzung der industriellen Massenproduktion und der Entstehung von Schneidergewerkschaften, der in der Historiographie - bei völliger Überschätzung des Entwicklungsstands der Branche - häufig vermutet wird, 7 ist deshalb nicht zu sehen. Der folgende Überblick über die Entwicklung der Bekleidungsindustrie beider Länder verdeutlicht dies. Ein wesentlicher Grund für die Verzögerung der Industrialisierung war 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

die Rückständigkeit der Technik. Das erste Patent auf eine Nähmaschine war in England zwar schon 1753 erteilt worden, und auch in Deutschland und anderen Ländern wurde die »eiserne Hand« im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrfach unabhängig voneinander erfunden. Doch die ersten Modelle litten darunter, daß die Erfinder das Nähen mit der Hand direkt kopieren wollten und bei jedem Stich die ganze Nadel durch den Stoff schieben ließen. Funktionstüchtig und leistungsfähig wurde die Nähmaschine erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als eine Maschinennadel mit Öhrspitze und ein Schieber zum Weitertransport des Stoffes entwickelt wurden, so daß die Nähgeschwindigkeit das Handnähen um das Sechsfache übertraf.8 Zeitgenössischen Schätzungen zufolge existierten 1863 25000 Maschinen in England und 15000 in Deutschland.9 Sie wurden jedoch vorwiegend in der Wäschenäherei eingesetzt, die nicht in das Tätigkeitsgebiet der Handwerker fiel. In die Schneiderei fand die Nähmaschine erst seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre Einlaß, als die Preise gesunken waren und die Nähmaschinenindustrie die Vorurteile der Kundschaft abgebaut hatte.10 Einen gewissen technologischen Entwicklungsvorsprung wies England gegenüber Deutschland allenfalls in bezug auf die Mechanisierung des Zuschneidens auf. Die Bandsäge, die erstmals auf der Londoner Weltausstellung von 1851 vorgeführt worden war, wurde bereits Ende der 1850er Jahre in einer Bekleidungsfirma in Leeds eingesetzt. Bald wurde sie auch anderswo mit Hilfe von Dampfmaschinen betrieben. Für Deutschland wird dagegen erst seit Ende der 1870er Jahre vom »Zuschneiden der Stoffe in Stössen durch rotirende Bandmesser mittelst Dampfkraft« berichtet.11 Auch nachdem mit Nähmaschine und Bandsäge die technischen Voraussetzungen für eine Massenproduktion von Fertigkleidern vorhanden waren, entwickelte sich die moderne Bekleidungsindustrie in beiden Ländern nur zögernd. In England bildeten sich nach der Jahrhundertmitte die ersten Zentren in London und Leeds heraus; daneben sind Colchester, Bristol und Norwich zu erwähnen. Einen großen Aufschwung nahm die Produktion jedoch erst in den 1880er Jahren.12 Auch die deutschen Konfektionszentren - im Osten Berlin, Stettin und Breslau; im Westen Mönchen-Gladbach, Barmen-Elberfeld und Ostwestfalen; im Süden Frankfurt, Aschaffenburg und die Bayrische Pfalz - gelangten erst jetzt zu einiger Bedeutung.13 Im Untersuchungszeitraum beschränkten sich die Unternehmen - meist Verlage mit zentralisierten Zuschneidebetrieben, selten Fabriken - noch weitgehend auf die Produktion billiger Arbeiter- und Berufskleidung. Für den »gehobenen Bedarf«, die traditionelle Domäne der Schneiderei, arbeitete allenfalls die Berliner Mäntelkonfektion. Sie war auf Schals, Paletots und Schlafröcke spezialisiert, also auf Garderobe, bei der es nicht auf den exakten Sitz ankam. Andere Kleidungsstücke »von der Stange« genügten erst Ende des Jahrhunderts höheren Ansprüchen, als das System der Konfektionsgrößen erheblich verfeinert worden war. Hatte der Kunde 1870 nur zwischen 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

drei und vier Größen auswählen können, waren es 1912 schon zwischen dreißig bis vierzig.14 Da die moderne Bekleidungsindustrie vor 1880 weder in England noch in Deutschland eine wichtige Rolle spielte, können ihre Verhältnisse für die Untersuchung der frühen Gewerkschaftsbewegung vernachlässigt werden. Dies gilt um so mehr, als sie überwiegend Frauen und - in England jüdische Einwanderer beschäftigte, die im allgemeinen als nicht organisierbar galten.15 Die Mitglieder der zeitgenössischen Schneidergewerkschaften, die sich vorwiegend aus dem traditionellen Handwerk rekrutierten, wurden von der Massenproduktion allenfalls indirekt betroffen. Massenbedarf, aber keine Massenproduktion - so läßt sich, kurz gefaßt, die Situation auf dem englischen Bekleidungsmarkt für das 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreiben. Woher aber bezogen die marktabhängigen Unterschichten unter diesen Umständen ihre Kleidung? Die Beantwortung dieser Frage verweist auf einige zentrale deutsch-englische Unterschiede in der Entwicklung des Schneidergewerbes: Der Kleiderbedarf der breiten Bevölkerung wurde in England traditionell mit Hilfe des Altkleiderhandels gedeckt. Diese Branche führte dort nicht ein solches Schattendasein wie in Deutschland, wo sie eine Domäne der jüdischen Bevölkerung am Rande der durch Zunftrecht und landesherrliche Privilegien bestimmten Legalität geblieben war. Noch in den 1850er Jahren bevorzugte die breite Bevölkerung die Second-Hand-Kleidung gegenüber den billigen Konfektionsartikeln, den oft aus Lumpenwolle (»shoddy«) hergestellten »slop clothes«. Die Altkleider, die man im nächsten coffee shop anprobierte und von den Anwesenden beurteilen ließ, waren nicht nur qualitativ besser, sondern auch preiswerter. Das am meisten verlangte Kleidungsstück, der Frack, kostete in der Jahrhundertmitte gebraucht zwischen 2½bis 5 s, aber selbst im billigsten »slop shop« mußte man mindestens 18 s aufbringen.16 Anders als in Deutschland waren Altkleiderhändler in England durchaus angesehene Leute; sie rangierten etwa in der Mitte der Statushierarchie der gelernten (!) Berufe. Ihre Qualifikation bestand in der Fähigkeit, getragene Kleidungsstücke zu waschen oder mit Terpentin fachgerecht zu reinigen und ihnen durch Flickarbeiten, Bügeln und sonstige Kunstgriffe ein passables Äußeres zu verleihen. Die wichtigste Bezugsquelle des Altkleiderhandels stellte neben den Pfandleihern das große Heer der Dienstboten dar, die sich durch den Verkauf der abgelegten Kleidung ihrer Herrschaft einen gewohnheitsrechtlich legitimierten Nebenverdienst verschafften. Diese Bezugsquelle war insbesondere für Frauenkleider sehr ergiebig, weil - was in Deutschland kaum denkbar gewesen wäre-ein modisch gekleidetes Dienstmädchen bei den Damen der »society« als Statussymbol galt. 17 Basierte der Altkleiderhandel einerseits auf der Nivellierung ständischer Bekleidungsgrenzen - die letzte englische Kleiderordnung war 1604 aufgehoben worden-, so trieb er diese Nivellierung andrerseits weiter voran. Da 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

die städtischen Unter- und Mittelschichten die abgelegten Kleider der Oberschicht auftrugen, glichen sie sich in der Wahl von Material und Farbe mehr und mehr den von Adel und Wirtschaftsbürgertum gesetzten Standards an. Nur in Nuancen unterschieden sich ihre Kniehosen, Hüte und Westen von dem, was wohlhabende Leute trugen.18 Deutschen Englandreisenden fiel das seit dem Ende des 18.Jahrhunderts auf- meistens unangenehm: Sie konnten nicht wie zu Hause auf den ersten Blick erkennen, ob sie es mit einem »gemeinen Mann«, einem »Handwerksmann« oder mit einem »Begüterten« zu tun hatten, und das irritierte sie. 19 Die englische Oberschicht zog ihre Konsequenzen. Wo soziale Distanz nicht mehr durch Kleiderordnungen oder ständisches Herkommen garantiert wurde, wo es also keine prinzipiellen, höchstens finanzielle Hindernisse dafür gab, daß der Geschmack der »oberen Zehntausend« sich verallgemeinerte, wurde jede neue Modeströmung aufgenommen.20 Deshalb verbesserte sich die Auftragslage der englischen Schneider ganz erheblich. Besonders die Herrenbranche, die die überwiegende Mehrzahl der Berufsgenossen beschäftigte, nahm einen Aufschwung, denn ihr gelang es zu definieren, was in der breiten Gesellschaft für Mode gehalten wurde. Vor allem gilt dies für das Zentrum der Herrenschneiderei im Londoner West End, wo sich die Haute volée des In- und Auslandes einkleidete. Hier ließen sich die Produzenten nicht durch Modejournale anleiten; hier machten sie die Mode selber.21 Und sie machten sie so, daß ihre Standards ohne die handwerkliche Qualifikation eines außergewöhnlich guten Schneiders nicht zu erreichen waren. Eleganz erhielt ein Anzug immer weniger durch dekorative Elemente, sondern durch seinen Schnitt, der den natürlichen Körperformen folgte. Der berühmteste Dandy des späten 18. Jahrhunderts, Beau Brummel, machte daraus geradezu eine Doktrin für die Oberschicht: »(A) gentleman's clothes should be inconspicuous in material and exquisite only in cut.« 22 Dem Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung trug diese Form des Understatement auf eine subtile Weise Rechnung. Denn die schlichten Anzüge wirkten nur dann elegant, wenn sie individuell angepaßt worden waren. Die Unter- und Mittelschichten, die sich auf den Kleidermärkten Gebrauchtkleidung kauften oder bei zweit- und drittklassigen Schneidern arbeiten ließen, mußten auf den korrekten Sitz verzichten. Dem Kennerblick entgingen solche Informationen über die Klassenzugehörigkeit des einzelnen nicht. In diesem Rahmen entwickelten die englischen Schneider ihre handwerklichen Fertigkeiten beträchtlich weiter. Mit der Verarbeitung von Tuchen, die - anders als die steifen Seidenstoffe - durch Bügeln in körpernahe Formen gebracht werden konnten, verfeinerten sie ihre Zuschneidetechniken. Seit Ende des 18. Jahrhunderts ging man mehr und mehr vom Zuschneiden nach starren Schablonen ab, in die allein das Erfahrungswissen des Meisters oder Zuschneiders eingegangen war. Die neue »Science Complete in the Art of Cutting« basierte nun »upon geometrical principles«.23 Mit 33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Hilfe der Gesetze von Geometrie und Trigonometrie und des Erfahrungswissens über die Proportionalität von Armlänge und Schulterbreite, von Taille, Hüftbreite und Beinlänge konnte jeder beliebige Grundschnitt nach den individuellen Körpermaßen abgewandelt werden, so daß ein Anzug jetzt nicht mehr im wahrsten Sinn des Wortes auf den Leib geschneidert werden mußte, sondern konstruiert werden konnte und trotzdem nach wenigen Anproben saß. Die deutschen waren den englischen Schneidern in Modefragen und Zuschneidetechniken hoffnungslos unterlegen. Zwar war gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch ihnen klar, daß galt: »Unterstützt die Mode, ... weil mit ihrem Tode unser Glück verblüht. «24 Aber solche Einsichten nutzten ihnen wenig, solange ihr Glück noch mehr oder weniger ausschließlich von den Präferenzen des Adels abhing, der, wie ein Zeitgenosse des späten 19. Jahrhunderts feststellte, in Deutschland traditionell »ohne maßgebenden Einfluß auf Geschmack und Mode« war und einen »geschlossenen Kreis« bildete.25 Erst nach der Französischen Revolution entwickelte sich eine bürgerliche Mode, aber ihre allgemeine Durchsetzung erfolgte nur zögernd - nicht zuletzt deshalb, weil in der breiten Bevölkerung kein Geld für Extravaganzen vorhanden war. Erst mit der größeren Verfügbarkeit von bunten Stoffen seit den 1840er Jahren legten auch Kleinbürger und gutverdienende Arbeiter Wert auf ein modisches Äußeres. Die geblümte Weste und der grün-blau-karierte Frack, den ein 1849 beim Dresdner Maiaufstand festgenommener Zigarrenarbeiter bei seiner Inhaftierung trug, entsprach zu dieser Zeit z. Β. dem letzten Schrei in diesen Schichten.26 Gleichzeitig entwickelte sich eine dezidiert politische Mode. Mit Demokra­ tenhüten, Barrikadenkappen, grünen Blusen, roten Halstüchern und Revoluzzerbärten trug die achtundvierziger Bewegung ihr politisches Glaubensbekenntnis zur Schau. Nachdem sie ihre aktuelle Brisanz verloren hatten, fanden diese Accessoires zum Teil auch bei Bürgern mit dem »beschränktesten Unterthanenverstand« Aufnahme.27 Die genannten Beispiele bezeichnen jedoch nur Ansätze der Verbreitung modischer Kleidung. Mochten auch die Kleiderordnungen, die manche Einzelstaaten im 18. Jahrhundert noch einmal festgeschrieben hatten, immer weniger Beachtung finden: Anstandsregeln und Konventionen sorgten dafür, daß ständische Abgrenzungen im Alltag deutlich sichtbar blieben. Hatte ein Handwerksbursche, der sich durch einen »glänzenden Stutzeranzug« hervorzutun versuchte, noch im Vormärz riskiert, Anstoß zu erregen oder sich lächerlich zu machen,28 so galt die Mode auch noch 1878, einhundert Jahre nach der Französischen Revolution, nur als »Gemeingut Aller, welche Classeneinfluß halten. Die Kleidermode... ist die Uniform der herrschenden Classen.«29 Weil sie sich spät und nur in Etappen durchsetzte und weil 34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

sie deutlicher als in England gruppenspezifische Ausprägungen annahm, fehlten bei Adel und Bürgertum, den besten Kunden der Schneider, wichtige Anreize für eine Beschleunigung des Modewechsels. »Man« mußte bekleidungsgemäß lediglich mit seinesgleichen mithalten; nach wie vor galt: »Kleider machen Leute«, nicht: »the tailor makes the man«. Die deutsche Schneiderei erhielt deshalb im 18. Jahrhundert noch wenig Anreize zur Rationalisierung der Zuschneidetechniken. Erst im Vormärz setzte eine überregionale Fachdiskussion ein. Bis dahin - und in alteingesessenen Geschäften noch in den späten 1870er Jahren - blieb der Schablonenzuschnitt nach der sog. »blauen Patrone«, dem Arcanum des Meisters, unangefochten.30 Zwei spezifisch deutsche Faktoren wirkten zusätzlich innovationshemmend: Zum einen hatte sich aufgrund der noch nicht vollzogenen Nationalstaatsbildung kein einheitliches Maßsystem herausgebildet. Noch 1845 gab es über 140 verschiedene Ellenmaße.31 Zum anderen stellten sich die Zünfte quer. 1810 wurde z.B. ein Dresdner Damenschneider von der Innung erfolgreich verklagt, weil er eine Zuschneidelehre veröffentlicht hatte. Seine »Anleitung den menschlichen Körper, besonders aber den weiblichen, nach seinen verschiedenen Abweichungen nach Grundsätzen zu kleiden und zu verschönern«, wurde als geschäftsschädigend angesehen. Die Kollegen befürchteten, daß »die Verbreitung dieses Buches... jeden in den Stand setzen werde, sich selbst zu bekleiden und ihre ganze Innung unnütz sein werde«. 32 Es ist bezeichnend für die Ignoranz der Zunftgenossen, daß ein deutscher Schneidermeister, der in den 1830er Jahren mit seinen Ausführungen über das »mathematische Zuschneiden der Kleider« in Londoner Fachkreisen Furore gemacht hatte, in seiner Heimat- trotz der Übersetzung seines Werkes - erst mit dreißigjähriger Verspätung Beachtung fand.33 1850 wurde schließlich eine »Akademie der höheren Bekleidungskunst« in Dresden eröffnet, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum Vorbild für weitere Lehranstalten wurde, und 1874 gründete das innungsmäßig verbundene Schneiderhandwerk einen »Verein Deutsche Mode« auf nationaler Ebene.34 Aber diese Vorstöße kamen zu spät. Ihren geringen Perfektionsgrad, den die Berufsgenossen selbst und andere, auch ausländische Beobachter feststellen mußten (im übrigen auch bei anderen Handwerksberufen), konnten sie nur langsam verbessern, und in der Mode war das Terrain schon vom Ausland besetzt, als sie hier ein lohnendes Betätigungsfeld überhaupt erst erahnten. In der Herrenmode dominierte England, und in der Damenbekleidungsbranche, die dort längst eine Domäne der weiblichen Konkurrenz, der »dress makers«, geworden war, wies Frankreich den Weg.35

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2. Das Eindringen kapitalistischer Prinzipien in die Schneiderei: Die Kleidermagazine Angesichts des nur langsam wachsenden Kleiderbedarfs und der zögernden Durchsetzung der Mode war auch die Produktionsorganisation des deutschen Schneiderhandwerks vergleichsweise rückständig. Der durchschnittliche Meister, der Zunftgenosse wie der Pfuscher, war noch im Vormärz ein sog. Lohnwerker (K. Bücher)36 Er verarbeitete die vom Kunden gelieferten Stoffe entweder in seiner eigenen Werkstatt oder - als »Störer« - in dessen Haushalt. In gewisser Weise stempelte diese Art der Produktion ihn zwar, wie ein Zeitgenosse in der Mitte des 19.Jahrhunderts feststellte, »zum Lohnarbeiter, welcher nur auf Bestellung arbeitet«.37 Aber diese Einschätzung übersah, daß der Lohnwerker finanziell unabhängig war. Sein Kapitalbedarf war niedrig; prinzipiell genügten ihm Nadel und Nähgarn, Fingerhut und Schere, Bügeleisen und Elle, um »sein Handwerck ohne Hinderniß« ausüben zu können. Schon im 18. Jahrhundert wußte mancher Schneider diese Vorteile zu schätzen, »(d)a hergegen andere Handwercke gemeiniglich einen großen Verlag erfordern«.38 Der Lohnwerker war allerdings kein kapitalistischer Unternehmer, selbst dann nicht, wenn er als Arbeitgeber auftrat. Das Risiko der Produktion trug der Konsument, Investitionen waren überflüssig, und so fand das Rentabilitätsprinzip wenig Beachtung. In letzter Instanz orientierten sich die wirtschaftlichen Entscheidungen des Lohnwerkers an den eigenen existentiellen Bedürfnissen; darüber hinaus trug er den von Zünften, Obrigkeiten und vom Herkommen gesetzten Rahmenbedingungen Rechnung. Die Voraussetzungen für das Eindringen des Kapitalismus ins Schneidergewerbe wurden erst dadurch geschaffen, daß der Produzent die Grenzen des Lohnwerks überschritt und selbsterworbene Stoffe verarbeitete. Denn dieser Übergang vom Lohnwerk zum Preiswerk war in der Schneiderei mit einem erheblichen Kapitaleinsatz verbunden und zog im allgemeinen die Notwendigkeit nach sich, unter Berücksichtigung kapitalistischer Rechenhaftigkeit zu wirtschaften: Anders als manche anderen Handwerke, die nur einen geringen Vorrat gleichartiger Materialien anzulegen brauchten, um die Kontinuität der Produktion zu gewährleisten, mußte der Schneider ein gut sortiertes Lager unterhalten. Nur dann konnte er die verschiedenartigen Ansprüche der Kunden befriedigen und am Tuchverkauf verdienen. Die Stoffe mußten auch direkt vom Hersteller oder vom Großhändler bezogen werden. Wenn der Schneider sie nur en détail vom ortsansässigen Tuchhändler kaufte, hatten die Kunden keine Veranlassung, das nicht selber zu tun, um keine Handelsspanne aufkommen zu lassen. Erst das Risiko, auf unmodern gewordenen Stoffbeständen sitzenzubleiben, veranlaßte den im Preiswerk arbeitenden Schneider zur genauen Kalkulation und zur Ausdehnung der Produktion.39 Die Abkehr von der Schneiderei im Lohnwerk begann in Deutschland im 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

großen Maße seit den späten 1830er Jahren. Beschleunigt durch den wachsenden Wohlstand des Bürgertums wurde jetzt allmählich auch in dieser Branche spürbar, daß »Geld die industrielle Welt« regiert.40 Das geschah zum einen in der bisher schon bekannten Form, daß kapitalkräftige Meister, auch Zunfthandwerker, den Übergang vom Lohn- zum Preiswerk vollzogen, indem sie sich ein Stofflager zulegten. In diesem Fall taten, wie beschrieben, Handwerker einen »ersten Schritt in den Kaufmannsstand hinüber«. Zum anderen - und das war neu - bemächtigte sich umgekehrt der »kalkulierende Mann..., der Kaufmann«, des Handwerks.41 In diesem Fall wurde aus dem ehemals selbständigen Lohnwerker ein verlegter Lohnarbeiter. Er wurde nun entweder von einem der modernen Schneider-Unternehmer abhängig oder - so der Regelfall - von einem oder mehreren dieser Kaufleute, den auch »Konfektioneure« genannten, zum Teil sehr kapitalkräftigen Eigentümern von Kleidermagazinen. Diese Textilgeschäfte, in Einzelfällen frühe Warenhäuser mit Spezialabteilungen, sind nicht zu verwechseln mit den englischen »slop shops« für Billigartikel, denn Kleidermagazine wandten sich in dieser Zeit in erster Linie an das »gehobene Publikum«. Es handelte sich entweder um erweiterte Tuchhandlungen und geschlossene Geschäfte von Kleiderhändlern oder um Wäsche- und Manufakturwarenhandlungen, die sich seit einiger Zeit vornehm als »Herren-Garderobe-Artikel-Geschäft« oder »Mode-Magazin« bezeichneten. Seit dem Vormärz führten sie neben Kragen und Manschetten, Hals- und Taschentüchern, Strümpfen, Hemden und »Unterbeinkleidern« auch Oberbekleidung, die sog. »Confections«.42 Daß »Konfectioneure« »Confections« verkauften, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Magazine nicht nur mit Kleidung »von der Stange« handelten. Angesichts der Qualitätsstandards ihrer Kundschaft mußten sie sich in dieser Hinsicht zunächst auf breite Schals, Pelerinen und Schlafröcke beschränken, die lose am Körper hingen. So gaben die Magazine auch vor allem Maßkleidung in Auftrag. Diesen Doppelcharakter wiesen sie noch Ende des 19. Jahrhunderts auf.43 Der Einbruch in das Maßgeschäft, die wichtigste Domäne des Schneiders, war das Neue an den Kleidermagazinen. Neu war nicht, daß sie auch fertige Kleider verkauften und Handwerker im Verlagssystem beschäftigten, wie in der sozialgeschichtlichen Literatur zum Thema häufig zu lesen ist.44 Um die Militäraufträge des Staates, bei denen die Uniformstoffe von den Chefs der am Orte stationierten Kompanien »vorgelegt« wurden, hatten sich einzelne Meister und ganze Zünfte stets bemüht, obwohl sie nicht besonders lukrativ und mit deutlichen Eingriffen in die Handwerksautonomie verbunden gewesen waren. 45 Und über die vor allem seit Beginn des 19.Jahrhunderts beträchtliche, oft illegale Produktion von fertiger Kleidung für Jahrmärkte und Kleiderhändler, die ebenfalls teilweise auf dem Verlagssystem basierte, hatten sich die Zünfte zwar seit dem Mittelalter immer wieder beklagt. Aber trotz gelegentlicher Bönhasenjagden duldeten sie den Kleiderhandel im 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Grunde, weil er in der flauen Saison zwischen den hohen kirchlichen Feiertagen nicht nur Pfuschern, sondern auch vielen Zunftmeistern eine Verdienstmöglichkeit eröffnete.46 Der Kleiderhandel wurde üblicherweise auch nicht von der »besseren Kundschaft« frequentiert, die dem Handwerk jetzt durch die Magazine abspenstig gemacht wurde, und er war auch nicht in den wichtigsten Tätigkeitsbereich der Berufsgenossen, die Maßschneiderei, eingedrungen. Da die Kunden ihre Bestellungen jetzt zunehmend bei Kleidermagazinen und nicht mehr direkt beim Handwerksmeister aufgaben, wurde die vorher nur vorübergehende Verlagsabhängigkeit vieler Schneider auf Dauer gestellt. Der Rückweg zur selbständigen Kundenproduktion wurde abgeschnitten. Was machte die Überlegenheit der Kleidermagazine aus? Zunächst einmal kamen sie der Bequemlichkeit des Publikums weit mehr entgegen als der traditionelle Handwerker. Wer sich nicht nur einmal im Leben einen »guten Rock« anfertigen ließ, sondern öfter etwas Neues tragen wollte, dem wurde der obligatorische Gang zum Tuchhändler nach dem Maßnehmen und der Festlegung des Stoffbedarfs auf die Dauer lästig. Angesichts der »Hast und Eile, durch welche sich unsere Zeit auszeichnet«, konnte und wollte auch nicht jeder Kunde zwei bis drei Wochen auf das neue Kleidungsstück warten, wie es der Schneider von ihm verlangte. Dem durchreisenden Publikum war das ohnehin nicht möglich, und »(i)n den höheren Klassen der Gesellschaft giebt es tausend Veranlassungen, diesem oder jenem Wunsche oder Zwecke sofort zu entsprechen, ja die Laune ist oft Gebot genug«. 47 Das Magazin konnte Bestellungen in weitaus kürzerer Zeit ausfuhren, weil es außer einem Zuschneider und einer geringen Anzahl Gesellen im allgemeinen keine feste Belegschaft für die Produktion unterhielt, sondern jeden beliebigen unbeschäftigten Schneider, bei Bedarf auch mehrere, selbst ganze Werkstätten, für ein Kleidungsstück kurzfristig verpflichten konnte. Während das Magazin nur Festpreise kannte, mußte sich der Kunde eines Schneidermeisters zunächst mit diesem über den Preis einigen. In der guten Stube neben der Werkstatt zu feilschen, war jedoch nicht jedermanns Sache. Preisvergleiche waren in dieser Situation nicht möglich, und der Auftrag wurde oft nur deshalb erteilt, »weil e s . . . manche geniert, in die Wohnung zu gehen und eventuell dort nichts zu kaufen«.48 Weil er die Befürchtung hegen mußte, der Meister könne nach dem Motto der Kölner Berufsgenossen »He e Läppche und do e Läppche, gitt zusomme e Kinderkäppche«49 den ihm anvertrauten Stoff unterschlagen, fühlte sich mancher Kunde am Ende auch dann übervorteilt, wenn ihm besonders günstige Konditionen eingeräumt waren. Beim traditionellen Schneider bestellte man außerdem die Katze im Sack. Modejournale, Schaufenster mit Gasbeleuchtung, Modellkleider, die man in besonderen Räumen anprobieren konnte - all dies bot das Magazin, aber nicht die traditionelle Schneiderwerkstatt. Einer der ersten Berliner »Mäntelkönige«, der Konfektionär Hermann Gerson, fuhr schon in den sechziger 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Jahren regelmäßig nach Paris, um sich Anregungen zu holen, und ließ seine Kollektionen durch Mannequins vorführen.50 Diese exquisite Großzügigkeit konnten sich selbstverständlich nur die ersten Häuser am Platze leisten. Mit der Unverbindlichkeit des Besuchs im Modemagazin erhielt der Kleiderkauf jedoch auch generell den Charakter einer Freizeitbeschäftigung, wie er im englischen Wort »Shopping« mitschwingt. Die Werbemethoden mancher Kleidermagazine und aufstrebenden Schneiderunternehmen unterstrichen diesen Effekt. Wo Geschäfte »einen Monat lang 16 Mann mit angehängten Straßenplakaten zum Ergötzen des Publikums in der Stadt herumgehen« ließen oder den Kunden mit Kutschfahrten Wartezeiten vertrieben, wurde der Meister alten Schlags in die Defensive gedrängt. Er hatte bestenfalls ein Handwerkszeichen an der Werktstattür angebracht und konnte im allgemeinen selbst Zeitungsannoncen nicht mit seinem vom zünftigen Gleichheitspostulat geprägten Berufsethos vereinbaren.51 Darüber hinaus war es ja nicht falsch, wenn die modernen Geschäfte behaupteten, ihre Kleider seien »so auffallend billig, daß sich die resp. Kunden lange nicht die Zuthaten dafür beschaffen können«.52 Ihre Angebote waren allein deshalb günstiger als die des traditionellen Handwerkers, oft auch als die des aufstrebenden Schneider-Unternehmers, weil sie sich beim Stoffeinkauf die »economies of scale« zu Nutzen machen konnten. Der Konfektionär kaufte auf Auktionen und aus Bankrotten; er unterhielt »Agenten, welche die Fabriken förmlich überwachen und von denen er sofort erfährt, wenn sich der Kaufmann in Geldverlegenheiten befindet«; er war, wie viele Schneider zugeben mußten, »als Kapitalist mit Waffen versehen, gegen die wir nicht kämpfen können«.53 Außerdem hatten die Magazine die Produktion effizienter organisiert als das Handwerk. Da sie im allgemeinen nur Zuschneider und einige Gesellen für sofort auszuführende Änderungen in einer dem Geschäft angegliederten Werkstatt beschäftigten, fielen kaum fixe Kosten an - ein in einem Saisongewerbe gar nicht zu überschätzender Vorteil. Miete, Grundsteuer, Heizungs- und Lichtkosten, später auch Anschaffungs- und Wartungskosten für Nähmaschinen mußten die Schneider übernehmen, die - mit oder ohne Gesellen - nach wie vor in ihren Werkstätten oder Wohnungen arbeiteten. Darüber hinaus diente das Ladenlokal den Magazinen zugleich als Lager, während es für den im Lohnwerk produzierenden Schneider nur Repräsentationsfunktionen erfüllte und dadurch zu einem relativ großen Kostenfaktor wurde. Als Handelsunternehmen wurden sie außerdem nicht durch die Gewerbesteuer belastet.54 Aus allen diesen Gründen geriet der traditionelle Lohnwerker, z. Τ. auch der relativ wohlhabende Schneider-Unternehmer, der über einen größeren Laden mit Schaufenster verfugte, ins Hintertreffen.55 Einen Eindruck vom Tempo der Entwicklung in der Berliner Herrenbekleidungsbranche vermittelt die auf den unvollständigen Angaben der Adreßbücher basierende Aufstellung von »Herrengarderobe-Artikelhandlungen« in Tab. 1. Sie macht deutlich, daß der Schwerpunkt der Entwicklung in die späten 1830er und 39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

frühen 1840er Jahre fiel, und läßt es glaubhaft erscheinen, wenn 1846 mitgeteilt wird, von den ca. 4000 formal selbständigen Berliner Schneidern seien die meisten proletarisiert: »Eine übergroße Anzahl« sei den Kleiderläden verpfändet.56 Tab. t: Anzahl der »Herrengarderobe-Artikelhandlungen« in Berliner Adreßbüchern 1838-186757 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844 1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852

22 40 62 105 105 116 124 117 108 99 110 107

1853 1854 1855 1856 1857 1858 1859 1860 1861 1862 1863 1864 1865 1866 1867

111 100 104 108 115 130 130 123 117 117 115 134 142 137

Für 1871 wird in einer amtlichen, das vollständige Ausmaß des Magazinwesens vermutlich genauer abbildenden Quelle, dem »Berliner städtischen Jahrbuch«, die Zahl der »Herrengarderobisten« auf 271 und die der »Damenconfectionshandlungen« auf 221 beziffert.58 Die Entwicklung war in Berlin, der größten Stadt in deutschen Landen und gleichzeitig einem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum mit viel durchreisendem Publikum, besonders ausgeprägt, aber Magazine erfreuten sich - zum Teil mit einigen Jahren Verzögerung und in abgeschwächter Form - auch anderswo wachsender Beliebtheit. In Düsseldorf, wo ihre Zahl zwischen 1840 und 1855 von 3 auf 8 angewachsen war, beschäftigten sie die Mehrheit der »selbständigen« Schneidermeister. In Mainz gab es schon 1851 13 Magazine. In Köln entstanden zwischen 1839 und 1849 5 Geschäfte; weitere 8 kamen bis 1853 hinzu, und in den 1860er Jahren wuchs ihre Anzahl von 20 auf 34. Das kleine Halberstadt wies 1869 8 Kleiderläden auf, und selbst in Provinzstädtchen wie Glogau, Habelschwerdt, Schivelbein und Stade hatten sie sich etabliert.59 Daß die Gewerbefreiheit in einer Region oder Stadt noch nicht eingeführt worden war, war kein grundsätzliches Hindernis für ihre Verbreitung. Wo dem Produktionsmonopol der Zunftmeister noch gesetzlich Rechnung getragen wurde, war es für die Konfektionäre eine Leichtes, einen zünftigen 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Strohmann als »Werkführer« einzustellen. So kam es oft vor, daß »arme Schlucker von Meistern auf einmal großartige Magazine errichtet [haben] und nun . . . in Hinsicht der Schleuderpreise wetteifern«. Beschwerden von Handwerksmeistern wurden von den Behörden im allgemeinen mit Bezug auf die Konsumenteninteressen abgewiesen. Wenn sie überhaupt reagierten, dann meist nur deshalb, weil die Produktion von Kleidern höher besteuert wurde als der bloße Handel.60 Wurde die Entwicklung durch die in vielen Staaten noch gültige Zunftverfassung nicht gebremst, so wurde sie durch andere Faktoren noch forciert. An erster Stelle ist hier der Zollverein zu nennen, der den Kleiderhändlern nach 1834 auch den überlokalen und -regionalen Handel mit fertigen Waren und zugeschnittenen Stoffen erleichterte. Außerdem wirkte die Verkehrsrevolution dieser Jahre beschleunigend: Zwischen 1820 und 1850 wuchs das Netz befestigter Straßen im Deutschen Bund um mehr als das Dreifache auf 53000 km an, die Zahl der im preußischen Lohn- und Frachtfuhrwerk eingesetzten Pferde stieg allein zwischen 1831 und 1843 um 50 Prozent, und bis 1850 vergrößerte die Eisenbahn die Reisegeschwindigkeit auf einem Streckennetz von 7000 km ganz erheblich.61 Der Bauer fuhr nun öfter in die Kreisstadt, der Kleinstädter in die Provinzialhauptstadt und der wohlhabende Provinzstädter nach Berlin, um sich neu einzukleiden und den Daheimgebliebenen modemäßig eine Nasenlänge voraus zu sein.62 So mußte nicht unbedingt ein Magazin am Orte vorhanden sein - es etablierte sich oft erst mit dem Anschluß an die Bahnlinie-, 63 damit den traditionellen Schneidern gerade ihre besten Kunden fortliefen. Der Petition des »CentralComites der Schneider-Innungen von ganz Deutschland« an die Nationalversammlung, die im Sommer 1848 auf einem parallel zum allgemeinen Frankfurter Handwerkerkongreß stattfindenden Schneiderkongreß64 ausgearbeitet worden war und sich gegen die Gewerbefreiheit im allgemeinen und für das Verbot von Kleidermagazinen im besonderen aussprach, stimmten deshalb gerade auch Berufsgenossen aus kleinen und mittelgroßen Orten des Deutschen Bundes zu (Tab. 2). In England verlief die Entwicklung prinzipiell genauso wie in Deutschland. Aus dem für Kunden arbeitenden Lohnwerker wurde im allgemeinen entweder ein Schneider-Unternehmer oder ein verlegter, zum Teil für berufsfremde Kaufleute nähender Lohnarbeiter in Werkstatt- oder Heimarbeit. Es sind jedoch einige bemerkenswerte Abweichungen festzustellen: So setzte die englische Entwicklung 150 bis 200 Jahre früher ein als die deutsche und schritt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich langsamer voran. Sie begann in London in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem enormen Wachstum der Stadtbevölkerung, das am Ende dieses Jahrhunderts zu einer Einwohnerzahl von 575000 führte. Als nach einem großen Feuer im Jahre 1666 ganze Straßenzüge als »Shopping districts« wiederaufgebaut worden waren, wurde sie auch als soziales Problem wahrgenom41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Tab. 2: Ortsgrößenverteilung der Zustimmungsadressen zur Petition des Frankfurter Schneiderkongresses65 Ortsgrößenklassen

absolut

Adressen

in%

> 2000 2000- 5 000 5000- 20000 20000- 50000 50000-100000 > 100 000

59 104 80 26 10 4

20,8 36,7 28,3 9,2 3,5 1,4

Summe

283

99,9

nicht oder nicht eindeutig zuzuordnen

19

men. 1681 empörte sich der anonyme Autor von »The Trade of England revived« als einer der ersten über zahlreiche »salesmen« unter den »taylers«, die sich einreihten in »the great number of shopkeepers, which was never wont to be formerly«, und er forderte, ihnen das Handwerk zu legen. 1687 und in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten beschwerten sich die Londoner »Master Working« bzw. »Master Cutting Taylers« beim Lord Mayor der Stadt und bei der Königin über die Konkurrenz von »unlawful workers and other unqualify'd persons who never served any apprenticeship«. Wie die vom Frankfurter Schneiderkongreß repräsentierten Meister befürchteten sie »the ruin of many of our brethren . . . and . . . the loss of our trades and employments«. Seit den ersten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurde deutlich, daß diese Befürchtung berechtigt gewesen war, denn die »shopkeeping tailors« waren jetzt sicher etabliert, und die Kundenproduktion im Lohnwerk trat mehr und mehr zurück. Mit einiger Verspätung verbreiteten sich die Shops auch in der Provinz.66 Zwar verkaufen die Kleiderläden in England wie in Deutschland Maßkleidung (»bespoke«) und Fertigkleidung (»ready made garments«), und dort wie hier waren die Inhaber nicht nur Berufsgenossen, sondern auch und vor allem Tuch- und Manufakturwarenhändler: »They are in this Shape Merchants, and many of them affect to be called Merchant Taylors. As such, they furnish Gentlemen, not only with Trimmings, but with whole Suits, and of this they make a handsome Penny. «67 Aufs Ganze gesehen, verlief die englische Entwicklung jedoch weitaus gemächlicher als die deutsche. Sie fiel zeitlich nicht mit der Revolution des Verkehrswesens zusammen und wurde dadurch nicht sofort flächendeckend spürbar. Da sie schon im 17. Jahrhundert begann, wurde sie auch nicht von der Durchsetzung der Mode und der Rationalisierung der Zuschneidemethoden beschleunigt, und sie ging auch nicht schon nach wenigen Jahrzehnten nahtlos in die Phase der industriellen 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Massenproduktion über. Im Vergleich mit England wird deutlich, daß die deutschen Schneider vom Magazinwesen geradezu überrollt wurden. Dieses Urteil gilt auch in bezug auf die Kapitalausstattung. Die »shopkeepers« waren den »Master Working Taylers« nicht von Anfang an finanziell so deutlich überlegen wie viele der deutschen »Konfektioneure« den Schneidermeistern. Als »shopkeeper« bezeichnete man noch Ende des 18. Jahrhunderts im allgemeinen einen kleinen, kapitalschwachen Detailhändler. Adam Smiths Charakterisierung der Engländer als »a nation of shopkeepers« macht ihre zahlenmäßige Wichtigkeit, aber auch die Geringschätzung deutlich, die ein Mitglied der »upper class« für die kleinen Leute empfand. Erst seit dem frühen 19. Jahrhundert differenzierte man sprachlich zwischen »lesser«, »small« oder »large shopkeepers«, und in radikalen Kreisen schimpfte man nun auf die »shopoeraey«. Bronterre O'Brien, ein bekannter Chartistenführer, gebrauchte 1838 »shopoerat« synonym mit »capitalist«.68 Besonders luxuriös waren die Geschäfte der »shopkeeping tailors« im 18. Jahrhundert sicherlich nicht eingerichtet. Schaufenster kannte man zwar seit 1750, und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war auch die Gasbeleuchtung erfunden.69 Aber der berühmte radikale Schneider Francis Place, der 1824 wesentlich zur Aufhebung des Koalitionsverbots beitrug, fühlte sich noch 1801 bei seiner Geschäftsvergrößerung als Avantgardist, als er in seinem neuen Laden am Charing Cross zwei große Glasfenster einbauen ließ: »I think mine were the largest... in London if indeed they were not the first.« Place, der es bis 1816 zu einem Jahreseinkommen von £ 3000 bringen sollte, war ein Selfmademann. Er hatte als Geselle in Werkstatt- und Heimarbeit ein geringes Anfangskapital zusammengespart und war noch in seinen ersten, fast ausschließlich über Kredite finanzierten Shop bei Nacht und Nebel eingezogen, damit die Nachbarschaft nichts von seiner Armut bemerken sollte.70 Selbst wenn Francis Place zu seiner Zeit eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein sollte,71 dürfte es für die englischen Schneider aufgrund des deutlich geringeren Kapitalbedarfs ungleich einfacher als für die deutschen gewesen sein, auf den Zug in die Moderne aufzuspringen. Während sich einige der ersten deutschen Magazine, wie erwähnt, von Anfang an in repräsentativen Räumlichkeiten, zum Teil in eigens gebauten prachtvollen Geschäftshäusern befanden, brach die Zeit großer Textilgeschäfte in England - gleichzeitig mit Deutschland - erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts an. 72

43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

II. Das Verhältnis von Meistern und Gesellen

1. Deutsch-englische Gemeinsamkeiten: Die objektive Klassenlage In einem furiosen Spurt zog das deutsche Schneidergewerbe seit dem Vormärz mit dem englischen gleich. Eine Konsequenz dieser Entwicklung war die Neuformierung der Klassen auf dem Arbeitsmarkt. Sie führte zu der gleichen Konstellation, die sich in England schon seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hatte. Auf der Nachfrageseite versammelte sich eine relativ klar umrissene Klasse von Kapitalbesitzern, die modernen Schneider-Unternehmer mit Ladenlokal und Tuchlager sowie die Inhaber von Kleidermagazinen. Auch wenn der eine oder andere Unternehmer selbst bei der Produktion Hand anlegte, brauchte er seine Arbeitskraft nicht zu verkaufen. Auf der Anbieterseite standen zum einen die Gesellen, die auch schon im »alten Handwerk« in der Verkäuferrolle aufgetreten waren. Zum anderen sahen sich in dem Maße, wie sie der Konkurrenz auf dem Gütermarkt nicht mehr gewachsen waren, auch immer mehr Meister gezwungen, sich abhängig beschäftigen zu lassen. Gesellen und abhängig beschäftigte Meister waren keine idealtypischen Lohnarbeiter. Sie verfügten zwar frei über ihre »Arbeitskraft als Ware«, aber nicht in allen Fällen galt für sie, daß sie »andre Waren nicht zu verkaufen« (Marx) hatten.73 Da sie über eigene Arbeitsinstrumente (Schere, Ellenmaß, Bügeleisen) und über ihre handwerkliche Qualifikation verfügten, war es ihnen unter bestimmten Umständen möglich, gleichzeitig oder alternativ ihre Arbeitskraft auf dem Gütermarkt anzubieten: Sofern ihnen die Kunden weitere Produktionsmittel, die teuren Kleiderstoffe, »vorlegten«, konnten sie auch als Lohnwerker ein Einkommen erarbeiten. Eine andere Ausweichmöglichkeit stellte die Rolle eines sog. Zwischenmeisters dar. Ermöglicht und benötigt durch die zum Teil dezentrale Produktion im Schneidergewerbe, bezog ein solcher Zwischenmeister nicht nur Einkommen aus dem Verkauf seiner eigenen Arbeitskraft (oft ausschließlich in Form von Überwachungsund Kontrolltätigkeit), sondern auch aus der »Untervermietung« fremder Arbeitskraft. Auf dem Arbeitsmarkt trat er als Anbieter und Nachfrager zugleich auf. Handwerksgesellen, Lohnwerker und Zwischenmeister gehörten daher zu den Produzenten, die auf die Arbeitsmarktregulierung durch Gewerkschaften nicht existentiell angewiesen waren, die jedoch durch Koalitionsbildung Vorteile erzielen konnten. Weil sie einander auf dem Arbeitsmarkt zu ersetzen vermochten, werden sie in dieser Untersuchung zu den potentiellen Gewerkschaftsmitgliedern und als solche zur Arbeiterklasse gerechnet. Auch einige empirisch fundierte Überlegungen rechtfertigen diese Zuordnung, die den objektiven, aus der Rückschau erkennbaren Verlauf der Klassenlinie markiert: 1. Anzahl und ökonomischer Erfolg von Lohnwerkern und Zwischen44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

meistern wurden im Zuge der beschriebenen Veränderung der Konsumentenpräferenzen immer deutlicher zu abhängigen Größen vom Marktverhalten der Magazine bzw. der modernen Schneider-Unternehmer. Den Lohnwerkern blieben tendenziell nur die Marktanteile, die diese ihnen übrigließen, weil sie die Nachfrage nicht befriedigen konnten oder - sofern sie von den sog. »faulen Kunden« geäußert wurde, die auf Kredit bestellten -nicht befriedigen wollten.74 Diese Abhängigkeit bestand erst recht, wenn die Übernahme der Lohnwerker-Rolle von vornherein nicht mehr durch Herkommen veranlaßt worden war, sondern wenn auf diese Weise Arbeitslosigkeit überbrückt werden sollte.75 Noch deutlicher als bei den Lohnwerkern waren Anzahl und ökonomischer Erfolg der Zwischenmeister abhängige Größen. Die Koordinations- und Überwachungsfunktionen, die sie ausübten, wurden überhaupt erst wichtig, als die Unternehmer nicht mehr mit jedem einzelnen der dezentral Beschäftigten persönlich in Kontakt treten konnten. Indem sie den verlegten Schneidern lange Wege abnahmen, ermöglichten sie, daß deren Arbeitszeit optimal für die Produktion genutzt werden konnte. Die relative Bedeutung der Zwischenmeister nahm deshalb - anders als die der Lohnwcrker - mit Ausweitung der kapitalistischen Produktion zunächst zu. Erst als die Produktion im 20. Jahrhundert in Fabriken zentralisiert wurde, wurden sie überflüssig bzw. nahmen als Angestellte eine eindeutig abhängige Position auf dem Arbeitsmarkt ein. 2. Die Zuordnung von Lohnwerkern und Zwischenmeistern zur Arbeiterklasse rechtfertigt sich außerdem dadurch, daß die Übernahme dieser Rollen den idealtypischen Lohnarbeitern relativ problemlos möglich war, weil sie kaum oder gar keine finanziellen Mittel, d. h. kein Kapital, erforderte. Verschiedentlich mußen Zwischenmeister zwar eine Sicherheit für die ihnen zur Verfügung gestellten Stoffe stellen;76 im allgemeinen benötigten sie aber wie die Lohnwcrker lediglich eine gewisse Kenntnis des lokalen Arbeits- bzw. Gütermarkts. So war für den Übergang vom Lohnarbeiter zum Lohnwerker höchstens die formelle Anmeldung des selbständigen Gewerbebetriebes notwendig. Oft wurde nicht einmal das verlangt, und wo die Zunftverfassung die Anmeldung erschwerte, konnte die Produktion im Lohnwerk auch die Form von Pfusch- oder Schwarzarbeit annehmen. Zum Teil bestand gleichzeitig ein Abhängigkeitsverhältnis als Lohnarbeiter, und die Kundenarbeit wurde nicht nur nach Feierabend, sondern - was nicht gern gesehen wurde - bei geringem Arbeitsanfall auch während der Arbeitszeit in der Werkstatt erledigt. 77 Der Übergang vom Lohnarbeiter zum Zwischenmeister war noch problemloser. Er war prinzipiell schon dann vollzogen, wenn ein Schneider für einen Auftrag verantwortlich zeichnete, den er in Gruppenarbeit mit einigen Kollegen ausführte, und wenn er - unter Abzug einer Vergütung für seine Vermittlungstätigkeit - den Lohn mit ihnen teilte. Wo die Grenze zwischen 45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

dem »gerechten Lohn« für die Vermittlung und dem Profit des sog. »Sweaters« lag, der andere systematisch ausbeutete, ist im nachhinein kaum festzustellen und war selbst für die Zeitgenossen oft nicht zu entscheiden.78 Es ist charakteristisch, daß die Statistiker, die 1867 die Daten der Berliner Volkszählung auszuwerten hatten, vor dem Erhebungsmaterial aus dem Schneidergewerbe kapitulierten. Die dort Beschäftigten gehörten, wie sie feststellten, zu den »Berufsklassen, wo man die Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern nicht in Beziehung setzen kann«. 79 Der wiederholte Rollenwechsel, oft innerhalb von Stunden, und die Kombination von Rollen waren in der Regel nur zwischen Lohnarbeitern, Lohnwerkern und Zwischenmeistern zu verzeichnen; kaum noch erfolgten sie zwischen diesen Kategorien auf der einen und Magazinbesitzern und Schneider-Unternehmern auf der anderen Seite.80 Es wirft ein Licht auf den Verlauf der Klassenlinie, daß viele der »Konfektioneure« keine Berufsgenossen, sondern Quereinsteiger waren, die eine Erbschaft oder einen Lottogewinn in ihr Geschäft einbrachten.81 Denn die meisten Schneider waren-wie im übrigen auch die Schuster - armer Leute Kinder, oft Waisen. Sie hatten den Beruf aufgrund des geringen Lehrgeldes ergriffen.82 3. Für die Betonung der Klassenlinie im hier definierten Sinn spricht ferner die ähnliche soziale Lage, die Lohnarbeiter, Lohnwerker und Zwischenmeister aufwiesen.83 Alle diese Produzenten lebten auch nach abgeschlossener Lehre bestenfalls in kleinen Verhältnissen; in der Regel waren sie »arm wie Schneider«. Selbstverständlich bestanden graduelle Unterschiede; vor allem manche Zwischenmeister hatten es in den 1870er Jahren zu einem »ziemlich angenehmen Leben« gebracht, wie einige Gesellen feststellten.84 Doch verblaßten diese Differenzierungen angesichts der deutlich größeren sozialen Distanz, die zu den Konfektionären und den aufstrebenden Schneider-Unternehmern bestand. In diesen Kreisen bewies man Lebensart; man zeigte, »daß man es hatte«. Auch hier waren graduelle Unterschiede zu verzeichnen. Nicht jeder Konfektionär wohnte wie die Berliner »Mäntelkönige« Gerson, Manheimer und Hertzog in eleganten Villen.85 Aber immerhin wird auch von einigen der 40 größten Schneidermeister in Berlin berichtet, daß sie feiertags »stolz unter den Linden zu Pferde herum(-galloppirten)« und gelegentlich »unter dem Knalle der Champagnerflaschen die Noth der arbeitenden Klassen« beklagten.86 Die soziale Distanz wurde nicht zuletzt dadurch geschaffen, daß diese Unternehmer sich dem Lebensstil ihrer Kundschaft aus der »besseren Gesellschaft« anzupassen versuchten. Einer der bekanntesten Londoner Schneidermeister, Henry Poole, gab seinem Geschäft z.B. den Charakter eines Clubs. Man rauchte dort Zigarren, trank Wein und diskutierte.87 Aber auch alltägliche Kleinigkeiten wie die Tatsache, daß wohlhabende Meister ihre Gesellen auf der Straße nicht grüßten,88 ließen die Klassenlinie deutlich hervortreten. 4. Sie wurde schließlich dadurch verstärkt, daß »die Arbeit« zahlenmäßig 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

schneller wuchs als »das Kapital«. Das geschah sicherlich zum Teil aus dem oft angeführten und-vor allem in Deutschland-häufig zutreffenden Grund, daß »(f)rüher wohlstehende Handwerksmeister... in die Hände habgieriger und wucherischer Speculanten gerathen« und dadurch »zu armen Arbeitern herabgesunken« waren.89 Es bedeutete zwar eine nicht gerechtfertigte Romantisierung der »guten alten Zeit«, wenn solche Urteile verallgemeinert wurden; die Armut der Schneider wurde ja nicht erst zwischen Vormärz und Gründerzeit sprichwörtlich. Schon im 18. Jahrhundert hieß der Hering, die Standardmahlzeit der Unterschichten, »Schneiderkarpfen«, man »fror wie ein Schneider«, und auch in England galten die Angehörigen dieses Berufs traditionell als »as poor as rats«.90 Auch spricht allein die rechnerische Evidenz für die Beurteilung preußischer Behörden, wonach die Kommerzialisierung des Gewerbes und die damit verbundene Umstrukturierung der Produktionsorganisation erst die Voraussetzungen dafür schufen, daß die steigende Kleidernachfrage befriedigt und zahlreiche heruntergekommene Meister und arbeitslose Gesellen in Lohn und Brot gesetzt werden konnten.91 Gleichwohl wurde die Polarisierung der Branche in relativ wohlhabende Unternehmer und die breite Masse der Kleinmeister und Gesellen in dürftigen Verhältnissen vorangetrieben und zunehmend sichtbarer.

2. Deutsch-englische Unterschiede: Die subjektiv erfahrene Klassenlage a) Selbst- und Fremdeinschätzung im Spiegel der Sprache Die skizzierte Zuordnung von Meistern und Gesellen zu den beiden Arbeitsmarktparteien bezog sich auf das Schneidergewerbe. Ein ähnliches Bild würde sich vermutlich auch für andere Handwerke ergeben, in die modernes kapitalistisches Wirtschaften zunehmend Einlaß fand: für Tischler und Instrumentenmacher, für Schuhmacher, für auf Knöpfe und Pfeifen spezialisierte Drechsler und auf Riemen- und Peitschenherstellung spezialisierte Sattler, für Nagel-, Messer-und Scherenschmiede, für Schlosser, die Hängeschlösser, Bohrer, Hobeleisen und dergleichen anfertigen. Auch in diesen Gewerben erfolgte eine Polarisierung des alten Handwerks in überwiegend abhängig beschäftigte Gesellen und Kleinmeister auf der einen, aufstrebende Handwerker-Unternehmer und Kaufleute auf der anderen Seite.92 Diese Polarisierung bestimmte die objektive Klassenlage von Meistern und Gesellen in England und Deutschland, wie sie sich dem Historiker aus der Rückschau darstellt. Stimmte die subjektiv erfahrene Klassenlage, wie sie sich aus der zeitgenössischen Selbst- und Fremdeinschätzung ergab, damit überein? Verblaßte auch auf dieser Ebene die traditionelle, ständisch begründete Trennungslinie zwischen Meistern und Gesellen, die quer zu den Fronten auf dem Arbeitsmarkt verlief, oder überlagerte sie diese? 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Wenn Sprache ein Indiz für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Strukturen ist,93 dann zeigt die Bedeutung, die die Begriffe »master« und »journeyman« bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Englischen angenommen hatten, daß die Klassenlinie im Schneidergewerbe - und nicht nur in diesem Handwerk - sich auch ins Bewußtsein der Zeitgenossen eingeprägt hatte. »Master« (oft mit einem großen Anfangsbuchstaben) war ganz eindeutig keine an ständischen Kriterien orientierte Bezeichnung für einen ehrbaren Handwerksmann, sondern wurde synonym mit »employer« verwandt. »Masters and men« hatten »relations between capital and labour« entwikkelt.94 Die Feststellung in einer von Bürgerlichen für Arbeiter herausgegebenen Zeitung, daß »(i)n England the word master has long given way to other titles less indicative of superiority, as employers«, entsprach zwar noch 1866 weitgehend dem Wunschdenken des Autors,95 denn »master« war eine häufig zu lesende, in radikalen Arbeiterzeitungen allerdings mit Anführungszeichen versehene Bezeichnung: » ›Master‹ - human dignity revolts the word.« Aber sofern der »master« Herrschaft ausübte, basierte sie nicht auf ständischen Privilegien, sondern auf seinem Kapitalbesitz. Es war die Herrschaft des »modern capitalist«, »who sucks the vitality out of the working classes«.96 Die Zuordnung zur Klasse der »masters« hing nicht davon ab, ob der Betreffende sein Handwerk gelernt hatte oder selbst in der Werkstatt mitarbeitete. Im Schneidergewerbc bezeichnete man auch solche »employers« als »masters«, »who have not the least knowledge of the trade, being decayed merchants, pawnbrokers, drapers' assistants, etc. etc.«. 97 Umgekehrt war ein »master of his business« nicht notwendigerweise ein »employer«; auch ein »journeyman« konnte sich diesen Titel verdienen.98 Diese Profilierungsmöglichkeit bestand insbesondere dann, wenn der »journeyman« als »master« einen Lehrling ausbildete, wie es in England jedem gelernten Berufsgenossen erlaubt war. 99 Auch das zeigt, daß sich in diesen Begriffen keine ständischen Muster sozialer Ungleichheit niederschlugen. Daß man darüber hinaus auch sog. »small masters« (grundsätzlich mit kleinem Anfangsbuchstaben) kannte, spiegelt die beschriebene Fluktuation zwischen Lohnarbeitern, Lohnwerkern und Zwischenmeistern. Zum »small master« wurde ein »journeyman tradesman«, ein auf eigene Rechnung arbeitender Geselle, dadurch, daß er einen Gehilfen einstellte. 10° Ein »master« war er aber deshalb noch lange nicht, denn dazu fehlte ihm eine wesentliche Voraussetzung: »The smaller masters have not shops, nor could they without expense and inconvenience provide them.« 101 Daß sie sich selbst zur Arbeiterklasse rechneten, geht u. a. daraus hervor, daß es sehr viele dieser Kleinmeister bei der Volkszählung von 1851 unterließen, das Feld anzukreuzen, in dem gefragt wurde, ob sie »masters« seien.102 Die deutsche Sprache reflektiert dagegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und in den folgenden Jahrzehnten noch nicht die oben skizzierte Trennungslinie zwischen den Arbeitsmarktklassen. Nur für englische Beobachter der 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

deutschen Entwicklung, nicht für die Einheimischen selbst, war es selbstverständlich, »small tradesmen or artisans (›Handwerker‹)« zusammen mit Gesellen und Fabrikarbeitern als eine von mehreren »sections of the labouring classes« zu betrachten, unabhängig davon, ob sie »singlehanded« oder »with slight assistance«, »on their own account« oder »by contract for others« arbeiteten.103 Sofern die Zeitgenossen in Deutschland die Klassenlinie überhaupt wahrnahmen, wurde sie häufig etwas unbeholfen mit den überkommenen Begriffen umschrieben. Charakteristisch ist die Formulierung eines zeitkritischen Autors, der 1856 seinen Lesern mitteilte, daß »zahllose Handwerker, die den Meisternamen führen, in Wahrheit als Gesellen für große Meister oder Magazine thätig sind«, und daß sich umgekehrt ein »selbständiger Gesellenstand« entwickelt habe.104. Die breite Öffentlichkeit und die Handwerker selber unterschieden im allgemeinen recht deutlich zwischen »selbständigen Gesellen« und »Alleinmeistern«; eine einheitliche Bezeichnung für die den »journeyman tradesmen« entsprechende Gruppe der auf eigene Rechnung arbeitenden Kleinproduzenten bildete sich nicht heraus. Fehlten einem dieser proletarisierten Selbständigen die Aufträge, klagte er nicht über Arbeitslosigkeit, sondern bezeichnete sich, wie es ein armer Schneider in einem Unterstützungsgesuch formulierte, als »selbständig arbeitslos«.105 Es spricht auch für sich, daß dem erst mit dem Kapitalismus enstandenen Zwischenmeister (»Schwitzmeister«), der in erster Linie eine Funktion, nicht eine traditionelle handwerkliche Tätigkeit ausübte, ein am ständischen Vokabular orientierter Titel verliehen wurde, eben »Meister«. Man fand keine moderne Bezeichnung, die dem englischen »middleman« oder »sweater« entsprochen hätte. Die synonyme Verwendung der Begriffspaare »Meister - Geselle« und »Arbeitgeber - Arbeitnehmer«, wie sie sich in England längst eingebürgert hatte, setzte sich nur langsam durch. Häufig war die moderne Terminologie lediglich eine leere Hülse, so daß ihre Verwendung nicht unbedingt als Indikator für die Wahrnehmung marktbedingter Strukturen sozialer Ungleichheit zu interpretieren ist. Viele Zeitgenossen, auch gewerbliche Produzenten selbst, sprachen zwar 1848/49 und in den folgenden Jahrzehnten zunehmend vom Verhältnis zwischen »Arbeitgebern und -nehmern« bzw. zwischen »Kapital und Arbeit«, aber sie ordneten üblicherweise, den vertrauten ständischen Kategorien entsprechend, ohne zu differenzieren große wie kleine Handwerksmeister (zusammen mit Fabrikanten und Kaufleuten) auf der einen und Gesellen (zusammen mit »Gehülfen« und Fabrikarbeitern) auf der anderen Seite ein. 106 Daß häufig nur alter Wein in neue Schläuche gegossen wurde, zeigte sich selbst noch in der modernen Gewerbeordnung des Deutschen Reichs von 1871. Auch sie zeichnete sich durch eine inkonsistente Begrifflichkeit aus. Einerseits verwandte der Gesetzgeber die modernen Bezeichnungen »Arbeitgeber« und »Arbeitnehmer«, und er zählte auch ausdrücklich verlegte 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Produzenten zu den »Arbeitnehmern«. Andererseits gebrauchte er aber »Arbeitgeber« synonym mit »selbstständiger Gewerbetreibender« und rechnete damit Heimarbeiter implizit wiederum dem Kapital zu. 107 Diese »Verwirrung der Rechtsbegriffe« führte im Behördenalltag ζ. Β. dann zu einem »heillosen, den Leuten nicht aufzuklärenden Wirrwarr«, wenn der § 108 der Gewerbeordnung zur Anwendung kommen sollte, der die Regulierung von Streitigkeiten zwischen »selbständigen Gewerbetreibenden« und »ihren Gesellen, Gehilfen und Lehrlingen«, durch gewerbliche Schiedsgerichte vorsah. Gehörten formell selbständige, aber ökonomisch abhängige Produzenten zu den Gehilfen? War das Schiedsgericht auch für Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Verlegern, d.h. für »Streitigkeiten zwischen Gewerbetreibenden« zuständig?108 Aufs Ganze gesehen, vermittelt der zeitgenössische Sprachgebrauch den Eindruck, daß in Deutschland - zumindest bis zum Ende des Untersuchungszeitraums, d.h. bis zum Ende der 1870er Jahre - eine Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiv erfahrener Klassenlage von Meistern und Gesellen bestand. Es lassen sich jedoch charakteristische Ausnahmen feststellen. In der Zigarrenindustrie, in der Hut- und Handschuhmacherei, in der sächsischen Weberei, der Wuppertaler Türkischrot-Färberei und in der Solinger Kleineisenindustrie z. Β. nannten sich und nannte man die Arbeit­ geber nicht »Meister«, sondern »Fabrikant«.109 Es mußte sich dabei nicht unbedingt um einen Fabrikbesitzer handeln,110 ein »Fabrikant« brauchte auch nicht kapitalkräftiger zu sein als ein durchschnittlicher Handwerksmeister oder mehr Beschäftigte aufzuweisen: »In Deutschland heißt mancher Fabrikant, der bei weitem nicht den Umschlag hat, als ein anderer, der sich zu den Handwerkern zählt. Portefeuillearbeiter, die für eigene Rechnung arbeiten, heißen sich Fabrikanten, während Bierbrauer, die 30000 Ohm Bier jährlich produciren und ein Schock Brauburschen halten, zu den Handwerkern gerechnet werden, wahrscheinlich weil das eine ein neues, das andere ein altes Gewerbe ist.«111 Im Buchdruckergewerbe entsprach dem »Fabrikanten« der «Prinzipal« und im Schiffbau der »Schiffbauer« bzw. der »Reeder«.112 Ein »Meister« war in allen diesen Berufen ein besonders qualifizierter Arbeiter, gegebenenfalls mit leitenden Funktionen. Er galt in erster Linie als »Meister seines Fachs«, nicht als selbständiger Gewerbebetreibender. b) Die Handwerkstradition als Erklärung der Unterschiede Die Liste der Berufe, die die Klassenlinie auch in Deutschland »korrekt« und nicht in ständischen Begriffen markierten, könnte sicherlich noch verlängert werden. Aber die angeführten Beispiele machen bereits deutlich, was ihnen gemeinsam war: Es handelte sich um Handwerke, die in rechtlicher und 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

ökonomischer Hinsicht eine außergewöhnliche, zum Teil geradezu »englische« Entwicklung genommen hatte: Korporative Traditionen waren in diesen Berufen schwächer ausgeprägt als im Schneiderhandwerk oder in vergleichbaren städtischen Gewerben, und sie hatten nicht erst seit dem Vormärz einen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren. Die Buchdruckerei war zwar im 19. Jahrhundert in manchen Staaten, z. Β. in Sachsen, zünftig organisiert; die Berufsgenossen verstanden sich jedoch traditionell als »freie Künstler«. Die Zigarrenindustrie, ein relativ junges Gewerbe, war nie zünftig gewesen. Andere Handwerke, etwa die Handschuhmacherei, waren durch landesherrliche Privilegien schon im 17./18.Jahrhundert aus dem Zunftzwang ausgenommen worden, oder ihre Zünfte waren als ganze frühzeitig in die Abhängigkeit von kapitalistischen Unternehmern geraten; das war etwa in den Solinger Industrien oder im Schiffbau der Fall.113 Welche konkreten Zusammenhänge bestanden nun zwischen der allgemein feststellbaren Diskrepanz von objektiver und subjektiv erfahrbarer Klassenlage in Deutschland und der Tradition der deutschen »Normalzunft«, wie sie im Schneidergewerbe und den meisten anderen städtischen Handwerksberufen wirksam wurde? Eine Gegenüberstellung der deutschen und der englischen Handwerkstradition verweist auf zwei Erklärungsfaktoren. Ein erster Erklärungsfaktor ergibt sich aus der Zunftentwicklung des 16./17. Jahrhunderts. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß es den städtischen Zünften in dieser Zeit mit Hilfe von landesherrlichen Privilegien gelang, ihr Produktionsmonopol gegenüber unzünftigen Konkurrenten zu verteidigen (s.o. S.27f.). Die Schließung der Zünfte erfolgte jedoch nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, gegenüber dem handwerklichen Nachwuchs.114 Zunächst wurde die Lehrzeit festgesetzt (im allgemeinen auf drei Jahre); später führte man mit dem Wanderzwang und den sog. »Mutjahren« weitere Karenzzeiten für potentielle selbständige Produzenten ein. In vielen Berufen wurden außerdem das Meisterstück verteuert und die Höchstzahl der Meisterstellen beschränkt, um den »Nahrungs«-Spielraum für die Zunftmitglieder konstant zu halten oder zu erweitern. Mit der Schließung der Zünfte nach innen verbanden sich Tendenzen zur Vererbung der Meisterstellen an Söhne und Schwiegersöhne und zur Entstehung eines gesonderten Gesellenstandes. Die Gesellen waren als abhängig Beschäftigte keine Vollmitglieder der Zunft; darüber hinaus galten sie auch außerhalb des Produktionsprozesses als Unselbständige bzw. rechtlich Unmündige. Ihnen war es verboten, auf eigene Rechnung zu arbeiten; sie mußten in der Regel auch - nicht zuletzt um der Pfuscharbeit vorzubeugen und das Produktionsmonopol der Meister zu garantieren - im Haushalt ihres »Brotherrn« wohnen, sich seiner »hausväterlichen Gewalt« unterordnen und selbst körperliche Züchtigung hinnehmen. Aus denselben Gründen durften sie nicht heiraten. Die deutsche Zunft beeinflußte also nicht nur die Marktchancen der gewerblichen Produzenten, sondern griff auch regulierend in ihr Privatleben 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

ein, vor allem in das der Gesellen. Durch die Betonung des Meister-GeselleUnterschieds spielte sie darüber hinaus eine zentrale Rolle bei der Statuszuweisung. Ob jemand sich Meister oder Geselle nennen durfte, hatte nicht nur Konsequenzen im Arbeitsleben, sondern auch für die gesellschaftliche Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde. Das auf diese Weise institutionalisierte Spannungsverhältnis zwischen Meistern und Gesellen schlug sich in zahlreichen Arbeitskonflikten und in der Entstehung von Gesellenverbänden nieder.115 Ein so deutlich ausgeprägter Statusunterschied wurde durch die englische Handwerkstradition nicht überliefert. Man kannte weder Wanderzwang noch Meisterstück, und Gesellenverbände wurden seit dem Ausgang des Mittelalters immer seltener.116 Die allmähliche Erosion des handwerklichen Produktionsmonopols führte dazu, daß den Gesellen die Scheinselbständigkeit von Hausindustriellen winkte und sie sich - auch in ihrer persönlichen Lebensführung - der Zunftkontrolle entziehen konnten. Die durch Königin Elisabeth 1563 gesetzlich festgeschriebene siebenjährige Lehrzeit erzeugte außerdem eine Interessenidentität zwischen Handwerksmeistern und-gesellen, denn sie stellte ein Instrument zur Konkurrenzreduzierung auf Güterund Arbeitsmärkten zugleich dar. In dieser Konstellation schliffen sich Statusunterschiede zwischen Meistern und Gesellen ab. Beide Kategorien gehörten zum »trade«, zur Gesinnungs- und Interessengemeinschaft der ordnungsgemäß ausgebildeten Berufsgenossen, die sich an die geltenden Standards der Produktion und der Lehrlingsausbildung hielten.117 In der Mitte des 19. Jahrhunderts war der gesamte »trade« lohnabhängig geworden; nur eine Minderheit von Handwerker-Unternehmern war auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarkts zu finden. Um die Klassenlinie sichtbar zu machen, bedurfte es in England also nicht erst der Zerstörung und Umstrukturierung überkommener Wahrnehmungsmuster. Die Handwerkstradition selbst war eine Arbeitnehmertradition; auf dem Arbeitsmarkt waren »craft« und »class« traditionell identisch. In Deutschland wirkte dagegen keine »craft«, sondern eine »guild tradition«. Deshalb war der Handwerkerstand hier kein homogener Berufsstand. Er war ein inhomogener politischer, in die städtische Herrschaftsordnung integrierter Stand; die auf landesfürstlichen Privilegien basierende Standesehre war hierarchisiert. Nur ein Teil der Standesgenossen, die minderberechtigten Gesellen, gehörte traditionell zu den Anbietern von Arbeitskraft. Der andere Teil, die Meister, hatte diese Rolle im »alten Handwerk« allenfalls vorübergehend innegehabt. Ein zweiter Erklärungsfaktor für die Diskrepanz zwischen objektiver und subjektiv erfahrener Klassenlage in Deutschland ergibt sich aus der Beobachtung, daß Reste der korporativen Wirtschaftsverfassung noch fortbestanden, als kapitalistische Prinzipien in die handwerkliche Produktion massiv eindrangen. Beispielsweise machte sich die Überlegenheit der Kleidermagazine gerade zu einer Zeit bemerkbar, als die Wirtschaftsordung des zukünftigen geeinten Deutschlands diskutiert wurde. In dieser Debatte, die 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

schwerpunktmäßig in die Revolutionsjahre 1848/49 fiel, behaupteten viele Handwerker und zeitgenössische Beobachter einen kausalen Zusammenhang zwischen der seit Jahrzehnten spürbaren Erosion der korporativen Wirtschaftsverfassung und den Proletarisierungserfahrungen im Handwerk. Es ist bezeichnend, daß die erwähnte Petition des Schneiderkongresses von 1848 ebenso wie die des allgemeinen Handwerkerkongresses an erster Stelle forderte: »Die Gewerbefreiheit darf in Deutschland unter keiner Bedingung eingeführt, sondern muß da, wo sie besteht, aufgehoben werden. «118 Andere, aus der Rückschau wichtigere Ursachen wie der wachsende Kleiderbedarf und die Herausbildung eines inneren Marktes, der Rationalisierungsvorsprung der Magazine, die Mode und veränderte Konsumentenpräferenzen traten hinter dieser vordergründigen Kausalität zurück, zumal sie durch die sich anbietende Einflußnahme auf das politische System nicht oder nur indirekt zu verändern waren. Die durch die revolutionäre Situation erzeugte Machbarkeitsillusion ließ den organisierten Protest für Aufrechterhaltung oder Wiedereinführung der korporativen Wirtschaftsverfassung als das Gebot der Stunde erscheinen. In diesem Rahmen war es naheliegend, marktbedingte Strukturen sozialer Ungleichheit auch weiterhin mit den überkommenen ständischen Begriffen zu beschreiben. Die englischen Handwerksmeister verhielten sich in vergleichbarer Situation anders. Wenn ihr Protest gegen das Vordringen der »shopkeepers« Ende des 17. Jahrhunderts überhaupt öffentlich wurde und organisierte Formen annahm,119 richtete er sich zugleich auch gegen die Zünfte, d.h. gegen die Livery Companies der wohlhabenden Handwerker und (Fern-)Händler, die die Yeomanries der ärmeren Produzenten bereits 200 Jahre zuvor in ihre Abhängigkeit gebracht hatten.120 Die Livery Company der Londoner Gewandschneider (Tuchhändler) sah z. Β. dem Vordringen der modernen »shopkeeping tailors« tatenlos zu; an der Aufrechterhaltung des Produk­ tionsmonopols der »Master Working Taylers« war sie grundsätzlich nicht interessiert.121 Ohnehin waren Prozesse teurer und relativ aussichtslos: Schon im frühen 17. Jahrhundert hatten von anderen Berufen bewirkte Präzedenzurteile die Gewerbefreiheit rechtlich sanktioniert, obwohl sie erst 200 Jahre später auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden sollte. Seit 1614 durften »Freemen of the City«, wie sich die zünftigen Produzenten bezeichneten, auch einem anderen Gewerbe nachgehen als dem, das sie gelernt hatten, ohne in die entsprechende Company eintreten zu müssen, und zwei Jahre später wurde es Handwerksmeistern verboten, »unfreie« Gewerbetreibende gewaltsam zur Zunftmitgliedschaft zu zwingen. Eine korporative Wirtschaftsverfassung bestand deshalb in London faktisch nicht mehr, als sich die »Master Working Taylers« Ende des 17. Jahrhunderts über die »shopkeeping tailors« beschwerten.122 Erst recht war dies in den Provinzen nicht mehr der Fall, wo sich Magazine mit einiger Verspätung verbreiteten. Ohnehin war das Recht eines »Freeman of the City« in London und 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

anderswo frei käuflich. Das machte eine Schließung der Zünfte, wie sie in Deutschland im 16./17. Jahrhundert mit Hilfe von landesfürstlichen Privilegien weitgehend gelang, grundsätzlich unmöglich.123 Die Zunft brachte daher den englischen Schneidern nicht solche Konkurrenzvorteile wie ihren deutschen Kollegen, und sicherlich wurde sie aus der Rückschau auch deshalb nicht als das Allheilmittel gegen die drohende Proletarisierung angesehen. Darüber hinaus blieb den englischen Handwerkern trotz der Erosion der korporativen Wirtschaftsverfassung ein wichtiges, nicht an die Zunft gekoppeltes, sondern auf nationalem Recht basierendes Instrument zur Konkurrenzreduzierung erhalten: Das Statute of Artificers and Apprentices (Act of 5 Elizabeth, 1563), das die siebenjährige Lehrzeit verlangte, wurde zwar immer wieder umgangen, nicht zuletzt von vielen shopkeeping tailors, aber es wurde erst 1814 außer Kraft gesetzt. Sprachliche Reminiszenzen an die »gute alte Zeit« brauchten deshalb nicht ständisch-zünftige Begriffe zu bemühen.

3. Klassenlage und Standesehre im Konflikt: Der spezifisch deutsche Meister-Geselle-Gegensatz Daß eine Diskrepanz zwischen der objektiven und der subjektiv erfahrenen Klassenlage von Meistern und Gesellen bestand, scheint für die Verzögerung der Gewerkschaftsentstehung auf der deutschen Seite von Bedeutung gewesen zu sein. Diese Vermutung wird durch die Beobachtung nahegelegt, daß Gewerkschaften offenbar in solchen Berufen einen besonders fruchtbaren Boden vorfanden, wo - folgt man dem Sprachgebrauch - die Verhältnisse zwischen den Arbeitsmarktparteien nicht oder nicht mehr in korporativen Mustern wahrgenommen wurden. Sie entwickelten sich relativ früh in England und - im innerdeutschen Vergleich - in einigen der genannten Ausnahmeberufe, die sich durch die »korrekte« sprachliche Umschreibung der Klassenlinic auszeichneten: bei den Buchdruckern und Zigarrenarbeitern, den Pionieren der deutschen Gewerkschaftsbewegung, ferner z. Β. bei den Solinger Schleifern, den Schiffszimmerern und den Hut- und Hand­ schuhmachern. Den Gewerkschaften in diesen Berufen ist gemeinsam, daß sie vor der Gründungswelle in den späten 1860er Jahren entstanden, daß sie kaum oder gar nicht in parteipolitische Querelen verwickelt wurden und daß sie eine gewisse Distanz zu richtungspolitisch festgelegten Dachverbänden dokumentierten.124 Daß man sich in diesen Berufen nicht oder nicht mehr mit der von ständischen Elementen überlagerten deutschen Zunfttradition auseinanderzusetzen hatte, erleichterte den Verbänden offenbar auch unter deutschen Verhältnissen das Geschäft. Umgekehrt tat sich das Gros der städtischen Handwerksberufe, die bis ins 19. Jahrhundert hinein formal zünftig und auch nach Einführung der Gewerbefreiheit innungsmäßig zu54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

sammengeschlossen blieben, besonders schwer, Gewerkschaften zu gründen. Die Organisationen der Tischler, Schuhmacher, Schneider, Buchbinder, Schlosser usw. entstanden erst in den 1860er/70er Jahren. Sie waren im allgemeinen parteipolitisch eindeutig zuzuordnen und gehörten zu den Stützen der richtungspolitisch festgelegten Dachverbände.125 Der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Klassenlinie auf dem Arbeitsmarkt durch die Zeitgenossen und der Verzögerung der Gewerkschaftsentstehung in Deutschland soll im folgenden - wiederum vorwiegend am Beispiel des Schneidergewerbes - konkretisiert werden. Dabei kann man davon ausgehen, daß der überkommene, aber dennoch fortlebende Meister-Geselle-Gegensatz den Klassenkonflikt in zweifacher Hinsicht beeinflußte. Zum einen dürfte er dazu beigetragen haben, daß die Grenzen zwischen den Arbeitsmarktparteien schärfer gezogen wurden als in England, nämlich dort, wo sich marktbedingte und ständische Muster sozialer Ungleichheit überlagerten und gegenseitig verstärkten. Zum anderen dürfte der Meister-Geselle-Gegensatz Binnendifferenzierungen innerhalb der Arbeitsmarktparteien erzeugt haben, für die es vermutlich in England keine Parallele gab. 126 a) Konflikte zwischen den Arbeitsmarktparteien Wie ein Zeitgenosse beobachtete, trat eine Verschärfung der Klassenspannungen vor allem in »Gegenden mit alten Zunfteinrichtungen« auf.127 Hier bestand eine recht große Chance, daß der ständische, auf dem Herkommen beruhende Ehrbegriff des Handwerker-Unternehmers, des für seine »Söhne«, die Gesellen, verantwortlichen »Hausvaters« und vollberechtigten Stadtbürgers, mit dem vom Zeitgeist beeinflußten Ehrbegriff des modernen Gesellen-Arbeiters kollidierte. Für letzteren war nicht mehr die dreistufige Hierarchie des deutschen Handwerks maßgebend, sondern das Selbstbewußtsein des autonomen Individuums: »Ehre! d. h., es soll keiner über dir stehen und dich verhöhnen.«128 Die Einmischung des Arbeitgebers in die Privatsphäre empfanden die Gesellen mehr und mehr - im Berliner Schneidergewerbe recht deutlich seit Beginn der 1840er Jahre 129 - als Zumutung. Das »Sklavendasein« der Gesellen wurde in Arbeiterzeitungen oft beklagt; mancher Meister behandele seine Arbeiter wie »ein westindischer Pflanzer seine Congo-Neger«. 13° Die Konflikte zwischen den Arbeitsmarktparteien, die daraus entstanden, erscheinen oft banal. Frankfurter Schneidergesellen empfanden es z. Β. 1848 als ehrverletzend, daß die Gesellenschaft Miete an den Herbergswirt zahlen sollte, obwohl der Mietvertrag nur von der Meisterschaft, nicht auch von einem Gesellenvertreter unterschrieben worden war. Und in Breslau zerstritten sich Meister und Gesellen über einen Brief an den König. Dieser hatte Vertreter beider Statusgruppen zu einer Audienz empfangen, und nun 55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

wollten die Meister das Dankschreiben ohne Hinzuziehung der Gesellen verfassen.131 Solches Alltagsgeplänkel erhielt jedoch dann ein besonderes Gewicht, wenn es mit ökonomisch motivierten Konflikten verknüpft wurde, denn um die Ehre konnte man nicht feilschen, sondern nur kämpfen; eine Einigung wurde erschwert. Beispiele für diese Form der Konfliktverschärfung finden sich in zahlreichen Schneiderstreiks des Jahres 1848. Hier ging es nicht nur um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, sondern auch, wie in Frankfurt, um das Recht auf »freies Schlafen«, d.h. um das Recht auf den Auszug aus dem Meisterhaushalt, oder, wie - etwas weniger radikal - in Wiesbaden, um das Recht auf den eigenen Hausschlüssel. In Berlin, Leipzig und anderswo kämpften die Gesellen um die Selbstverwaltung ihrer Krankenkasse, und in Hamburg gegen die Praxis der Meister, aufmüpfige Schneider »aus dem Tore zu schreiben«.132 In allen diesen Fällen ging es um das Prinzip: »Stellen Sie nicht den Arbeiter auf der (!) untersten Stufe der menschlichen Gesellschaft. .. Verkennen Sie es nicht, daß die Zeit gekommen ist, wo der Meister nicht nur den Arbeiter seine Kräfte gebraucht, um sich in sein Geschäft zu bevortheilen, sondern daß beide ihre geistige(n) und physische(n) Kräfte zusamen vereinigen müßen, um sich auf eine Stufe in der Gesellschaft zu erheben, die ihnen mit Recht zukomt.«133 Konfliktverschärfend wirkten die Differenzen um die ständische Ehre nicht nur deshalb, weil sie Grundsatzfragen auf die Tagesordnung brachten, die nicht kompromißfähig waren. Nicht selten verhinderten sie auch, daß man sich in weniger grundsätzlichen Auseinandersetzungen einigte. Denn Kompromissen ist im allgemeinen nur durch demokratische Abstimmung Geltung zu verschaffen, und dafür ist die Anerkennung der formalen Gleichheit der Beteiligten, d. h. die Nivellierung ständischer Unterschiede, Voraussetzung: »(D)er Stimmzettel als ultima ratio ist«, so Max Weber, »das Charakteristikum streitender und über Kompromisse verhandelnder Parteien, aber nicht: von ›Ständen‹ «. 134 Für die fehlende Kooperationsbereitschaft der Meister, die oft selbst die Sondierung der Geselleninteressen unmöglich machte, gibt es zahlreiche Belege. Hinzuweisen wäre etwa auf die - letztlich erfolgreiche - Lobbytätigkeit von Handwerksmeistern bei der preußischen Regierung, die darauf zielte, unselbständige Gewerbetreibende aus den 1848 eingerichteten Gewerberäten zu entfernen.135 Das bekannteste Beispiel für diesen Konflikttypus ist die Trennung von Meistern und Gesellen auf dem Frankfurter Handwerker- und Gewerbekongreß von 1848. Dieser Kongreß sollte einen auch die Arbeitsbeziehungen regulierenden Entwurf für die Gewerbeordnung des künftigen geeinten Deutschland ausarbeiten, um ihn dem Volkswirtschaftlichen Ausschuß der Nationalversammlung als Orientierungshilfe vorzulegen. Anwesend waren auf der einen Seite Handwerker-Unternehmer. Sie vertraten zunft- oder innungsmäßig verbundene städtische Berufe 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

und hatten es offenbar mehrheitlich zu einigem Wohlstand gebracht, denn sie konnten sich eine mehrwöchige Abwesenheit von zu Hause finanziell leisten. Auf seiten der Gesellen waren sowohl abhängig Beschäftigte als auch einige kleine Selbständige, sog. »gewerbtreibende Gesellen«, anwesend.136 Die Einheit des Handwerks, die man gegen den modernen Kapitalismus ins Feld führen wollte, zerbrach - wie im übrigen auch auf dem ebenfalls in Frankfurt am Main stattfindenden Schneiderkongreß137- schon nach kurzer Verhandlungsdauer: Die Mehrheit der Meister wollte den »unmündigen« Gesellen nur eine beratende, aber keine entscheidende Stimme einräumen.138 Daraufhin organisierten letztere einen Alternativkongreß, der sich später dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongreß in Berlin anschloß. Sieht man einmal von den »gewerbtreibenden Gesellen« ab, spaltete sich der Frankfurter Handwerkerkongreß entlang der objektiven Klassenlinie. Die Spaltung erfolgte jedoch nicht aufgrund von ökonomisch motivierten Interessengegensätzen, sondern weil die Meister die ständische Distanz zu den Gesellen wahren wollten. Die inhaltlichen Übereinstimmungen in vielen Einzelfragen, die die Entschließungen der nun getrennt beratenden Kongresse zutage förderten, lassen vermuten, daß - zumindest in bezug auf die Regulierung der Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse - die Chance zum gemeinsamen Vorgehen vertan wurde, bevor sie überhaupt erkannt werden konnte.139 Das beharrliche Festhalten des durchschnittlichen deutschen Handwerksmeisters an seiner Autorität als »Hausvater« kam nicht von ungefähr. Es wurde von den Behörden unterstützt. Zwar hatte der Gesetzgeber, insbesondere der preußische, seit dem späten 18. Jahrhundert tief in das altständische Institut des »ganzen Hauses« eingegriffen und die einzelnen Mitglieder zu Trägern eigenen Rechts befördert. Aus steuerlichen Gründen und um die Wehrerfassung zu verbessern, interessierte sich der Staat nicht mehr für Haushalte, sondern für Individuen; sein Augenmerk galt dem Hausbesitzer, nicht dem »Hausvater«. Auf die Gewalt des »pater familias« griffen die Behörden gleichwohl gern zurück, wo es um die Gewährleistung von Ruhe und Ordnung in der Öffentlichkeit ging, und in diesem Zusammenhang behielt der Handwerksmeister auch in seiner modernen Funktion als Arbeitgeber gewisse polizeiliche Vollmachten.140 So fand sich noch im (vom Magistrat verordneten) Gesellen-Reglement des Berliner Schneidergewerks von 1846 der Passus: »Der Principal ist nach dem Allgemeinen Landrecht Th. II Tit. 8 §356 nicht bloß befugt, sondern auch schuldig, über das Betragen seiner Gesellen Aufsicht zu führen, sie zum Besuch des öffentlichen Gottesdienstes und zu einem gesitteten Lebenswandel fleißig anzumahnen, von Lastern und Ausschweifungen aber, soviel als an ihm ist, abzuhalten.«141 Dafür, daß solche Vorschriften eingehalten wurden und sich keine Kumpanei zwischen Meister und Gesellen entwickelte, sorgten Regierungen und 57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Lokalbehörden, indem sie den Meistern versteckt oder offen Sanktionen androhten. Die schlesische Landesregierung verband z. Β. 1830 einen Rüffel an die Breslauer Schneiderinnung, die es in »höchst tadelnswerther Sorglosigkeit« versäumt habe, einen Tumult der Gesellen zu verhindern, mit der Ablehnung eines Protestes gegen Kleidermagazine, und Schneidermeistern aus Minden drohten die Behörden aus ähnlichem Anlaß sogar mit dem Entzug der Genehmigung zum Gewerbebetrieb.142 Als es dem seit den frühen 1850er Jahren aus relativ jungen und liberalen Meistern zusammengesetzten Vorstand der Berliner Schneiderinnung nach einigen Konzessionen an die Gesellen (in bezug auf die Verwaltung der Gewerkskrankenkasse) gelungen war, das seit Jahren hochgespannte Klima etwas zu entschärfen, stellte der Berliner Magistrat 1854 kategorisch fest, daß er die neue Entwicklung nicht gutheißen könne. Es gehe nicht an, »daß der Unterschied zwischen Meister und Gesellen beseitigt« werde und »nur der Arbeiter zur Geltung« komme. »Ein solches sociales Streben« sei mit den gesetzlichen Bestimmungen unvereinbar und deshalb »mit aller Strenge« zu unterbinden. Die Ermahnung hatte Erfolg; das Verhältnis von Schneidermeistern und -gesellen in Berlin verschlechterte sich wieder.143 Dagegen wurde das Verhältnis von »masters« und »journeymen« in England auch in rechtlicher Hinsicht nicht durch Interventionen von außen kompliziert. Als Angehörige verschiedener Marktklassen bekämpften sie sich unerbittlich: »(A)s masters and men there can be no peace tili one side or the other is thoroughly defeated.« Aber der Konflikt blieb auf die ökonomische Ebene beschränkt: »As Englishmen they can meet on friendly terms on mutual ground. «144 In der rechtlichen Gleichbehandlung lag eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß es zahlreichen englischen Handwerker-Unternehmern gelang, ein gutes persönliches Verhältnis zu ihren Beschäftigten aufzubauen. Ihre Maßnahmen der betrieblichen Sozialpolitik zeigen darüber hinaus, daß sie sich auch aktiv darum bemühten. Sie setzten den Respekt der Belegschaft nicht wie deutsche Handwerksmeister voraus, sondern versuchten, ihn sich zu »erkaufen«. Dabei konnten sie durchaus an alte Handwerksbräuche anknüpfen, wie es das Beispiel des »Tailors' Bean Feast«, eines von zahlreichen »Master Tailors« alljährlich veranstalteten opulenten Mahls, zeigt. Die Londoner Schneidermeister versuchten außerdem, sich durch regelmäßige Zuschüsse an ein Altenheim für alleinstehende Gesellen oder durch die Organisation von Cricket-Turnieren zwischen verschiedenen Werkstätten ins rechte Licht zu setzen.145 Solche Ansätze betrieblicher Sozialpolitik entwickelten in Deutschland offensichtlich nur Unternehmer, die nicht aus dem Handwerk kamen: im Schneidergewerbe die Konfektionäre, in anderen Bereichen die Fabrikanten und Kaufleute.146 Das übermäßig gespannte Verhältnis zwischen einem Großteil deutscher Handwerker-Unternehmer und ihren Gesellen-Arbeitern ist als eine von mehreren Ursachen dafür anzusehen, daß die Schneidergesellen und andere 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

gewerbliche Arbeiter sich im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 an radikalen politischen Bewegungen, z. Β. am Bund der Kommunisten oder der Arbeiterverbrüderung, recht zahlreich beteiligten, aber keine Anstrengungen machten, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen. Denn die skizzierten Probleme konnten nicht auf dem Arbeitsmarkt, der wichtigsten Arena von Gewerkschaften, gelöst werden, sondern nur durch Maßnahmen des Gesetzgebers, konkret: durch die endgültige Einführung der Gewerbefreiheit und die Verankerung der formalen Gleichheit aller Staatsbürger in einer nationalen Verfassung, die ständische Partikularrechte und Polizeivollmachten außer Kraft setzte. Das Minimum an Kompromißbereitschaft zwischen Kapital und Arbeit, auf das Gewerkschaften angewiesen sind, war z. Β. zwischen Prinzipalen und Gehilfen im Buchdruckgewerbe und zwi­ schen Zigarrenfabrikanten und -arbeitern vorhanden - hier wurden sogar Tarife abgeschlossen bzw. ins Auge gefaßt-, aber nicht zwischen Meistern und Gesellen im Schneidergewerbe und anderen zünftigen Handwerksberufen. Ob die von vielen Zeitgenossen (und Historikern) beschworene Einheit des Handwerks jemals bestanden hat, ist wegen der langen Tradition des Meister-Geselle-Gegensatzes in Deutschland umstritten.147 Im Vormärz und in der Revolution war von dieser Einheit jedenfalls nur noch wenig zu spüren. Die Kooperationsbereitschaft, die mancher Inhaber eines Kleidermagazins durch seine Mitgliedschaft im Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen oder im Berliner Handwerkerverein signalisierte,148 war zumindest für die Schneidergesellen eine neue Erfahrung. Sie schlug jedoch selbst in Berlin als dem Zentrum der Mode in der Revolution noch nicht zu Buche, weil viele Konfektionäre um des lieben Friedens mit den militanten Zünftlern willen ihre Aufträge von der Innung verteilen ließen. Durch die preußische Regierungsverordnung vom 9. Februar 1849, die die kurzzeitig erteilte Gewerbefreiheit wieder aufhob, wurde diese Praxis verpflichtend gemacht.149 Sofern ein Schneidergeselle sich gesetzestreu verhielt und nicht in seiner Dachkammer pfuschte, hatte er sich also nach wie vor mit den ehrbaren Handwerksmeistern auseinanderzusetzen. b) Konflikte innerhalb der Arbeitsmarktparteien Führte der ständisch-zünftige »Überhang« einerseits zur Verschärfung der Spannungen zwischen den Arbeitsmarktparteien, so erzeugte er andrerseits Binnendifferenzierungen auf beiden Seiten der Klassenlinie. Wie bereits im Zusammenhang mit dem Handwerkerkongreß und dem Schneiderkongreß von 1848 erwähnt, wurde auf der Arbeitgeberseite der Konkurrenzkampf zwischen Handwerker-Unternehmern und Kaufleuten bzw. Fabrikanten nicht nur auf dem Markt, sondern auch durch Druckausübung auf das politische System zu entscheiden versucht. Die außergewöhnlichen Diffe59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

renzen zwischen beiden Gruppen waren für die Arbeitnehmer nicht unbedingt von Vorteil. Theoretisch bestand zwar die Chance, die zerstrittenen Fraktionen des Klassengegners gegeneinander auszuspielen, aber wenn es um Geld ging, herrschte zwischen ihnen im allgemeinen stillschweigend Waffenstillstand. 15° In Streiks erwies sich die Uneinigkeit unter den Arbeitgebern darüber hinaus oft als nachteilig für die Gesellen, weil sie Löhne und Arbeitsbedingungen für die Gesamtheit der Beschäftigten festschreiben wollten, sich jedoch nur selten die Gelegenheit ergab, mit beiden Fraktionen zugleich ein Arrangement zu treffen. Auf der Arbeitnehmerseite waren sich zum einen moderne Gesellen-Arbeiter, die sich als lebenslange Lohnarbeiter fühlten, und solche Berufsgenossen in vielen Punkten uneinig, die - zum Teil Meistersöhne oder -Schwiegersöhn e - darauf hofften, sich einmal zum selbständigen Handwerker aufschwingen zu können. In Arbeitskonflikten machte ein traditionell eingestellter Geselle häufig keine gemeinsame Sache mit seinen Kollegen. Er hielt es »für eine schlechte Spekulation, zu einem Vereine zu gehen, welcher Lohnerhöhungen herbeiführen will, da er doch bald selbständig werden will und sich mit dem Gedanken schmeichelt, recht viele Gesellen zu beschäftigen.«151 Für zahlreiche dieser Arbeiter bedeuteten die Kommerzialisierung des Handwerks und die Einführung der Gewerbefreiheit, von der Mehrzahl ihrer Kollegen sehnlich herbeigewünscht,152 die Zerstörung ihrer Zukunftsträume. Zum anderen reproduzierten sich zwischen der Mehrheit153 der proletarisierten, oft noch formal selbständigen Kleinmeister und modern eingestellten Gesellen die bereits bekannten Konflikte um die ständische Ehre, die auch das Verhältnis zwischen letzteren und vielen Handwerker-Unternehmern störten. Die auf diese Weise innerhalb der Arbeiterschaft erzeugten Spannungen wurden noch dadurch verstärkt, daß die gewerbliche Entwicklung gegenteilige Effekte für Gesellen und Kleinmeister erzeugte, die zum Teil auf ein Nullsummenspiel hinausliefen. Was des einen Leid, war des anderen Freud: Während der durchschnittliche kleine Schneidermeister wie der traditionell eingestellte Geselle auf das »Confectionsunwesen« schimpften, weil es die Selbständigkeit unterminiere, vermerkten »progressive« Gesellen einen »Kulturfortschritt«, an den es anzuknüpfen gelte. Nicht zuletzt aufgrund der verbesserten Beschäftigungsmöglichkeiten waren manche Schneider, die der Arbeiterbewegung anhingen, sogar der Meinung, daß man die Magazine dereinst »im sozialistischen Staat... in noch ausgedehnterem Maße betreiben« müsse.154 Ähnliche Interessenkollisionen ergaben sich aus der Einführung der Gewerbefreiheit. Während sie Schneidergesellen allein aus dem Grund willkommen war, weil sie vielen Kollegen die Möglichkeit eröffnete, in den saisonalen Flauten oder ganzjährig auf selbständiges Lohnwerk und Flickarbeiten auszuweichen und dadurch die aktuelle Zahl der Anbieter auf dem Arbeitsmarkt reduzieren half, erschien sie Kleinmeistern gerade deshalb als 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Katastrophe. Die Gesellenarbeit wurde knapper und teurer; der sog. »Meisterverdienst«, den Handwerksmeister traditionell aus der Arbeit ihrer Gesellen zogen und der, weil diesen als Ledigen kein Familienlohn gezahlt werden mußte, die Grundlage des eigenen »anständigen Auskommens« darstellte, wurde geringer. Gleichzeitig verstärkte sich die Konkurrenz auf dem Gütermarkt, so daß ein Einkommensausgleich durch eine Preiserhöhung häufig nicht möglich war. 155 Schwerer noch wog für viele Kleinmeister, daß die Gewerbefreiheit ihre Investitionen in die Verselbständigung entwertete. Der finanzielle Aufwand für das Meisterstück, Niederlassungsgebühren usw. erschienen ihnen angesichts ihrer ökonomischen Abhängigkeit als vergeudetes Geld,156 und manch ein Meister dürfte auch seinen Entschluß zur Vernunftehe mit einer Meisterstochter oder -witwe im Nachhinein bereut haben. Ein Geselle brauchte sich dagegen seine »sauer ersparten Thaler« jetzt nicht mehr von den Zünften und Behörden »abnehmen« zu lassen, bevor er sein eigener Herr werden und eine Familie gründen konnte. Es hinderte ihn nichts daran, »wie der englische Arbeiter... für seine Ersparnisse Mobilien [zu] kaufen«.157 So war der Geselle nicht mehr, wie es in Zunftzeiten oft beklagt worden war, durch das Gewerberecht gezwungen, zentrale Weichenstellungen für seinen Lebensweg auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben, wenn er die ohnehin geringen Chancen zum beruflichen Fortkommen wahren wollte, und bei der Wahl seiner Ehefrau konnte er ohne Bedenken seinen Neigungen folgen. In seiner persönlichen Lebensführung näherte sich der deutsche Handwerksgeselle damit seinem englischen Kollegen an, der, wie im Kontext der englischen Handwerkstradition traditionell üblich, sich schon als Lehrling mit seinem »Sweetheart« in der Öffentlichkeit zeigte und im allgemeinen bald nach Beendigung der Lehre heiratete.158 Auch bei der Planung seiner beruflichen Karriere verhielt sich ein moderner deutscher Geselle immer deutlicher wie sein englischer Kollege. Er strebte nicht mehr vorrangig die Meisterprüfung und die Verselbständigung an, sondern war bestrebt, zum Vorarbeiter, Werkführer, Geschäftsführer oder in eine entsprechende, vom modernen kapitalistischen Unternehmen hervorgebrachte Position aufzusteigen. Um die Voraussetzungen dafür zu erwerben, mußte er sich im Rechnen und Zeichnen, im schriftlichen Ausdruck und in der Buchführung fortbilden bzw. sich diese Fähigkeiten, die ihm der ungenügende Schulunterricht nicht vermittelt hatte, nachträglich aneignen.159 Er mußte sich um Kenntnisse bemühen, die im »alten Handwerk« nicht wichtig gewesen waren und über die der Kleinmeister als sein Lehrer im Berufsalltag im allgemeinen selbst nicht verfügte. Der moderne, aufstiegsorientierte Geselle brach also, oft gezwungenermaßen, mit den handwerklichen Prinzipien des »learning by doing« bzw. des »learning by example«. Am Beispiel des für Schneidergesellen besonders attraktiven Aufstiegs zum Zuschneider läßt sich konkret zeigen, auf 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

welche Weise sich dabei die Konflikte um die Stellung zum »Fortschritt« und um die ständische Ehre und Autorität des Kleinmeisters überlagern konnten. Zuschneider in einem Kleidermagazin oder in der großen Werkstatt eines Handwerker-Unternehmers zu werden, war für Schneidergesellen seit dem Vormärz in finanzieller Hinsicht deutlich attraktiver, als sich um die Meisterprüfung vor der Innung zu bemühen. Das Einkommen des Zuschneiders war nicht nur höher als das des Kleinmeisters, über dessen Niveau der Geselle ohne Kapital nicht hinauskommen würde, sondern es floß auch regelmäßig. Das war gerade in der saisonabhängigen Schneiderei ein hochgeschätzter Vorteil. Denn ein Zuschneider erhielt als »Betriebsbeamter« keinen Lohn, sondern ein Gehalt, dazu oft eine Tantieme. Außerdem verfügte er über diverse Nebenverdienste: Obligatorisch waren die Aneignung des »Schmuh«, der Stoffreste, die im traditionellen Handwerk dem Meister zufielen, sowie die Entgegennahme von Kundentrinkgeldern. Daneben war es zum Teil Usus, daß sich der Zuschneider kostenlos zweimaljährlich einen Anzug aus Tuchbeständen des Geschäfts anfertigte (bzw. anfertigen ließ). Manchem Londoner Zuschneider ging es finanziell so gut, daß er jedes Jahr 14 Tage Urlaub machen konnte.160 Das Verhältnis zwischen einem kleinen, kapitalschwachen Handwerksmeister und einem von ihm beschäftigten Gesellen, der Zuschneider werden wollte, war aus mehreren Gründen besonders konfliktträchtig. Zunächst einmal maßte es sich der Geselle in den Augen des Meisters an, qualifizierte »Meisterarbeit« verrichten zu wollen, ohne durch eine formelle Prüfung das Recht dazu erworben zu haben. Denn traditionell galt das Zuschneiden der teuren Stoffe als die »eigentliche Kleidermacherkunst«, die nur ein Meister beherrsche: »Das Nähen ist nur gemeine Handwerksarbeit, aber im Schneiden des Tuchs, im Zuschneiden, bewährt sich der Schneider erst als der Mann höherer Geschicklichkeit.161 Außerdem machte der karrierebewußte Geselle offenbar gemeinsame Sache mit dem Kapital, ob er dies beabsichtigte oder nicht. Denn er strebte eine Position an, die allein durch ihre Existenz einem Kleinmeister, der von Handwerker-Unternehmern oder Kaufleuten abhängig war - und das galt, zumindest zeitweise, für die meisten-, seine Dequalifizierung täglich von neuem vor Augen führte. Wer sich als geprüfter Meister unter die »Direction eines Zuschneiders« stellen mußte, sei es als Werkstatt-, sei es als Heimarbeiter, erlebte eine besonders bittere Form des sozialen Abstiegs. Die Zumutung, von anderen zugeschnittene Stoffe verarbeiten zu müssen und nicht mehr »nach eigenem Gutdünken« verfahren zu dürfen, gab auch einem formal selbständigen Handwerker das Gefühl, ein »gewöhnlicher Fabrikarbeiter« zu sein.162 Sofern Gesellen sich in Arbeiterbildungsvereinen und Gewerkschaften, Gewerbeschulen, kommerziellen Fortbildungskursen und in privater Lektüre mit den modernen, Kenntnisse in Geometrie und Anatomie voraussetzenden »wissenschaftlichen« Zuschneidesystemen«163 befaßten, leisteten sie 62 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

sich häufig nicht nur einen indirekten Affront gegen ihren Meister. Sie traten ihm nun auch mit einem gestärkten Selbstbewußtsein entgegen, das sie als »denkende Menschen« aus ihren theoretischen Kenntnissen bezogen, und zweifelten verschiedentlich explizit seine Fachkompetenz an. Mancher Geselle und selbst mancher Lehrling glaubte nach einigen Unterrichtsstunden, »das Wesen« seines Berufs erfaßt zu haben, von dem seine Kollegen und vor allem der Meister selber »keine blasse Ahnung« hätten.164 Die »Klage der Meister über die jetzige Unfolgsamkeit der Gesellen« war, davon zeigten sich 1848/49 nicht nur Schneidergesellen, sondern auch Arbeiter aus anderen Berufen überzeugt, »zum größten Theil« eine Reaktion auf die Fortbildungserfolge.165 Wenn Schneidermeister vom alten Schlag ihre »Blauen Patronen«, die nach und nach mühsam für bestimmte Körpermaße zurechtgemachten Schnittmuster, auch in den 1850er Jahren noch vor ihren Gesellen und Lehrlingen versteckten, erschien das als sinnlose Geheimnistuerei und als lächerliches Festhalten am »alten Zunftzopf«.166 Produktivassoziationen, eine in der Revolutionszeit und den folgenden Jahrzehnten heiß diskutierte Alternative zum modernen kapitalistischen Großunternehmen, aber auch zum handwerklichen Kleinbetrieb, mußten in diesem Kontext als offene Infragestellung der Fachautorität des Meisters erscheinen, jedenfalls dann, wenn ihre Mitglieder den Meistertitel »als Privilegium« nicht anerkennen wollten. In den Assoziationswerkstätten der Arbeiterverbrüderung sollte er z. Β. ausdrücklich nur demjenigen verliehen werden, »welcher unter allen... die beste Befähigung durch seine Leistung bekundet... hat«. 167 Daß Schneidergesellen ihrem Meister und dessen längerer Berufserfahrung nicht mehr die erwartete Hochachtung entgegenbrachten, war sicher oft ungerechtfertigt. Alle Zuschneidetheorie blieb grau, solange sie nicht mit praktischer Erfahrung verknüpft wurde. Gleichwohl war ihr Selbstbewußtsein in vielen Fällen begründet, denn es gab in der Tat manchen Meister, »der es zwar dem Namen nach ist, ihn aber bei der Ausübung seines Geschäfts nicht verdient und sich oft auf die Kenntnisse und Erfahrungen eines Gesellen verlassen muß«. 168 Vor allem kleinstädtische und ältere Meister wurden seit dem Vormärz durch den schnellen Modewechsel in Verlegenheit gebracht.169 Zu Zunftzeiten, als die Alteingesessenen das Regiment führten, hatte das Mittelmaß dominiert, und jede Neuerung im Zuschneiden war negativ sanktioniert worden. Die Flexibilität eines guten englischen Schneiders, der, wie ein Kompendium schon 1747 erläuterte, jederzeit bereit sein mußte, einen neuen Schnitt mit den Augen zu stehlen, notfalls »in the passing of a chariot, or in the Space between the door and a coach«,170 ging vielen Meistern alten Schlags ab. Diesen Handwerkern waren die Gesellen allein aufgrund ihrer relativen Jugend überlegen, zumal sie in der Regel auf der Wanderschaft Zuschneidekurse belegt hatten. Vor allem der Schneider, der in Paris gewesen war und die »Centimeter-Schnittmethode« beherrschte, galt bei seiner Rückkehr als 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

gefragter Arbeiter.171 Die Überlegenheit eines Gesellen gegenüber seinem Meister resultierte jedoch häufig allein schon daraus, daß er trotz der unzureichenden Schulbildung zumindest über die Elementarkenntnisse im Rechnen verfügte, die angesichts der modernen Anforderungen Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg waren. 172 Der spezifisch deutsche MeisterGeselle-Konflikt war hier besonders deutlich zugleich ein Generationskonflikt.

4. Das Organisationsverhalten von Meistern und Gesellen Sofern sich Bildungsvereine und Gewerkschaften seit dem Vormärz um die berufliche Fortbildung verdient machten, trugen sie, ohne es zu wollen, zur Verschärfung der Konflikte zwischen Meistern und Gesellen bei. War die antikapitalistische Rhetorik dieser Organisationen vielleicht für viele Kleinmeister noch attraktiv, so stieg dann, wenn ein Zuschneidekurs eingerichtet wurde, zwar die Zahl der Gesellen-Mitglieder erheblich an, aber auf Seiten der Kleinmeister ging »der Scandal« los. 173 Die Werbung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften um Lohnwerker und Zwischenmeister war nicht zuletzt deshalb wenig erfolgreich. Den Untergang des Kleinbürgertums, den sie prophezeiten,174 schienen ihre bildungshungrigen Anhänger aktiv mit voranzutreiben. Zwar reihte sich trotz des aus diesen und den anderen skizzierten Gründen konfliktgeladenen Verhältnisses zwischen den Statusgruppen mancher Meister in die Reihen der frühen Arbeiterbewegung ein, wie in der Literatur vielfach hervorgehoben worden ist.175 Die Liste der Selbständigen unter den Spitzenfunktionären umfaßte, allen voran Drechslermeister August Bebel, zahlreiche bekannte Namen, und bei diesen Handwerkern handelte es sich, den Beitrittsaufrufen entsprechend, nicht nur um heruntergekommene Alleinmeister, sondern zum Teil auch um Arbeitgeber.176 So verstanden sich z. Β. in den 1870er Jahren auch sächsische Webermeister mit zwölf Gesellen als Sozialdemokraten.177 Jedoch sollte man die Bedeutung von selbständigen Gewerbetreibenden für die frühe deutsche Arbeiterbewegung nicht überschätzen. In den zahlreichen Produktivgenossenschaften der 1860er/70er Jahre, d.h. in Organisationen, die das Lohnverhältnis innerhalb des Kapitalismus aufzuheben versuchten und dem Selbständigkeitsideal in besonderer Weise Rechnung trugen, spielten sie eine hervorragende Rolle, 178 nicht aber in sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften. Das läßt sich aus einer der wenigen Quellen schließen, die überhaupt quantitative Rückschlüsse zulassen, aus den Listen der aufgrund des Sozialistengesetzes Ausgewiesenen. Unter den lokalen Spitzenfunktionären, die hier in erster Linie versammelt waren, befanden sich nur 8,7 Prozent Handwerksmeister.179 Das ist ein sehr gerin64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

ger Anteil, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß kleine Selbständige geradezu prädestiniert zur Übernahme eines Funktionärspostens auf lokaler Ebene waren. Sie waren - anders als viele Gesellen zu dieser Zeit - im allgemeinen seßhaft, mit den lokalen Besonderheiten vertraut, relativ unabhängig von festen Arbeitszeiten und wegen der Arbeitgeberfunktion, die sie zum Teil ausübten, auch abkömmlich. An der Basis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften dürfte der Mitgliederanteil von Handwerksmeistern deshalb noch geringer gewesen sein. Gemessen an den über 40 Prozent, die selbständige Gewerbetreibende an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen des sekundären Sektors 1875 stellten, waren sie jedenfalls deutlich unterrepräsentiert.180 1848/49 und in den sechziger Jahren mochte der Organisationsgrad höher gewesen sein. Allerdings geben die zahlreichen Klagen der Arbeiterpresse über die Zurückhaltung, ja Feindschaft, mit der kleine Handwerksmeister der Arbeiterbewegung begegneten, schon für diese Zeit Anlaß zu Zweifeln.181 Die Sympathie zwischen früher Arbeiterbewegung und Kleinmeistern scheint recht einseitig gewesen zu sein. Im Schneidergewerbe zumindest wurde sie nur dann von Kleinmeistern erwidert, wenn in bestimmten Situationen, z. Β. in Streiks, gemeinsame materielle Interessen die von der Handwerkstradition erzeugte Animosität vorübergehend überbrückten.182 Für kleine Schneidermeister, die 1869 gerade 9,2 Prozent der Bevollmächtigten des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins stellten,183 war es offenbar naheliegend, sich auf die Seite der Arbeitgeber zu schlagen. Den spärlichen Informationen über die Mitgliedschaft des in den frühen 1870er Jahren gegründeten Deutschen allgemeinen Arbeitgeberbundes des Schneidergewerbes und seinen lokalen Vertretungen zufolge waren sie hier relativ zahlreicher beteiligt als in Arbeitnehmerorganisationen. Die deutsche Handwerkstradition mit ihrer Betonung der Meisterwürde erleichterte die Kooperation von »selbständigen Schneidermeistern und Inhabern von Schneidergeschäften«, wie der Bund seine Mitgliedschaft beschrieb, da die Innungen, in der Regel identisch mit einem Ortsverein bzw. dessen Keimzelle, einen idealen Anknüpfungspunkt boten.184 Dieselbe Tendenz zeichnet sich auch in anderen Berufen ab, z.B. bei den Schuhmachern und Sattlern,185 und es ist kein Zufall, daß ein »Verein selbständiger Handwerker und Fabrikanten Deutschlands« 1873 aus dem Dresdner Handwerkertag des Vorjahres entstand.186 Nicht ohne eine gewisse Berechtigung beklagte die Gewerkschaftszeitung »Union« 1874 den »blinden Haß« der Kleinmeister »gegen die Bestrebungen der Arbeiter«.187 In England ergab sich aufgrund der andersartigen Handwerkstradition dagegen für »small masters« kein besonderer Anlaß, den Organisationen der »journeymen« fernzubleiben. Allenfalls fielen sie durch eine gewisse Indifferenz auf, die als Folge ihrer Vereinzelung im Produktionsprozeß zu interpretieren ist. »Small masters« und »journeymen«, beide gleichberechtigte Angehörige des »trade«, trugen gemeinsam die Versicherungskassen für die 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

verschiedenen Lebensrisiken (friendly societies) und die Gewerkschaften; in sog. »chair clubs« rauchten sie - selbst zusammen mit Lehrlingen - ihre Pfeife. Sich auf geselliger Ebene zu treffen, lag für sie um so näher, als sie durch den gemeinsamen Interessengegensatz zu den »illegals«, den nicht nach den Vorschriften des Lehrlingsgesetzes von 1563 ausgebildeten Produzenten, verbunden waren. 188 Die englische Handwerkstradition scheint hier verbindend gewirkt zu haben. Das skizzierte Organisationsverhalten von deutschen Kleinmeistern, das der subjektiv erfahrenen, nicht der objektiven Klassenlage entsprach, spiegelt zwei Strukturprobleme wider, vor die sich die frühen Gewerkschaften in Deutschland gestellt sahen: Erstens war der Status des deutschen Handwerkers, die Basis seiner »moral economy«, durch landesfürstliche Privilegien und behördliche Vollmachten zugeschrieben worden; er hatte ihn nicht wie sein englischer Kollege allein durch die Lehre, seine Berufserfahrung und die Beachtung der Spielregeln des »trade« erworben. Für Gewerkschaften, die sich als Arbeitsmarktorganisationen allein am Prinzip des erworbenen Status orientieren konnten, bestand deshalb in England die Chance, nahtlos an die »moral economy« des alten Handwerks anzuschließen, nicht aber in Deutschland. Hier konnten Gewerkschaften in zahlreichen städtischen Berufen nur in Auseinandersetzung mit der Handwerkstradition und ihrem Prinzip der Statuszuweisung entstehen. Hier konnten sich Gewerkschaften zweitens das Berufsprinzip nicht in dem Maße zunutze machen, wie es in England gelang. Aufgrund der Spaltung der abhängig beschäftigten Berufsangehörigen in Meister und Gesellen entfiel der Beruf, sowohl Grundlage einer an außerökonomischen Kriterien orientierten ständischen Lebensführung als auch Strukturprinzip von Arbeitsmärkten, in bestimmten Situationen als Bindeglied zwischen Stand und Klasse. An den skizzierten Konflikten um die berufliche Fortbildung trat dieses Problem besonders deutlich hervor. In der Konsequenz war die soziale Basis der frühen englischen Gewerkschaften, so scheint es, breiter als die der frühen deutschen. Kamen für erstere »journeymen« und »small masters« gleichermaßen als Mitglieder in Frage, so erreichten letztere im wesentlichen nur die Gesellen, d. h. diejenigen abhängig beschäftigten Berufsgenossen, die dem Status des idealtypischen Lohnarbeiters noch am nächsten kamen. Doch selbst diese Teilmenge war in sich nicht homogen. Nur für solche Gesellen, die sich bewußt vom »Zunftzopf« distanzierten und sich nicht als potentielle Meister verstanden, lag es nahe, den Weg in die Gewerkschaft zu suchen. Wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, stellten sich dieser »Restklasse« weitere, wiederum spezifisch deutsche Hindernisse in den Weg.

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III. Sozialisationseffekte der Berufsausbildung Daß eine handwerkliche Berufssozialisation in der Industrialisierung die Bereitschaft zum gewerkschaftlichen Engagement gefordert hat, ist ein in der Historiographie oft vorgetragenes und vielfältig belegtes Argument. Es basiert auf der Erfahrung, daß qualifizierte Handwerksgesellen weder in Werkstätten alten Stils noch in frühen Fabriken problemlos zu ersetzen waren und deshalb eine relativ starke Position innerhalb des Betriebs und auf dem Arbeitsmarkt besaßen. Das habe ihnen selbstbewußtes Auftreten erlaubt. Darüber hinaus hätten sich gelernte Handwerksgesellen an tradierten Standards des Arbeitsprozesses und der Entlohnung orientiert, was sie besonders sensibel gegen die Zumutungen des modernen Kapitalismus gemacht habe. Das Argument basiert auf dem impliziten oder expliziten Vergleich handwerklich qualifizierter mit ungelernten oder angelernten Arbeitern,189 und in dieser Hinsicht ist es sicherlich nicht unberechtigt. Der Vergleich der handwerklichen Berufssozialisation in England und Deutschland liefert jedoch einige Anhaltspunkte dafür, daß dieses Argument die englische Realität des 18. und der ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts besser beschreibt als die deutsche. Die Berufssozialisation des englischen Handwerksgesellen scheint dem gewerkschaftlichen Engagement förderlicher gewesen zu sein als die des durchschnittlichen deutschen, auch als die des »progressiven«, sich bewußt vom »Zunftzopf« distanzierenden Gesellen, der zur Gruppe der potentiellen Gewerkschaftsmitglieder zu rechnen ist. Diese These soll im folgenden erläutert werden. Zunächst wird, wiederum vorwiegend anhand des Schneidergewerbes, relativ ausführlich geschildert, auf welche Weise die englische Handwerkslehre zur Sozialisation von Gesellen beitrug und die gewerkschaftliche Rekrutierungspolitik erleichterte. Anschließend wird gezeigt, daß die zweistufige Berufsausbildung im deutschen Handwerk, bestehend aus Lehre und Wanderzeit, andere Sozialisationseffekte erzeugte. Wie im vorangehenden Kapitel beziehen sich die Deutschland betreffenden Ausführungen in erster Linie auf solche städtischen Handwerksberufe, die bis ins 19. Jahrhundert hinein zünftig und nach Einführung der Gewerbefreiheit innungsmäßig verbunden blieben.

1. Der »heimliche Lehrplan« der englischen Handwerkslehre Wichtigster Zweck der Handwerkslehre war es, einem jungen Mann die Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die er benötigte, um in seinem Beruf seinen Lebensunterhalt zu verdienen. So wurde ein Schneiderlehrling, 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

nachdem er sich beim Ausfegen der Werkstatt, beim Aufrollen von Nähgarn und bei der Überwachung der Bügeleisentemperatur bewährt hatte, in die tieferen Geheimnisse der Profession eingeweiht. Er übte sich in diversen Stichen und Nähten, lernte den Nähfaden fachmännisch abzubeißen, erfuhr, was bei der Verarbeitung verschiedener Stoffarten zu beachten sei, wie man ein Tuch verderben und wie man Fehler gegebenenfalls wieder ausbügeln konnte. Anfangs übte er »trocken«, an Flicken; später mußte er wie die Gesellen Hosen und Westen zusammennähen, und wenn seine Ausbildung umfassend war, durfte er sich auch an Jackets versuchen. Mit der Zeit gewöhnte sich der Lehrling daran, sich so mit gekreuzten Beinen, im »Schneidersitz«, auf den Tisch oder den Boden zu setzen, daß er sich keine Druckstellen an den Fußknöcheln zuzog, und er machte die Erfahrung, daß ihm schwere Kost aufgrund seiner Arbeitshaltung nicht bekam. 190 In diesem offiziellen, fachlichen Teil der Ausbildung dürften ein englischer und ein deutscher Schneiderlehrling ungefähr dasselbe gelernt haben; Zuschneideunterricht erhielt keiner von beiden. Aber die Handwerkslehre hatte auch einen inoffiziellen Teil. Ihre Rahmenbedingungen stellten das Gerüst für den »heimlichen Lehrplan« dar, der- wie es in jedem allgemeinbildenden Unterricht geschieht - dazu beitrug, daß Verhaltensstandards, Normen und Werte beiläufig und meist unbeabsichtigt von einer Generation zur anderen weitergegeben wurden. 191 Daß der englische Lehrling in dieser Hinsicht andere Erfahrungen machte als der durchschnittliche deutsche, hängt zu einem wesentlichen Teil mit der Rolle der Lehre in der englischen Handwerkstradition zusammen. Nach der Erosion der Zunftverfassung war das Statute of Artificers and Apprentices von 1563, das u. a. die siebenjährige Lehrzeit als Voraussetzung für die Ausübung eines Handwerksberufs verpflichtend gemacht hatte, als einziges Instrument zur Regulierung des »trade« übriggeblieben. Prinzipiell stellte es ein brauchbares Instrument dar. Erstens war die gesetzliche Verankerung der sieben Jahre geeignet zu verhindern, daß un- und angelernte Arbeiter den »respectable artisans« ins Handwerk pfuschten. Zweitens beschränkte die lange Lehrzeit den Zustrom auch des qualifizierten Nachwuchses. Drittens stellte sie die Grundlage für eine umfassende Berufsausbildung der Gesellen dar. In der Praxis wurde das Lehrlingsgesetz jedoch schon bald nach seinem Erlaß häufig unterlaufen (Verkürzung der Lehrdauer, »Lehrlingszüchterei« seitens der Meister), und die Friedensrichter waren im allgemeinen nicht bereit, Gesetzesverstöße zu ahnden. Sie fühlten sich dem Common Law verbunden, demzufolge jeder Engländer jeden Beruf ungehindert ausüben konnte. In der Sache nahmen sie damit die Position der Verfechter des Laissez faire vorweg, die 1814 die Aufhebung des Statute of Artificers durchsetzten - gegen den massiven Protest von Handwerkern.192 Nicht ohne Berechtigung haben Lujo Brentano und die Webbs darauf hingewiesen, daß das schwindende Interesse der Staatsorgane an der Durchsetzung der Lehrlingsgesetze gewerkschaftliche Aktivitäten geradezu pro68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

voziert habe.193 War die aktive Verteidigung von Sitte und Herkommen durch Koalitionsbildung und »industrial action« vor 1814 eine notwendige Ergänzung der Legitimitätsgrundlage des Gesetzes gewesen, so führte nach 1814 kein Weg mehr an der Eigeninitiative der Handwerker vorbei. Die Angehörigen der erst im Laufe des 17./18. Jahrhunderts entstandenen Berufe, für die das Lehrlingsgesetz nicht galt, waren ohnehin auf sich selbst gestellt. Im Zuge der beruflichen Sozialisation des Nachwuchses eine gewisse Offenheit für die Probleme des »trade« zu erzeugen, war in dieser Situation unabdingbar. Dabei erfüllte der »heimliche Lehrplan« der englischen Handwerksausbildung eine zentrale Funktion. Daß neben dem offiziellen ein »heimlicher Lehrplan« existierte, dem auch dann Rechnung zu tragen war, wenn man seine Anforderungen persönlich nicht billigte, merkte ein englischer Lehrling schon ganz am Anfang seiner langen Ausbildungszeit. Die erste verantwortungsvolle Aufgabe, die ihm übertragen wurde, war meist, »to keep nix«, d.h. er mußte »Schmiere stehen« und achtgeben, ob der Meister, der Vorarbeiter oder eine andere Aufsichtsperson im Anmarsch war. Er hatte die Gesellen zu warnen, die gerade verbotenerweise rauchten, Schnaps tranken oder auf eigene Rechnung arbeiteten (»jobs for the King«). 194 Indem die Gesellen vom Lehrling verlangten, daß er mitrauchte, daß er Alkoholika in die Werkstatt einschleuste oder daß er sich an den verschiedenen Formen der Rohstoffunterschlagung beteiligte (Schneidergesellen trieben ζ. Β. häufig Handel mit Nähseide aus Werkstattbeständen),195 machten sie ihm deutlich, daß nicht nur seine fachlichen Qualitäten gefragt waren, sondern daß es daneben auf seine Bereitschaft ankam, sich in die Werkstattgemeinschaft einzufügen. Auch dann, wenn der Lehrling durch einen Lehrvertrag nicht an einen Gesellen, sondern an den »master« gebunden war, blieb er häufig auf die Ausbildungsleistungen der Gesellen angewiesen,196 zumal der »master« nicht immer vom Fach war. Deshalb war es ratsam für den Lehrling, sich auf solche »symbolic acts of a labour Community« (Holbrook-Jones)197 auch dann einzulassen, wenn sie mit der offiziellen Werkstattordnung kollidierten. Nur dann war gewährleistet, daß er in alle Geheimnisse seines Berufs eingeweiht würde. Umgekehrt galt: »(A) clever smuggler... is regarded by the lushingtons as a gern among boys, who must turn out a first-rate workman; and to him they will, in due course of time, teach the cunningest trade wrinkles of which they are the masters. «198 Der Lehrling, der sich in solchen Dingen nicht als kooperativ erwies, sich z. Β. weigerte, ein relativ hohes Einstandsgeld an die Gesellen zu zahlen (»father money«), oder der sich gar beim Meister beschwerte, hatte ein schweres Dasein. Er mußte nicht nur die üblichen harmlosen Neckereien hinnehmen, die z. Β. daraufhinausliefen, daß er einen Schraubenzieher für Linkshänder besorgen oder, wie es mancher Schneiderlehrling erlebte, den Kasten mit den Knopflöchern suchen sollte, sondern er hatte mit gezielten 69 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Schikanen im Arbeitsalltag und nach Feierabend zu rechnen. Einem nicht kooperativen Lehrling konnte es durchaus passieren, daß er sein Werkzeug vom »Werkstattgeist« durcheinandergebracht oder zerstört vorfand oder daß er gelegentlich kräftig durchgeprügelt wurde. 199 Sich der informellen Werkstattordnung unterzuordnen, war nicht immer leicht und zum Teil auch mit Kosten verbunden, die ein Lehrling von seinem geringen Lohn nur schwer aufbringen konnte. Bei den Schneidern war es z. Β. üblich, daß er sich jedesmal, wenn ihm ein Geselle etwas Neues beigebracht hatte, mit einem Bier erkenntlich zeigen mußte: »Lacing pints«, »pressing pints« etc. standen an. Der junge Mann wurde so schon früh mit einer Praxis vertraut gemacht, die auch die Gesellen unter sich pflegten. Bei den verschiedensten Gelegenheiten war eine - nicht immer unbedeutende Geldsumme (»footing«) in die Getränkekasse einzuzahlen; damit wurde dann an bestimmten Abenden ein gemeinsamer Besuch im Pub finanziert. Jeder neue Kollege mußte seinen Einstand geben; jeder, der in der innerbetrieblichen Hierarchie aufrückte, der heiratete oder Vater geworden war, der ein neues Kleidungsstück trug usw., wurde zur Kasse gebeten. Selbst für Wanderer, die lange arbeitslos gewesen waren, und für Gesellen, deren Familien das Geld nötiger gehabt hätten, gab es kein Pardon. Jeder Arbeiter mußte seine Bereitschaft, sich in die Werkstattgemeinschaft einzufügen, zu erkennen geben, und dies immer von neuem: »(I)t is the rule of the trade. « 200 Daß niemand vom Zwang des »footing«-Zahlens ausgenommen wurde, hing darüber hinaus mit dem Egalitätsprinzip zusammen, dessen Wahrung eine zentrale Anforderung der informellen Werkstattordnung war. Die Nutznießer des Geldes waren der Meinung, »that they have paid it, and that they have consequently a right to expect others to pay it«. 201 Daß es nicht der »trade and Workshop etiquette«202 entsprach, wenn jemand aus der Reihe tanzte, erfuhr ein Lehrling bei zahlreichen Gelegenheiten. War ein angehender Schneider z.B. auf Empfehlung eines Kunden bzw. eines Verwandten oder Bekannten des Meisters angenommen worden (»ridden into the shop on a white horse«), wurde ihm das immer wieder vorgehalten. Wohnte er beim »captain« der Werkstatt, war es ratsam, das geheimzuhalten; es hätte ihm leicht als Anbiederungsversuch ausgelegt werden können. Solche Vergehen wurden zum Teil mit freundlichem Rückenkraulen (»crawling«) geahndet; zum Teil zogen sie eine Geldstrafe nach sich. Gesellen und Lehrlinge, die sich als »fire eaters« betätigten, d.h. ein schnelleres Arbeitstempo vorlegten als im Shop üblich, oder die nachts arbeiteten (»baking«), wurden ebenfalls in ihre Schranken verwiesen: »(T)here was everything done to ensure fair play and prevent favouritism in the shop. «203 Sich in jeder Hinsicht mit der »trade and Workshop etiquette« vertraut zu machen, hatte ein Lehrling im Laufe seiner langen Ausbildungszeit reichlich Gelegenheit. Er erfuhr, unter welchen Umständen man vom Meister Sonderzulagen erhalten konnte, wie anstrengend ein »job« oder wie hoch die Temperatur in der Werkstatt zu sein hatte, damit man ein Bier oder einen 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Grog fordern durfte (»to kick the master for allowance«); er lernte, welche Tätigkeiten noch in die Kompetenz des eigenen Berufs fielen und wann man einem benachbarten Gewerbe in die Quere kam; und er prägte sich ein, bei welchen Tätigkeiten man sich von einem ungelernten Hilfsarbeiter assistieren lassen durfte.204 Allmählich entwickelte der junge Mann auch ein Gefühl für die informelle Werkstatthierarchie, die einem Außenstehenden verborgen blieb. Im Schneidergewerbe mußten Neuankömmlinge z. Β. grundsätzlich für eine gewisse Zeit mit schlecht beleuchteten und im Durchzug liegenden Arbeitsplätzen vorliebnehmen, und erst nach einer Bewährungsphase konnten Hosenschneider zum Westen- oder Sakkoschneider aufsteigen. Die Beförderung erfolgte nur über den »captain«, einen besonders qualifizierten und erfahrenen Arbeiter, die Schlüsselfigur des Shop. An ihn hatte sich ein Geselle auch zu wenden, wenn er an Zuschneideunterricht interessiert war. Nur der »captain« würde, nach Rücksprache mit dem »master« und dem Zuschneider, den Posten eines »cutter's assistant« vermitteln können.205 Im Zuge seiner Ausbildung erfuhr ein Berufsaspirant schließlich, daß derjenige Geselle als »intelligent artisan« angesehen wurde, der zu berichten wußte, daß »old Dany Robinson's shop is the very worst shop to work in, principally because old Dany goes pawling about the shop all day long, watching his workmen«. Und er lernte, daß der Arbeiter Achtung genoß, der sich kompetent zu Fragen von »rights and dignity of labour« sowie über »the tyranny of capital, electoral rights, universal suffrage and other kindred topics« äußern konnte.206 Aus den Erzählungen von »old hands« hörte der Lehrling von den wichtigsten Arbeitskämpfen seines »trade«, welche Meister und Gesellen beteiligt gewesen waren und welche Streiktaktik man angewandt hatte. Mit Entrüstung ließ er sich von einer »proscribed and hatred race of beings called nobsticks or black sheep« berichten, und ihm wurde klargemacht, daß er dann, wenn er einmal einem Streikbrecher begegnen sollte, seine Pflicht zu tun und ihn niederzuschlagen habe. Umgekehrt lernte er, daß die Vorstellung eines Arbeiters mit der Bemerkung »he's in the trade« ihm genügen mußte, um den neuen Kollegen zu akzeptieren, »irrespective of position and appearance«, und daß von einem noch ledigen Jung-Gesellen erwartet wurde, in schlechten Zeiten statt des Kollegen auf die Wanderschaft zu gehen, sofern dieser eine Familie zu unterhalten hatte.207 Für solche Dinge interessierte sich ein Lehrling um so stärker, je deutlicher das Ende der Lehrzeit sich abzeichnete und je näher die Zeit rückte, in der er Verantwortung für eine Familie zu tragen haben würde. Sofort nach Beendigung der Lehre zu heiraten, war nicht ungewöhnlich; von seiner künftigen Ehefrau hatte er den Gesellen häufig berichten müssen - mochte sie auch vorerst nur in seiner Phantasie existieren. Dank seiner fachlichen Fortschritte fand der Lehrling nun auch zunehmend Anerkennung als geschickter Arbeiter, und im letzten Lehrjahr deuteten ihm die Gesellen an, daß seine 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Meinung nicht mehr als unmaßgeblich angesehen würde. Der Lehrling durfte zu den Sitzungen des »trade club« erscheinen und wurde aufgefordert, »to put in his word«. 208 Auf diese Weise legten sich allmählich seine Ressentiments gegen die Gesellen, die ihm anfangs wegen ihres strengen Regiments und wegen ihrer rauhen Umgangsformen, ihrer Flüche und obszönen Redeweise suspekt und zum Teil geradezu verhaßt gewesen waren. 209 Zugleich wuchs die Distanz zur peer group der Lehrlingskollegen, mit der er bisher seine Freizeit verbracht hatte.210 Die Loslösung aus dem Lehrlingsmilieu wurde noch dadurch vorangetrieben, daß der fortgeschrittene Lehrling nun zunehmend selber als Ausbilder für Jüngere eingesetzt wurde. Aber erst die formelle Beendigung der Berufsausbildung, die mit viel Lärm, Alkohol und zum Teil - allerdings nicht bei den Schneidern - mit Initiationsriten gefeiert wurde, erlöste ihn aus seiner Rolle zwischen den Stühlen.211 Daß er sich in der neuen Gesellenrolle sofort zurechtfinden konnte, verdankte er seiner langen Berufsausbildung; die Sozialisation nach dem »heimlichen Lehrplan« hatte ihm Verhaltenssicherheit verliehen: »What a knowledge of the world is to the man of the world, a knowledge of the social life of Workshops is to the working man; it will enable him to push through where others would stick; to make friends readily; to avoid those whose acquaintance would be unprofitable; to get mates to put in a good word for him when he is out of work; and to go smoothly with those with whom he is connected when in work. On the other hand, a man who is ignorant of the social part of Workshop life, or who lacks tact in practising it, will, although he may be a good man and clever workman, find the Workshop world a harsh, unsympathetic, and unjust world to him. «212

2. Die Ausbildung des deutschen Handwerksgesellen a) Die Lehre Warum diese ausführliche Schilderung? Was war, abgesehen von einigen Kuriosa, das Besondere der englischen Handwerkslehre des 18. und der ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts? Gibt es einen »heimlichen Lehrplan« in anderer Form, aber mit denselben Funktionen nicht in jeder Berufsausbildung? Erzeugt nicht jede Gemeinschaft durch ähnliche Mechanismen ein Zusammengehörigkeitsgefühl? In der Tat ist viel von dem, was die Sozialisationsleistungen der englischen Handwerkslehre ausmachte, weder typisch englisch noch typisch handwerklich und auch nicht typisch für das 18. oder 19. Jahrhundert. Daß Lehrlinge sich im Zuge ihrer Berufsausbildung kollegial zu verhalten lernen, ist sicher immer noch eine Begleiterscheinung der Lehrzeit, und kleinere und größere Unregelmäßigkeiten, Einstandszahlungen und Alkohol am Ar72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

beitsplatz kommen bei Auszubildenden und Arbeitnehmern auch heute vor. Der »Dienst nach Vorschrift« gilt als Arbeitskampfmaßnahme. Die Tatsache, daß sich in deutschen Handwerkermemoiren aus dem 18./19.Jahrhundert nicht solche ausführlichen Schilderungen der Lehre und schon gar keine interpretierenden Kommentare zu einzelnen Sozialisationseffekten finden213 wie in den zahlreichen englischen Quellen zum Thema, ist zwar noch kein Beleg dafür, daß es entsprechende Mechanismen der Solidaritätserzeugung in der deutschen Lehre nicht gegeben hat; es ist jedoch ein erster Anhaltspunkt. Berücksichtigt man die Konsequenzen der spezifisch deutschen Handwerkstradition, insbesondere des Meister-Geselle-Gegensatzes, für die Lehre, fallen darüber hinaus einige reale deutsch-englische Unterschiede ins Auge. Erstens war die Lehre in Deutschland nur ein Teil der traditionellen Handwerkerausbildung. Mit der Schließung der Zünfte im 16. /17. Jahrhundert waren Wanderzeit und Meisterprüfung hinzugekommen. Die Absolvierung einer Lehre verlieh also einem jungen Mann noch nicht den Status des vollberechtigten Handwerkers, sondern erst den zweiten von drei Graden seines Berufsstandes. Mit Bezug darauf trauten Zünfte, Innungen und Behörden nur dem geprüften Meister und Bürger, nicht auch dem Gesellen die Lehrlingsausbildung zu. Da der Meister im »alten Handwerk« durchweg selber mitarbeitete, behielt er Gesellen und Lehrlinge weitgehend unter Kontrolle. Deshalb konnte bei der Lehrlingsausbildung kaum ein im Arbeitnehmerinteresse funktionierender »heimlicher Lehrplan« zur Anwendung kommen, mochte der Meister auch gelegentlich einen seiner Gesellen mit der Unterweisung des Jungen beauftragen. Eine zentrale Voraussetzung für die relative Autonomie der Belegschaft des traditionellen englischen Handwerksbetriebs fehlte in Deutschland, zumindest im zünftigen Gewerbe: Die Kommerzialisierung des Handwerks, die das Anwachsen der Betriebsgröße und die Ausdifferenzierung von Produktion und kaufmännischem Bereich nach sich zog, hatte sich, wie anhand des Schneidergewerbes demonstriert, nicht wie in England schon seit dem späten 17. Jahrhundert entwickelt, sondern sie begann erst im Vormärz. Erst für die 1830er/1840er Jahre häufen sich Hinweise auf die Existenz von großen Schneidereien mit 20, 40, teilweise bis zu 100 Beschäftigten, zum Teil sog. »Kundenwerkstätten«, zum Teil für Magazine arbeitende Betriebe. 214 Und erst für die 1840er/l850er Jahre berichten ζ. Β. Berliner Gewer­ bepolizeiakten über eine völlig neue Art von »Handwerksmißbrauch«, der seit einiger Zeit in großen Schneidereien eingerissen sei: In Werkstätten unter den Linden, in der Schloßgegend und in anderen eleganten Straßen, im Grunde aber in allen Werkstätten von Bedeutung, achtete nun ein von der Belegschaft gewählter »Präsident« auf die Einhaltung einer »Werkstattetikette«, ähnlich wie sie mit Bezug auf England geschildert wurde. 215 Erst jetzt, als sich das »alte Handwerk« aufzulösen begann, als sich kapitalkräftige Schneidermeister und Kaufleute wie die englischen »Master Tailors« 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

vordringlich ihrer zahlreichen Kundschaft widmeten, nur noch über Vorarbeiter mit den Gesellen kommunizierten und sich um die Lehrlingsausbildung nicht mehr persönlich kümmerten,216 bestand die Chance, daß sich neben der offiziellen eine inoffizielle Werkstattordnung entwickeln und zur Erzeugung eines Lohnarbeiterbewußtseins nutzbar gemacht werden konnte. Erst mit der ausgeprägten Arbeitsteilung im handwerklichen Großbetrieb konnten sich auch innerbetriebliche Hierarchien und Aufstiegsmöglichkeiten entwickeln. Im »alten Handwerk« war der berufliche Aufstieg nur über die Meisterprüfung vor der Zunft, d. h. vor einer außerbetrieblichen Instanz, möglich gewesen. Gute Beziehungen zu Kollegen, ohne die das berufliche Fortkommen in England kaum gelingen konnte, hatten in Deutschland für die Verbesserung von Status und sozialer Lage keine Bedeutung gehabt. Ein zweites Hindernis für die Verbindung von Berufsausbildung und Lohnarbeitersozialisation ergab sich daraus, daß die Lehrzeit in Deutschland traditionell nicht sieben, sondern im allgemeinen nur drei Jahre dauerte. Konnte kein Lehrgeld bezahlt werden, verlängerte sie sich auf vier Jahre; für Meistersöhne waren dagegen nur zwei Jahre verpflichtend - sofern man von ihnen überhaupt eine Lehre verlangte, weil sie vom Vater ausgebildet wurden. Die relativ kurze Dauer der Lehrzeit in Deutschland hatte zwei Konsequenzen. Zum einen war die Chance, den jungen Mann mit den Gepflogenheiten des Gesellenlebens vertraut zu machen, in drei Jahren geringer als in sieben. Zum anderen dürfte der deutsche Lehrling bei Beendigung seiner Lehre weniger Verständnis für den »Ernst des Lebens« aufgebracht haben als der englische. Während letzterer, sofern dem Statute of Artificers and Apprentices in jeder Hinsicht Rechnung getragen werden sollte, nicht vor dem 24. Lebensjahr entlassen wurde, 217 war der deutsche Lehrling höchstens 16 bis 18Jahre alt, wenn er ausgelernt hatte.218 In diesem Alter dachte er im allgemeinen noch nicht wie der englische Berufsanfänger an die Familiengründung, zumal Zunftordnung und Herkommen von ihm verlangten, daß er auch als Geselle ledig blieb. Darüber hinaus erschien eine feste Bindung nicht angebracht, solange die gesetzlich vorgeschriebene Wanderzeit und der Militärdienst nicht absolviert waren. Weitere Verzögerungen - etwa durch die Arbeitsmarktlage - waren nicht auszuschließen. Noch in den 1860er Jahren galt »in den meisten Fällen« für den Schneidergehilfen, daß er »erst mit den 30er und 40er Jahren eine bleibende Stätte findet«.219 Dem Lehrling konnte das nicht verborgen bleiben. Vertraut man den Handwerkermemoiren, dann sah er am Ende der drei Jahre vor allem im ungebundenen Leben eines Wanderburschen seine Perspektive für die nähere Zukunft. Mit der Routine des Lohnarbeiterlebens würde er noch wenig zu tun haben; warum sollte er sich besonders dafür interessieren?220 Daß sowohl der Lehrling als auch der Großteil der Gesellen des »alten Handwerks« in Kost und Logis beim Meister wohnten, hatte drittens zur Folge, daß das Repertoire an erzieherischen Maßnahmen - auch für die 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Gesellen untereinander-eingeschränkt war. Im wesentlichen bestand es aus körperlicher Züchtigung. Eine Umformung und Anonymisierung in eine symbolische Geldstrafe, die im englischen Handwerk die Einsicht in eine Regelverletzung erleichterte und - da man die »footings« für gemeinsame Trinkgelage sammelte - letztlich zur Beilegung von persönlichen Differenzen geeignet war, konnte kaum stattfinden, weil der »cash nexus« erst unvollkommen ausgebildet war. Versuche der Gesellen, der Meisterorientierung des Lehrlings entgegenzutreten, waren daher weitgehend zum Scheitern verurteilt, denn für den Jungen lag es nahe, Prügel und sonstige Schikanen als boshafte und sadistische Ausfalle einzelner zu interpretieren. Er differenzierte auch nicht zwischen den Schlägen vom Meister und den Schlägen von Gesellen; beide Statusgruppen bereiteten ihm auf dieselbe Weise Verdruß.221 Den zum Teil brutalen Initiationsriten (»Schleifen«, »Hobeln« etc.), die - sofern das gesetzliche Verbot von »Handwerksmißbräuchen« übergangen wurde - zum Teil auch in Deutschland den Übergang zum Gesellenstand begleiteten, konnte der junge Mann in diesem Rahmen wenig Positives abgewinnen.222 Sie mußten ihm als Höhepunkt einer Serie körperlicher Züchtigung erscheinen, die er im Laufe der Lehrzeit erfahren hatte. Verständlicherweise erschien die Lehre dem Handwerker - so der Eindruck, den die Memoiren vermitteln - auch im Rückblick noch als verlorene Zeit; »fürs Leben« meinte er erst auf der Wanderschaft gelernt zu haben.223 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die traditionelle Handwerkslehre in Deutschland kaum geeignet war, ein Gefühl der Kollegialität und Solidarität unter den Beschäftigten zu wecken. Erst mit der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien im Gewerbe wurden die skizzierten ungünstigen Umstände nach und nach beseitigt. Doch war damit der Weg offen, die Handwerkslehre für gewerkschaftliche Zwecke einzusetzen? Sicher war das nicht der Fall, denn die Anpassung an »englische Verhältnisse« wurde durch verschiedene Faktoren verzögert und erschwert. Einige Hindernisse ergaben sich daraus, daß die gewerbliche Ausbildung auch noch Jahrzehnte nach den Umstrukturierungen des zweiten Jahrhundertdrittels fest in den Händen des traditionellen kleinen Handwerksmeisters blieb und sich damit, anders als in den vergleichbaren englischen Fällen, aufgrund des Meister-Geselle-Gegensatzes gewerkschaftsschädigend auswirkte. Während die Lehrlingsausbildung für Großbetriebe kaum Kosten verursachte, weil qualifizierte Arbeiter als Ausbilder abgestellt werden mußten, konnte der kleine Meister die jungen Leute auch als billige Arbeitskräfte einsetzen. Arme Schneider, die für Magazine arbeiteten, kalkulierten das Lehrgeld fest ein und betrieben die Lehrlingausbildung in den 1860er Jahren geradezu geschäftsmäßig. Noch Anfang der 1880er Jahre rekrutierte auch die Fabrikindustrie qualifizierte Arbeiter vorwiegend aus dem handwerklichen Kleinbetrieb.224 Das schnelle Tempo der Industrialisierung eröffnete außerdem die Mög75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

lichkeit, auch als Ungelernter oder Angelernter unterzukommen. Zahlreiche junge Leute verzichteten deshalb, aber auch aus finanziellen Gründen, überhaupt auf eine Lehre und ließen sich sofort als Jungarbeiter anstellen. Charakteristischerweise bestand in der »Großen Depression« seit 1873 ein permanentes Überangebot an unqualifizierten Arbeitskräften, während gelernte Handwerker und Facharbeiter gesucht waren. 225 Daß es nach der Jahrhundertmitte im Schneidergewerbe allmählich üblich wurde, Lehrlingen ein »Kostgeld« zu zahlen, und daß ausbildungswillige Meister Eltern und Vormündern eine »humane Behandlung« des Schutzbefohlenen zusicherten, war nicht zuletzt eine Reaktion auf diesen Mangel. 226 Doch selbst in den Fällen, wo Lehrlinge im handwerklichen Großbetrieb den Gesellen zur Ausbildung überlassen wurden, dürfte nicht immer einem gewerkschaftlichen Problembewußtsein vorgearbeitet worden sein. Wie erwähnt, hatte sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst ein Teil der Gesellen mit der lebenslangen Lohnarbeiterrolle abgefunden. Viele hegten immer noch das Ideal, einmal Meister zu werden, und vermittelten, davon kann man ausgehen, einem Lehrling eine gewisse Geringschätzung des Gesellenstandes. Erst wenn die Lohnarbeiterrolle allseits akzeptiert war, konnte auch ein Faktor wirksam werden, der die Lehrlingssozialisation in England häufig unterstützte: die Vererbung des Berufs vom Vater an den Sohn. Aufgrund des traditionellen Heiratsverbots für Gesellen kam Berufsvererbung in Deutschland im wesentlichen nur vom Meistervater zum Meistersohn vor. Das begünstigte allenfalls die Sozialisation von Gewerkschaftsgegnern. Allgemeinen Daten zur Berufsvererbung unter Gesellen liegen aus Deutschland nicht vor, jedoch dürfte der Prozentsatz auch in der zweiten Jahrhunderthälfte noch recht niedrig gewesen sein. Noch 1875 waren ζ. Β. selbst in einer Stadt wie Leipzig durchschnittlich erst 34 Prozent der männlichen Handwerksgehilfen und qualifizierten Fabrikarbeiter verheiratet und kamen damit, sieht man einmal von unehelichen Geburten ab, überhaupt nur als potentielle Berufsvererber in Frage.227 Berücksichtigt man, daß der Verheiratetenanteil unter den Gesellen eine oder zwei Generationen zuvor noch erheblich unter diesem Prozentsatz gelegen haben muß, wird deutlich, daß die Gründerväter der deutschen Gewerkschaften von diese Seite kaum Unterstützung erhalten haben können. Von vierzehn englischen Gewerkschaftsführern der 1870er Jahre, für die entsprechende Informationen vorliegen, hatten dagegen acht denselben Beruf wie ihr Vater ergriffen und zwei weitere waren zumindest in derselben Branche tätig.228 Darin spiegelt sich die Tatsache, daß Berufsvererbung - traditionell vom Gesellenvater zum Gesellensohn - in England recht häufig vorkam, im Schneidergewerbe allein deshalb, weil viele Eltern Geld sparen wollten, indem der Vater den Sohn persönlich ausbildete.229 Stichproben aus mehreren englischen Städten zufolge, die in verschiedenen handwerklichen und hochqualifizierten Facharbeiterberufen vorgenommen 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

wurden, erlernten noch um 1870, als die Hochphase der Industrialisierung viele neue Beschäftigungssmöglichkeiten geschaffen hatte, im allgemeinen mindestens 40 bis 50 Prozent der Söhne denselben Beruf wie ihre Väter.230 Dabei dürfte, wie es z. Β. für den Schneidersohn Peter Shorrocks, seit Ende der 1860er Jahre Vorsitzender der Amalgamated Society of Tailors, nachzuweisen ist, nicht nur ein Gefühl für die ständische Komponente des Berufs, die »Handwerksehre«, tradiert worden sein, sondern auch und vor allem das Grundwissen über Möglichkeiten der strategischen Ausnutzung der Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt.231 Ein weiteres, hier nur der Vollständigkeit halber erwähntes Hindernis für die Sozialisation von potentiellen Gewerkschaftern in der Lehre, der Ausbau des staatlichen und privaten Gewerbeschulwesens, entwickelte sich im Untersuchungszeitraum erst sehr langsam. Auf diese in Reaktion auf unzureichende Kenntnisse des Facharbeiternachwuchses errichteten außerbetrieblichen Sozialisationsinstanzen, die dazu angetan waren, die Autorität der betrieblichen Ausbilder beim jungen Handwerker zu unterminieren, konnten gewerkschaftlich interessierte Kreise kaum Einfluß nehmen; sie waren im allgemeinen fest in der Hand von Unternehmern, Bildungsbürgern und des Staates. England hinkte Deutschland im Gewerbeschulwesen deutlich hinterher, obwohl das liberale Bürgertum, u. a. auch das Unternehmerverbandsorgan »Capital und Labour«, sich seit der Jahrhundertmitte dafür einsetzte, die Anstöße aus dem Ausland aufzunehmen.232

b) Die Wanderschaft Die Lehre war in Deutschland nur die erste Phase der traditionellen Handwerkerausbildung. Kam in der zweiten Phase, der Wanderzeit, die die Ausbildungsdauer auf die in England üblichen sieben Jahre ausdehnte, nachträglich ein »heimlicher Lehrplan« zum Tragen? Sah sich der junge Geselle nun veranlaßt, sich kollegial und solidarisch zu verhalten? Was lernte erjetzt? Folgt man den Handwerker-Memoiren, wurde die Wanderzeit in erster Linie als Chance zum Bildungskonsum im bürgerlichen Sinn verstanden. Der Bursche zog in berühmte Städte, besichtigte dort die Sehenswürdigkeiten und lernte fremde Sitten und Gebräuche kennen. Wanderte er ins Ausland, eignete er sich eventuell eine Fremdsprache an. Darüber hinaus gewährte ihm die Wanderzeit Muße zum Lesen sowohl eines »guten Buchs« als auch von subversiven Schriften, und er hatte reichlich Gelegenheit zu politischen und religiösen Diskussionen mit Reisegefährten. In fachlicher Hinsicht gewann er an Routine und machte sich mit besonderen, zum Teil nur in bestimmten Regionen angewandten Techniken vertraut.233 Doch in sozialer Hinsicht lernte der Wandergeselle wenig, wovon Gewerkschaften oder ihre Vorläufer hätten profitieren können. Ihnen konnte er im wesentlichen nur 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

dadurch nutzen, daß er die überlokalen Kommunikationsstrukturen des Berufs aufrecht- und geheimzuhalten half Aber diese Funktion verlor mit der Verbreitung technischer Kommunikationsmittel (Eisenbahn, Zeitungen, Telegraph) sowie mit der Aufhebung der Koalitionsverbote an Bedeutung. Abgesehen davon war das Wandern der Entstehung von Gewerkschaften eher abträglich -jedenfalls in seiner spezifisch deutschen Form, als von Gesetz und Herkommen vorgeschriebene Pflichtübung von Berufsanfängern.234 Der Vergleich mit der englischen Form des Gesellenwanderns macht das besonders deutlich. Der wandernde englische Handwerker war grundsätzlich - wie auch mancher ältere Wanderer in Deutschland - ein vollausgebildeter Geselle, der arbeitslos geworden war. Aufgrund seiner familialen und sonstigen sozialen Bindungen an den Ort faßte er den Entschluß zum Wegzug erst dann, wenn die Lage auf dem lokalen Arbeitsmarkt völlig hoffnungslos erschien. Auf die Wanderschaft zu gehen, um sich fortzubilden oder sich einkommensmäßig zu verbessern, war in England nicht üblich, zumal die »trade societies«, die den Gesellen für seine Reise mit Geld ausstatteten, in diesem Fall keine Unterstützung gewährten.235 In England war das Gesellenwandern also ein Diktat der Not, eine Ausnahmesituation im Berufsleben eines Handwerkers, die er möglichst schnell wieder beenden wollte. 236 Die Aktivität, die der englische Wanderer entfaltete, war deshalb zielstrebig auf den Produktionsbereich, nicht wie die des bildungsbeflissenen deutschen Wanderburschen auch auf den Reproduktionsbereich bezogen. Überspitzt formuliert, galt in England, daß der Geselle wanderte, um zu arbeiten, während der junge deutsche Handwerker arbeitete, um zu wandern. Unter anderem als Folge davon bestand die Wanderzeit des letzteren, wie man anhand von Wanderpässen (»Kundschaften«) nachvollziehen kann, häufig zu einem überproportionalen Teil aus Reise- und nicht aus Beschäftigungsphasen.237 Als fester Bestandteil der Berufsausbildung trug das Gesellenwandern in zahlreichen zünftig bzw. innungsmäßig verbundenen städtischen Handwerksberufen zur Entstehung eines gespaltenen Arbeitsmarktes bei, auf dem junge Wanderburschen als Mitglied einer »floating population« zu den Benachteiligten gehörten.238 Während den englischen Wandergesellen (und den älteren deutschen Arbeitslosen) prinzipiell nichts daran hinderte, ein langfristiges Beschäftigungsverhältnis einzugehen und sich in die Stammbelegschaft eines Betriebes (wieder-)einzufügen, zählte der junge deutsche Geselle über vier Jahre oder länger239 in jeder größeren Werkstatt zur Randbelegschaft. Gesetz und Herkommen verlangten von ihm, daß er sich nicht »vor der Zeit« an einem Ort niederließ und seßhaft wurde. Über die unterste Stufe der innerbetrieblichen Hierarchie würde er in der kurzen Zeit seiner Beschäftigung nicht hinauskommen, und in konjunkturellen Flauten würde ihm als einem der ersten gekündigt werden. Seine Perspektive war kurzfristig. Aus seiner Sicht galt das auch deshalb, weil er dann, wenn ihm die Stelle aus irgendeinem Grund nicht oder nicht mehr zusagen sollte, selber kündi78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

gen konnte. Wo ihm die Kündigungsfrist zu lange dauerte, konnte er die Entlassung provozieren, und nach Einführung der Gewerbefreiheit, als der sog. »Kontraktbruch« kein Delikt mehr war, für das sich die städtische Polizeibehörde interessiert hätte, brauchte er sich nicht einmal mehr diese Mühe zu machen.240 Er war ungebunden und niemandem verpflichtet. Dem Meister gegenüber war ein Wandergeselle so zwar prinzipiell relativ konfliktfähig, doch mußte das nicht immer im Interesse der schon länger am Ort beschäftigten Mitglieder der Stammbelegschaft sein. Vor allem im Baugewerbe, das schon im 18. Jahrhundert großbetriebliche Strukturen aufwies und Berufe mit einem hohen Verheiratetenanteil unter den Gesellen umfaßte, durchkreuzte eine Minderheit von fremden Gesellen häufig durch überzogene Ad-hoc-Forderungen die längerfristigen Arrangements der einheimischen Mehrheit mit den Bauunternehmern. In Norddeutschland existierten informelle, von einzelnen Herbergswirten unterstützte Verbindungen von ledigen »fremden Maurern«. Sie provozierten Konflikte mit den Meistern, die sie selber- da sie weiterwanderten - wenig kosten würden, die Einheimischen aber gegebenenfalls um ihren Verdienst brachten.241 Obwohl die Gesellenaufstände des 18. Jahrhunderts in erster Linie von Wanderern getragen wurden, zeichneten sich die fremden Gesellen der meisten anderen Berufe nicht durch eine zu große, sondern eher durch eine zu geringe Konfliktbereitschaft aus. Denn es war das Bestreben des jungen Burschen, in der kurzen Zeit seiner Beschäftigung solche Tätigkeiten zu verrichten, bei denen er etwas lernen konnte, und viel zu verdienen, daß ihm eine Rücklage für die Fortsetzung seiner Tour möglich war. Beides verlangte im traditionellen Handwerk ein gutes Verhältnis zum Meister, das ein Wandergeselle allenfalls unter massivem Gruppendruck aufs Spiel setzte.242 Von sich aus im Arbeitstalltag gegenüber den Stammarbeitern zurückzustecken und sich gegebenenfalls der informellen Werkstattordnung eines großen Handwerksbetriebs unterzuordnen, war für den Wanderer nicht rational, und ebensowenig hätte es sich für ihn ausgezahlt, kleinere Geldstrafen zu akzeptieren oder auf die Forderung nach Einstandsgeldern einzugehen. Das Egalitätsprinzip und die Gegenseitigkeit, auf der der Zusammenhalt der Belegschaft im englischen Handwerksbetrieb basierte, konnten während seiner Stippvisite kaum zum Tragen kommen. Charakteristischerweise waren es Wandergesellen, die sich in den 1840er/ 50er Jahren bei der Berliner Polizei darüber beschwerten, daß Neuankömmlingen in großen Schneidereien Einstandsgelder in Höhe von 20 Silbergroschen bis zu einem Taler abverlangt würden, noch bevor sie ihren ersten Lohn erhalten hätten. Davon finanzierten die ortsansässigen Schneidergesellen ihren Branntweinkonsum. Die Wanderer, nach der Reise ohnehin nicht gut bei Kasse, hielten diese Praxis für einen Verstoß »gegen die Christenpflicht«. Sie empfanden es auch als Zumutung, daß man von ihnen verlangte, mit den zugewiesenen Sitzplätzen vorliebzunehmen, sich - sofern der Militärdienst noch nicht abgeleistet war- den Vollbart abzurasieren und sich 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

in jeder Hinsicht »diesen ungünstigen Regeln, deren es noch viele giebt«, zu fügen. Wer das nicht tat, wurde, "wie in solchen Fällen in England seit langem üblich, durch »Stachelworte«, »Injurien« und »Grobheiten« aus der Werkstatt geekelt. Die denunzierten Stammarbeiter wurden in Reaktion auf solche Beschwerden auf die Polizeiwache zitiert und mußten sich für den Wiederholungsfall drei bis vierzehn Tage Gefängnis androhen lassen.243 Daß die Obrigkeit, von der er sonst so wenig Gutes zu erwarten hatte, manchem Wanderburschen im Konfliktfall näher stand als die Berufsgenossen, war sicher eine extreme, keineswegs aber eine untypische Reaktion auf die Forderung, sich unterzuordnen. Die Beschwerde bei der Polizei trug lediglich der Erfahrung Rechnung, daß in großen Werkstätten das »Schmiegen und Biegen des Gesellen vor dem Meister«244 kein geeignetes Mittel mehr war, um die individuellen Interessen durchzusetzen. Denn ein moderner Handwerker-Unternehmer duldete die relative Autonomie der Stammbelegschaft im allgemeinen stillschweigend, weil er die erfahrenen Kräfte und ihren »Präsidenten« »nicht ohne eigenen Schaden entbehren« konnte.245 Aber nicht nur das Verhältnis des Wanderburschen zu den Stammarbeitern war prekär; in umgekehrter Richtung erzeugte die Spaltung des Berufs in mobile und seßhafte Arbeiter ähnliche Spannungen. Da der junge Geselle nicht nur ökonomischen, sondern auch touristischen und Fortbildungsinteressen folgte, und da einzelne Regierungen ihren Landeskindern aus Gründen der politischen und militärischen Überwachung verboten, ins innerdeutsche oder europäische Ausland zu ziehen,246 konnte er seine Route nicht nur an der Konjunktur ausrichten. Da er außerdem über die aktuelle Arbeitsmarktlage an seinem Zielort nur unzureichend informiert war, klopfte er nicht selten im unpassendsten Augenblick an die Werkstattür, wenn die Löhne ohnehin schon gedrückt waren oder wenn ein Arbeitskampf bevorstand. Als Mitglied der »floating population« seines Berufs signalisierte er darüber hinaus den Stammarbeitern und dem Meister auch dann ein Überangebot auf dem Arbeitsmarkt, wenn tatsächlich gar keins bestand.247 So wirkte der Wandergeselle durch seine bloße Existenz disziplinierend. Verständlicherweise hielten breite Arbeiterschichten in Deutschland den Streik für eine stumpfe Waffe. Noch in den 1860er Jahren waren viele davon überzeugt, »daß das Wandern des deutschen Arbeiters unbedingt die Erfolglosigkeit von Arbeitseinstellungen nach sich ziehen müsse, da sich stets fremde Arbeiter fänden, die an Stelle der streikenden Arbeiter träten«.248 Unter diesen Voraussetzungen war das Interesse des Meisters an der Unterstützung der Wanderer größer als das der ortsansässigen Gesellen. Während erstere befürchteten, die Tramps würden die Stadt meiden, wenn sie keinen Zehrpfennig zu erwarten hätten,249 hielten letztere die Zahlung eines »Geschenks«, »bekannter maßen eine freywillige Gabe«,250 in vielen Fällen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen für dysfunktional. Solange kein dichtes Unterstützungsnetz bestand und man sich nicht mit anderen Orten 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

über Form und Höhe der Unterstützung geeinigt hatte, lief man Gefahr, die Konkurrenz geradezu herbeizulocken.251 Die Errichtung eines Wanderunterstützungsnetzes war jedoch nur unter bestimmten Umständen möglich. Für Buchdrucker z. Β. war die überlokale Koordination recht problemlos, weil die einzelnen Landesfürsten aus Gründen der Zensurüberwachung nur eine begrenzte Zahl von Druckorten zugelassen hatten, und die regional stark konzentrierten Gewerbe der Zigarrenarbeiter sowie der Hut- und Handschuhmacher fanden ähnlich günstige Bedingungen vor. Da die genannten Berufe traditionell unzünftig bzw. schon im frühen 18. Jahrhundert aus dem Zunftzwang ausgenommen waren, bestand für sie ohnehin kein Wanderzwang; im wesentlichen begaben sich nur Arbeitslose auf die Walz. Den Schneidern, Schustern, Tischlern und anderen Massenberufen, die in jeder Kleinstadt für den täglichen Bedarf der Einwohner produzierten, war die Herstellung eines Unterstützungsnetzes dagegen auf keinen Fall möglich. Diese Berufe, wegen des geringen Lehrgeldes vielfach ein Auffangbekken für erwerbslose Unterschichtenangehörige, expandierten mit der demographischen Entwicklung seit dem späten 18. und mit der Herausbildung eines inneren Marktes seit dem frühen 19. Jahrhundert; darüber hinaus hatten sie zum Teil eine hohe saisonale Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Hier war es im allgemeinen völlig illusorisch, daß ortsansässige Arbeiter das Heer des durchwandernden Handwerkernachwuchses unterstützten. Seitens der Gesellen wurde spätestens seit dem späten 18. Jahrhundert kein »Geschenk« mehr gegeben, und zum Teil waren selbst Meister der Meinung, daß man auf Unterstützungsleistungen verzichten könne.252 Für die Gesellen erwies sich die - mancherorts verbotene- 253 Gewährung eines »Geschenks« ohnehin als überflüssig. Denn die Funktion der Wanderunterstützung, die Zuwanderer wieder zum Verlassen des lokalen Arbeitsmarktes zu bewegen, erfüllten die städtischen Behörden unentgeltlich. Die obrigkeitliche Furcht vor Handwerkerunruhen, vor kommunistischer und sozialistischer Infiltration und die Sorge um die städtische Armenkasse, die arbeitslose Gesellen in Anspruch zu nehmen drohten, trafen sich mit den Arbeitsmarktinteressen der Stammarbeiter. Konnte ein Wanderer innerhalb eines gewissen Zeitraums - im allgemeinen drei Tage - keine Arbeit finden, sah er sich polizeilich genötigt, die Stadt zu verlassen.254 So lag das »Schmiegen und Biegen« manches Wanderburschen vor dem Meister, sein »ängstliches Zusammenfahren, wenn derselbe in die Werkstatt tritt«255 nicht zuletzt darin begründet, daß er seitens seiner Berufskollegen keine Solidarität erfuhr. Wenn er am Ende einer Tour finanziell völlig heruntergekommen war, eventuell schon hatte betteln müssen, war er gezwungen, sich zu jedem Preis zu verdingen. Die Befürchtungen der Stammarbeiter, daß ein fremder Geselle den »Samen der Knechtschaft«256 in der Werkstatt aussäen könne, wurden auf diese Weise zur »self-fulfilling prophecy«. Doch kamen weitere Faktoren, etwa die demütigende Behandlung von 81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Handwerksgesellen auf den Herbergen, 257 erschwerend hinzu. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen behördlichen Schikanen, denen der Bursche unterwegs ausgesetzt war. Sie waren geeignet, auch den devot zu machen, der noch über finanzielle Reserven verfügte. Die Reise wurde durch eine Flut von restriktiven Gesetzen und Verordnungen reglementiert, die zudem in jedem Einzelstaat unterschiedlich ausfielen oder unterschiedlich interpretiert wurden. Der Willkür kleiner Beamter, die sich in diesem Chaos selber nicht zurechtfanden, waren keine Grenzen gesetzt. Englische Touristen und Handwerker empörten sich in ihren Deutschlandreise-Berichten nicht selten über diese Zumutungen, obwohl sie als Besitzer eines ausländischen Reisepasses vergleichsweise zuvorkommend behandelt wurden.258 Der deutsche Wandergeselle, der nur seine »Kundschaft« bzw. sein »Wanderbuch«, zugleich Paßersatz und Arbeitszeugnis, vorzeigen konnte, wurde dagegen mit besonderer Herablassung abgefertigt. Die demütigenden »Visitationen«, d.h. die Untersuchungen auf ansteckende Krankheiten und Ungeziefer, und die Geringschätzung, die ihm die Öffentlichkeit allein aufgrund seiner nicht salonfähigen Kleidung entgegenbrachte, waren dazu angetan, ihn einzuschüchtern.259 Während sich ein englischer Tramp nur um seine Finanzen zu sorgen brauchte (»He would travel trough the land must have an open purse in hand«), machte sich ein deutscher Handwerksbursche leicht zu eigen, was das Sprichwort ihn lehrte: »Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land. « 260 Erst ein erfahrener Geselle mit einem dicken Fell ließ sich von den zahlreichen kleinen Herren nicht mehr alles bieten und wagte es eventuell sogar, einen Polizisten zu verulken.261 Aber in solchen Fällen dürfte der Militärdienst, der im allgemeinen die Wanderzeit unterbrach, häufig korrigierend gewirkt haben.262 Die Unterbrechung durch die Militärzeit ist in ihren negativen Auswirkungen auf die Herausbildung eines beruflichen Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Handwerksgesellen gar nicht zu überschätzen. Was in dieser Hinsicht trotz der durch die Wanderschaft erzeugten Diskontinuitäten der Berufsausübung gewachsen sein mochte, drohte jetzt wieder verlorenzugehen. Das galt auch in bezug auf die fachliche Qualifikation, selbst wenn der Geselle in einer der zahlreichen Handwerkerkompanien untergekommen sein sollte, die Heeresbedarf produzierten: »Hat der Geselle ausgedient, so muß er wieder von vorne anfangen, als wenn er aus der Lehre käme; sein Handwerk ist ihm fremd geworden.263 So sehr sich der junge Handwerker bisher um sein Fortkommen bemüht haben mochte, jetzt wurde er »hoffnungslos in die Sphäre der gewöhnlichen Arbeiter zurückgeschleudert«. Mit Sorge stellten Unternehmer und hohe Beamte, die der preußische Handelsminister 1872 zu einer Anhörung über die soziale Frage eingeladen hatte, fest, daß »dies die Geschichte verschiedener socialistischer Agitatoren« sei.264 82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

3. Handwerkliche Berufssozialisation und berufsständisches Bewußtsein Die vorangehende kontrastierende Gegenüberstellung der Berufssozialisation eines englischen und eines deutschen Handwerksgesellen beschrieb den typischen Fall. In der durch berufliche und regionale Differenzierungen gekennzeichneten Realität dürften sich die angesprochenen deutsch-englischen Unterschiede vielfach nur als graduelle Abweichungen niedergeschlagen haben. Gleichwohl war es sicher nicht ganz abwegig, wenn ein englischer Konsul 1870 in einem Bericht über die arbeitenden Klassen in Deutschland behauptete: »(T)he workmen are generally... not interested in their occupations. « 265 Im Zuge der Ausbildung und der alltäglichen Kooperation im Betrieb Interesse für die Probleme des Berufs und der Berufsgenossen zu erzeugen, wurde durch Zunfttradition und staatliche Eingriffe erheblich erschwert. Das wichtigste Hindernis bestand darin, daß die obligatorische Wanderschaft unterschiedliche Arbeitsmarktinteressen bei den Angehörigen ein und desselben Berufs erzeugte und damit die Sozialisationsdefizite der Lehre eher verstärkte als ausglich. Als Folge davon waren Berufsausbildung und -ausübung wenig geeignet, die Beschäftigten an eine gemeinsame Lebensführung zu gewöhnen. Seßhafte und wandernde, ältere und junge Berufsgenossen unterschieden sich in bezug auf soziale Lage, Arbeitsplatzsicherheit, Aufstiegschancen usw. ganz erheblich- von den Statusunterschieden zwischen Gesellen und abhängig beschäftigten Kleinmeistern ganz abgesehen. Daß berufsspezifische Grußformen, Trinksprüche, Lieder, Festgebräuche und Kleidungssitten, die es im 18. Jahrhundert offenbar noch gegeben hat, mehr als leere Formeln waren und diese Differenzen überdecken konnten, ist sehr zweifelhaft.266 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sie ohnehin zum Teil vergessen, zum Teil pflegte man sie aus reiner Nostalgie. Im vormärzlichen München hatten es z.B. Handwerker, die im Fasching den traditionellen »Metzgersprung« vorführten, auf die »Belustigung des niedern Volkes« abgesehen, und spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben Bildungsbürger »oral history«, indem sie sich von alten Handwerkern Grußformeln aufsagen und Rituale beschreiben ließen.267 Auch die Arbeiterzeitung »Die Werkstatt« schilderte 1847 in einem ihrer Artikel ausführlich das Begrüßungszeremoniell der Hutmachergesellen- als Beispiel für »verjährte und sinnlose Gebräuche«. Außer den Hutmachern würden noch die Gerber, Töpfer, Färber, Bäcker und »fremden Maurer« »streng auf ihren Gesellenspruch« halten.268 Wären solche Grußformeln noch allgemein bekannt gewesen, hätte sich der Artikel erübrigt. Die Erinnerung daran drohte offenbar bereits verlorenzugehen. Entsprechende Befürchtungen hatten Jacob Grimm sogar schon 1813 dazu veranlaßt, einen Teil des bereits einhundert Jahre zuvor (!) von Frisius zusammengetragenen Materials über das »Gesellenleben« zu veröffentlichen: 83 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

»(S)o wird jetzo, wenn auch das meiste davon aus dem eigentlichen Leben ausgetrieben worden ist, eine recht genaue und sorgfältige Sammlung der Sprache, Lieder und Gewohnheiten der Handwerker... für die vaterländische Geschichtschreibung, d. h. für die gründliche Erforschung des altdeutschen Lebens ersprießlich und notwendig seyn.«269 Es ist charakteristisch, daß die Mitgliedskarten und Statutenhefte der in den 1860er Jahren gegründeten deutschen Gewerkschaften außerordentlich schlicht, bestenfalls mit einigen dem Zeitgeschmack entsprechenden Verzierungen oder den Symbolen allgemeiner, berufsübergreifender Arbeitersolidarität (z. Β. verschlungene Hände) versehen waren. Für die reichhaltige Berufssymbolik, die sich in den Emblemen englischer Gewerkschaften findet, fehlte - außer etwa bei den Buchdruckern - offenbar das Verständnis.270 In dieser Nüchternheit spiegelt sich die- an anderer Stelle zu beschreibendeTatsache, daß es paradoxerweise weniger ein durch den Beruf erzeugtes Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Kollegen als politische und rein materielle Erwägungen waren, die den durchschnittlichen deutschen Handwerksgesellen veranlaßten, sich in einem Berufsverband zu organisieren.

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TEIL B

Gesellenvereinigungen des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Vorläuferorganisationen moderner Gewerkschaften? Vorn wurde das Argument vertreten, die »moral economy« des alten Handwerks in Deutschland habe wenig dazu beigetragen, Kleinmeister und Gesellen zur Gründung von Gewerkschaften zu motivieren. In den alltäglichen Arbeitsbeziehungen wurden Solidarität und Kollegialität in sehr viel geringerem Maße als in England ausgebildet. Im folgenden zweiten Teil wechselt die Perspektive von der Produktions- auf die Reproduktionssphäre. Welche Vorleistungen erbrachten die verschiedenartigen Vereinigungen, in denen sich Handwerksgesellen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts organisierten? Stellten zünftige Gesellenschaften, Wanderunterstützungs- und Bildungsvereine sowie Krankenkassen Schulen der Solidarität und gewerkschaftlichen Handelns dar, wie verschiedene Untersuchungen nahelegen?1 Sind sie als »previous organisations« (Marx)2 moderner Gewerkschaften zu betrachten? Um diese Fragen beantworten zu können, erscheint ein sowohl lockerer als auch rigoroser Umgang mit dem Gewerkschaftsbegriff angebracht. Gewerkschaften sind definiert als Kartelle der Anbieter von Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt, die die Lohn-, Beschäftigungs- und sonstigen arbeitsbezogenen Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Einschlägige Handbücher ergänzen diese Definition im allgemeinen um eine Spezifizierung hinsichtlich des Modus der Mitgliederrekrutierung: Gewerkschaften seien Organisationen mit formal freier Mitgliedschaft.3 Dies ist in der Tat ein wichtiges Abgrenzungskriterium gegenüber Zünften und zünftigen Gesellenvereinigungen. Während erstere allenfalls aufgrund der Solidarität ihrer Mitglieder und durch Gruppendruck einen informellen Organisationszwang ausüben können, wie er etwa im »closed shop« spürbar wird, basiert die Macht letzterer darauf, daß sie sich als Zwangsorganisationen auf ein vom Gesetzgeber eingeräumtes Monopol stützen können. Zünftige Gesellenschaften sind deshalb nicht als Gewerkschaften zu betrachten; das kann man vorab feststellen. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß sie die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch Einflußnahme auf den Arbeitsmarkt angestrebt und insofern gewerkschaftliche Funktionen ausgeübt haben. 85

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Außerdem betonen die gängigen Definitionen den multifunktionalen Charakter von Gewerkschaften.4 Sie sind mehr als nur Arbeitsmarktorganisationen. Vielfach bieten sie nicht nur Streik-, sondern auch Kranken- und Wanderunterstützung an; sie gewähren Rechtsschutz vor Gericht, fuhren Bildungsveranstaltungen durch, unterhalten Genossenschaften und Unterstützungskassen und versuchen, Gesetzgebung und Verwaltung im Interesse der Arbeitnehmer zu beeinflussen. Die Grenzen zwischen Gewerkschaften und Bildungsvereinen, politischen Parteien, sogar zu Wirtschaftsunternehmen sind nicht immer leicht zu ziehen. Das wichtigste Unterscheidungskriterium ist die Arena, in der sich die verschiedenen Organisationen vornehmlich bewegen. Parteien vertreten arbeitsbezogene Interessen im Parlament; Genossenschaften und Unterstützungskassen betätigen sich auf Güter- und Versicherungsmärkten; Vereine sind in der Regel auf sich selbst bezogen. Dagegen ist die wichtigste Arena von Gewerkschaften der Arbeitsmarkt. Nur solche Arbeitervereinigungen sollen deshalb in dieser Untersuchung als »previous organisations« betrachtet werden, die ausschließlich oder zusätzlich versucht haben, über den Arbeitsmarkt die soziale Lage ihrer Mitglieder zu verbessern.

I Die »house of call-societies « der englischen Handwerksgesellen Eine alte Streitfrage zwischen dem Gewerkschaftshistoriker-Ehepaar Webb und Lujo Brentano nach der organisatorischen Kontinuität zwischen mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Gesellenorganisationen und modernen Gewerkschaften wird seit einigen Jahren in der englischen Arbeiterbewegungsforschung neu diskutiert, meist mit Stoßrichtung gegen die Webbs. Sie hatten in ihrem Standardwerk über »The History of Trade Unionism« 1894 kategorisch festgestellt: »The supposed descent in this country of the trade unions from the medieval craft gilds rests, as far as we have been ablc to discover, upon no evidence whatsoever. «5 Diese Feststellung richtete sich gegen die gut zwanzig Jahre zuvor von Lujo Brentano geäußerte gegenteilige Ansicht. In seinem Buch über die »Arbeitergilden der Gegenwart« glaubte Brentano nachgewiesen zu haben, daß die modernen englischen Gewerkschaften nichts anderes seien »als die vollkommen organische Weiterentwicklung des alten Gildewesens, wie wir es zuerst aus den Gildestatuten des 11. Jahrhunderts ausführlicher . . . kennen lernen«.6 Auch nach Wiederaufnahme der Diskussion in der jüngeren englischen 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Gewerkschaftshistoriographie ist diese alte Kontroverse noch nicht abgeschlossen, wenn auch zunehmend Belege für das Herauswachsen von Gewerkschaften aus der Yeomanry gefunden werden, die Brentanos Position zu untermauern scheinen.7 Nicht nur bestehen auch weiterhin zahlreiche Informationslücken; es ergeben sich - zumindest aus deutscher Sicht - auch gewisse Interpretationsprobleme. Es wäre nämlich mißverständlich, wollte man die Belege für die Verbindung von frühen Gewerkschaften und Yeomanry als Indizien für eine ungebrochene Kontinuität von der Zunft zu modernen Gewerkschaften interpretieren, weil »Yeomanry« spätestens für die Zeit seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht mehr angemessen mit »Zunft« übersetzt werden kann. Wie bereits erläutert, hatte die Yeomanry, ein minderberechtigter Zusammenschluß von kleinen Handwerksmeistern und Gesellen innerhalb der Livery Companies der Großkaufleute und wohlhabenden Handwerker, bereits zu dieser Zeit ihr Recht auf Zwangsrekrutierung von Mitgliedern und ihr Produktionsmonopol verloren. Sie wurde damit zu einem auf freiwilliger Mitgliedschaft basierenden beruflichen Interessenverband und vermittelte allenfalls die Kontinuität von »craft traditions«, eben von Traditionen des Berufs oder einer organisierten Berufsgemeinschaft, nicht aber einer Zunft (»gild« bzw. »corporate traditions«).8 Wie man auch die Kontinuitätsfrage letztlich beantworten will: Darüber, daß die englischen Gesellenorganisationen des 18. Jahrhunderts bereits als Gewerkschaften zu betrachten sind, besteht in der Historiographie breite Übereinstimmung. Es handelte sich nicht um Zwangsvereinigungen, sondern um die auf formal freier Mitgliedschaft basierenden Interessenorganisationen von abhängig Beschäftigten, die versuchten, den Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen im Sinne ihrer Mitglieder zu beeinflussen. Das haben schon Brentano und die Webbs so gesehen.9 Sowohl die »Arbeitergilden der Gegenwart« als auch die »History of Trade Unionism« können jedoch heute insofern als überholt gelten, als das dort vertretene Urteil, diese frühen Gewerkschaften hätten nur auf situationsbedingten und damit kurzfristigen Koalitionen beruht, heute nicht mehr haltbar ist.10 Ebensowenig wäre es angemessen, ihre Aktivität unter dem Begriff »bargaining by riot« zu subsumieren, den Hobsbawm mit Bezug auf Maschinenstürmer geprägt hat.11 Wie der folgende Überblick über die Schneidervereinigungen des 18. Jahrhunderts zeigt, waren sie besser organisiert als manche heutige Gewerkschaft.

1. Maßnahmen zur Arbeitsmarktregulierung Im Zentrum der Gewerkschaften des 18. Jahrhunderts stand das house of call, ein Pub, in dem sich die Gesellen zur Regelung ihrer beruflichen Angelegenheiten trafen. Hier entrichteten sie ihren Beitrag zu Unterstüt87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

zungskassen aller Art, hier diskutierten sie Arbeitsplatzprobleme und feierten Feste, hier befanden sich auch Arbeitsnachweis und -Vermittlung. Zum Teil trugen die Pubs Namen, die auf den Beruf hinwiesen, der dort sein Domizil aufgeschlagen hatte. Sie hießen »Masons' Arms«, »Bricklayers' Arms«, »Moulders'«, »Papermakers'«, »Mechanics'Arms« und »Simon the Tanner«. Häufig verkehrten mehrere Berufe im selben Gasthaus. Die meisten städtischen Handwerksberufe unterhielten mindestens ein house of call; die besonders gut organisierten Londoner Schneidergesellen verfügten 1800 über vierzig, die insgesamt ca. 20000 Beschäftigte umfaßten.12 Daß »house of call« und »trade union« spätestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts synonyme Begriffe geworden waren und daß Francis Place 1834 feststellen konnte, die Kneipe als berufliches Kommunikationszentrum sei »the dosest ... combination in existence, not established by Law«, 13 hing in erster Linie damit zusammen, daß es den englischen Gesellen relativ problemlos möglich gewesen war, die Arbeitsvermittlung dauerhaft zu monopolisieren. Entweder entschied der Wirt nach ihren Vorgaben oder sie führten die Vermittlung in eigener Regie durch. Die gesellenkontrollierte Arbeitsvermittlung der Schneider in London wurde, so scheint es, spätestens mit dem Eindringen des Kapitalismus ins Handwerk, d. h. seit dem späten 17. Jahrhundert, üblich. Einhundert Jahre später galt sie nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen größeren Städten Englands als »ancient custom«.14 Diese Form der Arbeitsmarktorganisation hatten die »Master Tailors« selber entscheidend gefördert. Obwohl sie als »shopkeepers«, d.h. als kapitalistische Unternehmer, die Vermittlung nicht mehr durch die Zunft überwachen lassen konnten, hielten sie die Gesellen dazu, an, sich nicht individuell nach Arbeit umzuschauen, sondern in bestimmten Pubs auf den »call« zu warten.15 Vom »laboursupply closed shop-system«,16 dessen Entstehung sie auf diese Weise förderten, profitierten sie in zweifacher Hinsicht: Erstens fanden sie in einem house of call eine Anlaufstelle vor, wo sie jederzeit qualifizierte Arbeitskräfte erhalten konnten, eine Funktion, die vor allem die expandierenden Unternehmen mit schon um 1740 zwischen 50 bis 100 Werkstattarbeitern zu schätzen wußten. Denn in saisonabhängigen Gewerben wie in der Schneiderei war es den »Master Tailors« nur mit Hilfe der houses of call möglich, in der flauen Zeit einige Gesellen zu entlassen und in der Hochsaison schnell zusätzliche Kräfte einzustellen.17 Auf diese Weise konnten die Lohnkosten auf das notwendige Minimum reduziert werden. Gesellen nur für wenige Stunden zu beschäftigen, wie es häufig vorkam, wäre ohne das house of call mit einem unverhältnismäßig großen organisatorischen Aufwand verbunden gewesen. Ein zweiter Vorteil ergab sich daraus, daß die Vermittlung nicht nur auf der Anbieter-, sondern auch auf der Nachfragerseite nach der Reihenfolge der Bedarfsanmeldung erfolgte, so daß die Konkurrenz unter den Arbeitgebern um die Gesellen aufgehoben wurde. Dieses Prinzip kam insbesondere 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

den kleinen, kapitalschwachen »shopkeepers« entgegen, die in der Frühphase der Kommerzialisierung des englischen Handwerks zahlenmäßig dominierten. So lange die von ihnen gebotenen Löhne im Rahmen des Üblichen blieben, wurden ihnen ebenso Arbeitskräfte zugeschickt wie ihren wohlhabenderen Konkurrenten, die ihnen auf einem ungeregelten Arbeitsmarkt die Arbeitskräfte hätten abwerben können. Insofern kann das house of callSystem als eine Art Zunftersatz interpretiert werden. Diese Vorteile der »masters« gereichten den »journeymen« nicht zum Nachteil. Als Individuen vermieden sie Zeitverluste bei der Arbeitssuche und damit Einkommenseinbußen. Als Klasse mußten sie sich aufgrund des selbstverwalteten Stellenvermittlungsmonopols bei schlechter Konjunktur nicht mehr gegenseitig unterbieten. Aufgrund des von den »masters« geförderten, tendenziell hundertprozentigen Organisationsgrades der Gesellen war die Konkurrenz auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes suspendiert, so daß Wettbewerbsbedingungen zwischen Anbietern und Nachfragern entstanden. Die Gesellen waren nun im Stande, »dem Kapitalisten eine allgemeine Konkurrenz [zu] machen« (Marx); sie konnten über die Bedingungen des Arbeitsvertrages verhandeln.18 Ihr wichtigstes Druckmittel bestand darin, daß sie die Verletzung der herkömmlichen Standards der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen sanktionierten, gegebenenfalls sogar eine Verbesserung erzwingen konnten, indem sie unkooperativen Arbeitgebern - dazu rechnete man auch solche, die Unorganisierte zu beschäftigen versuchten-keine Gesellen mehr zuschickten. Im Schneidergewerbe wurde dieses Machtmittel zu Beginn des 19. Jahrhunderts recht rigoros eingesetzt. Beim ersten Regelverstoß boykottierten die vereinigten houses of call die betreffenden »masters« einen Monat lang, beim zweiten zwei Monate lang und beim dritten für immer. 19 Bestraft wurden aber auch Gesellen, z. Β. dann, wenn bekanntgeworden war, daß sie heimlich zu Hause gearbeitet und sich dadurch der Kontrolle des »captains«, des die Rolle eines »shop Stewards« übernehmenden Gewerkschaftsvertreters im Betrieb, entzogen hatten.20 Auch Gesellen, die nicht »in a workmanlike manner« gearbeitet hatten oder, was bei Schneidern relativ häufig vorkam, im betrunkenen Zustand Stoffe verdorben hatten, mußten mit Sanktionen rechnen. Wer Meistern in dieser Hinsicht dreimal negativ aufgefallen war, wurde aus der society ausgeschlossen.21 Man griff deshalb so hart durch, weil die Bereitschaft der Arbeitgeber zur Inanspruchnahme der Vermittlungsdienste auf der Garantie beruhte, daß qualifizierte Kräfte zugeschickt wurden. Die society demonstrierte deshalb ihre Kooperationsbereitschaft, indem sie z. Β. Gesellen bestrafte, die die ihnen zugewiese­ ne Stelle nicht angetreten hatten, oder indem sie den Meistern durch Unachtsamkeit oder Schlamperei entstandene Verluste ersetzte.22 Daß die Aufnahme von Mitgliedern häufig an die Absolvierung einer ordnungsgemäßen Lehre23 oder, wie bei den Schneidern, an den Nachweis der Fähigkeit geknüpft war, das übliche Arbeitspensum in der üblichen Zeit (»the Log«) 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

erfüllen, also »a fair day's work for a fair day's wage« liefern zu können, hatte deshalb nicht nur die Funktion, die society exklusiv und das Arbeitskräfteangebot knapp zu halten, sondern es sollte auch die Finanzen schonen.24 Ein gewisses Maß an Exklusivität war jedoch unverzichtbar, damit ein weiteres gewerkschaftliches Machtmittel, die Arbeitslosenunterstützung, funktionsfähig erhalten werden konnte. Schneidergesellen finanzierten sie in schlechten Zeiten durch Umlagen: Arbeiter, die drei Tage in der Woche oder länger Beschäftigung gefunden hatten, leisteten - j e nach ihrem Verdienst in nicht geringer Höhe Einzahlungen in die gemeinsame Kasse, damit Kollegen, die nur einen Tag oder gar nicht gearbeitet hatten, unterstützt werden konnten.25 Durch diese Solidaritätsbezeugung näherten sich zum einen Arbeitslose und Beschäftigte in ihrer Einkommenshöhe tendenziell einander an, und die soziale Homogenität der Mitgliedschaft, damit auch die Stabilität der society, wurden konserviert. Zum anderen - und das war die arbeitsmarktpolitisch wichtigere Funktion - war die Arbeitslosenunterstützung geeignet, Unbeschäftigte davon abzuhalten, sich auf eigene Faust um eine Stelle zu bemühen. Indem die Gewerkschaft die überschüssige Arbeitskraft »aufkaufte« und »unter Verschluß« hielt, korrigierte sie das Verhältnis von Angebot und Nachfrage zugunsten der Anbieter und hatte weniger Probleme, die bisherigen Löhne stabil zu halten. Die Arbeitslosenunterstützung bot eine gewisse Chance, im folgenden Aufschwung auf der Basis der früher errungenen Vorteile neue Forderungen stellen zu können. Man brauchte nicht wieder »von vorne« anzufangen und konnte gegebenenfalls Streikkosten sparen.26 Ähnliche Funktionen wie die Arbeitslosenunterstützung, die allerdings nur so lange gezahlt werden konnte, wie das Geld reichte, erfüllten auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Für Schneider war es ζ. Β. ohne großen Aufwand möglich, im Versammlungsraum des house of call im ersten Stock vorübergehend eine Produktivgenossenschaft für Militärkleidung zu errichten. Dort war es Mitgliedern auch gestattet, auf eigene Rechnung zu arbeiten -jedoch nur in konjunkturellen Flauten oder in Streiks.27 Dem Wirt war diese Zweckentfremdung seiner Räumlichkeiten nicht unrecht, denn es waren ja seine Stammkunden, die dort ihr Einkommen aufzubessern versuchten. Seine Bereitschaft, Arbeitslosen Kredit zu gewähren, ging auf dieselben Überlegungen zurück.28 Anschreiben zu lassen, war für ihn kein großes Risiko. Es war recht unwahrscheinlich, daß die Mitglieder der mit seinem Pub verbundenen Kranken- und Sterbekassen, zum großen Teil Familienväter, sich mit Schulden aus dem Staub machen würden; darüber hinaus konnte gegebenenfalls die society belangt werden. Eine weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahme bestand darin, Arbeitslose zum Wandern zu ermutigen und so das lokale Arbeitskräfteangebot zu reduzieren. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, war »tramping« in England nicht wie in Deutschland ein obligatorischer Teil der Ausbildung, 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

sondern ein Diktat der Not; es half den Zurückbleibenden in Krisen und Konflikten erheblich, »to counteract all the interests and pursuits of their employers«.29 Diese Feststellung traf ein Bericht an das Parlament schon 1794; ein von den lokalen houses of call getragenes »tramping system« auf nationaler Ebene entwickelte sich jedoch in den meisten Berufen, auch bei den Schneidern, unter dem Druck der Konjunktur erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Darin liegt ein indirekter Hinweis auf die Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenunterstützung am Ort. Auch nach der Ausweitung des »tramping System« blieb der überlokale Zusammenhang der Gewerkschaften recht locker und informell. Im allgemeinen beschränkte er sich auf die gegenseitige Anerkennung von Mitgliedskarten und auf die Unterstützung der fremden Arbeitslosen. Um die unterschiedliche Belastung einzelner Städte durch Unterstützungszahlungen auszugleichen, wurde er verschiedentlich institutionalisiert, indem man die Wanderrouten verbindlich vorschrieb. Die Planung und Durchführung von Arbeitskämpfen erfolgte jedoch auf lokaler Ebene und im allgemeinen ohne Absprache untereinander.30

2. Verhalten in Arbeitskonflikten Vor dem Hintergrund dieses - nicht nur für das 18. Jahrhundert - eindrucksvollen arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums waren Streiks nur die ultima ratio der house of call-societies. Vieles konnte im Vorfeld des Arbeitskampfes durch »bargaining« erreicht und bewahrt werden. So war die Hauptaufgabe der fünfköpfigen »executive« der vereinigten houses of call im Londoner Schneidergewerbe nicht die Durchführung von Streiks, sondern, folgt man Francis Place als einem intimen Kenner der Verhältnisse, »to settle strikes«.31 Die Präferenz für friedliche Politik bedeutete jedoch keineswegs, daß man auf Arbeitskämpfe verzichtet hätte, im Gegenteil: Die gelegentliche Demonstration der Kampfkraft war eine Voraussetzung dafür, daß Streikdrohungen von den Arbeitgebern ernstgenommen wurden. Eine neuere Arbeit führt für England im Zeitraum zwischen 1717 und 1800 insgesamt 333 Streiks auf; 50 weitere entfielen auf Schottland und Irland. Nach Dobson, dessen Statistiken sich nicht allein auf den sekundären Sektor beziehen, aber aufgrund der Quellenprobleme vermutlich erst die Spitze eines Eisbergs sichtbar machen, streikten im ländlichen Gewerbe in erster Linie Textilberufe. Im hier interessierenden städtischen Handwerk erwiesen sich als besonders streikfreudig die Bauberufe (19 Streiks), die Schuhmacher (15), die Schiffszimmerer, Seiler und Segelmacher (12), die Seidenweber (11), die Bäcker und Tischler (je 8) sowie die Hutmacher (7). Die Schneider waren mit 25 Streiks der mit Abstand radikalste städtische Beruf in Großbritannien. Von den 25 Schneiderstreiks entfielen 18 auf 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

England, davon 11 auf London. Dort kämpften jeweils 7000 bis 15000 Gesellen meist erfolgreich für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. 32 Die Londoner Schneider konnten militant auftreten, weil sie seit dem Zusammenschluß von fünf houses of call ungefähr im Jahr 1700 33 geradezu militärisch organisiert waren: »The System of the journeymen tailors is all but a military System. The Orders come from their executive, and are almost obeyed. (...) In many cases, the power of these five men is almost unlimited over the trade, and obedience follows as a matter of course. It is whispered among them that there is to be a strike; they never discuss the subject; they strike when bid. «34 »Upon the slightest signal, the tailors' shops were deserted, and a set of men, to the number of 30000, arrayed themselves in divisions... «35

Daß der Streikbefehl seitens der Gesellen im allgemeinen prompt und ohne Widerspruch befolgt wurde, basierte auf zwei Voraussetzungen. Zum einen wurde meist in der Planungsphase eines Arbeitskampfes ein Extrabeitrag erhoben, um die Streikkasse aufzufüllen.36 An der Reaktion auf diese Maßnahme war die allgemeine Stimmung abzulesen. Zum anderen waren die berufliche Subkultur und die mit den houses of call verbundenen Arbeitslosen-, Kranken- und Sterbekassen geeignete Instrumente, um Kritiker am Kurs der »executive« durch Gruppendruck zu disziplinieren. Deshalb war es auch der Stabilität der Gewerkschaft nicht abträglich, daß die »executive« nur indirekt demokratisch legitimiert war, ja daß überhaupt nur wenige wußten, wer dazugehörte. Bei den Schneidern trafen sich die Mitglieder einer house of call-society jeden Dienstag abend, um ihre Beiträge an die Unterstützungskassen zu entrichten und zwei Delegierte zu einem Treffen mit Vertretern anderer societies am folgenden Donnerstag zu entsenden. Die Donnerstagsrunde, das »House of Representatives«, wählte oder bestätigte nun ein »select committee«, das meist aus fünf bis sieben Personen bestand, eben die »executive«. Sie wurde auch »Grand Committee for the Management of the Town«, kurz »Town«, genannt. Die »Town« als das höchste Gremium des »trade« formulierte die »rules and orders for the direction of the... whole body of journeymen« und erteilte den Delegierten ihre Direktiven.37 Wegen der Koalitionsverbote - spezielle Tailors' Acts wurden 1721 und 1768 erlassen, und zwischen 1799 und 1824 galten allgemein die Combination Acts - waren die Sitzungen der Donnerstagsrunde äußerst konspirativ. Der Treffpunkt wurde nicht selten im letzten Moment noch geändert, und die Delegierten wurden nur eingelassen, wenn sie die jeweilige Parole kannten. Man redete sich nicht mit Namen an, sondern mit der Bezeichnung des vertretenen house of call, und die Anweisungen der »Town« wurden in einem Geheimcode auf einer Schiefertafel mitgeteilt. Die Delegierten instruierten die Basis dann am folgenden Dienstagabend.38 Welche Gegenreaktionen rief diese starke Gewerkschaft auf selten der Arbeitgeber und der Obrigkeit hervor? Die »Master Tailors« wie auch die 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Arbeitgeber in anderen Berufen waren im gesamten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr korporativ gebunden; sie gingen vorwiegend als Einzelkämpfer vor. Das bedeutete nicht, daß sie ohnmächtig gewesen wären. Schon Adam Smith hat darauf hingewiesen, daß Kapitalbesitz ein gewisses Machtpolster darstellt und daß die relativ geringere Zahl der Nachfrager nach Arbeitskraft informelle Absprachen erleichtert.39 Unter anderem deshalb entstanden formelle Meisterkoalitionen bestenfalls ad hoc und nur für kurze Zeit.40 Es kam verschiedentlich vor, daß kapitalkräftige Arbeitgeber finanziell schwächere mit Krediten versorgten, um ihr Durchhaltevermögen in Arbeitskämpfen zu erhöhen,41 aber letztlich führten die individuelle Marktmacht und das Beharren auf der unternehmerischen Autonomie dazu, daß jeder sich selbst der Nächste war. Mit der »infidelity of the Masters themselves to each other«42 konnten streikende Schneidergesellen im 18. Jahrhundert fest rechnen. Daß sich stets »masters« fanden, die aus der Arbeitskampffront ausscherten, lag in der Schneiderei und in anderen saisonabhängigen Berufen auch daran, daß die Vorstöße der Gesellen in der Regel in der Hochsaison erfolgten. Nachzugeben war in dieser Situation häufig das kleinere Übel; andernfalls verpaßte man nicht nur die wichtigsten Geschäfte des Jahres, sondern verlor auch auf Dauer gute Kunden.43 Versuche, der Gewerkschaft durch die Vergabe von Heimarbeit, auch an Frauen, und die Errichtung alternativer houses of call für Streikbrecher aus den Provinzen und aus dem Ausland das Wasser abzugraben, zeitigten erst seit den späten 1820er Jahren durchschlagenden Erfolg (s. u. S. 142 ff). 7000 bis 15000 streikende Schneidergesellen waren eben nicht problemlos zu ersetzen.44 Hinzu kam, daß die qualifiziertesten Gesellen, bei den Schneidern die »captains« der einzelnen Werkstätten, häufig die entschiedensten Gewerkschafter waren. Solche Arbeiter, die bei ihren Kollegen hohes Ansehen genossen, zu Opfern zu stempeln, indem man sie z.B. auf »schwarze Listen« setzte oder sie gerichtlich verfolgen ließ, konnte sich kontraproduktiv auswirken.45 Auch durch den Appell an die Obrigkeit vermochten die »Masters« ihre Position nicht grundsätzlich und dauerhaft zu verbessern. Gerichtsverfahren aufgrund von Delikten wie »conspiracy« oder »leaving work unfinished« konnten sie z. Β. immer erst ex post anstrengen. Darüber hinaus war der Klageweg kostspielig, dauerte lange und nutzte ihnen letztlich wenig. 1776 wurden z. B. die Mitglieder der »Town« der Schneidergesellen vor dem Old Bailey wegen »conspiracy« zu Freiheitsstrafen zwischen einem halben und einem Jahr verurteilt, ohne daß die Gewerkschaft Schaden genommen hätte; ihr Bestand und ihre Stärke hingen nicht von Einzelpersonen ab. 46 Solche Verfahren konnten außerdem die Konsequenz haben, daß die Gesellen im Gegenzug ebenfalls von Gericht zogen, denn als »freeborn Englishmen« waren sie nicht rechtlos. So sahen sich anläßlich desselben Konflikts einige »Master Tailors« vor Gericht zitiert und verurteilt, weil sie eine Sitzung des »House of Representatives« gesprengt und die Teilnehmer ins Korrektions93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

haus gesperrt hatten. Für diese Freiheitsberaubung mußte jeder Angeklagte £40 Entschädigung bezahlen.47 Staatliche Zwangsmittel zur Zerschlagung der Gesellenorganisation im Vorfeld eines Streiks anzufordern, war rechtlich nicht möglich. Die berufsspezifischen Koalitionsverbote des 18. Jahrhunderts, von denen es bei Inkrafttreten der Combination Acts 1799/1800 bereits vierzig gab, untersagten nur den Zusammenschluß zum Zweck der Lohnerhöhung bzw. Arbeitszeitverkürzung. Sie sprachen, wie auch die Combination Acts, kein generelles Versammlungsverbot aus und behinderten nicht berufliche Unterstützungsvereine, als die sich die Gewerkschaften auch präsentierten.48 In ihrer Funktion als Kranken-, Sterbe- und Arbeitslosenunterstützungskassen wurden die house of call-societies durch das Friendly-Society-Gesetz von 1793 sogar rechtlich privilegiert; der Staat hatte selber ein dezidiertes sozialpolitisches Interesse an ihrem Funktionieren. So waren in der Konsequenz auch die Combination Acts, die bis 1824/25 galten, nur toter Buchstabe.49 Daß die Behörden während eines Streiks durch den Einsatz von Zwangsmitteln zugunsten der Meister eingriffen, war nicht zu erwarten. Polizei und Militär traten allenfalls dann in Aktion, wenn Ruhe und Ordnung gestört wurden, und hier lag die Toleranzschwelle recht hoch. Demonstrationen und Streikprozessionen wurden zwar als Bedrohung empfunden, aber man schritt nur selten ein.50 Selbst die Londoner Polizei, die sog. »Bow Street Force«, bestand 1750 nur aus ganzen sechs Konstablern sowie vier »Bow Street Runners« zur Verfolgung von Dieben, und Truppen waren in den Städten in der Regel nicht anwesend; sie mußten erst von außerhalb angefordert werden. Darüber hinaus war es - zumindest in der Hauptstadt - ein Risiko, auf eng bebautem Gebiet mit militärischen Mitteln gegen die formierten »Divisionen« mehrerer tausend Schneider oder anderer Handwerksgesellen vorzugehen.51 Daß der Londoner Magistrat wie auch entsprechende Organe anderer Städte bewußt vorsichtig handelten, lag in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt daran, daß man nach den politisch motivierten und gerade in Handwerkerkreisen mit Sympathie aufgenommenen »Wilkes Riots« (1760er/80er Jahre) und den »Gordon Riots« (1780) jede unnötige Provokation zu vermeiden suchte.52 Diese Zurückhaltung war um so mehr begründet, als sich streikende Handwerksgesellen die Presse zunutze machten, um ihre sozialen Probleme darzustellen und ihr Vorgehen vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Zustimmende Leserbriefe, auch von Gentlemen, in denen z.B. gefordert wurde, daß wohlhabende Kaufleute und Unternehmer sich zugunsten der Steikenden mit etwas kleineren Villen begnügen und die Zahl der von ihnen unterhaltenen Kutschen reduzieren sollten, ließen auf Sympathie in breiten Bevölkerungsschichten schließen.53 In diesem Rahmen erschien eine Schlichtung mit dem Ziel der verbindlichen Fixierung von Löhnen und Arbeitszeiten durch die Magistrate oderauf dem Land - durch die Friedensrichter im allgemeinen als eine für alle 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Beteiligten, letztlich auch für die Gesellen, akzeptable Form der Konfliktlösung. Waren die Vertreter der Obrigkeit im 18. und frühen 19. Jahrhundert an der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung interessiert, ging es den Arbeitsmarktparteien um die Schonung ihrer Finanzen und die Formulierung einer dauerhaften Kooperationsgrundlage. Allerdings handelte es sich um eine Zwangsschlichtung, und die Schiedsrichter setzten in der Tradition des Statute of Artificers von 1563 keine Tarife im modernen Sinn fest, sondern Maximallöhne und Minimalarbeitszeiten. Daß die Gesellen sich trotz ihrer starken Arbeitsmarktposition auf diese Form der Beendigung von Konflikten einließen und nicht »bis zum letzten« kämpften, wurde nicht nur dadurch ermöglicht, daß diese Praxis seit dem Mittelalter eingefahren war. 54 Zwei zusätzliche Voraussetzungen trugen ebenfalls dazu bei: Erstens waren Magistrate und Friedensrichter zwar formal unabhängig und autonom in ihren Entscheidungen, aber faktisch sahen sie sich gleichwohl gezwungen, den realen Machtverhältnissen Rechnung zu tragen. 55 Nur dann war gewährleistet, daß der Konflikt nicht von neuem entflammte, woran sie schon aufgrund ihrer persönlichen Arbeitsüberlastung nicht interessiert waren. Denn Schlichtungstätigkeiten beanspruchten im 18. Jahrhundert einen wachsenden Teil ihrer Zeit, ohne daß sie von anderen Aufgaben entlastet worden wären. Im Interesse einer tragfähigen Lösung versuchten Friedensrichter und Magistrate deshalb, sich umfassend über die Forderungen beider Arbeitsmarktparteien zu informieren, um beiden so weit wie möglich entgegenzukommen. Zu diesem Zweck, aber auch um die Stimmung einschätzen zu können, nahmen sie an Versammlungen der »masters« und der »journeymen« teil und zwangen verschiedentlich beide Parteien an den Verhandlungstisch.56 Auch im Hinblick auf die Durchsetzung ihrer Entscheidungen konnten sie auf die Kooperation starker, nach innen verpflichtungsfähiger Gewerkschaften nicht verzichten. All das kam einer faktischen Anerkennung der house of call-societies als Gewerkschaften und einer Mißachtung der Koalitionsverbote durch staatliche und städtische Organe selber gleich. Zweitens konnten sich die Gesellen auf eine Schlichtung einlassen, weil die gesetzliche Fixierung von Maximallöhnen und Minimalarbeitszeiten den Marktmechanismus nicht außer Kraft setzte. Abgesehen davon, daß beide Arbeitsmarktparteien angesichts veränderter Rahmenbedingungen durch Petitionen eine Anpassung der gesetzlichen Vorgaben verlangen konnten, war es ihnen unbenommen, sich untereinander informell auf günstigere Bedingungen zu verständigen. Die Differenz zwischen gesetzlichen und tatsächlich gezahlten Löhnen war beträchtlich. 1744 lag der offizielle »Maximallohn« der Londoner Schneidergesellen z.B. bei l s 9½d pro Tag, während die Mehrheit der Beschäftigten zwischen 2 s 6 d und 3 s erhielt. Und zwischen 1772 und 1800 betrug er 18 s 9 d pro Woche, während die »masters« gegen Ende des Zeitraums an die 30 d zahlten.57 Durch Vereinbarungen auf betrieblicher 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

oder auf house of call-Ebene sowie durch kleinere, ohne Eingreifen des Magistrats beendete Streiks wurden aus Maximallöhnen längerfristig Minimallöhne und aus minimalen maximale Arbeitszeiten. Die Zwangsschlichtungen durch die Friedensrichter und Magistrate hatten also den Effekt, daß informell erzielte Verbesserungen gesetzlich fixiert wurden. Das war nicht nur in London, sondern auch in den Provinzen der Fall. Die Löhne konnten nur noch steigen, nicht mehr fallen.58 Dieser Sperrklinkeneffekt ist sicher zum Teil auf den säkularen Wachstumstrend zurückzuführen, der in der Bekleidungsbranche aus der wachsenden Kleidernachfrage und der Durchsetzung der Mode resultierte. Zum großen Teil ist er aber auch als Konsequenz der gewerkschaftlichen Arbeitsmarktmacht zu interpretieren. Bei den Schneidern, die über die bestorganisierten houses of call verfügten, sahen manche Zeitgenossen darin den ausschlaggebenden Faktor. Bei aller grundsätzlichen Kritik, die Francis Place in seiner Eigenschaft als »Master Tailor« vorzubringen hatte: Daß die »houses« sich Verdienste erworben hätten »in preserving the respectability of the individuals composing them«, attestierte er ihnen, ohne zu zögern.59

3. Innerorganisatorische Konflikte Die Gesellen saßen im 18. Jahrhundert meist am längeren Hebel. Das ist um so bemerkenswerter, als die Geschlossenheit der societies durch Fraktionierungen an der Basis zeitweilig in Frage stand. Bei den Londoner Schneidern spalteten sich die society-Mitglieder Mitte der 1760er Jahre in »Flints« und »Dungs«, eine Entwicklung, die sich - zum Teil unter anderen Bezeichnungen - bis zum Ende des Jahrhunderts auch in anderen Städten und Berufen bemerkbar machte.60 »Flints« waren diejenigen Schneider, die darauf bestanden, nach Zeit entlohnt zu werden und grundsätzlich nur in geschlossenen Werkstätten ihrer Meister arbeiteten. Die »Dungs« akzeptierten dagegen auch Stücklohn und nähten gegebenenfalls dezentral. Traditionell war das allenfalls alten, verdienten societyMitgliedern gestattet.61 Die Ausdifferenzierung von »Flints« und »Dungs« wurde in London zum einen dadurch ermöglicht, daß die gesetzliche Fixierung der Löhne seit 1720 nur für das Gebiet innerhalb der »Bills of Mortality« galt, d.h. nur innerhalb der alten, nach einer Pestwelle im 16. Jahrhundert festgelegten und nur bis 1636 aktualisierten Stadtgrenze. Später entstandene Stadtbezirke wie Kensington, Chelsea, Paddington, St. Pancras und Marylebone boten den »Master Tailors« schon seit langem, insbesondere aber seit dem Bauboom der 1760er Jahre, Gelegenheit, die Zeitlohn vorschreibenden Tailors' Acts zu unterlaufen. Sie fanden nun in den Vorstädten genü96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

gend Kunden, um sich aus der Tarifzone zurückzuziehen. Wer sein Geschäft in der Innenstadt aufrechterhielt, konnte Heimarbeit an die immer zahlreicheren dort ansässigen Schneider vergeben.62 Zum anderen war die Ausdifferenzierung von »Flints« und »Dungs« bereits in der Binnenstruktur der »house of call-societies« angelegt, denn diese trug den Leistungsunterschieden unter den Gesellen nur ungenügend Rechnung. Die »Dungs« rekrutierten sich zunächst aus den besonders qualifizierten Arbeitern, die durch »a day's work« nicht ausgelastet und mit »a day's wage« nicht zufrieden waren. Diese Spitzenkräfte galten als die Initiatoren des ersten house of call für Stückarbeiter. Zu ihnen stießen vorübergehend unterdurchschnittlich qualifizierte Gesellen, die nicht oder noch nicht in der Lage waren, den »Log« zu erfüllen. Da eine zentrale Voraussetzung des »closed shop«, die Garantie des Qualifikationsstandards durch die Gewerkschaft, bei gemeinsamer Organisation nicht erfüllt war, erwies sich die Zusammenarbeit mit den »incapables« für die »fire eaters« jedoch als nachteilig. Die weniger leistungsfähigen »Dungs« sahen sich deshalb bald gezwungen, eigene houses of call zu errichten, die sog. »hospitals«.63 Die »Dungs« waren also wie die »Flints« über houses of call, d.h. in Gewerkschaften organisierte Gesellen. Sie brauchten ihre Arbeitskraft nicht vereinzelt anzubieten und sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen. Ihre Entlohnung basierte auf Stücklohntarifen, die mit den Arbeitgebern ausgehandelt, allerdings nicht gesetzlich fixiert waren. Offenbar kannten die »Dungs« auch eine Höchstbegrenzung für die jedem Mitglied zugebilligten Aufträge, um die Gleichheit nach innen zu gewährleisten. Deshalb galt für sie wie für die »Flints«: they all get a day's work for a day's pay« - allenfalls auf einem höheren oder niedrigeren Niveau.64 Anders als bei den »Flints« dürfte jedoch das Prinzip des als »fair« empfundenen und für alle gleichen Lohns bei Stückarbeit nicht in allen Fällen durchzusetzen gewesen sein, insbesondere nicht bei dezentraler Arbeit. Damit unterminierten die »Dungs« die Kontrolle der Schneidergesellen über den lokalen Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen. Diese Kontrolle war selbst bei Werkstattarbeit nicht in allen Fällen zu erreichen: Während beschäftigungslose Wartezeiten bei Zeitlohn mitbezahlt werden mußten, gingen sie bei Stücklohn zu Lasten der Gesellen. Bereits 1777 wurde beklagt, daß man unter solchen Umständen keine Familie mehr ernähren könne.65 Indem die Stückarbeit der »Dungs« den Meistern neue Möglichkeiten der Lohnreduzierung eröffnete, trieb sie die ohnehin vorhandene Tendenz zur Dezentralisierung der Produktion weiter voran. »Outwork«, bei Gewerkschaftsmitgliedern bisher verpönt, erschien nun als attraktive Alternative zur Beschäftigung in » regular shops«, weil sich die Möglichkeit eröffnete, mehrere Arbeitsverhältnisse zugleich einzugehen und weil Frauen und andere billige Arbeitskräfte flexibel beschäftigt werden konnten. Im Zusammenhang mit den »Dungs« kann »outwork« jedoch mit »Heimarbeit« nicht adäquat übersetzt werden; es darf auch nicht mit dem 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

»sweating System« im Londoner East End identifiziert werden, das Henry Mayhew um 1850 einer schockierten Öffentlichkeit schilderte. Denn »outwork« bedeutete für die »Dungs«, zumindest soweit sie zu den hochqualifizierten West End-Schneidern zählten, im allgemeinen nicht Individualisierung und ungezügelte Konkurrenz, weil die Produktion in sog. »joint stock Workshops«, also in Produktivgenossenschaften, stattfand. »Outwork« war insofern »Heimarbeit«, als die Räumlichkeiten nicht selten mit der Wohnung eines Gesellen verbunden waren. Sie waren jedoch im allgemeinen nicht mit ihr identisch. Mehrere Gesellen teilten sich die Miete sowie die laufenden Kosten für Heizung, Licht und für die Bügeleinrichtung. Darüber hinaus finanzierten sie gemeinsam die Hilfskräfte und den fixen Wochenlohn für einen von ihnen bestimmten »master«, der die Aufträge von den »Master Tailors« besorgte.66 Einer beruflichen Subkultur blieben die »Dungs« auf diese Weise nicht nur über ihre houses of call verbunden, wo sie sich zur Beitragsentrichtung an die Unterstützungskassen trafen, sondern auch über die alltägliche Kooperation in der Werkstatt. Es überrascht deshalb nicht, daß »Flints« und »Dungs« nach einiger Zeit ihre Animositäten begraben konnten und gegen Ende des 18. Jahrhunderts wieder gemeinsam streikten.67 Dem an anderer Stelle68 zu schildernden Niedergang des house of callSystem der Londoner Schneidergesellen seit den späten 1820er Jahren, der mit dem Zusammenbruch einer über hundert Jahre alten Gewerkschaft enden sollte, hatte die Spaltung der Gesellen in »Flints« und »Dungs« allenfalls vorgearbeitet; sie hatte ihn jedoch nicht verursacht. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrug das Zahlenverhältnis zwischen »Flints« und »Dungs« erst zwischen 4:1 und 3:1. 69 Und die Webbs waren davon überzeugt, daß englische Handwerksgesellen niemals so stark organisiert gewesen seien wie zwischen 1800 und 1820.70

II. Die zünftige Organisationstradition der deutschen Gesellen 1. Der Niedergang der frühneuzeitlichen Gesellenschaften Auf deutscher Seite entsprachen den house of call-societies die zünftigen Gesellenschaften.71 Seit dem 14./15. Jahrhundert waren sie in den klassischen städtischen, für den Alltagsbedarf der Einwohner und des bäuerlichen Umlands produzierenden Handwerksberufen entstanden: im Nahrungsmittel-, im Textil- und Bekleidungsgewerbe, im leder-, holz- und metall98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

verarbeitenden Gewerbe, in den Bauberufen und im Dienstleistungssektor, z. B. bei den Barbieren. In den »neuen« Berufen der Zigarrenarbeiter, Strumpfwirker, Posamentierer u. a., die sich erst im Laufe der frühen Neuzeit entwickelten und zum Teil manufaktur- und verlagsmäßig organisiert waren, orientierten sich die Gesellen an den vorhandenen Vorbildern; sie sahen sich jedoch mit besonderen ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen konfrontiert. Um die typische Entwicklung in den »seit eh und je« bestehenden Berufen klarer herausstellen zu können, zu denen ja auch die hier durchgängig verfolgte Schneiderei gehört, werden diese Besonderheiten zunächst außer acht gelassen (dazu unten S. 130 ff.). Der Wirkungskreis der zünftigen Gesellenschaften war wie bei den house of call-societies in England im allgemeinen auf den Ort beschränkt. Überlokale Verbindungen existierten außer in den Bauberufen, die sogar über ein Netz von Haupt- und Nebenladen verfugten, nur in einigen schwach besetzten Berufen, ζ. Β. bei den Kammachern, Sattlern, Seilern, Gürtlern, Kupferschmieden, Glasern etc. Es handelte sich um die sog. »geschenkten Handwerke«, die sich zum gemeinsamen Umtrunk in einer »Schenke« trafen und Wandergesellen ein Geld-» Geschenk« verabreichten.72 Die spätmittelalterlichen Gesellenschaften waren multifunktionale Organisationen. Sie verstanden sich zum Teil als religiöse Bruderschaften, förderten das gesellige Zusammensein, verpflegten kranke und beerdigten verstorbene Mitglieder. Gegenüber der Zunft und der städtischen Obrigkeit traten sie als Interessenvertretungsorgane der zünftigen Gesellen auf. Sofern sie in überlokaler Verbindung standen, stellten sie faktisch, aber auch ihrem Selbstverständnis nach, ein Gegengewicht gegen den zunehmenden politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Partikularismus innerhalb Deutschlands dar.73 In dieser Arbeit interessieren die Gesellenschaften vor allem als Arbeitsmarktorganisationen. Daß sie, wie noch gezeigt werden soll, in dieser Funktion nicht annähernd die Machtposition der houses of call erreichen konnten, hing vor allem damit zusammen, daß sie nicht unter den Bedingungen faktischer Gewerbefreiheit, sondern im Rahmen der korporativen Wirtschaftsverfassung operierten. Viel stärker als die englischen Gesellenorganisationen waren die deutschen dem Zugriff der Meister wie der städtischen und landesherrlichen Obrigkeiten ausgesetzt. Daraus ergaben sich Konsequenzen für ihre Geschlossenheit und für ihre Möglichkeiten, die arbeitsbezogenen Interessen der Gesellen zu vertreten. a) Innerorganisatorische Konflikte Während die Ausdifferenzierung von »Flints« und »Dungs« in England erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, ohne jedoch den Zusammenhalt der house of call-societies ernsthaft zu gefährden, sahen sich die 99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

deutschen Gesellenschaften schon zu Beginn der frühen Neuzeit mit desintegrierenden Einflüssen von außen konfrontiert. Nach der Reformation zogen protestantische Obrigkeiten gegen die vermeintlich heidnische Gesellenkultur und ihre »Exzesse« zu Felde: gegen »Fressen und Saufen«, gemeinsame Bäder nach der Messe und die Verehrung des beruflichen Schutzpatrons.74 Mit unterschiedlichem Erfolg versuchten verschiedene Reichsabschiede in der Folgezeit, den »blauen Montag« und andere »Handwerksmißbräuche« zu unterbinden. Auch die Schließung der Zünfte nach innen wirkte sich seit dem 16./17. Jahrhundert negativ auf den Zusammenhalt aus. Zum einen hielten sich Meistersöhne, die über eine relativ sichere Zukunftsperspektive verfügten, vom Gemeinschaftsleben fern. Zum anderen traten die in anderem Zusammenhang bereits angesprochenen Interessengegensätze zwischen Wanderburschen und schon länger am Ort Beschäftigten allmählich hervor. Das war besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Fall, als die demographische Entwicklung und die Krisen vom »type ancien« den »Nahrungs «-Spielraum des Handwerks zunehmend einengten.75 In der Krankenpflege, die die Gesellenschaften im späten Mittelalter durch einfache Umlagen finanziert hatten, mußte die Brüderlichkeit dem Versicherungsprinzip weichen. Nicht mehr der Bedürftige, sondern nur derjenige, der ein Eintrittsgeld und regelmäßig Beiträge bezahlt hatte, wurde ärztlich behandelt und gepflegt, und das erst nach einer gewissen Karenzzeit. Sparsamkeitsdenken und die Sorge um den Verlust der Kreditwürdigkeit führten häufig dazu, daß Wanderer gar nicht mehr verpflegt wurden, wenn sie krank in der Stadt eintrafen. Gesellen, die schon länger am Ort beschäftigt waren, und verheiratete Einheimische, die ζ. Β. bei den Maurern bereits im 18. Jahrhundert in nicht geringer Zahl für ihre Familien aufzukommen hatten, entzogen sich der Beitragspflicht und schoben die Neuankömmlinge der Armenfursorge der Nachbarstädte zu.76 Wanderunterstützungskassen, ohnehin erst eine relativ späte Einrichtung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, zeigten sich dem Ansturm vielfach nicht gewachsen und waren zumindest in den Massenhandwerken - bis zum Ende des Jahrhunderts längst gesprengt.77 Um Disziplin und Geschlossenheit unter den Gesellen zu bewahren, bedurfte es unter diesen Umständen der zusätzlichen Integration durch ideologische Elemente. So entwickelten die Gesellenschaften seit dem ausgehenden Mittelalter einige »neue« Elemente der Gruppenkultur, etwa Begrüßungsrituale, magische Bräuche und Festspiele wie z.B. den Schwerttanz. 78 Außerdem schlossen sie bestimmte Personenkreise von der Mitgliedschaft aus. Indem sie die bei unzünftigen Produzenten Beschäftigten sowie die Nachkommen »unehrlicher Leute« (Bader, Schinder, Henker) diskriminierten, erreichten sie eine kollektive Aufwertung ihrer Mitglieder gegenüber den Unterschichten und einen neuen Zusammenhalt. Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten hatte diese ideologische 100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Überformung, für die sich bei den house of call-societies keine Parallelen feststellen lassen, ambivalente Konsequenzen. Einerseits kam ihr große Bedeutung für das gerade in Arbeitskämpfen so wichtige geschlossene Auftreten zu. 79 Andererseits bedeutete sie aber den Verzicht auf die Integration und damit auf die Kontrolle eines nicht unerheblichen Teils der konkurrierenden Anbieter auf dem Arbeitsmarkt. Dieser dysfunktionale Effekt wurde um so spürbarer, je mehr Berufsgenossen außerhalb des zünftigen Handwerks Beschäftigung fanden. b) Arbeitsmarktregulierung und Arbeitskonflikte Das arbeitsmarktpolitische Repertoire der Gesellenschaften war vergleichsweise eingeschränkt. Einige Maßnahmen der houses of call standen ihnen aus strukturellen Gründen nicht zur Verfügung. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, wie sie etwa die Produktivgenossenschaften der Londoner Schneider darstellten, setzten Gewerbefreiheit voraus. Für die Mitglieder von Gesellenschaften kamen sie schon deshalb nicht in Frage, weil sie mit dem zünftigen Ehrenkodex nicht zu vereinbaren waren. Auf eigene Rechnung arbeitende Produzenten, die nicht über einen Meistertitel verfugten, galten als Pfuscher. Außerdem war es den Gesellenschaften wegen der erst unvollständigen Durchsetzung des »cash nexus« in schlechten Konjunkturen und in Streiks kaum möglich, das überschüssige Arbeitskräfteangebot »aufzukaufen«. Von dem Teil des Lohns, der in Form von Kost und Logis beim Meister gezahlt wurde, konnten weder nennenswerte Abgaben an eine gemeinsame Kasse geleistet werden noch konnte man ihn einfach durch Geldzahlungen ersetzen. Die Gesellenschaften waren daher kaum in der Lage, ihre Mitglieder durch die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung (bzw. ihrer Sonderform, der Streikunterstützung) davon abzuhalten, andere als die bisher üblichen oder die geforderten Arbeitsbedingungen einzugehen. Gruppendruck spielte deshalb in Konflikten mit den Meistern eine außergewönlich große Rolle. Zwar verfugten die Gesellenschaften über eine »Lade«, in der sie Krankengelder und sonstige Einnahmen, etwa kleine Strafen für ungebührliches Benehmen bei der Auflage, verwahrten. Zur Streikkasse wurde die Lade jedoch charakteristischerweise erst dann, wenn sich ein Wirt, bei dem sich die arbeits- und wohnungslosen Streikenden versammelten, bereit erklärte, auf dieses Zeichen zünftiger Ehre Kredit zu gewähren.80 Der Wirt dürfte sich jedoch nur dann kooperationsbereit gezeigt haben, wenn die Aussichten für einen Streikerfolg gut waren, denn nur in diesem Fall bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß die Meister für die Spesen der Gesellen aufkommen würden. Die eingeschränkte Möglichkeit, Streik- und Arbeitslosenunterstützung 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

anzusparen, bedeutete nicht, daß die Gesellenschaften auf dem Arbeitsmarkt nicht konfliktfähig gewesen wäre. Gleichwohl war ihre Konfliktfähigkeit gering, und sie wurde angesichts der vielfältigen Übergriffe der Zünfte und Obrigkeiten zusehends geringer. Diese Übergriffe betrafen zum einen den Streik, zum anderen den Boykott (»Verruf«, »Schimpf«), eine wichtige Arbeitskampfmaßnahme im Vorfeld des Streiks. Der Boykott basierte auf der Kontrolle der Arbeitsvermittlung durch die Arbeitnehmer. Die beiden Varianten dieses Kampfmittels, die im späten Mittelalter bekannt gewesen waren, entsprachen der skizzierten Alltagspraxis der englischen houses of call im 18. Jahrhundert: Erstens konnte die Gesellenschaft einem unliebsamen Meister »Knechte verbieten«, d.h. ihm keine Arbeitskräfte mehr zuschicken, bis er sich durch Wohlverhalten wieder vom »Schimpf« befreit hatte. Zweitens war sie in der Lage, Abweichler aus den eigenen Reihen zu disziplinieren, indem sie Meistern - bei Strafe des »Verrufs« - untersagte, den betreffenden Gesellen weiter zu beschäftigen. War dieser arbeitslos, wurde ihm keine neue Stelle vermittelt; er mußte fortwandern (»einem Knecht Meister verbieten«).81 Ein zentraler deutsch-englischer Unterschied bestand darin, daß der Boykott in Deutschland als Arbeitskampfmittel eine zunehmend geringere Rolle spielte, weil die Gesellenschaften die Kontrolle des Zugangs zum Arbeitsmarkt verloren. Schon im Mittelalter war die Verfügung über den Arbeitsnachweis ein Streitpunkt zwischen Meistern und Gesellen gewesen; im 16./ 17. Jahrhundert dürften letztere schließlich Kompetenzeinbußen verzeichnet haben. Denn der Ort der Arbeitsvermittlung wechselte nun vielfach von den Trinkstuben, die die Gesellen selbst bewirtschaftet hatten, zu Herbergen, die durch Zunft und städtische Obrigkeiten abgesichert waren und gleichsam offizielle Funktionen erhielten.82 Je gefestigter die Position der Zünfte im städtischen Herrschaftsgefüge wurde, um so mehr dürfte es den Meistern gelungen sein, die Vermittlung in eigener Regie, d.h. durch die Zunft, durchfuhren zu lassen. Sie waren ja als Einzelunternehmer nicht wie die englischen »masters« auf die Vermittlungsdienste der Gesellen angewiesen. So überrascht es nicht, daß sich der Arbeitsnachweis der Leipziger Schneider 1739 in Händen der Arbeitgeber befand. Bei ihren Berliner Berufsgenossen war das spätestens seit 1762, in Schwarzburg-Rudolstadt spätestens seit 1766 der Fall. In Hamburg dominierten die Meister in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts offenbar in allen Handwerken.83 Wie und wann der Verlust der Arbeitsvermittlungskompetenz im einzelnen auch erfolgt sein mochte: Keineswegs markierte die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen Bruch, wie in einer neueren Arbeit über die Gesellenaufstände des 18. Jahrhunderts vorausgesetzt wird, sondern den Abschluß einer säkularen Entwicklung.84 Ohne die Verbindung mit der Kontrolle des Arbeitsnachweises blieb der Boykott nur dann ein Arbeitskampfmittel, wenn er als flankierende Maßnahme in Streiks eingesetzt wurde. Dabei diente er zum einen der Verhinde102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

rung von Zuzug aus anderen Städten in den bestreikten und damit »geschimpften« Ort. Zum anderen sollte er, in Verbindung mit magischen Ritualen, zur Stärkung der Streikdisziplin nach innen beitragen. Der »Schimpf« war in beiden Fällen jedoch nur noch eine Beschimpfung: »und derjenige welcher nach frankfort am Mayn geht ein Hundsvott und Schlechter Gesell. . .« 85 Mit dem Verlust der Arbeitsvermittlungskompetenz büßten die Gesellenschaften also die Möglichkeit ein, im Vorfeld des Streiks Übergriffe der Meister abzuwehren und Verbesserungen zu erzielen. Der Streik gewann damit als Kampfmittel erheblich an Gewicht. Darin liegt eine von mehreren Ursachen86 für die erhebliche Zunahme der Streiktätigkeit im Laufe des 18. Jahrhunderts (Tab. 3). Sie war vor allem bei den Schneidern (insgesamt 30 Streiks), Schuhmachern (25), Lohgerbern und Kürschnern (15) sowie den Webern (10) zu verzeichnen.87 Tab. 3: Gesellenaufstände 1700-1805: Zeitliche Verteilung88 Zeitraum

Anzahl der »Aufstände«

1701-1725 1726-1750 1751-1775 1776-1800

11 22 32 167

1776-1785 1786-1795 1796-1805

25 87 82 Ν = 259

Der zeitgenössische Begriff für Streik war »Aufstand«.89 Wegen der Unterbringung im Meisterhaushalt war ein solcher »Aufstand« in der Regel mit dem Auszug aus der Stadt verbunden. Die Gesellen verließen nicht nur den Arbeitsplatz, sondern auch ihre Unterkunft. Sie trafen sich in einem Gasthaus vor der Stadt oder auf freiem Feld und blieben dort, bis die Konfliktgegner sich zum Einlenken bereit erklärten. Da die Mehrheit der Streikenden zu den fremden Wanderburschen gehörte - von einheimischen Meistersöhnen erwartete ohnehin niemand, daß sie sich solidarisierten, und die schon länger am Ort Beschäftigten wurden nicht zum Mitmachen gezwungen-, 9 0 war der Auszug traditionell ein relativ wirksames Druckmittel. Meister und Obrigkeit mußten damit rechnen, daß die Streikenden ganz fortwandern und obendrein den Ort bei ihren Kollegen »in Verruf« bringen würden - mit den entsprechenden Konsequenzen für die Versorgung der Bevölkerung und das städtische Steueraufkommen. Dem Streik und der Streikdrohung wurde mit dem Reichsschluß von 1731 gegen »Handwerksmißbräuche« die Spitze abgebrochen. Dieses Ge103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

setz wurde in den Einzelstaaten unterschiedlich rigoros durchgeführt und konnte deshalb gegen überlokale »Verrufserklärungen« wenig ausrichten. In bezug auf die Unterminierung der Arbeitskampfkraft einzelner lokaler Gesellenschaften war dem Reichsschluß jedoch ein durchschlagender Erfolg beschieden, denn es wurden flächendeckend sog. »Kundschaften« eingeführt. Dazu hatte die tatkräftige Unterstützung der Meister beigetragen, die daran interessiert waren, daß das Gesetz, das auch ihre eigenen Belange nicht unangetastet ließ, zumindest in dieser Hinsicht umgehend verwirklicht wurde. 91 Die »Kundschaft«, eine sächsische »Erfindung«, war ein behördliches Dokument, das gleichzeitig als Arbeits- und polizeiliches Führungszeugnis wie als Wanderpaß diente. Sie mußte am Stadttor vorgezeigt und bei Arbeitsantritt in der Meisterlade oder bei der Behörde deponiert werden. Jede erfolglose Nachfrage nach Arbeit, jede Durchreise durch einen Ort, aber auch jede Gesetzesübertretung und Differenz mit einem Meister wurden auf dem Formular vermerkt. Der Geselle, der es im Streik riskierte, ohne »Kundschaft« aus der Stadt zu ziehen, mußte damit rechnen, daß er bei der Einwanderung in einen anderen Ort, spätestens an der nächsten Landesgrenze, von den Grenzposten als Vagabund festgehalten und auf direktem Weg nach Hause verfrachtet werden würde - mit erheblichen negativen Konsequenzen für seine weitere Handwerkskarriere.92 Die durchschlagende Wirkung der »Kundschaften« spiegelt sich in der Veränderung einiger Charakteristika von Gesellenaufständen im Laufe des 18. Jahrhunderts wider. So ging der prozentuale Anteil von solchen Streiks, die mit einem Auszug aus der Stadt verbunden waren, zurück (Tab. 4); darüber hinaus endeten diese Streiks in der Regel mit einem Mißerfolg.93 Der prozentuale Anteil von kürzeren, insbesondere von Eintages-Streiks nahm dagegen im Laufe des 18. Jahrhunderts deutlich zu (Tat. 5). Daß trotz der Behinderung der Streiktätigkeit durch die Einführung der »Kundschaften« die Erfolgsquote der Gesellenaufstände in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts höher ausfiel als in der ersten Hälfte und daß die Erfolgsbilanz von eintägigen Streiks eher positiv war, 94 bestätigt Grießingers These von der gezielten Zeitplanung der Gesellenaufstände.95 Gleichwohl waren Streiks im 18. Jahrhundert kaum geeignete Mittel, den Mitgliedern der Gesellenschaften zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen zu verhelfen. Dies war zum einen deshalb der Fall, weil es in knapp der Hälfte aller Streiks überhaupt nicht um arbeitsbezogene Forderungen ging. 18 ν. Η. »Aufständen« reagierten auf Übergriffe von Zünften und Behörden auf die Gesellenschaftsautonomie, 30 ν. Η. stellten Eskalationen von Kon­ flikten um sog. »Ehrfragen« dar. Solche Konflikte entstanden häufig aus für den Außenstehenden banal erscheinenden Anlässen, etwa weil jemand Kontakt zu »unehrlichen« Leuten gehabt oder ζ. Β. einen Tierkadaver berührt hatte.96 Zum anderen waren Streiks auch deshalb ungeeignete Mittel zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen, weil die Mitglieder der Gesellenschaften im 18. Jahrhundert mehrheitlich zu den Wanderburschen 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Tab. 4: Gesellenaufstände in Deutschland 1700-1805: Die Rolle des Auszugs aus der Stadt97 Gesellenaufstände mit Auszug (in %) ohne Auszug (in %)

Zeitraum

Ν

1701-1750 1751-1805

40,7 21,8

59,3 78,2

32 215

1701-1775 1776-1805

40,0 17,5

60,0 82,5

62 185

Tab. 5: Gesellenaufstände in Deutschland 1700-1805: Die Dauer98 Dauer in % der Aufstände 2T-1 W 1 W-2 W 2 W-4 W

Zeitraum

1T

1701-1750 1751-1805

14,3 44,9

21,4 37,7

21,4 10,2

1701-1775 1776-1805

12,9 48,7

25,8 38,7

16,1 7,7

Arbeiteraristokratie< aufgrund der Stellung im sozialen Umfeld auszumachen«. J . Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie? Ein Vergleich der britischen und deutschen politischen Arbeiterbewegung zwischen 1850 und 1875, in: J . Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, S. 139. Zur »Arbeiteraristokratie«-Diskussion in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts: G. Beier, Das Problem der Arbeiteraristokratie im 19. und 20. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte einer umstrittenen Kategorie, in: ders. Geschichte, S. 118-223;J. Breuilly, Arbeiteraristokratie in Großbritannien und Deutschland. Ein Vergleich, in: Engelhardt (Hg.), Handwerker, S. 497-527; neuerdings auch M. Linder. 83 Das Elitebewußtsein der Buchdrucker war ein internationales Phänomen. Für England: A. E. Musson, The Typographical Association: Origins and History up to 1949, London 1954; für Frankreich: P. Chauvet, Les ouvriers de livre en France de 1789 à la Constitution de la Féderation du Livre, Paris 1956.

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Anmerkungen zu den Seiten 160—166 84 Zit. nach Beter, Schwarze Kunst, S. 145. 85 Die Angelegenheit der Buchdrucker-Gehülfen, in: Volk, Nr. 25/29. 7. 1848 (Hervorhebung von mir, C. E.). 86 S.o.Kap. A.II.4 und C.I.l.a. 87 Η. Α. Winkler, Der rückversicherte Mittelstand: Die Interessenverbände von Handwerk und Kleinhandel im deutschen Kaiserreich, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 8 3 98. 88 Zahlen nach Baiser, Bd. 2, S. 75; Oliver, Organizations, S. 213; L. Brentano, Art. »Chartismus«, in: Hwb. d. Staatswissenschaften, Bd. 3, S. 374. 89 Vgl. Marx, Elend, S. 128. 90 Zur Bedeutung dieser Begriffe bei Marx: J . Cuncliffe, Marx, Engels and the Party, in: History of Political Thought, Bd. 2, 1981, S. 349-368. 91 Zitat nach F. Engels, Marx und die »Neue Rheinische Zeitung«, in: MEW, Bd. 21, S. 18. 92 Vgl. J . Grandjonc, Ideologische Auseinandersetzungen im »Bund der Gerechten«, in: O. Büsch u. H. Herzfeld (Hg.), Die frühsozialistischen Bünde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vom »Bund der Gerechten« zum »Bund der Kommunisten« 1836-1847. Ein Tagungsbericht (= IWK-Beiheft 2), Berlin 1975, S. 81-93; A. Brandenburg, Theoriebildungsprozesse in der deutschen Arbeiterbewegung 1835-1850, Hannover 1977. 93 Zu den Hindernissen, die sich der Genossenschaftsbewegung im Vormärz entgegenstellten: C. Eisenberg, II movimento cooperativo tedesco 1850-1914: fattori di sviluppo economici e sociopolitici, in: M. Degl'Innocenti (Hg.), Le imprese cooperative in Europa dalla fine dell'800 alla seconde guerra mondiale, Pisa 1986, S. 149 ff. 94 Vgl. Schlüter, S. 245-249. 95 Der englische Chartismus und die deutsche Sozialdemokratie, in: NSD, Nr. 47/21.4. 1875. Weitere wichtige Unterschiede in der gesellschaftlichen Umwelt von Chartismus und Sozialdemokratie heben hervor: L. Brentano, Die englische Chartistenbewegung, in: PJ, Bd. 33, 1874, S. 431-447, 531-550; A. Held, Der englische Chartismus und die deutsche Sozialdemokratie, in: CZA, Nr. 12ff./1875. 96 Anträge des Centralkomite's für Arbeiter, in: Volk, Nr. 7/17. 6. 1848. 97 Entwurf zu einem Gesellen-Reglement, in: Volk, Nr. 11/27. 6. 1848. 98 Vgl. Friedensburg, S. 98. 99 Vgl. Grundstatuten der deutschen Arbeiter-Verbrüderung, in: Baiser, Bd. 2, S. 509. Ähnlich wie die hier vorgetragene Interpretation auch die von Breuilly u. Sachse, S. 326. 100 Siehe oben S. 129. 101 Ausgezählt nach dem Register (Stichworte »Gewerke« und »Arbeitervereine bzw. Arbeiterbildungsvereine«), in: Die Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung. 102 Vgl. z. B. Schraepler, S. 273, 306, 308; Baiser, Bd. 1, S. 239, 339f.; H. v. Berg, Entstehung und Tätigkeit der Norddeutschen Arbeitervereinigung als Regionalorganisation der Deutschen Arbeiterverbrüderung nach der Niederschlagung der Revolution 1848/49, Bonn 1981, Vorwort. 103 Vgl. Eisenberg, Arbeiterbewegung, S. 22-24. 104 Dazu ausführlich unten Kap. C.III.2. 105 Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 410 Anm. 60, 462ff. Anm. 213 trägt diesen Besonderheiten der deutschen England-Rezeption bei der Interpretation nicht Rechnung. 106 Im »Demokratischen Wochenblatt« eindeutig seit Mitte September 1868. - Der Fortschrittspolitiker Max Hirsch hatte schon im Mai 1868 von »GewerksVerbindungen« gesprochen. Vgl. ebd., S. 466 Anm. 219. 107 Vierter Jahres-Bericht des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Association, in: DW, Nr. 37/12. 9. 1868 (Beilage), S. 297f.; Korr. aus England, in: SD, Nr. 139/9. 9. 1865. Zitat nach BS, Nr. 52/24. 12. 1868.

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Anmerkungen zu den Seiten 166—169 108 Vgl. z. Β. die England-Korrespondenzen im DW bis Anfang September 1868 (»Gewer­ be-Vereine«) und im SD: Nr. 9/15. 1. 1865 (»Gewerbe-Unionen«); Nr. 14/27. 1. 1865 (»Arbei­ terorganisation«); Nr. 216/8. 12. 1865 (»Association der Arbeiter«); Nr. 4/8. 1. 1868 (»Arbei­ terkoalitionen«); Englische Trades Unions, in: Nr. 82/15. 7. 1868 (»Arbeitervereine«). Vgl. ferner die in SD, Nr. 83/17. 7. 1867 und Nr. 121/13. 10. 1867 abgedruckten Artikel aus der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (»Handwerker-Verbrüderungen«); Neue Frankfurter Zeitung, Nr. 150/1.6. 1865 (»Arbeiterverbrüderung«). S. auch Holtzendorffs Übersetzung von J . M. Ludlow u. L. Jones, Die arbeitenden Klassen Englands in socialer und politischer Bedeutung, Berlin 1868, S. 138ff. (»Arbeiter-Verein«); [H.] v. Mangoldt, Arbeiterverbindungen und Arbeitseinstellungen in England, in: Zs. f. d. gesamte Staats Wissenschaft, Bd. 18, 1862, S. 609-652. Zur Terminologie bei G. Schmoller: G. Trautmann, Gewerkschaften ohne Streikrecht. Lohntheorie und Koalitionsrecht in Deutschland 1861 bis 1878, in: Engelhardt u. a. (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Stuttgart 1976, S. 500. - Die Übersetzungen von trade union waren im Vormärz ähnlich undifferenziert: Vgl. F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, hg. v. W. Kumpmann, München 1973 (1845), S. 238 ff; B. Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft und andere gesammelte Schriften, Bd. 1, Jena 1922 (1848), S. 188 ff; Höjken, T. 1, S. 156. 109 Fußnote zur England-Korrespondenz des DW, Nr. 39/26. 9. 1868, S. 311. 110 Zitate: Die Arbeiterbewegung in England gegen das Ministerium Disraeli, in: SD, Nr. 64/31. 5. 1868 (Beilage); Holtzendorffs Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung von Ludlow u.Jones. 111 Von den englischen Arbeitern, in: SD, Nr. 6/12. 1. 1868. 112 Ebd. - Als vereinzelte Vorläufer: Die Lage und Zukunft der arbeitenden Klassen, aus dem Gesichtspunkte der englischen Verhältnisse betrachtet, in: Die Gegenwart, Bd. 12, 1856, S. 896 (»Arbeiterverbindungen in den verschiedenenen Arbeitszweigen«); L. S. (= Leopold Sonnemann), Die Lohnerhöhungen, in: Flugblätter vom ständigen Ausschuss, Nr. 2/1. 6. 1865, S. 4 (»Organisationen der einzelnen Gewerke«). 113 Bericht über die Verhandlungen des dritten Vereinstags deutscher Arbeitervereine. Abgehalten zu Stuttgart am 3., 4. und 5. September 1865, Nürnberg 1865, ND in: Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage Deutscher Arbeitervereine: 1863-1869, ND hg. v. D. Dowe, Berlin 1980, S. [83]. Ähnlich Korr. aus London, in: SD, Nr. 29/3. 3. 1865. 114 Vgl. Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 632. 115 F. Mende, Die Allgemeine Deutsche Arbeiter-Versicherungs-Genossenschaft, Leipzig 1870, S. 5. 116 Vgl. Trautmann; Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 223; ders., Gewerkschaftliche Interessenvertretung als »Menschenrecht«. Anstöße und Entwicklung der Koalitionsrechtsforderung in der preußisch-deutschen Arbeiterbewegung 1862/63-1865 (1869), in: ders., u. a. (Hg.), Bewegung, S. 542; Müller, Organisationen, S. 124. 117 Aus England, in: DW, Nr. 25/20. 7. 1868, S. 199. 118 Aus England, in: DW, Nr. 16/17. 4. 1868 (Beilage), S. 182. 119 Mende, S. 17. 120 Rede vor streikenden Strumpfwirkern in Apolda, in: SD, Nr. 83/6. 7. 1865. 121 Vgl. Bericht über die Verhandlungen des dritten Vereinstags... (wie Anm. 113), S. [84], [87]; Skizze zum Statutenentwurf einer Allgemeinen deutschen Produktiv-Genossenschaft, in: DAH, Nr. 12/25. 6. 1868. 122 Vgl. Protokoll der siebten Generalversammlung des ADAV in Hamburg vom 22.-26. August 1868, in: Protokolle und Materialien des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (inkl. Splittergruppen), ND hg. v. D. Dowe, Berlin 1980, S. [120-123]. Vgl. auch W. Etteltu. H.-D. Krause, Der Kampf um eine marxistische Gewerkschaftspolitik in der deutschen Arbeiterbewegung 1868 bis 1878, Berlin (DDR) 1975, S. 67f.

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Anmerkungen zu den Seiten 169— 171 123 Vgl. die Protokolle der Generalversammlungen dieser Splittergruppen, in: Protokolle und Materialien, S. [565ff.]; Mende, passim. 124 Vgl. Lassalles Ronsdorfer Rede vom Mai 1864, in: F. Lassalle, Reden und Schriften, hg. v. F. lenaczek, München 1970, S. 392-421. 125 Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 1215. 126 Vgl. Korr. aus Leipzig, in: Leipziger Nachrichten, Nr. 288/15. 10. 1867; Deutsche Allgemeine Zeitung, Leipzig, Nr. 242/16. 10. 1867, S. 2011. 127 Offenbar nur in Berlin, Hamburg und Köln. Vgl. Bernstein, Schneiderbewegung, Bd. 1, S. 95 ff.; Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 346 ff. - Im allgemeinen organisierten sich die Schneider überberuflich in den lokalen ADAV-Gemeinden. Dort bildeten sie allenfalls eigene »Sektionen«. 128 Vgl. oben Kap. A.1.2 129 Dies gegen Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 338. Steglich führt für 1867 einen einzigen Schneiderstreik auf, Ettelt u. Krause nennen für 1868 vier. Vgl. W. Steglich, Eine Streiktabelle für Deutschland 1864 bis 1880, in: Jb. f. Wirtschaftsgeschichte, Jg. 1960, Bd. 2, S. 249; Ettelt u. Krause, S.218. 130 Vgl. Marx u. Engels, Gewerkschaften, S. 489. Die Berichterstattung der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« wurde häufig vom »Social-Demokrat« übernommen. 131 Vgl. z.B. Korr. aus Berlin, in: SD, Nr. 83/17. 7. 1867; Zur Koalitionsfrage, in: DAH, Nr. 7/27. 9. 1867. 132 Vgl. An die Schneider-Gesellenschaft, in: SD, Nr. 68/9. 6. 1867 (Beilage); Bericht des Polizei-Leutnants Mondorff über die Schneidergesellen-Versammlung vom 26.8. 1867 in Berlin, in: STA Ρ Nr. 15376, fol. 19-20v; Brief von August Reimann (Berlin) an J. P. Becker (Genf), in: AsD Bonn, NL Becker DIl 689; London Operative Tailors' Protective Association, in: BH, Nr. 304/10. 8. 1867 (Hinweis auf Unterstützungsgelder aus Bremen). - Engelhardt zufolge waren es nicht in erster Linie die Einflüsse aus dem Ausland, die die »Lernprozesse« der Schneider beschleunigten; sondern die Orientierung am Vorbild der Buchdrucker- und Zigarrenarbeiterorganisationen. Dieses Vorbild habe die notwendige »Initialzündung« ausgelöst (»Nur vereinigt...«, S. 373; vgl. auch S. 356ff). Diese Interpretation ist jedoch allein deshalb nicht überzeugend, weil sie nicht erklären kann, was ζ. Β. die Schuhmacher gehindert haben sollte, sich ebenfalls schon 1867 gewerkschaftlich zu betätigen. 133 Vgl. Die I. Internationale in Deutschland (1864-1872). Dokumente und Materialien, hg. v. IML beim ZK der SED, Berlin (DDR) 1964, S. 212; Bernstein, Schneiderbewegung, S. 110; Müller, Organisationen, S. 120; ders., Geschichte der deutschen Gewerkschaften bis zum Jahre 1878, Berlin 1918, S. 43. 134 Vgl. Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 356 Anm. 115. - Sektionen der IAA bestanden 1867 in Göppingen, Mainz, Solingen, Köln, Duisburg, Magdeburg, Berlin, Braunschweig, Wolfenbüttel, Darmstadt und Dresden. Vgl. Internationale, S. 171 f. 135 Vgl. ebd., S. 171. 136 Zu den Motiven kontinentaler Schneider, nach England zu kommen, auch Mayhew, Morning Chronicle, Bd. 2, S. 147. 137 Vgl. Wernicke, Geschichte, S. 34. 138 In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre betrugen die Schneiderlöhne pro Woche in London 10-14 Tlr., in Kassel oder Hanau zwischen 2 Tlr. und 3 Tlr 15 Sgr. Im Jahr 1866 betrugen sie in London 10-14 Tlr., in Barmen 12/3 Tlr. (mit Kost u. Logis) bzw. 41/2 Tlr. (ohne Kost u. Logis). Vgl. Hildebrand, Bd. 1, S. 168; K. Marx, Die Deutschen Schneider in London an ihre Arbeitsgenossen in Deutschland, in: MEW, Bd. 16, S. 165; Zur Statistik des Arbeitslohns, in: CZA, Nr. 6/15. 12. 1871, S. 70f. 139 1861 lebten 1030 deutsche Schneider in London; 1871 waren es 1205. Vgl. Census of England and Wales for the year 1861. Population Tables, Bd. II: Ages, Civil Condition, Occupations, and Birth Places of the People, London 1863 (= Parliamentary Papers, Bd. 53), 321 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35733-1

Anmerkungen zu den Seiten 172—174 S. lxxviiiff., 46ff.; Census of England and Wales, 1871. Population Abstracts. Ages, Civr Condition, Occupations, and Birth Places of the People, Bd. III, London 1873 (= Parliamentary Papers, Bd. 72), S.liff., 33. 140 Strikes and Trades-Unions, in: Blackwood's Magazine, Bd. 101, 1867, S. 719. 141 Vgl. Marx, Schneider. Belege für die angeführten Beispiele: Trades' Unions and Strikes, London 1834, S. 15; The General Council of the First International 1864-1866. Minutes, Moskau 1964, S. 174; 1866-1868. Minutes, S. 44f, 109. 142 Vgl. H. Collins, The International and the British Labour Movement. Origin of the International in England, in: Bull. SSLH, Nr. 9/1964, S. 27, 32 f. 143 Vgl. R. Harrison, The British Labour Movement and the International in 1864, in: Socialist Register, Bd. 1, 1964, S. 293-308. 144 Der Kongreß der Internationalen Arbeiterassociation in Genf, in: VB, Nr. 10/1866, S. 143. 145 So der »Manchester Guardian«, zit. nach L. Mysyrowicz, Karl Marx, la Premiere Internationale et la Statistique, in: Le mouvement social, Nr. 69/1969, S. 58. 146 Great Meeting of the City Tailors, in: BH, Nr. 236/18. 4. 1866. Vgl. auch H. Collins, Karl Marx, the International and the British Trade Union Movement, in: Science and Society, Bd. 26, 1962, S. 407. 147 Vgl. The Son of Toil. The Prospects of the London Tailors, in: Commonwealth, Nr. 161/7. 4. 1866. Eccarius war Chefredakteur dieses Blattes. Aufgrund des Stils und aufgrund der profunden Kenntnis der zeitgenössischen Statistik, die er auch in anderen Arbeiten über die Schneiderei in London dokumentierte, besteht kein Zweifel, daß er der Verfasser des Artikels ist. - Über seine Tätigkeit in der englischen Arbeiterbewegung seit 1846 berichtet Eccarius anläßlich einer Auseinandersetzung mit Lloyd Jones: The Geneva international Congress and the English Delegates, in: BH, Nr. 624/27. 9. 1873. - Zu seinem Funktionärsposten in der Londoner Schneidergewerkschaft: Trades Intelligence, in: BH, Nr. 253/18. 8. 1866; Nr. 279/ 16.2. 1867. - Zur Person Eccarius (1818-1889): B. Nicolajewski, Toward a History of the »Commumstic League« 1847-1852, in: IRSH, Bd. 1, 1956, S. 241; H. Collins u. C. Abramsky, Karl Marx and the British Labour Movement. Years of the First International, London 1865, passim; Marx u. Engels, Gewerkschaften, S. 554. 148 Vgl. F. Leßner, Sixty Years in the Social-Democratic Movement. Before 1848 and after. Recollections of an old Communist, London 1907; ders., Ich brachte das »Kommunistische Manifest« zum Drucker, Berlin (DDR) 1975. Zu Haufe: ebd., S. 365. 149 Über die Aktivitäten des Komitees berichteten der »Bee Hive«, »The Commonwealth« und der »Tailor and Cutter« im Frühsommer 1866. 150 Marx, Schneider. Ein Originalexemplar mit einer Notiz von Leßner und Haufe auf der Rückseite, die um Verteilung »beiliegender Circulare« baten, befindet sich im AsD Bonn, NL Motteier Nr. 2792. - Eine ähnliche Initiative starteten auch die Lassalleaner in Paris anläßlich des Streiks von 1867. Vgl. Schreiben des Frankfurter Polizeipräsidenten v. Madai an den preuß. Innenminister vom 27. 4. 1867, in: ZSTA Μ Rep. 77 Tit. 500 Nr. 20 Bd. 3, fol. 115-115 v. 151 »(W)e are now opening a correspondence with all Continental tailors' societies by printed circulars, awakening them to their interests.« The German Tailors in London, in: BH, Nr. 253/18. 8. 1866. 152 Congress of Geneva [1866], in: The Working Man, Nr. 8/18. 5. 1866. Vgl. auch die in VB, Nr. 11/1866, S. 162 f. abgedruckte Resolution über »Gewerbe-Vereine«, die auf dem Kongreß angenommen wurde. 153 Vgl. Collins, Karl Marx, S. 407, 411 f. - Zu Einschätzung der Rolle der Gewerkschaften in diesem Zusammenhang: J . C. Symons, Arts and Artisans at Home and Abroad. With Sketches of the Progress of Foreign Manufactures, Edinburgh 1839, S. 83; J . Ward, Workmen and Wages at Home and Abroad or the Effects of Strikes, Combinations, and Trade Unions, London 1868.

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Anmerkungen zu den Seiten 174—176 154 Zum Genfer Kongreß hatten die Kölner das Solinger IAA-Mitglied Friedrich Wilhelm Moll delegiert. Vgl. sein Mandat in: Internationale, S. 136. - Die Berliner Schneidergesellen konnten die Einladung zum Lausanner Kongreß, die sie aus England erhalten hatten, aus finanziellen Gründen nicht annehmen. Das notwendige Reisegeld in Höhe von ca. 100 Tlr. war nicht aufzubringen. Vgl. den Bericht des Polizei-Leutnants Mondorff (wie Anm. 132). - Zur neuerlichen Initiative des Komitees in London: The Tailors' Strike, in: Commonwealth, Nr. 219/11. 5. 1867; General Council 1866-1868, S. 127f. 155 Zitate: Aufruf an alle Schneider Deutschlands!, in: SD, Nr. 87/26. 7. 1867. 156 Die Kontaktaufnahme mit Lausanne erfolgte zeitlich vor dem »Aufruf an alle Schneider Deutschlands«. Vgl. VB, Nr. 6/1867, S. 94. - Zur Lausanner Initiative: VB, Nr. 11/1867, S. 170. - Generell zur Einflußnahme der IAA auf die Gewerkschaftsentstehung in der Schweiz: W. Keller, Der Einfluß der I. Arbeiterinternationale auf die schweizerische Gewerkschaftsbewegung, in: Gewerkschaftliche Rundschau. Monatsschrift d. Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Bd. 56, 1964, S. 305-324. 157 Vgl. den ins Englische übersetzten Brief aus Köln (vermutlich von Schob) an Eccarius, o.D. (ca. Ende Sept. 1867), in: BH, Nr. 312/5. 10. 1867 bzw. TC, Nr. 52/5. 10. 1867. - Daß sich der ADSV schließlich am Statut des ADZV orientieren mußte, lag daran, daß die Londoner Gewerkschaft selber nur erst über ein vorläufiges Statut verfügte. Vgl. General Council 18661868, S. 253. 158 »The initiative to this movement as has announced at the late Congress at Lausanne [2. 9. 1867] has been taken by the Cologne tailors' branch of the International Working Men's Association, with a view to affiliate the entire amalgamation when established.« Brief aus Köln (wie Anm. 157), in: BH, Nr. 312/5. 10. 1867. 159 Vgl. Internationale, S. 735 f. - AD Α V-Bevollmächtigter war Schob seit 1865. Vgl. Korr. aus Köln, in: SD, Nr. 140/10.9. 1865.-Als Reichstags-Kandidat für Köln-Mülheim fiel er 1867 durch. Vgl. R Henseler, Politische Strömungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts im ehem. Kreis Mülheim/Rhein, besonders im Gebiet der Stadt Porz, in: Unser Porz, Bd. 10, 1968, S. 44. - Über Schobs persönlichen Entwicklungsgang ist wenig bekannt. Er wurde 1829 geboren (frdl. Auskunft von Prof. G. Bers, Köln). Am 7. 5. 1854 trat er dem Kölner Kolpingverein bei, zahlte aber keine Beiträge und schied demnach bald wieder aus (frdl. Auskunft von Herrn F. Lüttgen, Archiv d. Deutschen Kolpingsfamilie, Köln). Noch 1878 galt er als einer der fuhrenden Sozialdemokraten und Gewerkschafter in Köln. Vgl. Anlage zum Bericht der kgl. Polizeidirektion Köln von 7. April 1878, betr. den Gesetzentwurf gegen die sozialdemokratischen Bestrebungen (Abschrift), in: STA Ρ Nr. 12530, fol. 12v-13. 160 Vgl. G. Mayer, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909, ND Glashütten 1970, S. 111 ff; MEW31,S.624. 161 Vgl. Schreiben der IAA-Sektion Köln (G. Bürgers) an das ZK der Sektionsgruppe deutscher Sprache in Genf (J. P. Becker) vom 4.2. 1868, in: Internationale, S. 202 ff.: Schob hatte ein Exemplar des »Arbeitsfreunds« erhalten, zeigte sich aber Bürgers gegenüber seltsam reserviert hinsichtlich seiner Kontakte in die Schweiz. - Der »Arbeitsfreund« der Schneider in der IAA muß als verschollen gelten. Auch in der Schweiz existiert kein Exemplar mehr (frdl. Auskunft von Frau Farner, Zentralbibliothek Zürich). 162 Vgl. H. Laufenberg, Geschichte der Arbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Umgebung, Bd. 1, Hamburg 1911, ND Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 351 f. - Einige Beispiele für die rege Beteiligung von Schneidern an den ADAV-Gemeinden: Herzig, Arbeiterverein, S.59f. 163 Die Arbeit von Engelhardt, »Nur vereinigt...«, leidet darunter, daß diese Frage nicht ernsthaft diskutiert wird. So enthält die Argumentation einen hohen Grad von Beliebigkeit und wird häufig zirkulär. Als »eine der konstitutiven, wenn nicht die entscheidende Voraussetzung umfassender gewerkschaftlicher Mobilisierung« führt Engelhardt beispielsweise die »Bewußt-

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Anmerkungen zu den Seiten 111—181 seinsbildung« an, die in der Phase der Hochindustrialisierung zwischen 1850 und 1873 erfolgt sei. Als wichtigster Indikator dafür, daß dieser Prozeß der »Bewußtseinsbildung« weit genug vorangeschritten war, gilt bei ihm jedoch wiederum die Gewerkschaftsentstehung. Vgl. S. 1209. 164 Etteltu. Krause, S. 46. 165 Zu Brockmann und seinen Projekten: Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 439 Anm. 108, 541 Anm. 16; Etteltu. Krause, S. 45f. 166 Vgl. A. Herzog zu Sachsen, Die Reform der sächsischen Gewerbegesetzgebung (1840— 1861), Diss. München 1970, S. 1080f. 167 Den Lesern in Sachsen besonders empfohlen, in: DAH, Nr. 10/15. 11. 1867 (2. Ausg.), S. 93f.; P. Ullrich, Niederschrift von Selbsterlebtem, in: AsD Bonn, NL Motteier Nr. 2715, fol. 14ff. - Vgl. auch Zur Krankenkassenfrage, in: DW, Nr. 31/1.8. 1868, S.245f; Zahn, S. 395. 168 Das Gesetz ist abgedruckt in der Deutschen Gemeinde-Zeitung, Bd. 8, 1869, S. 374. 169 Ullrich (wie Anm. 167), fol. 19. 170 Dazu ausführlich: G. Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland 1863-1870, in: ders., Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, Frankfurt 1969, S. 108-178. 171 Bericht über den fünften Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine am 5., 6. und 7. September 1868 zu Nürnberg, Leipzig o. J . 2 , in: Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage, S. [168-170). 172 Vgl. z. B. A. Braun, Bebel und die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung, in: ders., Die Gewerkschaften, ihre Entwicklung und Kämpfe, Nürnberg 1914, S. 59; Müller, Organisationen, S. 166; Ettelt u. Krause, S. 47ff. 173 Bericht über den fünften Vereinstag (wie Anm. 171), S. [170]. Vgl. auch das Referat des Leipziger Delegierten M. Germann, ebd., S. [ 170f.]. 174 Ebd., S. [153]. Vgl. auch den Hinweis bei Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 539. 175 Arbeiterversammlung in Leipzig, in: DW, Nr. 44/31.10. 1868, S. 348f. - U m die Zusendung von »Musterstatuten« für »Gewerks-Genossenschaften« bat Liebknecht Eccarius in London ebenfalls erst nach dem Berliner Arbeiterkongreß, nämlich am 2. Oktober 1868. Vgl. Ettelt u. Krause, S. 98. Vgl. auch Bringmann, Bd. 2, S. vii-xviii; C. Stephan, »Genossen, wir dürfen uns nicht von der Geduld hinreißen lassen!« Aus der Urgeschichte der Sozialdemokratie, Frankfurt 1977, S. 346 Anm. 228. 176 Ullrich (wie Anm. 167), fol. 19f. 177 Auch Bernstein erkennt diese Zäsur. Vgl. Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung, Bd. 1, Berlin 1907, ND Glashütten 1972, S. 173 f. 178 Leitartikel in SD, Nr. 77/3. 7. 1868. 179 Englische Trades Unions, in: SD, Nr. 82/15. 7. 1868. Vermutlich bezog Schweitzer, der als Verfasser des Artikels gelten kann, seine Informationen aus dem gerade auf deutsch erschienenen Buch von Ludlow u. Jones. 180 Schweitzer-Zitat nach Ettelt u. Krause, S. 58. Zu Fritzsches Auftritt in Düsseldorf am 23. 6. 1868: Korr. aus Düsseldorf, in: SD, Nr. 82/15. 7. 1868. Daß Fritzsche sich selbst mehr als Lassalleaner denn als Gewerkschafter verstand, wird auch deutlich in seiner Schrift: Die sociale Selbsthülfe nach der Lehre Ferdinand Lassalle's. Ein Beitrag zur Klärung der öffentlichen Meinung, Leipzig 18673. 181 Korr. aus Berlin, in: SD, Nr. 99/23. 8. 1868; Zum Allgemeinen Dt. Arbeiter-Congreß, in: SD, Nr. 107/13. 9. 1868 (Zitat von August Geib). 182 An die Arbeiter Deutschlands!, in: SD, Nr. 101/30. 8. 1868. 183 Vgl. die quellenkritischen Ausführungen bei Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 595f. Anm. 7. 184 Vgl. Mayer, Johann Baptist von Schweitzer, S. 212, 239; F. Mehring, Geschichte der

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Anmerkungen zu den Seiten 181 — 184 deutschen Sozialdemokratie, Bd. 3, Berlin 192212, S. 322. - Als am 16. 9. 1868 die Leipziger ADAV-Zentrale polizeilich geschlossen wurde, erklärte Schweitzer den Gesamtverein für aufgelöst. Vgl. An die Mitglieder des Allg. deutsch. Arbeiter-Vereins, in: SD, Nr. 109/18. 9. 1868. 185 Abgedruckt bei G. Kölzsch, Die Entwicklung der Gewerbefreiheit in Deutschland, Diss. Greifswald 1920, S. 41 f. 186 Diese Petition »aus Anlaß der Gewerbeordnung« von 1868 wird zitiert in: Verhandlungen Reichstag, S. 815. 187 Vgl. Zur Krankenkassenfrage, in: DW, Nr. 31/1. 8. 1868, S. 246. 188 Zitat: Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 357. Vgl. auch ebd., S. 508, 1214 f.; ferner: ders., Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung (1848 bis 1870), in: Matthias u. Schönhoven (Hg.), S. 20. -Engelhardts Fehlinterpretation entsteht, weil er eine Änderung der parteioffiziellen Haltung des ADΑV zur Gewerkschaftsfrage erst auf die Hamburger Generalversamm­ lung Ende August datiert (»Nur vereinigt...«, S. 495), den behördlichen Schikanen erst für die Zeit nach dem Verbot der Leipziger Parteizentrale Mitte September Rechnung trägt (S. 534f.) und das Notgewerbegesetz völlig ignoriert. - Auch Frevert, die die These vertritt, Gewerkschaften seien aus den Zwangskrankenkassen hervorgewachsen, übersieht das Notgewerbegesetz. Der gezielten Einflußnahme »von außen«, denen die Kassen der Zunftberufe seit 1868 - und nicht schon früher- unterlagen, schenkt sie in ihrem Kapitel über »Krankenkassen und Gewerkschaften seit den 1860er Jahren« (Krankheit, S. 324ff.) keine Beachtung. - In der älteren gewerkschaftshistorischen Literatur findet das Notgewerbegesetz immerhin Erwähnung, wenn auch sein zentraler Stellenwert nicht erkannt wird. Vgl. Müller, Organisationen, Bd. 1, S. 118; Bringmann, Bd. l , S . 7 2 f . 189 Köln: Schreiben der Kölner IAA-Sektion an J . P. Becker in Genf vom 13. 10. 1868, in: Internationale, S. 281. Vgl. auch das Schreiben von Gustav Heinrich an J. P. Becker vom 11.4. 1869, in: ebd., S. 331 f. - Wiesbaden: Korr. aus Wiesbaden, in: SD, Nr. 93/9. 8. 1868; W.-A. Kropat, 1867 bis 1878. Leonhard v. Bonhorst. Die Anfänge der Wiesbadener Sozialdemokratie, in: 100 Jahre SPD Wiesbaden 1867-1967, Frankfurt 1967, S. 14. Zu Bonhorst auch Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 494f. Anm. 15. 190 Vgl. Allmann, Bd. 2, S. 113-131, Zitat S. 128 191 Vgl. Soziale und Arbeiter-Zeitung, in: BVZ, Nr. 227/27.9. 1868; Bringmann, Bd. 2, S. l f f ; D. H. Müller, Binnenstruktur und Selbstverständnis der »Gesellenschaft« der Berliner Zimmerer im Übergang von der handwerklichen zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung, in: Engelhardt (Hg.), Handwerker, S. 631 f. - Auch Müller hat die Veränderung der Rechtslage durch das Notgewerbegesetz nicht erkannt. So bleibt für ihn »im Dunkeln«, »ob und wie das Mitglied des ADAV Max von Mietzel« legitimiert war, die Gesellenkrankenkasse zusammenzurufen. 192 Zitat nach dem Polizeibericht über eine allgemeine Schuhmacherversammlung im Berliner Universum am 14.9. 1868, in: STA Ρ Nr. 15385, fol. 38. 193 Vgl. die Berichterstattung über die Versammlungsbewegung im »Social-Democrat«, insb. ab September 1868; ferner: Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 523 ff; Bringmann, Bd. 1, S. 156f; Bernstein, Arbeiter-Bewegung, Bd. 1, S. 171 ff, 176. 194 Zitat aus einem »Vortrag« der Schweriner Zimmerergesellen an das Innenministerium, o. D., zit. nach Bringmann, Bd. 1, S. 73. 195 Nach den Angaben bei Ettelt u. Krause, S. 77. 196 Vgl. Bringmann, Bd. 1, S. 173f. 197 Vgl. Soziale und Arbeiter-Zeitung, in: BVZ, Nr. 239/11. 10. 1868. Zur langen Tradition der Querelen um die Maschinenbauerkasse, die schon 1848 die Gemüter beschäftigt hatte: Bericht von Handelsminister v. d. Heydt und Innenminister v. Westphalen an den König vom 6.7. 1852, in: ZSTA Μ Rep. 2.2.1. Nr. 27809, fol. 86-86v. Vgl. auch Engelhardt, »Nur vereinigt...«, Bd. 1, S. 573 Anm. 20.

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Anmerkungen zu den Seiten 184—187 198 Vgl. Blaustein, S. 13. - Zur Agitation gegen Zwangskassen und Kassenzwang im Berli­ ner Arbeiterverein: Vermischtes, in: SD, Nr. 173/14. 11. 1866; Polizeibericht vom 4. 5. 1868, in: STA Ρ Nr. 14898, fol. 151v-152. 199 Vgl. K. Duncker, Franz Duncker. Lebensbild eines Volksfreundes, Leipzig 1888; Engel­ hardt, »Nur vereinigt...«, S. 447 f. Anm. 143. Der »Bettelbrief« ist abgedruckt bei Müller, Organisationen, Bd. 1, S. 159. 200 Vgl. Engelhardt, »Nur vereinigt...«, S. 447f. Anm. 143. - Zu Hirschs ursprünglichen Plänen für die nähere Zukunft: Brief an F. A. Lange vom 4. 1. 1869, in: F. A. Lange, Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875, hg. v. G. Eckert, Duisburg 1968, S. 109f; Brief an Lujo Brentano vom 25. 10. 1868, zit. in: L. Brentano, Die HirschDunckerschen Gewerkvereine. Eine Replik, in: JGVV, Bd. 3, 1879, S. 492. - Zur Biographie Hirschs jetzt auch: H.-G. Fleck, Gründer der Gewerkvereine. Max Hirsch zum 80. Todestag, in: Das Parlament, Nr. 26/26. 6. 1985. 201 Hirschs »Soziale Briefe aus England« erschienen in der BVZ, Nr. 177/31. 7. 1868 bis Nr. 242/15. 10. 1868. Über die trade unions berichteten Nr. 183, 185, 187. Offenbar bezog Hirsch seine Informationen nicht allein aus seinen Auslandskontakten, sondern auch aus der gerade auf deutsch erschienenen Schrift von Ludlow u. Jones (vgl. BVZ, Nr. 183/7. 8. 1868). Daß er von Schweitzers und Fritzsches Initiative überrascht worden war, gab Hirsch auf einer Versammlung der Berliner Maschinenbauer offen zu. Vgl. BVZ, Nr. 222/22. 9. 1868. - Zu der tendenziösen Darstellung der Englandreise durch Hirsch selbst und die liberale Gewerkvereinshistoriographie: Müller, Organisationen, Bd. 1, S. 143ff; Engelhardt, »Nur vereinigt...«, Bd. 1, S. 460 ff. 202 Vgl. Der Schweitzer-Fritzsche'sche sogenannte »Allgemeine deutsche Arbeiter-Kongreß«, in: BVZ, Nr. 227/27. 9. 1868. - Zu den Umständen des Hinauswurfs: Petry, S. 173; H. Peter, Der Allgemeine Deutsche Arbeiter-Congreß zu Berlin. Vom principiellen und practischen Standpunkt beleuchtet, Berlin 1868. 203 Die Statuten des »Vereins zur Versicherung von Kranken- und Begräbnißgeld >Selbsthilfe